Dora Duncker
Jugend

[8] Jugend

[8] Auf der geräumigen Terrasse des »Tirolerhofes« in Innsbruck ist es allmählich stiller geworden.

Die Reisenachzügler, die der blaue Septemberhimmel verlockt hat, die köstliche Sommerrast noch in den Herbst hinein auszudehnen, sind mit Rucksack und Alpenstock ausgezogen, um den frischen Neuschnee, den die kalten Nächte gebracht haben, in der Nähe zu betrachten. Die bequemeren Reisebummler, die zumeist auf dem Weg über den Brenner begriffen sind, haben ihre Handbücher genommen und sind in die malerische Stadt hineingeschlendert, der die schneehäuptigen Bergriesen neugierig auf die Dächer und in die engen Straßen schauen.

Von der Servitenkirche schlägt es zwölf Uhr, als der letzte Frühstücksgast sein Reisebuch vom Tisch nimmt und durch die tiefe, breite Torwölbung des alten patriarchalischen Hauses auf die sonnenbeschienene Straße hinausgeht.

Die schlanke, vornehm gekleidete Dame, die bisher still in der Nähe der schützenden Glaswand gesessen hat, scheint nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Jetzt, da sie allein geblieben ist, springt sie elastisch auf, durchmißt ein paarmal den großen Raum, beugt sich über die Holzbrüstung zu den blühenden Oleanderbäumen in dem kleinen Garten hinab und bleibt dann plötzlich mitten in der Sonne stehen, die lichtbraunen Augen auf die schneebedeckten Schroffen gerichtet, die sich in zarten Konturen von dem blauen, wolkenlosen Himmel abheben.

[9] Wie sie so dasteht, mitten im Sonnenschein, geht etwas Lachendes, Erwartungsvolles, Jugendfrohes von ihr aus. Die bleichen Fäden, die sich schon hie und da in das volle goldblonde Haar mischen, die kleinen Falten und Fältchen um Mund und Augen, die die Vierzigjährige verraten, die senkrechte Falte zwischen den merkwürdig dunkeln Brauen, die energisch auf den feinen, geraden Nasenrücken zuläuft und von schmerzlich Nachdenklichem erzählt, sind in diesem Augenblick wie fortgewischt. Mit leichten, frohen Schritten geht sie wieder auf ihren Platz an der Glaswand zurück. Sie schiebt die kleine rotbraune Juchtenmappe, mit der sie bisher lässig gespielt hat, vor sich hin, als ob sie sie öffnen wolle. Dann lächelt sie und legt die vornehme, mit wenigen kostbaren Steinen geschmückte Hand darüber.

Ein Ausdruck stiller, köstlicher Sicherheit geht über ihr schönes Gesicht.

Ein leichtes Knistern des gedielten Bodens schreckt sie auf. Ein livrierter Hoteldiener kommt auf sie zu, einen Brief in der Hand. Einen Augenblick erschrickt sie. Seiner Sache nicht ganz sicher, fragt er: »Fräulein Lena v. Magnussen aus Berlin?« Ihre Blicke erhellen sich wieder.

»Ganz recht, für meine Tochter.«

»Werden die Herrschaften im Hause speisen? Lunch oder Diner?«

»Das Diner um sieben Uhr. Meine Tochter ist mit ihren Freunden auf dem Patscherkofel. Wir werden vier Plätze brauchen.«

Der Diener verneigt sich höflich und wendet sich zum Gehen.

Frau v. Magnussen ruft ihn noch einmal zurück. Eine feine Röte steigt in ihrem Gesicht bis zu den blonden Haarspitzen auf, als sie jetzt sagt:

[10] »Reservieren Sie für alle Fälle einen fünften Platz.«

»Sehr wohl, Gnädigste.«

Sie wartet, bis der Diener in dem großen Speisesaal verschwunden ist. Dann nimmt sie einen Schlüssel aus dem silbergeflochtenen Geldtäschchen und öffnet die kleine Juchtenmappe.

Sie nimmt einen Brief, in einem geöffneten Umschlag steckend, heraus und überfliegt die Aufschrift mit zärtlichen Augen.

In großen, festen Zügen steht die Adresse da:

»Frau Charlotte v. Magnussen aus Berlin, zurzeit Innsbruck, Tirolerhof.«

Gestern mit der ersten Post ist der Brief aus München gekommen. Jetzt ist es zwölf Uhr vorüber.

In sechs bis sieben Stunden, bei Anbruch der Dunkelheit, wird er da sein, werden sie einander wiedersehen nach fünf langen Jahren der Trennung.

Wie sie diese fünf Jahre getragen hat, weiß sie jetzt selbst nicht mehr, jetzt, da ihr die wenigen Stunden, die sie noch von ihm trennen, unüberwindlich erscheinen.

Sie springt noch einmal auf, den Brief fest mit der Hand umschließend, und geht ein paarmal über die Terrasse hin und her. Sie hat das Gefühl, sich von ihrer eigenen Körperlichkeit überzeugen zu müssen, daß sie es ist und daß, was sie da körperlich in der Hand hält, wahr ist, Leben ist, Zukunft ist.

Eine rastlose Unruhe hat die sonst so gelassene Frau ergriffen, seit sie nur Stunden noch von dem geliebten Manne trennen.

Gestern den ganzen Tag über ist sie mit Lena und Lenas Freunden in den Bergen umhergelaufen. Heute würde sie um nichts in der Welt das Hotel verlassen. Er könnte seine Pläne geändert haben, könnte früher kommen!

[11] Lena hatte für diesen Tag eine Tour auf den Patscherkofel mit ihren Freunden, den Laurentius', verabredet, von denen sie unzertrennlich war, seit sie zusammen von St. Anton heruntergekommen waren. Charlotte war glücklich, daß das Wetter der Jugend keinen Strich durch die Rechnung machte, daß sie allein bleiben konnte.

Plötzlich, heut morgens, hatte Lena ihren Sinn geändert.

»Ich bleibe bei dir, Muttelchen. Dir wird ja bange den ganzen Tag allein im Hotel. Von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends!«

Sie mußte sich alle Mühe geben, das Kind davon zu überzeugen, daß ihr nicht bange werden würde. Dann hatte sie es frohen Herzens hinausziehen sehen, ihr braun gebranntes Mädel mit den lichtbraunen Defreggerzöpfen um den zierlichen Kopf, die kleine achtzehnjährige Schönheit, der alle Herzen zuflogen. Wie eifrig Max Laurentius, der junge Referendar, um sie bemüht war, und wie gut der neuen Freundin, seiner Schwester, das Spiel zu gefallen schien! Lange hatte Charlotte Magnussen den dreien lächelnd nachgeblickt.

Vielleicht war's das Glück, das da neben ihrer Lena in den sonnigen Morgen hinausschritt! Sie gönnte es dem Kinde von ganzer Seele, daß es nicht ein Leben lang darauf zu warten brauchte, wie sie es selbst getan hatte.

»Freilich, dann – dann –« Sie hatte sich wieder gesetzt. Träumerisch lehnte sie die Wange in die schmale Hand. Kaum merklich bewegte sie den feinen Kopf.

»Dennoch, Liebesglück und Jugend vertragen sich besser miteinander.«

Langsam, mit zärtlichen Händen zog sie den Brief aus dem Umschlag. Acht lange, engbeschriebene Seiten.

Warum hatte er früher nicht so zu ihr gesprochen! Sieben [12] Jahre früher! Jahre des Sehnens und Harrens, des Verzweifelns und Entsagens.

Was hatte ihr an reichen Einkünften, was an der großen klinischen Stellung gelegen, die er sich mit seinen glänzenden Gaben inzwischen erobert hatte? Ihr war er lieb gewesen, weil er er war, weil nach kurzer liebeleerer Ehe, die der Tod frühe gelöst, er der erste, einzige Mann war, der Bewegung in ihr reiches, durch Jahre stagnierendes Innenleben gebracht, der erste Mann, den sie liebte, für den sie bereit war, all die aufgespeicherten Schätze ihrer reichen Frauennatur hinzugeben.

Es war eine merkwürdige Zeit wechselnder Phasen gewesen.

Das Leben mit dem Gatten, einem älteren Mann in großer Stellung, den die mittellosen Eltern für sie ausgewählt, hatte ihr mancherlei gesellschaftliche Pflichten auferlegt, die lastend auf ihr gelegen hatten. Ihr feiner, vornehmer Sinn hatte niemals Freude an Herdenvergnügungen finden können. Da sie frei war und unabhängig, lebte sie in stiller Abgeschlossenheit, ihr kleines Eigenhaus weit draußen im Westen der Stadt nur wenigen Intimen offen haltend.

Die Verwandten des Mannes drängten und stichelten. Das Haus des Verstorbenen war ihnen ein Mittelpunkt gewesen, der gesellige Vergnügungen und gleichzeitig mancherlei nutzbare Beziehungen brachte. Sollten sie sich von seiner eigenwilligen jungen Witwe um diese Vorteile betrügen lassen?

Laut und leise grollten, schmollten und diktierten sie. Sie predigten tauben Ohren. Charlotte von Magnussen, die allzulange ihre eigenste Natur hatte knechten müssen, hörte auf niemand mehr als auf sich selbst. Sie schuf ihr Leben einzig nach ihrem Gefallen und des heranwachsenden Kindes Bestem.

[13] Da, auf einer Pfingstfahrt durch Thüringen, hatten sie einander kennen gelernt, die reife, einsame Frau mit der Fülle ungelöster, uneingestandener Liebessehnsucht, der Mann, mitten im heißesten, drängendsten Schaffenstrieb stehend, im Beginn seiner Laufbahn, vorwärts stürmend in eine noch ungewisse Zukunft.

Beide waren sie, leicht müde und erschlafft, in die grünen Thüringer Wälder gezogen. Der junge Arzt, ein wenig müde gearbeitet, Charlotte, ermattet von langer Pflege des nun genesenen Kindes. In einem der lieblichen Täler bei Eisenach waren sie sich zuerst begegnet. Otto Frenjen kam von der »Hohen Sonne« herunter, Charlotte saß am Fuß des Berges in einer grünen, von wilden Frühlingsblumen überwucherten Talmulde. An den Hängen blühte der blaue Flieder, leuchtete der Blütenschnee der Obstbäume in der warmen Maiensonne.

Lena tollte auf der Wiese umher. Sie warf einen Ball hoch in die blaue Frühlingsluft und fing ihn jauchzend wieder auf, bis er plötzlich ihren Händen entglitt und rasch und unaufhaltsam in den kleinen sprudelnden Bach rollte.

Mit zwei Schritten war Otto Frenjen zur Stelle gewesen. Lachend brachte er dem bestürzten Kinde den kleinen triefenden Durchgänger zurück.

Das war ihre Bekanntschaft gewesen.

Drei köstliche Tage des Beisammenseins, in denen ihre Seelen weit und groß wurden, in denen sie sich fanden, wie ernste, reine Menschen einander finden, in dem felsenfesten Bewußtsein, eins zu sein und zu bleiben, sich nie wieder verlieren zu können, ohne daß ein bindendes Wort gesprochen worden wäre.

Dann war Berlin wieder in seine Rechte getreten. Niemals war es Charlotten so kühl, so frostig, so konventionell [14] erschienen. Wo waren die Sonnentage in Tal und Wald geblieben? Aufgesogen von dem grauen, schläfrigen Alltag.

Frenjen war sehr beschäftigt. Er vertrat einen Kollegen am Krankenhaus im Friedrichshain. Im besten Falle brauchte er anderthalb Stunden, um zu ihr zu gelangen. Wenn er kam, schien er beklommen und unfrei zu sein. Was er sprach, wie er sich gab, stand nicht im Einklang mit dem sehnenden, zärtlichen Blick seiner Augen, die Liebe heischten und gaben, wie draußen zwischen Tannengrün und Fliederduft.

Durch Wochen und Monde verzehrte Charlotte sich in Sehnsucht nach dem erlösenden Wort, das nicht kommen wollte, nach dem Wort, das in den Maitagen draußen im Wald so einfach und selbstverständlich erschienen war: »Ich liebe dich. Wenn du mich lieb hast, sei mein Weib.«

Es kam nicht über seine Lippen. Immer verschlossener und beklommener wurde er, und am Ende zog auch sie sich scheu in sich selbst zurück.

Sie liebte ihn, liebte ihn mit täglich wachsender, verzehrender Glut. Mit einer Liebe, von der sie bisher nichts geahnt, die sie anderen nicht geglaubt haben würde. Ihr ganzes Leben war erfüllt von diesem Manne, dem ihr Herz und ihre spät erwachte Liebessehnsucht vom ersten Augenblick an verfallen war. Sie durchweinte lange, bange Nächte. Sie zitterte, wenn er nicht kam, und bebte, wenn sie seine Schritte von fern hörte; sie erschauerte, wenn ein Briefblatt von ihm zu ihr ging, sie entfärbte sich, wenn sein Name nur genannt wurde. Aber sie schwieg wie er, ward verschlossen wie er.

Manchmal, wenn er ihr gegenüber saß in ihrem kleinen, reichen, mit seltsamen Kostbarkeiten angefüllten Boudoir, still und bleich wie sie selbst, fragte sie sich, ob das noch derselbe Mann sei, mit dem sie in lachender Lebensfreude, in jubelndem [15] Glücksgefühl Schulter an Schulter durch den Frühling geschritten war?

Tausende von Malen hatte sie's auf der Zunge, zu sagen: »Was ist dir geschehen? Was hat dich so verändert? War's ein Wahn? Liebtest du mich nie? Hab' ich deine Worte, deine Blicke, den Druck deiner geliebten Hand, den einzigen, sehnenden Kuß auf Stirn und Augen so falsch gedeutet?«

Aber sie schwieg, schwieg wie er.

In den heißen Augusttagen ging sie mit Lena an die Ostsee. Sie hatte absichtlich keinen entfernteren Punkt gewählt, um ihm, dem Vielbeschäftigten, die Möglichkeit zu lassen, sie wenigstens auf Tage zu besuchen.

Sie wartete vergebens. Er kam nicht. Nur kurze Grüße, die die unterdrückte Glut des Empfindens kälter scheinen ließen, als sie gemeint waren, flogen hin und her.

Als Charlotte mit Lena im September nach Berlin zurück kam, war er nicht da. Er war zu seiner Mutter gerufen worden, die plötzlich erkrankt war. Die alte Frau lebte oben im Dithmarschen. Mehr wußte Charlotte nicht von ihr. Er sprach selten oder nie über seine Familie.

Die Mutter schien seiner Pflege lange bedurft zu haben. Es war November geworden, als er zum erstenmal unerwartet bei Charlotte eintrat. So erschüttert und ergriffen war sie von dem plötzlichen Wiedersehen nach langer Trennung, daß sie fast zusammenbrach. Auch er stand vor ihr, wie von einem Krampf geschüttelt. Bleich bis in die Lippen streckte er die Hände nach ihr aus und ließ sie wieder fallen. Eine heiße Sehnsucht brannte in seinen Augen auf. Dann irrten seine Blicke von ihr ab in dem reichen Gemach umher. Unmerklich zog Unbegreifliches über ihn hin, und plötzlich stand er wieder mit jener stillen, gelassenen Starrheit vor ihr, die ihr am Herzen fraß wie ein nagender Wurm.

[16] Mit einer Stimme, die beinahe gleichgültig klang, erzählte er ihr, daß seine Mutter gestorben sei, daß er traurige und verworrene Verhältnisse in der Heimat vorgefunden habe. Unversorgte Geschwister, uneingelöste Verpflichtungen, die nun nach dem Tode beider Eltern auf seinen Schultern ruhten. Er müsse trachten, rasch zu einem großen Einkommen zu gelangen.

Sie öffnete die Lippen, um ihm zu sagen: »Komm zu mir, bleibe bei mir. Ich habe genug gelitten um meines Reichtums willen. Laß du ihn an uns zum Segen werden, den Deinen damit helfen –«, aber das Wort erstarb ihr im Munde, so finster entschlossen sah er aus. Als er an diesem Tage von ihr ging, hatte sie geglaubt, sie würde ihn niemals wiedersehen.

Lange Zeit verging. Er hatte Berlin verlassen, ohne Abschied.

Draußen glaubte er gefunden zu haben, was ihm und dadurch auch den Seinen, für die er die Sorge übernommen hatte, taugte.

Aber es war nur für kurze Zeit.

Danach kehrte er im Frühjahr, genau zwölf Monate, seit sie sich zum erstenmal am Fuße der »Hohen Sonne« gesehen, erleichterter, zuversichtlicher zurück.

Charlotte Magnussen strich langsam und gedankenschwer über die kleine rote Juchtenmappe.

Wie treu ihr Herz all diese einzelnen Stationen ihrer Liebes- und Leidenswallfahrt bewahrt hatte!

Das Jahr, das nun folgte, war kein Jahr jubelnden Glücks, aber es brachte doch stille, sanfte Freuden, Beruhigung und Linderung für manche schmerzende, blutende Wunde.

Frenjen schien draußen in der angestrengten Tätigkeit zu einem Entschluß gekommen zu sein, der ihm größere Gleichmäßigkeit [17] verlieh und der verschlossenen, düsteren Starrheit seines Wesens ein Ende gemacht zu haben schien.

Man hatte ihm für ein Jahr die leidlich besoldete Vertretung desselben Assistenten am städtischen Krankenhaus im Friedrichshain angetragen, den er im vorigen Herbst während kurzer Wochen ersetzt hatte. Der Gesundheitszustand war nicht schlecht. Otto Frenjen hatte häufig Zeit gefunden, zu Charlotte hinauszufahren.

Mitteilsamer geworden, erzählte er ihr, was er für die Seinen erreicht hatte und wie er sich seine eigene Zukunft zu gestalten dachte.

Wenn sie ihn dahin brachte, hatte Charlotte zum Teil gewonnenes Spiel.

Nicht daß die alte, sehnsüchtige Zärtlichkeit der Thüringer Maientage in ihm aufgebrochen wäre, wohl aber etwas von dem Feuer und dem Schwung, die Charlotte zuerst an ihm entzückt hatten.

Mit leuchtenden Augen, in brennenden Farben malte er ihr dann ein Zukunftsbild seines künftigen Lebens im reinen Dienst der Wissenschaft. Nach einer kleinen oder mittleren Universität zog's ihn hin, wo das praktische und theoretische Wirken des einzelnen sich individuell entwickeln konnte, wo der einzelne sich betätigen konnte, nicht im großen Strom mitzuschwimmen brauchte.

Beglückt hörte Charlotte ihm zu. Daß er nicht von ihr und sich sprach, wollte sie gern vergessen, wenn er nur für sich selber wieder lebensfrischer, tatenfroher ward.

Das Jahr war hingegangen, ohne daß ein entscheidendes Wort zwischen ihnen gefallen wäre.

Auf eine in ärztlichen Kreisen Aufsehen erregende Broschüre hin war er nach Jena berufen worden.

Otto Frenjens heißester Wunsch hatte sich erfüllt. Mit [18] unvergossenen, brennenden Tränen in den Augen, mit unnennbarem Weh im Herzen hatte sie ihn ziehen lassen.

Am nächsten Morgen, eine Stunde vor der Abreise nach Jena, war er noch einmal wiedergekommen.

Lange hatte er nichts gesagt, sie nur stumm und traurig angesehen, ihre Hand in der seinen haltend. Endlich hatte er gesprochen, langsam und schwer.

»Ich komme wieder, Charlotte, wenn ich Ihrer wert und würdig bin. Ein armer Schlucker, der nichts ist und nichts hat als bedürftige Verwandte und die Sorge um sie, ist kein Gefährte für Sie.«

Wieder, wie so oft, hatte er seine Blicke durch das kostbare Gemach schweifen lassen.

»Damals, in jenen Maitagen, wußte ich nicht, wie es um Sie stand; ich hätte sonst meine Gefühle besser im Zaum gehalten.«

Eine tiefe Melancholie, etwas wie Reue, hatte durch diese Worte geklungen.

Dann, nach einem langen Kuß auf ihre Hand, war er davongeeilt.

Sie hatten sich nicht wiedergesehen. Jahre des Kampfes, schwerer, stiller Resignation waren für Charlotte der Trennung gefolgt. Sie hatte oft das Gefühl, eine alte Frau geworden zu sein, die für sich selbst nichts mehr vom Leben forderte und erwartete, die nur für ihr Kind noch auf der Welt war.

Auch diese Reise war aus Lenas frischer Initiative herausgewachsen. Charlotte lächelte. Es war ein starker Wille zum Leben und Glücklichsein in ihrem schönen begabten Kind, ein stärkerer, als sie ihn je besessen hatte.

Sie nahm die Hand von den Augen, die sie im Nachdenken darüber gelegt, und blickte wieder in den Brief. Er war Professor geworden, Gewinn und Ehren waren ihm nach [19] Verdienst zugefallen. Er hielt sein Wort, er kam zurück, er warb um sie. Etwas wie ein schmerzliches Glücksgefühl krampfte ihr das Herz zusammen. Aufs neue brannte die Frage in ihr auf: War es notwendig gewesen, so lange zu warten? Sieben unwiederbringliche Jahre heißen Glücks zu verlieren?

Auf der Terrasse wurde es unruhig. Die Vorbereitungen zum Lunch begannen. Einzelne Gäste, geschäftige Kellner gingen ab und zu.

Charlotte verschloß den Brief in die kleine Juchtenmappe. Dann stand sie auf und ging durch die langen, kühlen, halbdunklen Gänge des alten Hauses über ein paar breite Eichenstufen in ihr Zimmer hinauf.

Ein dämmeriges Licht füllte den behaglich eingerichteten Raum. Die graugelben Jalousien waren gegen die heiß eindringende Sonne geschlossen worden. Gedankenmüde ließ sich Charlotte in einen Armstuhl sinken. Langsam verblaßten die Vergangenheitsleiden, leuchtend stand die Zukunft vor ihr auf.

Sie sprang auf und stieß die Holzläden von den Fenstern zurück. Blendender Sonnenschein flutete hinein. Drüben von der Kirche schlug es drei. Vier, vielleicht nur drei Stunden noch! Sie wußte nicht, woher er kam, und konnte seine Ankunft nicht genau berechnen.

Sie legte das dunkle Kleid ab und nahm ein leichtes, helleres, sommerliches aus dem Schrank.

Dann trat sie vor den Spiegel, der zwischen den Fenstern im helleinfallenden Tageslicht stand und begann ihr reiches blondes Haar neu zu ordnen.

Wie es aufgelöst über den gestickten Batistmantel fiel, den sie umgenommen hatte, wollte es ihr scheinen, als habe sie noch niemals so viel graue Haarsträhnen zwischen der blonden Fülle bemerkt als heute. Gedankenvoll ließ sie sie durch die [20] Finger gleiten und kämmte sie dann rasch in den vollen lichten Knoten zurück.

Als sie ihren Anzug beendet hatte, blickte sie noch einmal aufmerksam in das Spiegelglas. Ein kleiner, gepreßter Seufzer hob ihren Busen. Würden seine Augen, ebenso unbarmherzig als die ihren, jeder feinen Falte, jeder leisesten Erschlaffung in ihrem Gesicht nachspüren?

Sie nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Drei-, viermal mußte sie einen Satz wiederholen, bevor sie seinen Sinn verstand. Jeder leise Schritt draußen vor der Tür schreckte sie auf und machte sie erbeben. Es wurde geklopft. Kaum hörbar rief sie: »Herein«. Der Piccolo kam mit etwas Weißem in der Hand. Ein Brief, ein Telegramm – sie konnte es nicht unterscheiden. Sie fühlte, daß alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Um Gottes willen, nur jetzt keinen Aufschub mehr!

Der Kleine kam näher. Er brachte die Karte eines durchreisenden Bekannten, der Frau v. Magnussens Namen an der Fremdentafel gelesen hatte.

»Der Herr läßt sich der Gnädigen empfehlen. Er hatte nicht Zeit, der Gnädigen selbst seine Aufwartung zu machen.«

»Es ist gut.«

Der Junge schloß die Tür. Sie war wieder allein. Die Minuten wurden zu Stunden. Es litt sie nicht mehr im Zimmer. Sie wollte einen kurzen Weg machen. Bis zur Innbrücke etwa und wieder zurück. Sie konnte ein paar Einkäufe besorgen, Blumen und für ihn Früchte. Sie würden ihm gut tun, wenn er etwa heiß und mit trockener Kehle ankommen würde.

Es war im Laufe des Tages sehr warm und staubig geworden. Vom Fenster bemerkte Charlotte, daß die Anfänge eines Schirokko den Staub in feinen weißen Wölkchen zusammenwehten. [21] Trotzdem drängte es sie aus dem kühlen Zimmer fort.

Als sie den kostbaren schwarzen Federhut auf das blonde Haar steckte, fiel ihr plötzlich ein, wie einfach und schlicht der kleine Reisehut gewesen war, den sie damals in Thüringen getragen hatte. Eine kleine Tirolerform mit ein paar Spielhahnfedern, ähnlich dem Touristenhut, den Lena heute trug. Sie hatte sich damals absichtlich ganz schlicht getragen. Sie wollte, allein mit dem Kinde unter den einfachen Menschen, welche die Thüringer Berge durchstreifen, nicht auffallen.

Dem Portier gab sie nachdrücklich Weisung, daß sie in einer halben Stunde zurück sein werde, wenn etwa jemand nach ihr fragen sollte.

In der weiten Vorhalle nach dem überwölbten Ausgang zu traf Charlotte Magnussen den Wirt des Hotels, der gerade zwei raffiniert ausgerüsteten Engländern, die durchaus zu Fuß über den Brenner wollten, das Geleit gegeben hatte.

Da der Schirokko stärker zu wehen schien, fragte Charlotte den mit den gesamten alpinen Verhältnissen Tirols Wohlvertrauten, Lenas halber besorgt, um Rat.

Der Wirt beruhigte in liebenswürdiger, sachlicher Form. Oberhalb Igls würden die Herrschaften vollkommen geschützt sein. Auch hier würde der übrigens sehr zahme Schirokko kaum über die Mittagsstunden fortdauern. Er erzählte, daß er nachmittags zu einer Aufsichtsratssitzung nach Brennerbad hinauf müsse und für diese Fahrt das schönste Wetter erwarte und morgen weiter nach dem Gardasee, wo er in Riva ein zweites großes Haus eröffnet habe. In drei Tagen sei er zurück und hoffe zuversichtlich, die Herrschaften dann noch hier zu finden.

Charlotte zuckte leicht mit den Achseln. Ein verstohlenes [22] Lächeln stahl sich in ihre Augen. In drei Tagen würde sie schwerlich noch Herrin ihrer Bestimmungen sein!

Als sie von ihrem Ausgang zurückkam, war es vier Uhr. Pfirsiche, Trauben und einen köstlichen Strauß frischer Alpenblumen trug sie auf ihr Zimmer und bestellte sich einen Tee. Zu essen war sie nicht imstande.

Endlich sank langsam die Dämmerung herein. Charlotte lehnte aus dem Fenster. Der Schirokko hatte sich wirklich vollkommen gelegt. Still und warm ging die Luft.

Sie sah zur Linken nach dem hell erleuchteten Bahnhofsgebäude hinüber, an dem das Zifferblatt der großen Uhr klar erkennbar war. Eben wurde telegraphisch ein Zug angekündigt. Sie hörte es deutlich durch die dämmerige Stille. Ob er ihn brachte?!

Rechts hinauf, wo die Straßen in die Berge führen, leuchteten in den großen, palastähnlichen Häusern erst wenige Lichter auf. Wie ein grauer, weicher Schleier lag es über der Stadt, zart und undurchdringlich wie ihre Zukunft. Sie ging vom Fenster fort und setzte sich auf den Diwan, die feinen Hände ergeben im Schoß gefaltet. Der rastlosen Aufregung des Tages war eine erwartungsvolle Stille gefolgt.

Es war ganz dunkel, als sie plötzlich nebenan in dem kleinen Salon, der ihr und Lenas Schlafzimmer trennte, ihres Kindes frische Stimme hörte.

Charlotte schreckte auf. Ein uneingestandenes Wehgefühl zuckte plötzlich in ihr auf. Sie hätte den Geliebten gern wieder gesehen, ehe die Tochter zurück war.

Sie richtete sich auf. Nebenan blieb es still. Dann wurde in Lenas ungestümer Art ihre Zimmertür vom Gang her aufgeklinkt. Lena flog auf sie zu. Im Vorüberhuschen hatte sie die elektrische Flamme aufgedreht.

Das Kind umhalste sie stürmisch.

[23] »Da bin ich, Muttchen. Es war herrlich oben. Einfach göttlich. Rate mal, was ich dir mitgebracht habe?«

Charlotte fuhr dem Mädchen, dessen Wangen und Augen glühten, besorgt über das Gesicht.

»Jedenfalls ein viel zu erhitztes Gesicht, Kind. Du hast wahrscheinlich die Tour wieder in deinem maßlosen Tempo gemacht.«

Lena fuhr sich rasch und ein wenig verlegen mit den kühlen Handflächen über die Wangen.

»O nein, Muttchen, wir haben uns Zeit gelassen – nur, daß –«

Charlotte dachte einen Augenblick an den Referendar.

Sollte er sich erklärt haben? War es heißes bräutliches Empfinden, das Lena auf den Wangen, in den Augen glühte?

»Du, Mutti, rate endlich!«

»Edelweiß.«

Lena, die leidenschaftliche Edelweißsucherin, wehrte verächtlich ab.

»Das Eismoos, von dem gestern bei Tisch die Rede war.«

»Nichts Botanisches, Muttchen –« Lena lacht – »wenn du so willst, etwas aus einem anderen Naturreich – einen Menschen!«

Auch Charlotte fängt zu lachen an.

»Einen Gaisbuben etwa?«

Lena schüttelt den Kopf, daß das lockige Scheitelhaar um die schweren Flechten tanzt.

»Nein, einen sehr zivilisierten Menschen – einen Menschen, den du gern hast –«

Charlotte wird plötzlich sehr beklommen zu Sinn. Sie starrt auf ihr Kind, das sich unterbrochen hat und auf einmal wieder glühend rot geworden ist.

[24] »Wen?« fragt sie tonlos.

Lena holte tief Atem. »Doktor – vielmehr Professor Frenjen – er ist nämlich Professor geworden – aber was ist dir denn, Muttchen?«

»Nichts, nichts – wo ist er?«

Sie stützt sich schwer auf die Lehne des Stuhles, an dem sie steht.

»Hier nebenan, Muttchen –« Lenas Augen leuchten.

»Denk nur, er wollte gerade hierher. Auf der Schutzhütte in Heiligwasser trafen wir uns. Ich habe ihn gleich wiedererkannt, aber er wollte nicht glauben, daß ich die kleine Lena Magnussen sei.« Ein kleiner glücklicher Seufzer stahl sich aus der Brust des Mädchens. »Wir haben einen herrlichen Tag gehabt. Aber nun geh auch und begrüß ihn, Muttchen, er wartet schon auf dich.«

Charlotte fährt ein paarmal mechanisch mit der feinen, leicht bebenden Hand über Stirn und Haar. Dann geht sie langsam zur Tür. Lena ruft ihr etwas von raschem Umkleiden zum Diner nach, sie hört es kaum. Vor ihren Augen schwimmen grauweiße Nebel, vor den Ohren summt und braust es wie Wasserrauschen.

Ehe sie die Tür zu dem kleinen Salon öffnet, bleibt sie noch einen Augenblick auf dem jetzt ganz leeren Gang stehen. Eine kalte, eisige Angst hat sich ihr um das sehnsüchtig schlagende, glückfordernde Herz gekrampft. Dann öffnet sie leise die Tür. Er steht am Fenster und blickt in den hereinsinkenden Abend. Bei dem behutsamen Geräusch wendet er sich lebhaft um. Er steht und sieht sie an. Sie kann den Ausdruck seines Gesichtes nicht enträtseln, aber es will ihr scheinen, als seien auch an ihm die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Leise ruft sie seinen geliebten Namen.

»Charlotte!«

[25] Er stürzt auf sie zu. Eine tiefe Bewegung geht durch seine Stimme, fliegt über seine kraftvolle Gestalt.

Er beugt sich über ihre Hände und legt seine Lippen darauf; dann schlingt er leise den Arm um sie und küßt sie sanft auf die Stirn.

Mit großen, fragenden Augen sieht sie ihn an. Sie will etwas sagen, aber ihre Lippen sind verschlossen wie vor Jahren.

»Liebe Charlotte!«

Etwas Sanftes, Klagendes liegt in seinem Blick, in seiner Stimme. Er nimmt sie bei der Hand und führt sie zu dem kleinen Sofa in der Fensternische. Er behält ihre Hand in der seinen und streichelt sie leise. Eine Träne tropft aus ihren Augen brennend auf seine Hand hinab.

»Liebe, liebe Charlotte.«

Da hält sie sich nicht länger. All das zurückgedrängte, sehnende Weh langer, einsamer Jahre, all die verhaltene Liebesglut, die so brennend an ihr gezehrt, brechen in ihr los. Bebend und schluchzend ihn umfangend, sinkt sie an seine Brust.

Einen Augenblick liegt sie da, ganz still. Auch er rührt sich nicht. Dann richtet sie sich auf und leise, wie verzagt, fragt sie: »Nun ist alles gut. Nicht wahr, nun ist alles gut?«

Und mechanisch wiederholt er: »Ja, nun ist alles gut,« und blickt mit traurigen Augen über Charlottens Kopf fort nach der Tür.

Seine Hand mit ihren Fingern zärtlich fest umspannend, fragt sie leise, jedes Wort eine Liebkosung:

»Und ihr habt euch getroffen, du und das Kind?«

»Ich war überarbeitet und müde; ich wollte zwei Tage in die Berge, ehe ich zu dir kam.«

»Und hast du Erfrischung gefunden?«

[26] »Ja, ja.« Er sagt es hastig und gereizt. »Sehe ich nicht so aus?«

Mit einem stolzen, glücklichen Lächeln blickt sie zu ihm hin.

»O sehr. Und ich?« fügt sie zaghaft hinzu.

»Schön wie immer, nur ein wenig blaß.«

»Das macht die Freude.«

Sie lehnt sich ein wenig müde an seine Schulter und will ihn küssen, als die Tür heftig aufgeklinkt wird. Frenjen springt auf. Eine kaum verhohlene strahlende Freude geht über sein Gesicht, als er Lena im Türrahmen sieht. Ein Bild frühlingshafter, siegreicher Jugend, steht sie in ihrem schlichten weißen Kleide, einen Strauß Alpenblumen im Gürtel, da, das schwere lichtbraune Haar in dem funkelnden Licht der elektrischen Lampen wie von Goldschimmer überwebt. Ihre strahlenden Augen hängen an Frenjens Blick.

Auch Charlotte hat die Augen zu dem Geliebten aufgehoben. Ein Schwindel erfaßt sie. Was die Jahre ihm angetan haben, scheint plötzlich aus seinem Antlitz fortgewischt zu sein. So wie jetzt haben seine Augen in jenen unvergeßlichen Maientagen geleuchtet, so wie jetzt hat sein junger ausdrucksvoller Mund gelächelt, so in sehnender Kraft seine Gestalt sich gestrafft und gespannt. Aber seine leuchtenden Blicke fliegen achtlos über sie hin zu einer anderen, sein beredter Mund lächelt über sie fort zu einer anderen, und diese andere ist ihre Tochter!

»Nun, Muttchen, habt ihr euch ausgeplaudert?« fragt Lenas frische Stimme.

Erschreckt fährt Charlotte zusammen.

»Es hat nämlich schon zum zweitenmal zu Tisch geläutet. Fanny Laurentius war schon an meiner Tür und hat Lärm geschlagen.«

»Ich bin bereit.« Sie zwingt sich zu einem Lächeln und [27] nimmt Frenjens dargebotenen Arm. Zu dreien gehen sie in den Speisesaal hinab.

Frenjen nimmt zwischen Charlotte und Lena Platz. Die Geschwister Laurentius setzen sich den dreien gegenüber. Der Referendar ist augenscheinlich wenig erbaut davon, daß der so plötzlich hereingeschneite Professor, der ihm schon den Abstieg von Heiligwasser verdorben hat, auch hier wieder Lena Magnussens Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.

Er gibt sich die erdenklichste Mühe, Lenas lebhafte Augen, ihre sprudelnde herzgewinnende Lustigkeit von dem Professor abzulenken. Auch Schwester Fanny tut das ihrige dazu. Langsam gelingt es den beiden, die Freundin für eine kurze Stunde zurückzuerobern.

Frenjen, der es gar nicht bemerkt hat, daß Charlotte bleich und still, ohne eine Speise zu berühren, neben ihm gesessen hat, spricht jetzt halblaut auf Frau von Magnussen ein. Er vermeidet das trauliche Du, das er in seinem langen werbenden Brief gebraucht hat und das oben in dem kleinen Salon trotz allen schmerzlichen, ahnenden Bangens Charlottens Ohr sanft umschmeichelt hat.

Ernste, freundliche Milde, tief ergebene Freundschaft sprechen aus jedem seiner Worte. Ohne daß er vielleicht selbst es weiß, geht er mit ihr wie mit einer Kranken um, jedes Wort sorgsam wählend, jede Miene abwägend, um ihr nicht wehe zu tun.

Nach dem Speisen bleibt die Tischgesellschaft zum größten Teil unten in der Halle. Es ist ein wundervoll warmer Abend. Weit auf stehen die Türen nach dem Garten mit den Oleanderbäumen unterhalb der Terrasse. Wie flüssiges Silber liegt der Mond auf den schneebedeckten Felshängen und Schroffen der alten Bergriesen.

Charlotte wirft einen kurzen Blick hinaus, dann geht sie [28] langsam, wie sie glaubt unbemerkt, die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie öffnet den kleinen Salon, in den das Mondlicht jetzt voll hereinfällt und sinkt auf einen Sessel nieder. Sie ist todmüde. Wie zerschlagen sind ihre Glieder. Sich zur Ruhe zu legen, daran denkt sie nicht. Sie weiß, sie würde keinen Schlaf finden.

Sie legt die Hand über die schmerzenden Augen, die von unvergossenen Tränen brennen, sie versucht zu denken, zu verstehen. Langsam und schwer gehen ihre Gedanken. Ein müdes, bitteres Lächeln zieht sich um ihren Mund. Sie fühlt, dies Wiedersehen, dieser jähe Wechsel von jubelndem Besitzesglück zu gramvollem Verzicht hat sie mit einem Schlage zu einer alten Frau gemacht.

Ihre Augen bleiben trocken. Starr und verwundert blickt sie vor sich hin auf das Muster des Teppichs, das das Mondlicht spielend umrankt, grübelnd über das Unbegreifliche.

Kann er sie jemals wahrhaft geliebt haben, wenn ihm das geschehen konnte? Ist das jahrelange Zögern und Schwanken um der äußeren Verhältnisse willen nicht am Ende nur ein Aufschub gewesen, den er sich absichtlich gestellt, um die Wahrhaftigkeit seiner Gefühle zu prüfen, deren er nicht sicher war? Hätte ihr mit ihrer heißen, unvergänglichen Liebe geschehen können, wie ihm geschah? Hätte sie auf dem Wege zu ihm binnen Stundenfrist einem andern ihr Herz schenken können, nur weil dieser andere die unberührte frische Jugend war?

War es Mannesart, plötzlich abzuspringen vom Wege zum Ziel, gewalttätig etwas zu begehren, an sich zu reißen, was ihm zuvor weltfern gelegen hatte? Mannesart, andere zu vernichten, zu zerstören, nur um für sich selber aufzubauen? War es Schicksal, Bestimmung – ein gütiges Schicksal vielleicht – das sie davor bewahrte, den geliebten Mann unbefriedigt, [29] unglücklich an der Seite der alternden Frau zu sehen, das ihr vergönnte, durch die eigene Tochter das Glück mit vollen Händen über ihn zu streuen, das ihren wartenden Händen müde entfallen war?

Leise, dann vernehmlicher klopft es an ihre Tür. Frenjen tritt ein. Ist es nur das Mondlicht, das ihn so geisterhaft bleich macht?

»Ich sah dich fortgehen, Charlotte. Du bist müde. Du solltest dich schlafen legen. Oder wollen wir noch ein wenig plaudern?«

»Wie du willst.« Sie sagt es freundlich, aber sichtlich gequält.

Er beugt sich ein wenig zu ihr nieder. Er will etwas sagen, unterbricht sich aber beim ersten Anlauf.

Ein leiser Schauer fliegt über ihren Leib. Soll sie auch dies Schwerste von ihm fort auf ihre Schultern nehmen, ihm sagen: »Quäle dich nicht – ich weiß – du hast dich getäuscht – du liebst nicht mich, du liebst die Jugend – ich gebe dich frei.«

Nein, das konnte sie nicht – heute noch nicht.

Wieder setzt er zum Sprechen an, jetzt unruhig und erregt durch den kleinen Salon hin und her laufend, wie er es in schweren Zeiten in ihrem Boudoir in Berlin oft genug getan hat.

Diesmal findet er Worte, schwer und gepreßt.

»Wir haben viel zu besprechen – über unsere Zukunft – ich konnte dir nicht alles schreiben – zum Beispiel, daß – ich – ich möchte nicht nach Berlin. Ich möchte in Jena bleiben – wenn es dir dort nicht zu klein und eng ist –«

Er wartet auf ihre Antwort.

Nach einer Weile sagt sie müde:

»O, das hat ja Zeit.«

Erleichtert trat er wieder näher auf sie zu.

[30] »Ja, das gerade dachte ich auch, Charlotte – und – wenn es dich nicht verletzt – ich hätte eine Bitte –«

Er wartet, daß sie etwas sagen soll, aber diesmal bleibt sie stumm.

»Ich fühle mich nicht ganz wohl – oder richtiger – es geht mir vieles durch den Kopf – Berufliches – das ich erst los werden möchte, ehe wir den Tag unserer Hochzeit – du siehst ja selbst, ich bin zerstreut – würdest du mir zürnen, wenn ich morgen zunächst auf ein paar Tage in die Berge ginge – die Berge haben eine wunderbare, beruhigende Macht über mich – heute ist Donnerstag, am Montag bin ich wieder hier! Es verletzt dich nicht, Charlotte?«

Sie schüttelt leicht den Kopf. Sprechen kann sie nicht. Sie fürchtet sich vor den Tränen in ihrer Stimme.

»Ich danke dir, Charlotte.«

Er beugt sich über ihre Hand und küßt sie.

»Gute Nacht und auf Wiedersehen am Montag. Ich möchte morgen um fünf Uhr fort. Die Dunkelheit macht mir nichts.«

Charlotte nimmt ihre letzte Kraft zusammen.

»Weiß – Lena, daß du fort willst?«

Er sieht sie einen Augenblick mit erschreckter Verwunderung an. Dann spricht er ein ruhiges, ehrliches Nein.

»Möchtest du mir nicht deine Adresse zurücklassen – für alle Fälle – die Luft hier sagt mir nicht sonderlich zu – wenn ich den Aufenthalt wechselte –«

Unschlüssig sieht er in Charlottes stilles, bleiches Gesicht. Er versteht seine Sprache nicht.

»Ich hatte noch keinen bestimmten Plan gemacht, da ich nicht wußte, ob du damit einverstanden seiest.« Er denkt ein paar Augenblicke nach.

»Wenn du mir für Sonntag nach Landeck eine Nachricht [31] schicken wolltest? Ich komme in jedem Fall über Landeck zurück. »Hotel Post«.

Sie nickt still.

»Nochmals Dank, Charlotte.«

Er beugt sich zu ihr nieder, als ob er sie auf die Stirn küssen will, aber mit einer kleinen, kaum merklichen Bewegung hat sie den Kopf gewendet.

Als sie wieder aufblickt, ist er verschwunden. Leise knarrt die Tür in den Angeln.

Sie erhebt sich schwerfällig und geht in ihr Schlafgemach, das sie hinter sich verriegelt. Als Lena eine halbe Stunde später anklopft, um ihr Gute Nacht zu sagen, gibt sie keine Antwort mehr.

Sie muß mit sich allein bleiben, ganz allein.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Aufgeregt, mit verweinten Augen kommt Lena am nächsten Morgen zum Frühstück herunter. Charlotte sagt nichts. Sie weiß, um was und um wen ihr Kind geweint hat.

Der Referendar im weißen Flanellanzug bringt strahlend seinen Morgengruß, zwei große Sträuße taufrischer dunkler Rosen, die er Mutter und Tochter überreicht. Ohne die Blumen oder den Geber anzusehen, legt Lena die ihren neben den Teller.

»Der Herr Professor ist plötzlich abgereist?« Schwer kann der junge Mann seine Genugtuung verbergen.

Da Lena nicht antwortet, bestätigt Frau v. Magnussen: »Ja, in die Berge. Der Herr Professor hat eine größere Tour vor.«

Lena wirft ihrer Mutter einen schmerzlich vorwurfsvollen Blick zu. Die Mutter hat darum gewußt! Sie hat es durch Zufall erfahren müssen, daß er fort ist – fort, ohne Abschied von ihr.

[32] Die Laurentius' schlagen eine gemeinsame Tagespartie an den Achensee vor, bei der diesmal auch Frau v. Magnussen mittun müsse.

Noch ehe ihre Mutter Zeit zu einem Wort gefunden, lehnt Lena schroff ab. Sie ist nicht wohl. Sie will zu Hause bleiben. Allein sein.

Stumm wird das Frühstück fortgesetzt. Dann nimmt Charlotte ihr Kind bei der Hand und führt es hinauf, linde, behutsam. Sie kennt die Schmerzen, die Lena leidet.

Ungestüm, laut aufschluchzend wirft Lena sich Charlotte in den Arm.

»Ach, Muttchen, du weißt nicht, wie er war – und nun gleich – plötzlich – fort ohne Abschied!«

Das Kind umfaßt die Mutter fester und weint sich an ihrer Schulter satt. Liebkosend fährt Charlotte über das schwere lichtbraune Haar.

»Still, still, es wird vorübergehen.«

Ihre Augen sehen über das Kind fort, starr und leer in eine graue, lichtlose Zukunft. Endlos lang der dunkle Weg. Immer steiler läuft er bergab, die Jugend hinter sich lassend.

An ihrer Schulter bebt der junge Körper ihres Kindes, ungestüm sein Recht auf Glück und Liebe verteidigend.

»Sei ruhig, Lena. Ich rufe ihn dir zurück.«

Hat sie es wirklich gesagt oder hat ein anderer es gesprochen?

Wie von weit her, dumpf und schwer klangen ihr die wenigen Worte.

Lena hat sich aufgerichtet. Sie sieht der Mutter fragend ins Gesicht.

»Glaubst du, daß er kommen wird?«

»Wenn ich ihn dir rufe – ja.«

»Und warum ging er denn?«

[33] Charlotte besinnt sich einen Augenblick.

»Ein Mißverständnis – zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Otto Frenjen ist in der Dunkelheit planlos in die Berge hinausgelaufen. Langsam wird es Tag. Ein strahlender Tag. Wolkenlos blau wölbt sich der Himmel über der grauen, rosig überhauchten Bergkette mit ihren weißen Schneehäuptern. Unten liegt Innsbruck mit seinen Kuppeln und Türmen in einem Meer von Sonnenschein. Frenjen schließt die Augen. Das Herz krampft sich ihm zusammen. Er weiß, da unten in der sonnengebadeten Stadt weinen zwei um ihn, leiden zwei durch seine Schuld.

In einem dunkeln Waldwinkel, von ragenden Föhren dicht umgeben, wirft er sich auf den moosigen Grund. Er legt die Hände über die Augen. Er will alles vor sich verschließen. Er will nichts sehen als Charlottes liebes, bleiches Bild, Charlotte, um die er zu werben kam, die ihn geliebt hat mit unwandelbarer Treue, mit alles verzeihender Güte und Geduld, Charlotte, die er bis gestern zu lieben geglaubt, die sieben lange Jahre seines Lebens ausgefüllt hat.

Langsam, wie erstaunt, läßt er die Hände sinken. Sieben lange Jahre! Ihm ist, als sei er damals älter gewesen als heute. Eine Stellung, die seinen Ehrgeiz nicht befriedigte, die nagende Sorge um die Seinen, die ihm beim Tod der Mutter unerwartet aufgebürdet wurde, die Neigung zu der gleichaltrigen Frau, der er kein ihren bevorzugten Verhältnissen ähnliches Los bieten konnte, das alles hatte auf ihm gelastet, hatte ihn alt gemacht.

Heut stand er an dem Platz, dem er damals fiebernd zugestrebt. All seine Lebensbedingungen waren gefestet und [34] gesichert. Für die Seinen hatte er ausgesorgt. Last um Last war von ihm abgefallen.

Um Jahre jünger als in jenen Berliner Zeiten, da er in schwerem Kampf mit sich gerungen, ob er Charlotte zu der Seinen machen dürfe, hatte er sich gefühlt, als er jetzt vor wenig Tagen den Werbebrief an sie geschrieben.

Es war hoher Mittag. Durch die Föhren stahl sich ein goldner Sonnenfleck. Er wurde größer und leuchtender. Aus seinem Goldgrund schien plötzlich eine junge süße Gestalt mit lichtbraunen Haarflechten und hellen Strahlenaugen aufzuwachsen. Charlottens Kind, wie er es gestern bei den heiligen Quellen am Schutzhause wiedergefunden hatte.

Er schloß die Augen. Er wollte das Bild nicht sehen. Aber wenn es dennoch wiederkam, alle Tage, mit warmen, lockenden Händen nach ihm greifend, mit süßer, junger Stimme ihm zurufend: »Nimm mich, halt mich – ich bin das Glück!«

Eine heiße Blutwelle drang ihm vom Herzen zum Hirn. Wenn es so war – wenn er nicht vergessen könnte – wenn sich Lenas blühende Gestalt, ihre lockende Jugend zwischen ihn und Charlotte stellte, sehnsüchtig nach ihm riefe, fort und fort ihn mit heißem drängenden Verlangen füllte – –!

Er stöhnte laut auf. Mitten im warmen Sonnenlicht, das sich bis zu ihm gestohlen hatte, bebte er wie in Frostschauern.

Er sprang auf und ging weiter, ohne sich umzusehen, rasch wie ein Verfolgter, mit wankenden Knien, bergauf und bergab. Gegen Abend kam er zu Tal, an eine Station, die er nicht kannte. Die Gebirgsbahn führte ihn eine kurze Strecke weiter. Er schlief in einer kleinen Dorfschenke irgendwo traumlos und schwer. Als ihn am nächsten Morgen das Geschrei des Kuhjungen unter dem niederen Fenster weckte, waren seine Glieder so steif, daß er sich kaum rühren konnte.

[35] Er schlich sich eine halbe Stunde über das Dorf hinaus in eine enge, von einem Wildbach durchbrauste Schlucht. Auf einen Stein dicht am Wasser setzte er sich nieder. Nur ein wenig wollte er ruhen, dann wollte er zurück ins Dorf und an Charlotte telegraphieren, daß er abends wieder in Innsbruck sein würde. Wozu den Kampf verlängern, wozu Charlotte leiden lassen? Er war ja doch fest entschlossen, ihr sein Wort einzulösen.

Dann fiel ihm plötzlich ein, daß Charlotte vielleicht gar nicht mehr in Innsbruck sei, daß sie ihm für Sonntag Nachricht nach Landeck zugesagt habe. Zwei Tage noch so etwas wie ein freier Mann!

Er war bis dicht an das reißende, jäh zur Tiefe stürzende Wildwasser hinuntergestiegen. Einen Augenblick packte es ihn, in die grünblaue, weißschäumende Flut hinab zu tauchen, die Todesfahrt auf der reißenden Stromschnelle zu wagen.

Nur einen Augenblick lang, dann war der Kampf überwunden. Feige seiner Pflicht gegen die stille Frau aus dem Wege gehen, wollte er nicht.

Die Unrast trieb ihn schon einen Tag früher nach Landeck. Eine Nachricht war noch nicht angelangt. Planlos irrte er auf der heißen, staubigen Landstraße umher. In Dunst gehüllt lag die mächtige Pyramide des Hohen Riffler vor ihm, nur auf dem seitlichen Gletscher gleißte der Sonnenschein.

Wer da hinauf könnte in den ewigen Schnee, zu ewigem Vergessen!

Er wandte sich wieder zurück, der Innbrücke zu. Auf einem kleinen Feldwege sah er ein junges Geschöpf gegen die Berglehne zur alten Veste aufsteigen.

Sehnsüchtig sah er dem Mädchen nach, das ihn in Wuchs und Haltung an Lena Magnussen erinnerte.

Wie, wenn sie plötzlich zu ihm träte, ihm mit ihrer lieben [36] jungen Stimme sagte: »Wach auf! Der böse Traum ist zu Ende. Nicht eine Charlotte, eine Lena Magnussen hast du gefreit,« und zwei weiche Arme ihn umschlängen und ein frischer, unentweihter Mund sich auf den seinen preßte.

Eine schwere Mailcoach rollte, weißen Staub aufwirbelnd, schwer rasselnd an ihm vorüber, auf die Straße nach Finstermünz hinauf und weckte ihn aus seinen Träumen.

Er kehrte um und ging ins Hotel zurück. Auf der kleinen Steintreppe stand der Postmeister und händigte ihm einen Brief ein. Charlottens Brief.

Er steckte ihn in die Brusttasche und ging in sein Zimmer hinauf. Es lag im ersten Stock; ein kleiner Altan führte auf den Inn hinaus. Das wilde Brausen des Stromes übertönte jedes andere Geräusch.

Lange saß er auf dem kleinen Ausbau und starrte müde und gedankenlos zu dem Hohen Riffler hinüber. Dann nahm er den in Innsbruck am gestrigen Abend abgestempelten Brief aus der Brusttasche und schnitt ihn langsam auf.

Stockend, schwer, langsam begreifend, las er:


»Mein lieber Freund! Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich mit Lena auf der Rückfahrt nach Berlin. Ich denke, wir dürfen es uns ersparen, auf die Gründe einzugehen, die mich zu diesem Entschluß vermochten. In späteren, abgeklärteren Zeiten findet sich wohl eine Stunde dazu. Für jetzt nur so viel, daß meine nicht ganz einwandfreie Gesundheit es mir ratsam erscheinen läßt, sobald als möglich eine Absicht auszuführen, die Sie ja seit Jahren kennen: einen Winter in Kairo zu verbringen. Lena bleibt in Berlin im Schutze meiner alten lieben Freundin, Frau von Eppingen, zurück, deren Sie sich gewiß noch erinnern. Ich selbst denke, in acht bis zehn [37] Tagen Berlin verlassen zu haben. Wenn Sie es einrichten können, Lena am Schluß Ihrer Ferienreise aufzusuchen, wird sie Ihnen sicherlich schon über meine glückliche Ankunft in Ägypten berichten können.

Leben Sie wohl, lieber Freund, aus gutem warmen Herzen reiche ich Ihnen die Hand zum Abschied. Ich danke Ihnen für alle Liebe und Freundschaft, die Sie mir durch so viele Jahre erwiesen haben. Daß es anders gekommen ist, als wir beide noch vor wenig Tagen vorausgesehen, das hat wohl sein müssen. Vielleicht zu unser aller Bestem. Die Natur läßt sich nicht spotten, noch Gewalt antun. Ihnen und meinem geliebten Kinde alles Glück auf den Weg. – Auf Wiedersehen im Frühjahr!

Ihre alte und getreue Freundin

Charlotte.«


Über dem Fluß braute der Nebel. Mit feuchten Augen sah Frenjen auf die grauen wallenden Schleier. Charlottes bleiches, weinendes Gesicht schien ihm daraus entgegenzustarren. Langsam rollte eine Träne über seine bräunliche Wange.

Arme, gute, edle Charlotte!

Er ging ins Zimmer und verriegelte die Tür. Nur das unermüdliche Brausen des Stromes begleitete seine grübelnden Gedanken.

Spät abends schritt er noch einmal auf die Straße hinaus.

Wie ein breites silbernes Band fiel der Mond darüber hin. Über dem Fluß, der schimmernd zu Tal floß, strahlten die Sterne. Nebel und Dunst und Dämmer waren verschwunden. Leuchtend lag die Welt.

[38]

Seine Letzte

[39] [41]Ein Juliabend von drückender Schwüle. Ein grauer, schwerer Dunst lag über der Stadt. Um die Laternen und elektrischen Bogenlampen hatten sich braungraue Schichten gelegt, die unbeweglich wie Scheiben standen, von keinem Lufthauch bewegt.

Träge schlichen die Menschen dahin, aus den durchglühten Wohn- und Schlafräumen in die Bierpaläste und engen Restaurationsgärten der Stadt, in die die hohen umgebenden Mauern kaum einen Lufthauch ließen.

Nur auf der Friedrichstraße pulsierte so etwas wie Leben und Energie in dem auf und ab wogenden Menschenstrom, der jetzt um die zehnte Abendstunde zu einer undurchdringlichen Menge angestaut schien.

Vorbei an den gaffenden Laffen und den umherlungernden geschminkten, zur Karikatur aufgeputzten Dämchen, zwischen dem eiligen und stetiger seines Wegs gehenden besseren Publikum drängte sich ein junges, schlankes, schlicht gekleidetes Mädchen. Ohne umzuschauen eilte es durch die Menge, das hübsche Gesicht gerötet, das volle braune Haar von dem raschen Gang an den Schläfen und im Nacken gelockert.

Unter der einfachen gestreiften Leinenbluse hob sich die junge zartgewölbte Brust bei dem eiligen Lauf. Rasch, durch eine schmale Lücke zwischen den elektrischen Wagen und den dahinjagenden Taxametern, überschritt sie die Leipzigerstraße und lief dann die Friedrichstraße weiter nach Süden hinauf. [41] In die Schützenstraße bog sie linker Hand ein, um vor einem der ersten hochragenden Mietshäuser tief aufatmend stehen zu bleiben.

Gott sei Dank, von der Jerusalemerkirche holte es gerade erst zum Zehnuhrschlag aus.

Vor dem Torweg stand breitbeinig der Pförtner, den großen Hausschlüssel in der Hand.

Beklommen drückte sich das Mädchen, rasch noch Einlaß begehrend, an seine Seite.

»n'Abend, Herr Menke, bitte, ich möchte noch hinein.«

»Ach, Fräulein Wendemann,« machte der dicke, unförmliche Mensch gedehnt und sah spöttisch auf das junge, erhitzte, eilige Geschöpf. »So spät heute, Fräulein Wendemann? Hat wohl Überstunden jejeben in der Seisohn morte?«

Das Mädchen achtete nicht auf den höhnischen Ton des Alten.

»Ist Vater schon oben?« fragte sie gepreßt.

»Ist schon wieder weg, der Herr Papa,« gab der Alte zurück, sich an dem Schreck des Mädchens weidend. Dann, mit dem dicken aufgequollenen Daumen nach rückwärts deutend:

»Sitzt da drüben bei Becker. Hat sich noch 'ne Weiße genehmigt, da Fräulein Tochter nicht zu 's Abendbrot zu Hause kamen.«

Lieschen Wendemann machte eine Bewegung, als ob sie über den Damm hinüber in die bezeichnete Weißbierstube wollte. Dann besann sie sich rasch eines andern und drängte sich an Menke vorüber ins Haus.

Der Dicke legte ihr die fleischige Hand auf die Schulter, so daß das Mädchen zusammenzuckte, und sagte mit schlecht verhehlter Bosheit, die nicht frei von Neid war:

»Na Lieseken, mir können Sie 's doch sagen, wo Sie so [42] lange jesteckt haben, bei der Lotte oder bei der Mieze? Bei Bankiers oder bei Fabrikantens auf die feine Villa? Ei weh, stolz können Sie sein auf die beiden Schwestern.«

Lieschen Wendemann machte sich mit einer raschen Bewegung von Menke los.

»Sie sollten sich was schämen, Herr Menke,« sagte sie halblaut zwischen den Zähnen, »immer wieder davon anzufangen, wo Sie doch wissen, daß Vater –«

»Ach wat, Vater, is nich da, und wenn schon – Vater is 'n – na, ich will nischt jesagt haben, bei Ihre Verjötterung für den ollen Mann – aber am End, 'n Expreß is doch keen Minister, und wenn seine Mächens wirklich –! Mein Jott, man is nur eenmal jung und hübsch, und ich hätte janichts dajegen jehabt, wenn meine Alma jetzt zur linken Hand in 'ne Villa säße anstatt drei Treppen hoch in' Keller legitim als Schustersfrau mit alle Jahr 'n Jöhr und nischt zu beißen und zu knacken –«

Und dann, das Mädchen scharf aufs Korn nehmend:

»Na, und als Sie heute nich zum ersten Male so um zehnen statt um achten aus't Jeschäfte kamen, da dacht ick mir, na nu is det Lieseken an die Reihe –«

Lieschen Wendemann war eine heiße Röte ins Gesicht gestiegen. Ohne dem weiter plappernden Menke auch nur noch ein Wort oder einen Blick zu gönnen, war sie durch die hintere Torwegtür in den dunklen Hof geschritten und eilte nun wie gehetzt die vier steilen Treppen zu der kleinen Hinterwohnung hinauf, in der sie mit dem Vater zwei enge Zimmer und eine Küche innehatte.

Erschöpft warf sie sich auf den ersten besten Stuhl, an den sie in der dunkeln Wohnung stieß, und riß den Hut vom Kopf. Dann legte sie das heiße Gesicht in die kühleren Handflächen und saß so ein paar Augenblicke fast unbeweglich da. [43] Das Blut hämmerte ihr in den Schläfen. Seine unregelmäßigen Schläge wiederholten mit erschreckender Deutlichkeit die Worte, die der Alte unten soeben gesprochen hatte: »Nu is det Lieseken an die Reihe.«

Nein, nein, um Gottes willen, nein!

Das Mädchen sprang so heftig auf, daß der Stuhl, auf dem sie gesessen, jählings gegen die Tischkante schlug. »Nein, nein!« schrie sie jetzt laut heraus. »Das ist es nicht, das ist es nicht. – Wir lieben uns ja.«

Mit bebenden Fingern versuchte Lieschen Wendemann Licht zu machen. Die Dunkelheit war unerträglich. Die Stimme, die ihr im Ohr summte, das rebellische Blut mit seinen verräterischen Schlägen würden verstummen, sobald es hell um sie war. Und gleich mußte ja auch der Vater kommen. Er legte sich niemals später als um elf Uhr schlafen, denn morgens um fünf Uhr mußte er schon heraus und um sechs Uhr auf seinem Standplatz an der Friedrich- und Mohrenstraßenecke sein.

Die Lampe war kaum angezündet, da hörte sie auch schon seinen schweren, tappenden Schritt auf der alten, knarrenden, ausgetretenen Treppe.

Lieschen warf einen raschen, ängstlichen Blick in den Spiegel über der Kommode, auf die sie die Lampe gestellt hatte. Sie sah nicht mehr ganz so erhitzt aus als vor einer Viertelstunde, und das wirre lockre Haar war leicht zwischen die dicken braunen Flechten zurückgeschoben. Erleichtert seufzte sie auf.

Dann, noch ehe der Vater den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte, öffnete sie, die Tür des erleuchteten Zimmers weit hinter sich offen lassend.

Das sorgenvolle Gesicht des alternden Mannes glättete sich, als er das Mädel vor sich sah. Aus seiner, von unaufhörlichem [44] Vorwärtstrotten vornübergeneigten Haltung, richtete er sich ein weniges auf, und die rotlackierte Dienstmütze mit der Nummer 136 auf den Tisch legend, sagte er mit brummiger Zärtlichkeit:

»Na endlich bist du da, Kleine. Wo haste denn so lange gesteckt? Ist doch sonst nicht deine Art.«

Lieschen machte sich an dem Rockärmel des Vaters zu schaffen, der bestaubt und mit ein paar verspritzten Kotflecken bedeckt war.

»Kläre Müller, weißt du, Vater, das blonde Mädchen, das zugleich mit mir bei Wolpes eingetreten ist, quengelte so, ich sollte bei dem warmen Abend noch ein bißchen mit ihr an die Luft gehen. Sie wohnt nicht weit vom Geschäft, in der Bülowstraße, oben bei der Lutherkirche. Na, und da sind wir denn da auf der Bülowpromenade so lange auf und ab spaziert, und bis ich dann wieder in der Stadt war –«

Staub und Kotspritzen waren entfernt. Lieschen Wendemann konnte den Kopf wieder heben.

»So, so, ja na denn,« brummte der Alte, »ich hoffe, diese Müller ist 'ne ordentliche Person.«

»Ganz gewiß, Vater.«

»Na und morgen? Was willste den ganzen langen Sonntag anfangen, nu Onkel und Tante ins Bad sind?«

Lieschen hatte schon wieder einen neuen Fleck entdeckt.

»Laß man, laß, kannste morgen früh ausbürsten, wenn's ordentlich trocken ist. Nee wahrhaftig, hätte dich morgen gern ein Stündchen ausgeführt – aber 's sind viel Fremde hier – 's Geschäft blüht, da möchte man sich auch nicht versäumen.«

»I, wo wirst du denn, Vater. – Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen« – und Lieschen Wendemann sah jetzt mit ganz hellen Augen zu dem Alten auf.

»Morgens mach ich 's Essen so weit zurecht, dann schneidere [45] ich mir meine rosa Bluse fertig und dann geh ich auf'n Sprung Mutter besuchen. Die Blumen sind jetzt hübsch billig, da leg ich ihr einen Strauß Rosen aufs Grab. Dann mach ich uns rasch 's Essen fertig. Du kommst doch so um zweien, Vater?«

»Wenn mich nicht jrade einer in die moderne Jejend bis in' Irunewald rausjagt. – Und nachmittags?«

»Ja dann, so gegen Abend nämlich, hab ich mich wieder mit Kläre Müller verabredet – –«

Das Mädchen hatte die Augen wieder abgewendet und sah nach der Tür hin, die zu ihrer Schlafkammer führte.

Der Alte tätschelte die Halbabgewendete auf den zierlichen runden Arm.

»Na, denn haste ja ausgesorgt, Kleine. Aber nicht wieder so spät nach Hause kommen. Will mal sehen, daß ich halb zehne fertig bin. Denn trinken wir drüben noch 'ne Weiße zusammen. So, und nu woll'n wir in de Klappe jehn. Gute Nacht, Lieseken.«

Sie hielt ihm die weiche, rundliche Wange zum Kuß hin, auf die er seine, von grauen Bartstoppeln umsetzten rauhen, aufgesprungenen Lippen drückte.

»Gute Nacht, Vater.«

Aus der schmalen Kammer nach dem engen Hof hinaus schlug dem Mädchen eine schwüle, beklommene Luft entgegen. Sie streifte rasch die Bluse und den Kleiderrock ab und saß, nur mit Hemd und Mieder und einem leichten Röckchen bekleidet, auf dem Rand ihres Bettes und sah zu dem kleinen Ausschnitt freien Himmels auf, der zwischen den hohen, engen Hofmauern hineinlugte. Dunkel, schwer und drückend senkte er sich auf die Häusermasse herab. Kein Stern schimmerte durch die Dunstschichten, kein lichtes Wölkchen verschleierte das einförmige, tintenfarbene Schwarzblau.

[46] Gepreßt seufzte das Mädchen auf. Würde der Himmel auch morgen so düster und gestirnlos herabhängen, vielleicht schwere Regengüsse herabsenden, die all ihre erhofften Freuden zu Wasser werden ließen, würde er nicht da sein, drüben am Waldrand hinter den Häusermassen, in dem kleinen verwachsenen Steig, in dem sie einander seit zwei Wochen in jeder ihrer freien Abendstunden und allsonntäglich trafen?

Mit einem sehnsüchtig verlangenden Laut warf sie sich, seinen Namen flüsternd, in die Kissen.

»Hans, ach Hans!«

Ohne sich weiter auszukleiden, blieb sie in den Kissen liegen, die Augen halb geschlossen, vor sich hinträumend.

Kaum einen Monat kannten sie sich, und alles, was vorher gewesen war, alles, was nachher sein würde, war ihr versunken. Sie sah ihn, wie er das erste Mal in seiner schmucken Uniform an dem langen Ladentisch vor sie hingetreten war, um eine praktische Geldtasche auszusuchen. Sie hatte ihm dies und das vorgelegt, ohne daß er scheinbar hatte zu einem Entschluß kommen können. Dann waren sie plötzlich, sie wußten beide nicht wie, ins Plaudern gekommen. Er erzählte ihr, daß er im August ins Manöver müsse und dazu noch allerhand Ausstattungsgegenstände bedürfe. Einen Trinkbecher und ein Besteck in Leder, eine Reiseuhr, gleichfalls in Leder natürlich, auch eine neue Brieftasche würde möglichenfalls nötig sein. Sie, die Kameraden nämlich, sähen untereinander darauf, daß sie zum Manöver möglichst solide ausgestattet wären. Wie es denn mit einem Manöverkoffer sei, ob sie den auf Lager habe? Als sie ihn dann hatte in den ersten Stock führen wollen, war er plötzlich anderer Meinung geworden. Das habe noch Zeit, hatte er gemeint, er würde dieser Tage wiederkommen, auch dann über alles andere sprechen. Heute [47] wolle er nur das Geldtäschchen mitnehmen, das in Wildleder, ja das, was sie gerade in der Hand halte.

Dann hatte er noch einmal danach gegriffen, um es auf die Sicherheit des Schlosses hin zu prüfen, und dabei hatten sich ihre Finger berührt und wie ein elektrischer Strom war diese Berührung von einem zum anderen gegangen.

Liese Wendemann schloß die Augen und öffnete die sanft gewölbten Lippen, als ob sie etwas Süßes empfangen oder geben wolle.

Dann, nach einem leicht seufzenden Aufatmen träumte sie weiter.

Zweimal war er noch zurückgekehrt, Notwendiges und Überflüssiges heraussuchend. Dabei hatte sie auch seinen Namen und seine Adresse erfahren: Hans von Friesen, Oberleutnant, Karlstraße 36, hatte auf der Karte gestanden, die er ihr bei seinem dritten Besuch auf den Ladentisch gelegt hatte. Sie hatte die Sachen zusammenpacken und den Manöverkoffer schließen lassen. Dann war sie betrübt an den Ladentisch zurückgegangen. Nun war's wohl vorüber mit den Besuchen des hübschen Offiziers, der so lieb und lustig zu plaudern wußte. Plötzlich, es war um die Mittagszeit, und sie war auf ein paar Augenblicke allein im Laden gewesen, war er zurückgekommen.

Das Herz hatte ihr bis in die Kehle hinauf geschlagen.

»Liebes Fräulein, hier auf die Brieftasche muß noch ein Monogramm.« Und dabei hatte er ihre Hand festgehalten und als er sah, daß sie allein waren, einen heißen Kuß darauf gedrückt. Dann war Kläre Müller von der anderen Seite an den Ladentisch getreten, und er hatte statt der Adresse, die er aufzuschreiben vorgab, auf den kleinen Blockzettel, den sie ihm mit zitternden Fingern zuschob, die inhaltsschweren Worte geschrieben: »Morgen abend acht Uhr, Grunewald,[48] Haltestelle Roseneck, von da rechts hinüber hinter der Straße fort in den Wald.«

Sie hatte den Steig leicht gefunden, den lieben verschwiegenen Steig, an dem sie sich auch morgen nachmittag wieder finden wollten.

Lieschen richtete sich, aus ihrem Traum aufgeschreckt, jäh in die Höhe. Nebenan hörte sie schweres, rasselndes Atmen. Der Vater litt wieder an seiner Atemnot.

Es gab ihr einen Stich ins Herz, wenn sie an den alten Mann dachte. Nie durfte er erfahren, was zwischen ihr und Hans von Friesen war, nie durfte sie ihn leiden lassen, wie er unter der Schande gelitten hatte und noch immer litt, die Lotte und Mieze über ihn gebracht hatten.

Unruhig warf sich Lieschen auf dem schmalen harten Bett in der engen heißen Kammer hin und her. Dann plötzlich wieder lag sie ganz still und sah mit leuchtenden Augen ins Dunkle. Sie und Hans! Hans und sie! Wie hatte sie nur einen Augenblick daran denken können, das, was sie beide verband, mit all dem Häßlichen und Schmutzigen zu vergleichen, das dem Treiben ihrer Schwestern anhaftete. Um Geld hatten sie sich verkauft und hingegeben an die so viel älteren garstigen Männer, von denen der eine sogar eine Frau hatte. Sie und Hans aber – sie bat dem Geliebten ab, daß sie ihn in ein paar Sekunden der Angst um den Vater so tief herabgezogen – sie liebten sich, und wäre er nicht ein armer Leutnant und sie ein noch viel ärmeres dummes Ding gewesen, sie hätten ihre Küsse nicht heimlich zwischen Busch und Strauch zu tauschen brauchen, hätten ihre Liebe offen bekennen dürfen, an der kein Arg und kein Makel war.

Aus dem Mieder, das Lieschen noch immer nicht abgelegt hatte, zog sie eine halb verwelkte, süßduftende Rose, die er ihr heute gebracht hatte.

[49] Nie noch hatte sie etwas anderes von ihm genommen als Blumen und wieder Blumen. Sie hätte sich gescheut, sich von dem armen Offizier auch nur das geringste, das Geldwert hatte, schenken zu lassen. Sie wußte ja, wie hart es seiner Mutter ankam, ihn mit dem Nötigsten über Wasser zu halten.

Einmal hatte sie ihn gefragt:

»Warum bist du eigentlich Offizier geworden, wenn's Geld nicht dazu da war und so wenig beim Offizier verdient wird?«

Da hatte er seinen hübschen weichen Mund zu einem kleinen melancholischen Lächeln verzogen und mit so etwas wie Selbstverspottung gesagt:

»Vermutlich, weil alle Friesens Offiziere sind. Mein Vater ist als Major, mein Großvater als Oberst gestorben. Meine Onkels sind Hauptleute, und meine Vettern im Korps. Das ist nun mal nicht anders bei uns Friesens, und wenn wir darüber verhungern sollten.«

Dann hatte er sie geküßt, und über seinen Küssen hatte sie das Weiterfragen und noch viel mehr vergessen. – – –

Als Lieschen am nächsten Morgen aufwachte, war der Vater schon aus dem Haus. Wie hatte sie nur die Zeit zum Aufstehen überschlafen können! Und immer noch war sie in Rock und Mieder! Langsam erst erinnerte sie sich, worüber sie gestern so lange wach gelegen hatte.

Sie legte die Kleider ab und dehnte sich wohlig.

Blau und rein lachte der Himmel in die enge Kammer, und in wenigen Stunden würde sie bei ihm auf dem schmalen verwachsenen Waldsteig sein!

– – – – – – – – – – – – – – –

Der Expreß No. 136 hatte heut einen schweren Tag. Unablässig trottete er bei einer Hitze von 23 Grad von einem Ende der Stadt zum andern. Dabei lachte er mit einem Auge [50] und weinte mit dem andern. Es war saures Brot, aber es trug auch Früchte, und während er den immer neu hervorbrechenden Schweiß von der Stirn wischte, überrechnete er, wieviel er von dem Verdienst der letzten Woche und insbesondere dieses Sonntags würde für sein Lieschen auf die Sparkasse tragen können. Sein letztes und liebstes Kind sollte, wenn er die Augen zumachte, nicht nur auf den eigenen sauren Verdienst angewiesen sein, es sollte auch einen Notgroschen vorfinden, mit dem es sich dann und wann mal einen guten Tag machen konnte, am besten freilich, der Notgroschen diente als Beisteuer zur Ausstattung!

Einen guten, braven, ordentlichen Mann, wenn den der Himmel seinem Lieschen bescheren wollte!

Weiter verlangte er vom Schicksal nichts mehr.

Schwer war's freilich in einer Zeit wie der heutigen für ein armes Mädel, unter die Haube zu kommen.

Aber vielleicht hatte der Himmel ein Einsehen und entschädigte ihn bei seiner Letzten für alles, was die beiden andern ihm angetan.

Er hielt einen Augenblick inne in seinem eiligen, vorwärts trottenden Lauf.

»Wenn Mutter das erlebt hätte! Mutter, die die Bravheit selber war!«

Wieder wischte er den reichlicher strömenden Schweiß unter der roten Kappe von dem mit grauen Haarstoppeln spärlich bedeckten Haupt.

Er war doch wohl kein guter Vater gewesen für seine beiden Ältesten, daß sie geworden waren – Wendemann spuckte aus, gerade vor einer, die auch nichts Besseres war als seine Mädchen.

»Pfui! Pfui Deibel nee!«

Das Mädchen, ein junges, rothaarig gefärbtes Ding, [51] raffte mit einer frechen Gebärde seine Spitzenröcke zusammen. Mit einem rohen: »Sie haben wol'n Affen, Sie?« rauschte sie an ihm vorüber, eine Wolke von Patschuliduft hinter sich lassend.

Wendemann sah ihr mit einem Blick voll Kummer und Verachtung nach.

Dann drängte und stieß er sich weiter durch die vollbelebten Straßen. Das war Berlin! Er wünschte, er hätte sein Lieschen bei der Hand nehmen und mit ihm in die kleine bäuerliche Vaterstadt zurückgehen können, aus der er vor dreißig Jahren gekommen war. Aber erst das tägliche Brot und dann das andere! Und das tägliche Brot, das gab Berlin ihm und seinem Kinde. Da war ja wohl denn nichts weiter mehr zu wollen.

Statt um zwei, stieg Wendemann um fünf, keuchend und hustend, die vier steilen Treppen zu seiner Wohnung hinauf.

Menke hatte ihm schon in der Haustür mit hämischem Grinsen mitgeteilt: »Fräulein Tochter sei schon fein geputzt aufs Pläsier gegangen.«

»Soll sie auch,« hatte er zurückgebrummt.

Einen Tageslohn hätte der Expreß dafür geopfert, diesem Menke seine unverschämten Anspielungen heimzahlen zu können. Aber in Menkes Hause gab es keinen dunkeln Punkt. Seine Älteste war ordentlich verheiratet, und die andern blassen, häßlichen Mädchen saßen hinter der Nähmaschine, und kein Mensch gab sich Mühe, sie hervorzulocken.

»Wer's Glück hat,« dachte Wendemann brummend, indem er die Tür seiner leeren Wohnung aufschloß.

Lieschen hatte ihm das Essen auf den Herd gestellt. Daneben lag ein beschriebener Zettel.

»Lieber Vater, ängstje dich nicht, wenn ich 'ne halbe Stunde später wiederkomme bei dem schönen Wetter. Wir [52] möchten einen orndlichen Spaziergang machen. Gegen zehne hole ich dich bei Becker ab.«

Wendemann schmunzelte.

Was für eine hübsche Handschrift die Kleine hatte. Und wie gebildet sie schrieb! Ordentlich wie 'ne höhere Tochter.

Liebkosend fuhr er mit der groben, sonnenverbrannten Hand über das Blatt. Sein Glück und sein Stolz war sie, seine Letzte! – – –

Um fünf Uhr hatte Lieschen mit Hans von Friesen auf dem Waldsteig zusammentreffen wollen.

Unmöglich, die Zeit inne zu halten; es war nicht vorwärts zu kommen. Die elektrischen Bahnen nach dem Westen waren sämtlich überfüllt. Lieschen wollte es scheinen, als ob ganz Berlin ihr zum Tort heut nach dem Grunewald drängte.

Dazu hatte sich das reine Blau, das der Himmel morgens gezeigt, mit dicken Wolken überzogen. Eine drückende Schwüle lastete über der Stadt.

Schwer und gepreßt atmete Lieschen unter der neuen, vormittags erst fertig gewordenen rosa Bluse auf, als sie endlich in einem überfüllten Wagen noch ein schmales Plätzchen fand.

Wenn es nur nicht noch Regen gab, bis sie hinaus kam! Wenn Hans nur auf sie wartete!

Es war halb sechs vorüber, als sie erhitzt und ängstlich in den schmalen Steig einbog. Ihre scharfen Augen entdeckten ihn sogleich am andern Ende des Ganges. Er schien unschlüssig still zu stehen. Sie sah rasch um sich. Niemand in der Nähe. Sie raffte die flatternden Röckchen zusammen und lief auf ihn zu, geradewegs in seine Arme.

»Endlich, endlich!«

Ungestüm preßt er sie an sich, die mit hochklopfendem Herzen an seiner Brust lag.

[53]

Dann, nach der ersten heißen Wiedersehensumarmung, schalt er auf sie ein, daß sie so lange habe warten lassen.

»Gerade wollte ich gehen. Heißt das die Zeit nützen, Kleines, wenn man nur noch so wenig vor sich hat?«

Sie sah ihn erstaunt und fragend an.

»Drei Wochen noch bis zum Manöver und dann zu Muttern in Urlaub.«

Lieschen griff nach seiner Hand und streichelte sie.

»Und dann, Hans?«

Er nahm den Strohhut vom Kopf und fuhr mit der Hand über die heiße Stirn.

»Ja, dann –« sagte er scheinbar gedankenabwesend. Dann nahm er hastig ihren Kopf zwischen beide Hände und küßte sie.

»Wer wird so lange voraus denken! Komm, Schatz«, er nahm sie bei der Hand, »heut tun wir uns mal was Gutes an. Bei der Hitze halt ich's hier in dem engen Waldsteig nicht aus. Außerdem verdurste ich fast.«

Er wollte sie vorwärts ziehen, aber sie stand plötzlich zögernd still.

Ängstlich sah sie zu ihm auf.

»Wo willst du hin, Hans?«

»Dummes kleines Mädel. Irgendwo hin, wo es einen guten Tropfen gibt und man kühl und angenehm sitzt.«

Sie lächelte schwach und verlegen.

»Bitte nein – ach nein!«

Es war ihr plötzlich eingefallen, was Lotte und Mieze ihr von den Sektabenden mit Mechelson und Kugler erzählt hatten.

Ängstlich sah sie ihn von der Seite an.

»Nein – das kostet Geld und – es ist unrecht.«

Der junge Offizier lachte.

[54] »Das laß dich nicht kümmern, Kleines. Mutter hat heute ein paar Läppchen geschickt.«

»Aber nicht für so was,« sagte sie ganz leise.

»Gutes kleines Schaf,« murmelte er, ihr über die schweren braunen Flechten fahrend, und dachte, einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, an die vielen großen Scheine, die die kleine nimmersatte Konfektioneuse ihm im vorigen Winter gekostet hatte.

Er zog Lieschens Arm durch den seinen.

»Flott, flott, Kind. Wir wollen nicht erst naß werden. Sieh mal, wie's da am Himmel aussieht. Es wäre schade um die neue rosa Bluse.«

Er legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Süß steht sie dir, kleine Krabbe.«

Lieschens Züge hellten sich wieder auf. Er hatte sie lieb, er meinte es gut mit ihr. Es war doch wohl nichts Unrechtes dabei, wenn sie mit ihm ging. Am Ende, wenn er durstig war! Sie selbst brauchte wenig, fast nichts. Sie konnte ja später ein paar Schluck von Vaters »Weiße« trinken, denn heiß war's zum ersticken, und auch ihr war auf dem langen staubigen Wege die Kehle trocken geworden.

Hand in Hand gingen sie bis auf die Fahrstraße hinaus und dann zum Bahnhof hinüber.

Auf Lieschens Drängen hatte Friesen Billetts bis zu einer Station im Osten genommen. Sie hatte sich aufs entschiedenste geweigert, auf dem Bahnhof Friedrichstraße auszusteigen und dort in der Nähe in ein Restaurant zu gehen. Das war Vaters Gegend! Um keinen Preis hätte sie sich mit Hans dort sehen lassen.

Friesen hatte gebrummt, aber am Ende gefiel es ihm doch, daß sie so scheu und bei aller Hingabe ein ganz klein wenig dornig war.

[55] Als sie in ein leeres Wagenabteil zweiter Klasse stiegen, hellte es sich gerade wieder auf.

Lieschen bedauerte die eilige Flucht aus dem Walde.

Aber Hans lachte und zog sie auf seinen Schoß.

»Haben wir's hier nicht viel, viel molliger wie im Wald? Sieh, so hab ich dich noch nie gehabt.«

So ungestüm preßte er sie an sich, so besitzheischend legte er seine Hände um ihren Leib, daß sie erschreckt auffuhr.

Eine unbestimmte Angst ergriff sie. Sie setzte sich Hans gegenüber ans Fenster und wehrte ihn bittend ab, als er sich neben sie setzen wollte.

Zwischen ihr und dem Geliebten waren plötzlich die Schwestern aufgetaucht, wie Lieschen sie einmal gegen Abend, dreist umschlungen von ihren Liebhabern, hatte durch die Friedrichstraße fahren sehen.

Gott sei Dank, Vater war nicht dabei gewesen. Aber plötzlich sah sie auch sein trauriges, erbittertes Gesicht, wenn er an die beiden dachte, sah die unverschämten Mienen, mit denen Menke sie letzthin zu mustern pflegte, und immer weiter lehnte sie sich in die Polster zurück. In Charlottenburg bekamen sie Gesellschaft. Gott sei Dank!

Das Restaurant in der Nähe der Jannowitzbrücke war nur schwach besucht. Es war kaum halb acht Uhr, und der wieder hell gewordene Himmel hatte die Spaziergänger aufs neue ins Freie gelockt. Von der Spree her hörte man das laute Singen auf den Dampfschiffen und von den kleinen Ruderbooten, trotzdem die Fenster gegen das Eindringen der Hitze geschlossen waren.

Wirklich war es auch angenehm kühl in dem weiten Raum.

Lieschen atmete auf. In dem durchglühten Stadtbahnzug war es schier unerträglich gewesen.

[56] Hans hatte seine gute Laune wiedergefunden, die ihm bei der Aussicht, im östlichen Berlin soupieren zu sollen, halb und halb abhanden gekommen war.

Er rief den Kellner herbei, bestellte, ohne auf Lieschens gestotterte Einwände und beschwörende Blicke zu achten, ein kleines Souper für zwei Personen und eine Flasche Rheinwein auf Eis, und neckte sie, nachdem der Kellner gegangen war, mit ihrer ängstlichen Besorgnis für seine Kasse.

Dann aber, als er sah, daß sie die Sache ernst nahm und, völlig blaß geworden, mit verstörten Blicken zu ihm über den kleinen Tisch sah, griff er nach ihrer Hand, nahm sie zärtlich zwischen die seinen und beruhigte ihre Bedenken mit leisen kosenden Worten.

Dankbar und glücklich lächelte sie zu ihm auf. Wieder einmal hatte er mit einem Wort, einem Blick, einem lieben Händedruck all ihre Sorgen und Ängste verscheucht. Wie sie ihn liebte, wie gut er mit ihr war!

Nachdem sie etwas gegessen und von dem schweren kühlen Rheinwein genippt, kam sie lustig ins Plaudern. Sie erzählte Hans allerlei Berliner Schnurren, wie sie im Geschäft hin und her flogen, und von dem kleinen Klatsch hinter dem Ladentisch. Sie kam so selten dazu, einmal was Lustiges zu erzählen, seit Mieze und Lotte aus dem Hause waren. Vater hörte nicht gern so etwas; dem durfte man, so wie er jetzt gestimmt war, nur mit ganz vernünftigen Dingen kommen.

»Weshalb seufzst du denn plötzlich, Maus?«

Sie sah ihn zärtlich an.

»Ach, ich dachte nur so!«

»An was denn – schnell gebeichtet – sonst – wird Sekt bestellt. Also woran dachtest du?«

»Ach, bloß an Vater.«

[57] Dann biß sie sich auf die Lippen. Das hatte der Wein und sein zärtliches Kosen aus ihr herausgeholt.

Noch nie hatte sie zu Hans von ihrem Vater gesprochen, und sie wollte es auch nicht. Er wußte, daß sie bei dem Vater lebte, damit mußte es genug sein; wenn er über Vaters Stand auch nur ein neckendes Wort gesprochen, es hätte sie zu Tode betrübt.

»Na, was ist denn mit Vater, Maus? Ist er Lohgerber, und sind ihm die Felle weggeschwommen, daß du so stöhnst?«

»Ach laß,« bat sie.

»Warum sprichst du nie von ihm, Kleines? Ich hab dir oft genug von meiner Mutter erzählt.«

»Ja, deine Mutter!« Ein Leuchten ging über Lieschens Gesicht.

»Ich sähe sie gern einmal – nur ganz von weitem.«

»Liebes kleines Schaf.« sagte er noch einmal und tätschelte ihre Hand.

»Na, und vom Vater wird nichts gebeichtet? Schließlich fang ich an zu glauben, daß er ein ganz greuliches Gewerbe hat. Leichenträger oder Sargtischler oder irgend was anderes Fürchterliches.«

Lieschen lächelte.

»Nein, ach nein. Er hat ein ganz ordentliches, ruhiges Gewerbe. Laß ihn nur, Hans, – du weißt, wenn er wüßte –«

Friesen hob das Glas gegen sie.

»Ich verlasse mich auf dich, Schatz.«

Sie stießen miteinander an und sahen sich in die Augen. Vater war vergessen.

Um halb zehn drängte Lieschen zum Fortgehen.

»Wirklich, Kleines? Na, wenn's sein muß. Du stehst aber mit deinen einundzwanzig Jahren noch hübsch unter der Fuchtel, das muß man sagen.«

[58] Sie antwortete nicht, sie konnte ihm doch unmöglich sagen, weshalb sie es nicht übers Herz brachte, Vater Kummer zu machen. Nein, lieber gar nicht mehr von ihm reden.

Er begleitete sie noch ein Stück weit durch die Straßen.

Dann, eine Viertelstunde von ihrer Wohnung entfernt, bat sie ihn, sie allein gehen zu lassen.

Im Dunkel eines tiefen Torweges nahmen sie Abschied, einen Abschied, als ob es eine lange Trennung gälte.

Bebend hing sie an seinem Halse, fest und heiß hielt er sie umschlungen, ohne daß sie es ihm gewehrt. Trunkene Worte flüsterte er ihr ins Ohr, die sie hörte, ohne sie ganz zu begreifen.

»Komm mit,« bat er, »komm mit mir.«

Aber sie schüttelte den Kopf und küßte ihn.

Und weiter, drängender, glühender bat er, sie an sich pressend, daß ihr der Atem ausging.

Da riß sie sich von ihm los und jagte angstgefoltert ins Dunkel der Straße. – – –

Wendemann saß bei seiner zweiten Weißen, als Lieschen bei Becker eintrat. Er hatte sein Leiborgan vor sich. Durch die große stahlgefaßte Brille blickte er eifrig lesend ins Blatt.

Erst als er Lieschens Hand auf seiner Schulter fühlte, sah er sich um.

»Na Lieseken, da bist du ja schon! 'n Abend auch. War's schön draußen? Hast auch keinen Regen abjekriegt auf die neue Bluse? Verflucht nobel siehste aus.«

Lieschen lächelte zerstreut. Wie hatte Hans doch gleich gesagt: »Süß steht sie dir, kleine Krabbe.« Hold wie Frühlingsrauschen klang es ihr im Ohr. Ein leises Beben ging über sie hin.

Instinktiv wich sie der Berührung des Vaters aus, der ihr die Hand auf die Schulter legen wollte, gerade dahin, wo Hans' Hand gelegen hatte.

[59] Der Alte rückte an seiner Brille und sah sein Lieschen ein wenig verwundert an.

»Ach so, dir ist heiß, Lieseken. Und durstig wirst du auch sein. Wirst dir nicht viel jegönnt haben unter wegs –«

Er schob ihr die Weiße über den Tisch.

»Da, trink mal, Mädel. Oder willst 'ne Halbe für dich?«

Wendemann schmunzelte: »'s Geschäft ist heute gut gegangen. Wir können uns schon was jenehmigen. Möchteste vielleicht ein paar Frankfurter?«

Lieschen schüttelte den Kopf, mit dem Zeigefinger der rechten Hand eine schiefe Linie zwischen zwei Bierflecken auf der Tischplatte ziehend.

»Ich bin nicht hungrig – ich – wir haben was gegessen.«

Dann plötzlich würgte sie was in der Kehle und hastig fügte sie hinzu:

»Wenn du mir 'ne Halbe geben lassen willst.«

»Mit Pläsier, Lieseken. Aber erst trink mal 'n Schluck von mir, du bist ja ganz heiser. Kein Wunder bei dem Staub und der Hitze. Ich habe schon ordentlich runtergespült. So ist's recht. Siehste, das war 'n guter Zug von dir.«

Behaglich lächelte Wendemann, seiner hübschen Tochter zusehend. Wahrhaftig, Staat machen konnte man mit ihr. Alle Tage wurde sie netter, und so was Feines hatte sie an sich. Wenn man bloß 'n bißchen mehr Zeit für sie gehabt hätte, daß man ihr mal hätte was antun können! So zwei Mädels allein am Sonntag spazierengehen, das machte auf die Dauer am Ende auch keinen Spaß.

Er wollte sich gerade näheres von Lieschen über den Spaziergang erzählen lassen, als sie ihm ins Wort fiel und eifrig fragte, in was er denn vorhin so vertieft gewesen, als sie gekommen sei.

Gleich war er Feuer und Flamme.

[60] »Eine tolle Geschichte, 'ne Gerichtsverhandlung. Mordprozeß. Fünfzehn Jahre Zuchthaus. Natürlich wieder so'n Aas von Frauenzimmer dabei – so eine – so 'ne Person –«, Wendemann spuckte auf den Boden, – »na, er muß freilich auch 'n saubrer Patron gewesen sein. Will se los werden, das versoffene Luder, geht nachts mit ihr in 'ne Destille am Alexanderufer, – setzt sich dann mit ihr aufs Jeländer ans Wasser und tut, als ob er ihr schön tun wolle, und mir nichts, dir nichts gibt er ihr 'n Schubs, und drin is se.

Er schwört natürlich Stein und Bein, daß sie im Suff von alleine runter jerutscht ist. Eklig steil ist ja die Böschung da. Sein Pech, daß die Straßenkehrer am andern Ufer – es war schon blasser Morgen – jesehen haben, daß er sie runter jestoßen hat. Ohne Zeugen wäre da nichts zu beweisen, denn glitschrig ist die Geschichte da man. Na um so eine weniger ist kein Schade – aber freilich, Strafe muß sein.«

Ohne sich zu rühren, hatte Lieschen ihm gegenüber gesessen, still und stumm mit verträumten Augen ins Leere blickend. Von dem, was der Vater gesprochen, hatte sie kaum ein Wort gehört. All ihre Gedanken waren bei dem Geliebten. All seine heißen, zärtlichen Worte klangen ihr im Ohr wieder, leise bebend, süß erschauernd, fühlte sie seine Liebkosungen über sich hingehen.

»Na, Lieseken, du sagst ja gar nichts?«

Sie raffte sich zusammen –

»Schrecklich, Vater, ja.«

Mit einem guten, mitleidigen Lächeln sah er zu ihr hin. »Bist müde, Kind, hältst dich ja kaum mehr. Wollen nach Hause gehen. Müssen ja auch beide morgen wieder früh raus.«

Er trank den Rest seiner Weißen und legte die Zeche auf den Tisch. Die Zeitung steckte er zu sich. Becker hatte sie ihm überlassen.

[61] Dann nahm er Lieschen bei der Hand wie ein kleines Kind.

»Komm, gehst schlafen. Morgen mußt dich wieder plagen, armer Wurm – na, besser in Ehren arbeiten – als –« Wendemann nahm eine Prise, dann schloß er das schwere Haustor auf.

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Der Regen, der den ganzen Sonntag über gedroht hatte, floß während der kommenden Woche reichlich herab. Keine Aussicht, auf dem Waldsteig zusammenzukommen. Hans war ein paarmal ins Geschäft geschlüpft. Er hatte ein paar Kleinigkeiten erstanden, um Lieschen sprechen zu können. Das eine Mal war sie so beschäftigt gewesen, daß kaum Zeit für einen Blick herüber und hinüber geblieben. Das zweite Mal war sie gar nicht anwesend, hatte auf dem Lager zu tun gehabt und hörte erst eine Stunde später von Kläre Müller, daß der Herr Leutnant einen Plaidriemen gekauft habe. Beim dritten Mal erst sprachen sie sich.

Der junge Offizier war nervös und ungeduldig. Wenig über vierzehn Tage noch Zeit bis er fort mußte! Wie die Dinge um Ende Oktober liegen würden, wer mochte das heute sagen! Was nützte ihm die zärtliche Hingabe des reizenden kleinen Geschöpfes, wenn es dabei beharrte, sich nur im Freien mit ihm treffen zu wollen, und der Himmel kein Einsehen hatte und Tag um Tag regnen ließ!

Er machte ihr Vorwürfe, er wollte auf sie einschelten, ein bittender Blick aus ihren warmen Augen besänftigte ihn. Er brachte es nicht fertig, ihr ernstlich gram zu sein. Sie war ein liebes Geschöpf, ein lieberes hatte er nie besessen. Wenn die Friesens nicht stets als Hungerleider auf die Welt gekommen wären, als Hungerleider sich ins Grab gelegt, wer weiß!

[62] Die Mutter hatte nur einen Gedanken: eine reiche Partie für ihn. Er endlich sollte die Familie herausreißen.

Daraufhin gab und gab sie immer wieder, weit über Können und Vermögen hinaus. Er würde in den sauren Apfel beißen müssen. Lieschen Wendemann würde ein Traum bleiben, aber ein Traum, den er wenigstens zu Ende träumen wollte.

Ein Laut, halb Pfiff, halb Seufzer, kam über seine Lippen.

»Na also, wenn du nicht anders willst, Maus« – er warf einen resignierten Blick durch die Ladentür auf den grauen Himmel – »vielleicht bessert's sich heut noch auf.«

Sie nickte ihm lächelnd zu.

Er lachte und zupfte an seinem kleinen blonden Schnurrbart.

»Na und – wenn's nun wieder anfängt – heut wieder nichts wird mit da draußen – darf ich dich denn nicht mal besuchen?«

Sie wurde dunkelrot vor Schreck.

Hans Friesen oben bei ihr und Vater – in den kleinen, engen, dürftigen Kammern!

Aber sogleich atmete sie wieder auf.

Er wußte ja gar nicht, wo sie wohnte! Gott sei Dank, sie hatte sich's nicht herauslocken lassen.

Im Gefühl ihrer Sicherheit wurde sie plötzlich ganz lustig und neckte ihn.

»Freilich. Unter den Linden 6a parterre, zum five o'clock. Im Smoking bitte –« sie sprach das Englische ganz richtig aus – »oder besser noch in Galauniform.«

»Unnütze kleine Krabbe.«

Andere Käufer kamen. Kläre Müller bediente am entgegengesetzten [63] Ende des Ladens. Sie konnten sich nur mit den Augen noch verständigen. – –

Als Lieschen nach Ladenschluß auf die Straße kam, tröpfelte es bereits wieder. Noch ehe sie den Waldsaum erreicht hatte, strömte der Regen herab.

Trotzdem, er würde gekommen sein! Endlos lange deuchte es ihr, daß sie sich nicht geküßt, nicht Brust an Brust gelegen hatten. Am Sonntag im dunkeln Torweg! Ein heißer, wonniger Schauer lief ihr den Rücken entlang.

Schneller schritt sie aus. In wenigen Minuten hatte sie den Waldsteig erreicht.

Mit heißen, spähenden Augen blickte sie ihn herab, nichts – leer. Regennasse Kiefern – graugelber, mit Wasserlachen durchsetzter Sand – feuchte, verschleierte, regenschwere Luft.

Sie sah auf die Uhr. Er konnte noch kommen – er sehnte sich nach ihren Küssen, wie sie nach den seinen sich sehnte.

Dreimal, viermal ging sie den Steig auf und ab. Schnell und langsam, hoffend und verzagend, die Augen umherspähend oder resigniert zu Boden gerichtet.

Sie sah wieder auf die Uhr. Über eine halbe Stunde wartete sie schon.

Der Regen, der ein paarmal ausgesetzt hatte, fiel wieder heftiger herab. Mitten auf dem Weg blieb sie aufseufzend stehen. Es wurde schon dunkel. Er kam wohl nicht mehr.

Langsam schritt sie dem Ausgang des Weges zu und trat auf die Landstraße. Nichts, niemand! Graue, schwere, trostlose Öde!

Das Herz zog sich ihr zusammen.

Zum erstenmale hatte er sie allein gelassen. War er nur wegen des Regens nicht gekommen, oder wollte er sie strafen, weil sie für alles, was er von ihr erbeten, nur ein Nein gehabt hatte? Würde er öfter fortbleiben, wenn sie seinen [64] Wünschen nicht entgegenkam – einmal ganz fortbleiben – niemals wiederkommen?

Das Herz schien ihr stille zu stehen vor Schreck. In weniger als drei Wochen würde er fort sein für lange Zeit. Und dann? »Wer wird so weit vorausdenken!« hatte er gesagt.

Sie schwankte. Mit den tastenden Händen griff sie haltsuchend in die graue Luft. Dann faßte sie sich wieder und sprach sich selber Mut ein. Dennoch, einmal würde es sein müssen, und dann? Seine liebe Stimme nicht mehr hören, ihm nicht mehr ins helle, lustige, offene Gesicht sehen, seine Liebkosungen nicht mehr fühlen – war sie denn von Sinnen, daß sie ihn floh, ihm versagte, was er von ihr erbat, jetzt, da sie ihn noch besaß, da sie noch eins beim anderen waren!

Zu ihm wollte sie, jetzt, auf der Stelle, ihn bitten: »Vergib mir, daß ich – trotzig war. Da bin ich. Tu mit mir, was du willst.«

Lieschen Wendemann lief mehr als sie ging auf die Bahnstation zu. Dann plötzlich blieb sie wieder stehen. Was sie da ein paar Augenblicke vorgehabt, – sie zu ihm – sie schämte sich vor sich selbst.

Ganz ruhig geworden schritt sie über die Landstraße. Es würde wieder aufhören zu regnen, eng umschlungen würden sie wieder auf dem Waldsteig hin und her wandeln, alles war wieder gut. Morgen früh würde ein Brief ihr sagen, weshalb Hans nicht gekommen sei, wann sie einander wiedersehen würden.

Aber am nächsten Morgen war es zu Ende mit ihrem Mut. Kein Brief für sie lag auf dem Kassapult des Ladens. Hans hatte nicht geschrieben und schrieb auch nicht, gestern nicht, heute nicht, nicht morgen. Und es regnete fort, eintönig, grau, pausenlos.

[65] Kaum mehr vierzehn Tage bis zum Beginn des Manövers! Lieschen zählte die Stunden, rechnete unablässig, wie oft im besten Falle sie sich noch sehen, sich noch küssen könnten.

Zu alledem hustete der alte Mann wieder und hatte seine Atemnot. Auf seinen Gängen, besonders auf den Treppen mußte er oft minutenlang verschnaufen, ehe er weiter kam. Lieschen kochte ihm Tee und machte ihm Kompressen, nun schon den dritten Tag, seitdem sie mit nassen Kleidern und nassen Augen aus dem Wald zurückgekommen war.

Und plötzlich, als sie am Herd stand und Wasser auf die grünbraunen, süßlich duftenden Blätter goß, kam ihr der Gedanke, daß Hans auch krank sein könne, sehr krank vielleicht und niemand hatte, der ihn pflegte, für ihn Sorge trug!

Sie setzte den Topf aus der zitternden Hand auf die Herdplatte und fuhr über die tränenfeuchten Augen. Dann sank sie auf dem Schemel neben dem Herd nieder. Die Hände über dem Knie gefaltet, den Kopf vornüber geneigt, dachte sie nach, auf welchem Wege sie sich Gewißheit verschaffen könnte, was mit Hans geschehen sei. Ob sie Kläre Müller bat, in seiner Wohnung in der Karlstraße anzufragen? Ob sie selbst morgen vor Geschäftszeit zum Portier des Hauses ging? Unten stehen, und oben ein paar Schritte weiter ihn vielleicht leiden wissen –?!

Daneben in der Kammer hustete Vater zum Steinerbarmen. Sie goß den Rest des Wassers auf die Blätter und trug ihm den Tee hinein.

Als seine Tochter ans Bett trat, richtete der Expreß sich auf und sah ihr ängstlich ins Gesicht.

»Siehst ja so blaß aus, Mädel, und rot um die Augen.«

»Ach nee doch, Vater.«

»Wirst mir doch nicht auch noch krank werden! Gute Zeit für die Doktors, das verfluchte Wetter. Bin heute schon [66] zu dreien jelaufen. 'n Kind krank, 'ne alte Frau und 'n junger Mensch –«

Lieschen hatte sich gebückt, um den herabgefallenen Hosenträger des Alten auf den Stuhl zu legen.

»'n junger Mensch, wo denn, Vater?«

»Auf'n Wedding. Mach du und trink auch Tee. Ordentlich heiß. Bist ja ganz heiser. Alles drei Lungenentzündung.«

Er hustete und keuchte – »tritt bösartig auf, wird viel Tote geben.«

Lieschen schluckte mühsam.

»Na, denn gute Nacht, Vater.«

»Mach auch ins Bett und deck dich warm zu.«

»Ist ja kaum halb neun.«

»Ja denn, aber schaden tät dir's nicht.«

Knarrend schloß sich die Kammertür. Lieschen ging in die Küche zurück.

»Wird viel Tote geben!«

Nichts als diese vier Worte jagten sich in ihrem Hirn. Fiebernd, ohne Hilfe, ohne Trost, in Schmerzen, sterbend vielleicht sah sie den Geliebten.

Durch das offene Fenster drang die feuchte, dunstige, regenschwere Luft.

Lieschen fröstelte. Sie nahm das durchnäßte Cape vom Stuhl, das sie zum Trocknen an den Herd gehängt, und wickelte sich hinein, mechanisch, mit ihren Gedanken ganz wo anders. Dann saß sie wieder ganz still, als warte sie auf etwas.

»Wird viel Tote geben.« Rief da nicht jemand? Der Vater? Hatte er Atemnot? Nein – eine junge Stimme – Mieze? Lotte? Ach die! Nein! Wie kam sie nur auf die! »Hans!«

Sie schrie es laut auf. Dann stieß sie den Schemel, auf dem sie gekauert, weit hinter sich fort, daß er gegen die Herdkacheln [67] flog, und ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, lief sie aus der Tür, die Treppe hinunter auf die Straße.

Am Torweg stand Menke. Er grinste sie an.

»Vater kränker geworden?« fragte er in seinem hämischen Ton.

Sie hörte und sah ihn nicht. Sie hörte und sah nur Hans, alles sonst war vergessen und versunken.

Mechanisch faßte sie in ihre Tasche nach Geld. Sie hatte keins. Das Geldtäschchen war oben liegen geblieben. Nur den Wohnungsschlüssel fühlte sie hart und schwer. Sie konnte nicht fahren, sie mußte gehen, den weiten Weg bis zum Norden hinüber. Von der Jerusalemer Kirche schlug es dreiviertel. Sie nahm die feuchten Röcke zusammen und flog wie ein Pfeil geradeaus die Friedrichstraße entlang. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Hans Friesen saß in seinem Schreibstuhl und gähnte. Verflucht langweilig war das Leben ohne Lieschen Wendemann! Er ertappte sich darauf, daß ihn eine wirkliche, ganz reelle Sehnsucht nach ihr plagte. Am Ende war er ein Esel gewesen mit seiner Zähmungsmethode! Nicht zum Rendezvous kommen – vier Tage nichts von sich sehen und hören lassen – ein starkes Stück! Wenn sie gekränkt war – ihm zürnte – nichts mehr von ihm wissen wollte – es mit einem anderen hielte?

Er sprang auf und riß an seinem kleinen Schnurrbart.

Unsinn! Die war treu und brav wie keine zweite, wäre sie sonst auf diesen blöden Waldsteig versessen gewesen? Nun, da er im Regen nicht zu brauchen war, die Zeit der Trennung näher rückte, mußte sie ja einsehen, daß er recht hatte, daß sie eine andere, behaglichere Zuflucht für ihre Liebe suchen mußten. Freilich, daß seine kleine zärtliche Maus es vier [68] Tage ohne ihn, ohne Nachricht von ihm aushalten würde, damit hatte er nicht gerechnet. Hans von Friesen tat, was er schon mehrmals an diesem langweiligen Abend getan, er legte einen Briefbogen zurecht, um an Lieschen zu schreiben. Eine trockene, nüchterne Beschäftigung für einen, den es drängt, sein Mädel im Arm zu haben, seine frischen Lippen zu küssen, ihm in die liebewarmen Augen zu sehen.

Er steckte eine neue Zigarette an und tauchte die Feder ein.

»Meine süße kleine Maus!«

Dann warf er das Blatt wieder ungeduldig beiseite. Er war doch ein Esel gewesen. Zwölf Stunden, bis der Brief sie erreichte, abermals beinahe zwölf, bis sie beisammen sein konnten.

Draußen rumorte der Bursche vor der Tür. Friesen dachte: was wollte der Kerl? Er hatte extra Order gegeben, daß er nicht gestört sein wolle. Nicht vor zehn, wo er die Uniform bestellt hatte, um noch einen Sprung ins Kasino zu machen. Nervös sprang er auf und riß die Tür auf.

Er stieß mit dem Burschen zusammen, der gerade im Begriff gewesen war einzutreten.

»Na, was ist denn?«

Jörg zog die Tür hinter sich zu und grinste, dann, mit dem Daumen nach rückwärts zeigend, sagte er:

»'s ist eine draußen, Herr Leutnant. Sie weint und möchte wissen, wie's dem Herrn Leutnant geht. Der Herr Leutnant seien ja wohl todkrank.«

Jörg verschluckte nur mühsam ein Lachen.

Im Augenblick machte sich Hans den Zusammenhang klar – Lieschen!

Er drängte den Burschen zur Seite.

»Pascholl, hinten hinaus. Und reinen Mund halten.«

Jörg grinste seinen Leutnant an. Ein armes kleines[69] Mädel ohne Hut und Schirm! Weinend und durchnäßt! Das war doch sonst nicht dem Herrn Leutnant sein Geschmack gewesen!

»Na, wird's bald!«

»Nee, aber über so was auch!«

Brummend trollte Jörg ab.

Hans klinkte die Tür auf und ging in den Flur. In eine Ecke gedrückt stand Lieschen Wendemann. Als sie ihn vor sich sah, lebend, blühend, gesund, stürzten die Tränen ihr heftiger aus den Augen. Weinend, keines Wortes mächtig, warf sie sich an seine Brust.

Er trug sie mehr als sie ging ins Zimmer. Er hätschelte und tröstete sie wie ein kleines Kind.

»Nun, nun, was ist denn, Kleines? Mir scheint, ich war doch ein Esel. So, so« – und er küßte sie auf die heißen Augen.

Nach und nach beruhigte sie sich und fing von der Angst zu erzählen an, die sie um ihn ausgestanden hatte.

»Und nun ist alles, alles gut!«

Er wollte ihr erklären, ihre Verzeihung erbitten, aber sie hörte gar nicht auf ihn. Er war gesund. Sie hatten sich wieder, das war ihr genug.

Mit einem Seufzer der Erleichterung preßte sie sich an ihn. Er hatte sie auf den Schoß gezogen und in eine warme Decke gewickelt, die am Fußende des Diwans gelegen hatte; er küßte und liebkoste sie, und sie dachte nicht daran, sich seinen immer heißer werdenden Zärtlichkeiten zu entziehen wie jüngst im Wagenabteil.

Nach der eisigen Angst, in der sie um ihn gezittert, die sie fast erstarren gemacht, lebte sie in seinen Armen zu einem neuen, warmen, wonnigen Glücksgefühl wieder auf. Trunken trank sie seine Liebkosungen in sich hinein, trunken gab sie [70] seine heißen, verlangenden Küsse zurück. Vergessen alles, was nicht seine Liebe war, die über sie hinging wie ein süßer, wunderseliger Rausch. Mit bebendem Ungestüm trug er sie auf den Diwan. Seine Küsse erstickten sie fast. Mit seligem Lächeln schloß sie die Augen. Sie wußte nichts, als daß er sie liebte, daß sie ganz sein geworden war. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – –

Mit verträumtem Lächeln stand Lieschen von ihrem schmalen harten Lager auf, noch ehe der Vater wach war. Durch einen Glückszufall war sie spät in der Nacht ins Haus gekommen. Oben hatte sie ihn schwer und gleichmäßig atmen hören, nachdem sie die Wohnung leise aufgeschlossen. Er hatte nichts gemerkt, Gottlob! Ihr Glück, ihr einziges, wunderherrliches Glück tat ihm nichts zuleide.

An Miezes und Lottes Schicksal, das anfangs wie ein drohendes Gespenst zwischen ihr und dem Geliebten gestanden, dachte sie kaum mehr.

Was hatte es mit dem ihren zu tun? Die Schwestern hatten sich schmählich verkauft, sich hingegeben für Geld und gutes Leben, sie aber und Hans liebten sich, wie sich nie zuvor zwei Menschen geliebt hatten. Kein Augenblick der Reue kam über sie. Sie war stolz darauf, sein Weib geworden zu sein.

Freudig, erhobenen Hauptes ging sie an ihre Arbeit. Als der Vater sie sah, meinte er:

»Bist wieder ganz wohl! Siehst du, wie gut das frühe Schlafengehen und der heiße Tee dir getan.«

Lieschen lächelte in vielsagender Seligkeit vor sich hin.

Draußen blaute der Himmel, schien die Sonne hell und golden und trocknete Steige und Wege und das tropfende Grün an Busch und Baum. Aber keines von ihnen dachte [71] daran, zu dem lieben Waldsteig hinauszufahren, der ihre ersten Küsse in Schutz genommen hatte. Sie hatten ein traulicheres Nest für ihre heiße junge Liebe gefunden. –

Der Expreß hatte sich wieder erholt. Die dauernd eingetretene warme Witterung hatte ihm gut getan. Es gab noch immer viel zu tun, lange heiße Gänge, auf denen er Muße genug hatte, an dies und das zu denken, auch daran, daß er jetzt abends meist allein saß. Lieschen blieb seit kurzem nach Geschäftsschluß bei Kläre Müller.

Die Familie, so erzählte Lieschen, vor Freude errötend, habe sie gastlich aufgenommen. Was sollte sie auch abends allein zu Hause, da der Vater so selten rechtzeitig zum Abendbrot kam.

Na ja, so ungefähr stimmte das ja. Aber immerhin –

Wendemann nahm eine Prise und noch eine – aber am Ende hatte sie recht, Jugend gehört zu Jugend. Nur Sonntags mußte sie ihm versprechen, um zehn mit ihm bei Becker zusammenzutreffen. Am Sonntag abend wenigstens wollte er sein Lieschen sehen, das jetzt seine gute Zeit hatte und alle Tage rosiger und blühender wurde.

Zwischen den grauweißen Bartstoppeln lächelte der alte, fast zahnlose Mund. Heut war ja Sonntag, heut gab's nach der sauren Woche auch für ihn ein Fest.

Schon um halb zehn war er bei Becker, sauber abgebürstet mit gewaschenen Händen. Er wußte, Lieschen hatte es gern, wenn er propper und adrett war. Neben die Weiße legte er zwei rote Rosen, die er schon mittags nach der Kirchzeit gekauft und so lange unter einer alten Käseglocke verwahrt hatte. Sie hatte Blumen so gern, sein kleines Lieschen. Vielleicht hatte sie ihm auch ein paar von Mutters Grab mitgebracht. Sonntags ging sie ja immer auf'n Kirchhof. Nee, richtig, heute war sie ja mit Müllers und ein paar jungen Leuten [72] aus'm Geschäft den ganzen Tag in Potsdam. Da würde sie sich mal ordentlich amüsiert haben.

Hoffentlich hatte ihr von den jungen Leuten keiner Dummheiten in den Kopf gesetzt, oder war ihr etwa sonst einer zu nahe getreten. Nee, so'n Berliner Ladenschwung mit nischt drum und dran, heute hier und morgen da, das war nicht sein Geschmack. Er hatte letzhin so seine eigenen Ideen mit dem Mädel.

Pfiffig schmunzelte er in sich hinein. Der olle Wendemann war gar nicht so dumm wie er aussah. Für seine Letzte wollte er schon was ausklabautern, das sich gewaschen hatte.

Der Wirt trat zu ihm an den Tisch.

»Na, 's Fräuleinchen noch nicht da?«

Bestürzt sah Wendemann auf die Uhr. Wahrhaftig gleich halb elf.

»Werden nicht mit dem Zuge mitgekommen sein,« meinte er, den Ruhigen spielend, und ließ sich seine Zeitung geben.

Er wußte kaum, was er las. Eine plötzliche Angst um sein Kind und eine ganz kleine Bitterkeit stritten sich in seinem Herzen; so etwas wie ein stummer Vorwurf, daß sie ihm die einzige Freude verkürzte, die es für ihn gab, wurde in ihm wach. Endlich, es war elf Uhr vorüber, kam sie, müde und abgehetzt.

Sie reichte dem Alten flüchtig die Hand. Er fühlte nur ein paar feine heiße Finger für einen Augenblick durch seine groben gleitend.

Erst als er besorgt fragte:

»Na, Lieseken, 's ist doch nichts passiert, daß du so spät kommst?« fiel es ihr ein, daß sie sich entschuldigen, erklären, lügen müsse.

[73] Sie hatte nie gelogen, ehe sie Hans von Friesen kennen gelernt; jetzt war es ihr gleichgültig wie alles außer ihm.

Nur drei Tage noch! Und dann? Ein Schauer überlief sie. Jetzt konnte, jetzt durfte sie ihn nicht mehr verlieren!

Nur drei Tage noch! Und sie hatte von ihm fortgemußt aus dem süßen, traulichen Nest, hierher in die verräucherte, dunstige Kneipe!

Eine würgende Bitterkeit stieg in ihr auf. Kalt sagte sie:

»Es ist ein bißchen spät geworden, entschuldige, Vater – die Züge –«

»Na, laß man sein. Dachte mir's schon. Wenn's man hübsch war, Lieseken.«

Er legte seine Hand auf die ihre, die noch immer wie Feuer brannte. – »Siehst eigentlich nicht so aus, mein Häsechen.«

Mit einer raschen Bewegung zog sie ihre Hand unter der seinen fort.

»O doch, es war sehr schön.« Des Mädchens Augen leuchteten in einem zärtlichen Feuer auf – »nur –«

Der Alte glaubte zu verstehen. Traurig sagte er:

»Wärst gerne noch länger geblieben?«

Lieschen antwortete nicht. Mit einem brennenden, sehnenden Blick, den er noch nie an ihr bemerkt hatte, sah sie über ihn fort in den blauen, dunstigen, rauchgeschwängerten Raum.

»Nächstes Mal läßt du den Alten sitzen, Lieseken,« sagte er, ohne mit einem Blick oder Wort zu verraten, wie wehe sie ihm tat.

Das Mädchen seufzte, ohne eine Antwort zu geben.

Nächstes Mal! In drei Tagen mußte er fort.

Unsicher sah der alte Mann auf seine Tochter.

Irgend etwas war da nicht in Ordnung. Seine Hand[74] tastete nach den Rosen neben dem Weißbierglas. Einen Augenblick dachte er noch daran, sie ihr zu geben, dann bemerkte er plötzlich, daß sie zwei wundervoll duftende, kostbare Maréchal Niel in dem blaßblauen Gurtband trug. Ohne daß sie etwas davon merkte, wischte er die Rosen mit dem Rockärmel unter den Tisch.

Dann trank er sein Glas in einem Zuge leer und nahm die rote Mütze vom Nagel. Die Lust auf eine zweite Weiße, die er hatte mit seiner Tochter teilen wollen, war ihm vergangen.

»Na, denn geh'n wir wohl, Lieschen, wenn du doch nichts trinken willst.«

Er sprach leise. Seine Stimme hatte einen geborstenen Klang.

Müde und schwer schritt sie neben ihm über den Fahrdamm.

Dem alten Mann war unsäglich bange um sein Kind.

– – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – –

Hans von Friesen hatte Lieschen nicht die volle Wahrheit gesagt. Morgen schon ging's ins Manöver.

Er wollte ihr und nicht minder sich selbst den Abschied ersparen. Es schwante ihm so etwas, daß es ein Abschied fürs Leben sein würde.

Das Manöver, der lange Urlaub bei der Mutter, die sich mit Heiratsprojekten für ihn trug, die Onkel Hauptleute, die ihn gern in ihrem Regiment haben wollten – keinesfalls kam er so wieder, wie er ging, jedenfalls würde vieles, vielleicht alles anders sein.

Ein paar letzte, liebe, heiße Stunden, und dann ins Manöverfeld hinaus. Er wollte sie nicht weinen sehen, sich selbst das Herz nicht schwer machen. Sauer genug kam ihm [75] der Abschied von dem lieben, zärtlichen Geschöpf ohnedies an. Nicht so bald würde er ihresgleichen finden.

Der junge Offizier schloß die Schreibtischlade auf und entnahm seinem Portefeuille den letzten Hundertmarkschein, den die Mutter geschickt hatte. Irgend etwas mußte er Lieschen zum Abschied geben. Trotzdem sie ein blutarmes Mädchen war, hatte sie niemals den geringsten Anspruch an ihn gemacht, bescheiden jede Ausgabe für sich abgelehnt. Nur Blumen hatte sie von ihm angenommen, und die seltenen Male, da sie zusammen gespeist hatten, nur ungern und widerstrebend es gelitten, daß er die Zeche für sie gezahlt.

Gern hätte er irgendwo eine größere Summe für sie deponiert – sie hätte es ja erst zu erfahren brauchen, wenn er fort war – aber er hatte sie nicht und hätte sie auch nicht auftreiben können. Die Schulden waren ihm ohnedies über den Kopf gewachsen. Es würde eine böse Beichte geben. Einen Hundertmarkschein als Geldgabe konnte er ihr unmöglich verehren, aber ein hübsches Andenken dafür kaufen konnte er.

Das Bataillon rückte morgen abend um neun Uhr aus. So um die sechste Stunde würde er mit allem fertig sein. Dann konnte er den Einkauf machen und ihr das kleine Angebinde nach der Potsdamerstraße in das Geschäft hinausschicken, da sie ihm ihre Wohnung noch immer nicht angegeben hatte.

Einen Augenblick dachte er daran, alles stehen und liegen zu lassen, jetzt gleich etwas für sie auszusuchen und es ihr abends selbst zu geben. Aber, hellsichtig und feinfühlig wie sie war, mochte sie am Ende merken, wo es hinaus sollte, und um die heimliche Abreise, den ersparten Abschied war es geschehen. Nein, er wollte sie noch einmal fröhlich sehen, fröhlicher als gestern abend, da sie fiebernd die Minuten gezählt, bis sie zum Vater fortgemußt. Freilich wohl, er konnte es ihr nicht [76] verdenken. Sie sprach zwar niemals von ihm, aber keinesfalls war der Alte eine angenehme Lebenszugabe.

Gott sei Dank, heute kam sie mit heiteren, hellen Augen und dem lustigen Lachen um den hübschen frischen Mund, das ihr so zum Entzücken stand.

Sie hatte alle Schwermut abgetan. Drei lange Tage noch, und dann, er war ja nicht aus der Welt! Schlesien war nicht Amerika, auch Pommern nicht, wo die Mutter wohnte, und einmal würde es ja auch Ende Oktober werden!

Sie lachten und tollten und neckten einander in ihrem lauschigen Nest, bis er sie plötzlich, überwältigt von der Nähe des Abschieds, mit fieberndem Ungestüm an sich riß, um noch einmal, zum letzten Mal, all ihre süße Liebe zu genießen.

Als sie dann ging, schwer nur sich von ihm loslösend, rief er sie nochmals zurück. Er mußte ihr noch einmal in die lieben Augen sehen, noch einmal ihren zärtlichen Mund küssen.

Als er sie zum letzten Mal im Arme hielt, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß es nicht gut getan sei, ihr den Abschiedsgruß ins Geschäft zu schicken. Er wußte, wie hart es sie ankommen würde. Er wollte sie nicht dazu verurteilen, sich vor anderen zu verraten oder ihren Schmerz krampfhaft niederkämpfen zu müssen. Es war besser, sie empfing seinen Abschiedsgruß in der eigenen kleinen Kammer.

Er hatte sie noch einmal auf seinen Schoß gezogen. »Mauselchen,« bat er zärtlich, »willst du mir einen Gefallen tun?«

Statt jeder Antwort preßte sie die Lippen auf seinen Mund.

Er schob sie sanft ein wenig zurück und sah ihr in die Augen.

»Deine Wohnung möchte ich wissen, Schatz.«

[77] Einen Augenblick schwankte sie. Dann schüttelte sie lebhaft abwehrend den Kopf.

Ihn in ihre armselige Dürftigkeit blicken lassen, im letzten Augenblick noch den Vater vielleicht seinem fröhlichen, unbedachten Übermut preisgeben – nein.

»Du willst nicht?«

»Bitte, nein – du bist mir doch nicht böse?«

Er lächelte ein ganz klein wenig schwermütig, des herben Schmerzes gedenkend, den er ihr antun mußte und den er gern gelindert hätte.

»Nein,« sagte er, »böse bin ich dir nicht, Kleines, aber es wäre vielleicht besser gewesen –«

Sie schüttelte noch einmal lebhaft den Kopf.

»O Gott – nein – nein – und nun muß ich gehen.«

Er schloß sie noch einmal in seine Arme, als ob er sie nie wieder lassen wollte. Noch einmal küßte er ihr köstliches Haar, ihre Augen, den lieben, weichen, zärtlichen Mund.

Lächelnd entwand sie sich seinen Armen.

Wie in einem seligen Traum schritt sie durch die nächtlichen Straßen, im Herzen das berauschende Glücksgefühl, geliebt zu sein, heute, morgen, alle Tage.

Der Vater schlief schon, als sie nach Hause kam. Einen Augenblick erstaunte sie, daß sie sein schweres, rasselndes Atmen nicht durch die Wand hörte. Dann waren all ihre Gedanken wieder bei dem Geliebten.

An dem Rand ihres schmalen, harten Bettes sank sie nieder und dankte Gott, auf ihren Knien liegend, daß er ihr diesen Mann geschenkt hatte.

– – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – –

Der Expreß hatte nicht viel zu tun. Es war ein stiller Tag heute. Zuletzt, am Nachmittag, hatte er ein Bücherpaket, [78] das ihm ein alter Herr vor der Königlichen Bibliothek eingehändigt hatte, nach den »Zelten« getragen.

Jetzt saß er am Rand des Tiergartens auf einer Bank, die rotlackierte Mütze neben sich, und fuhr mit der Hand mechanisch über das weißgraue Stoppelhaar her und hin, den Blick kummervoll geradeaus gerichtet, ohne etwas anderes zu sehen als sein plötzlich so anders gewordenes Kind. Was war mit ihm geschehen? Was hatte sein Lieschen so verändert? War sie sein Lieschen nicht mehr? War sie schlecht geworden wie die beiden anderen? Seine Letzte wie diese beiden –! Nein! Nein!

Mühsam suchte er in seinem alten Kopf zusammen, wie es mit den beiden anderen gekommen war – wie sie liederlich und frech geworden waren, beinahe über Nacht, wie sie von Stufe zu Stufe gefallen waren, wie sie sich verkauft hatten um Geld und Geschenke.

In weitem Bogen spuckte er aus. Pfui Deibel, nee, wie konnte er nur sein Lieschen mit diesen beiden vergleichen, für die ihm ein häßliches, gemeines Wort auf der Zunge schwebte.

Vielleicht war sie krank oder hatte Verdruß im Geschäft, den sie ihm ersparen wollte, oder aber sie hatte wirklich einen gern, von dem sie etwa glaubte, daß es nichts mit ihm werden könne. Dummes Zeug. Er wollte ihr den Kopf zurechtsetzen. Für die war keiner so leicht zu gut, für die mußte eben werden, was sie sich wünschte.

Dann plötzlich fielen ihm wieder die kostbaren Rosen ein, die sie Sonntag im Gurtband getragen hatte, und wie spät und verstört sie von Potsdam gekommen war, und welch einen seltsamen, heißen Blick sie gehabt.

Spät war's auch gestern nacht gewesen, da er sich schlafend gestellt, um ihr die Unruhe zu ersparen, sich bemerkt zu wissen.

Wenn sie nur sprechen wollte, vielleicht, daß er helfen [79] konnte! Was hätte er für seine Letzte nicht getan! Nur schlecht sollte sie ihm nicht werden, nur nicht schlecht! Das hätte er nicht überlebt.

Was hatte er denn auf der Welt als sie! Ihre liebe, frische Jugend, ihre kindliche Güte, ihre Bravheit, die sein letzter Halt und Trost gewesen, Ersatz für alles, was das Schicksal ihm aufgepackt!

Er setzte die Mütze wieder auf und verließ seinen Platz. Langsam, in schweren Gedanken, ging er durch das Brandenburger Tor, die Linden hinauf. Niemand sprach ihn an, niemand begehrte seine Dienste.

Nahe der Kranzlerecke blieb er einen Augenblick stehen und blickte in das Menschengewühl, das sich von Ost nach West die Linden hinauf und hinunter schob und drängte, und von Nord nach Süd und umgekehrt durch die schmale Friedrichstraße.

Verächtlich krausten sich seine Lippen über dem zahnlosen Mund, wenn er den geschminkten und gefärbten Damen und Dämchen nachsah, die mit lang nachschleppenden Kleidern, eine Wolke von Moschus oder Patschuli hinter sich lassend, mit den lüsternen Augen nach Beute spähend, durch die Menge fegten.

Wie lange würde es dauern, bis er seine beiden Ältesten so sah, bis die Türen, die ihre Liebhaber ihnen geöffnet, sich hinter ihnen schlossen, und sie auf die Straße angewiesen waren.

Und Lieschen, sein liebes kleines Lieschen, war es auch schon bei dem ersten Schritt angelangt, der zu dem grauenvollen, ekelerregenden Wege führte?

Nein, das nicht, nur das nicht. Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Kalter Frost schüttelte ihm die Glieder.

Er wurde bleich bis in die schmalen Lippen und mußte sich einen Augenblick an der blanken Messingstange vor dem [80] großen Ladenfenster halten; der Boden unter den Füßen schwankte ihm.

Nachdem er ein wenig Halt gewonnen, fiel ihm ein, daß er heute noch keinen Happen zu Mittag gegessen hatte.

Ein schwaches Lächeln huschte über sein verfallenes Gesicht. Daher auch war ihm so wunderlich zu Mut. Daher auch all die wirren, schrecklichen Bilder, die sich ihm aufdrängten. Er hatte Lieschen nicht wiedersehen wollen, bis er nicht mit sich eins über sie geworden war. Noch weniger hatte er es wissen wollen, ob sie etwa auch mittags nicht nach Hause gekommen war. So war er den ganzen Tag ohne Speise und Trank umhergelaufen.

Er bog um die Ecke und ging die Friedrichstraße nach der Leipzigerstraße zu hinauf. In der Nähe seines Standes, an der Friedrich- und Mohrenstraße, wußte er ein Lokal, in dem er ein paar warme Würste essen und dazu einen Korn nehmen konnte.

Gerade wollte er in die Mohrenstraße einbiegen, – an dem Uhrengeschäft hatte er zu seiner Verwunderung gesehen, daß es fast sieben geworden war, – als er sich angerufen hörte.

Hinter ihm stand ein junger Mensch, dem man auf den ersten Blick den Offizier ansah, in einem eleganten Zivil.

»He, Sie! Ich hätte einen Gang für Sie. Potsdamerstraße, Ledergeschäft Wolpe & Co., Nummer weiß ich nicht, muß da oben bei der Steglitzerstraße rum sein.« Dabei reichte er dem Expreß ein kleines Päckchen entgegen, das den Aufdruck eines bekannten Juweliergeschäfts in unmittelbarer Nähe trug.

Mechanisch nahm Wendemann das kleine Paket in Form einer viereckigen Schachtel aus der Hand des jungen Menschen. Das erste Mal griff er in die Luft, dann faßte er die Schachtel fester.

»Na, na, vorsichtig, alter Freund. Sobald kann sich[81] Muttern ihr Sohn das nicht zum zweiten Male leisten. Hier der Botenlohn. –« er drückte Wendemann ein Geldstück in die Hand – »und hier,« der junge Mensch griff in die Brusttasche, »der Brief dazu, und nu los. Um acht ist Ladenschluß, daß Sie sich nicht versäumen. Geben Sie's aber dem Fräulein selbst.«

Wendemann hatte keinen Blick auf die Briefadresse geworfen. Nachdem er den Namen des Ledergeschäfts gehört, wußte er, an wen die mutmaßlich kostbare Sendung gerichtet war, und was sie zu bedeuten hatte.

Dennoch – er wischte mit dem Rücken der Hand über die grauverschleierten Augen – am Ende konnte es ein Irrtum sein und sein Kind, seine Letzte – Dicht beugte er sich über das kleine, elegante Oktavkuvert.

»Dalli, dalli, alter Freund.«

Hans von Friesen prallte erschreckt zurück.

Dem alten Mann waren Paket, Brief und Bezahlung entfallen. Mit verglasten Blicken stierte er ihn an, grünweiß im Gesicht, mit schlaff herabhängenden Armen und krampfhaft geschlossenen Fingern stand er da.

Friesen lief es kalt den Rücken herab. Es war ein greulicher Anblick. Offenbar war der Mann krank oder betrunken. Unmöglich konnte er ihm den kostbaren Ring für Lieschen anvertrauen.

Rasch raffte er Brief und Paket vom Boden auf. Die Mark mochte der arme Kerl sich selber auflesen, wenn er Verlangen danach trug. Er mußte so schnell als möglich einen anderen Boten suchen. Zeit war nicht mehr zu verlieren, weder für sie, des Ladenschlusses halber, noch für ihn, der um neun marschfertig im Kasernenhof seine Kompagnie übernehmen mußte, sonst hätte er die arme, alte Haut auch nicht so ohne weiteres hilflos sich selbst überlassen.

[82] Wendemann blieb, von allen Seiten gedrängt und gestoßen, wie eingewurzelt auf dem Fleck stehen und stierte dem Davoneilenden nach.

Seine Lippen murmelten unverständliche Worte. Vor seinen Augen hingen graue, zerfetzte Schleier. Plötzlich rührte er sich wieder. Er wollte ihm nach, ihn niederschlagen wie einen tollen Hund, der ihm sein Bestes und Letztes gestohlen. Dann nahmen seine Gedanken eine andere Richtung. Was konnte er dafür, er oder ein anderer, das blieb sich gleich, wenn auch seine Letzte nichts Besseres war als eine – – Zu ihr wollte er, ihr ins Gesicht schleudern, was er von ihr dachte.

Dann schüttelte er den grauen, borstigen Kopf. Nein, das, das konnte er nicht – sein Lieschen – nein –

Tränen traten ihm in die verglasten Augen. Mit gesenktem Haupt trottete er ein Stück des Weges zurück, das er gekommen war. Nur nicht da hinaus, wo er war und sie, da war kein Raum für ihn.

Langsam ging er weiter. Eine junge, ärmlich gekleidete Frau kam auf ihn zu.

»Bitte schön, hätten Sie Zeit, Herr Expreß?« Sie streckte ihm einen Brief entgegen. »An meinen Mann. Er ist Kellner in Nestmanns Sälen oben in der Chausseestraße. Unser Kleiner ist so krank. Ich habe ihm Nachricht versprochen; das Telephonieren an die Angestellten ist verboten. Selber hinlaufen kann ich nicht. Es ist niemand beim Kind.«

Wendemann hatte den Brief schon in der Hand.

Die Frau kramte in ihrer Tasche nach Geld.

»Lassen Sie man,« seine Stimme klang heiser und zerbrochen. »Ich geh doch da herauf, da mach ich's gleich mit ab.«

Sie sah ihm verwundert nach. Er ging schon weiter, [83] langsam, schwankend. Weshalb sollte er der armen Frau nicht den Gefallen tun? Gleichgültig, wo er war und was er tat, alles gleichgültig bis auf das eine, über das er erst noch nachdenken mußte.

Er gab den Brief in Nestmanns Salon ab und kreuzte dann den Damm nach der Invalidenstraße.

Es war Abend geworden. Die Laternen brannten.

Die Geschäfte und Fabriken waren geschlossen.

In langen Zügen bevölkerte das arbeitende Berlin die Straßen. Auf dem Damm rasselten die elektrischen Wagen der Straßenbahn nach Moabit hinaus oder zu dem nahen Wedding zurück. Die zahlreichen Bierlokale, die Kaffeeklappen in den Kellern, die Destillen füllten sich.

Die Schiffer kamen von den Kähnen herauf, die im Humboldthafen lagen. Haus bei Haus leuchtete ein buntes Schild mit verlockender Inschrift:

Im »4/10-Topp« kehrte Wendemann ein.

Es lag zu ebener Erde. Er war zu müde, die paar Stufen zu einem der anderen Lokale hinauf- oder hinunterzusteigen.

Er forderte einen Korn und danach noch einen zweiten. Dann erst, als die grauen Schleier aufs neue vor seinen Augen zu wallen begannen, dachte er daran, sich etwas zu essen geben zu lassen. Er überzählte die Barschaft, die er mit sich führte. Es war ein schwacher Tag gewesen. Dennoch, für das, was ihm zu tun noch übrig blieb, würde ausreichen, was er bei sich trug.

Er aß und trank, und trank wieder. Warum sollte er sich nicht gütlich tun, da seine Töchter es taten? Auch Lieschen! Der gute Korn wurde ihm plötzlich bitter auf der Zunge. Ach was, herunter damit und einen vierten drauf gesetzt. Sekt freilich konnte er sich nicht leisten, wie Lieschen [84] ihn vermutlich am Sonntag getrunken hatte, als sie so spät und erhitzt und verstört zu Becker gekommen war und nichts von seiner Weißen hatte wissen wollen. Auch von seinen Blumen nicht und nichts von ihm selbst!

Er lachte leise vor sich hin. Eigentlich hatte sie recht. Er war ein armer, alter, schmutziger Kerl und bloß ihr Vater, und der, den sie sich ausgesucht hatte, konnte sich sehen lassen. Hübsch und jung war er und lustig schien er auch, und mit Mutterns oder Vaterns Gelde schien er ja so weit ganz nett zu wirtschaften, und so ein bißchen was Gutes schien in seinen leichtsinnigen Augen ja auch zu stehen. Vielleicht behielt er sie ein Weilchen, und sie brauchte nicht gleich auf die Straße – sein Lieschen!

Er schluckte schwer. Höllisch sauer war's ihr Sonntag angekommen, von ihrem Schatz weg und zu Becker zu gehen. Na, heute würde er ihr den Spaß nicht verderben. Heute nicht und nie mehr. Wenn er nur erst gewußt hätte, wie die Sache so eins, zwei, drei, so ohne Aufsehen zu machen gewesen wäre? Was brauchte das Kind zu wissen, daß seine Schande den Vater – –!

»Sie, Ober, noch'n Korn und 'ne Stange Patzenhofer, Vierzehntel-Topp!«

Der Expreß schlug dem Aufwartenden gemütlich auf die Schulter.

Der grinste.

»Hab 'n guten Zug, Herr Expreß.«

»Gott sei Dank. Expreßzug!«

Beide lachten.

Dann kramte Wendemann in seiner Rocktasche nach Tabak und seiner Prisendose. Dabei faßte er etwas Weiches, ein altes Zeitungsblatt. Um so besser, da konnte man sich [85] die Zeit vertreiben. Was heut passiert war und morgen passieren würde, ging ihn nichts mehr an.

Mordprozeß! Verflucht! Das war ja die Geschichte mit dem Frauenzimmer – auch so eine – die nicht los zu werden gewesen war und die der Kerl – wie war ihm denn? Ganz richtig, dichte hier bei, vom Geländer ins Wasser gestoßen. Niemand hatte gewußt, ob sie von selber – oder ob er sie – wenn nicht gerade die Straßenkehrer am andern Ufer gesehen hätten, daß er ihr einen Schubs gegeben hatte. Ja, Herr Mörder, vor Straßenkehrern muß man sich hüten, wenn man so eins, zwei, drei – – –

Neulich hatte er Lieschen die Geschichte vorgelesen – bei Becker – ob sie da schon –?

Wendemann räusperte sich und spuckte auf die Erde. Daß er auch heute die Kehle nicht frei kriegen konnte! Er steckte eine Zigarre an, aber sie hatte wohl keine Luft, denn sie wollte absolut nicht brennen.

Dann strich er die alte Zeitung glatt und rieb sich über die Augen. Langsam, Zeile für Zeile, Wort für Wort las er, wie der Mord sich zugetragen hatte.

Dann kniffte er die Zeitung sauber zusammen und steckte sie in den Rock zurück. Es war nicht nötig, daß sie auf seinem Platz liegen blieb und nachher von andern gefunden wurde.

Er sah auf die Uhr an der Wand. Eben zehn. Draußen auf der Straße ging es noch lebhaft zu. Besser, er blieb noch ein Weilchen sitzen.

Er überzählte noch einmal seine Barschaft. Schuldig bleiben wollte er niemandem etwas. Es reichte noch zu einem Glas Bier, und dann blieben immer noch ein paar Nickel für den Notfall. Wendemann war stets ein guter [86] Hausvater gewesen, der sich nie bis auf den letzten Rest verausgabt hatte.

Um elf Uhr stand er auf und trottete langsam die Invalidenstraße bis zur Sandkrugbrücke hinunter. Er lehnte sich an das Geländer und sah über den Wasserlauf. Rechts herüber blinkten Bahnhofslichter, linker Hand, da, wo sich die rotgelbe Mauer um die Charitégebäude zog, war das Ufer dunkel und still. Dort war es geschehen.

Er nahm die rote Mütze in die Hand und fuhr ein paarmal nachdenklich über den Kopf.

Das Fieber war aus seinem Blut gewichen. Er war ganz ruhig. Nur schwach noch ebbten Sorgen und Gram und Kummer durch sein armes gequältes Hirn.

Langsam stieg er zu der gepflasterten Uferstraße hinunter. Er tastete sich am Gitter entlang und sah über die steile Böschung in das schwarze Wasser, in das nur in weiten Abständen die Laternen zwischen den Lindenbäumen ein blinkendes Streiflicht warfen.

Nirgends ein Mensch. Die Kähne lagen zu beiden Seiten jenseits der Brücke. Hinter einem Bauzaun schlug ein Hund heulend an.

Er besann sich nicht lange. Die Augustnacht war warm. Weshalb sollte er nicht wie jene anderen sich in das Viereck des Gitterwerks gezwängt haben, um mit dem Gesicht nach dem Wasser frische Luft zu schöpfen? Das Gleichgewicht verlor sich da schnell, die Böschung war steil und der Wasserlauf tief.

Es machte keine Schwierigkeiten, seine hagere, schmächtige Gestalt in den engen Raum zwischen die Gitterstangen zu zwängen. Ein paar Augenblicke lang hielt er sich noch mit den Händen fest. Die Beine hingen baumelnd über der Böschung. Einen Blick sandte er noch hinauf zu dem [87] gestirnten Himmel, ein kurzes, heißes, stummes Gebet für sein Kind, dem er's ersparen wollte, sich vor ihm zu schämen. Dann ließ er die Hände von den Eisenstangen und sank langsam in das tiefe, dunkle Wasser hinab. Ein kurzes, rasches Aufquellen der Flut, ein Auftauchen und Niedersinken des Körpers, dann war's vorüber.

Stumm schloß sich das glatt gewordene Wasser wieder und gab nichts von seinem Geheimnis heraus.

[88]

Unüberwindlich

[89] [91]Ein scharfer Oktoberwind fegte über die Stoppeln und riß an dem bunten Laubdach der Bäume, daß die Blätter gleich braunen, gelben und roten Vögeln aufgescheucht durcheinanderflogen und erst nach langem taumelnden Niederfall sich auf die Erde senkten. Auf den Landstraßen wirbelten die Staubwolken säulenartig in die Höhe, um dann in breiten, grauweißen Streifen wieder auseinander zu flattern und alles zu überstauben, was in ihrem Umkreis stand oder sich bewegte.

Auch den D-Zug oben auf dem Bahndamm verschonten die Staubwolken nicht; sie legten sich in dicken, grauen Schichten gegen die Fensterscheiben und drangen mit einem kalten Luftstrom fühlbar durch die Ritzen in das Innere der Wagen ein.

An einem der Fenster eines Wagenabteils dritter Klasse stand ein kleines Mädchen und rieb weinerlich die von der scharfen, staubgeschwängerten Luft schmerzhaft belästigten Augen.

»Sie sollten das Kind nicht so lange im Zugwind stehen lassen,« bemerkte eine ältere, behäbige Person, das kleine Mädchen freundlich bei der Hand nehmend.

Die Angeredete, die mit halbgeschlossenen Augen in der Fensterecke lehnte, überhörte die mit nachdrücklicher Mahnung an sie gerichteten Worte. Erst als das Kind sie am Rock zupfte und weinerlich fragte: »Sind wir denn [91] noch nicht da, Mama?« erwachte die Frau aus ihrer Versunkenheit und richtete den schlanken, sehr jugendlichen Oberkörper in die Höhe. Einen Augenblick schweiften ihre Augen, große, leidenschaftliche, schwarze Augen, unruhig, wie suchend umher, als ob sie aus der Ferne kämen und sich hier erst zurechtfinden müßten. Dann sagte sie mit müder Stimme: »Ach du, Gusta! Ja was willst du denn schon wieder? Kannst du nicht fünf Minuten ruhig sein!« Die ältere Frau blickte die junge mit strengem Vorwurf an.

»Das Kind hat mindestens eine halbe Stunde, seit der letzten Station, am zugigen Fenster gestanden, ohne sich zu rühren; habe so wie so nicht begriffen, wie Sie das so ruhig mit ansehen konnten, ein so kleines, zartes Kind!«

Die andere, von dem berechtigten Vorwurf getroffen, entgegnete gereizt, daß das Kind nicht zart sei, ganz und gar nicht, es habe ihm noch nie etwas gefehlt, und es sei doch schon bald drei Jahre alt.

Die Behäbige zuckte mit den Achseln und setzte sich in der gegenüberliegenden Ecke zurecht. Am Ende, was gingen sie anderer Leute Kinder an.

Die junge Frau nahm das Kleine auf den Schoß und gab ihm einen Apfel aus der Reisetasche.

»Geh, gib endlich Ruh, Gusta. Da iß!«

Aber die Kleine weigerte sich und weinte leise fort, ein monotones, knarrendes Weinen.

»Mich friert so, Mama.«

Die Frau schlug ihren langen grauen Reisemantel um die Kleine.

»Noch immer, Gusta?«

»Ja, sehr –,« Ein heftiger, bellender Husten unterbrach die Worte des Kindes.

»Da haben Sie's. Das Kind hat sich gehörig was[92] geholt. In dem leichten Mäntelchen, an dem zugigen Fenster!«

Die Junge murmelte etwas von plötzlicher, ihr selbst ganz unerwartet gekommener Abreise, die keine Vorbereitungen zugelassen. Dann nahm sie ohne viel Besinnen ihren Reisemantel ab, wickelte das Kind hinein und legte es längelang auf die Holzbank, auf der kein weiterer Platz besetzt war.

»So, nun wirst du warm werden. Nun schlaf auch, Gusta. Wenn du aufwachst, ist es dunkel und dann sind wir in Wien.«

Das Kind legte sich auf die Seite und versuchte wirklich zu schlafen. Die schlanke Schwarze sank in ihre Ecke zurück und träumte vor sich hin. Nachdem sie eine Weile so gesessen, die dunkeln, leidenschaftlichen Augen halb geschlossen, fuhr sie plötzlich auf. Es war ihr, als ob jemand ihren Namen gerufen hätte, langsam, sehnsüchtig, eine lange nicht gehörte liebe, heißgeliebte Stimme. Sie schauerte leicht zusammen. Dann sah sie auf die kleine stählerne Uhr, die sie in der lichten Flanellbluse eingeknöpft trug.

Sie seufzte ungeduldig auf. Noch beinahe sieben Stunden! Und dann, werde ich sie dann hören seine Stimme, wie ich sie eben gehört? Wird alles andere ein böser Traum gewesen sein? Werde ich ihn wieder haben, wie ich ihn zuvor besessen, oder wird jene andere wirklich an seiner Seite stehen, im Begriff, sein Weib zu werden? Ihre Augen flammten auf. Ihr Gesicht ward weiß wie das Tuch, das sie an die Lippen hielt, um den Schrei zu ersticken, der ihr aus der Kehle drängte.

Sie sprang auf. Sie warf einen nachlässigen, gedankenlosen Blick auf das Kind, das scheinbar schlafend dalag, und stellte sich mit dem Rücken zum Wagenabteil an das zugige [93] Fenster, durch das noch immer der staubige Windzug drang, trotzdem sie inzwischen meilenweit vorwärts nach Böhmen hineingefahren waren.

Endlos dehnte sich die flache Ebene, nur ab und zu durch Gehöfte und ein Stückchen magern Waldbestand unterbrochen. In langen Zwischenräumen tauchten in blaugrauen Umrissen ferne Bergketten am Horizont auf.

Martha Freiland sah die wechselnden Bilder an sich vorüberziehen, aber sie sah sie nicht mit begreifenden, wissenden Augen. Nur ihn sah sie, der diese selbe Straße gefahren war vor nun, wie ihr scheinen wollte, endlos langen Jahren. Heute erst folgte sie ihm. Warum erst heute? Und als was? Als was?

Sie lehnte die brennende Stirn gegen die kalten, klirrenden Fensterscheiben. Als was? Als was? Als seine Geliebte, sein Weib, wie er sie tausendmal kosend genannt, oder als die Rächerin ihrer Ehre für das da – mit dem er sie allein lassen wollte auf der Welt.

Sie biß die Zähne aufeinander. Drohend bohrte sich ihr Blick in das graue, eintönige Landschaftsbild.Dabei ihn halten wollen? Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß die schweren Flechten im Nacken ins Wanken kamen. Er wußte ja nicht einmal etwas von dem da, wußte bis heute nichts. Törichte, verliebte Närrin, die sie gewesen, hatte sie sich des Rechts begeben, ihn dabei festzuhalten, selbst wenn sie es heute gewollt hätte.

Weshalb hatte sie ihm nichts davon gesagt, daß das Kind da war? Ja, wenn sie das heute begriffe! Und doch, als sie darüber dachte, überkam sie allgemach wieder das Gefühl der weichen, süß hingebenden Opferwilligkeit des ersten Liebesjahres! Wie ein kurzer, heißer Traum war es dahingegangen.

[94] In einem der großen Sommergärten bei Berlin hatten sie sich kennen gelernt. Er, ein blutjunger Arzt ohne Familie, ohne einen Pfennig Vermögen, ohne Praxis, mit einem großen, glühenden Ehrgeiz. Sie, jung wie er, allein wie er, arm wie er, nur daß sie keinerlei Ehrgeiz besaß und zufrieden war, daß ihre Nadel und ihre Geschicklichkeit sie nährte.

Die Liebe war für beide auf den ersten Blick gekommen. Sie hatten seit diesem ersten Abend nicht mehr voneinander gelassen. Das Glück des ersten Winters stieg in leuchtenden Farben wieder vor Martha Freiland auf, als sie durch die immer eintöniger werdende Landschaft fuhr, über die sich die frühe Dämmerung zu senken begann. Deutlich sah sie die beiden armseligen Stübchen im vierten Stock der Invalidenstraße, in denen sie gehaust hatten. Oft waren sie hungrig zu Bett und hungrig wieder an die Arbeit gegangen. Er hatte durchaus nichts von ihrem Verdienst nehmen wollen, und sie hatte sich nichts gönnen wollen, wenn er es nicht tat, aber immer waren sie glücklich und zumeist auch lustig gewesen. Da, im Frühjahr, gegen den Sommer zu, war eine große Unruhe über ihn gekommen. Er hatte sie ihr zu verbergen getrachtet, aber sie, die ihn kannte, wie ein mit innigem Verständnis und stillem Sichversenken immer wieder gelesenes Buch, hatte ihn durch und durch gesehen.

Sein Ehrgeiz war wieder erwacht. Die Liebe allein, so heiß und stark sie auch war, füllte ihn nicht mehr aus. Kollegen, die mit ihm im Examen gewesen, waren zu Stellungen gelangt, manche waren sogar schon zu Ansehen gekommen. Der und jener hatte etwas geschrieben, von dem man in Fachkreisen zu sprechen begann. Max Enke hielt es nicht länger. Auch er wollte, mußte hinaus in die Reihe der Kämpfenden.

Er hatte eine Idee, die ihn nicht mehr losließ, über die [95] er Tage und Nächte mit Martha sprach, die ihm nicht helfen, nur bewundernd auf ihn hören konnte. Er wollte ein Werk schreiben, ein großes populäres Werk über das Verhältnis des Arztes zum Kranken, und umgekehrt über das Verhältnis des Kranken zum Arzt.

Aber um dieses umfassende ethische Werk zu schreiben, sich in die notwendigen Studien versenken zu können, mußte er sich zuvor eine sorgenfreie Existenz schaffen. Er mußte Praxis und die notwendige Fühlung mit den Patienten bekommen, um nicht nur vom grünen Tisch her predigen zu müssen. Erfahrung war alles. Er schwur auf die Erfahrung. Was hatte er von der Liebe gewußt, bevor er Martha besessen!

Sie zerbrachen sich die Köpfe. Max machte immer neue vergebliche Versuche. Schließlich legte er die Hände in den Schoß und fing an, auf einen Zufall zu hoffen: auf eine verzweifelte Mutter, eine wohlhabende natürlich, die ihn zu ihrem plötzlich erkrankten Liebling rief; auf einen Kapitalisten, dem im Gedränge der Chausseestraße das Pferd scheu geworden und der in unmittelbarer Nähe von ihm aus dem Wagen geschleudert wurde, den reichen Mann, den er mit eigener Lebensgefahr zwischen den Rädern hervorzog.

Nichts von alledem stellte sich ein. Wohl aber kam eines Junimittags ein Brief aus Wien von einem dort seit kurzem ansässigen Kollegen mit guten Verbindungen, der Max lebhaft zuredete, sein Glück in der alten Donaustadt zu versuchen. Er machte sich anheischig, ihn sofort bei einem der großen Krankenhäuser anzubringen. Das weitere würde sich dann finden. Er sollte lieber heute als morgen seine Koffer packen.

Martha lehnte sich zurück und schloß die Augen. Der Kopf schmerzte sie von allem Denken und Erinnern; noch [96] mehr aber schmerzte sie das Herz, wenn sie an das dachte, was dann gekommen war.

Jetzt hob sie den Blick wieder. Die unbequeme Mahnerin drüben aus der Ecke war verschwunden. Wahrscheinlich war sie in den Speisewagen gegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, die sie ihr für Gusta schon seit Stunden angeraten hatte, mit der Begründung, daß der Mensch was Warmes im Leibe haben müsse, um zu existieren.

Gusta schlief, wie es schien, noch immer. Leise fuhr Martha dem Kind mit der Hand über das Gesicht. Müde schlug die Kleine die trüben Augen auf und wimmerte leise.

»Was ist denn? Schlaf ein, schlaf, Kind.« Sie klopfte ihm die glühheißen Backen. »Sieh nur, wie schön warm Gusta jetzt ist.«

»Gusta friert,« jammerte das Kind. Martha lächelte schwach.

»O, du kleines Schaf du, du glühst ja wie ein Bratäpfelchen.«

Sie legte dem Kinde den Kopf ein wenig höher, dann setzte sie sich in ihre Ecke und schloß die Augen aufs neue. Ungerufen kamen die Gedanken wieder und knüpften da an, wo sie kurz zuvor abgerissen waren.

Max' Stimmung besserte sich nicht. Auch in Wien war es nicht anders wie in Berlin, schlimmer nur, da sie einander nicht hatten, und das Leben eher teurer als billiger war. Mit der Stelle am Krankenhaus war es auch nichts geworden.

Er bat und machte Vorschläge, daß sie zu ihm käme. Das Reisegeld würde sich ja aufbringen lassen, und mit der Nadel könnte sie dort verdienen wie hier, das Leben zusammen würde auch wohlfeiler sein. Aber Martha war unerbittlich geblieben, sie würde es auch dann geblieben sein, wenn sie sich um diese Zeit nicht Mutter gefühlt hätte. Nein, sie durfte [97] ihm nicht zur Last fallen, bevor er nicht für sich selbst auskömmlich gesorgt hatte, bevor er nicht seinem großen Ziele mindestens näher gekommen war. Nicht einmal ohne ein Kind, geschweige denn mit einem solchen durfte sie zu ihm kommen. So sagte sie denn nein, und wieder nein, und schwieg im übrigen und verbarg ihre Sorgen und Freuden und Hoffnungen vor ihm. Vielleicht, wenn es da war und Max schon weiter gekommen sein würde, dann, ja dann!

Aber er kam nicht weiter, während sie sich tapfer durchschlug auch mit dem Kinde. Sie war geschickt und eine flinke Arbeiterin, sie hätte, wenn es darauf angekommen wäre, auch mehr Hungrige noch satt machen können. Am liebsten hätte sie für ihn gearbeitet, für ihn, nur für ihn. Es war eine starke Tatkraft in ihr. Aber wie, wie, ohne ihn zu kränken? Almosen konnte sie ihm nicht bieten. Tausendmal hatte sie's in der Feder, ihm zu schreiben: »Plag du dich nicht so, es nützt ja zu nichts. Zu viel Ärzte sind auf der Welt, und wenn man kein Geld und keine Protektion hat –. Komm zurück zu mir; du findest was Liebes hier, und wir hausen beisammen glückselig wie einst.« Aber es wollte ihr niemals heraus. Sie liebte ihn zu heiß und selbstlos, er stand ihr zu hoch, als daß sie ihm ein solches Los hätte zumuten mögen. Nein, er mußte vorwärts, vorwärts!

Und immer wieder trieb sie ihn an und gab ihm recht, daß er aushielt. Er war ein Mann. Einmal würde es ja wohl kommen, und dann käme auch sie, und alles, alles würde gut sein.

Und wirklich es kam. Ganz plötzlich hatte er heiterer, zuversichtlicher geschrieben. Nicht mehr so oft als sonst, auch dann und wann wohl einmal eine Postkarte statt des geschlossenen Briefes, und auch die Briefe waren eiliger, flüchtiger geworden und selten nur noch waren sie von jener [98] leidenschaftlichen Glut durchtränkt, die sie durch alle Ferne berauschte, ihr selige Schauer durch die Glieder jagte, als läge sie körperlich an seinem Herzen, fühlte den Strom seiner Leidenschaft sie durchglühen.

Martha litt unter Max' Veränderung, es tat ihr wehe, aber es grämte sie nicht eigentlich, es kränkte und beunruhigte sie nicht. Er kam vorwärts, er hatte Beziehungen angeknüpft, Praxis stellte sich ein, bald würde er mit seinem Werk beginnen können. War es nicht nur natürlich, daß er nicht mehr ganz soviel Zeit, ganz soviel Gedanken für sie hatte als früher? Zuweilen, wenn es gegolten, eine Arbeit rasch fertig zu bringen, hatte sie dann nicht auch nur flüchtig geschrieben, und sie liebte ihn doch mit der ganzen zärtlichen Glut ihrer leidenschaftlichen Natur.

Dann plötzlich waren die Briefe mit wenigen Ausnahmen kühler und immer seltener geworden. Sie fühlte, etwas Fremdes war zwischen sie getreten, etwas Feindliches: ein Weib. Sie sprach nichts dar über zu ihm, aber eisig packte sie's an, wenn sie nur daran dachte. Und wann hätte sie nicht daran gedacht! Tage und Nächte grübelte sie darüber. Es fraß sie förmlich auf. War es nur eine leichte Liebelei, so mußte sie darüber fortzukommen suchen, so wehe es tat. Verheiratete Frauen mußten das, und die es zuwege brachten, waren immer am besten daran. War's aber doch etwas anderes, eine ernste Neigung, eine Heirat!?

Fürchterlich war Martha Freiland anzusehen, wenn sie dahin kam. Jeder, der ihr in solchen Stunden ins Antlitz geschaut, hätte gewußt: das geht auf Tod und Leben. Und seltsam, jedesmal, wenn sie soweit gekommen war, wenn sie zum Äußersten entschlossen gewesen, entschlossen, ihn, wenn ihre Ahnungen nicht logen, vor die letzte Wahl zu stellen, kamen liebe, zärtliche Worte von ihm, Worte, die [99] wie Reue und neue Liebe klangen, und sie war wieder sein, mit jeder Faser ihres Wesens ihm ergeben, unfähig, ihm auch nur ein Härchen zu krümmen, ihm oder etwas, um ihn das war, wehe zu tun.

Es konnte ja auch gar nicht sein. Er konnte sich ja nicht ernstlich von ihr lossagen wollen, um einer andern willen. Hätte sie es denn gekonnt? Hätte sie ihre Lippen einem andern zum Kusse bieten können als ihm? Hätten ihre Hände etwas anderes kosen können als sein geliebtes Selbst? Hätten ihre Augen so tief, so unergründlich tief in andere sehen können wie in die seinen? Schon der Gedanke war Wahnsinn – Wahnsinn –, und sie küßte das Kind, von dem er noch immer nichts wußte. Dann nahm sie die großen Rechnungsbücher vor und die kleine Sparkasse aus der Lade und fing zu rechnen an. Es war zu Anfang Oktober. Sie hatte noch einen Auftrag zu erledigen, das Hochzeitskleid für die Jungfer der Geheimrätin im ersten Stock, dann, in einer Woche etwa, durfte sie sich's gönnen, ein paar Tage auszuspannen, nach Wien zu fahren, ihn zu überraschen. Gusta nahm sie mit. Wo hätte sie das Kind auch lassen sollen, – und dann, wenn sie ihn fand, wie er sie verlassen, dann gab sie ihm das Kind ans Herz und sagte ihm: es ist unser, unsere Freude, meine Sorge.

Wie im Halbschlaf waren alle diese Bilder an Martha Freiland vorübergezogen. Jetzt plötzlich schreckte sie auf. Hatte sie selbst so laut gestöhnt, oder war es Gusta gewesen? Nein, die schlief noch immer. Bei dem Gaslicht, das inzwischen angezündet war und grell auf das Kind fiel, bemerkte Martha, daß das kleine Gesicht seltsam gerötet und die Lippen trocken und wie gesprungen waren. Aber sie achtete weiter nicht darauf. Gusta schlief. Was konnte ihr fehlen?

Zu ihm wollte sie, sobald das Hochzeitskleid fertig war! [100] Das war gestern gewesen, ja, gestern erst – und an demselben Tage hatte sie einen Brief bekommen, einen Brief aus Wien, der nicht von seiner Hand überschrieben war. Etwas war geschehen, etwas Entsetzliches! Sie wußte es, ehe sie den Brief aufmachte. Eine fremde Schrift fiel ihr entgegen, ganz fremd nicht, nein, es war die Schrift seiner ersten Wirtin, die ihr zweimal geschrieben hatte, gleich in den ersten Monaten, als Max krank gewesen war. Er wohnte längst nicht mehr bei der einfachen Frau in der Alser Vorstadt, er wohnte jetzt vornehm in der Kärntner Straße, dicht am Ring.

Dreimal hatte sie den Brief gelesen gestern – war es wirklich erst gestern gewesen? – ohne ihn zu verstehen. Dann, ja, dann hatte sie ihn begriffen. Das Unmögliche, das Unfaßliche war wahr geworden. Das fürchterliche Gespenst hatte Fleisch und Blut angenommen, es war wirklich eine da, eine Reiche, Vornehme, die er heiraten wollte, heute, morgen, übermorgen. Großer Gott! vielleicht hatte er es schon getan!

Martha waren die Sinne geschwunden. Nur eines wußte sie noch: es durfte nicht geschehen. Vielleicht kam sie schon zu spät. Sie holte den zerknitterten Brief der Frau aus der Tasche. Er war am Dienstag geschrieben. Heute war Donnerstag. Sie suchte mit fliegenden Fingern und verschleierten Augen nach einer Stelle. Freitag, Freitag sollte es sein, ein großes Fest im Hotel Bristol. Sie merkte den Namen des Hotels genau. Dort würde sie wohnen, gleichviel, was es kostete. Sie wollte in der Nähe sein, dicht dabei. Sie wollte auch mitfeiern, ja.

Der Zug hielt. Sie sah auf die Uhr. Halb acht. In zwei Stunden würden sie in Wien sein. Die dicke Frau war längst aus dem Speisewagen zurück und bemühte sich um [101] das Kind, das aufgewacht war und jämmerlich wimmerte, ohne daß Martha es auch nur bemerkte.

»Das Kind hat hohes Fieber,« sagte die Frau jetzt zum drittenmal in beinahe drohendem Ton.

»O,« meinte Martha, »es wird so schlimm nicht sein. Kinder sind leicht mal heiß. Mein schweres Cape, und der Wagen ist überheizt.«

Die Frau murmelte etwas, was Martha nicht verstand, und nahm das immer heftiger wimmernde Kind auf den Schoß.

»Armes Würmchen, armer Wurm. Komm. Die Tante wird dir zu trinken geben.«

»Ja, trinken, trinken,« stöhnte das Kind.

Und weiter rasselte der Zug durch die graue, sternenlose Nacht. – –

Die Wagentüren wurden aufgerissen.

Wien, Nordwestbahnhof!

Die Kleine kauerte noch immer, in das große Cape gewickelt, auf dem Schoß der Fremden. Der kleine Körper klapperte vor Frost, trotzdem das Köpfchen glutrot brannte.

Martha Freiland nahm Gusta mit einem kurzen Dankeswort gegen die behäbige Frau auf den linken Arm, mit dem rechten hob sie den Handkoffer aus dem Netz, den Gepäckträger wies sie an: »Schnell einen Wagen, oder wenn der Omnibus da ist, nach dem Hotel Bristol.«

Ein Komfortabel fuhr vor. Sie spornte ihn zu rasender Eile an und zahlte ihm in deutschem Geld weit über die Taxe. Nur nicht zu spät kommen. Die Wirtsfrau konnte sich geirrt haben. Die Hochzeit konnte schon heute sein. Die leere Formel auf dem Standesamt, am Altar, was bedeutete ihr die! Bevor er sie in Wahrheit zu seinem Weibe machte, mußte sie zur Stelle sein.

[102] Endlich hielten sie, durch eine schmale Gasse einbiegend, auf dem Kärntnerring vor einem palastartigen Gebäude. Martha erschrak. Blendendes Licht, strahlender Luxus blinkten ihr entgegen. Hier konnte sie am Ende doch nicht wohnen, sie hatte sich übereilt. Aber es war zu spät. Der Schlag des Wagens war schon aufgerissen, zwei kleine Burschen standen mit abgerissenen Kappen daneben, der Portier fragte nach ihrem Befehl. Sie konnte nicht mehr zurück. Sie nahm den letzten Rest ihrer Fassung zusammen und ersuchte um ein einfaches Zimmer im obersten Stock.

Der gut geschulte Portier verzog keine Miene. Er läutete, ein Kellner erschien.

»Die Dame bekommt 458 vierter Stock, Seitengang.« Damit wies er nach links auf die Richtung, wo sich der Aufzug befand.

»Bitte, Gnädige.«

Geblendet schritt Martha durch den taghell erleuchteten Vorraum. Wie durch einen Schleier sah sie das Hin- und Hereilen von Bediensteten zwischen Damen mit lang nachwallenden Seidenschleppen und Herren im Frack und weißer Binde.

Hinter einer großen Glastür erblickte sie eine Tafel, auf der Silber und Kristalle glänzten. Große Speiseschüsseln schienen sich dazwischen aufzubauen. Es war ihr, als ob sie Geigenspiel höre; aber sie traute ihren Sinnen nicht mehr. Das Kind an die Brust gepreßt, eilte sie wie eine arme Verfolgte durch die Menschen hindurch auf den Fahrstuhl zu.

Sie atmete erst auf, als sie im vierten Stock angelangt war. Auf den langen Gängen, auf denen unzählige weiße Türen mit goldenen Ziffern mündeten, war es still.

Der Kellner schritt voran. Zwei, drei Gänge entlang. Endlich öffnete er eine Tür und drehte die elektrische Flamme [103] auf. Ein hübsches, behagliches Zimmer mit zwei Betten lag vor ihr, das jedenfalls den Preis dessen, was sie zu zahlen imstande war, noch immer weit überstieg. Aber daran dachte sie nur flüchtig. Sie bestellte heißes Wasser und schloß die Tür. Plötzlich klangen ihr wieder die Geigentöne im Ohr, sah sie die Damen mit den Seidenschleppen, blitzte die geschmückte Tafel vor ihr auf. Schwer fiel sie in einen Stuhl, das mühsam schluckende, fiebernde Kind noch immer im Arm.

Wenn das seine Hochzeit bedeutete – wenn – es war bald halb elf, wenn er am Ende schon aufgebrochen war mit ihr, seiner Frau. Wenn sie zu spät gekommen wäre!

Es würgte sie etwas im Halse. Sie glaubte ersticken zu müssen. Sie legte das Kind auf eines der breiten Betten und riß das Fenster auf, das auf einen großen Lichthof ging.

Sie atmete ein paar Mal tief und schwer. An der Tür klopfte es. Das Stubenmädchen kam mit dem Wasser. Sie würde es wissen, wenn eine Hochzeit im Hause gefeiert wurde.

»Fräulein.«

»Gnädigste wünschen?«

»Da unten, die Musik, die Tafel, ist da etwas Besonderes los?«

»Wo, meine Gnädigste?«

»Gleich beim Eingang, hinter der großen Glastür.« Martha hielt sich an der Stuhllehne fest. Sie schwankte. Sie fühlte, daß alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Das Mädchen lächelte mit einem Ausdruck überlegener Genugtuung.

»Bei uns ist das jeden Abend so. Souperstunde. Die Herrschaften kommen aus dem Theater in großer Toilette! Auch viele Einheimische speisen abends hier. Alle Abend ist Musik. Wünschen Gnädigste sonst noch etwas?«

[104] »Danke, nein.«

»Wünsch gute Nacht, Gnädigste.«

Martha trocknete den Schweiß von der Stirn. Es war noch nicht zu spät, nein. Sie trat zu dem Kinde. Nachdem ihre Seele diese furchtbare Last abgewälzt hatte, kam zum erstenmal wieder ein Gefühl von mütterlicher Zärtlichkeit über sie.

Sie wickelte das Kind aus seinen Umhüllungen heraus und fing an, es auszukleiden. Wirklich, das arme Kleine war krank. Zum mindesten ein fieberhafter Katarrh. Sie wollte ihm etwas zum Schwitzen eingeben, dann würde es morgen wieder munter sein. Heißes Wasser war da, Zucker und etwas Rotwein hatte sie im Handkoffer. Die Kleine trank gierig, aber das Schlucken wurde ihr offenbar schwer. Dann plötzlich stieß sie das Glas von sich und fing aufs neue zu jammern an.

Martha beruhigte das Kind eine lange Weile vergebens. Endlich sank es in eine Art stumpfen, fieberhaften Halbschlaf. Von irgend einer Uhr hörte Martha es halb zwölf schlagen.

Sie selbst dachte nicht daran, zu Bett zu gehen.

Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch, nahm einen der dort liegenden Bogen und fing an, an Max zu schreiben. Nachdem sie ein Blatt beschrieben hatte, zerriß sie es wieder. Sie lief im Zimmer auf und nieder. Ein Spiegel warf ihr Bild zurück. Erschreckt vor sich selbst, blieb sie stehen. Wie sah sie aus? Was war aus ihr geworden in diesen letzten sechsunddreißig Stunden? Blaß bis in die Lippen, die Augen schwer und schattenhaft umrandet, das Haar wirr und wild. Sie fürchtete sich beinahe vor sich selbst.

Sie fing aufs neue zu grübeln an. Vielleicht hat die Wirtsfrau gelogen oder ist selbst belogen worden? Vielleicht ist alles Wahnsinn, was sie denkt und will. Vielleicht liegt [105] sie morgen in seinen Armen, begraben unter der leidenschaftlichen Glut seiner Küsse. Sie wird zu ihm gehen, morgen in der Frühe, es kann nur wenige Schritte von hier sein, wo er wohnt, ein Arzt muß in der Frühe ja zu treffen sein, und noch, noch gehört er ihr!

Warum geht sie nicht gleich, nicht in der Nacht noch? Ist es nicht ihr Recht? Sie weiß von nichts. Er hat sie nicht von sich gewiesen. Was geht sie's an, was in dem Brief gestanden hat? Sie hat den Brief nicht gesehen. Er ist nie geschrieben worden. Er existiert nicht. Sie aber ist da, um Minuten nur von ihm entfernt, nachdem durch endlose Zeiten, die sie jetzt gar nicht mehr berechnen kann, eines ganzen Tages Spanne zwischen ihnen gelegen – und sie sitzt hier und zermartert sich Herz und Hirn und geht nicht zu ihm und ruft: Hier bin ich! Du, ach du! und legt sich ihm, ihn heiß umschlingend, an die Brust.

Sie streicht mit fliegenden Fingern über das Haar. Sie nimmt den Hut vom Bett und steckt ihn vor dem Spiegel fest. Ein bißchen Farbe ist wieder in ihr Gesicht gekommen, und ihre Augen blicken nicht mehr ganz so verzweifelt wild. Ein Strahl heißer Liebe ist wieder darin aufgegangen.

Es muß bald zwölf sein. Es wird auffallen, wenn sie so spät noch aus dem Hotel geht, aber wen hat das zu kümmern? Wie weit es wohl bis zu ihm ist? O, sie wird ihn schon finden. Vor seinem Hause will sie warten, wenn er nicht daheim ist, mag es auch noch so lange dauern. Es ist ja garnicht anders möglich. Sie und er! Eine ganze Nacht lang in einem Ort beieinander und doch nicht beisammen!

Sie will eben den Mantel umnehmen, da dringt von Gustas Bett ein gurgelnder Laut zu ihr. Sie stürzt hinzu. Blaurot im Gesicht, mit geballten Fäusten, liegt die Kleine sich krümmend da.

[106] »Um Gottes willen, Gusta, Gusta!«

Sie reißt das Kind auf und schüttelt es. Es kommt wieder zu sich. Der Erstickungsanfall geht vorüber. Martha Freiland steckt den Hut vom Kopf. Sie kann nicht fort, nein. Die unbequeme Frau im Zuge hat recht gehabt. Ihre kleine Gusta ist wirklich sehr krank. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Frühstückszimmer im Hotel Bristol, jenseits der großen Haupttreppe, ist als Festraum zu einer Familienfeier hergerichtet worden. Die Tochter des Sektionschefs von Effinger, Fräulein Käthi von Effinger, verheiratet sich in den nächsten Tagen mit einem jungen, vielversprechenden Arzt, mit demselben Doktor Max Enke, der an einem Aufsehen erregenden Buch: »Zur Ethik des ärztlichen Berufes«, arbeiten soll und schon über eine nicht unbedeutende Praxis verfügt.

Ob diese Praxis erst mit der Verlobung gekommen, oder schon vorher vorhanden gewesen ist, weiß niemand recht zu sagen, jedenfalls macht er an Fräulein Käthi eine in jeder Beziehung glänzende Partie. Sie ist ein liebes, hübsches Mädel, das einzige Kind des Effinger und schwer reich von der verstorbenen Mutter her. Die Hochzeit selbst soll nur im kleinsten Kreise gefeiert werden. Das Fest, das der Sektionschef heute im Hotel Bristol gibt, gilt den zahlreichen Anverwandten, Freunden und Bekannten des Hauses, denen man noch eine Aufmerksamkeit erweisen will für alle Liebenswürdigkeiten während des kurzen, kaum sechswöchigen Brautstandes der beiden.

Im Sommer erst haben sie sich kennen gelernt, oben auf dem Semmering, wo der Sektionschef mit seiner Tochter ein paar Wochen Nachkur nach Karlsbad gehalten hat. Da ist Enke an Sonntagen öfter hinaufgekommen und am Ende [107] ein paar Tage oben geblieben. Die Bekannten haben es von vornherein kommen sehen. Käthi, das stille, sanfte Geschöpf ist ja wie ausgewechselt gewesen. Nur ihn selbst hat sie's nicht merken lassen, wie lieb sie ihn hat, bis er eines Abends auf der Terrasse des Südbahnhotels, den schneeüberglänzten Firnen der Rax und des Hohenschneebergs gegenüber, zu ihr gesprochen. Da ist ihr das Herz aufgegangen, weiter als sie gewollt, da hat sie sich ihm verlobt. Und dann ist sie wieder in ihre kindlich verschlossene Scheu zurückgefallen, und ruhig wie gute Freunde sind sie nebeneinander hergegangen.

Was wußte dies Kind davon, was ein Mann wie Max Enke zu geben hat, und er, was wußte er von der Tiefe und Zärtlichkeit ihrer Liebe, die sich scheu vor ihm verbarg!

Wenn Käthi allein war, und sie war es oft, lächelte sie still vor sich hin über den unermeßlichen Schatz von Liebe, den sie für ihn in Bereitschaft hielt. Sie würde ja Zeit haben, will's Gott, ein langes Leben lang, diesen Schatz vor ihm auszubreiten, vor ihm, dem ihre ganze Seele gehört.

Nach Liebe suchend ist sie bisher durchs Leben gegangen, die arme, kleine, reiche Käthi, da die Mutter ihr früh gestorben ist und der Vater nur Sinn für sein Amt hat. Nun will sie's nachholen, lieben und geliebt werden, so wie sie es versteht, mit zärtlicher Hingabe, eines nur für das andere da, die Seele des einen offen vor der des anderen, nichts Verborgenes, kein Lug, kein Falsch, nichts, was der eine nicht vom andern wüßte.

Bisher, nein, da ist es noch nicht so gewesen, wie sie es sich denkt und träumt. Max hat sie lieb, o gewiß, was sonst sollte ihn veranlaßt haben, sie da oben im feierlichen Antlitz der Berge zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle? [108] Er ist freundlich und aufmerksam und, trotz ihrer ängstlichen Abwehr, auch öfters zärtlich gegen sie, aber es ist etwas Verschlossenes, Geheimes in ihm, etwas, das sie mit dem Instinkt ihrer starken, jungen, unerfahrenen Liebe nur ahnt, ohne es zu verstehen. Aber sie lächelt zuversichtlich. Wenn sie seine Frau ist, wird sie es wissen, dann wird alles so sein, wie sie es denkt und träumt.

Nur wenige Tage noch, dann ist der große Tag gekommen, dem sie mit glücklicher Zuversicht entgegensieht. Ganz wider ihre Gewohnheit zärtlich, schmiegt sie sich an ihn, nachdem die Festtafel aufgehoben ist. Am Hochzeitstage selbst wird kein rauschender Trubel um sie sein wie heute. Sie fragt Max leise, ob auch ihm das so lieb sein wird wie ihr. Er streicht ihr über das feine, lichtbraune Haar, und mit seinen Gedanken weit fort, sagt er förmlich: »O, gewiß Kind, ja.« Und Käthi lächelt und ist zufrieden.

In diesem Augenblick tritt der Hotelportier, die goldbetreßte Mütze in der Hand, an Max Enke heran.

»Herr Doktor, einen Augenblick.«

»Hat jemand nach mir geschickt?«

»Niemand von den Klienten, Herr Doktor, aber hier im Hause ein Kind – wenn es den Herrn Doktor nicht stören würde – die Dame, eine ganz junge Person, bat so flehentlich, ihr einen Arzt zu senden – sie ist erst heute abend angekommen. Ich habe nichts davon gesagt, daß der Herr Doktor im Hause ist, um den Herrn Doktor nicht etwa zu verpflichten.«

»Aber das versteht sich doch ganz von selbst. Erst der Beruf, dann alles andere. Wissen Sie, was dem Kinde fehlt?«

Der Portier zuckte die Achseln. Auch der Direktor, der jetzt hinzutrat, wußte nicht, was mit dem Kinde sei. [109] Nur daß die Frau den Eindruck einer völlig Verzweifelten gemacht habe, wußte er zu berichten.

Max Enke hatte sich inzwischen aus der Garderobe seinen Überrock holen lassen, in dem er stets das notwendige Handwerkszeug bei sich führte. Er hing den Rock über die Schultern und schritt schnell auf den Aufzug zu.

»No. 458, Herr Doktor. Zeige dem Herrn Doktor das Zimmer.«

Leiser, gegen Max Enke gewendet, fügte er hinzu: »Es scheinen sehr einfache Verhältnisse, Herr Doktor, ich wollte das nur gesagt haben.«

Enke winkte mit der Hand ab, andeutend, daß dieser Umstand in nichts mitspreche, und fuhr hinauf.

Oben in den Gängen rührte sich nichts. Alles schien schon in tiefem Schlaf zu liegen.

Der Fahrstuhl-Bursche schritt dem Doktor durch ein förmliches Labyrinth von Gängen voran. Endlich blieben sie vor 458 stehen. Der Bursche klopfte. Niemand gab Antwort.

»Der Herr Doktor, gnädige Frau.«

Etwas wie ein schluchzender Laut gab Antwort.

Max trat ein. Das Zimmer war nur schwach erhellt. Die elektrischen Flammen an der Decke waren ausgedreht, nur die kleine rotüberdachte Lampe auf dem Nachttisch brannte. Er sah ein Kind mit geschlossenen Augen, halb aufgerichtet im Bett, von dem Arm der neben dem Bettrand knienden Mutter gehalten. Der Kopf der Frau lag in die Kissen eingegraben. Nichts als ein sehr schlanker Körper und eine Fülle halb gelösten schwarzen Haares waren sichtbar. Max trat dicht an die Regungslose heran.

»Gnädige Frau, ich bin der Arzt.«

Als ob ein Blitzstrahl sie getroffen, schnellte die Kniende [110] in die Höhe. Die Instrumententasche, die er in der Hand gehalten, entfiel Max klirrend. Sprachlos standen sie einander gegenüber, Blick in Blick getaucht. Langsam und schwerfällig rang sich der Name des einen von des andern Lippen.

Da stöhnte und gurgelte das Kind. Mit fiebernden Händen faßte Martha nach der Hand des Mannes, die sie noch nicht berührt hatte.

»Rette das Kind, Max, alles andere nachher.«

Seine Hand zitterte, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, wälzten sich schlangenförmige Gewinde. Er packte Martha am Arm.

»Unser Kind?«

»Ja,« gab sie hart zurück. »Rette es, wenn du kannst.«

Er riß sich in die Höhe. Mit eisernem Griff faßte er sich zusammen. Er hatte nichts zu denken, als an dies kleine, todkranke Geschöpf. Er warf den Rock ab, die zu Boden gefallene Tasche hatte Martha schon auf den Nachttisch gelegt, und nahm das Kind aus den Kissen.

»Mach mehr Licht an.«

Er trug das Kind auf den Tisch, unter den strahlenden Deckenleuchter und untersuchte es. Nach zwei Minuten wußte er, wie es stand. Aber keine Miene, keine Bewegung verriet, was er dachte, was in ihm vorging.

»Leg die Kleine wieder zu Bett. Nicht zu fest zudecken, den Kopf ganz hoch. Und, bitte, klingle nach dem Hausdiener. Er soll sofort in die Apotheke.«

Er setzte sich und schrieb zwei Rezepte. Dann legte er die Feder hin. Ein bittres Lächeln glitt um seinen Mund: »Wie heißt unsere Kleine?«

»Gusta, nach deiner Mutter.«

[111] Für Gusta Freiland. Er zerbiß, während er es schrieb, einen schweren Seufzer zwischen den Zähnen.

Wie lange würde es noch eine Gusta Freiland geben!

Der Hausdiener kam.

»Tragen Sie das sofort in die Apotheke und warten Sie darauf. Sie wissen doch die nächste? Kärntnerstraße. Vorher aber bestellen sie unten, daß sofort eine Platte kleingeschlagenes Eis heraufgebracht wird. Und richtig, ja, bringen Sie aus der Apotheke einen Eissack mit. Hier sind zwanzig Kronen.«

Als der Hausdiener gegangen war, trat Enke an das Bett zurück. Er legte die Hand auf den Kopf des Kindes. Die Kühle, die ihr entströmte, schien dem armen Geschöpf sichtlich wohl zu tun.

»Leg ein paar Tücher in kaltes Wasser, Martha.«

Als Martha ihm die Leinwand reichte, beugte er sich auf ihre Hand herab und küßte sie. Sie sagte nichts und rührte sich nicht. Er warf einen langen, schwermütigen Blick auf ihr bleiches schönes, von Leiden gezeichnetes Gesicht. Dann wickelte er Hals und Kopf des Kindes in die nassen leinenen Tücher.

Eine kurze Weile lang sprach keines von ihnen ein Wort. Dann, nachdem das Eis gebracht worden war und Max dem Kinde ein Stück zwischen die spröden trockenen Lippen geschoben hatte, fragte Martha, an seiner Seite stehend, leise, kaum hörbar: »Ist es sehr schlimm mit Gusta?«

»Der Fall ist ernst, aber nicht unbedingt verzweifelt.«

Dann griff er nach ihren Händen, die sie ihm nur widerstrebend überließ.

»Nur einen Augenblick, Martha!«

Er beugte sich ein wenig zu ihr hinüber und sah ihr tief in die Augen.

[112] »Warum kamst du, ohne mir ein Wort davon zu schreiben? Warum verheimlichtest du mir das?«

Er warf einen schmerzlich bewegten Blick auf das Kind.

Sie sah von ihm fort zur Seite.

»Du solltest mich nicht um seinetwillen lieb behalten, Rücksichten üben. Du solltest frei deinen Weg gehen. Danach – wäre ich mit dem Kinde zu dir gekommen.«

Ihre Stimme klang hart und kalt. Aber in ihren Augen funkelte es vor leidenschaftlicher Glut.

»Und jetzt, Martha, warum kamst du jetzt?«

Sie richtete sich hoch auf und sah ihn drohend an. Dann riß sie den zerknitterten Brief seiner Wirtsfrau aus der Tasche.

»Um das da kam ich!«

Max wurde um einen Schatten bleicher noch, während er die Zeilen flüchtig überflog. Mit verhaltenem Atem stand sie neben ihm.

»Ist das wahr?«

»Ja, es ist wahr.«

Er senkte die Augen nicht vor ihr. Mit unendlicher Traurigkeit blickte er sie an. Sie aber sah an ihm vorüber ins Leere mit einem entsetzensvoll starren, medusenhaften Blick.

»Martha, um Gott, Martha!«

Sie machte sich los von seinen sie umklammernden Händen und lachte jäh und schrecklich auf.

»Und du glaubst, ich würde dabei stehen und es ruhig mit ansehen, dich etwa gar noch segnen, dich und sie, sie, die dich mir gestohlen hat, deine Liebkosungen, deine Küsse mir gestohlen hat, die statt meiner dein Weib sein wird – und du glaubst, ich ließe das zu, ich, der du gehörst mit allem, mit allem, sage ich dir, Seele und Leib. Töten tue ich sie, [113] ehe sie dich besitzt. Oder ist es schon geschehen, sage, ist sie schon dein Weib?«

Sie sprach ganz leise, heiser, unterdrückt, ihre Augen fest in den seinen, seine Schultern mit beiden Händen gepackt.

»Nein, sie ist es noch nicht.«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Mädchens.

»Und sie wird es niemals werden.«

Sie sprach es leise zwischen den Zähnen hindurch. Er sah es mehr, als daß er es hörte, an dem triumphierenden Blick ihrer Augen.

Dann, als ob sie in dieser Versicherung ihre letzte Kraft ausgegeben, sank sie wie zerbrochen in einen Stuhl und starrte, die Hände um die Knie gefaltet, wortlos in die rosa Dämmerung des Gemaches.

Er blickte zu ihr hin, jeden Zug ihres schönen Gesichts, jede Linie ihres schlanken Körpers förmlich in sich aufsaugend. Jetzt, da er sie wiedersah, da alles, was sie einander gegeben, alles, was sie einander gewesen und noch waren, greifbar deutlich vor ihm aufstieg, fragte er sich, wie das andere auch nur möglich gewesen, wie es überhaupt hatte geschehen können! Ihm, dem Kampfmüden, hatte ein goldener Käfig gewinkt. Aber das Vögelchen mit dem feinen, weichen Gefieder und dem sanften, zwitschernden Stimmchen, das in dem goldenen Käfig seiner harrte, konnte es ihn je vergessen lassen, daß er einst einen freien, starken, wilden Vogel am Herzen gehalten, der sein köstliches Besitztum gewesen war?

Stöhnend barg er den Kopf in beide Hände. Was sollte werden, was geschehen? Er konnte das kleine, zarte, vertrauende Geschöpf, das ihn liebte auf seine Art, nicht Martha Freilands Rache preisgeben; aber er konnte auch sie nicht lassen, die Mutter seines Kindes, das Weib, zu dem [114] ihn noch heute wie vor vier Jahren sein ganzes Wesen übermächtig riß.

Von einem Schatten aufgeschreckt, blickte Max auf. Martha stand vor ihm.

Hart und trocken sagte sie: »Du glaubst nicht etwa, daß ich dich hätte rufen lassen?«

»O nein, nein, ich weiß. Ich war hier im Hause zufällig – ein Fest.«

Er sprach stockend und unsicher. Sie blickte ihn durchdringend an.

»Sie ist auch hier?«

Er nickte stumm und gequält.

Ein verzweifelter Schmerz kroch über ihr Gesicht, über ihre ganze, sich förmlich krümmende Gestalt.

»Du wirst sorgen, daß wir einander nicht begegnen, Max. Ich kann sie nicht sehen. Du hast sie ja doch geküßt und in deinen Armen gehalten.«

Mit einem dumpfen Laut der Verzweiflung schlug ihre Gestalt nach rückwärts gegen den Bettpfosten. Er hielt sie mit den Armen auf.

»Laß, laß, es geht schon vorüber.«

Draußen klopfte es leise an der Tür. Niemand hörte darauf.

Erst beim dritten Male sagte Martha: »Der Hausdiener bringt die Medizin.«

Max stand auf, um die Tür zu öffnen. Entsetzt taumelte er zurück.

»Du hier? Was willst du, geh!«

»Du bleibst so lange, du siehst so erschöpft aus. Ich will dir helfen. Ich verstehe mich auf Kinderpflege. Ich habe einen Kursus im Spital durchgemacht.«

»Geh, sage ich, geh. – Du könntest dich infizieren.«

[115] Käthi lächelte glücklich. Wie lieb er sie hatte, wie er um sie besorgt war! Und sie drängte ihn sanft zurück und trat ein.

Verzweifelt hielt er sie am Arme fest.

»Nicht so nahe. Ich sage dir doch –«

Aber Käthi lächelte weiter. Seine verzweifelte Sorge um sie berauschte sie förmlich. Sie trat dicht an das Bett, vor dem Martha Freiland steif und starr in eherner Größe aufgerichtet stand. Martha hatte es auf den Lippen, zu sagen: Was hast du hier zu suchen zwischen Mann und Weib und Kind? Ihr Worte zuzuschleudern, die diese verhaßte Zerstörerin ihres Glückes mit einem Schlage niedergestreckt hätten! Aber ihre Lippen waren wie zugesiegelt; nur ihre Augen sprachen.

Und betroffen von der unheimlichen Gewalt, die der furchtbare Blick des fremden Weibes auf sie übte, wich Käthi langsam zurück; Schritt vor Schritt der Tür wieder zu, mit banger Frage zwischen den beiden Stummen hin und her sehend, die auf ihren herzbewegenden Blick keine Antwort hatten.

Leise schloß sich die Tür. Von draußen her drang ein banges, ahnendes Schluchzen; dann war es wieder still auf dem Gange.

Martha saß auf dem Bettrand über das Kind gebeugt. Sie rührte sich nicht. Es war eine Starrheit über sie gekommen, die alles zu vereisen schien, was während dieser einzigen Stunde in ihr aufgewühlt worden war.

Endlich kam der Hausdiener mit der Medizin. Das Kind schluckte nur noch mühsam und unter merklichen Erstickungserscheinungen. Max legte Martha die Hand auf die Schulter.

»Es steht schlecht,« sagte er leise, dicht zu ihr gebeugt. [116] »Es gibt nur noch eine Möglichkeit der Rettung, das ist eine Operation. Aber ich möchte sie nicht ohne deinen Willen vornehmen, Martha. Willst du, daß es geschieht?«

Sie bewegte zustimmend den Kopf.

»Ich danke dir für dein Vertrauen. Und nun komm. Du mußt dich aufraffen. Ich kann ohne dich nichts tun. Kleide dich und das Kind an. Ich bestelle einen Wagen. Wir müssen sogleich ins Krankenhaus. Jeder Aufschub ist verderblich.«

Zehn Minuten später fuhren sie durch die dunkle Stadt. Immer lichtloser, immer einsamer wurden die Straßen. Martha hatte das Gefühl, als ob sie in einen schwarzen, gähnenden Schlund hineinführen, der keins von ihnen dreien jemals wieder herausgeben würde. – – – –

Gegen Morgen war die Operation vollzogen. Die Kleine atmete nun wieder frei, das Fieber ließ nach, alle Anzeichen deuteten darauf, daß das Kind gerettet sei. Martha sank erschöpft auf das schmale Lager, das man ihr auf Enkes Fürsprache in ein kleines abgeschlossenes Gemach neben das Bettchen des Kindes gestellt hatte. Die wachthabende Schwester aus dem großen Krankensaal ging ab und zu, um nach der kleinen Patientin zu sehen.

Als Martha erwachte, war es Mittag. Sie hatte wie in einer Narkose gelegen. Auch Gusta schlief. Schwester Therese berichtete, daß es mit dem Befinden des Kindes verhältnismäßig vortrefflich stehe. Herr Doktor Enke sei schon morgens gleich nach seiner Sprechstunde hier gewesen und habe ihr dies für die gnädige Frau übergeben. Dabei händigte die Schwester, eine kleine, ältliche, gutmütig aussehende Person, Martha einen geschlossenen Briefumschlag ein.

Sie legte ihn auf das Deckbett. Sie konnte sich nicht [117] entschließen, ihn zu öffnen, solange die Schwester im Zimmer war.

Nachdem sich die Tür der kleinen Kammer leise geschlossen hatte, riß Martha mit bebenden Fingern den Briefumschlag voneinander. Max schrieb nur wenige nüchterne Worte:


»Liebe Martha, die kleine Gusta ist gerettet, sofern nicht eine unvorhergesehene Komplikation hinzutritt. Du magst denken, mit wie dankbaren Gefühlen mich dieser Umstand erfüllt. Wenn es dir recht ist, werde ich ab und zu nach Dir und dem Kinde sehen. Vielleicht gibst Du mir noch heute mit ein paar Worten Nachricht in meine Wohnung, Kärntnerstraße 13. Die spezielle Behandlung der kleinen Gusta hat der mir persönlich befreundete Kollege des Krankenhauses, Doktor Costa übernommen. Ich bitte Dich, Dir jetzt Ruhe und Erholung zu gönnen, nachdem jede Gefahr für das Kind vorüber scheint.

Mit Gruß und Handkuß.

Max.«


Mit einem bittern Lächeln ließ Martha den Brief auf die Bettdecke zurückfallen. Was nun? Sie konnte ihn nicht wiedersehen, so nicht. Nicht eher, als bis er ihr die heilige Versicherung gegeben haben würde, daß seine Heirat niemals stattfinden werde, daß er sich von allem losgelöst habe, daß er wieder frei sei. Und dann, würde es auch dann jemals wieder werden können, wie es früher gewesen war? Würde nicht immer wieder die Gestalt des fremden Mädchens vor ihr aufstehen, das er für eine kurze Weile an ihre Stelle gesetzt hatte? Würde diese Gestalt ihr nicht seine Umarmungen, seine Küsse, jedes seiner Worte vergiften? Würde sie denn jemals wissen, ob seine Liebkosungen, die ihr früher eine Seligkeit ohnegleichen bereitet, ihr jetzt nicht logen? [118] Ob er statt der heißen Liebe zu ihr nicht vielleicht Reue empfand, die andere von sich gewiesen zu haben und mit ihr ein Leben des bequemen, satten Erfolges!

Sie erhob sich langsam und kleidete sich an. Die sonst so elastischen Glieder waren ihr schwer wie Blei. Rings um sie her herrschte eine beängstigende Totenstille. Die kleine Gusta schlief noch immer. Auf dem Gang nur leise, schlurfende Schritte und Flüstern. Nebenan, durch die fest geschlossene Tür nur ab und zu ein leises Wimmern und der tröstende Zuspruch der Schwester.

Martha war die Kehle wie zugeschnürt. Wie ein Alb lag es ihr auf der Brust. Nur fort, heraus aus dieser Enge, dieser totenähnlichen Stille, fort von dem Kinde, fort aus dem Hause, fort von ihm, ins Leben hinaus, auf daß es sie mit fortriß in seinen lauten, sprudelnden Lärm, der alles Denken, alles Fühlen übertönt!

Sie nahm eine Kleinigkeit zu sich, die die Schwester ihr aufdrängte. »Doktor Costa habe es ausdrücklich so angeordnet,« und lief dann in dem grauen Herbstnebel ein paar Straßen auf und ab. Aber auch hier in der stillen Vorstadt, wo Spital an Spital sich reihte, schien alles Leben ausgestorben zu sein. Die Unruhe trieb sie wieder an Gustas Bett zurück.

Das Kind war eben aufgewacht. Schwester Therese saß neben ihm und gab ihm Milch zu trinken, die es ohne Beschwerde schluckte. Als Gusta die Mutter sah, lächelte sie ihr mit hellen Augen entgegen. Martha sank an dem Bettchen nieder und schluchzte laut.

Warum, ach warum war dieses andere Entsetzliche geschehen? Nun, da Gusta gerettet war, wie glücklich hätten sie sein können! Welch ein Leben zu dreien, welch eine Seligkeit ohne Ende!

[119] Die Schwester hatte das Zimmer verlassen. Gusta lehnte müde das Köpfchen zur Seite und schlief wieder ein. Wieder war sie allein mit ihren qualvollen Gedanken. Sie räumte die Medizinflaschen und das Gurgelwasser beiseite und setzte sich an das kleine viereckige Tischchen am Fenster, um Max' Brief zu beantworten, aber die Feder wollte nicht von der Stelle.

Das Leben hatte Martha Freiland zu hart gerüttelt, als daß sie die Kunst des Schreibens sonderlich hätte pflegen können; aber wenn sie sonst die Gedanken an den Geliebten gerichtet, hatte es ihr an der rechten Ausdrucksweise nie gefehlt. Sie war ihr zugeflossen aus der nie versiegenden Wärme und Fülle ihrer großen, heißen, dankbaren Liebe für ihn; ja, eine solche Ausdrucksfähigkeit hatte sie unbewußt besessen, daß ihn ihre geschriebenen Worte oft förmlich körperlich berührt hatten, wie warme Liebkosungen ihrer schönen Hände, wie heiße Küsse von ihren leidenschaftlichen Lippen.

Jetzt rang sich ihr nur mühsam und schwerfällig Wort um Wort, beinahe zusammenhanglos, von der Seele:


»Lieber Max, komme nicht, bis – Du weißt schon. Es geht uns gut. Ich danke Dir für das Kind, das gerettet ist. Es geschieht alles Nötige. Die Schwester und der Arzt sorgen sehr. Schreibe nur, wenn – Du weißt schon.

Martha.«


Als Max Enke diese Zeilen bekam, hielt er gerade ein kleines graues, weißgerandetes Papier – Käthi Effingers Lieblingspapier – in der Hand. Fünf-, sechsmal schon hatte er die wenigen, ernsten, ruhigen Zeilen in der klaren, zierlichen Mädchenschrift überlesen.


[120] »Lieber Max, verzeih, daß ich gestern bei Deiner Patientin eindrang. Ich hatte es gut gemeint. So übel es aussah und so schwer es Dich verletzt haben mag, ist es doch am Ende gut, daß es geschehen und zwischen Dir und mir nun volle Klarheit sein wird. Ich habe meinem Vater nur so viel gesagt, daß die Hochzeit aufgeschoben werden müsse. Ich bitte Dich, mich noch einmal aufzusuchen, wenn es Dir so recht ist. Wir haben uns doch vielleicht noch ein Wort zu sagen.

Käthi.«


Sie hatte verstanden, es war kein Zweifel. Mit einem einzigen Blick hatte dies Kind, das er wildfremd in der Welt geglaubt, vielleicht nur durch den Instinkt seiner Liebe, Martha und ihn durch und durch gesehen.

Das hatte er nicht gewollt. Alles in ihm lehnte sich gegen diese schroffe Art der Lösung ihrer Verlobung auf. Wenn sie sich denn vollziehen sollte, hatte er Käthi langsam darauf vorbereiten, mit dem Sektionschef sich freimütig aussprechen wollen. Wie die Dinge über ihm hereingebrochen waren, konnte Käthi nur ein abgekartetes Spiel in diesem seinem plötzlichen Zusammentreffen mit Martha Freiland sehen, das ihn als einen hinstellte, der mit brutaler Roheit Güte, selbstlose Freundschaft, unschuldige Hingabe dankte.

Ein heftiger Zorn gegen Martha wallte in ihm auf. Weshalb kam sie ungerufen und ohne ihn zu fragen? Weshalb hatte sie das Kind ihm verheimlicht? Was konnte sie vermögen, das kranke kleine Geschöpf gerade in das Hotel zu bringen, in dem ihm ein Fest gefeiert wurde?

Aber der Zorn verflog rasch vor dem gerechten Erwägen. Unzählige Male in den Jahren ihrer Trennung hatte er Martha gerufen, ohne daß sie gekommen war. Es [121] war ihr gutes Recht, diesem Ruf zu folgen, wenn es ihr jetzt einmal selbst gefiel, und überdies hatte ein mächtiger Faktor sie getrieben. Er fragte sich, ob er im umgekehrten Fall nicht ebenfalls alles über den Haufen geworfen hätte, nach Berlin gefahren wäre, um der Wahrheit eines Briefes, wie Martha ihn empfangen, auf den Grund zu gehen. Und er konnte nicht anders, als diese Frage mit einem bedingungslosen Ja zu beantworten. Und das Kind? Er wußte ja nun, daß nur eine Liebe wie die Martha Freilands imstande sei, ein so ungeheures Opfer zu bringen, dem Geliebten Sorgen und Bitternisse zu ersparen, damit er ungestört sein hochgestecktes Ziel erreichen könne.

Max Enke lächelte bitter. Das Ziel, Karriere zu machen, sich in einem Beruf auszuzeichnen, ein Fachwerk zu schreiben, erschien ihm in diesem Augenblick erbärmlich klein, ja, beinah kindisch, der Gewalt jener menschlichen Tragödie gegenüber, die seine Handlungsweise herbeigeführt hatte.

Max griff nach Marthas Brief und las ihn. Er hatte nichts anderes erwartet. Diese Frau gehörte nicht zu denen, die ohne weiteres wieder in die neu geöffneten Arme des Mannes fliegen, und sie tat recht daran. Ihn aber überkam, je ferner und fremder er sie sich innerlich in diesem Augenblick wähnte, eine wilde, brennende Sehnsucht nach der leidenschaftlichen Geliebten, nach der treuen Kameradin seiner Werdejahre. Wie so oft in Berlin, in dem kleinen engen Dachstübchen, in dem sie gehaust hatten und glücklich gewesen waren, hätte er seinen Kopf in ihren Schoß legen mögen, ihre Hand auf seinem Haupte fühlen und aus ihrem Munde gute, kluge, liebevolle Worte vernehmen.

Würde sie es über sich vermögen, ihm je wieder zu werden, was sie ihm gewesen war, oder hatte er den Faden, der sie band, so weit durchschnitten, daß er erbarmungslos [122] auseinanderfallen mußte, um sich nie wieder vereinen zu lassen?

Eine tiefe Beklemmung erfaßte ihn. Wenn er zugleich mit Käthi Martha verloren hätte, die ihm heute notwendiger denn je zu einem Leben schien, das er von vorn würde wieder aufbauen müssen!

Er faßte einen gewaltsamen Entschluß. Er wollte noch heute zu Käthi gehen und rasch ein Ende machen und dann vor Martha hintreten und ihr sagen: »Es war, es ist vorüber.«

Gegen Abend, um seine gewöhnliche Stunde trat er bei Käthi ein.

Sie empfing ihn mit ruhiger, ernster Freundlichkeit, ganz im Ton ihres Briefes. Stumm und verlegen stand er vor ihr, sie kam ihm seit gestern nacht um Jahre gereift und gealtert vor.

Sie reichte ihm gefaßt die Hand und bat ihn, niederzusitzen.

»Wir wollen es kurz machen,« sagte sie leise mit leicht verschleierter Stimme.

»Ich habe immer gefühlt, daß etwas zwischen uns ist. Ich hätte diese Furcht nicht vor dir verbergen sollen. Daß es ganze Lebensschicksale waren, wußte ich nicht. Da du sahest, daß ich dich liebte – und ich verbarg es wohl kaum da oben in der großen freien Natur –, hättest du mir Freundschaft und Vertrauen schenken sollen, anstatt, verzeih mir, daß ich es ausspreche, mir Liebe zu lügen. Uns allen, vor allem dieser armen Frau, die viel gelitten haben muß, wäre viel erspart geblieben. Dennoch zürne ich dir nicht, weil – nun das geht nur mich an. Das ist's, was ich dir sagen wollte, Max. Sonst nichts.«

Sie reichte ihm still die Hand. Max beugte sich über die schmale kindliche Hand, sie zu küssen. Er hatte Käthi [123] Effinger nie so ehrlich lieb gehabt als in dieser Scheidestunde. Sie stand auf und sah ihn einen Augenblick mit flehender Bitte an. Er verstand. Noch einmal griff er nach ihrer Hand und sagte bewegt:

»Ich danke dir, Käthi. Danke dir von Herzen.«

Sie konnte nicht mehr sprechen und bewegte nur leise den Kopf. –

Martha Freiland schlichen die Stunden dahin, als wollten sie niemals ein Ende nehmen. Die eingeschlossene Luft des Krankenhauses, die Stille, das enge Gemach, die ungewohnte Untätigkeit, zu der sie verdammt war, lasteten wie eine betäubende Narkose auf ihr. Stundenlang lag die sonst so Bewegliche, unermüdlich Tätige auf dem Bett neben Gustas Lager hingestreckt, in schwere, schwüle, angstvolle Träume versunken.

In diesen Träumen sah sie nichts als Max und das helle, zierliche, zarte Geschöpf in seinen Armen, an seinem Herzen. Sie sah ihn dieses fremde Mädchen liebkosen, wie er sie zu liebkosen pflegte, sie sah sie eng verstrickt in seiner Umarmung, sah, wie sie gab und nahm. Wer hätte ihm widerstanden! Warum sollte gerade sie es können? Was wußte sie von ihr? Trog nicht der Schein, wohin man sah! Konnte die kindhafte Hülle dieses jungen Geschöpfes nicht brennende Leidenschaften bergen? Liebte sie Max nicht vielleicht mit derselben versengenden, verzehrenden Glut, mit der sie selbst ihn liebte? Nein, nein, das nicht. O Gott, das nicht! Das konnte nicht sein.

Ungezählte Male hatte Max ihr gesagt, daß ihre Liebe einzig sei wie die seine. Daß sie einander vorbestimmt seien, Seele und Leib sich ergänzend, zueinander gehörig! Nein, nur das nicht!

Aber das andere, genügte es nicht, ihr Glück in Trümmer [124] zu schlagen! Würde das Geschehene je zu vergessen, je zu überwinden sein!

Es gab Stunden, in denen Martha Freiland sich sagte, daß ihre große, heiße, dankbare Liebe vergessen und überwinden würde. Ja, sobald Max wirklich frei war, würde es zwischen ihnen sein, wie es einst gewesen. Dann plötzlich wieder packte sie das wilde, verzweifelte Weh, das sie jedesmal nicht nur seelisch, nein auch physisch überkam und wie eine offene Wunde schmerzte, wenn sie die beiden beieinander vor sich sah, und alles in ihr schrie gegen die Möglichkeit auf, jemals über dieses furchtbare Geschehnis fortzukommen. Entweiht, besudelt war ihr der Geliebte durch die Küsse der andern.

Nie wieder würde sie sein Weib sein können.

So zerfoltert und zermartert wartete sie auf ihn. Bald zürnte sie ihm, daß er so lange brauchte, sich loszulösen, bald dankte sie ihm, daß er ihr Zeit ließ, alles zu überdenken, sich in das Neue, Kommende hineinzufinden.

Gusta war inzwischen fast gesund geworden. Sie saß mit blassen Bäckchen und hellen Augen im Bett und spielte, und das kleine zwitschernde Stimmchen klang wieder hell und rein.

Endlich, am vierten Tage, kam Max. Es war noch früher Nachmittag, als er eintrat. Martha saß am Bett und gab Gusta zu trinken. Ihr Gesicht war fast marmorbleich und schien schmaler noch als gewöhnlich. Ihre Augen waren von tiefen bläulichen Schatten umrandet. Max erschrak, als er sie sah. Was hatten diese letzten Tage aus ihr gemacht! Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie bebte unter seiner leisesten Berührung.

»Komm, liebes Herz, wir wollen ein wenig ins Freie gehen. Es wird dir gut tun, es ist ein hübscher, lichter Tag.«

[125] Sie sah ihn mit tiefer, durchdringender Frage an. Er begriff und beugte sich über sie.

»Es war. Es ist vorüber,« sagte er leise und küßte sie auf die Augen.

Sie hob die Lippen zu ihm auf. Gusta sah lächelnd dem seltsamen Spiele zu. Dann kam Schwester Therese, und sie gingen ins Freie hinaus.

Max zeigte ihr einen Teil der innern Stadt mit ihren alten, malerischen, winkligen Gassen. Sie sah nicht viel und hörte noch weniger von dem, was er sagte. In immer demselben schwerfälligen Rhythmus, wie von ehernen Hammerschlägen geschlagen, tönte es ihr im Kopf: Wird es je wieder sein können wie einst? Wirst du vergessen können?

Da sie so gar nicht sprach, nur still ab und zu den Druck seiner herabhängenden Hand erwiderte, wuchs seine Sorge um sie.

»Du solltest etwas nehmen, Liebste. Du bist ja völlig erschöpft.«

Sie weigerte sich, aber er drang als Arzt in sie. Am Ende folgte sie. So gingen sie in ein Weinhaus, das um diese Zeit leer und verlassen war.

Da sie behauptete, kein Fleisch genießen zu können, bestellte er Kaviar und eine Flasche Bordeaux.

Auf sein bittendes Zureden aß und trank sie, wenn auch nur bissen- und schluckweise, und wirklich kehrte ein wenig Farbe in ihre Wangen zurück und in ihre Augen etwas von dem alten, warmen Feuer.

Gesprächiger schlugen sie den Rückweg ein. Max führte Martha über den Ring zurück. Beim Hotel Bristol blieben sie stehen. Martha fiel ein, daß sie beim Portier nach der Post fragen sollte. Es wäre doch möglich, daß Bestellungen oder dergleichen eingegangen seien.

[126] »Möchtest du einen Augenblick warten, Max?« fragte sie zögernd und beklommen. »Du wirst ja doch nicht mit hineingehen wollen.«

»Weshalb nicht? Es ist ja nun alles vorüber.«

»Der schlanke, elegante Direktor begrüßte sie im Vestibül. Er hatte davon gehört, daß Dr. Enkes Verlobung aufgelöst war und reimte sich so ungefähr zusammen, aus welchen Gründen. Aber da die Sache glatt und ruhig abgegangen war und ohne Klatsch für sein Haus, hatte er hier nichts als seine Kavalierpflicht zu erfüllen. Er fragte sofort nach dem Befinden der Kleinen und bemerkte, daß der Gnädigen, falls sie im Spital nicht mehr nötig wäre, No. 458 wieder zur Verfügung stehe.

Max stellte vor: »Frau Martha Freiland, eine Verwandte.« Dann meinte er, gegen Martha gewendet:

»Es würde dir vielleicht gut tun, Martha, ein paar Nächte nicht in der engen Kammer zu schlafen, vielleicht kann auch Gusta bald herübergeholt werden.«

Martha ging lebhaft auf Max' Vorschlag ein. Ja, es dünkte ihr geradezu eine Art Befreiung, ein oder zwei Nächte allein in einem großen, gut gelüfteten Zimmer zu schlafen. Auch das Gepäck war noch oben und die eingegangene Post. Es schien, daß man sie jeden Augenblick zurückerwartet hatte. So fuhren sie denn hinauf und betraten den Raum wieder, in dem das erste schmerzliche Wiedersehen sich vollzogen hatte, in dem die kleine Gusta mit dem Tode gerungen und das fremde Mädchen leibhaftig zwischen Martha und ihr Glück getreten war. Mechanisch nahm sie den kleinen schwarzen Hut vom Kopfe und legte die Jacke ab. Dann sank sie erschöpft in einen Stuhl. Max sah mit brennenden Augen zu ihr hin. Sie schien seine Anwesenheit kaum zu bemerken. Mit starren Augen blickte sie an ihm vorüber in [127] den rosig durchleuchteten Raum. Er aber hielt sich nicht länger.

»Martha!«

Er schrie es mehr, als er es sagte, und kauerte neben ihr nieder, seinen Kopf in ihren Schoß bergend.

»Martha! Vergib! Vergiß!«

Sie legte ihm die Hand auf den Kopf wie einst.

»Laß, laß,« bat sie. »Sprich nicht davon, es tötet mich.«

Er preßte sie an sich. Der schlanke Leib zerbrach fast in seiner wilden Umarmung. Er suchte ihre Lippen, die sie ihm willig ließ. Er küßte sie, als wolle er ihre Seele austrinken. Und seine Glut entfachte die ihre, und alles. was gewesen, ging unter in dem neuen Liebesrausch.

Erst kurz vor der Nacht verließ er sie, glückselig, dankbar. Sie entkleidete sich rasch und ging zu Bett. Sie schlief ein fast ohne Gedanken. Willenlos überließ sie sich einem todähnlichen Schlaf. Gegen Morgen erwachte sie. Eine nagende Beklemmung lag ihr auf der Brust. Im Halblicht der noch brennenden beschirmten Lampe sah sie dort, wo er vor Stunden vor ihr gesessen, die Fremde sitzen und neben ihr, halb zu ihren Füßen, ihn, und sie hielten einander umschlungen und küßten und kosten sich.

Sie richtete sich mühsam auf. Der alte, wilde Schmerz lähmte ihre Glieder. Es war vergebens, alles vergebens, sie konnte nicht dagegen an. Nie würde sie vergessen und verwinden können, was geschehen war. Wie sie es vorausgesehen, würde jeder seiner Küsse ihr vergiftet sein durch das Erinnern an die Liebkosungen, die er mit der andern getauscht hatte. Je länger der Kampf währte, um so furchtbarer würde die Niederlage für sie sein. Ein Ende machen, ehe sie ganz zugrunde gerichtet war, ein Ende machen in dieser selben Stunde.

[128] Sie sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Wenn sie sich rasch ankleidete, ihre Rechnung zahlte, das wenige Gepäck zusammenpackte und ins Spital fuhr, konnte sie den Zug um halb neun Uhr noch benutzen, falls Gusta würde reisen dürfen. Und sie mußte dürfen.

Gusta schlief noch, als Martha in die kleine Kammer trat, aber Schwester Therese, die in Marthas Bett geschlafen hatte, war schon auf und fertig angekleidet. Martha teilte ihr in fliegender Hast mit, daß sie abreisen müsse. Gründe gab sie nicht an. Ob Doktor Costa schon zu sprechen sei?

»Um sieben Uhr ganz gewiß.« Es fehlte kaum noch eine Viertelstunde an der Zeit.

Es wurde Martha nicht schwer, für Gusta die Erlaubnis zur Reise zu erlangen. Bei gehöriger Vorsicht lag keine Gefahr vor, und – das sah des Arztes Blick – was die Frau trieb, mußte etwas Gewaltiges sein.

Im letzten Augenblicke stieg ein anderes Bedenken in Costa auf. Was würde Enke, der ihm diese Frau und dieses Kind anvertraut hatte, zu dieser plötzlichen Flucht sagen?

»Weiß Doktor Enke davon, daß Sie fortwollen – wenn nicht – so –«

Heftig verneinend und abwehrend zugleich, bewegte Martha den Kopf. Eine lähmende Angst erfaßte sie, daß sich noch im letzten Augenblicke etwas ihrem Entschluß in den Weg stellen könne.

»Nein, nein, aber bitte dies – es gehört wohl nicht hierher – wenn Sie es als Arzt gestatten können –«

Costa verneigte sich kurz. In der Tat hörten seine Befugnisse dieser Frau gegenüber zugleich mit den Befugnissen des Arztes auf.

»Ich werde ihm schreiben von Berlin aus, er wird begreifen.«

[129] Sie reichte dem Arzt die Hand, die er fieberheiß durch den Handschuh fühlte.

»Reisen Sie glücklich, gnädige Frau.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor, für alles. Und wenn ich etwas schuldig bin, Sie müssen mir gestatten, es von Berlin aus zu begleichen, ich war nicht vorbereitet auf einen so traurigen Fall.«

Costa lehnte dankend ab. Hier war von keinem Schuldigsein die Rede.

Schwester Therese brachte die kleine Gusta wohl verpackt und nahm zärtlichen Abschied von ihr. Dann fuhren sie fort, Mutter und Kind, zur Stadt hinaus.

Als der Zug über die Donaubrücke rasselte, durchbrach die Sonne den feinen Oktobernebel. In der leuchtenden Pracht ihrer bunt gefärbten Waldungen senkten sich der Kahlenberg und der Leopoldsberg zu dem blitzenden Strome nieder.

Gusta klatschte jauchzend in die Hände. Starr und schweigsam blickte Martha durch die Scheiben, bis das Bild verschwunden war.

Eintönig weiter klapperte der Zug.

[130]

Gundula

Die Tragödie einer Ehe

[131] [133]Frau Gunde fror in der hellen warmen Märzsonne, die über den kleinen, mit grünen Dauerpflanzen bestellten Balkon in ihr Zimmer fiel.

Frau Gunde fror jetzt öfter. Winters am warmen Kamin, in der Glut der überfüllten Theater-, Konzert-und Gesellschaftssäle.

Es war kein eigentliches Gefühl von Kälte, das sie oft ganz plötzlich und unmotiviert überfiel. Es war eher ein Schauern, das die Schreckempfänglichkeit, der sie seit kurzem unterlag, noch erhöhte. Seltsam! Kaum drei Jahre verheiratet! Und welch ein kernfrisches Mädchen war sie gewesen, als sie noch bei den Eltern zu Haus war.

Vielleicht wenn sie –?

Das feine blasse Gesicht errötete leicht.

Ob sie einmal mit dem Sanitätsrat darüber sprach? Der Gedanke war kaum in ihr aufgestiegen, als sie ihn auch schon mit einer leisen Kopf- und Schultergebärde verwarf.

Nein, o nein.

Der einzige, dem sie sich hätte anvertrauen können, wäre ihr Mann gewesen!

Das feine Gesichtchen umschleierte sich. Die großen blauen Kinderaugen blickten trübe.

Vielleicht machte sie nur gerade das krank, daß sie mit ihrem Mann nicht darüber sprechen konnte, wie seltsam angst- und schreckhaft ihr oft zu Mute war.

[133] Er hatte sie lieb, ja, Gott sei Dank, sonst wäre ihr das ganze Leben verleidet gewesen, aber von ihrem Unbehagen wollte er nichts hören. Das Recht auf Nerven nahm er für sich allein in Anspruch, und körperlich war sie ja doch gesund.

Die traurigen Augen hellten sich ein wenig auf. Freilich, es war sein gutes Recht, nervös zu sein bei dem Leben, zu dem sein Beruf ihn zwang. Ein stolzes Lächeln huschte wie ein Sonnenstrahl über Frau Gundes Gesicht.

Er war ein Dichter. Damit war alles gesagt.

Freilich hatte sich Frau Gunde, als sie noch Gundula Eisemann war und mit den Eltern in dem stillen Thüringer Landstädtchen lebte, das Leben eines Dichters weit anders vorgestellt.

Sie hatte es nie für möglich gehalten, daß es so laut, geräuschvoll und abwechselungsreich sein könne, daß das Telephon und der Briefträger eine so bedeutende Rolle darin spielten. Auch nicht, daß ein Dichter ein Gesellschaftsmensch sein und Beziehungen pflegen müsse, noch weniger, daß das Äußere eines Dichters so garnichts Nebensächliches sei.

Freilich, ihr Ludwig war nicht nur ein Dichter, sondern auch ein ungewöhnlich schöner Mann, und das nicht nur in ihren Augen, und der Aufwand, den er mit seiner Person trieb, war nicht verschwendet.

Wirklich kleideten ihn die aparten Westen, die originellen Krawatten, der vornehme und feine Stoff und stets modernste Schnitt seiner Anzüge ganz besonders gut.

Ihr wäre er freilich auch ohne den äußeren Krimskrams lieb gewesen!

Zu Haus im kleinen Landstädtchen, da hatte sie sich ein Dichterheim, eines Dichters Leben ganz anders geträumt. Still und in sich gefaßt und nur das vertraute Weib zur [134] Seite, das ihn umhegte und pflegte, ihn verstand, das gleichzeitig seine treue leibliche Fürsorgerin und seine Muse war.

Ein Häuschen in einem Garten gelegen, fernab von dem Lärm der Straße. Umbuscht und umfriedet von Grün und Blumen im Sommer; zur Winterszeit eingebettet in eine weiße Schneedecke. Im Frost glänzende Baumriesen als Wächter vor seinen Toren. Und innen Friede und wieder Friede. Ein lautloses Walten des Geistes. Ein keusches Schaffen im Verborgenen, fern, weltenfern von der großen Landstraße und ihrem staubigen Gewimmel.

Sie war eben ein törichtes Ding gewesen. Töricht und verträumt wie in allen Dingen des Lebens. –

Frau Gunde schreckte zusammen. Draußen schlug laut und gellend das Telephon an.

Sie ließ die Näharbeit fallen, die sie müßig in der Hand gehalten hatte, und eilte auf den Gang hinaus.

Das Stubenmädchen, eine gutartige, willige Person, hatte den Hörer schon in der Hand.

»Lassen Sie nur, Minna – ich komme schon selbst – Sie wissen, der Herr –«.

Sie eilte an den Apparat, der bereits ein zweites ungeduldiges Signal gab.

Wenn es nur Ludwig nicht störte!

»Hier Frau Hamann.«

Eine Stimme sprach auf sie ein, die ihr gänzlich fremd war, von der sie nur unzusammenhängende Bruchstücke verstand.

»Bitte noch einmal – den Namen, wenn ich bitten darf.«

Nichts. Tote Stille.

Mit klopfendem Herzen und verhaltenem Atem stand Frau Gunde da, ob sich nicht doch noch was regen wollte.

[135] Am andern Ende des Ganges wurde eine Tür heftig aufgerissen.

Ludwig Hamann im Arbeitskostüm, braunes Samtjackett, hell karierte Beinkleider, breiter Umlegekragen mit heliotropfarbenem Selbstbinder, erschien auf der Schwelle.

»Nun, was gab's, Gunde? Hat der Ochse von der »Illustrierten« endlich Bescheid gegeben? Heut war der letzte Termin. Die Sache ist von höchster Wichtigkeit!«

Da sie nicht antwortete, eilte er auf sie zu.

»Oder gar – Barmsen hat die Einakter angenommen –!«

Ein siegesgewisses Leuchten ging über sein großes, dunkles Gesicht.

Da Gunde noch immer nicht sprach, faßte er sie bei den Händen, die eiskalt und steif waren.

»Ich will nicht hoffen, daß du wieder nur halb gehört hast.«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

»Lieber Lutz, wirklich es war nicht zu verstehen. Sei nicht bös. Du hättest es auch nicht verstanden.«

Der große Mann zerbiß etwas zwischen den Zähnen, das einem unterdrückten Fluch aufs Haar ähnlich sah. Dann wandte er sich mit einem Achselzucken ab' und murmelte etwas von »verpfuschter Arbeitsstimmung« in seinen weichen, dunklen Bart, der das Entzücken aller Frauen war.

Nachdem die Tür des Arbeitszimmers sich geräuschvoll wieder geschlossen hatte, kam Minna aus der Küche auf den Gang heraus.

»Gnädige Frau sollten ein bißchen an die Luft gehen,« sagte sie mitleidig. »Es ist wunderschön draußen heut. Der reine Frühling. Ich werde schon für den Herrn sorgen. Elise hat das Frühstück schon auf dem Herd.«

Frau Gunde machte eine zaghafte Gebärde.

[136] »Ich weiß doch nicht. Die Bouillon gut durchgegossen, Minna – die Eier kernweich – das Beefsteak halb durchgebraten –«

»Gnädige Frau können sich auf mich verlassen.«

»Elise ist so sorglos und der Herr so eigen. Sie müssen mir versprechen, dabei zu bleiben, wenn ich wirklich ein bißchen an die Luft ginge.«

»Gehen gnädige Frau ruhig.«

Gunde warf einen angstvollen Blick nach rückwärts.

»Und das Telephon?«

»Was zu machen ist, wird gemacht – wenn die Leute nicht zu verstehen sind –«

Minna zuckte verächtlich mit den Achseln.

»Und die Post?« fragte Frau Gunde wieder unschlüssiger werdend. »Wenn der Herr Wiener Briefe hat – sie müssen bis spätestens zwei auf der Post sein – am Schalter abgegeben werden, wenn sie mit dem Zug 6 Uhr 45 mitsollen.«

»So spring ich herum,« meinte Minna, nun selbst schon ein wenig ungeduldig werdend. Sie begriff es nicht, wie man sich um einen Mann »so haben« konnte.

»Gut Minna – ich danke Ihnen – ich werde also gehen.«

»Aber keine Besorgungen machen, spazieren gehen, gnädige Frau. Wir vom Lande und aus den kleinen Städten können das Stubenhocken nicht vertragen.«

Frau Gunde lächelte schwach.

»Da haben Sie recht, Minna. Ich komme wohl zu wenig an die Luft. Nur deshalb ist mir gewiß oft so schlecht.«

Minna hatte das letzte nicht mehr gehört. Sie war voran ins Garderobenzimmer gegangen und hatte Hut und Mantel zurecht gelegt.

[137] Frau Gunde ging ohne rechte Freudigkeit in den Sonnenschein hinaus.

Sie hatte nur wenige Straßen zu durchqueren, um in den Tiergarten zu gelangen.

Solange sie zwischen den Häusern einherschritt, machte sie sich Vorwürfe, daß sie ihren Posten ohne zwingende Not verlassen hatte.

Wenn Minna nun den Dingen doch nicht gewachsen war! Wenn Bestellungen kamen, bei denen sie sich nicht zu raten wußte! Wenn sie am Telephon Pech hatte! Wenn das Frühstück doch nicht nach Ludwigs Wunsch ausfiel! Wenn Besuche kämen, die sich von Minna nicht abweisen ließen, und Ludwig gestört würde!

Ein paar Mal war Frau Gunde im Begriff umzukehren. Aber ihre herabgekommenen Nerven waren für den Augenblick stärker als das niemals rastende Pflichtgefühl gegen den geliebten Mann.

Es lag nichts Besonderes vor. Vielleicht war die gesunde, gutartige Minna, die die Nächte durchschlief und mit noch unvermindertem Landappetit aß, für ein paar Stunden besser am Platz als sie selbst.

Drüben lockte das erste zarte Grün der Tiergartenbüsche. Ein köstlicher Geruch stieg aus dem gelockerten Erdreich auf, der Gunde an die Heimat erinnerte. Rasch schritt sie über den breiten Fahrdamm und in die Baumallee hinüber, die sie in das Dickicht des Parkes führte.

Wie lange war sie nicht wirklich im Freien gewesen! Seit dem Herbst nicht, ja so recht eigentlich nicht, seit sie zu Anfang September mit Ludwig von der Reise zurückgekommen war.

Und diese Reise! Wie alle Reisen seit den drei Jahren ihrer Ehe war sie genußreich und interessant gewesen, nur [138] keine eigentliche Erholung, kein ruhiges, woltuendes Ausspannen nach den Wirren und Unruhen des Winters.

Das Leben an den Weltplätzen, in den großen eleganten Hotels, stets umringt von Menschen, war eigentlich nur eine Fortsetzung der Berliner Lebensbedingungen, erleichtert einzig durch die wohltuende Luft der Berge und der See.

Als Gunde so, mit immer rascher und elastischer werdenden Schritten vorwärts ging, dachte sie mit wachsendem Entzücken an die einfachen Reisen mit den Eltern durch die heimatlichen Wälder, den Harz und an die Gestade der Ostsee.

Ohne großen Aufwand von Gepäck hatte man sich auf den Weg gemacht, in einfachen Logierhäusern sich's bequem und wohl sein lassen.

Mit Vermeidung von Menschenschwärmen und Table d'hôte-Gästen hatten sie mit bestem Appetit gespeist. O und die köstlichen langen, einsamen Waldstreifereien, die stillen entzückenden Wasserfahrten! Was hätte sie um eine solche Reise mit Ludwig gegeben!

Wie herrlich müßte es sein, allein mit ihm die schöne Gotteswelt zu durchstreifen, sie in ihren heimlichsten, verborgensten Winkeln zu zweien zu genießen!

Ein kleiner gepreßter Seufzer hob ihre Brust.

Wenn ihre Liebe Gewalt hätte, das über Ludwig zu vermögen! Wie gut täte eine solche Wanderfahrt ihm selbst, seinen vom Beruf und Großstadtleben abgehetzten Nerven!

Ein wenig ermüdet lehnte Gunde an einen Baum, eine grauschimmernde, glatte alte Buche.

Sie war wohl zu schnell gegangen in der Erregung, in die der Weg ins Freie, mitten in den erwachenden Frühling hinein, ihr Blut versetzt hatte!

Plötzlich mußte sie an den Garten daheim denken.

[139] In dem anmutig eingebetteten, vor Winden geschützten Winkel blühten wohl schon Veilchen, Krokos und Schneeglocken unter der noch kahlen Fliederhecke, und die ersten Weidenkätzchen hingen über das Staket hinaus auf die Straße und die Schuljungen rupften sie ab und steckten sie an die Hüte, an denen sie im Frühwind auf und nieder schwankten, wie kleine wehende graugrüne Fahnen.

Seit der Hochzeit war sie nicht mehr daheim gewesen. Ihr Vater wollte sie nicht dort haben, noch nicht.

»Leb dich erst ein, Gundula, in die neuen Verhältnisse, wachse erst ganz fest in dem Boden, auf den dein Leben fortab gestellt ist. Nicht das Haus deines Vaters, sondern das Haus deines Gatten ist dir jetzt Heimat, oder soll es doch sein. So lange du es nicht ausschließlich als solche empfindest, so lange ist es zu früh, bei mir einzukehren.«

Daran war nicht zu rütteln.

Ja, wenn die Mutter noch gelebt hätte! Die sanfte, zarte Mutter, die sie verloren hatte, gerade ein Jahr, bevor sie Ludwig kennen gelernt, an jenem unvergeßlich schönen Goethetag in Weimar, als sie auf Besuch bei den Großeltern gewesen war.

Die Geschwister, die ihre Älteste gern einmal wie der gesehen hätten, vermochten nichts über den Vater. Seinen starren Sinn beugte so leicht kein Mensch. Aber Gunde wußte, er meinte es gut mit ihr, und so beschied auch sie sich im Guten.

Der Vater war ihr stets eine ehrfurchtgebietende Erscheinung gewesen, und wie sein Sinn in allen menschlichen und göttlichen Dingen stets aufs Ernste und Strenge gerichtet gewesen war, so dachte er auch über die Ehe und ihre Forderungen an Mann und Weib, ernst und streng.

Hoch und heilig hielt er sie, gleich einem Sakrament, [140] das zu brechen Todsünde war. Mit Zorn und Verachtung sprach er von der neuen Moral und der freien Liebe, von der man selbst in dem kleinen Landstädtchen den Mund voll nahm, um modern und auf der Höhe der Zeit zu erscheinen.

Beklommen fragte Gundula sich oft, wie der Vater wohl die Welt anschauen würde, in die ihre Liebe und Ehe sie versetzt hatten?

Sie glaubte zu wissen: nicht eben mit freundlichen Augen. Und so war sie's zufrieden, daß er noch niemals Anstalten gemacht hatte, sie in Berlin aufzusuchen, und verwand tapfer die Sehnsucht nach den Ihrigen. –

Mittlerweile hatte sie, in ihre Gedanken ganz verloren, einen kleinen Querweg durch Dickicht und Gebüsch verfolgend, die Chaussee nach Charlottenburg erreicht.

Das laute Klingeln der elektrischen Bahnen, das Surren, Stampfen und Rattern der andern Gefährte auf der belebten Straße ließ sie erschreckt zusammenfahren. Die stille Insel, auf die Gundula sich auf eine kurze Zeitspanne gerettet hatte, war versunken. Laut und fordernd schlug der lärmende Alltag der Großstadt wieder an ihr Ohr und gemahnte sie an das, was er von ihr forderte.

Mit eiligen Schritten und unruhig spähenden Augen suchte sie den nächsten Weg zurück.

Gleich am Eingang zu der großen Allee, die sie nach Gundulas Berechnung geradeswegs auf die Straße führen mußte, von der aus sie in den Tiergarten gelangt war, kamen ihr eine auffällig gekleidete Dame und ein eleganter Herr entgegen.

Sie sprachen leise und angelegentlich, blieben ab und zu stehen und sahen sich in die Augen.

Frau Gunde wollte gerade eine rasche Wendung machen, um das verliebte Pärchen nicht zu stören, als sie in der Dame [141] eine Freundin und begeisterte Verehrerin ihres Mannes erkannte. Zu ihrem maßlosen Staunen mußte sie bemerken, daß die junge Frau, die Mann und Kinder daheim hatte, zu ihrem Tiergartenbegleiter mit genau denselben schwärmerischen Blicken aufsah, wie zu ihrem Gatten.

Noch ehe Frau Gunde zu irgend einer Schlußfolgerung, geschweige denn zu einem raschen, flüchtigen Gruß kommen konnte, war das Paar vorüber, tuschelnd und lachend. Eine ganze Weile noch hörte sie seine Stimme wie absichtlich laut und lustig, dann suchte sie kopfschüttelnd weiter nach dem nächsten Weg zu ihrer Wohnung zurück. Es war unverantwortlich, die Ruhe ihres Gatten so lange dem Dienstmädchen überlassen zu haben!

Mit fliegendem Atem kam sie zu Haus an. Die Knie zitterten ihr vom schnellen Hinaufstürmen.

»Nun Minna?«

»Alles vortrefflich gegangen. Gnädige Frau hätten sich garnicht so abzuhetzen brauchen; da ist der Herr schon selbst.«

Ein flüchtiges Rot der Freude huschte über Gundes zartes Gesicht. Dann wurde es wieder so blaß wie zuvor, und ihre feinen Nasenflügel begannen vor Erregung zu zittern.

Wenn er nun kam, ihr Vorwürfe zu machen! Wenn er ihr zürnte!

Ach, er ahnte ja nicht, wie tief sein Zorn sie traf, wie lange ihr Herz davon noch weh tat, wenn er längst nicht mehr an seine heftigen Ausbrüche dachte. Jetzt war er den schmalen Korridor heraufgekommen, jetzt legte er den Arm um ihre Schulter.

»Na Kleinchen, wieder da? Komm herein. Ich hab dir allerlei zu erzählen.«

[142]

Ihre Augen strahlten.

Sie warf rasch Hut und Jäckchen aufs Bett und ging zu Ludwig hinüber. Auf dem Weg über den langen Gang fühlte sie, wie das Herz ihr schlug.

Wirklich, sie mußte etwas für sich tun! Was sollte daraus werden, wenn all und jedes ihre ganze Natur in Aufruhr brachte.

Sie lächelte schwach.

All und jedes! Im Grunde war es ja nur eines. Er!

Ludwig stand an seinem Schreibtisch und hielt einen offenen Brief in der Hand.

»Na also, die Telephonkonfusion hat sich wenigstens nicht auf die »Illustrierte« bezogen. Sonst freilich – Die »Illustrierte« hat geschrieben. »Schwankender Boden« ist verkauft.«

»Ach Ludwig!«

»Hast du vielleicht daran gezweifelt, Gunde?«

Er fragte es mißtrauisch und verdrossen.

»O Gott, nein – aber – ich freue mich, weil dir an der »Illustrierten« so viel zu liegen schien.«

Er brummelte Unverständliches in den Bart.

»Die können von Glück sagen, daß sie deine herrliche Novelle bekommen,« meinte Gunde und streichelte ihm zärtlich den Arm.

»Ja natürlich. Und – na sie zahlen ja auch so weit ganz gut – wenn auch –«

Er ging mit langen Schritten im Zimmer hin und her.

»Eigentlich möchte ich gleich noch hinunterfahren.«

»Hetz dich doch nicht so ab, Lutz,« bat Gunde schüchtern, »es ist gleich Tischzeit.«

Er hielt in seinem Gang inne und sah sie an. Eigentlich hatte sie recht.

[143] Für das Jammerhonorar – denn ein solches war es für einen Autor von seinem Renommee, wenn er es auch nicht eingestand – auch noch seine Reverenz machen, und zu Haus abgestandenes Essen auf dem Tisch finden!

Schließlich war und blieb er Ludwig Hamann – wenn auch die wechselnde Gunst der Zeiten – ah bah – ganz einfach, er blieb. Höher schrauben würde er den Verleger schwerlich. Der saß fest auf seinem Geldsack.

»Also ja, es hat auch Zeit bis morgen.«

Er warf sich in seinen bequemen Sorgenstuhl, in dem er halbe Vormittage zu verträumen pflegte, wenn die Gedanken nicht kommen wollten, oder ihm durch eine unliebsame Störung verscheucht worden waren.

Er sah zu seiner Frau hinüber.

Die helle warme Märzsonne schien noch immer und umtanzte ihren blonden Kopf. Ihre Wangen waren leicht gerötet, warm und hingebend sahen ihre blauen Kinderaugen zu ihm hin. Sie sah sehr reizend aus in diesem Augenblick, beinahe so reizend, wie die blühende Gundula Eisemann, die er vor drei Jahren während der Goethetage kennen gelernt und die es ihm angetan hatte mit ihrem blühenden Jugendreiz.

»Komm einmal her, Gundel?«

Sie kam zögernd und scheu.

Er zog sie auf seinen Schoß. Etwas von der strahlenden Wärme ihrer Augen schien auf ihn übergegangen zu sein. Er zog sie an sich und suchte ihre Lippen. Der Herzschlag stockte ihr.

Wie lange hatte er sie so nicht geküßt!

Er ließ die Hände sinken, mit denen er ihren blonden Kopf umspannt gehalten, und umschlang sie heiß, und Kuß auf Kuß drang wie eine Loderflamme auf sie ein.

[144] Sie zitterte am ganzen Leibe. Ihre Glieder flogen. Immer fester hielt er sie, als wollte er sie zerbrechen.

Dann ließ er sie, rasch und plötzlich wie er sie ergriffen hatte.

»Kleines Zerbrechliches!«

Er tätschelte ihr nachlässig die Wangen und zündete sich eine Zigarette an.

»Schau nach dem Essen, Gunde. Ich habe nachmittags und abends den Kopf voll und muß nach Tisch noch eine Stunde Schlaf nachholen. Die Nacht –«

»Ich weiß,« sagte sie betrübt und mit leisem Vorwurf. »Ich hab's durch den Türspalt gesehen, wie lange du Licht gehabt!«

Er zuckte mit den Achseln.

»Wenn die Gedanken kommen –« meinte er geheimnisvoll.

»Arbeitest du nicht bei Tage genug!« sagte sie zärtlich und bewundernd.

Er schüttelte mißmutig und vielsagend den Kopf.

»Jetzt nicht mehr. Früher –«

Sie unterdrückte ein Schluchzen.

Er hatte es ihr oft gesagt, daß es früher ein anderes Arbeiten gewesen sei, allein mit der alten Wirtschafterin, die wie eine Cerberus über seiner Ruhe gewacht hatte. Aber daß er es ihr in diesem Augenblick sagen konnte. Gerade jetzt, nachdem er sie so geküßt –!

Sie wandte sich um und schritt rasch zur Tür. Heiße Tropfen rannen schwer und langsam über ihre Wangen. –

Ludwig Hamann war ein starker Esser, und er aß auch heut mit bestem Appetit, trotz des reichlichen Frühstücks, mit dem Minna ihn versorgt hatte.

[145] Dabei las er ein paar Briefe, die zugleich mit der Suppe auf den Tisch gekommen waren.

Daß Gunde keinen Bissen anrührte, nur hastig ein halbes Glas Rotwein heruntertrank, bemerkte er gar nicht.

Bis er die Briefe fertig gelesen hatte, die keine ausgesprochene Stimmung in ihm auszulösen schienen, war man beim Braten angekommen.

Ludwig bemängelte seine Zartheit und seinen Wohlgeschmack und verteidigte in einer brennenden Anklagerede das Recht des geistigen Arbeiters auf, mit besonderer Sorgfalt zubereitete Kost. Es war eines seiner Lieblingsthemata.

Frau Gundes Pulse flogen diesmal nicht. Sie saß teilnahmlos dabei. Zu tief hatte sie seine Anspielung auf das »früher« in unmittelbarer Folge auf seine heiße Umarmung getroffen.

– – – – – – – – – – – –

Es war April geworden und Ostern nahte.

Frau Gunde saß in ihrem kleinen wohnlichen Zimmer mit dem Blick auf den jetzt mit Blumen bestellten Balkon, und freute sich auf die stillere Zeit und die warmen Frühlingstage.

In ein paar Wochen hoffte Ludwig mit seinem neuen Stück fertig zu sein. Vielleicht gelang es ihr dann, ihn zu vermögen, irgend ein ruhiges Fleckchen mit ihr aufzusuchen, bevor die große, allgemeine Sommervölkerwanderung begann, die mehr und mehr jeden Winkel der schönen Gotteswelt zu füllen schien.

Aus leichten, feinen Fäden spann sie ein köstliches Gespinst: Waldesrauschen und Bachgeriesel, Sonnengold und reine würzige Luft woben durcheinander, und mitten darinnen Ludwig und sie, Gatte und Gattin, ganz allein, nur sich [146] selbst geschenkt, fernab von der großen, lauten, überlauten Welt.

Eine große, stille Zuversicht erfüllte die träumende Frau. Trug der laue Frühlingswind sie zu ihr hin? Blühte sie aus ihrem eigenen warmen Herzen auf? War es der starke, ernste Geist des Vaters, der aus den wenigen kurzen Zeilen zu ihr sprach, die vor ihr zwischen blühenden Blumenstöcken auf dem Tische lagen? Wirkten sie alle drei gemeinsam auf sie ein, sie zu stärken, ihre geängstete Seele mit neuem Glauben zu erfüllen?

Frau Gundula faltete die Hände still im Schoß und sah gedankenvoll vor sich hin.

Wehe, schwere Tage lagen hinter ihr. In nichts hatte sie es ihrem Manne zu Dank machen können, in allem hatte sie's verfehlt. Mit jeder Botschaft war sie zur unrechten Zeit gekommen, ihre zitternden, bei jedem leisesten Anstoß fliegenden Nerven waren nicht imstande gewesen, Störungen und kleinlichen Ärger von ihm abzuhalten.

Er war hart und böse und zornig, vielleicht auch ein wenig ungerecht gegen sie gewesen.

Aber sie konnte ihm nicht zürnen, sie bedauerte ihn viel mehr, denn auch für ihn waren diese Tage nicht leicht gewesen, Enttäuschung auf Enttäuschung waren sich Schlag auf Schlag gefolgt.

Irgendwo draußen, sie wußte nicht wo, denn sie hatte die Zeitungen nicht zu Gesicht bekommen, war ein älteres Stück, auf das er noch immer viel Hoffnungen setzte, erfolglos zu Grabe getragen worden, wie Ludwig aufbrausend stets aufs neue betonte, einzig infolge der vorgerückten Saison, der jammervollen Darstellung.

Den halben Tag hatte er am Telephon gestanden und mit dem Agenten gestritten, dem er – Gunde wußte es [147] nicht, aber sie war überzeugt mit Recht – die Schuld an dem ungeschickten Abschluß mit der betreffenden Bühne beimaß.

Gereizte Reden, zornige Ausrufe waren hin und her geflogen. Sie hatte nicht nur mit ihm gelitten, sondern es auch aufs peinlichste empfunden, daß die Dienstboten naturgemäß Zeugen dieser aufgeregten Verhandlungen auf offenem Gange geworden waren. Wäre es nach ihr gegangen, niemand hätte je von dem peinlichen Erdenrest erfahren, der an dem geheiligten Beruf des Dichters hing.

Zum Überfluß war gerade in diesen Tagen der endliche Bescheid Barmsens gekommen. Er verzichtete auf den Zyklus, erklärte sich aber gern bereit, bei guter Gelegenheit den mittelsten Einakter zur Aufführung zu bringen. An einen Termin binden wollte er sich nicht, oder konnte es vielmehr nicht, trotz aller Hochschätzung von Hamanns Talent. Ein Einakter konnte eben nur gelegentlich mit untergebracht wer den.

Ludwig hatte geschäumt.

Das Ende der Verhandlung war gewesen, daß er auch den mittleren Einakter zurückgefordert hatte. Wie konnte gerade der Mann, der sich als Literaturoberbonze für die gesamte moderne Bühnenproduktion aufspielte, sich unterfangen, ihm ein geschlossenes Kunstwerk mitten durchzureißen, ihm zuzumuten, einen Torso auf den Kunstmarkt zu bringen?!

Gunde hatte nichts tun und nichts raten können!

Was verstand sie von all diesen krausen, wirren Linien, die den modernen Dichter zum Ruhm führen!

So jung sie war, so zäh hielt sie an dem altmodischen Begriff fest, den sie sich in ihren stillen Mädchentagen nach dem Bilde der Größten von eines Dichters Erdenwallfahrt geformt hatte.

Helfen hatte sie nicht können und ihren Trost hatte er [148] schroff und ungeduldig zurückgewiesen. »Nur nervöser machte sie ihn, unerträglich das Dasein mit ihren exaltierten Sentimentalitäten.«

Seit zwei Tagen war der ärgste Sturm verbraust.

Gundula nahm des Vaters Brief zur Hand. Mit sehnsüchtiger Zärtlichkeit hing ihr Auge an seiner festen, großgefügten, knorrigen Schrift.

In wie einfachen Linien das Leben der Ihren daheim hinfloß!

In ruhiger Stetigkeit wechselten sie ab: Arbeit und Ruhe, Pflichterfüllung und stilles Genießen in der einfachen Natur und noch einfacheren Kunst, die das Leben ihnen bot.

Aber gerade diese Stetigkeit hielt sie gesund an Leib und Seele, zersplitterte das Maß ihrer Kräfte nicht. Jedes von ihnen wußte, was es wollte und sollte, wohin es gehörte, während sie selbst wie ein armer aufgescheuchter Vogel hin und her flatterte, ohne jemals recht zu wissen: da ist dein Platz, deine Heimat, die Stelle, an die du gehörst, von der dich nichts und niemand vertreiben kann. –

Den Kopf in die Hand gestützt saß Gunde da und grübelte, als ein leises Geräusch sie aufschreckte.

Minna war ins Zimmer getreten. Sie meldete Frau Hamann, die nur eben auf einen Augenblick bei ihrem Sohn eingetreten war.

»Wird sie den Herrn auch nicht stören?« seufzte Gunde beklommen.

Minna zuckte mit den Achseln.

»Die alte Dame fragt nicht soviel danach als gnädige Frau.«

Dann murmelte sie etwas hinterher, das Gunde nicht verstand.

Rasche energische Schritte näherten sich der Tür. Eine [149] stattliche Frau um das Ende der fünfzig trat ein. Die beiden hatten einander seit ein paar Wochen nicht gesehen. Frau Hamann war bei einer Jugendfreundin zu Besuch gewesen.

Sie erzählte viel und lebhaft von dem Aufenthalt in München.

»Es ist nicht mehr, was es zu meiner Jugend gewesen,« meinte sie. »Damals war München eine Kunststadt und wollte nichts anderes sein und war stolz darauf. Heut hat es Großstadtmanieren angelegt, aber eben nur Manieren, Schein ohne Sein.«

Dann plötzlich blickte sie ihrer Schwiegertochter näher ins Gesicht und hielt mitten in ihrer lebhaften Rede inne.

»Um Gotteswillen, Kind, wie siehst du denn aus? Abgerackert und abgemagert, als hättest du nicht satt zu essen oder müßtest ums tägliche Brot sorgen. Hat Lutz dich wieder mal hin und her gejagt mit seinen Launen?«

Gunde widersprach eifrig.

»O Gott, nein, ganz und garnicht. Nur daß – es ist ihm letzthin manches verquer gegangen, dem armen Kerl, und dann, du weißt ja, Mama, seit ich in Berlin bin, bin ich die Stärkste nicht mehr.«

Frau Hamann schüttelte den Kopf und sah nicht ohne Besorgnis auf die zarte Frau.

»Du solltest machen, daß du bald herauskämst und etwas für dich tätest, Gunde!«

Gundula lächelte schwach.

»Ohne Lutz? Ach, das glaubst du ja selbst nicht, Mama. Jetzt, wo er noch so tief in der Arbeit steckt –! Sobald das Stück fertig ist – dann – ja dann!«

Gundes Augen leuchteten auf, wie sie zuvor geleuchtet, als sie das köstliche Gespinst aus Waldesrauschen und Bachgeriesel, Sonnengold und reiner, würziger Luft gewoben, [150] und mitten darin sich und den geliebten Mann, abgetrennt von der großen lärmenden Welt gesehen hatte.

»Es wäre ihm ganz gut, wenn er sich einmal ohne dich behelfen lernte,« meinte Frau Hamann trocken. »Vielleicht, daß er dann –«

Sie sprach nicht weiter. Etwas wie eine große Angst war in Gundes fragenden Blick getreten, die ihr den Mund verschloß.

Die lebenskräftige, urgesunde Frau sah einen Augenblick mit trübem Lächeln vor sich hin, dann fragte sie in leichtem Ton:

»Nun und eure große Gesellschaft? Bist du schon mit allem im reinen, Kind?«

»Gesellschaft? Jetzt noch? Kurz um Ostern Gesellschaft? Wie meinst du das, Mama?«

Frau Hamann blickte verwundert auf ihre Schwiegertochter.

»Lutz sagte mir doch – es war sein erstes Wort –, gut, daß du zu unserer Gesellschaft wieder zurück bist –«

»Es war einmal die Rede davon«, meinte Gunde kleinlaut; »aber ich glaubte, er habe es sich aus dem Sinn geschlagen. Jetzt im Frühling, und wo er doch mitten in der großen Arbeit steckt – ein Stück, von dem so vieles abhängt – wie kann er gerade da –?«

Frau Hamann lächelte ein wenig sarkastisch.

»Gerade um des Stückes halber wird er die Gesellschaft geben wollen.«

Sie fuhr der jungen Frau leicht über Stirn und Wangen.

»Du bist ein Kindskopf, Gunde, und wirst es ewig bleiben.«

Dann stand sie auf.

»Ich will jetzt nicht wieder zu Lutz hinübergehen. Morgen oder übermorgen werde ich noch mal mit ihm über [151] die Gesellschaft sprechen. Es wäre gescheiter, er verschöbe sie bis zum Herbst. Gar so eilig wird man es mit dem Stück nicht haben. Für den Anfang der Saison werden die Direktoren ausgesorgt haben und nicht auf Ludwig Hamann warten.«

Es lag ein Etwas von gereizter Bitterkeit in ihren letzten Worten, vielleicht auch etwas von schlecht verhehlter Enttäuschung.

Gunde hörte nur die Verheißung heraus, bei Lutz möglichenfalls einen Aufschub seines Vorhabens zu erwirken.

Sie legte beide ineinander gefaltete Hände auf den Arm der im Hinausschreiten begriffenen Frau und sagte eifrig:

»Ach es wäre herrlich, Mama, wenn du Lutz dazu vermögen könntest! Schon seinethalben, damit er sich nicht stört. Er hat ja doch so große Verpflichtungen nicht. Ist es nicht genug, wenn er zu den Leuten geht? Sie können ja doch alle stolz darauf sein, daß er zu ihnen kommt.«

Sie war ganz rot und heiß geworden bei diesen eifrigen, warmen Worten.

Wiederum fuhr die ältere Frau ihr leicht über Stirn und Wange.

»Ja, ja, ich will's versuchen, Kind.«

– – – – – – – – – – –

Lutz hatte sich nicht umstimmen lassen. Die Gesellschaft war vonnöten, gerade jetzt. Er bestand darauf und ließ keine Gegengründe gelten.

Frau Hamann war verstimmt davon gegangen. Der Erfolg, den ihr Sohn mit dieser Gesellschaft für sein Stück bezweckte, war, selbst wenn er eintraf, längst verflogen und vergessen bis das Stück zur Aufführung kam.

Die Einnahmen waren während des letzten Jahres[152] nicht so reichlich geflossen als im Anfang seiner dichterischen Laufbahn.

Frau Hamann war sich, trotz aller Ehrlichkeit gegen sich selbst, nicht recht klar darüber, ob Lutz in der Tat in seinen Leistungen zurückgegangen war, oder ob man anfangs zu große Hoffnungen auf ihn gesetzt hatte und nun verstimmt war, daß er dieselben nicht zu erfüllen schien.

In keinem Fall hatte Ludwig Ursache, besonders stolz auf die Erfolge der letzten Jahre zu sein.

Weshalb also ungewöhnlich große Ausgaben machen? Ohne die würde es nicht abgehen, denn der Stil, in dem Ludwig seine Gesellschaften zu geben pflegte, erforderte einen bedeutenden Aufwand.

Und nicht zuletzt ging es um ihre Schwiegertochter, die ein förmliches Grauen vor dem Chaos zu empfinden schien, das ein solches Fest ins Haus brachte!

Die energische, starknervige Frau, die so leicht nichts in Harnisch brachte, schüttelte besorgt den Kopf. Da mußte Abhilfe geschafft werden, lieber heut als morgen. Dummes kleines Ding, das nicht einmal die billige Weisheit begriff, sich ein bissel rar zu machen und sich dem Mann damit nur fester zu verbinden!

Aber gern hatte sie es doch, das zarte blonde Geschöpf mit ihrer anbetenden Liebe zu ihrem Jungen. – –

Zehn Tage vor dem großen Akt saß Lutz bei seiner Frau in dem hübschen kleinen Balkonzimmer und revidierte die Einladungen, die sie mit ihrer klaren, gleichmäßigen Schrift ausgeschrieben hatte.

Gunde sah ihm müde zu, wie er Karten und Umschläge lässig durch die Finger gleiten ließ, ab und zu mit mehr oder weniger Wohlgefallen einen Namen vor sich hinmurmelnd.

Jetzt stockte er einen Augenblick. Unter dem großen [153] dunkeln Bart spielte ein Lächeln um seine Lippen. Als Gunde ihm über die Schulter sah, las sie den Namen Frau Elma Soskina.

Ein rasches, heißes Rot stieg in Gundas Wangen auf.

Am liebsten hätte sie diesen Namen garnicht geschrieben, und nun blickte Ludwig ihn gar, wie ihr scheinen wollte, mit zärtlichem Lächeln an.

Sollte sie ihm sagen, wie sie diese Frau im intimen Gespräch mit einem andern im Tiergarten getroffen hatte, einem andern, dem sie dieselben schwärmerischen Augen gemacht als ihm!

Einen Augenblick lang schienen ihre Hände ihm das Blatt entreißen, ein rasches Wort das Lächeln aus seinem Antlitz verscheuchen zu wollen, dann bezwang sie sich.

Nein, sie wollte ihm nicht wehe tun, seinen berechtigten Stolz nicht verletzen. Es fiel am Ende einzig auf diese Frau zurück, wenn ihr das Unterscheidungsvermögen zwischen ihrem Mann und andern abging.

Aber die Glieder waren ihr schwer geworden von dem kurzen, raschen Kampf, und etwas dunkles Angstvolles schnürte ihr die Kehle zu, das sie nicht bei Namen zu nennen wußte.

Ludwig legte Karten und Umschläge beiseite.

»Gut gemacht,« lobte er. »In solchen Dingen seid ihr Eisemanns prompt und korrekt erzogen, das muß man deinem starrköpfigen Vater lassen.«

Gunde lächelte schwach.

Sie wußte nicht recht, sollte sie sich über das ihr gespendete Lob freuen, oder sich gegen die ungerechte Kritik über ihren Vater auflehnen?

Sie machte einen schwachen Versuch, Ludwig zum so und so vielten Male klar zu machen, daß ihr Vater ganz und gar nicht starrköpfig, sondern ein zielbewußter, starker Charakter [154] sei, aber sie kam gar nicht dazu, den begonnenen Satz zu Ende zu sprechen, denn Ludwig war schon mitten darin in den Vorbereitungen für die Gesellschaft, für die ihm seine sonst so kostbare Zeit durchaus nicht zu kostbar zu sein schien.

Er entwarf ein Menu, das Gunde, der Kosten sowohl als der Umstände halber, die es erforderte, selbst wenn es beim Koch bestellt würde, erschreckte.

Sie wollte einen schwachen Einwand erheben, aber er unterbrach sie sofort.

»Davon verstehst du nichts, Gunde. Woher solltest du auch! Die Gesellschaften, die wir bisher gegeben haben, dienten einem ganz anderen Zweck. Sie waren, wenn ich so sagen darf, rein geselliger Natur. Unser Osterfest wird eine ganze Menge Menschen vereinen, die zum erstenmal in meinem Hause sind, es soll so zu sagen – hm – eine Vorfeier zu meinem Stück sein. Ich will Freunden sowohl als Fernerstehenden, die in Berlin sozusagen Meinung machen, – ein wenig auch der Presse, – die leitenden Gedanken meines Stückes klar zu machen suchen, ihnen ein Mitempfinden – sagen wir – suggerieren. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, Gunde. Dazu gehört ein Milieu, das entscheidend auf die Stimmung einwirkt. Nicht nur ein Menu, wie ich es eben flüchtig entwarf, dazu Weine erster Qualität, sondern auch eine besondere Ausschmückung der Räume, ungewöhnliche Lichteffekte, schöne Frauen, exquisite Toiletten. Der Soskina und der meisten der andern Frauen bin ich gewiß. Was dich betrifft, Gunde –«

Sie fiel ihm rasch und eifrig ins Wort.

»O Lutz, ich bin doch glänzend versorgt vom Herbst her. Das Weiße ist noch so gut wie neu, und das Wassergrünseidene braucht nur ein bißchen hergerichtet zu werden. Du hast nur zu wählen, was dir besser gefällt.«

[155] Er wehrte rasch mit imposanter Geste ab.

»Du solltest dir doch deine kleinstädtischen Ansichten endlich abgewöhnen, Gundula. Wenn Ludwig Hamann ein Fest gibt, hat seine Frau die schönste und eleganteste zu sein. Abgetragene, bekannte Fahnen, das wäre noch besser! Die Leute sollen wohl denken, ich sei in Ruhm und Einkommen zurückgegangen! Du wirst morgen zu Gerson fahren und dir das Chickeste und Modernste bestellen, was zu haben ist. Ich denke, du nimmst blaßlila Seide mit Valenciennes.«

»Eine solche Verschwendung, Lutz,« klagte sie. »Und ich hab ja auch gar keine Zeit. Was ist noch alles Wichtigeres zu tun! Wie soll es überhaupt beschafft werden!«

Er ließ sich nicht im geringsten stören. Das Aussehen seiner Frau war eine Programmnummer, wie jeder einzelne Gang des Menus, jede Wein- oder Sektmarke. War das Verheiratetsein, in Sonderheit mit einer so nervösen Frau wie Gundula, nicht immer ein Vergnügen, so sollte es wenigstens bei einer solchen Gelegenheit gründlich ausgenutzt werden. Ludwig Hamann wußte sehr genau, wie hoch eine schöne Dichtersfrau im Preise stand, wie mild sie unter Umständen die Federn der Kritik stimmte, wie begeisternd sie auf den Enthusiasmus der sogenannten Kunstkenner und Mäcene einwirkte.

So fuhr er unbeirrt fort.

»Tief ausgeschnitten natürlich. Wenn du auch magerer geworden bist, kannst du Hals und Arme immer noch sehen lassen.«

Er sagte es in kühlem geschäftsmäßigen Ton. Eine heiße Röte der Scham war ihr in die Wangen getreten. Ihre Nasenflügel bebten vor Erregung. Dann plötzlich kam etwas von der starken, ruhigen Entschlossenheit ihres Vaters über sie.

[156] »Nein«, sagte sie sehr ruhig und fest, »das werde ich nicht tun. Ich finde es abscheulich, wenn Frauen aller Welt zeigen, was ihnen oder ihrem Gatten allein gehört.«

Ludwig war einen Augenblick verblüfft.

Dann lachte er laut auf.

»Laß dich nicht auslachen, Gunde. Du fährst morgen zu Gerson und bestellst, was ich angeordnet. Ich werde Minna orientieren, sie soll dich begleiten.«

Damit stand er auf und ging zur Tür, die er heftig hinter sich ins Schloß warf.

Gunde war allein.

Zum ersten Mal überfiel sie so etwas wie ein Zweifel an Ludwig. Aber rasch kämpfte sie nieder, was in ihr aufgestiegen war und Macht gegen ihn gewinnen wollte.

Um Gotteswillen nein, wie durfte sie nur!

Der Geist ihres Vaters kam ihr zu Hilfe, der starke, gute, schützende Geist, den sie schon als Kinder gegen jede Versuchung angerufen hatten.

Eine Stunde kurz vor ihrer Eheschließung tauchte wieder vor ihr auf.

Sie sah und hörte den Vater, wie er vor ihr stand, die große, ehrfurchtgebietende Gestalt ein wenig zu ihr herabgeneigt, und ernsthaft und eindringlich zu ihr sprach.

»Sei immer eingedenk des alten Bibelwortes, Gundula: Er soll dein Herr sein. Laß es nicht wie leerer Schall an deinem Ohr vorübergleiten; denke, fühle, handle danach in deiner Ehe und du wirst glücklich sein und glücklich machen.

Laß dich nicht betören von der neuen Lehre, die auf offenem Markte ausschreit, daß Mann und Weib gleichberechtigt seien, daß sie Schulter an Schulter zu marschieren hätten wie gute Kameraden. Diese neue Moral ist der Ruin jeder Ehe.

[157] Die Natur hat den Mann dazu geschaffen, der starke, tragende Teil zu sein; des Weibes Pflicht ist es, sich dieser Stärke willig zu unterwerfen, in freudiger, liebevoller Ergebenheit sie anzuerkennen. Die Natur läßt sich ungestraft nicht spotten. Vergiß das niemals und in keiner Lebenslage, Gundula.«

Wie tief nachhallende Glockentöne, mit eherner Gewalt drangen diese, lang nicht gedachten Worte auf sie ein und machten sie erschauern bis ins tiefste Mark. Ja, sie war nun einmal sein, er konnte mit ihr tun, was ihm beliebte, nur liebhaben mußte er sie.

Sie stutzte einen Augenblick. Krampfhaft zog sich etwas in ihr zusammen, drang ihr würgend bis in die Kehle hinauf. Dann atmete sie tief und erschöpft auf.

Ihre reinen Instinkte wehrten sich dagegen, daß etwas anderes als Liebe ihn dazu vermocht haben könnte, ihr ein Ansinnen zu stellen, das sie in Scham erröten gemacht hatte.

Es konnte, es durfte nur Liebe sein! Er war stolz auf ihren Besitz, wie sie auf den seinen, nur daß der Ausdruck ihrer Liebe, ihres Stolzes ein verschiedener war. Ihn gelüstete es, seinen Besitz vor aller Welt zu zeigen, auffällig das Augenmerk auf ihn zu richten, während ihr keusches Empfinden ihre Liebe und ihren Stolz auf den geliebten Mann in den tiefsten und stillsten Winkel ihres Herzens bettete. –

So kam der große Tag heran, dessen Vorläufer eine lange Reihe abgehetzter, mit kleinlichen Sorgen angefüllter Stunden gewesen war.

Erst wenige Augenblicke vor der zu erwartenden Ankunft der ersten Gäste war Frau Gunde mit ihrer Toilette fertig geworden.

Sie stand vor dem Spiegel und steckte ein paar widerspenstige [158] Löckchen ihres reichen Blondhaars fest, als Ludwig hereingestürmt kam, finstern Blickes, dabei aber prächtig und imposant in seinem modernen Frackanzug, eine schwer duftende weiße Blüte im Knopfloch.

Beim Anblick seiner Frau stutzte er und blieb stehen. Was er da vor sich sah, übertraf alle seine Erwartungen. Nur zu blaß machte sie die zarte Fliederfarbe der reichen, fließenden Seide, aus der Arme, Hals und Schultern blütenweiß hervorsahen.

Etwas heißes, verlangendes stieg in dem Manne auf und ließ ihn auf Augenblicke vergessen, daß er gekommen war, einen scharfen Tadel auszusprechen.

Er riß sie an sich in der rasch kommenden und ebenso rasch verebbenden Glut seiner Sinne. Er preßte ihren zarten Körper gegen den seinen und erstickte sie mit der Glut seiner Küsse, daß ihr Atem und Sinne vergingen.

Dann stieß er die an allen Gliedern bebende Frau von sich, die von dem plötzlich über sie hereingebrochenen Sturm seiner Leidenschaft selig ermattet an seinem Halse hing.

»Komm, komm!« sagte er laut und herrisch. »Es ist höchste Zeit, unsere Gäste zu empfangen.«

Sie war in einen Stuhl gesunken und sah hilflos fragend zu ihm auf.

Die Lippen, die vor Sekundenfrist glühend die ihren gesucht, die sich ihr in einer Leidenschaft ohne gleichen auf Hals und Brust und Arme gepreßt, rissen sie mit lauten, herrischen Worten in den Alltag zurück, während die ihren noch in stummem Entzücken, in heiligen Schauern erbebten.

Würde sie niemals die Liebe, niemals den Mann begreifen lernen!

Sie erhob sich schwer und müde und folgte ihrem Mann, [159] der ihr ungeduldig in die Gesellschaftsräume vorangeschritten war.

Wirklich waren schon ein paar Gäste anwesend, die Ludwig mit einem Schwall liebenswürdiger, glatter Worte empfing.

War es nur ein Traum gewesen, daß er sie vor wenigen Minuten im still verschwiegenen Gemach im Arm gehalten? Daß ihre Herzen aneinander geschlagen, ihre Lippen aneinander gehangen hatten?

Zwei Herren begrüßten Gunde, die sie nie zuvor gesehen zu haben glaubte. Eine sehr brünette Dame in großer Toilette rauschte herein, deren Gesicht ihr bekannt war, deren Namen sie vergessen hatte. Ein Schleier war vor ihren Augen, ein Nebel wallte vor ihrem Ohr.

Ein kleiner unscheinbarer Herr, der hinter der großen schwarzen Dame hergeschritten war, trat auf Gunde zu und sprach sie an.

»Gnädigste Frau erinnern sich nicht mehr? Das tut mir leid. Beim Presseball hatte ich ja doch das Vergnügen, Ihnen Gesellschaft zu leisten, während Ihr Herr Gemahl mit meiner Frau bei der Tombola war.«

Gunde erinnerte sich schwach. Nach und nach fiel ihr ein, daß der kleine Herr ihr freundlich und bescheiden seinen Schutz angeboten hatte, während Ludwig im Gewühl des Ballfestes verschwunden gewesen war.

Sie reichte ihm die Hand.

»Ganz recht. Ich weiß es jetzt wieder ganz gut. Herr Brandau, nicht wahr? Sie waren sehr freundlich zu mir an dem Abend. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht gleich erkannte.«

Nervös fuhr sie ein paar Mal mit den schlanken Fingern über die Stirn.

[160] »Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?« fragte der kleine Herr Brandau teilnehmend.

»Ein wenig Kopfweh. Es wird vorübergehen.«

Neue Gäste kamen, einzeln, gruppenweis, zu zweien; viel fremde Gesichter, die Gunde nie zuvor gesehen hatte. Eine Reihe von Namen drang an ihr Ohr, die sie nie zuvor gehört hatte.

Untereinander schienen alle diese Menschen gut Freund zu sein. Laut und lebhaft schwirrte die Unterhaltung hin und her.

Der Hausherr stand, von einem Kreise schöner und eleganter Frauen eng umgeben, die ihn wahl- und skrupellos mit Lobpreisungen über seine letzte kleine Novellette in einer Berliner Tageszeitung, über die originelle Beleuchtung seiner Salons, über sein eigenes prächtiges Aussehen überschütteten.

Gunde bemerkte auch die Soskina zwischen den Frauen. Nach einer kleinen Weile aber stahl sie sich fort unter eine mit grünglasigen elektrischen Birnen magisch erleuchtete Palmengruppe, in der ihr Begleiter vom Tiergarten schon auf sie gewartet zu haben schien.

Gunde warf einen ängstlichen Blick auf ihren Mann, der lächelnd den flutenden Strom der Schmeichelei aus schönem Munde über sich fortergehen ließ.

Sie atmete auf. Er schien nichts davon bemerkt zu haben, daß die Freundin sich heimlich aus seinem Kreis gestohlen hatte.

Es würde ihn zweifellos gekränkt und betrübt haben.

Ein großer blonder Mann trat auf Gunde zu, der Direktor eines telegraphischen Nachrichtenbureaus, der schon ein oder zweimal Gast in ihrem Hause gewesen war.

Gunde erinnerte sich, daß Ludwig ihr oft und eindringlich [161] von der einflußreichen Stellung dieses Mannes gesprochen hatte. So gab sie sich redliche Mühe, freundlich und aufmerksam auf ihn zu hören. Viel Geist brauchte sie nicht darauf zu verwenden. Seine Unterhaltung bewegte sich in konventionellen Redensarten; immer wieder kam er auf das glanzvolle Fest zurück, für das er die Hausfrau komplimentierte.

Ein junger blasser Mensch, der die zwanzig wenig überschritten haben konnte, trat hinzu und stellte sich als Kritiker der Morgenzeitung vor. Er hatte ein scharfes, näselndes Organ und rückte bei jedem Wort, das er sprach, an den Kneifergläsern, die er über den kurzsichtigen Augen trug.

»Pyramidales Fest,« schnarrte er und winkte mit einer nachlässigen Handbewegung einen der Diener herbei, die auf silbernen Platten Austern- und Kaviarbrötchen und kleine Becher mit französischem Sekt präsentierten.

Während er mit seinen gelben, etwas vorstehenden Zähnen eine Auster zerkaute, meinte er näselnd:

»Doch bessere Zeiten heute als vor hundert Jahren für die Herren Dichter. Können Sie sich ein solches Fest bei Schillern vorstellen, Herr Direktor?«

Er meckerte laut. Der andere lachte mit.

»Nicht gut, Herr Kollege.«

»In der alten Jartenbude. Iroßartiger Jedanke!

Wie denken Inädigste über so'n povres Milieu? Nich in de la main, nich wahr?«

Gunde war die Röte der Entrüstung in die blassen Wangen gestiegen. Aber sie brachte nichts weiter vor als die gestammelten Worte:

»O – aber – wie kann man sich an Schiller so versündigen!«

[162] Der junge Mensch sah sie einen Augenblick verblüfft an, dann meinte er ironisch.

»Pardon, Inädigste. Ich dachte als Jattin wären Sie auf Ludwig Hamann und nicht auf Schillern eingeschworen.«

Mit einer nachlässigen Verbeugung empfahl er sich und schloß sich einer andern Gruppe an, aus der zwei Minuten später lautes Lachen ertönte.

Gunde wußte recht gut, wem es galt. Aber sie bereute es nicht, Stoff zu diesem Gelächter gegeben zu haben.

Nach halb elf Uhr erst, kurz vor dem Souper kam Ludwigs Mutter. Absichtlich wollte sie ihre Stimmung gegen das zur Unzeit arrangierte Fest markieren, das als Nachspiel zweifellos einen starken Anspruch an ihre Kasse zu erheben versprach.

Gunde begrüßte ihre Schwiegermutter sehr herzlich. Sie war der einzige Mensch, der ihr in diesem großen, fremden Kreise so etwas wie Halt gewährte. Frau Hamann streifte das junge, schöne, zarte Geschöpf mit einem langen mitleidigen Blick.

»Kopf hoch, Gunde,« sagte sie leise, »und morgen reden wir über ein stilles, gründliches Ausruhen.«

Gunde lächelte wehmütig und folgte einem raschen herrischen Blick ihres Mannes, der sie an seine Seite rief.

Eine Viertelstunde später waren die achtzig geladenen Gäste an drei großen, glänzend geschmückten, feenhaft erleuchteten Tafeln placiert, deren eine Ludwig, die zweite Gundula, die dritte Frau Hamann präsidierte.

Zu Gundes Tischherrn war der Verleger eines in Kunstdingen maßgebenden Blattes ausersehen.

Wie allgemein bekannt, übte der scheinbar behäbige Herr einen förmlich tyrannischen Einfluß auf seine Angestellten.

[163] Wehe dem Mitarbeiter, der nicht im Sinne, nicht nach der strikten Order des Verlegers schrieb!

Ludwig hatte es Gunde zur Pflicht gemacht, dem allmächtigen Manne gegenüber, von dessen guter Meinung unendlich viel für eine günstige Aufnahme seines Stückes abhing, mit größter Liebenswürdigkeit entgegenzukommen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

Obwohl ihr der Mann vom ersten Augenblick des Sehens ab unsympathisch war, gab sie sich eine Zeitlang redliche Mühe, die dreisten Bemerkungen über die Schönheit ihrer Person zu überhören. Am Ende aber, als Herr Grünwald mit derben Späßen und Anzüglichkeiten auf die Intimitäten ihres ehelichen Lebens mit dem »schönen Ludwig« auf sie eindrang, konnte sie eine scharfe Zurechtweisung nicht zurückhalten.

Wie zuvor der bengelhafte Journalist, stutzte der große Mann einen Augenblick und sah verblüfft auf die feine blasse Frau. Aber er setzte die Unterhaltung nicht einmal in ironischem Ton mit ihr fort, sondern wandte sich, während die Röte des Zornes ihr bis in die Schläfen stieg, achselzuckend an seine Nachbarin zur Linken, der großen schwarzen Frau Brandau, für die ihr kleiner unscheinbarer Mann den ganzen Abend über nicht existiert hatte.

So laut, daß Gunde, trotz der geräuschvollen Unterhaltung am Tisch, jedes Wort verstehen mußte, bemerkte Grünwald:

»Gnädigste befassen sich ja wohl gern mit Menschenstudien? Da empfehle ich Ihnen eine ganz neue Spezies in unmittelbarer Nähe, ein Gemisch von reiner Torheit und raffinierter Insolenz.«

Was er weiter sprach in seinem gereizten Zorn war ihr nicht mehr verständlich. Ihr Nachbar zur Rechten, ein [164] liebenswürdiger junger Schauspieler, sprach eifrig auf sie ein und erkundigte sich, ob das neue Stück ihres Mannes eine »tragende« Rolle für ihn enthalte und ob wohl Aussicht sei, daß es gerade an der Bühne, der er verpflichtet sei, zur Aufführung komme.

Der Chef der Zensurabteilung hielt die Festrede; kurz und schneidig toastete er auf Ludwig Hamann und seine bessere Hälfte, die er erst lange mit den Augen suchen mußte, so fremd war sie ihm.

Er versprach in allerhand geistreich klingenden Floskeln, bei Ludwigs neuem Drama mit den Strichen sparsam umzugehen und sich nur eines ganz kleinen Restes Rotstift dabei zu bedienen. Daß auch Presse und Publikum seinem Beispiel folgen und dem Dichter keinen Strich durch die Rechnung machen mögen, darauf erhöbe er sein Glas. »Frau Ludwig Hamann, unser Dichter, das jüngste Kind seiner Muse, sie leben hoch!«

Es schien Gunde, als sei dieser Toast nur der Anstoß zu einem ungeheuerlichen Chaos gewesen, so wirr und bunt schwirrte wie auf Kommando die Gesellschaft plötzlich durcheinander. Plätze wurden getauscht, Anrufe von einem Ende der Tafel zum andern wurden laut, immer reichlicher floß der Sekt, immer rascher leerten sich die Gläser.

Die Damen bombardierten die Herren mit ihren Tellersträußen oder mit einzelnen Blumen, die sie mit verfänglichem Augenaufschlag aus ihren Kleiderausschnitten zogen.

Die Herren beraubten die Tafelaufsätze und die Konfitürenschalen und brachten halb kniend den Damen ihre Gegengrüße dar.

Kokette Blicke, Handküsse, heißgeflüsterte Schmeicheleien wirrten durcheinander. Mit Entsetzen bemerkte Gunde, daß der Herr aus dem Tiergarten der Soskina einen verstohlenen [165] Kuß auf die Schulter preßte, obwohl ihr Gatte in unmittelbarer Nähe saß.

Wie ein schwerer, drückender Panzer legte sich ihr die Schwüle der Atmosphäre auf die Brust. Sie vermochte kaum noch zu atmen; schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, das Zimmer drehte sich mit ihr, eine schwindelnde Angst erfaßte sie, so daß sie mit beiden bebenden Händen nach der Tischkante griff.

Der junge Schauspieler beugte sich erschreckt zu ihr hin.

»Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?«

Sie machte eine schwache Bewegung nach der in einem Eiskübel stehenden Wasserflasche.

Rasch schenkte er ihr das Sektglas voll, das sie in einem Zuge herunterstürzte.

»Danke, es ist schon besser.«

In dem gleichen Augenblick hatte Ludwig im Nebenzimmer die Tafel aufgehoben. Alles tat es ihm nach, ohne auf ein ausdrückliches Zeichen der Hausfrau zu warten. Auch vom dritten Zimmer her hörte man das Zurückschieben der Stühle.

Grünwald ging an der Seite der großen schwarzen Dame ins Rauchzimmer, ohne Gunde auch nur eines Blickes zu würdigen, geschweige denn ihr den Arm zu bieten.

Der junge Schauspieler führte sie heraus, hinüber in ihr kleines Boudoir, wo ihre Schwiegermutter schon Cercle hielt. Es war so gedrängt voll in dem kleinen Raum, daß sie um zwei Zimmer weiter in ein kleines Nebengelaß zu Ludwigs Rauchzimmer traten.

In dem Rauchzimmer waren ein paar Gebinde Pilsner und Münchener aufgestellt, um die die Herren sich mit lautem Gespräch und lauterem Lachen drängten.

Dicht an der Tür zu dem kleinen Nebengelaß saß eine [166] Gruppe Herren. Zwischen ihnen der schillerfeindliche Journalist mit dem rastlos hin- und hergeschobenen Kneifer.

Gunde hatte ihn sofort an dem scharfen, näselnden Organ erkannt. Zu sehen war von dem kleinen Nebengelaß aus nichts von den Sprechenden, da ein halb offen stehender Türflügel gerade diesen Teil des Rauchzimmers deckte.

Eine Gunde unbekannte Stimme, die sich gar keine Mühe gab, leise oder diskret zu sprechen, führte das große Wort.

»Na, was sagen Sie zu dem Zauberfest, meine Herren?«

»Großartig!« brüllte der Chor.

»Fürchte nur, wird ihm nicht viel helfen, dem großen Dichtersmann. Weggeschmissenes Geld der ganze Klimbim, wenn das Stück nicht besser ist als sein letztes. Verflucht zurückgegangen ist der ganze Mensch.«

»Hat nicht lange gedauert, die Dichterherrlichkeit«, warf ein anderer dazwischen.

»Muß eklig knapp geküßt haben, die Hamannsche Muse,« lachte der grüne Journalist.

Leichenblaß, mit weit aufgerissenen Augen stand Gunde da, nur durch den breit klaffenden Türspalt von der Gruppe der Spötter getrennt.

Der junge Schauspieler hatte mehr als einmal versucht sie fortzuziehen, zu ihr zu sprechen, um das Gespräch da drin zu übertäuben; aber sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und die Finger Schweigen heischend auf den Mund gelegt.

Jetzt hub eine ruhige, besänftigende Stimme in wohlwollendem Tone an.

»Aber, meine Herren, sind Sie denn so gewiß, daß Hamann das Fest nur der Reklame halber, ja, wenn man [167] Ihre Worte auffaßt, wie sie gemeint scheinen, sozusagen als Bestechung ins Werk gesetzt hat?«

Ein brüllendes Gelächter der Halbtrunkenen war die Antwort.

»Menschenskind, sind Sie denn vom Mond gefallen, daß Sie Hamann seinen Trick nicht kennen!«

»Na so was, der Zittelmann ist auf einmal naiv geworden und traut dem »schönen Ludwig« ideelle Absichten zu!«

Eine plötzliche Pause trat ein.

Dann hörte Gunde ihren Mann mit liebenswürdiger Verbindlichkeit fragen:

»Nun, kein Bier, meine Herren? Sie haben die Wahl Pils' oder Münchener. Bitte sich selbst zu bedienen. An der Quelle saß der Knabe.«

Gunde verließ die Kraft. Ihr zarter Körper bebte. Ihre Pulse flogen. Sie brach in leises Schluchzen aus.

Erschüttert und geängstigt stand der junge Mensch neben ihr.

Beklommen fragte er sich: was sollte, was durfte geschehen?

Da richtete die junge Frau sich auch schon wieder auf und sagte mit Anstrengung:

»Verzeihung – und nicht wahr, was hier gesprochen wurde –?«

Sie hatte es nicht nötig, zu Ende zu kommen.

Einfach antwortete er: »Mein Wort darauf, gnädige Frau.« – – – – – – – – – – – – – – –

Es war vier Uhr vorüber, als die letzten Gäste das Haus verließen. In Ludwigs Arbeitszimmer hatte sich nach zwei Uhr noch eine Pokerpartie festgesetzt, die kein Ende hatte finden können.

Gunde lehnte erschöpft gegen einen der hochlehnigen [168] Stühle im Rauchzimmer, während Ludwig den Rest seines kostbaren Zigarrenvorrats verschloß.

»Willst du nicht zu Bett gehen?« fragte er nicht eben freundlich. »Deinem Aussehen nach mußt du heut hypernervös gewesen sein.«

Er hatte das Fach der Lade verschlossen, in dem er seine Zigarren verwahrte. Jetzt richtete er sich auf und sah finster zu ihr hinüber.

»Übrigens die einzige Entschuldigung, wenn es überhaupt eine gibt, für dein unverantwortliches Benehmen gegen Grünwald.«

Gunde hatte ein rasches Wort auf den Lippen, aber sie unterdrückte es. Das Weh, das sie um Ludwig litt, seit man so roh und spöttisch über ihn hergezogen war, brannte noch in ihrer Seele fort und ließ alles andere klein und nichtig dagegen erscheinen. Wie würde er's ertragen, wenn sie ihm sagte: so denken, so sprechen deine guten Freunde, denen du Tür und Tor geöffnet hast!

Und sagen mußte sie's ihm. Es war ihre heiligste Pflicht, ihn vor den Ungetreuen zu warnen, heute, gleich in dieser Stunde noch.

Mit festen, leisen Schritten trat sie auf ihn zu.

»Ludwig,« bat sie.

Er zuckte die Achseln.

»Da ist nun nichts mehr zu wollen. Den Mann und seine gute Meinung hast du mir gründlich verscherzt.« Er seufzte ungeduldig auf. »Und nun geh zu Bett. Was soll das nachträgliche Lamentieren!«

Sie rührte sich nicht und sah ihm mit unendlicher Liebe und unendlichem Mitleiden in die Augen.

»Was willst du denn?« fragte er irritiert. »Es ist doch [169] wahrlich spät genug, und wie gesagt, zu ändern ist da nichts mehr.«

Er machte eine rasche, heftige Bewegung nach der Tür zu, aber Gunde hielt ihn mit sanftem Druck zurück.

»Lutz, ich möchte dir noch etwas sagen – ich muß dir's sagen noch vor Nacht – es ist schwer und traurig.«

»Um Gotteswillen,« fuhr er auf, »Auseinandersetzungen jetzt bei grauendem Morgen. – Ich will schlafen und bis morgen um zwölf absolute Ruhe haben. Dann mein Bad und warmes Frühstück. Ich muß die große Szene im zweiten Akt umarbeiten. Fehling –« es war der Name des vorlauten Journalisten mit dem beweglichen Kneifer – »hat mir da einen vortrefflichen Tip gegeben, den ich schon aus Klugheitsrücksichten befolgen will.«

Gunde wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen. Ihr Herz klopfte zum zerspringen. Mit beiden Händen umklammerte sie den Arm ihres Mannes und bat in einem heischenden Ton, den er nie vordem von ihr vernommen hatte.

»Du wirst nichts tun, was dieser Mensch dir sagt. Nichts – versprich es mir Ludwig. Versprich mir, daß du dich vor ihm hüten willst.«

Er sah sie an, als habe sie plötzlich den Verstand verloren.

»Bist du nicht recht bei Sinnen, Gundula? Mich vor Fehling hüten? Du kennst ihn ja garnicht, ihn nicht und seine ganze Gruppe, Leute, mit denen ich mich verhalten muß und will.«

Ein kurzer schluchzender Laut und fester hielt sie ihres Mannes Arm.

»Ob ich ihn kenne, ihn und seine Leute –!« Und im raschen, sprudelnden Fluß brach hervor, was ihr mit brennendem Weh die Seele beklemmte.

[170]

Als sie geendet hatte, schmiegte sie sich fest an ihn.

»Armer Ludwig. Nimm's nicht zu Herzen. Ein Mann wie du – und dieses Gelichter.«

Einen Augenblick hatte er gestutzt. Seine Augenbrauen hatten sich finster zusammengezogen, eine Wolke des Mißmuts hatte sein Gesicht überschattet. Seine Eitelkeit war empfindlich getroffen worden, um so empfindlicher, als seine Frau Zeugin der geringschätzigen Meinung über ihn geworden war, sie, und wer mochte es wissen, vielleicht auch andere noch!

Rasch aber besann er sich, daß er um keinen Preis den Gedanken an so etwas wie eine Niederlage aufkommen lassen dürfe.

»Lächerlich!« fuhr er auf. »Wenn man jedes Wort auf die Wagschale legen wollte, käme man nicht weit in der Welt. Sie sind soviel französischen Sekt nicht gewöhnt, die guten Leutchen. Sie werden ein bissel was im Kopf gehabt haben. Vielleicht hat auch einer und der andere sich selbst oder den andern einen Gefallen damit tun wollen, daß er mich ein bißchen schlecht gemacht hat. So was wie Neid gegen uns Große steckt ihnen ja allen im Blut, wenn sie ihn auch zumeist klüglich verborgen halten.«

Gunde glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Was ihr durch die Seele geschnitten, sie mit einem Schmerz ohne gleichen erfüllt hatte, war ihm ein Nichts, ein Selbstverständliches. Er zürnte diesen Menschen nicht einmal, die sich so schmählich gegen seine menschliche und künstlerische Ehre vergangen hatten, die ihn niedriger Bestechung beschuldigt, die seine Künstlerschaft in den Schmutz gezerrt hatten.

Mit gerungenen Händen stand sie vor ihm, mit großen, ungläubigen Augen sah sie zu ihrem Manne auf.

»Lutz, lieber Lutz, es ist ja doch nicht möglich, daß du so Schmähliches so ruhig nimmst! Sage mir wenigstens, [171] daß du diese Menschen nie wieder ansehen willst – daß du sie nicht mehr kennst – daß –« sie würgte an ihren Tränen.

»Sei doch nicht so exaltiert, Gundula.« Er zerrte nervös an seinem weichen, dunkeln Bart – die Sache – war ihm mehr als unbequem. Der Teufel hatte die Bande geritten, daß sie gerade in Hörweite von seiner Frau ihr Gefasel zum besten geben mußte.

»Ich bitte dich, weine nicht schon wieder. Du kannst den Ruhigsten verrückt machen mit deinen ewigen Tränen. Die ganze Sache ist nicht der Rede wert. Wie will man in der Öffentlichkeit bestehen, wenn man jeden kleinen Klatsch gleich katastrophal nimmt.«

Sie war sehr blaß und ganz still geworden. Ohne noch einmal nach ihm umzusehen, schlich sie aus dem Zimmer.

Sie fand keinen Augenblick Schlaf in dieser Nacht. Auch dachte sie nicht daran, das Mittel zu nehmen, das der Sanitätsrat ihr gegen Schlaflosigkeit gegeben hatte. Sie wollte garnicht schlafen, sie wollte denken, denken. Still, mit geschlossenen Augen lag sie da, bis der Morgen hell und sonnig ins Zimmer drang. Gunde stand auf und schlich zu Minna hinaus, die schon dabei war, das Chaos im Hause zu lichten.

Das Mädchen erschrak, als die blasse, zarte Gestalt zu so früher Stunde in den Salon trat.

»Machen Sie mir eine Tasse Tee, Minna. Ich will ein wenig hinaus in den schönen Morgen. Es wird mir gut tun nach gestern.«

Das Mädchen eilte bereitwillig hinaus und kam nach fünf Minuten mit dem Tee und ein paar in der Eile gebackenen Toasten zurück.

Eine Viertelstunde später schritt Gundula durch den morgenfrischen Tiergarten, gedankenlos, rasch und immer [172] rascher, nur von dem Empfinden getrieben: fort nur fort von all dem Häßlichen, Widerwärtigen, was gestern auf sie eingedrungen war.

Allgemach verlangsamte sich ihr Schritt. Sie sah um sich, dann stand sie still und atmete tief die morgenfrische, reine Luft.

Ohne es zu wissen, war sie an einen der wasserreichsten Punkte des, im ersten lichten Frühlingsgrün prangenden Parkes gelangt. Leise und lockend zwitscherten die Vögel in dem noch durchsichtigen Gezweig. Über den gekrausten, von einem leichten Winde hin und her gewiegten Wellen des Sees huschte schmeichelnd die junge Sonne. Unten am Ufer nickten die Weidenkätzchen. Blaue Veilchenbüschel drängten sich aus dem braunen, starkduftenden Erdreich.

Gunde saß auf einer Bank hart am Ufer, unter einem alten breitästigen Ahorn nieder. Allgemach löste sich die Starre, die sie seit gestern nacht umkrallt gehalten hatte. Mit sehnsüchtigen Blicken trank sie den jungen Frühlingstag in sich ein.

Ihre Gedanken flogen der Heimat zu. Wie oft hatte sie an lichten Frühlingsmorgen am Rand des Weihers gesessen, hinter dem die nahen Berge blauten, und jugendfroh ins Leben hinausgeträumt!

Übermächtig packte das Sehnen nach der Heimat sie. Nur Tage, Stunden wieder daheim sein, in die reinen, unschuldigen Augen der Geschwister sehen, die treue, starke Hand des Vaters fassen!

Ein Schauer überlief sie. Unmöglich war, was sie dachte, ersehnte!

Als was sollte sie hintreten vor den Vater?

Als ungetreue Haushälterin, die sich feige von dem Platz gestohlen, auf den Liebe und Pflicht sie hingestellt? Als [173] Anklägerin gegen den Mann, weil er das Leben mit andern Augen ansah, als es sie gelehrt worden war? Durfte sie eine solche Anklage überhaupt erheben? Vermochte sie zu unterscheiden wo Recht und Unrecht war?

Vielleicht kannte Ludwig, der mitten im Leben stand, Welt und Menschen um vieles besser als der Vater aus seiner selbstgewählten Einsamkeit heraus! Vielleicht waren die Begriffe, die der Vater seinen Kindern beigebracht hatte, falsche, schiefe, übergestrenge!

Vielleicht waren Welt und Menschen garnichts Besseres wert, als so angeschaut zu werden, wie Ludwig sie anschaute, gleichgültig, ja verächtlich!

Vielleicht war der Mensch nur dazu geboren, um leichten Sinnes auszuschlürfen, was sich ihm bot, vielleicht narrte sie andern alle der übergroße Ernst, in dem sie erzogen worden, das Pflichtgefühl, das ihnen zur zweiten Natur geworden war!

Suchend tastete Gunde umher bis der Kopf sie schmerzte und leer und leerer zu werden schien. Allgemach ward eine große, graue Öde, ohne Anfang und ohne Ende um sie her, aus der sie keinen Ausweg fand.

Hinter ihr wurde ein Geräusch laut. Ein lautes Auftrappsen und Peitschenknallen. Eine Staubwolke wirbelte auf. Dann eine plötzliche Stille und darauf der laute Anruf einer fremden Stimme.

»Na, Madamken, wie wär's denn mit 'nerkleinen Spazierfahrt?«

Gundula nickte schweigend und stieg in den Wagen. Mechanisch gab sie dem Kutscher ihre Adresse an.

Zu Haus legte sie sich zu Bett und schlief bis in den späten Nachmittag.

Als sie aufwachte, war alles Schwankende, Tastende, [174] Suchende wie ausgelöscht. Mit einem Male war es ihr klar, wo ihre Pflicht lag.

Sie kleidete sich rasch an und ging zu Ludwig hinüber, der gerade beim späten Mittagessen saß.

Sie sah verhältnismäßig frisch aus und begrüßte ihn guten Muts.

Es schien ihm vortrefflich zu schmecken. Er nickte ihr gelassen zu, ohne sich stören zu lassen.

»Na, die Marotten ausgeschlafen?«

Da sanken ihr Mut und Freudigkeit wieder.

Würde er das schwere Opfer, das sie zu bringen fest entschlossen war, nicht am Ende auch nur als eine Marotte ansehen, über die er zur Tagesordnung überging?

Sie würgte ein paar arme Bissen herunter. Der Gedanke an ihr Vorhaben erstickte sie fast.

Ludwig empfand die Stille peinlich. Wenn man schon zu zweien am Tisch saß, ein Umstand, der ihn als Regel keineswegs erbaute, so sollte doch wenigstens eine Art von Unterhaltung im Gange sein, die einem über das Gefühl forthalf, daß der andere nicht gerade stummes Unheil brüte.

»Schon in aller Frühe draußen gewesen, Gundula?«

»Ja, Lutz, es hat mir gut getan, und ich dachte es – es wäre vielleicht das Beste –«

Sein nervöses Spiel mit der Messerklinge machte, daß sie sich unterbrach. Am Ende war es auch nach Tisch noch Zeit, ihm ihren Entschluß mitzuteilen. Von heute zu morgen würde sie sich ja doch, selbst für kurze Zeit, von ihm und dem Hause nicht losmachen können.

Sie nahmen den Kaffee, wie zumeist drüben in Ludwigs Arbeitszimmer. Er saß in seinem großen, bequemen Klubsessel und hatte eine Morris angezündet. Leise und zärtlich legte sie von hinten den Arm um seinen Nacken.

[175] Erschreckt und etwas unwillig fuhr er zusammen.

»Laß, laß. Ich habe den Kopf schrecklich voll mit meinem zweiten Akt – es ist fast noch nichts zustande gekommen.«

Sie hatte den Arm langsam sinken lassen.

Sie dachte an seine heißen, leidenschaftlichen Umarmungen gestern, kurz ehe ihre Gäste kamen, und schmerzhaft zog sich ihr Herz zusammen.

Still setzte sie sich ihm gegenüber.

»Lieber Lutz, ich muß dir aber doch etwas sagen, das dich hoffentlich nicht allzusehr stören wird –«

Er seufzte resigniert auf, aber er unterbrach sie nicht wieder.

»Ich war wohl in der letzten Zeit nicht immer wie ich sein sollte. Ich habe manches schief und falsch angesehen –«

»Also eine reguläre Beichte?«

Gunde schüttelte sanft den Kopf.

»Doch nicht, eher eine Selbstanklage. Ich fühle, daß ich dich mit meinen Nerven gequält habe. Ich möchte sie auskurieren; wenn es dir so recht ist, auf ein paar Wochen allein irgendwo hingehen.«

Bei den letzten Worten hatte ihre künstliche Festigkeit sie nun doch verlassen. Tränen hatten ihren Blick verdunkelt.

So sah sie nicht, daß etwas wie eine große befreiende Erleichterung über das dunkle Gesicht des Mannes ging. Er war aufgestanden und fuhr ihr mit nachlässiger Zärtlichkeit über den gebeugten blonden Kopf.

»Bravo, Gunde. Ein vortrefflicher Entschluß. Möchtest du nach Haus?«

Sie hatte den Kopf gehoben und sah durch ihre Tränen Ludwig groß und fragend an.

»Du weißt doch – der Vater – nein, nein –« sie machte eine schwere, ablehnende Bewegung.

[176] »Auch recht. Wir wollen einen hübschen Ort überlegen.«

»Nicht zu weit, Ludwig!«

»Nein, nein – aber es gibt ja heute kaum noch Entfernungen. Das Beste scheint mir, du entschlössest dich, für ein paar Wochen in ein –« Er unterbrach sich rasch und sah sie von der Seite an. Er wußte doch nicht recht, ob er ihr ohne vorherige Rücksprache mit dem Sanitätsrat einen so rigorosen Vorschlag machen durfte.

»Wohin Lutz?«

»O nichts, Kind. Wir wollen morgen mit dem Sanitätsrat und mit Mama sprechen. Vielleicht geht Mama mit dir.«

Sie sah erschreckt zu ihm auf.

»Auf keinen Fall – nein. Eine von uns muß doch da sein, damit du deine Ruhe hast. Wenn ich nicht mit dir sein kann, bin ich auch am liebsten allein.«

Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte zärtlich.

»Du bist mir nicht böse? Du begreifst mich? Nur, nur dir zuliebe tue ich es. Ach, und es ist so bitter schwer!«

Er küßte sie leicht auf die Stirn.

»Gewiß, mein Kind, gewiß.«

Er sah auf die Uhr.

»Aber nun muß ich an die Arbeit. Vielleicht fährst du noch zu Mama hinunter und besprichst dich mit ihr?«

Gundula nickte trübe und enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß in der Aussicht auf eine so lange Trennung Ludwig ihr diesen Abend schenken würde. – – – – – – – –

Frau Hamann, die den Zustand ihrer Schwiegertochter und seine Ursachen viel klarer durchschaute als ihr Sohn, hatte eine lange, ernsthafte Unterredung mit dem Sanitätsrat gehabt. Das Resultat davon war gewesen, daß Frau Gunde für mindestens sechs Wochen ein gutgeleitetes, schön [177] gelegenes Sanatorium im Herzen Württembergs aufsuchen sollte.

Frau Hamann sowohl als der alte Arzt waren davon überzeugt gewesen, daß die junge Frau sich sehr ernsthaft gegen diesen Vorschlag sträuben, ja daß sie ihn unannehmbar finden würde.

Sie hatten sich beide durchaus getäuscht. Gundulas Wille, gesund zu werden, den geliebten Mann mehr noch als sich selbst von der Qual zu befreien, die ihre aufgeregten Nerven ihm bereiteten, war so stark in ihr, daß sie freudig in den Vorschlag des Sanitätsrats willigte, nachdem er ihr aus tiefster und ehrlichster Überzeugung die Zuversicht gegeben hatte, daß ein Sanatorium, wie das von ihm gewählte, der einzige sichere Weg zur Genesung sei.

Am dritten Mai hatte das entscheidende Gespräch zwischen Arzt und Patientin stattgefunden. Am sechsten stand Gunde reisefertig vor ihrem Gatten.

Niemals noch in den drei Jahren ihrer Ehe war sie von ihm getrennt gewesen, niemals bis vor kurzem, war ihr der Gedanke auch nur an die Möglichkeit einer Trennung gekommen. Daß sie ging war ein Opfer, dessen nur eine Liebe wie die ihre fähig war. Sinnlos vor Schmerz hing sie in seinem Arm, fühlte sie seine Küsse auf ihrer tränenfeuchten Wange. Ihr Herz schien stille stehen zu wollen, der Atem versagte ihr, kalte, eisige Todesangst schnürte ihr die Brust zusammen.

War sie denn eine Wahnsinnige, daß sie aus freien Stücken von ihm ging, sich freiwillig dazu verdammte, sein liebes, schönes Gesicht nicht mehr zu sehen, seine Stimme nicht zu hören, seine geliebte Gestalt nicht mehr umfassen zu dürfen!

Auch Ludwig war bewegt. Ihr Schmerz rührte ihn und [178] griff ihm an die Seele. Und dennoch, dennoch, er war frei, frei, sich selbst zu leben!

– – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – –

Gundula hatte darauf bestanden, ohne Begleitung zu reisen. Da weder Ludwig noch ihr Vater bei ihr sein konnten, wollte sie allein sein, allein mit ihrem Schmerz, allein mit dem ernsten Willen, ihn zu überwinden, gesund zu werden.

Wirklich schien es in der ersten Zeit, als ob diese selbstgewählte absolute Einsamkeit – denn auch im Sanatorium schloß Gunde sich niemandem an – das Richtige für ihre überreizten Nerven wäre.

Der Mai war von unvergleichlicher Schönheit, und das Bergtal wie dazu ausersehen, all seine Schönheiten zusammen zu fassen.

Auf den Wiesen und an den Berghängen standen die Obstbäume noch in voller Blüte und überwölbten das saftige Grün der weiten Matten mit ihren weißen und zartrosa Blütenkronen.

Unten am Fluß, der das Tal in seiner ganzen Länge durchströmte, schimmerte es blau von Vergißmeinnicht zwischen dem gelb und weißen Kranz üppig sprießender Wiesenblumen.

Mitten in dem lichtgrünen Buchenlaub webte zart und luftig die süßduftende Weißdornblüte. Über die Stakete der geschützt gegen die Berglehne gebetteten Gärten nickte schon die blaue Fliedertraube, und in den langen Alleen, die oberhalb des Flusses hinliefen, hatten die Kastanien ihre weißrosa Kerzenpyramiden aufgesteckt.

Die Luft ging leicht und milde. Von den tannenbestandenen Höhen wehte ein frischer, erquickender Hauch, und über all dem Maienzauber lachte golden die Sonne, wölbte sich ein lichtblauer, wolkenloser Himmel.

[179] Während der ersten Tage schritt Gunde wie verzaubert durch all die wundersame Maienschönheit hin. Sie saß am Berghang unter den blühenden Apfelbäumen und ließ ihre weißen Blütenschauer über sich hingehen.

Sie pflückte unten am Strom händevoll Vergißmeinnicht, herbduftender gelber Wiesenblumen und weißer Sternblümchen.

In träumerischem Sinnen ging sie unter den blühenden Kastanien her; sie atmete den schweren Duft der blauen Fliederdolden und hörte auf den süßen leisen Lockruf von Fink und Amsel hinter den Weißdornhecken.

Es war ein paradiesischer Friede, der sie umfing. Kein Rufen, kein Hasten, kein Lärmen. Keine Menschen, die mit Fragen und Begehren auf sie eindrangen. Kein Laut, kein Bild, das ihre empfindlich gewordenen Sinne verletzte.

Ein paar kurze Tage lullte dieser paradiesische Frieden sie wie in einen, von holden Kinderträumen sanft durchfluteten Schlaf. Dann plötzlich kam das Erwachen, furchtbar und jäh. Die Sonne verlor ihren Glanz, der Himmel blaute nicht mehr, kein Baum, keine Blume blühte, der süße Vogellockruf schien verstummt; grau, öde, leer die ganze Welt – sie war allein, fern von dem geliebten Mann.

Wo war er? Was dachte er um diese Stunde? War ihm wohl oder wehe zu Sinn? War er allein, verlassen, sehnte er sich nach ihr, wie jede Fiber in ihr nach ihm brannte, wie ihre Seele nach ihm lechzte und dürstete?

Eine eisige Angst hielt sie wie mit eisernen Klammern umkrallt. Eine leere, gräßliche, unüberbrückbare Öde gähnte zwischen ihr und der Heimat. Unerreichbar, nie wieder zu fassen, zu halten, schien sie ihr.

Sie hatte täglich an Ludwig geschrieben und während der ersten Tage täglich von ihm gehört, ein paar kurze Worte [180] nur, die freundlich nach ihrem Ergehen fragten und von dem Alltäglichen berichteten; aber es war doch ein Gruß von Tag zu Tag gewesen, etwas Wirkliches, Faßbares, das sie von ihm in Händen hielt.

Jetzt, nach der ersten Woche, schrieb er unregelmäßig; zwei, ja drei Tage lang hatte sie nichts von ihm gehört. Bei den Mahlzeiten, in Gegenwart des Arztes, verbarg sie ihre Unruhe, ihre fliegende Angst, ihre brennende Sehnsucht. Aber kaum, daß sie aus dem Bereich des Sanatoriums war, an das kein ärztlicher Richtspruch sie in irgend einer Weise band, eilte sie dem Postboten entgegen, trieb sie's auf das entfernt gelegene Postamt, um zu fragen, ob wirklich kein Brief, keine Botschaft für sie angelangt sei.

Als sie am vierten Tage nichts von Ludwig gehört hatte, sandte sie ihm ein trauriges, geängstigtes Telegramm.

Sie wäre am liebsten draußen auf dem Bahnhof geblieben, wo sie sich der Heimat und dem Geliebten am nächsten fühlte, und hätte dort auf Ludwigs telegraphische Antwort gewartet, aber es war Essenszeit, und sie wollte durch ihr Ausbleiben dem Arzt keine Veranlassung geben, ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Traurig und gedrückt schlich sie zurück.

Die Sonne, die sie anfangs so erfreut hatte, schien ihr stechend und heiß zu sein. Der lange Weg unter den Kastanien staubig und ermüdend.

Man saß schon bei Tisch, als Gunde in den Eßsaal trat. Ihre Nachbarin, eine Frau in den Dreißigen, sah teilnehmend zu ihr hin. Die stille, sanfte Frau gehörte zu den wenigen Kranken, die nicht ausschließlich mit sich selbst und ihren Leiden beschäftigt waren. Mit ihrer leisen, wohltuenden Stimme fragte sie Gunde, ob ihr nicht wohl sei, ob sie ihr in irgend etwas helfen könne.

[181] Gunde schüttelte den Kopf, aber sie konnte es nicht hindern, daß ihr schwere Tropfen in die Augen traten. Die andre nickte ihr verstehend zu.

»Heimweh! Ich kenne das. Arme kleine Frau! Ich habe meine zwei Mädchen und einen kleinen vierjährigen Buben zu Haus. Vier Wochen schon! Keinen Augenblick läßt mir die Sorge um sie, die Sehnsucht nach ihnen Ruh.«

Ein kleines sarkastisches Lächeln spielte um ihren hübschen weichen Mund.

»Aber die Ärzte behaupten ja, daß man nur fern von den Seinen die Nerven ausruhen könne! Nun ist's bald überstanden. Gott sei Dank, in zwei Wochen bin ich wieder daheim.«

Langsam und stockend, mit ihren Gedanken die Minuten zählend, bis das Telegramm von Ludwig da sein konnte, rechnete Gunde der teilnehmenden Fremden vor, daß ihre Verbannung mutmaßlich noch vier und eine halbe Woche dauern würde, falls sie es so lange ertrüge.

»Nun, sie vergehen auch«, meinte die Fremde tröstend, »wenn es auch hart und schwer ist.«

Gunde hörte nicht mehr auf sie.

Der Telegraphenbote war in den Saal getreten. Er schritt geradeswegs auf den Arzt zu, der ihm die Telegramme abnahm.

Gunde bebte an allen Gliedern. Die Farbe kam und ging in ihrem schmalen ernsten Gesicht. Krampfhaft hielt sie die Hände unter dem Tisch verschlungen.

Der Arzt hatte eines der Telegramme, das an seine persönliche Adresse gerichtet war, erbrochen. Die beiden andern schickte er durch eines der aufwartenden Mädchen an ihre Empfänger an das obere Ende der Haupttafel, der er präsidierte.

Starren Auges hatte Gunde dem Mädchen nachgeblickt. [182] Der Telegraphenbote war längst aus dem Saal verschwunden. Keine Botschaft von dem Geliebten! Kein Gruß! Kein Wort!

Trotz des wundervollen Nachmittags verließ Gunde ihr Zimmer nicht.

Sie hatte sogar die Fenster geschlossen, damit nicht etwa das Vogelgezwitscher in den Bäumen ihr ein Geräusch verschlänge, das Hoffnung auf irgend eine Nachricht von Ludwig gab.

Niemand klopfte an ihre Tür. Nichts und niemand fand den Weg zu ihr.

Am nächsten Morgen kam ein Brief von ihrem Mann. Er schrieb in vortrefflicher Stimmung, ohne des Umstandes auch nur Erwähnung zu tun, daß er Tage hatte vergehen lassen, ohne Nachricht zu geben.

Die Arbeit ging vorwärts. Minna stand dem Haushalt vortrefflich vor. Die Mama kam nur, wenn sie gerufen wurde, und das passierte selten genug.

Gunde hätte zufrieden sein dürfen. Es ging ihm gut! Es war für ihn gesorgt! Die Arbeit, die so notwendige Arbeit, um die sich alles drehte, die Regen und Sonnenschein im Hause machte, schritt rüstig vorwärts. Was also wollte sie mehr? Warum tat ihr der mit heißer Sehnsucht erwartete Brief so weh, daß sie den Schmerz, den er ihr bereitete, körperlich in allen Gliedern fühlte?

Gleich nach dem Frühstück war sie hinuntergegangen an den Fluß.

Rastlos ging sie auf dem schmalen Wiesensteig hart am Ufer auf und nieder und sah mit leerem, trostlosem Blick in die rinnende Flut.

Wie eine der vielen kleinen, eilenden Wellen kam sie sich vor, die nirgend eine Heimat hat. Vorwärts getrieben von [183] Stein zu Stein, seitwärts gegen den Uferrand geschleudert, rückwärts geschlagen durch einen Windstoß aus heiterm Himmel, rast- und ruhelos aus ihrem Lauf getrieben, bis am Ende das Meer sie verschlingt und in seinen grundlosen Tiefen begräbt, eine von den ungezählten Millionen, die es verschlingt, von denen nichts übrig bleibt, und die doch einmal frisches, überschäumendes Leben hatten.

Gunde saß auf einem der großen flachen Steine nieder, gegen die die kleinen Wellen glucksend anrauschten.

Sie hatte den Kopf in beide Hände vergraben und grübelte ohn' Unterlaß.

Vielleicht war alles, was sie zwischen den Zeilen gelesen, nichts als krankhafte Einbildung. Vielleicht schrieb er nur so ruhig und zufrieden, um ihr selbst die so notwendige Ruhe für ihre Genesung zu geben! Vielleicht vermißte er sie gerade so schmerzlich wie sie ihn vermißte, nur daß er wie immer der Stärkere war, der Macht und Willen besaß, seiner Gefühle Herr zu sein. Vielleicht – – –?

– – – – – – – – – – – – –

Der schöne Ludwig lag in seinem bequemen Stuhl, drehte eine Zigarette zwischen den Fingern und dachte über einen dritten Schluß für den zweiten Akt nach, da sein neuestes kritisches Gewissen, der kleine Fehling, den zweiten Schluß ebenso rücksichtslos verworfen hatte wie den ursprünglich ersten.

Ab und zu griff Hamann nach einem neben ihm stehenden Teller mit köstlichen frischen Erdbeeren, bis er sich allgemach mehr und mehr dieser bequemen Beschäftigung hingab, Aktschluß Aktschluß sein ließ und in einen angenehmen träumerischen Zustand verfiel.

Er dehnte und reckte sich und genoß in vollen Zügen das Behagen, sein eigener Herr zu sein. Er ging und kam, wenn [184] es ihm beliebte, ohne jemand darüber Rechenschaft geben zu müssen.

Er schlief und aß, wenn ihn gerade danach gelüstete, er arbeitete, wenn ihn eben die Laune dazu trieb, nicht mehr an bestimmte Stunden gebunden wie in den letzten drei Jahren, seit er die reizende Gundula Eisemann geheiratet hatte und immerhin eine bestimmte Tageseinteilung nötig geworden war.

Es war nicht das erste Mal, daß Hamann darüber nachdachte, wie er eigentlich dazu gekommen war, das liebe hübsche Geschöpf zu seiner Frau zu machen.

Er war in sie verliebt gewesen, das war ganz klar, wie er es eben heute noch dann und wann auf Augenblicke war. Aber am Ende – sie war nicht die erste und einzige gewesen! Weshalb hatte er früher nie daran gedacht zu heiraten, wenn ihn das Verliebtsein mal gepackt hatte, weshalb hatte es gerade Gunde sein müssen?

Wie so manches Mal wäre er sich auch heute recht gern die Antwort auf diese unbequeme Frage schuldig geblieben, die ihn ganz plötzlich aus seinem angenehmen Behagen gerissen hatte, aber irgend etwas, ihm Unerklärliches zwang ihn gerade heute dazu, ihr nachzugehen. Nervös und irritiert geworden, rückte er auf seinem Stuhle hin und her, warf die angebrannte Zigarette auf den Teppich und bemerkte es erst, als ein unangenehmer brenzlicher Geruch zu ihm aufstieg. Da sprang er auf und trat die kleine schwelende Glut heftig mit dem Fuße aus.

Hätte man so dem und jenem, der Hauptsache, ein Ende machen können!

Er seufzte gepreßt auf.

Mit finster gefalteten Brauen saß er da.

Aber er mochte sich drehen und wenden wie er wollte, er kam nicht wieder von der Frage los, die ihm mit peinigender [185] Gewalt nah und näher rückte: Weshalb hatte er in jenen Goethetagen aus dem kurzen holden Schäferspiel gleich Ernst gemacht? Weshalb hatte der Kuß, den er unter den alten dunkeln, schattenden Bäumen des Weimarer Parks auf Gundes junge, blühende Lippen gedrückt, ihm gleich den Verlobungskuß bedeuten müssen?

Er hatte vor Gundula Eisemanns frischem rotem Mund viel liebe schöne Mädchenlippen geküßt. Niemals zuvor war es ihm in den Sinn gekommen, daß solch ein Kuß ein bindendes Verlöbnis enthalte. Warum gerade bei ihr?

Mühsam und schwer kam dem schönen Ludwig die kurze Antwort auf diese lange Frage: Gundula Eisemann war eben eine andere als alle, die er zuvor geküßt. Daß sie es war, hatte ihm ein kurzes heißes Glück und darauf ein langes peinvolles Unbehagen gebracht.

Ihre starke, volle Natur, der hohe sittliche Ernst, der ihn, ohne daß er es gewollt oder gewußt, dazu gezwungen hatte, aus dem holden Liebesspiele Lebensernst zu machen, hatte ihn als etwas Neues, nie Gekanntes auf kurze Zeit entzückt und in Bann geschlagen. Dann war die Ernüchterung, so etwas wie ein großer Schrecken über ihn gekommen.

Die volle, reine, starke Natur, die unbedingte Hingabe, die nichts von der Welt verlangte als einzig ihn selbst, war ihm zu einer unerträglichen, schwerlastenden Qual geworden. Ihre gerade Ehrlichkeit, die kein Umherdeuteln an den Dingen kannte, zu einem stummen, peinigenden Vorwurf. Ihre keusche Weltfremdheit, die ihn als etwas Gegensätzliches zu all den Frauen und Mädchen, die seinen Weg gekreuzt hatten, unwiderstehlich angezogen, zu einer unbequemen Zugabe, die ihn hemmte und störte.

Was sollte er auf Lebenszeit mit einer Frau anfangen, die nie einen andern Mann ansehen würde als ihn? Wie [186] sollte er Karriere machen, wenn seine Frau es mit allen Menschen verdarb, die das Leben von einer andern Warte her betrachteten als sie? Was sollte werden, wenn sie nicht begreifen wollte, daß es nicht nur eine große gerade Straße, sondern tausend kleine verschwiegene und verwinkelte Gassen und Nebenwege zum Ziele gab?

Seine Erfolge waren nicht mehr die gleichen als vor drei, vier Jahren.

Seit er zum erstenmal seit seiner Eheschließung wieder allein war, war er mehr denn je geneigt, den Rückgang, den er sich weniger eingestand, als daß er ihn zuweilen dunkel fühlte, einzig Gundula zur Last zu legen.

Wenn er es auch ihr gegenüber behauptete, schaffte er jetzt, da er zeitweise wieder allein war, auch nicht mehr und nichts Besseres als in ihrer Gegenwart. Aber das Gefühl von Freiheit, das rücksichtslose Sichgehenlassenkönnen würde die flotte Arbeitsfreudigkeit schon wieder bringen. So mußte er trachten, lange – immer frei zu sein.

Plötzlich stand es vor ihm da, unausweichbar, riesengroß. Er wollte, er mußte seine Freiheit wieder haben. Kein Bedenken, keine Rücksichten ließ er aufkommen.

Er vergaß, daß er die kernfrische Gundula durch seine anspruchsvolle Rücksichtslosigkeit, durch seinen krassen Egoismus, durch das fremde, laute, neue Leben, in das er sie unvermittelt eingeführt, zu einer übersensitiven Frau gemacht hatte, die jeder Rücksichtnahme bedurfte, die ihm das, von ihrem Standpunkt aus ungeheure Opfer gebracht hatte, sich von ihm zu trennen, um gesund zu werden, ihm zuliebe, seinen Ansprüchen zu genügen. Er vergaß die Liebe, die sie ihm geschenkt, die Leidenschaft, mit der er von ihr gefordert hatte.

Wie von einer fixen Idee beherrscht, sah er nur das eine Ziel vor Augen: wieder frei sein!

[187] Auch er würde Opfer bringen müssen, denn seine Zuneigung zu ihr hatte niemals ganz aufgehört, aber was wogen sie im Vergleich zu der Zukunft, die sich vor ihm eröffnete.

Vielleicht auch brauchte er sie nicht ganz zu verlieren! Vielleicht konnten sie gute Freunde bleiben, wie so manches geschiedene Paar im Getriebe der Weltstadt blieb, wo keiner dem andern so genau auf die Finger sah. Er rechnete mit Gundes großer Liebe zu ihm, die groß genug sein würde, eine Trennung ohne Feindschaft zu ermöglichen.

Äußerlich sollte es ihr an nichts fehlen. Wenn seine Mutter auch ihm nur mit vielleicht gerechtem Murren gab, für Gundula hatte sie immer ein warmes Herz gehabt. –

Es war ein Tag um Ende Mai gewesen, daß der Gedanke an seine Freiheit zuerst in dem schönen Ludwig aufgestiegen war. Seither waren Tage vergangen. Gunde war in der vierten Woche von Hause fort.

Ihre Briefe verrieten Unruhe und Sehnsucht. Er durfte den geplanten Zeitpunkt der Heimkehr nicht zu nahe kommen lassen; es wurde Zeit, ihr zu sagen, was gesagt werden mußte.

Zuerst hatte er daran gedacht, selbst zu ihr zu fahren, oder sich irgendwo mit ihr zu treffen, um sich Auge in Auge mit ihr auseinanderzusetzen. Dann aber, bei näherem Überlegen war ihm der Mut dazu abhanden gekommen.

Er fürchtete sich vor ihren Tränen, ihrem Schmerz, ja vor ihrer möglichen Verzweiflung. Aber er fürchtete sich auch vor sich selbst. Nachdem sie wochenlang nicht beieinander gewesen, wer weiß, ob der Liebreiz ihrer Person ihn nicht überwältigte, er dem Reiz des Augenblickes unterliegend, sich nicht aufs neue band.

Seine letzten Briefe waren karg, kurz und kühl gewesen. Er wollte nicht wieder einreißen, was er an Schranken künstlich zwischen ihnen aufgebaut hatte.

[188] Seit zwei Tagen regnete es ununterbrochen, während der Mai bisher sein holdestes, lachendstes Gesicht gezeigt hatte.

Die stillen, regenschweren Tage, da ihn nichts herauslockte, hätten gute Arbeitszeit gegeben, wären die Gedanken an das Unausbleibliche nicht gewesen. Ludwig fühlte, es war höchste Zeit, ein Ende zu machen.

So setzte er sich hin und schrieb, oder vielmehr er versuchte zu schreiben, denn die Feder wollte ihm nicht vom Fleck. Wer weiß, ob es nicht doch am Ende leichter gewesen wäre zu sprechen! Aber dann sah er Gundes sanfte blaue Augen forschend auf seinem Antlitz ruhen. Nein, das wäre noch weniger gegangen.

Am nächsten Mittag begann er aufs neue. Er hatte einen unruhigen Morgen voller Verdrießlichkeiten und Störungen hinter sich. Am Telephon Mißverständnisse und Unterbrechungen, eine Einladung seiner Mutter mit Menschen, die ihm absolut nicht paßten, die Anfrage einer Besprechung auf der Redaktion der »Illustrierten« zu einer Zeit, die ihm ganz und garnicht gelegen war, endlich den Kontrakt seines neuen Verlegers, angefüllt mit kleinlichen, unerfüllbaren Bedingungen.

Es war ein Morgen beinahe so störend und verworren gewesen, als wenn Gunde wieder heimgekommen wäre, nur daß ihr guter, ungeschickter Wille die Dinge nur verworrener und lärmender gestaltet haben würde und ihn wohl oder übel in den Mittelpunkt der Aktion gedrängt hätte.

Unter diesem Eindruck, der den brennenden Wunsch nach Ruhe und Freiheit wieder doppelt rege gemacht, hatte er sich zum Schreiben niedergesetzt. Heut stockte die Feder nicht. Seite um Seite, Bogen um Bogen füllte sie an.

Als er geendet, kam ein Gefühl selbstzufriedener Ruhe über ihn. So dargestellt mußte Gundula einsehen, daß es [189] keinen andern Ausweg gab. Seit lange war ihm nichts so gelungen als dieser Brief. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Auch im Bergtal war der Regen gefallen, wenn auch nicht so stromweis und unaufhörlich. Auch hatte er kein so häßliches Bild von trüben, stehenden Pfützen, herabgewehten Zweigen und Blütendolden hinterlassen.

Die Wasser hatten sich schnell bergab verlaufen, und Bäume, Blütenbüsche und die in buntem Flor stehenden Blumenbeete und Rabatten leuchteten nur smaragdener, zartfarbiger, schmelzender noch unter dem wieder blauenden, strahlenden Himmel.

Gundula war während der letzten Tage ruhiger und zuversichtlicher geworden. Zwar kamen Ludwigs Briefe nicht häufiger, noch waren sie herzlicher gefaßt, aber die Trennung ging ja bald zu Ende, das Wiedersehen lachte und lockte, und mit dieser Aussicht war alles, auch das Härteste leichter zu ertragen.

Durfte sie ihn erst wieder liebend umfangen, sahen sie wieder Auge in Auge, hielt sie wieder seine geliebte Hand, suchten seine Lippen wieder zärtlich die ihren, dann würde auch vergessen sein, was er ihr während der harten Trennung angetan hatte.

Weshalb, darüber freilich grübelte sie vergebens! Ab und zu kam ihr der Gedanke, daß Ludwig mit seinen kargen, unzärtlichen Grüßen etwa ihre Genesung unterstützen und fördern wolle, daß er sie dazu erziehen wollte, sich kräftiger auf sich selbst zu stellen.

Öfters hatte er es ausgesprochen, daß die innere Abhängigkeit, in der sie von ihm lebte, nichts mit der Liebe zu tun habe, daß sie entschieden als etwas Krankhaftes betrachtet werden müsse, das keinem von ihnen zum Heil gereiche.

[190] Wenn Gunde so dachte, lächelte sie ein wenig schmerzlich und überlegen zugleich. Sie mochte gut gemeint sein, diese harte Erziehungsmethode, aber helfen würde sie ganz gewiß nichts. Der Liebe zu ihm war sie mit Leib und Seele verfallen. Nichts und niemand würde es ändern können, daß alle Freude, alles Leid, alles Erhebende und Niederdrückende, das heißeste Glück und die tiefsten Schmerzen ihr lebenslang aus dieser einen einzigen Quelle flossen.

Und war es nicht ihr gutes Recht, ja ihre Pflicht so? War er nicht ihr Gatte, mit dem eins zu sein sie vor Gott und dem Gesetz geschworen hatte, den ihr nichts und niemand rauben konnte als der unerbittliche Tod, als Gottes Wille, gegen den es kein Trotzen und kein Bitten gab.

Auch das Gedenken an ihren Vater, dem sie in den vielen stillen und einsamen Stunden nachzuhängen Muße hatte, erfüllte sie jetzt mit Freudigkeit und zuversichtlicher Kraft.

Bald würde die Stunde kommen, da sie gesund und aller Zweifel, allen Kleinmutes bar würde vor ihn hintreten können und ihm sagen: Vater, ich habe mich durchgerungen. Ich bin heimisch geworden in der fremden Welt. Ich weiß, wo mein Platz und meine Pflicht ist, du darfst mir dann und wann Ruhstatt gönnen im Vaterhaus.

Ein glückliches Lächeln umspielte ihren schönen weichen Mund, wenn sie daran dachte, wie zufrieden der Vater mit ihr sein würde, und sein Herz jeder Sorge um sie ledig. Wie er ihr die Hand auf den Scheitel legen und sie mit seinen ernsten Augen gütig ansehen würde.

Sie hörte schon den Jubel der Kinder, wenn sie ihre Älteste einmal wieder hätten. Sie sah sich Hand in Hand mit ihnen durch den Garten laufen und die alten Lieblingsplätze wieder suchen. Sie hörte ihre lachenden hellen Stimmen, [191] mit denen sie von ihren kleinen unschuldigen Erlebnissen erzählten.

Die Seele wurde Gunde weit bei dem bloßen Gedanken an diese harmlosen, herzerquickenden Freuden.

Eine leise Wehmut warf dann wohl auch inmitten des Sonnenscheins der Freude ihren Schatten über sie hin. Beklommen fragte sie sich, weshalb es ihr nicht vergönnt sei, ein kleines Wesen in diesen holdvertrauten Kreis einzuführen als jüngsten Sproß der kräftig grünenden Reiser, ein eigenes liebes Kindchen, Ludwigs und das ihre!

Aber die Wehmut hatte nicht lange Bestand. Sie war so jung, noch kaum zweiundzwanzig Jahre, der Himmel mochte ihr diesen Segen noch vorbehalten!

Auf der großen Wiese hinter dem Garten ging Gunde auf und nieder mit ihren guten, freudigen Gedanken. Die Obstbäume hatten abgeblüht, aber drüben an den Hecken sprangen die ersten Rosenknospen auf. Wenn sie in Blüte standen, würde sie wieder daheim sein. Zwei zitronengelbe Falter jagten dicht vor ihren Augen über die Wiese, in zierlichem Liebesspiel suchten und fanden sie sich.

Maiensonne, Liebesglück! Hatten sie nicht von je zu einander gehört!

Ein kleiner Marienkäfer kroch an Gundes weißem Kleid herauf. Am Spitzenärmel erst machte er Halt und schien verwundert in das zarte, weiche Gekraus zu sehen. Gunde lachte. Jetzt erst bemerkte sie, daß sie Ludwigs Lieblingskleid trug. Gedankenlos hatte sie es heut morgen aus dem Schrank genommen.

Drüben von dem kleinen, spitzen Kirchturm schlug es zehn. Es war Postzeit. Mit aller Macht hatte Gunde sich dagegen gewehrt, sich mit ihren Hoffnungen und heißen Wünschen an diese Stunde und ihre zwei Nachfolgerinnen [192] zu klammern, die Grüße von Ludwig zu bringen vermochten.

So viel hatte sie sich auch jetzt in der Gewalt, daß sie dem Postboten nicht mehr entgegenlief, nicht mehr in atemloser Spannung darauf wartete, ob er ihr eine ersehnte Botschaft brächte. Ja, zuweilen hatte sie es sogar über sich vermocht, während der Postzeit auf einen kurzen Spaziergang von Hause fort zu sein. Aber daß ihr Herz rascher schlug, all ihre Nerven sich anspannten, all ihre Gedanken in der einen Frage zusammenliefen: »Wird er geschrieben haben, und wie wird der Inhalt seines Briefes sein?« dagegen konnte sie nicht an. Auch heute wandte sie sich, trotz ihrer frohen Stimmung nach dem Hause zurück, kaum, daß die Kirchturmuhr zu schlagen angefangen hatte.

Dann blieb sie auf halbem Wege stehen. Wenn der Postbote auch heute nichts brachte, nach so viel Tagen nicht, weshalb dann vor andern das Schauspiel einer Enttäuschung geben?

Nein, sie wollte warten bis man ihr brachte, was für sie eingegangen war.

Auf der Wiese nahe dem Gartenstaket stand unter einem breitästigen Hollunderbusch eine alte hölzerne Bank, ganz schief und halb eingefallen von langem Gebrauch.

Auf der saß Gunde nieder und zwang sich, das Spiel der Falter weiter zu verfolgen, die in dem hellen warmen Sonnenschein noch immer einander lockten, suchten und fanden und wieder auseinander flatterten.

Leise knarrte das Gartentor. Mit raschem, frohem Schritt eilte Gundes Tischnachbarin auf die Bank in der Wiese zu. Ihr Aufenthalt im Sanatorium hatte sich noch um ein geringes verlängert. Mann und Kinder wollten kommen, sie heimzuholen. Sie hielt einen großen weißen Briefumschlag [193] in der Hand, der in der hellen Sonne gleißte und glänzte.

Gunde sprang auf und eilte ihr entgegen. Ihre Augen leuchteten. Ihr zartes Gesicht war von einem hellen Freudenrot übergossen.

»Ein langer, dicker Brief von daheim, liebe Frau Hamann, Ersatz für alles, was Sie während der letzten Tage vermißt.«

»Dank, Dank!«

Gunde preßte aufgeregt die Hand, die ihr den Brief reichte. Aber ehe sie noch weiter sprechen konnte, war die kleine stille Frau schon über die Wiese zurückgegangen.

Erst als sie hinter dem Gartenstaket verschwunden war, riß Gunde den Briefumschlag voneinander. Drei eng beschriebene Bogen fielen ihr entgegen. Ihr schwindelte vor Glück. Mit leisen, zärtlichen Fingern strich sie liebkosend über das Papier, auf dem seine Hand, seine Augen geruht hatten.

Dann begann sie zu lesen mit leuchtendem, strahlendem Blick.

Plötzlich, nach ein paar Sätzen, entsank das erste Briefblatt ihrer Hand. Mit bebenden, fliegenden Fingern fuhr sie über Stirn und Augen. Etwas Irres, Wirres, ungläubig Suchendes flatterte um ihren Mund.

Dann bewegte sie leicht abwehrend den Kopf und nahm das Blatt von ihrem weißen Schoße wieder auf, auf den sie es achtlos hatte sinken lassen.

Sie fing aufs neue zu lesen an. Der Atem stockte ihr. Die Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen. Aber sie las, fort und fort, Satz um Satz, Seite um Seite, Bogen um Bogen, ohne Bewegung, ohne Laut, bis zu Ende.

Dann saß sie da, versteinert, starr und grau. Die Augen erloschen. Die Hände wie tot am Leibe herabhängend.

[194] Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Die Zeit stand still. Die Erde kreiste nicht mehr. Alles Lebendige war tot und ausgelöscht vor diesem unfaßbar Fürchterlichen: Ludwig sagte sich von ihr los! Der Gatte von der Gattin! Freiwillig, ohne Not, zerriß er ein Band, das, wie Gundes Einfalt ihr vorgespiegelt, nur der Tod zu zerreißen imstande war!

Schlief sie und träumte mit offenen Augen, im hellen Mittagslicht einen gräßlichen Traum, oder war die Nacht des Wahnsinns plötzlich über sie gekommen? Fieberschauer gingen über sie hin und schüttelten sie. Dichte schwarze Schleier webten vor ihren Augen.

Sie riß sich in die Höhe, empor aus ihrer Starrheit, und fuhr mit den Händen empört durch die Luft! Sie wollte Klarheit. Nichts und niemand sollte sie am Narrenseil halten.

Sie legte beide kalte, starre Hände ein paar Sekunden lang über die glühenden Augen. Die schwarzen Schleier waren verschwunden.

Über die Wiese hin lachte golden der Tag.

Sie wachte, sie war bei Sinnen.

Sie nahm die Blätter wieder auf, die neben ihr auf der alten grauen, morschen Bank lagen. Sie fing aufs neue zu lesen an. Ihre blassen Lippen sprachen stockend die Worte, ihre trüben Gedanken gingen tastend den Begriffen nach.

»– – – – – Ich hoffe, Dir nicht allzu wehe zu tun. – – Glaube mir, es ist für uns beide besser so – Es war ein Unrecht gegen mich selbst, mich zu binden – Dichter müssen frei sein, wenn sie schaffen wollen. –

Schon Ibsen sagt: Der stärkste Mann ist der, der allein steht – – Du bist noch jung – das Leben liegt vor Dir – [195] auch gibt es für große Seelen so etwas wie Freundschaft – wenn Du willst. –«

Sie hatte die Zähne tief in die Lippen gegraben, um den Schrei zu ersticken, der aus der vertrockneten, zusammengepreßten Kehle drängte. Ein Blutstropfen sprang hervor und rann über ihr weiches weißes Kinn in das Spitzengekraus ihres weißen Kleides – Ludwigs Lieblingskleides.

»Freundschaft!« Ein verzweifeltes Lächeln irrte um ihren Mund. Wasser und Brot statt süßer, lockender Speise! Graue Öde statt blühenden Lebens!

Freundschaft statt einer Liebe, die ihr ganzes Sein durchströmte, ihm Leben gab, einer Liebe so groß und stark, daß nichts und niemand sie auszulöschen vermochte als der eine Stärkere – der Tod.

Lange Minuten blickte sie vor sich hin, still, geradeaus, ins Nichts.

Dann plötzlich errötete sie dunkel und heiß.

Etwas Neues kam über sie: ein Gefühl brennender, rasender Scham.

Konnte der Mann, der seine Frau aufgab nur um seiner Ruhe, seiner Bequemlichkeit halber, diese Frau jemals wahrhaft geliebt haben, mit jener großen, einzigen Liebe, die alles, auch das Körperliche, adelt und erhebt?

Und was war dann sie, daß sie sich einem Manne hingegeben, der sie nur mit den Sinnen, in Augenblicken des Rausches begehrt hatte?

Immer brennender deckte die Glut ihre Wangen. Die verletzte Keuschheit schrie in dem gekränkten Weibe gegen ihren Beleidiger auf.

Nur eines gab es, das diesen Fleck auf ihrer Ehre auszulöschen imstande war.

Gundula raffte die Blätter zusammen, steckte sie in den [196] Umschlag und erhob sich von der grauen morschen Bank. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Mit Mühe nur gehorchten sie ihrem Willen.

Langsam ging sie durch die Wiese auf das Gartentor zu. Ohne daß sie jemand bemerkte, schritt sie durch den kühlen Flur über die schmale Treppe in ihr Zimmer. Lautlos verriegelte sie es hinter sich. Dann sank sie auf den Stuhl neben ihrem Bette nieder.

Lange saß sie so mit geschlossenen Augen, nun wieder bleich bis in die Lippen. Lange Minuten, Stunden. Sie hatte Zeit, und nichts mehr zu versäumen. Es gab nur ein Geschäft noch für sie auf der Welt. Der Schall der Glocke, die zum Essen rief, drang nur dumpf an ihr Ohr.

Nach einer kleinen Weile klopfte es an ihre Tür. »Liebe Frau Hamann – es ist Essenszeit. Kommen Sie nicht herunter?«

Der Name, bei dem die kleine Frau sie rief, klang ihr wie Hohn und Spott im Ohr. Ein bitteres, ätzendes Lachen drängte über ihre Lippen.

Aber sie bezwang sich. Still und lautlos mußte sie ihr Geschäft verrichten, sollte sie nicht zur Unzeit daran verhindert werden. So antwortete sie scheinbar heiter:

»Ich bin todmüde von dem warmen Morgen, liebste Frau, und habe mich ein bißchen niedergelegt. Bitte entschuldigen Sie mich.«

»Recht so, ruhen Sie aus – dann also auf Wiedersehen zum Abend.«

»Zum Abend – ja.«

Als die Tritte vor ihrer Tür sich verloren hatten, schluchzte Gunde laut und bitter auf. Dann raffte sie sich zusammen. Ein paar Stunden noch mußte sie Herr ihrer Gedanken und Taten bleiben.

[197] Sie nahm ihre kleine Briefmappe aus der Lade, zog einen Bogen heraus und begann an ihren Vater zu schreiben, fest, ruhig, besonnen. Etwas von seinem starken Geist schien in ihr lebendig geworden zu sein. Sie erbat seine Verzeihung und seinen Segen. Sie dankte ihm für alles Gute, das er lebenslang an ihr getan. Sie sagte ihm Lebewohl auf ewig, so Gottes Barmherzigkeit ihnen nicht ein Wiedersehen im Jenseits beschiede. – – – »Mißverstehe mich nicht, geliebter Vater, in dieser meiner letzten Stunde. Nicht, daß ich ihn verloren habe, treibt mich fort, sondern die bittere Erkenntnis, daß er mich niemals geliebt hat mit jener ernsten, großen Liebe, die das Eheleben heiligt, die brennende Scham, mich einem Manne hingegeben zu haben, der diese Liebe nie gefühlt, das Be wußtsein, daß mich von dieser Scham nichts zu befreien und zu lösen vermag als der Tod.

Und nun noch eine Bitte: ziehe ihn nicht zur Rechenschaft. Seine Welt ist eine andere als die unsere. Ich fürchte, Du wirst sie ebenso wenig begreifen lernen als ich es jemals gelernt hätte. Aber gerade Du, geliebter Vater, hast mich gelehrt, nicht zu verurteilen, wo man nicht begreift. Vielleicht, ja gewiß hat auch diese Welt ihre Berechtigung so gut wie die unsere, würde sie sonst bestehen?

Lebewohl. Ich küsse in Dankbarkeit und Liebe Deine Hände und flehe auf Dich und die geliebten Geschwister Gottes reichsten Segen herab.

In Zeit und Ewigkeit

Eure Gundula.«


Als die Dämmerung hereinsank verließ Gundula lautlos das Haus.

Unter den dichten Kastanien auf dem Wall oberhalb [198] des Flusses dunkelte es bereits. Sie schritt zwischen den Stämmen hindurch, rasch und leise, bis zu dem kleinen Wiesenpfad, der abwärts zu den großen abgeplatteten Steinen am Stromufer führt.

Von dem schmalen Steig am Ufer sah sie hinab in die dunkle, rinnende Flut, auf die kleinen eilenden Wellen, die von Stein zu Stein trieben, bis ein Ungefähr sie seitwärts gegen das Ufer schleuderte, oder ein Windstoß sie rückwärts schlug, daß sie rast- und ruhelos aus ihrem Lauf getrieben wurden.

Um ein paar hundert Schritte ging sie den Fluß hinauf bis zu der Stelle, wo die großen Steine bis weit hinein ins Flußbett führen. Drüben hinter den dunklen Bergen war der Mond aufgegangen, eine schmale Sichel nur, die wie ein Silberschiffchen im dunkeln Blau des Himmelsäthers schwebte, ohnmächtig ihren Strahl über das blühende Bergtal auszugießen, das in stillem, dunkelndem Frieden wie träumend lag.

Hinter der Hecke, die das Wiesenland unten am Fluß gegen den aufsteigenden Wall begrenzte, schlug eine Nachtigall. Sie schlug in langen, süßen, schluchzenden Tönen, die Gunde durch die Seele schnitten.

Sehnsucht! Liebe! Riesengroß brannte die Scham in ihr auf und würgte ihre keusche Seele.

Sie trat von dem Wiesenpfad fort auf die Steine hinaus, weiter schritt sie, bis die kleinen glucksenden Wellen größer wurden und trotziger und begehrlicher gegen die Steine rauschten.

Einen einzigen langen, fragenden Blick warf sie über das im Frieden schlafende Tal. Ihre Seele fragte, ob auch sie ihn finden würde, diesen Frieden, der alles Menschliche, alles Irren und Wirren, alles Glück und Leid, jede Schmach [199] und jede Sünde tilgt, wenn sie den letzten irdischen Schritt getan haben würde!

Langsam ließ sie vom Stein sich niedergleiten. Ein jäher, grausiger Schauder überfiel sie, als sie das strömende, eiskalte Naß an ihrem Leibe fühlte.

Mit einem leisen Jammerruf griffen ihre Hände klammernd zurück an den rettenden Stein.

Eines Augenblickes Länge nur.

Was wollte sie dort? Was trieb sie wieder erdenwärts? Suchte sie nicht den Frieden, die Sühne, die nur der Tod ihr zu geben vermochte?

Mit geschlossenen Augen glitt sie langsam hinab, ohne Laut, still, stumm, klaglos.

Zweimal noch tauchte in dem grauen Dämmer über dem Fluß ihr blondes Haupt, ihr weißes, lang nachschleppendes Gewand auf, dann nahmen sie sie mit fort die raschen, eilenden Wellen und begruben sie in den grundlosen Tiefen, eine von den ungezählten Millionen, die die Flut verschlingt, bis nichts von ihnen übrig bleibt, und die doch einmal frisches, überschäumendes Leben hatten.


Notes
Erstdruck: Berlin (R. Eckstein Nachf.) [1905]. Der Text folgt der zweiten, um eine vierte Novelle vermehrten Ausgabe: Berlin (Gebrüder Paetel) 1907.
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TextGrid Repository (2012). Duncker, Dora. Jugend. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-882F-9