Am zweiten Weihnachtstage
(Stephanus)

»Jerusalem! Jerusalem! die du tötest die Propheten, und stein'gest die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich dich versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und du hast nicht gewollt! Siehe! euer Haus wird euch wüste gelassen werden, denn ich sage euch, ihr werdet mich von nun an nicht mehr sehen, bis ihr saget: 'Gebenedeit ist der da kömmt im Namen des Herrn!'« – Und die Zeugen legten ihre Kleider ab, zu den Füßen eines Jünglings, der Saulus hieß.


Jerusalem! Jerusalem!
Wie oft erschollen ist sein Ruf;
Du spieltest sorglos unter dem
Verderben, unter Rosses Huf
Und Rades Wucht, schau! darum ist
Verödet deine Stätte worden.
Und du ein irres Küchlein bist,
Sich duckend unter Geierhorden.
Vorüber ist die heil'ge Zeit,
Wo deinen Sinnen er bekannt
Und seiner Wunder Herrlichkeit
Zieht nur als Sage durch das Land.
Der Weise wiegt sein schweres Haupt,
Der Tor will dessen sich entschlagen,
Und nur die fromme Einfalt glaubt
Und mag die Opfergabe tragen.
O bringt sie nur ein willig Tun,
Ein treues Kämpfen zum Altar,
Dann wird auf ihr die Gnade ruhn,
Ein innres Wunder, ewig klar.
Doch ist es so, der Gegenwart
Gebrochen sind gewalt'ge Stützen,
Seit unsern Sinnen trüb und hart
Verhüllt ward seiner Zeichen Blitzen.
War einst erhellt der schwanke Steg,
Und klaffte klar der Abgrund auf,
[708]
Wir müssen suchen unsern Weg
Im Heiderauch ein armer Hauf.
Des Glaubens köstlich teurer Preis
Ward wie gestellt auf Gletschers Höhen;
Wir müssen klimmen über Eis
Und schwindelnd uns am Schlunde drehen.
Was, Herr, du ließest fort und fort,
Hat uns die Seele wohl gebrannt;
Doch bleibt es ein geschriebnes Wort,
Unsichtbar die lebend'ge Hand.
Ach nur wo Grübeln nicht und Stolz
Am Stamme nagt seit Tag und Jahren,
Blieb frisch genug das mark'ge Holz,
Frei durch Jahrtausende zu fahren.
So ist es, wehe, schrecklich wahr,
Daß mancher, wie zum starken Mast
Geschaffen, in der Zeit Gefahr
Die Glaubenssegel hat gebraßt,
Nun, dürre Säule, nackt und schwer
Nur krachend kündet durch das Wehen,
Hier sei in Zweifels wüstem Meer
Ein wuchtig Schiff am Untergehen!
O sende, Retter, deinen Blitz,
Der ihm den frommen Hafen hellt,
Wo einst der starke Mast als Sitz
Der Pharuslampe sei gestellt;
Es trägt Gebirge ja dein Land,
Wo Zedern sich zu Zedern einen,
Laß nicht ein Sturmlicht den Verstand
Und einen Fluch die Kraft erscheinen!
Als Stephanus mit seinem Blut
Besiegelte den Christussinn,
Da legten Mörder heiß vor Wut
Zu eines Jünglings Füßen hin,
[709]
Der stumm und finster sich gesellt,
Die Kleider staubig, schweißbefeuchtet;
Und der ward Paulus, Christi Held,
Des Strahl die ganze Welt durchleuchtet.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Gedichte. Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage. Am zweiten Weihnachtstage (Stephanus). Am zweiten Weihnachtstage (Stephanus). Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8676-8