[143] 27. Heimweh

»O mein Heimatland! O mein Vaterland!

Wie so innig, feurig lieb' ich dich!«

(Gottfried Keller.)


»Heimweh ist die Krankheit einer schwachen oder einer erschöpften Seele.«


Helvetien, grüne Schweiz! Aus deinen Gauen
Ist trotzig einst ein Knabe fortgegangen,
Als tausend Wünsche ihre Löwenklauen
Um seines Herzens weiche Rinde schlangen.
Da waren viele, ihm den Weg zu zeigen;
Die Freundschaft kam mit mancher Lebensregel;
Ihm aber hing der Himmel voller Geigen,
Und stolzen Mutes ging er unter Segel.
Das ist nun lange her. – Ich war der Knabe,
Und niemand hat in meiner Brust gelesen,
Was ich geseufzt, geweint am Wanderstabe:
»Allein! Allein! Und so will ich genesen?
Allein! Allein! Und das der Wildnis Segen?«
O könnte, wer mit meinem Blute schriebe,
Die Worte jenes Dichters widerlegen:
»Dem Haß entfloh ich, aber auch der Liebe!«
[144]
Du, Heimat, warst es nicht, die mich verfluchte,
Helvetia, Riesin! Du verziehst dem Zwerge,
Als er die goldnen Triften wieder suchte,
Die stillen Thäler sah, die freien Berge,
Die himmelhohen, ew'gen Gletscherwände.
Du warst es nicht, die seine Freude störte,
Als er von deiner Seeen Fruchtgelände
Den Donner ferner Katarakte hörte.
Ja, Vögel flogen aus den offnen Bauern,
Die draußen ihre Freiheit grausam büßten –
So dacht' ich gramvoll, als die morschen Mauern
Des öden Vaterhauses mich begrüßten.
Zu früh die Regung und wie Schaum zerflossen –
Auf einmal schien mir alles wieder fremde;
Noch nicht genug gelitten und genossen,
Jetzt schon die Heimkehr – und ein Totenhemde?
O daß ich diese Worte nie gesprochen,
Und daß ich nie den Blick gewendet hätte!
Denn jetzt ersehnt sich, einsam und gebrochen,
Der Pilger nichts als eine Ruhestätte.
Nach Frieden ringt sein Herz, das todeswunde;
Ein Bild nur taucht empor aus wirren Träumen:
Ein Strohdach, dort, in einem kühlen Grunde
Und rings umzäunt von fruchtbeladnen Bäumen.
[145]
So reicht die Bruderhand dem Reisemüden,
Daß er sich löse von dem Zauberbanne;
Er gibt ihn hin, den sonnetrunknen Süden,
Für eine einz'ge schneebehangne Tanne.
So ruft ihn wieder nach dem armen Neste,
Eh' neues Herzeleid den Weg ihm abgeschnitten –
Mein Vaterland, du bist das schönste, beste,
O nimm mich auf! – Ich habe viel gelitten!
Das also ist es, was die Jahre lehren:
Dorthin, woher man kam, zurückzuwandern,
Nach eitlem Forschen plötzlich umzukehren
Und dann als Greis zu werden wie die andern.
Tribut, den ich der Jugend Neugier zollte,
Den hat die Heimatsliebe längst verschlungen,
Wenn ich auch diese Fiber töten wollte,
Umsonst war der Versuch – ich bin bezwungen.
Ich bin bezwungen! Und von dieser Stelle
Möcht' ich den Fuß auf alle Trümmer setzen,
Nur um des Vaterhauses heil'ge Schwelle
Mit meinen letzten Thränen zu benetzen.

(1858.)

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Dranmor, (Schmid, Ludwig Ferdinand). Gedichte. Gedichte. Wanderbuch. 27. Heimweh. 27. Heimweh. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8241-7