[226] Auf meinen Vogel

1763.


Kleiner Sänger! meine Freude!
Zeuge meiner Einsamkeit!
Meiner Ohren Lust und Weide!
Dir sei dieses Lied geweiht.
Allerliebstes Vögelchen!
Was dein Herr in dreien Jahren
Rühmliches an dir erfahren,
Soll die Welt in Reimen seh'n!
And're mögen Menschen loben!
Menschen sind des Lob's gewohnt.
Ihr habt den, und die erhoben,
Dichter war't ihr auch belohn't?
O mir blüht ein besser Glück!
Was ich singe dir zu Ehren,
Dieses singst du mir Homeren
Zehnfach mein Achill! zurück.
Nun so fang' ich an zu dichten.
Panegyrisch sei mein Flug! –
[227]
Du sollst Menschen unterrichten,
Liebes Thier! ist's dir genug?
Soll mir in mein Lobgedicht
Manchesmal der Satyr lachen,
Ha, wie kann ich's anders machen?
Menschen – sie belohnen nicht!
Bei dem ersten Morgenschimmer
Bist du schon, mein Vogel! reg.
Deine Kehle füllt das Zimmer,
Singt mir meinen Schlummer weg.
Dieses kann Dorinde nicht.
Soll so früh der Schlaf entweichen?
Zarten Dingern ihres gleichen
Wird es erst am Mittag licht.
Fern, mein Schwarzkopf! von dem Zwange,
Der die Fähigkeit entehrt,
Bleibst du stets bei dem Gesange,
Den dich die Natur gelehrt.
Dieses kann Alcindor nicht,
Der, fürs Fabelreich gebohren,
Zu der tauben Mitwelt Ohren
Im Hexameter nur spricht.
[228]
Gelbe Rüben, Ameiseier,
Nüßekerne liebst du nur.
Deine Speisen sind nicht theuer,
Und dein Koch ist die Natur.
Dieses kann Dermestes nicht.
Speisen, die man deutsch kann nennen,
Welche nicht das Blut verbrennen,
Nein! die sind nicht sein Gericht!
Wenn dich bei beliebter Muße
Sonnenstral und Bad erfreut,
Stehst du gern auf einem Fuße,
Und so stehst du lange Zeit.
Dieses kann Florindo nicht.
Sein Beruf ist hüpfen, flattern,
Sein Verbeugen, trillern, schnattern.
Gecken! nehmet Unterricht!
Dir ist nur ein Kleid beschieden;
Jährlich legst du selbes ab,
Mit der Farbe wohl zufrieden,
Welche dein Geschlecht dir gab.
Dieses kann Narcissus nicht:
Der bei seines Kopfes Leere
[229]
Um Verdienst, um Rang und Ehre
Stets mit neuen Kleidern ficht.
Nach der Klugheit altem Rathe
Liebest du dein eigen Haus;
Wenn ich's dir auch frei gestatte,
Hüpfst du selten nur heraus.
Dieses kann Kleander nicht:
Jedes Tag's auf allen Gassen
Sich, den Stadtfreund, sehn zu lassen,
Hält er für des Wohlstands Pflicht.
Wenn der Alten Geist mich lehret,
Und ich einsam denken kann,
Schaust du ganz in dich gekehret,
Stundenlang mich schweigend an.
Dieses kann Selinde nicht,
Die mit ihrem Klappermunde
Oft in einer Viertelstunde,
Kluge zehnmal unterbricht.
Allzeit folgest du dem Triebe,
Den dir jener eingesenkt,
Der voll Weisheit und voll Liebe
[230]
Seiner Schöpfung Wohl bedenkt.
Dieses kann – vieleicht dein Herr?
Nun ja – wenn er, wie er sollte,
Die Vernunft stets hören wollte;
Doch – zuweilen fällt es schwer.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Denis, Michael. Gedichte. Gedichte. Auf meinen Vogel. Auf meinen Vogel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-7E06-E