Richard Fedor Leopold Dehmel
Die Menschenfreunde
Drama in drei Akten

Personen

[7] Personen.

    • Christian Wach, ein Multimillionär.

    • Justus Wach, sein Vetter, Kriminalkommissar.

    • Die alte Anne, Wirtschafterin bei Christian.

    • Ein Geheimer Sanitätsrat.

    • Ein Oberbürgermeister.

    • Ein Oberregierungsrat.

    • Ein Regierungspräsident.

    • Ein Minister.

1. Akt

Erster Akt

CHRISTIAN WACH
sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt.

– – Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschindern erworben – eh er Millionen verschenken konnte – Nickt vor sich hin und klappt das Buch zu. – schauerlich! – –

DIE ALTE ANNE
tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand, in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase.

So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze Markt war voll Bauernrosen, ich könnt der Sommerfreude nit widerstehn, und dem erquickenden Geruch. Sie legt die Serviette auf den Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf. Nun machen Sie mal ein helles Gesicht, wie sich's gehört zu den schönen Blumen und dem Geburtstagssonnenschein!

CHRISTIAN
ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord gestellt.

Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem Bettelkind etwas zu essen gekauft.

ANNE.

Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geh Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch wieder gesund werden.

[9]
CHRISTIAN
unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung.
Lala- laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt werde.
ANNE.

Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter sein, mit meinen beinah Sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind, ins Haus, wenn Sie durchaus keine Frau nehmen wollen!

CHRISTIAN.
Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne.
ANNE.

Ich – weil mich leider keiner heiraten wollt, mit meinem Huckepack auf'm Rücken; da hab ich halt Kinder und Kranke gepflegt.

CHRISTIAN.
Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich wieder so auffällig an?!
ANNE.
Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der Seele
CHRISTIAN
heftig.

Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! Sich bezwingend. sein Reich ist nicht von dieser Welt. – Nach dem Porträt hinüberdeutend. Geh, stell den Strauß da auf den Sims.

[10]
ANNE.
Was! meine Rosen da unter das Bild?
CHRISTIAN.
Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich.
ANNE.

Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja Narrheit, Herr Christian!

CHRISTIAN.

Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen; und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat, nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende

ANNE.
Gott sei Dank –
CHRISTIAN.

dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie's im Vahaha-haterunser heißt.

ANNE.

Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich nicht da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft. Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen

[11]
CHRISTIAN.
Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand vorlassen sollst!
ANNE.

Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn. Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein Gläschen Wein anbieten.

CHRISTIAN
mit dem Fuß aufstampfend.

Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die Faffa-Falasche zum Krämer zurück! Da Anne Miene zum Widerspruch macht. Du trägst sie zurück! ich will's, sag ich dir!

ANNE.
Wenn ich Sie damit beruhigen kann –?
CHRISTIAN
wieder durchs Zimmer wandernd.

Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister auch keinen schuldig! – Kannst die Flasche aber für Dich dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir.

ANNE.

Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: [12] manchmal scheint' s fast, die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt.

CHRISTIAN.
Scheint' s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch?
ANNE.

Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. Auf die Bibliothek weisend. Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr.

CHRISTIAN.
Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich mir noch erlaube!
ANNE.

Aber nein, wie Sie reden – ich mein doch blos: Sie holen sich keine Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man holt sich blos seine eignen Grillen draus.

CHRISTIAN
wieder aufstampfend.

Schweig! – Schweig, sag'ich dir, ich hab genug! – Ich hab mir das l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen.

ANNE.
Aber liebster bester Herr Christian!
[13]
CHRISTIAN.
Ich werd's, sag ich dir!
ANNE.

Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn Krankenschwester.

CHRISTIAN.
Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne.
ANNE.

Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert – der Herr Sanitätsrat hält's auch nit für gut – Nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl. So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch – Draußen elektrisches Klingelzeichen. O schad, da sind die Herren wohl schon neh men Sie Ruh an, Herr Christian – Ab nach links.

CHRISTIAN
allein.
– – Schauerliche Komödie – –
ANNE
läßt zwei Herren eintreten.
Bitte, Herr Oberbürgermeister – bitte, Herr Oberregierungsrat –

Dann wieder ab.
[14]
CHRISTIAN WACH
hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch.
Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die ungewöhnliche Ehre?
BÜRGERMEISTER
stehen bleibend.
Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat.
REGIERUNGSRAT
ebenso.
Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat.
BÜRGERMEISTER.

Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat, noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen Menschenfreund aufblicken Christian Wach zuckt merklich zusammen, stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches. – zu dem Stifter so vieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten –: haben wir einstimmig beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt – und – Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen zu sollen von den[15] üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb, die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren Händen gelangen zu lassen. Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt ihm gewichtig die Rechte.

REGIERUNGSRAT.

Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat, als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt.Er überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich.

CHRISTIAN WACH.

Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß – Er legt beides auf den Bücherbord unter das Porträt. M-M-Menschenfreunde sind wir wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die Hoffnung [16] klammern kann, daß mehr Haha- Halme nachwachsen werden.

REGIERUNGSRAT.

Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und hoher zunehmen kann, und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig.

CHRISTIAN WACH
sich wieder auf die Stuhllehne stützend.

Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat – und das wird mir ein Ansporn, wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist Bitte, wollen wir uns nicht setzen?

BÜRGERMEISTER.

In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, In der wir Ihre Ehrung beschlossen, die Gelegenheit wahrgenommen, einen neuen Verein zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter[17] Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen.

CHRISTIAN WACH.

Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister: meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen.

BÜRGERMEISTER.

Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits mitempfunden wird. Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise feiern zu können. Er schüttelt ihm abermals die Hand.

REGIERUNGSRAT.

Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen. Er verneigt sich.

CHRISTIAN WACH
die Herren zur Tür geleitend.

Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der »allseits« gewünschten Weise nach wie vor zu betä- hähä-hätigen. Er verneigt sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann matt an den Mitteltisch. – – Grauenhaft – – Er nickt vor sich hin, blickt zu dem Porträt empor. Du rächst dich gut – – Es klopft, er schrickt auf.

[18]
DIE ALTE ANNE
behutsam näher tretend.
Es ist noch jemand draußen, Herr Christian.
CHRISTIAN.
Was soll das! Untersteh dich nicht –
ANNE
verhalten.
Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen.
CHRISTIAN.
Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant?
ANNE
wie vorher.

Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar – Sie drehn sich beide prall um, da die Tür aufgeht.

JUSTUS WACH
tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm.
Du mußt mir schon einmal erlauben –
CHRISTIAN WACH
während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder schließt.
Du bist mir natürlich durchaus willkommen –
JUSTUS
lächelnd.
So? – Ich erhebe nicht den Anspruch.
CHRISTIAN.

Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. [19] Offne Arme kannst du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast.

JUSTUS.

Meinst du? – Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. Er nimmt Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch.

CHRISTIAN.

Aber natürlich; b-bitte höflichst. Sich gleichfalls setzend. Fühle mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag.

JUSTUS.

Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend?

CHRISTIAN.
Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt?
JUSTUS.

O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch in Schwarzgrau zu werden? – Seine Hand auf die Mappe legend. Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner Nächstenliebe dankbar zu sein.

CHRISTIAN.
Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich.
[20]
JUSTUS.

Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden; vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut.

CHRISTIAN.

So? – Meinst du? – Lächelnd. Nun, vielleicht hast du Recht. Aber inzwischen wirst du wohl auch ein A-A-Andrer geworden sein.

JUSTUS.
Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt.
CHRISTIAN.
Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen Beruf?
JUSTUS
legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe.

Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher schon. Was blieb mir schließlich denn andres übrig; Schulden könnt ich doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte.

CHRISTIAN.

Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach [21] ich als Jüngling Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu erwarten als du. Auf seine Bücher hinüberweisend. Du weißt sehr gut, wie ich drauf brannte, die Sta- taatswissenschaften zu studieren, Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen.

JUSTUS.

Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln.

CHRISTIAN.

Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit – ge-l-linde gesagt – bei ihrem lalala-langen Krankenlager.

JUSTUS.
Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann stotterst du übrigens?
CHRISTIAN
ist vom Stuhl aufgefahren.

Ich ver-b- bitte mir deine Brutalitäten! – Sich bezwingend. Denkst du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der [22] alten ge-l-lähmten Person zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag für Tag!

JUSTUS
lächelnd.
Nein, das denke ich keineswegs – bei deiner Art Menschenfreundlichkeit.
CHRISTIAN
fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern.

Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast; Lächelnd. das wolltest du doch wohl andeuten.

JUSTUS.
Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter Vetter.
CHRISTIAN.

Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich neidisch? – Was ha- habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank, meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von Schlaflosigkeit zerrüttet –

[23]
JUSTUS.
dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen –
CHRISTIAN.
Deinetwegen? – Stehen bleibend. Du dauerst mich –
JUSTUS
steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran.
Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser Brief entdeckt werden könnte? –
CHRISTIAN
weicht unwillkürlich etwas zurück – dann spottkalt.
Ah, Herr Polizeikommissar –
JUSTUS.

In der Tat – das ist mein Beruf – mit dem ich mich jetzt vollkommen ausgesöhnt habe – seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer auswärtigen Chemikalienfabrik – Er unterbricht sich, greift nach der Mappe. – aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem »außerordentlich warmen Tag«? – Er nimmt Platz, während Christian stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem Wort »Chemikalienfabrik« umklammert hat. – also als ich in einer Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand, worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat, darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode Auf das Porträt weisend. seiner teuren Erbtante Brigitte.Wieder die Hand [24] auf die Mappe legend. Hier hab ich das menschenfreundliche Schriftstück.

CHRISTIAN
lächelnd.

Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also vier Wochen lang in aller Stille prä-papariert hast.

JUSTUS.

Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren auf Dein Geburtstagsvergnügen »prä-papariert« hast.

CHRISTIAN.
Ja, es gibt spaßhafte Zufälle – Es klopft.
DIE ALTE ANNE
tritt ein und meldet.
Der Herr Geheime Sanitätsrat –
SANITÄTSRAT
ihr ohne Umstände folgend.

Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom Kronenorden! – Überrascht. Aber was seh ich? ist's möglich? Herr Justus! – Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit Haben sich also zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter?


Anne blickt forschend vom einen zum andern.
JUSTUS
ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe.
Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages.
[25]
SANITÄTSRAT
ihm die Rechte schüttelnd.

Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich doch wohl Respekt gekrigt Mit Verneigung zu Christian hin. vor der segensreichen Betätigung.

CHRISTIAN
aufstampfend.

Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten Absichtlich. Be- täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen! diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht verdient!

SANITÄTSRAT.

Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! Es geschieht, und auch Justus setzt sich. So – ja aber, Sie zittern ja, als ständen Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal einen Spiegel!

ANNE
hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt gestellt.
Aber nein, Herr Geheim rat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will keine Spiegel um sich.
[26]
SANITÄTSRAT
sich an die Stirn tippend.

Ja so – jawohl – Moralpsychose; hypochondria stoica sozusagen. Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit; die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind aller Eitelkeit! – Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder.

CHRISTIAN.
Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame.
SANITÄTSRAT.

Ja, Sie können sich's leisten, drauf zu pfeifen. Aufstehend. Dann also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits Frieden auf Erden – Winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus links am Tisch, Christian rechts.

JUSTUS.
Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten –
CHRISTIAN
die Arme verschränkend.
Ich habe in der Tat Bessers zu tun.
JUSTUS.
Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn.
[27]
CHRISTIAN.

Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? Er fixiert ihn, bis Justus beiseite blickt. – – Durchschaust du die Menschen immer so?

JUSTUS.

Ja, deine Selbstbeherrschungskunst – man könnte auch sagen: Verstellungskunst – war von jeher bewundernswert.

CHRISTIAN.
Und einer besseren Sache würdig.
JUSTUS.
Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter.
CHRISTIAN.

Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das hältst du wohl für einen Indicienbeweis?

JUSTUS.

Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber Auf seine Mappe tippend. ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung –

CHRISTIAN.
Du hast dich tatsächlich gut präpariert –
JUSTUS.
Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske ungeniert lüften.
[28]
CHRISTIAN
immer sehr gemessen.

Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine »Schlauheit« trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte.

JUSTUS.

O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein Edelmut mich veranlassen würde, Spitzig. Detektivoffizier zu werden, geschweige Auf seine Mappe tippend. daß dies für jeden andern Finder unscheinbare Wertpapier grade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand.

CHRISTIAN.

Nenn's lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch wichtiger vor. Hähähä- hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr Testament lag ja schon da für mich.

JUSTUS.

Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals »dreizehn Jahre lang«, ist in der Tat kein [29] vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven.

CHRISTIAN.

Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du, wird dir irgendwer glauben?

JUSTUS.

O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken laßt und Apothekerwaaren bestellt.

CHRISTIAN.
Du hast dich wohl nie mit – Selbstmordgedanken getragen?
JUSTUS
scharf.

Vor meiner Enterbung nicht, lieber Vetter! – Übrigens kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel.

CHRISTIAN.

Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd einzusargen, und [30] dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich triumphierend festzusetzen – Er steht auf, mit Erregtheit um sich weisend. hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! – Das, meinst du, habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit, nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel! – Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. Er ist hinter seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne.

JUSTUS.

Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute nennen das Gottes Stimme.Merkend, daß Christian nach dem Porträt starrt. Du redest wohl öfters mit dem Bild da? –

CHRISTIAN.
Da stellst starke Ansprüche an meine Geduld.
JUSTUS.

Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast.

[31]
CHRISTIAN
lächelnd.

Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge hüten. – Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung? –

JUSTUS
lächelt ebenso.
Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen? –
CHRISTIAN.

Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen, nach Abzug der Reserve-Dépôts für meine letzten Stiftungen. Um mir die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson Er stampft auf, dann wieder gemessen. mit dem Plunder da anzetteln könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund zwei Millionen mehr, ab du mir damals abverlangtest.

JUSTUS.

Deine Menschlichkeit ist seitdem – beträchtlich großmütiger geworden; ich erkenne das an, obgleich ich's erwartet habe. Aber du mußt mir schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit.

CHRISTIAN.
Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen – – das ist mein letztes Wort! –
[32]
JUSTUS.

Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock vor dir sitze. Du hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe, in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter: Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist meine Art Menschenfreundlichkeit!

CHRISTIAN.
Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß du dich rächen willst.
JUSTUS.
Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen.
CHRISTIAN.
Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch?
JUSTUS.
Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im Netz.
CHRISTIAN.

Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte w- wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig hältst: ich hätte eine [33] bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit, mit ihrer hähähä-hämischen Habgier Er ballt die Fäuste, dann wieder ruhig. – die hätte ich. aus dem Wege geräumt nach jahrelangem Gewissenskampf – hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche Gewalttat zu sühnen, – hatte sie hier in meiner Einsamkeit, in der Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich's ein Schuldloser träumen läßt, – hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich nur für ein Hirngespinnst verwalte – für eine M-Menschheit, die ich zu spät durchschaute, die nichts ist als ein marternder Schemen –: verlangst du noch mehr Gerechtigkeit?

JUSTUS.

Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen.

CHRISTIAN.

Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk – deinen Beruf, wenn du das lieber hörst – nur Verbohrtheit eines B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch Nächstenliebe zur Hartherzigkeit fuhrt, wenn sie die Allernächsten vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb – nur deshalb, Justus! hörst du? – wiederhole ich mein Anerbieten.

[34]
JUSTUS.
Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät.
CHRISTIAN.

Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht – denn dies Auf sein Herz deutend. W- Wrack wird nicht lange mehr Stand halten – mein Testament beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil ich dir mehr verdarb, als ich ahnte.

JUSTUS
auf seine Mappe schlagend.

Zum Teufel, alles verdarbst du mir! Willst du mich jetzt noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn's wahr ist, ist mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort!

CHRISTIAN
tritt ihm langsam näher.

Ah – du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte.

JUSTUS.
Ich poche nur auf die Mappe hier. Er nimmt sie unter den Arm und steht auf.
[35]
CHRISTIAN.

Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich – jawohl, ich bekenn es dir – unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett meiner Quälerin?

JUSTUS.
Eine Möglichkeit zieht die andre nach.
CHRISTIAN.
Und wenn nun die Zeugen für mich aussagen? – Willst du nicht wenigstens die Anne erst hören?
JUSTUS.

Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir's Vergnügen macht, dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen –

CHRISTIAN
nähert sich der Tür.
Ich tu's um Deinetwillen, Justus –
JUSTUS.
Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten umstellt –
CHRISTIAN
ruft zur Tür hinaus.
Anne – Tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und verschränkt die Arme.
[36]
ANNE
macht die Tür zu, beklommen.
Was ist, Herr Christian?
JUSTUS.
Der Herr Kommerzienrat will verreisen.
CHRISTIAN.
Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an.
ANNE
beide Hände hebend.

Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! – Ihm näher tretend. Ich beschwör Sie, was wollen Sie tun! – Von ihm wegweichend. Einen Blutsverwandten ins Elend stoßen?

JUSTUS.
Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?!
ANNE
noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch.

Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein ist die Rache, spricht der Herr!

JUSTUS.

Verzeihung, Schwester Anne, der Herr ist mir fremd. Und dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit seinen Gesetzen!

[37]
ANNE.
Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie's nicht, wie er bebt bis ins Herz?!
CHRISTIAN.
Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir die Hand.
JUSTUS.
Ich verbitte mir deine – bestechenden Gesten!
CHRISTIAN
sich reckend.
Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit.
JUSTUS.

Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach Die Tür öffnend. Wenn's gefällig, du hast den Vortritt – Sie schreiten beide langsam hinaus. – –

ANNE
die Hände faltend, leise.
Herr, erbarme dich seiner Seele – –

Vorhang.

2. Akt

[38] Zweiter Akt

CHRISTIAN WACH
auf die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt hinaufstarrend.

– – Jawohl, du hast dich in mir verrechnet – von jeher, du Vampyr – du zwingst mich nicht. Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer lächelnd. Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich's endlich, kein Mensch bezwingt mich. Es klopft an der Tür, und Anne tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß. – – Also soll's wieder losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?

ANNE
die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend.
Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen aus der – der –
CHRISTIAN.
Untersuchungshaft meinst du; sag's nur getrost.
ANNE.
Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt ich sagen.
CHRISTIAN.
Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür auf den Knieen danken.
ANNE.

War's nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen!

[39]
CHRISTIAN.

Du sollst mich nicht so ansehn, Anne.Sich an den Tisch setzend, wie erschöpft. Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.

ANNE.

Geb's Gott, Herr Christian, geb's Gott! Aber Sie schauen nit dornlos drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!

CHRISTIAN.
Wein –? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!
ANNE.
Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.
CHRISTIAN.
So – also für mich – – Nimmt plötzlich ihre Hand. O Anne, Anne Und preßt seine Stirn hinein.
ANNE.

Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? Behutsam über sein Haar streichend. Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr Christian.

CHRISTIAN
schiebt sie sanft weg, steht auf.

Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich mürbe gemacht

[40]
ANNE.
O hätt sie nur! – Nein, ich bild mir nix ein.
CHRISTIAN.

Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht – Er wendet sich ab, geht nach dem Fenster. innerst ruhig; das mußt du doch merken Läßt sich in den Korbstuhl nieder.

ANNE
ihm folgend.
Das würd mich ja freuen, innerst freuen –
CHRISTIAN.

Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis ablegte, ich wollte Auf das Porträt weisend. die da wirklich vergiften, wenn mich das Schicksal – du weißt, der Schlaganfall, der sie in ihrer Erregtheit hinraffte – nicht gnädig davor bewahrt hätte?

ANNE.

Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung. Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr Christian!

CHRISTIAN
abermals aufstehend.
Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den Schlaganfall bezeugt.
[41]
ANNE
ihm wieder durchs Zimmer folgend.
Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!
CHRISTIAN.

Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. Plötzlich sich umdrehend, Auge in Auge. Du glaubst wohl nicht, daß es ein Schlaganfall war?

ANNE
zurückweichend.

O – wie fragen Sie frevelhaft! – Was ich beschworen hab, glaube ich auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie's fühlen –: wir sind allesamt Werkzeuge Gottes – der eine so, der andre so –

CHRISTIAN
ist an den Kamin getreten.
Mich friert, Anne; im Gefängnis war's wärmer. Von morgen an, bitte, mußt du heizen.
ANNE.
Aber ich kann doch natürlich gleich!
CHRISTIAN.

Nein, ich sagte: von morgen an. Sich wieder an den Mitteltisch setzend. Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.

ANNE.
Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird Ihnen gut tun.
[42]
CHRISTIAN.

Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht schwatzhaft, ich hasse das! – Aber damit du deinen Willen krigst: Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen, ob er heute Vormittag herkommen dürfe – dann kannst du deine Flasche kredenzen.

ANNE.

O welche Fügung – sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das Herz gerührt! – O, und ich hab's ja noch garnit bestellt: der Herr Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!

CHRISTIAN.

Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu Kreuz vor meinem Geld; und sind gerührt davon, wie's mich drückt.

ANNE.
Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch einstimmig freigesprochen.
CHRISTIAN.

Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?

[43]
ANNE.

O wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.

CHRISTIAN.

Mein Geld drückt mich; begreifst du das nicht? – Übrigens: vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein; irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an, daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.

ANNE.
Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie
CHRISTIAN.

Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.

ANNE
sich zu ihm neigend.
Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir Vertrauen?
CHRISTIAN
abermals aufstehend.

Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte hilf mir den Lehnstuhl herüber setzen. – Während [44] sie den Stuhl an den Mitteltisch tragen. Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. – Platz anweisend. Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag das Bild heut nicht immerfort sehn.

ANNE
den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend.
Ja, das hält längst schon hinaus gemußt. Darf ich's nicht endlich weghängen jetzt?
CHRISTIAN.

Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr schuldig bin. Sich setzend. Wenn sie auch unleidlich war, das ist vorbei. Daß du's ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.

ANNE.
Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen bang.
CHRISTIAN.

Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! – Wahrhaftig, manchmal machst du Augen, grad wie die Tante in ihrer Sterbestunde; so merkwürdig in die Ferne fragend – Wiederum aufstehend. Ich will mich doch Heber dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr. Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen andern Stuhl nach hinten. Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?

[45]
ANNE.
Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich selber zu fürchten –
CHRISTIAN
sich setzend.
Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen – –
ANNE.

Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen, daß alle Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an der Wand.

CHRISTIAN.
Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht finden hier.
ANNE.
Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch tragen helfen.
CHRISTIAN.

Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst daran gedacht, du wärst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir besprechen.

ANNE.

O nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir! Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.

[46]
CHRISTIAN
aufstampfend.

Ich sag dir, l-laß das – geh – bring mich nicht auf! – Ruhiger. Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn ich's dir sage! – Während Anne langsam zur Tür geht. Und ich dank dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles – hörst du? Da Anne an der Türschwelle zögert. Nun, laß gut sein, geh jetzt; was stehst du noch –

ANNE
mit feierlichem Ausdruck, gedämpft.

Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr dein Erbar merSie geht hinaus. – –

CHRISTIAN
sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung.

Gespenstermärchen – – Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter das Bild. Ihr zwingt mich nicht – ihr kennt mich nicht – niemand! – Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der Regierungspräsident und der Oberbürgermeister. – –

PRÄSIDENT
nach gegenseitiger leichter Verbeugung.

Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten, Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.

CHRISTIAN WACH.

Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte [47] lügen, wenn ich Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich's bequemer, als es mancher bei sich zu Hause hat.

PRÄSIDENT
lächelnd.

Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auftrag des Ministeriums, um Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat, zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung eine dauernde Aufrichtung geben Er verbeugt sich mit Gemessenheit.

CHRISTIAN WACH
lächelnd.

Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben. Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen Sich verneigend. untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die Teilnahme, zweitens für das – »unverkürzte Vertrauen«. Ich werde mich, soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig zu machen versuchen.

[48]
BÜRGERMEISTER.

Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch darzubringen Er verbeugt sich gleichfalls gemessen. – ich komme zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde, um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen, die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei Ihrer stets betätigten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt werden konnte – das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht entdeckt werden konnte.

PRÄSIDENT
sehr rasch.
Überhaupt natürlich –
CHRISTIAN WACH
sehr langsam.

Überhaupt – – Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf ich nicht bitten, Platz zu nehmen?

[49]
PRÄSIDENT.

Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen. Sich verbeugend. Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.

CHRISTIAN WACH
ebenso.
Ich empfehle mich, Herr Präsident.
PRÄSIDENT.
Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?
BÜRGERMEISTER.
Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.
PRÄSIDENT.
Also auf Wiedersehn, meine Herrn –Er verbeugt sich nochmals, geht ab. – –
BÜRGERMEISTER.

Ich möchte mich nur in aller Kürze – doch ich bitte zunächst um Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt gefühlt haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff –

CHRISTIAN WACH
lächelnd.

O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen – nach allem, was geschehen ist – da Sie es doch so aufrichtig meinten –

[50]
BÜRGERMEISTER.

Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! Und deshalb – Da Christian Wach auf die Stühle weist. nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze erkundigen –: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.

CHRISTIAN WACH.

Sehr freundlich', Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie »sich versichert zu halten«: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl, das eine Eigentümlichkeit unsrer Lächelnd. etwas starrköpfigen Familie ist.

BÜRGERMEISTER.

Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen fruchtlosen Übereifer.

CHRISTIAN WACH
lächelnd.

Also hätte er doch vielleicht fruchten können? – Nein, im Ernst, ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden, die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig mich beamtseifert hätte. Es wäre mir wirklich sehr unliebsam, wenn man ihn grade [51] mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte, die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs – nicht wahr, ich irre wohl nicht – auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat, wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.

BÜRGERMEISTER.

Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte Gesinnung nach wie vor betätigen?

CHRISTIAN WACH.

In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu betä-hähähätigen – Sich an die Kehle fassend. Verzeihung, mein Nervenübel meldet sich wieder. – Aber wollen wir uns nicht doch lieber setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die geselligen Freuden.

BÜRGERMEISTER.

O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich beute leider besonders beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! – Also wiegesagt, um mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. Er verbeugt sich würdevollst.

[52]
CHRISTIAN WACH.

Ich werde wiegesagt bestrebt sein – Er verbeugt sich etwas weniger und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben; sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin. – – »Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat« – – Es klopft, die alte Anne erscheint.

ANNE.
Kann der Herr Justus jetzt eintreten?
CHRISTIAN.
Natürlich. Weshalb fragst du erst?
ANNE.
Soll ich den Wein gleich mitbringen?
CHRISTIAN.

Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn's an der Zeit ist. Anne geht – Justus erscheint; tritt zögernd näher, bleibt halbwegs stehen. Nun? diesmal ohne Aktenmappe? – Sehr liebenswürdig; bitte setz dich. Während Justus an den Tisch tritt. Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?

JUSTUS.

Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch Blutsverwandte.

[53]
CHRISTIAN.

Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.

JUSTUS
setzt sich links des Tisches.

Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet – ganz und gar – bis unter die nackte Haut sozusagen – sodaß ich mich vor mir selber schämte –

CHRISTIAN.

Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut präpariert. Beruhige dich: ich werde dir's nicht vergessen, wenn ich nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen Vorschuß drauf?

JUSTUS.

Ich muß mir's gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden, daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu dürfen. Ich hab's mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus Berechnung tue.

[54]
CHRISTIAN.

Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.

JUSTUS.

Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.

CHRISTIAN.
Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten Rechenmeister.
JUSTUS.
Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.
CHRISTIAN.

O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt »verachten zu dürfen«. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten in deiner amtlichen Regeldetri?

JUSTUS.

Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter stellst, als du bist. Oder fühlst du mir's in der Tat nicht an, daß auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit bekenne? Ich kann dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht mehr, du [55] hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat mich ergriffen wie noch nichts im Leben.

CHRISTIAN.

Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine Selbstbeherrschungskunst – »man könnte auch sagen: Verstellungskunst« – über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet? Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der Verbrecherseele.

JUSTUS.

Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst, meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.

CHRISTIAN.

O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal schlecht bekommen. Hättest du im Sommer nicht vier Wochen gewartet, um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten: wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem Ehrenbürger [56] und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht wünschen, durch meine Verurteilung mit-bablamiert zu werden, und die Stimmung von oben her ist bekanntlich in Residenzstädten sehr tonangebend. Also lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du verwickelst dich sonst im eigenen Netz.

JUSTUS
aufstehend.

Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind wir quitt! Dann bist du nicht der hochherzige Dulder, vor dem ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch Schmarotzer witterst!

CHRISTIAN.

Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum Pranger geschleift sein wollte! Gleichfalls aufstehend. Dann bin ich der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der argwöhnische, der auf all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre Untat beschönigen! Dann – ah: Taumelnd. hahahalt mich, Justus: das Herz!

JUSTUS
ihm beispringend.
Verdammt ja, was ist –?
[57]
CHRISTIAN.

Laß – es geht schon vorüber. – Sich setzend. Es war nur ein kleines Erinnerungszeichen – Lächelnd. an meine Selbstbeherrschung, weißt du. Laß dich's nicht kümmern, setz dich wieder. – Da Justus zögert. Was äffst du uns beide mit Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier hast du meine Hand.

JUSTUS.
Ich dank dir – Gibt ihm die Rechte.
CHRISTIAN
ihn fixierend.
Ich trau dir! – Nun? was zuckst du zurück? –
JUSTUS.
Du bist mir unheimlich, Christian –
CHRISTIAN.

Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein ehrliches Wort! – Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache, nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab ich ja nicht. – Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein. – Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute Er weist auf die Stühle neben sich.

[58]
SANITÄTSRAT
hinter dem Tisch Platz nehmend.

Kann mir's denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere – Sich verneigend. zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer Triumph der Gerechtigkeit; schade daß Sie keine Zeitungen lesen. Die ganze Presse singt Ihnen Hosianna; selbst die Sozi blasen ins Jubelhorn. Zu Justus, der stehen geblieben ist. Ich genier Sie doch nicht, Herr Gedehnt. Polizeikommissar –?

JUSTUS.

Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu leisten.

CHRISTIAN.
Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich tatsächlich noch etwas fragen.
SANITÄTSRAT.

Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; Ihm mit komischer Würde die Hand hinstreckend. es irrt der Mensch, solang es geht –

CHRISTIAN.

Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier – Justus gibt lässig dem Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches. Bitte, Anne, du weißt ja Sie nickt, geht hinaus. – ich danke dir, Justus.

[59]
SANITÄTSRAT.

Aber Sie haben's zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte jetzt Gift! Christian zuckt ein wenig zusammen. Ah Pardon, das verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?

CHRISTIAN.
O bitte – Lächelnd. seh ich denn unruhig aus?
SANITÄTSRAT.

Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz geheuer. Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit Gläsern und Weinflasche auf den Tisch.

CHRISTIAN.
Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein
SANITÄTSRAT UND JUSTUS.
Nein danke – danke – Strecken gleichzeitig rasch die Hand zur Abwehr.
CHRISTIAN.

So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. Lächelnd. Es ist wirklich kein Gift drin, meine Herrn.

SANITÄTSRAT.

Aber Bester, empfindlich –? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch zu mir barmherzig Er läßt sich gleichfalls einschänken.

[60]
CHRISTIAN.
Justus –?
JUSTUS.
Ich bin's zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber –
ANNE
nachdem sie auch ihm eingeschänkt.
Ist gern geschehen, Herr Justus.
SANITÄTSRAT
während Anne hinausgeht.

Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die Friedensbewegung! – Sie stoßen gemessen an und trinken. – Denn wie gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll, ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.

CHRISTIAN.

Ha-hörst du's, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!

SANITÄTSRAT.

Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird's Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie! Und bei Neurosen, [61] so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine Mördergrube!

CHRISTIAN
Justus zutrinkend.

Haha-Heil dir also, du Wundertäter! – Aber, mein lieber Geheimrat, was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine Krankheit ist doch viel intressanter.

SANITÄTSRAT.

Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag fufzig M, angerechnet die Liebesmähler! – Er trinkt aus und steht eilfertig auf. Also wohl bekomm's, meine Herrn; mehr als guten Rat kann ich leider nicht geben – Verbeugt sich lächelnd, geht händereibend ab. – –

CHRISTIAN.
Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich doch animieren!
JUSTUS.
Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat – Blickt ihn forschend an und trinkt aus.
CHRISTIAN
ihm das Glas wieder füllend.

in der alten Mördergrube, nicht wahr? – Du dachtest wohl wirklich im ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?

[62]
JUSTUS.

Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht »witzig« genug, um über derlei Scherze zu lachen.

CHRISTIAN.

Und wenn's nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn Nach dem Porträt weisend. der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war, sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich bewirken kann?

JUSTUS.

Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen. Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.

CHRISTIAN.

Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau so wie [63] den frommen Pizarro, der zum höheren Ruhm seines Hahaha- Heilands ein ganzes Volk Heiden abschlachtete. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann. Sein Glas hebend. Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! –

JUSTUS
während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder füllt.

Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.

CHRISTIAN
auflachend.

Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig, das Alleranständigste wäre, wir gingen alle in die Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter, ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter; zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! Er trinkt mit sichtlicher Erregtheit.

JUSTUS
nur kurz Bescheid tuend.

Zum Wohl – wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in Wahrheit, lieber, dich nicht weiter auszusprechen.

CHRISTIAN.

Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! Sich [64] mäßigend, starr vor sich hin. Was weiß ich schließlich selber davon.

JUSTUS.
Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.
CHRISTIAN.
Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur, was man tut!
JUSTUS.

Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.

CHRISTIAN
lächelnd.

Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen ködern. Vergiß nicht, es sind blos – »Gedankenspiele«. Er trinkt wieder mit merklicher Hast.

JUSTUS.

Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest. Wenn's dir leid geworden ist, gehe ich gern.

CHRISTIAN.

Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid haben mit meinem »überreizten Zustand«! Natürlich will ich dich etwas fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?

[65]
JUSTUS.
Also –?
CHRISTIAN.

Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können – Er will wieder trinken, beherrscht sich aber. Also: gesetzt zum Beispiel den Fall, dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter geändert hat – von Grund aus geändert hat, wie du sagtest – da käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen Gerichtshof den vollen Beweis erbringen konntest, daß ich mich in der Tat vor Jahren als Unmensch betäterätätigt habe: was würdest du da tun, lieber Justus?

JUSTUS.

Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige Frage eine vernünftige Antwort geben soll.

CHRISTIAN.

Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so irrsinnig, aus allgemeiner M-Men schenliebe einen einzelnen Menschen zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstem dann vernünftig, wenn alle Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht, mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt, wenn [66] man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen, der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel an ihm nehmen. Ja, wär's noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte! Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die Glasglocke setzen? – Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.

JUSTUS.
Unheimlich richtig – wie ich gleichfalls schon sagte.
CHRISTIAN
lächelnd.
Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. Das Glas hebend. Zum Wohl! so trink doch endlich aus!
JUSTUS
sein Glas mit der Hand bedeckend.
Nein, danke; keinen Tropfen mehr.
CHRISTIAN.

Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? – Das Glas hinsetzend, ohne getrunken zu haben. Soll ich dich lieber nicht weiter fragen?

JUSTUS
lächelnd.
Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.
[67]
CHRISTIAN.

Sehr wahr! du fängst wirklich an zu verstehen! – Also gesetzt, du fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich bewiese – zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals geschrieben hätte – in das ich alles verzeichnet hätte, was mich zu der Untat verführte – in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat – wie ich mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche – wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner schahauderhaft klaren Vernunft – wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern sittlichen Grundsätzen nistet – wie ich in allen Gründen und Abgründen meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des E-Ekels Und Dünkels zu zerquetschen – Er hat sich krampfig ans Herz gegriffen. –: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? –

JUSTUS.

Aber lieber Christian, nimm's nicht übel, verzeih mir meine Offenheit: das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage nicht Stellung nehmen.

CHRISTIAN.

Du meinst, weil du's nicht gefunden hast bei deiner amtlichen Haussuchung hier? Lächelnd. Hast wohl gründlichst an den Wänden geklopft? zum Beispiel Nach dem [68] Porträt weisend. hinter dem Erbstück da! – Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.

JUSTUS
lachend.

Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben, geschweige ein ganzes Tagebuch.

CHRISTIAN.

Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch gar zu gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem Siegel – zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf –: gesetzt, ich hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menscheit darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war – mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte, ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte – wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor ohn-m-m- mächtiger Wut.

[69]
JUSTUS
brüsk aufstehend und sich reckend.

Genug! jetzt hab ich genug gehört! – Ich bedauere meine Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht! Ich werde nicht ruhen bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein Gespenst –

CHRISTIAN
hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen starrend.

Du wirst mir »von Grund aus« willkommen sein. Du wirst mir das höchste Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen! Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner Gewissenspfeife tanzt! Du wirst

JUSTUS.

Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal zeigen

CHRISTIAN.

dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha- ha-hah! – Ist das deine Reue, du »anständiger Mensch«?! Kenn ich dich jetzt, du ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung zerschmelzen [70] ob deiner edlen »Gutgläubigkeit«? Hahahimmlisch, du entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir »endlich einmal« ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube – hha-ha-ha – ah – Sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und bricht zusammen.

JUSTUS
beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt, betrachtet kalt den Ohnmächtigen.

– Diesmal scheint's echt; – du traust dir zuviel zu, Bursche – – Er geht langsam zur Tür, öffnet, ruft. Schwester Anne! – Er zieht seine Taschenuhr, überlegt.

ANNE.

Was ist? Erschreckend. Um Gottes willen –Sie eilt an den Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und Halsbinde.

JUSTUS
an der Tür bleibend.

Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?

ANNE.
Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht Der Herr sagt mir nichts von seinen Geschäften.
JUSTUS.

Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.

[71]
ANNE.
Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.
JUSTUS.
Also auf bald!
ANNE.

Auf bald, Herr Justus. – Nachdem Justus gegangen ist, leise. Vater, hilf deinen schwachen Kindern – –


Vorhang.

3. Akt

[72] Dritter Akt

CHRISTIAN WACH
sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in schwarze Decken gehüllt.

Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben. – – Also noch knappe neun Millionen – Den Bleistift hinlegend. es geht zu Ende, Christian Wach. – Sich mühsam nach dem Porträt umwendend. Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! – Hand aufs Herz legend, schwer vor sich hin. Und die Mördergrube wird immer voller – –

DIE ALTE ANNE
tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes Weihnachtsbäumchen auftragend.

So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland geboren ist – Vor ihn hintretend. der Erlöser, lieber Herr Christian! – Das Bäumchen auf den Tisch stellend. Gelt, ich darf es heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung.

CHRISTIAN.

Das hast du doch früher nicht getan.Lächelnd. Du denkst wohl, jetzt bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst?

ANNE.
Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt hilflos genug.
[73]
CHRISTIAN.

Besonders wenn wir's uns einreden lassen. Ich halle mich lieber an das Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die Gottlosen brauchbar.

ANNE.

Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die Seinen nicht. Und mancher ist sein, der's nicht wahr haben will.

CHRISTIAN.

Wenn ich nicht wüßte, wie gut du's meinst, könnt ich glauben, du dankst deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung Auf seinen rechten Arm deutend. mit dem Schlaganfall begnadet hat.

ANNE.
Seine Wege sind nicht die unsern.
CHRISTIAN.

Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. Auf den Stuhl zu seiner Linken weisend. Komm, setz dich lieber, ich muß dir was sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht mir bis Abend die Freude daran. Während Anne es auf den Bücherbord trägt. Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine gebracht Er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich. – aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht m-melden lassen, worum sich's handelt?

[74]
ANNE
ein paar Scheite in den Kamin legend.
Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der Radioklinik.
CHRISTIAN.

Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen.

ANNE
sich setzend, ihm in die Augen blickend.
Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian –
CHRISTIAN.

Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus überlassen! – Er hat sich wohl jetzt mit dir verschworen, meine werte S- Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag zu Tag christlicher.

ANNE.
Auch der Herr Justus meint's gut auf seine Weise.
CHRISTIAN.
Gewiß, versteht sich; und ich lohn's ihm auf meine. Das eben will ich mit dir besprechen.
ANNE.

Wenn Sie's aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum Christfest; es hat doch Zeit.

[75]
CHRISTIAN.

Nein, Anne, mit meiner Zeit ist's bald aus; kannst ruhig darüber reden mit mir. Meinst du, ich furchte mich vor dem T-Tod? Was tut's denn, ein bißchen früher zu sterben als es ohne die Sorge vielleicht geschähe. Was heißt denn sterben? keine Sorgen mehr haben! Kann man sich davor furchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann meinen Tod mir nicht vorstellen.

ANNE.
Ja: sie will nit sterben, die ewige Seel –
CHRISTIAN.
Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe andere Sorgen!
ANNE
seine Linke streichelnd.
Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die menschliche Selbstsucht.
CHRISTIAN
lächelnd.

Dann sei also selbstlos und hör mir zu. Ein Schriftstück aus den Papieren nehmend. Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind, nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir.

ANNE.
Aber –
[76]
CHRISTIAN.

Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst; kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft von Pharisäern züchten. Denn daß du's nur weißt, liebe alte Anne: ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit auch am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein, wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.

ANNE.
Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist allzeit heilig.
CHRISTIAN.

Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand, das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor meinem T-Tode zu tun; er denkt sonst, ich wolle ihn bestechen, und das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber!

ANNE.
Ja gewiß, Herr Christian, gern.
[77]
CHRISTIAN.

Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte.

ANNE.

Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian, hätten's auch leichter gehabt, war nit die große Erbschaft gewesen.

CHRISTIAN
lächelnd.
Du fühlst dich wohl nicht als »einzelner Mensch«?
ANNE
lachend.

O, ich leichte Person! bei mir bleibt's nit lang! Hier in der Näh gibts 'ne ganze Straße, da könnt man in einer Nacht die Millionen los werden, damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern kann.

CHRISTIAN.

Du hast's ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein, daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am besten los wird.

[78]
ANNE.

Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Was würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun.

CHRISTIAN
langsam nach ihrer Hand tastend.
Verzeih mir, Anne – ich hab dich zu spät erkannt – –
ANNE.
Und wenn's noch Zeit war, Herr Christian – die andere Sorge auch los zu werden –?
CHRISTIAN
sich aufraffend, rauh.
Was soll das! L-laß das! Ich sagte: zu spät!
ANNE
seine Linke mit beiden Händen ergreifend.

Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt!

CHRISTIAN.
Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! Lächelnd. Du weißt, das verträgt der Geheimrat nicht.
ANNE.

Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich fleh Sie an! Zu ihm hinknieend. Ich hab noch nie [79] vor einem Menschen gekniet – ich beschwör Sie bei Ihrer Qual – Mit beiden Händen nach dein Porträt weisend. bei den Augen, die Sie verfolgen –: nehmen Sie nicht das Geheimnis mit hinüber!

CHRISTIAN.

Steh auf! du beschämst mich! ich d- dulde das nicht! Der Justus hat dich ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir, du machst mich zuschanden! Willst du mir noch einen Schlaganfall einjagen?

ANNE.
Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht's ja nur, daß der Körper büßt!
CHRISTIAN
wild seine Linke gen Himmel spreizend.

Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! – Die Hand auf Annens Kopf senkend, sanft. Was Weißt du Von meiner Buße, du Engel. Steh auf, du überhebst dich vor Demut. Die Hand an seine Stirn legend. In dies Geheimfach dringt nur der Tod. Draußen elektrisches Klingelzeichen, während Anne sich erhebt. – Geh, öffne; Matt ihre Hand ergreifend. du hast mir wohlgetan –

ANNE
küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck.

Denn uns ist heute der Heiland erschienen – Legt beglückt ihre Hände vor die Brust und geht so leise nickend hinaus. – –

CHRISTIAN
wendet sich langsam nach dem Porträt um.

Verfolgst du mich wirklich noch?! – Wendet sich langsam [80] zurück, schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht. Bald nicht mehr – – Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister eintreten. – –

DER MINISTER
mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt, während Anne Holz in den Kamin legt.
Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen.
CHRISTIAN WACH.

Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen. Darf ich bitten, Platz zu nehmen.

MINISTER
während Anne hinausgeht.

Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu erstatten. Auf Befehl seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt heute Nachmittag. Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit lächelnder Unamtlichkeit. Ich erlaube [81] mir, Herr von Wach, Ihnen ohne Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde.

CHRISTIAN VON WACH.

Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges Wort zu wehren. Sie reichen einander unwillkürlich die Hand.

DER BÜRGERMEISTER
ist stehen geblieben, räuspert sich.

Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der behördlichen Körperschaften unserer Haupt – und – Residenzstadt, die auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt haben, zur dauernden Erinnerung au die gemeinnützige Betätigung Ihrer unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne, hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt, und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie, in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie ihm in der [82] Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen.

CHRISTIAN VON WACH.

Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren »weitherzigen Beschluß« im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser Absichtlich. Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademie-Direktor mit einem verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor meiner L-Leiche wird aufschlagen können.

BÜRGERMEISTER.
Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen
CHRISTIAN VON WACH
erregt.

Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider – Sich zusammennehmend. für diese »sachliche« Behandlung meiner nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug.

BÜRGERMEISTER
sich in die Brust werfend.

Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so[83] wohlerwogene Ehrung auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich Euer Excellenz – Der Minister steht auf. oder falls Sie mich zu begleiten gedenken

CHRISTIAN VON WACH.
Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen?
MINISTER.
Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister.
BÜRGERMEISTER.
So empfehle ich mich denn wiegesagt – Man verbeugt sich gemessen – er geht gewichtig ab. – –
MINISTER
indem er sich wieder setzt.
Ich bin zu jeder Vermittlung bereit.
CHRISTIAN VON WACH.

Es tut keine mehr not,Lächelnd. ich bin erledigt. Ernsthaft. Ich wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine unumwundene Antwort geben?

[84]
MINISTER.
Soweit das menschenmöglich ist –
CHRISTIAN VON WACH.

Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der Abscheu grinst?

MINISTER.

Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient. Lächelnd. Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen hat.

CHRISTIAN VON WACH.
Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das Gute?!
MINISTER.
Wenn's die Sache verlangt – jeder Sieg kostet Opfer –
CHRISTIAN VON WACH.

Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern?

MINISTER.

Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. Aufstehend. Wem es die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt.

CHRISTIAN VON WACH.
Ich danke Euer Excellenz.
[85]
MINISTER
ihm die Hand hinstreckend.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest!
CHRISTIAN VON WACH.

Ihnen noch viele, Excellenz! – – Minister ab, an der Tür sich nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die Augen und raunt vor sich hin. Wem es die innere Stimme sagt –? – Es klopft, und Justus Wach tritt ein. Nun, Justus, mein Spiegel, bist du schön blank heut?

JUSTUS
sich rechts des Tisches setzend.

Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf?

CHRISTIAN.

Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen; das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich dankbar dafür.

JUSTUS.

Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun.

CHRISTIAN.

Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis [86] deiner Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt?

JUSTUS.

Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu haben; wenn es auch ohne Absicht geschah.

CHRISTIAN.

Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt –

JUSTUS.

Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, war es doch längst von du? vernichtet.

CHRISTIAN
wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend.
Und wenn es nun doch noch irgendwo läge?
JUSTUS.
Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten!
CHRISTIAN.

Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und dabei [87] die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! – Hast du dir das noch nie überlegt? –

JUSTUS.

Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden mir nachgerade lästig.

CHRISTIAN.
Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher Mensch sein kann?
JUSTUS.

Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tiftelst du dir aus allerlei Zufallen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen, blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu fehlte.

CHRISTIAN.

Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte.

JUSTUS.

Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten.

[88]
CHRISTIAN.

Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? Krampfhaft die Hand aufs Herz drückend. Wenn's mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala – Sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will. laß – ich danke – – Ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords.

JUSTUS.
Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen.
CHRISTIAN
lächelnd.
Ja, wir haben beide unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und ich als Unmensch.
JUSTUS.

Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu. Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte immer wieder zur Sprache?

CHRISTIAN.

Vielleicht weil es mein »Gewissen beruhigt«, deine Gerechtigkeit wanken zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hätte gemordet, würdest du dann wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten? –

[89]
JUSTUS.
Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht.
CHRISTIAN.

In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde fürs Vaterland, oder für Thron und Altar und Kapital, oder für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder sonstige große Rosinen: die verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die freilich entschuldigt man edelmütig.

JUSTUS.

Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare Leidenschaft.

CHRISTIAN
lächelnd.
Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz erweicht haben?
JUSTUS
schroff.
Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen nicht.
CHRISTIAN
die Hand auf seine Papiere legend.

Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht »unter vier Augen« überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst.

[90]
JUSTUS.
So? Könntest du das?
CHRISTIAN.

Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? Da Justus Miene macht aufzufahren. Bitte bleib sitzen, ich will dich nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten.

JUSTUS.
Wenn es dir wirklich ernst darum ist –?
CHRISTIAN
nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln verschlossenes Heft.

Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte dich bitten, hier das alte – Draußen elektrisches Klingelzeichen. ah, der Sanitätsrat; nun, dann nachher. – Das Heft wieder unter die Schriftstücke schiebend. Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er mich nicht mehr retten kann. Anne läßt den Sanitätsrat eintreten. – Willkommen, mein werter L-Lebensretter!

SANITÄTSRAT
während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer legt.

Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. Zu Justus, der aufgestanden ist. Aber bitte doch Platz zu behalten.Sich gleichfalls setzend, links des Tisches. Und bitte mich nicht mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch gut Überleben! – Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach Anne umdrehend. Gelt, Schwester: der reine [91] Methusalems-Puls! Sie messen den Blutdruck doch noch regelmäßig?

ANNE.
Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger.
SANITÄTSRAT
während Anne hinausgeht.

Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution: wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch Mitglied werden.

CHRISTIAN.
Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund ist der T-Tod.
SANITÄTSRAT.
Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger.
CHRISTIAN.
Haha-hörst du's, Vetter? Jetzt muß ich's wohl glauben.
JUSTUS
lachend.
Die Diagnose stellt dir Jeder!
SANITÄTSRAT.

»Jeder Wohlgesinnte!« sagt der Herr Bürgermeister. Zu Christian. Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte.

[92]
CHRISTIAN.
Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie- D-Direktor bei der neuen Klinik begegnet?
SANITÄTSRAT.

Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden, ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt?

CHRISTIAN.

Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt habe.

SANITÄTSRAT.

Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur nichts tragisch nehmen! Zu Justus. Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen.

JUSTUS.
Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes!
SANITÄTSRAT
aufstehend.

Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber.

CHRISTIAN
lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend.
Mancher geht auch ohne Schritte hinüber –
[93]
SANITÄTSRAT.

Ohoh! solche Witze darf ich blos machen. Beiden Herren die Hand schüttelnd. Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit – Geht händereibend eilends ab. – –

CHRISTIAN.
Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten Kranken stempeln.
JUSTUS.
Das könnte dir doch nur angenehm sein.
CHRISTIAN.
Und wenn es mir nun – entsetzlich wäre?
JUSTUS.
Über diese Annahme darf ich wohl lächeln.
CHRISTIAN.

Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut, daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat?

JUSTUS.
Dann müßtest du mir schon erlauben, auch diese Einbildung zu belächeln.
CHRISTIAN.
Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte?
[94]
JUSTUS.
Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart.
CHRISTIAN.
Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen.
JUSTUS.
Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit.
CHRISTIAN.

Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Missetäter. Dein bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Ha-ha-Hunderttausende hat er skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc d' Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen.

JUSTUS.

Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein.

CHRISTIAN.
Also du hältst mich nicht für verstockt?
JUSTUS.
Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen Liebesdienst anzuvertrauen.
[95]
CHRISTIAN
lächelnd.

Sehr freundlich, daß du in ich erinnerst. Das versiegelte Heft wieder vorholend. Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten?

JUSTUS.
Und –?
CHRISTIAN.

Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise absprichst, – gesetzt, ich hatte t-trotzdem die Reue, die du mir anstandshalber nicht zutraust, – Schwer die Hand auf das Heft legend. gesetzt, ich würde es dir beweisen – unter vier Augen, lieber Vetter – nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar –: wärest du dann noch bereit zu dem Liebesdienst?

JUSTUS.
Wie kann ich das wissen – ohne Beweis –
CHRISTIAN.
Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?! –
JUSTUS.
Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst.
CHRISTIAN.
Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen?
JUSTUS.
Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter.
[96]
CHRISTIAN.

Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als irgend ein Richter strafen kann – wenn dich der nun unter vier Augen bäte: Wieder die Hand auf das Heft legend. hier ist mein Geständnis, vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode, daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, wenn du m-menschlicher handelst als ich

JUSTUS
die Hand nach dem Heft ausstreckend.
Ich soll es also ins Feuer werfen –
CHRISTIAN
überläßt es ihm lächelnd.
Ja, Justus – zum Christfest wiegesagt – –
JUSTUS
steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich plötzlich ruckhaft um.

Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich Nach dem Porträt weisend. beschwatzen wie die da und dann mich auslachen wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! – Den Umschlag von den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd. Hier: so behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du Auswurf der [97] Menschheit! – Hastig die Blätter musternd. Was? – wa – Steht in sprachloser Verblüfftheit da.

CHRISTIAN.
Nun? was sagt dir das leere Papier? –
JUSTUS
die Blätter zerfetzend und wegschmeißend.

Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! Mit geballten Fäusten auf Christian los. Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball begeifert hat! Vor Christians Blick zurückzuckend. Wenn mir nicht graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul! Die Fäuste in die Hüften stemmend. Ist denn kein Funken Scham in dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen?

CHRISTIAN
endlich gell loslachend.

Ha-ha-ha- hei – dein hei – hahahei – Plötzlich krampfhaft nach Luft ringend, lallend. heili – ha-heili – ha- hilf –

hilf!

JUSTUS.
Dir –?
CHRISTIAN
röchelnd.
Hilf, Justus! ich dank dir's! ich sterbe! ich fühl's!
JUSTUS.
Dann stirb, Giftmischer!
[98]
CHRISTIAN
mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd.
Hab Dank, du – M-Mörder! Er sinkt zusammen.
JUSTUS
sich an die Brust fassend.

Ich –? – Hart, mit abwälzender Handbewegung. Lächerlich! – Er geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft. Anne! Schwester Anne! – Sie kommt, er zeigt auf Christian. Sehen Sie ob noch zu helfen ist; ich möchte den Arzt nicht bemühen.

ANNE
auf die Papierfetzen deutend.
Was ist geschehen? War das die Versöhnung?
JUSTUS.
Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich –
ANNE
rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus sich links auf die Stuhllehne stützt.
Das Herz, das klopft noch – –
CHRISTIAN
traumhaft.
Anne, bist Du's –?
ANNE.
Ja, Herr Christian, ich; – nur still – nur nit bang –
CHRISTIAN.
Sie sollen mich nicht so ansehn alle!
[99]
ANNE.
Nein, Herr Christian, niemand – nur ich! –Sich aufrichtend, mit unabweisbarer Frage. Herr Justus –?
JUSTUS
von ihrem Blick bezwungen.
Ja, dann ist's meine Pflicht, den Arzt zu rufen – Geht gesenkten Hauptes hinaus. – –
CHRISTIAN.
Sind wir allein, Anne?
ANNE.
Ganz allein – Sie legt ihren Arm um seine Schultern.
CHRISTIAN.
Ich seh noch immer die Augen alle – – nicht M-Menschenaugen –
ANNE.
Engelaugen – –
CHRISTIAN.
Sie wollen alle, ich soll es s-sagen nur einmal sagen –
ANNE.
Dann ist's gesühnt – –
CHRISTIAN.
Ich – hörst du, Anne?
ANNE.
Gott will es hören – –
[100]
CHRISTIAN.
Ich – hilf doch, Anne!
ANNE.
Nur Gott kann helfen – –
CHRISTIAN.

Ich – ich – haha-habe – – Jäh sich aufbäumend, schreiend. Nein, GottSich ans Herz greifend, selig lächelnd. ich nicht! – Er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch. – –

ANNE
faßt ihn bang bei der Schulter.

Herr Christian – lieber Herr Christian – – Neigt ihr Ohr an seine linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände zu stillem Gebet. – –

JUSTUS
öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit heiser drängender Stimme.

Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? – Da Anne zurückweicht, barsch auf sie los. Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid!

ANNE
noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür weisend.

Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! – Justus, langsam sich an die Brust fassend, starrt auf den Toten.


Vorhang.
[101]

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TextGrid Repository (2012). Dehmel, Richard Fedor Leopold. Dramen. Die Menschenfreunde. Die Menschenfreunde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/