Gericht der Nacht

(Olga.)


Es flog der Staub, und die Enge zwang –
Und alles so grau, verschwommen und kalt! –
Du sprachest: Wo blieb dein stolzer Drang –
[82]
Deiner Seele glühender Ueberschwang –
Deiner Liebe todtrotzige Flammengewalt?
Und ich hieß dich gehen! – Die Enge zwang –
Und des Tages bleiches Larvenspiel ...
Ich war so müde ... der Vorhang fiel –
Und mich umdünstete Fäulnisgestank ...
Und ich hieß dich gehen! – Und nun kam die Nacht.
Weit wichen die Schranken – die Einsamkeit
Gebar mir ein großes, stolzstilles Leid,
Das trug triumphierender Freiheit Fracht! ...
Du gingst! Was bist du nicht bei mir geblieben?
Kanntest du nicht mein grenzenlos Lieben?
Zu Tag fliegt der Staub – nur die Enge zwingt,
Bis sie den Trotzigsten zerrieben –
Du gingst! Was bist du nicht bei mir geblieben?
Kanntest du nicht mein grenzenlos Lieben?
Das wandelte sich in der Einsamkeit
Zu heißem, brünstig mahnendem Leid,
Das flehend vor dir niedersinkt!
Du gingst! Was bist du nicht bei mir geblieben?
Kanntest du nicht mein grenzenlos Lieben?
Das brandet zur Nacht, da die Engnis zerbrach!
Es hieß dich gehen der staubgraue Tag
Und die blöde Sprache des Lichts!
[83]
Ich liege schlaflos. Und es ergreift mich tief,
Daß meiner Liebe Gewalt dich nicht heimwärts rief –
Meine Sehnsucht, die nimmer zu zügeln!
Da! Rauscht's nicht durch die Schatten der Nacht
Von leise schlagenden Flügeln?
Ich wähne: es ringen die Boten sich los
Aus der Finsternis schlündigem Kraterschoß,
Mir tagestraurigem Helden
Das Urteil zu vermelden –
Die Boten des stummen Gerichts!
Ich liege schlaflos. Es richtet die Nacht.
Nein! Kein Erbarmen!
Und mir ist's: durch alle Himmel tönt –
Durch alle Sphären schreit und dröhnt
Dem im Staube gefallenen Armen
Das große, verzehrende,
Seelenzerstörende,
Das große, befreiende,
Seelenerneuende,
Gewaltige Reuekarmen!
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Oh! Warum bist du nicht bei mir geblieben?
Kanntest du nicht mein grenzenlos Lieben?
Ihr Flammen verglühet –
Ihr Rosen verblühet –
Die Finsternis brütet – –
Ich liege schlaflos und weine still,
[84]
Daß mir durch die nächtigen Lande
Im Nebelgewande,
Im wallenden, weißen,
Die ich gehen geheißen,
Weiter ... und ... weiter ... entwandern ... will ...

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Conradi, Hermann. Gedichte. Lieder eines Sünders. Im Strudel. Gericht der Nacht. Gericht der Nacht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5855-4