Brief an Andres

Der Mensch kann glauben; aber er kann nicht glauben was er will. Sein Glauben hängt an Ursachen, die von seinem Wissen und Willen verschieden, und nicht allerdings in seiner Gewalt sind. Man kann, wie dasKananäische Weib, wenig wissen, und großen Glauben haben; und, wie die Pharisäer, viel wissen, und doch nicht glauben, usw.

Davon schrieb ich Dir, vor einiger Zeit, einen Brief, und schloß ihn so: »Darum sehe ich die Geschichten, wo vom Glauben die Rede ist, fleißig an, und merke auf den Sinn solcher Leute, um daraus zu lernen: nicht was ich noch wissen muß, um glauben zu können; sondern was ich noch vergessen, mir aus dem Sinn schlagen und von mir abtun muß, damit derGlaube recht an mich haften könne.« – – Und nun willst Du, daß ich Dir auch schreibe: wie ich die Geschichten angesehen, und was ich an dem Sinn solcher Leute gemerkt habe.

Lieber Andres, Du hast gewiß schon selbst angesehen und gemerkt; und auf Deiner Einfalt ruhet ein Segen, der andernorts fehlt. Indes wir schlagen uns einander nichts ab, und so will ich an ein paar Geschichten Probe geben.

Zuerst von dem Hauptmann zu Kapernaum, der eigentlich ein Heide war, und »solchen Glauben hatte, als in Israel nicht funden worden«.

Dieser Hauptmann lag nun zwar in einer Gegend in Quartier, wo unser Herr Christus seine meisten Wunder getan hat; aber die Anhänger, und Erzähler und Ausbreiter dieser Wunder waren aus dem geringen Volk. – »Glaubt auch irgendein Oberster und Pharisäer an ihn? Sondern das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, ist verflucht.« – Daraus denn abzunehmen ist, was die Honoratiores von Christus, und von denen, die ihm nachliefen, dachten, oder wenigstens ihrer Ehre gemäß hielten, zu sagen.

Und er, der Hauptmann, war Offizier in einer Armee, welche alle großen Reiche in Afrika, Europa und Asien überwältigt, und was sich widersetzte und nicht beugen wollte, zu Boden geworfen hatte.

[666] Nun kann dies freilich von verschiedenen Seiten angesehen werden; aber man weiß, von welcher Seite es der Mensch ansieht, und daß es sehr natürlich ist, sich des zu überheben, sonderlich bei und unter einem Volk, das sein Ansehen in der Welt verloren hatte, und mit seiner alten väterlichen Sitte und Religion den aufgeklärten und hochfahrenden Römern, vom Landpfleger an bis zu dem geringsten Troßbuben, zum Gespött und Gelächter diente.

Es war denn gar nicht in dem Charakter eines solchen Römers, bei einem Juden, dem Wundermann des geringen Volks, Hülfe und Rat zu suchen. Wenn seine Feldärzte keinen Rat wußten; so war kein Rat in der Welt, und der arme gichtbrüchige Knecht konnte verzagen und sterben. Er taugte so im Felde nicht mehr.

Wäre nun der Hauptmann zu Kapernaum ein so gesinnter Hauptmann gewesen; so hätte er nicht geglaubt und nicht glauben können.

Wie lauten denn bei ihm die Worte? – »Ich bin einMensch, dazu der Obrigkeit untertan.« – Er verachtete die Überwundenen nicht, er »hatte das Volk der Juden lieb«; hatte ihnen sogar, nach dem Lukas, ihre Schule erbauet. Und als sein Knecht zu Hause lag und gichtbrüchig war und »große Qual hatte«; konnte er ihn ohne Hülfe nicht lassen, und schämte sich nicht, sie, wo sie war, zu suchen; ging selbst zu dem jüdischen Wundertäter in den Flecken vor allen Leuten, und erkannte ihn an, und bat ihn um Hülfe – und bekümmerte sich nicht darum, was die Honoratiores und die andern Offiziers dazu sagen und denken würden: »Herr, mein Knecht lieget zu Hause, und ist gichtbrüchig und hat große Qual.«

Vermutlich dachte er, Christus würde, wie mehrmals geschehen war, durch ein Allmachtswort auf der Stelle helfen, und ihm sagen: Gehe hin, dein Knecht lebet. Und das war alles, was er dem Wundertäter zumuten, und von ihm annehmen konnte. Als aber Christus zu ihm sprach: »Ich will kommen und ihn gesund machen« – das verdiente er nicht, das war zu viel für einen Mann wie er: »Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.«

Man sieht hier keine Spur, daß dieser Hauptmann sondre Einsicht und Wissenschaft hatte, mehr als andre; aber er hatte nicht, was andern im Wege ist.

Stolz, Selbstsucht, Eigendünkel sind dem Glauben zuwider; [667] er kann nicht hinein, weil das Faß schon voll ist. Wer sich selbst erhöhet, sagt die Heilige Schrift, der wird erniedriget werden; wer aber sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.

Dasselbe, wie nämlich ein demütiger, nach Gott dürstender Sinn dem Glauben offenstehe und ihn an sich ziehe, lehret und prediget noch handgreiflicher die schöne Geschichte, Act. 10, von dem Hauptmann Cornelius, die wir uns aufsparen wollen, wenn ich zu Dir komme.

Und dasselbe bestätiget auch die Geschichte des Kananäischen Weibes.

Ihre »Tochter war vom Teufel übel geplaget«, und als unser Herr Christus in die Gegend Tyri und Sidon kam, ging sie aus derselbigen Grenze, und schriee ihm nach, und sprach: »Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein«, und hörte nicht auf, hinter ihm her zu schreien.

– »Und er antwortete ihr kein Wort.« –

Schon das hätte ihr hart scheinen können. Sie hatte von Christus gehört, daß er helfen könne, und oft geholfen hatte; sie war ihm voll Hoffnung und Vertrauen über die Grenze nachgegangen, und hatte ihn herzlich gebeten – und was sie bat, war nichts Unbilliges etc.

Manche Mutter wäre hier vielleicht irre und kalt geworden; aber das Kananäische Weib wird nicht irre und kalt. Sie bleibt fest und unbeweglich in ihremGlauben: er kann helfen, und er wird helfen.

Bisher hatte sie ihm nur von ferne nachgeschrieen; nun kam sie und fiel vor ihm nieder, und sprach: »Herr, hilf mir!«

– »Herr, hilf mir!« – Man kann diesen Schrei eines zerrissenen Mutterherzens nicht ungerührt und ohne Teilnahme hören, und erwartet aus dem holdseligen Munde Christi ein gütiges und erfreuliches Wort für sie.

Aber er antwortete und sprach: »Es ist nicht fein, daß man den Kindern das Brot nehme, und werfe es für die Hunde.«

Wer je in Not und Verlegenheit war, und in der Angst an jemand, zu dem er Vertrauen hatte, eine Bitte wagte, und abschlägige Antwort erhielt, der weiß, wie eine solche Antwort tut, wenn sie auch mit Glimpf und guter Wendung gegeben wird.

Wenn man aber, bei der Gelegenheit, noch Unangenehmes und Hartes hören muß; das schmerzt und verwundet tief, und hört sich nicht gelassen an. Hält man auch äußerlich die Empfindlichkeit [668] zurück; so fühlt man sich doch in sich unwillig, niedergeschlagen und beleidigt. Auch der natürlich gutgesinnte Mensch kann nicht anders. Die Natur nimmt übel.

Bei dem Kananäischen Weibe nichts von alledem. Ihr Herz ist gediegen und fix, und die flüchtige Natur und Empfindlichkeit ist abe.

Sie hört den Mann Gottes, den sie so herzlich gebeten hatte, die harten Worte aussprechen, und wird nicht beleidigt. Sie hatte geglaubt, daß ein solcher Mann für alle Menschen sei, und daß alle, die in Not sind und Hülfe brauchen, gleiches Recht an und zu ihm hätten. Nun das aber nicht ist, nun sie hört, daß die Juden die Kinder sind, und ihnen das Brot gehört; tritt sie gleich zurück. Sie kann denn kein Brot verlangen, verlangt auch kein Brot.

»Aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fallen.« –

Da antwortete Jesus und sprach: »O Weib, deinGlaube ist groß; dir geschehe, wie du willt.«

Und, Andres, es geschieht gewiß einem jedweden, wie er will, wenn er so gesinnt ist, und wenn er soglaubt.

»Wer zweifelt«, sagt Jakobus, »der ist gleich, wie die Meereswoge, die vom Winde getrieben und gewebet wird. Solcher Mensch denke nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde.«

Ein solcher war Petrus. Der vertraute gleich den Worten Christi, und glaubte, und »ging auf dem Wasser, daß er zu Jesu käme«. Als er aber den starken Wind sahe, erschrak er, und hub an zu sinken. Jesus aber ergriff ihn, und sprach zu ihm: »O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du.«

Du wunderst Dich, Andres, daß solche Erfahrungen so selten sind, und daß so wenig Glauben in der Welt ist! – Du besinnst Dich nicht, sonst würdest Du Dich nicht wundern.

Christus sagte, was nicht oft genug wiederholet werden kann, zu den Pharisäern: »Wie könnet ihrglauben, die ihr Ehre voneinander nehmet, und die Ehre, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht.«

Wenn man das bedenkt, und dann aufrichtig in seinen eignen Busen greifet, und um sich her das Wesen und Treiben unter Gelehrten und Ungelehrten ansieht; wenn man bedenkt, wie, nach dem Beispiel der Hauptmänner von Kapernaum und Cäsarien, und des Kananäischen Weibes, der Mensch gesinnt sein [669] muß, um glauben zu können; so weiß man, woran man ist, und wundert sich nicht mehr.

Auch kann hin und wieder etwas der Art geschehen, ohne daß es bekannt wird. Denn der Glaube ist nicht laut. Er spricht bei sich selbst »möchte ich nur sein Kleid anrühren etc.«, und »tritt von hinten zu ihm«. Und, wenn er gesund worden ist; so ist ihm das heilig, und er mag es sich selbst kaum gestehen. –

Was Du über die ersten Christen, die von dem Nero, um ihres Bekenntnisses willen, gemartert und getötet wurden, und über uns, wenn wir in jenen Zeiten gelebt hätten usw. am Ende Deines Briefes schreibst, Andres, das hat mich recht gerührt. – Du lieber, herziger, bescheidener Andres!

Aber Du irrest Dich über Dich selbst. Deine Ergebung, Dein Beten für den Nero, und Deinen Widerwillen gegen alle Selbstgewalt, wenn sie auch in Deiner Macht wäre, gebe ich Dir gerne zu. Aber Deine Zaghaftigkeit, wenn die Reihe an Dich gekommen wäre, kann ich Dir nicht zugeben.

Freilich man denkt nicht immer gleich, und ist einem an Ort und Stelle anders zumut als auf seiner Stuben; und darum muß man auch nicht in jenen Zeiten gelebt haben wollen. Aber, wenn wir damals gelebt hätten; Du wärest nicht gelaufen, das weiß ich; und Du hättest Dein Leben nicht teuer geachtet.

Wer über diese Welt hinaussieht, und sich der andern bewußt ist, der vergilt nicht Böses mit Bösem, und trotzt nicht; aber er fürchtet auch nicht, und erschrickt nicht. – Können sie doch nur den Leib töten, und mögen die Seele nicht töten! Und was ist denn der Leib und das Leben, wenn von Christus die Rede ist.

Nein, Andres, Du wärest nicht gelaufen. Du hättest vor dem Nero das gute Bekenntnis unverhohlen bezeuget, und Deinen Kopf hingehalten.

Und wenn ich den hätte fallen sehen – ich stehe für nichts; wer wird sich vermessen. Aber, mich dünkt, ich hätte mein Halstuch gelöst, und dem Nero gesagt: hast du denn nur einen Segen, Tyrann; segne mich doch auch.

Ade, lieber Andres; und schreibe bald wieder.

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TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Gedichte und Prosa. Asmus omnia sua secum portans. Achter Teil. Brief an Andres. Brief an Andres. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-55EA-E