Über die neue Politik

Einleitung

Alle Beiträger und Herausgeber versprechen ihren Lesern die Wahrheit; ich auch. Doch muß ich aufrichtig sagen, daß ich nicht ohne Skrupel bin, ob alle Beiträger und Herausgeber, mich selbst [416] nicht ausgenommen, auch halten können, was sie versprechen. Eigentlich kann man nur geben was man hat, und bisweilen hat man nicht, was man meinet zu haben. Freilich, die Wahrheit sollte immer und in allen Fällen uns leiten – aber gewöhnlich leiten wir sie; und denn meinen wir wohl sie zu haben, wir haben sie aber nicht. Indes wird das so genau nicht genommen, und der Wohlstand erfodert, daß man die Wahrheit wenigstens verspreche. Auch mag der Leser noch mit den Herausgebern zufrieden sein, wenn sie ihm nur nichts anders geben, als was sie ehrlich meinen, und es ihm für nichts mehr als was es ist geben, nämlich für ihre Meinung; denn alsdann kann er zusehen, Meinung gegen Meinung vergleichen, und sich so Schadens erwehren.

Es gibt bekanntlich zu dieser unsrer Zeit politische Meinungen, die von denen, die man sonst hatte, abgehen; ein sogenanntes neues System, das dem alten, das bis daher, unter verschiedener Gestalt, in der Welt geachtet und geltend war, entgegen ist. Man ist mit diesem neuen System grade nicht zurückhaltend gewesen, und könnte es also immer als bekannt vorausgesetzt werden. Da es indessen von allen nicht einerlei, sondern mit Abänderungen und mit mehr und weniger Bescheidenheit oder Atrozität vorgetragen wird; so soll hier zum Überfluß einiges angeführt werden, damit ein jeder selbst mit sehe, und sich über die Hauptzüge desselben selbst mit zurechtfinde.

Nach dem alten System: sind in einem großen Hause, goldene, silberne und irdene Gefäße, etliche zu Ehren, etliche zu Unehren; nach dem neuen: sind alle Gefäße gleich, an Materie und an Form. Nach dem alten: ist der König, die Regierung, der Regent etc. Regent, und der Untertan ist Untertan; nach demneuen: sind alle Menschen frei und haben gleiche Rechte. Nach dem alten: macht der Regent die Gesetze, und der Untertan befolgt sie; nach dem neuen: haben alle Staatsbürger zu und an der Gesetzgebung Recht und teil. Nach dem alten: ist der Untertan aus Not untertan, nicht allein um der Strafe sondern auch um des Gewissens willen; nach dem neuen: aus richtigen Begriffen. Nach dem alten: ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; nach dem neuen: macht sich der Mensch seine Einrichtungen selbst; alle Gewalt ist im Volke, das damit bekleidet und davon entkleidet wen und wie es will. Kurz, nach dem alten System: ist der König etc. ein Hirte, der seine Herde auf grüner Auen weidet, ein Vater der seiner Kinder hütet und wacht, ein wohltätiger Genius von höherer Hand bestellt [417] für sein Volk zu denken und zu wollen und mit stiller Liebe über ihm zu schweben, und das Volk, das sich seiner Rechte und des bürgerlichen Selbstdenkens und Selbstwollens begeben hat, lebt im Glauben und im Vertrauen; und das neue System scheint, die Äußerungen unsrer Schriftsteller zusammengenommen, ein allgemeines reines Vernunftregiment zu sein. Die Staatsbürger tun alles selbst; die Schafe weiden sich auf der grünen Aue selbst; die Kinder wachen und hüten ihrer selbst; das Volk schwebt selbst über sich selbst; mit einem Wort: jedweder einzelne ist im Genuß seiner Rechte, und soll, als Staatsbürger, selbst denken und selbst wollen – und darum muß er nun über die Menschenrechte etc. belehrt, und aufgeklärt werden usw.

Es gibt eine Seite, von welcher angesehen diesneue System nicht ohne Schein ist. Das alte ist offenbar großem Mißbrauch unterworfen, und es scheint, daß diesem Mißbrauch durch das neue gewehrt und abgeholfen werde. Und überhaupt ist diese Behandlungsart, wo jeder einzelne Mensch als ein Wesen, das Verstand und Willen hat, behandelt wird, wenn sie praktikabel ist, wohl edel und ehrenwert. Endlich wird: ob der Mensch als Mensch seine Rechte habe, schwerlich irgendwo bezweifelt werden – daß also hier das »Nachsinnen und Wiederkäuen und Bewegen im Herzen« keinem Menschen verargt werden kann, und ihm nicht zur Schande sondern zur Ehre gereicht. Wenn man aber in einer so ernsthaften Sache zufährt, und schon als ausgemacht annimmt was erst ausgemacht werden sollte; wenn man gleich zum Werk schreitet, und heimlich und öffentlich, in Zeitungen und Büchern, gesalzen und ungesalzen, sanft und mit Rumor, von Freiheit und Menschenrechten verkündigt und predigt, und unbedingt mit Aufklärung an dem Menschen hantiert; so ist die Prozedur etwas voreilig und tumultuarisch, und der Kanzler von Ephesus würde sagen: »Ihr Männer von Ephesus, welcher Mensch ist der nicht wisse, daß das Volk nicht zertreten werden soll, und daß es Menschenrechte gebe. Weil nun das unwidersprechlich ist: so sollt ihr ja stille sein, und nichts Unbedächtiges handeln – hat aber jemand zu jemand einen Anspruch: so hält man Gericht und sind Landvögte da; lasset sie sich untereinander verklagen. Wollt ihr aber etwas anders handeln, so mag man es ausrichten in einer ordentlichen Gemeine. Denn wir stehen in der Fahr, daß wir um dieser heutigen Empörung verklaget möchten werden, und doch keine Sache vorhanden ist, damit wir uns solcher Aufruhr entschuldigen möchten.«

[418] Ich sage, die Prozedur sei etwas voreilig. Wir irren alle mannigfaltig. Es könnte doch sein, daß wir auch hier irreten; hier: wo der Irrtum so leicht zu begehen, und so schwer zu vermeiden ist; wo der Bogenschütze nicht bloß vor sich zu sehen hat, sondern auch: was der Pfeil tun und anrichten werde, wenn er von seinem Bogen dahin, und nicht mehr in seiner Gewalt ist; hier: wo es nicht genug ist, daß der Regenbogen in der Luft mit schönen Farben spiele, sondern wo er auch auf die Erde muß können niedergebeugt werden ohne seine Farben zu verlieren, und wo eine ungemeine Erfahrung und eine feine Mathesis dazu gehört, die Strahlenbrechungen bei der Operation im voraus sicher zu berechnen. Denn wir sollen doch nur wollen, was am Ende und wahrhaftig wahr und gut ist, und nicht was nur gleißet und scheint.

Das neue System nun hat großen Eingang und viele Anhänger gefunden, unter allen Klassen von Menschen, und das war zu vermuten und ist kein Wunder.Übelgesinnte Menschen konnten glauben: ihre Rechnung dabei zu finden; eitle und leichtsinnige Menschen waren von jeher eitel und leichtsinnig, und regieren mögen wir alle gern. Auch die Gutgesinnten waren nicht allerdings schußfrei. Ihr edler Unwille über die Schmach und Schande, die Menschen zu allen Zeiten von der Tyrannei haben erdulden müssen, konnte ihnen ins Auge treten, und es so, in diesem System, was es gerne sehen wollte, Land sehen machen; sie konnten, indem sie für ihr Geschlecht einen Tag des Heils heimlich herwünschten, sich durch denSchein eines Anbruchs übernehmen lassen: das Heil von dieser Seite zu erwarten, und ihm mit Freudengeschrei entgegengehen.

Und wenn das Heil würklich da und im Anzuge wäre, wer ginge nicht gerne mit ihnen! – Ist doch des Menschen Herz in seinem Inwendigsten geneigt zu Liebe und Wohlwollen! – Wird es doch nicht befriedigt als durch eine unvermischte, ungestörte und allgemeine Glückseligkeit, wo die Wellen hoch, und rundum bis an den Horizont schlagen! –

Wer aber überzeugt ist, daß von dieser Seite nur Unordnung und Unglück, und kein Heil komme; und daß das alte System, mit allen seinen Gebrechen, das einzige sei, das die Menschen bürgerlich zusammenhalten und glücklich machen kann; – soll der auch mitgehn und frohlocken? – Das soll er nicht! Sondern er soll, nun es einmal darüber zur Sprache gekommen ist, treu und unverhohlen dagegen sagen: was er dagegen weiß, und so gut er [419] es weiß, es bringe ihm Dank oder Undank. Er soll sagen, was wahr ist, und was zum Friede dienet, und was zur Besserung untereinander dienet, mit sanften freundlichen Worten. Wiewohl ihm etwas Eifer nicht zu verübeln wäre. Denn die Sache ist des Eifers wert; und die Löwin, die ihre Jungen verteidigt, pflegt nicht mit dem Schwanz zu wedeln.

Solange politische Meinungen in der obern Atmosphäre, der Region der Gelehrten, verhandelt werden; so geht das die Leute unten auf der Erde wenig an. Wer sich eine gute Rüstung und Mut und Talent fühlt, mag hingehen und Ehre einlegen; und wer sich das nicht fühlt, kann ruhig zu Hause bleiben, und den Verhandlungen zusehen. Seitdem sie aber irgendwo in die untere Region herabgekommen sind, ist die Sache ganz anders, und Maus und Mann sind interessiert. Ein jedweder, der erste der beste, springt wie er geht und steht hervor; nicht, weil er recht haben oder Ehre einlegen, sondern weil er selbst zusehen, und sich in einer so wichtigen Sache nichts will auf die Nase binden lassen.

Und das ist mein Fall. Ich hasse mich und meine Mitmenschen nicht, und es ist mir nicht gleichviel, ob es mir und andern wohl oder übel gehe.

Ich sehe freilich auch wohl ein, daß manches in der Welt anders sein könnte und sein sollte, und daß eine Besserung nicht unnötig wäre; nur kommt es mir vor, daß die Besserung nicht ärger als das Übel sein müsse, das man bessern will; daß man den Kopf nicht drangeben müsse, um das Ohrläppchen zu retten, und daß ein kleineres Glück, das man hat, besser sei, als ein größeres, das man erst haben soll usw.

Auch kommt es mir so vor, daß die äußern Einrichtungen es allein wohl nicht gar täten. Es gibt Republiken, und doch sind dort Mißvergnügte. Also am Menschen liegt es. Dem ist nichts gut und nichts recht; der will immer etwas anders und etwas Neues; will immer bauen und bessern; ist immer nicht reich, nicht mächtig, nicht geehrt genug; und der macht gute Einrichtungen schlecht, und schlechte gut. Der Mensch also muß gebessert werden; und, würde ich raten, nicht von außen hinein. Dreht man doch nicht am Zeiger, daß das Werk in der Uhr recht gehe, sondern man bessert das Werk in der Uhr, daß der Zeiger recht gehen könne. Ebenso möchte ich auch beim Menschen nicht bloß am Zeiger gedreht, sondern das Inwendige gebessert haben, damit auf dem Zifferblatt sich alles von selbst mache. Ich möchte [420] überhaupt, dünkt mich, eine Besserung, dadurch nicht einem Menschen gegen den andern, einer Partei gegen die andre, einem Volk gegen das andre, sondern dadurch allen Menschen, allen Parteien, allen Völkern geholfen würde; kurz eine Besserung, welche die Bösen, gut; die Übelgesinnten, wohlgesinnt; die Törichten, weise; die Treulosen, treu etc. und so, ohne Ausnahme, alle Menschen, Hohe und Niedrige, Fürsten und Untertanen, Freunde und Feinde, zu guten, bescheidenen, barmherzigen, großmütigen, edlen und glücklichen Menschen machte.

Das ist mein Sinn, darauf ich mich verlasse.

Und in diesem Sinn will ich nun, wie Alfred der Harfner, ausgehn, und das feindliche Lager besehen.

Vorläufige Bedenklichkeiten und Zweifel gegen das neue System

Vorläufige Bedenklichkeiten und Zweifel
gegen das neue System

Wenn uns Bewohnern dieser Erde eine neue Sonne gestellet würde, gesetzt auch sie glänzte und funkelte mehr und besser als die alte, und es würde uns, den 20. März, wenn in den Widder getreten und ein neues Jahr wieder angefangen werden soll, freigegeben zu wählen: zwischen der alten und neuen Sonne; – sollten wir da gleich zugreifen? – Ich zweifle grade nicht, daß viele ihre Karte für die neue Sonne abgeben würden; aber ich zweifle auch nicht, daß das übereilt wäre, und daß sie wenigstens einen Gang dieser neuen Sonne durch alle zwölf Zeichen des Tierkreises hätten abwarten sollen, um zu sehen: ob sie auch das leiste, was man von der Sonne erwartet, und was die alte so lange geleistet hat. Besser ist freilich besser; unbesehends aber ist Anhänglichkeit und Vorurteil an und für das Alte edler, als Vorurteil und Anhänglichkeit für und an das Neue. Wenn also die beiden Sonnen gleich gut sind; so muß man für die alte sein, und das von Rechts wegen. Sie hat unserm Geschlecht so lange geschienen; unsre Eltern und Großeltern haben so lange unter ihr gelebt, bei ihrem Lichte gesehen, und an ihren Strahlen sich gewärmt; sie hat, wenn auch hie und da ein Gewitter generiert oder eine Ernte verbrannt worden, sie hat doch unsern Vätern und unsern Müttern so oft ihre Saaten gereift, und Äpfel und Birne gemacht etc. – Es wäre doch undankbar: den alten Freund und Wohltäter aufzugeben, und sich an den neu ankommenden Funkler zu hängen.

Was die alte Sonne ist gegen die neue, das ist eine bisherige [421] Einrichtung gegen eine andre für jedes einzelne Land, und das alte System gegen das neue für die ganze Welt. Doch ist das nur, wenn beide Systeme gleich gut wären. Das scheint nun aber der Fall nicht zu sein; denn, außer dem, daß die neue Sonne nicht die alte ist, hat sie manches wider sich, das einem gleich vor ihres Tempels Tür und auf der Treppe entgegenkommt.

Als zum Exempel, so scheint es ganz natürlich, daß einer oder wenige viele regieren; unnatürlich aber, daß viele einen regieren; am allerunnatürlichsten aber: daß alle alle regieren sollen. Jeder einzelne Mensch hat alle Hände voll zu tun, mit sich allein einig zu werden. Und doch sollen hier, z.B. in einem Staat von nur 100000 Menschen, 100000 einzelne Menschen, außer mit sich selbst, noch mit andern 99999 einig werden.

Gleich noch eins, das un- oder widernatürlich scheint. Nach dem alten System sind die Staatskräfte zweierlei, einige aktiv andre passiv, Mann und Weib; nach dem neuen sind sie Mann und Weib zu gleich, und also hermaphroditischer Art. Im Physischen ist aber das erste, der Gang und Griff der Natur; und das andre, gewöhnlich, der Mißgriff.

So fällt bei dem neuen System auch das sehr auf, daß von Anfang der Welt bis itzt, fünf- bis sechstausend Jahre hindurch, z.E. immer Monarchien gewesen sind, und daß nun, am Ende der sechstausend Jahre, herausgebracht wird, daß nie keine hätten sein sollen. Von jener berühmten Stadt erzählt man wohl, daß dort die Inquisiten erst gehängt werden, und daß denn ihr Prozeß instruiert wird. Aber dem ganzen menschlichen Geschlecht, von seinem Ursprung an bis itzt, ein solches Procedere beilegen! –

So ist ferner der allgemeine Beifall, und der leichte Eingang, den das neue System findet, etwas bedenklich. Es ist mit unsrer Seele, wie mit unserm Körper. Sie hat auch eine Zunge und hat einen Magen. Der Zunge gefällt das Bittere nicht, aber dem Magen ist es heilsam und gesund; und, was den Magen verdirbt, gefällt der Zunge wohl. Es ist aber eine alte Sage, daß die Wahrheit nicht süß sei.

Auch das erregt kleinen Zweifel, daß die Verteidiger des neuen Systems selbst nicht alle recht zu trauen scheinen, und daß die Bescheidenen unter ihnen würklich zurückhaltend sind, und lieber nicht zu weit vorrücken wollen.

Doch sehr große Zweifel und Bedenklichkeiten er regt die Differenz in der innerlichen Gestalt der alt-und neusystemischen [422] Staatsbürger. Ein Mensch, der seine Rechte hingibt und Gott und seinem König vertraut, ist in sich ein lieber Mensch; wenn er nicht schon gut ist, so bessert ihn die Liebe; und mit ihm ist leicht fortkommen. Diesem Menschen ist innerlich wohl, und so ist er nicht geneigt, äußerlich weh zu machen. Er ist gehorsam, willfährig, bescheiden etc., und prätendiert immer weniger als er kann.

Was aber soll man, Ausnahmen verstehen sich von selbst, von einem Menschen erwarten, der kein Vertrauen hat; der alles selbst sehen und betasten will, und immer über seine Rechte brütet? Wenn der nicht auf sehr festen Füßen steht, so stößt ihn die neue Einsicht um; und, unbesehends, ist er kein guter Nachbar. Er führt natürlich immer die Liste seiner Rechte bei sich, ist ungestüm, mißtrauisch, prätendiert immer nicht weniger als er kann, und weiß alles besser. – Und nun ein ganzer Staat von solchen Rechtsgelehrten!

Die ältesten Könige aller alten Völker waren Götter oder Halbgötter, die Söhne der Sonne und der Sterne; und uns andern werden noch die Könige und Regenten von Gott gegeben. Die Völker bedurften denn bisher, um regiert zu werden, Gottes und eines Regenten. Itzo bedarf der Mensch weder des einen noch des andern; er kann alles selbst tun, und ausrichten. Diese Veränderung im Menschen ist groß, und unbegreiflich! Und sie ist bewürkt worden? Durch die Entdeckung der Menschenrechte. Aber wie ist das möglich? Und wie soll das zugehen? – Rechte sind doch am Ende nur Rechte und keine Kräfte, und dazu sind diese Rechte nicht einmal neu gegeben, sondern nur entdeckt worden! – Man wird freilich sagen: die Völker bisher bedurften des alles nicht, sondern standen nur in dem Wahn, des alles zu bedürfen. Ja, aber die Menschen itzo können des alles nicht entbehren, sondern stehen nur in dem Wahn, des alles entbehren zu können.

Auch die neugemachte Entdeckung der Menschenrechte selbst hat viel Unbegreifliches, und darin man sich nicht finden kann. Gewesen sind, natürlich, diese Rechte seit Anfang der Welt; denn die ersten Menschen müssen sie doch wohl so gut gehabt haben, als die letzten. Also gewesen sind die Rechte seit Erschaffung der Welt. Und sie hätten sich so lange verborgen gehalten! Wären itzo allererst an den Tag gekommen! Und keiner von so vielen großen, weisen und weltberühmten Männern wäre darauf geraten! – Kein Ägypter! – Kein Grieche! – Nicht Sokrates![423] – Nicht Plato! – Nicht Konfuzius! – Nicht Newton! – Nicht Leibniz! – Keiner! –

Zwischenbetrachtungen über die Bekanntmachung der Menschenrechte

Den 2. Oktober 1789 anerkannte und deklarierte die französische Nationalversammlung zu Versailles die folgenden Rechte des Menschen und des Bürgers, und legte sie dem Könige zur Genehmigung vor:


  • »1. Artikel. Alle Menschen werden geboren, und bleiben, gleich an Rechten. Die gesellschaftlichen Unterschiede können in nichts als in dem gemeinen Besten gegründet sein.
  • 2. Der Zweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Diese Rechte sind, die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, und der Widerstand gegen die Unterdrückung.
  • 3. Das Prinzipium aller Obersten Gewalt ruhet wesentlich in der Nation. Kein Kollegium, kein einzelner Mensch, kann irgendeine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich von daher ausfließe.
  • 4. Die Freiheit besteht darin, daß man alles das tun kann, was einem andern nicht schadet: also hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jedweden Menschen keine Grenzen als diejenigen, die den andern Gliedern der Gesellschaft den Genuß der nämlichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nicht anders als durch das Gesetz bestimmet werden.
  • 5. Das Gesetz hat nicht das Recht etwas anders zu verbieten, als die Handlungen die der Gesellschaft schädlich sind. Alles, was nicht durch das Gesetz verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann gezwungen werden das zu tun, was das Gesetz nicht befiehlt.
  • 6. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle die Staatsbürger haben Recht, persönlich, oder durch ihre Repräsentanten, wenn es gemacht wird, teilzunehmen. Es muß das nämliche für alle sein, es mag beschützen oder strafen. Alle die Staatsbürger, da sie in seinen Augen gleich sind, haben gleichen Anspruch zu allen öffentlichen Würden, Stellen und Ämtern nach ihren Fähigkeiten, und ohne [424] andern Unterschied als den ihre Tugenden und ihre Talente machen.
  • 7. Kein Mensch kann angeklagt, arretiert, noch in der Gefangenschaft gehalten werden, als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen, und nach den Formalitäten die es vorgeschrieben hat. Diejenigen, welche willkürliche Befehle nachsuchen, ausfertigen, ausüben oder ausüben lassen, müssen gestraft werden; aber ein jeder Staatsbürger, der in Kraft des Gesetzes vorgefordert oder in Verwahrung genommen wird, muß augenblicklich gehorchen: er macht sich strafbar durch den Widerstand.
  • 8. Das Gesetz muß nur unumgänglich und augenscheinlich notwendige Strafen festsetzen, und niemand kann gestraft werden, als in Kraft eines vor dem Verbrechen festgesetzten und öffentlich bekanntgemachten und gesetzmäßig angewandten Gesetzes.
  • 9. Da ein jedweder Mensch für unschuldig gehalten wird, bis er für schuldig erklärt worden ist; so muß, wenn es unumgänglich erkannt wird ihn zu arretieren, alle Härte, die nicht notwendig sein möchte um sich seiner Person zu bemächtigen, durch das Gesetz strenge verboten sein.
  • 10. Niemand darf wegen seiner Meinungen, selbst wegen religiöser Meinungen, beunruhiget werden, vorausgesetzt, daß ihre Publizität die durch das Gesetz festgesetzte öffentliche Ordnung nicht störe.
  • 11. Die freie Mitteilung der Gedanken und der Meinungen ist eins von den köstlichsten Rechten des Menschen: ein jeder Staatsbürger kann also frei reden, schreiben, drucken, doch muß er, in den von dem Gesetz bestimmten Fällen, wegen dem Mißbrauch dieser Freiheit zur Verantwortung stehen.
  • 12. Die Aufrechthaltung der Rechte des Menschen und des Bürgers macht eine öffentliche Kraft notwendig: diese Kraft ist angeordnet, zum Vorteil von allen, und nicht zum besondern Nutzen dererjenigen, denen sie anvertrauet ist.
  • 13. Zur Unterhaltung der öffentlichen Kraft, und zu den Unkosten der Administration, ist eine allgemeine Beisteuer unvermeidlich: sie muß unter allen Bürgern gleichmäßig, nach Verhältnis ihres Vermögens, verteilt sein.
  • 14. Alle die Staatsbürger haben das Recht, durch sich selbst oder durch ihre Repräsentanten, die Notwendigkeit der öffentlichen Kontribution auszumachen, sie freiwillig zu [425] bewilligen, die Anwendung derselben zu inspizieren, und ihre Größe, die Art sie einzusammlen, und ihre Dauer zu bestimmen.
  • 15. Die Gesellschaft hat das Recht von einem jedweden öffentlichen Agenten über seine Administration Rechenschaft zu fodern.
  • 16. Eine jede Gesellschaft, darin die Aufrechterhaltung der Rechte nicht sichergestellet, und die Verteilung der Macht und Gewalt nicht bestimmt ist, hat keine Konstitution.
  • 17. Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, so kann niemand desselbigen beraubt werden, es sei denn wenn die öffentliche Not, gesetzmäßig erwiesen, es augenscheinlich erfordert, und unter der Bedingung einer gerechten und vorläufigen Schadloshaltung.«

Das da ist die Urkunde und der Kodex der Menschenrechte und -freiheit; eine Charta Magna, dadurch dem menschlichen Geschlecht etwas gegeben sein soll, das es vorhin nicht hatte!

Ich habe dies schöne Schaugericht glänzender Wahrheiten und Worte hieher gesetzt zum Vergnügen der Leser die es noch nicht gesehen hatten; und, weil man sich bisweilen Dinge, in der Ferne und auf Hörensagen, anders vorstellt als sie sind, oder, weil sie bisweilen anders sind als man sie sich vorstellt.

Es kommt in dieser Urkunde der Menschen- und Bürgerrechte eigentlich von Menschenrechten wenig vor; das meiste betrifft den Bürger. Und, wie es überhaupt mit allgemeinen Wahrheiten und Sprüchen ist, so ist es auch mit diesen. Sie sagen alles, und sagen nichts; nehmen mit der einen Hand, was sie mit der andern geben! Sind wächserne Heilige, die nach allen Seiten gerecht sind; eine Materia prima, die noch zu Bäumen und Metall, zu Tauben und Tiger werden kann. So ist, z.E., gleich der 1. Artikel, item der 6., ohne Zweifel, gegen einen Adel, und gegen einen Monarchen gemeint, und soll ihnen die Tür verriegeln. – Und auf der andern Seite öffnen ebendiese Artikel allen beiden die Tür wieder. Denn, wenn, nach dem 1. Artikel, in dem allgemeinen Besten adlige und monarchische Rechte gegründet wären, oder wenn, nach dem 6. Artikel, Tugenden und Talente so groß wären, daß ihnen adlige Ehrenstellen gebührten, oder daß ihnen keine als die eine und erste Stelle im Staat genug wäre; so muß Adel und Monarch sein.

[426] Der 2. Artikel könnte, wie er dasteht, noch wohl debattiert werden. Der Zweck einer jeden politischen Verbindung kann nicht wohl eigentlich Erhaltung der natürlichen Rechte des Menschen sein, weil Verlieren oder vielmehr Einschränken nicht Erhalten ist. Natürliche Rechte des Menschen, scheint es, sind Rechte, die der Mensch als Mensch hat, und ohne alle Rücksicht und Verbindung. Tritt er in Verbindung; sobehält er freilich als Mensch diese Rechte, aber er kann sie nicht in ihrem ganzen Umfange erhalten; weil alle die, mit denen er in Verbindung tritt, eben dieselben Rechte haben, und alle diese Rechte in der Ausübung nicht miteinander bestehen können. Daher auch im 4., 10., 11., 17. Artikeln, die Klagelieder nachkommen, und der 2. darin wieder aufgehoben wird. Als, daß ich ein an sich albernes aber hier sehr gut erläuterndes Exempel gebe, ein jeder Mensch hat das Recht, wenn er allein auf einem Rasen liegt, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Will er aber, damit ihn bei Nacht der Wolf nicht störe, oder um andrer Vorteile willen, als Bürger d.i. in Gesellschaft liegen; so hat er, nach wie vor, das Recht die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Aber die andern haben das Recht auch. Und, weil nun auf dem Rasen für alle Beine nicht Platz ist; so muß er sich zu einer andern Lage bequemen. Und das Geheimnis und die Güte der Einrichtung besteht darin: daß für alle Beine gesorgt werde, und einige nicht zu eng und krumm, und andere zu weit und grade liegen.

In einem Fall, wo, nach diesem Exempel, einer ganzen Nation die Beine bequem gelegt werden sollen; wo einem gedrückten und niedergebeugten Volk Luft gemacht werden soll, den Kopf wieder aufzuheben; sieht man nur auf die Sache, und nimmt übrigens in der Freude seines Herzens alles für voll. Und so mag denn auch wohl der allgemeine Enthusiasmus für die Charta Magna mit zu erklären sein.

Der 3. Artikel ist nur wahr, wenn er wahr ist. Wenn es aber wahr ist, daß alle Oberherrschaft ursprünglich von Gott herkommt; so ruht sie nicht in der Nation. Er steht also bis weiter dahin; denn, daß die Nationalversammlung ihn bekanntgemacht hat: das kann ihn doch nicht wahr machen, und ebensowenig: daß der König ihn genehmigt hat.

Ich lasse die übrigen Sätze in Ruhe. So angesehen freuen schöne allgemeine Wahrheiten, wie zarte Blumen. Aber so leicht, wie sie entstehen, vergehen sie auch wieder; weil sie, wie gesagt, immer [427] geben und nehmen, und zwei Hände haben, dabei man sie anfassen kann. Eine Probe von solchem Geben und Nehmen sind unter andern noch der 10. und 11. Artikel. So schön darin die Denk- und Preßfreiheit aussehen, so unsicher sind sie, und es hängt ganz von der vorbehaltenen Untersuchung über die Meinungen, im 10., und über den Mißbrauch, im 11. Artikel, ab: sie in die ärgste Preß- und Denksperre zu verwandeln. Doch dafür kann niemand, und darum sind allgemeine Sprüche keine positive Gesetze.

Alle Mitglieder der Nationalversammlung waren nicht darüber einig, und stritten lange darüber: ob die Bekanntmachung der Menschenrechte notwendig sei. Und würklich läßt sich über diese Notwendigkeit auch hin und her sehen, und sonderlich: wie allgemeine Wahrheiten, die männiglichen bekannt sind, oder bekannt sein können, die in und auf sich selbst beruhen und keines Menschen Genehmigung bedürfen, dem Könige zur Genehmigung vorgelegt werden. Wenn z.E. der König, der so viele Jahre die öffentliche Kraft gewesen war, und der, nachdem sie zerstört worden, über die unglücklichen Folgen bei aller Gelegenheit, selbst bei der Nationalversammlung, klagte und vorstellte; wenn der, nach dem 12. Artikel, seine Genehmigung dazu geben sollte: »daß zur Aufrechthaltung der Rechte des Menschen eine öffentliche Kraft notwendig, und daß diese Kraft zum Vorteil von allen und nicht zum besondern Nutzen derjenigen, denen sie anvertrauet worden, angeordnet sei«; wenn der König, der die allgemeine Beisteuer so viel und so oft, und leider! zu viel und zu oft eingesammlet hatte, und der nun über das Einsammeln keinen Rat weiter wußte und ebendeswegen die Stände zusammenberufen hatte; wenn der, nach dem 13. Art., seine Genehmigung dazu geben sollte: »daß zur Unterhaltung der öffentlichen Kraft und zu den Unkosten der Administration eine allgemeine Beisteuer unvermeidlich und daß sie unter allen Bürgern gleichmäßig, nach Verhältnis ihres Vermögens, zu verteilen sei«; so mußte ihm das doch sonderbar bedünken. Oder wenn er dazu seine Genehmigung geben sollte: »daß eine Gesellschaft, darin die Aufrechthaltung der Rechte nicht sichergestellet, und die Verteilung der Macht und Gewalt nicht bestimmt ist, keine Konstitution habe«; und: »daß alle Menschen gleich an Rechten geboren werden und bleiben etc.« Der Nationalversammlung gereicht es allerdings zur Ehre: die vergessenen und verachteten Rechte der Menschen auf alle [428] Weise in Andenken und Ansehen zu bringen; aber dem Könige konnte doch an der andern Seite die Genehmigung solcher allgemeinen Sätze überflüssig scheinen; und dazu bedenklich, weil er nicht wissen konnte, was er eigentlich darin genehmigt hatte.

Der König verweigerte auch anfangs zu dieser Bekanntmachung seine Genehmigung, und gab bloß zur Antwort: »daß er sich darüber nicht erkläre; daß sie ganz gute Maximen enthalte die bei künftigen Arbeiten zur Richtschnur dienen könnten, daß aber dergleichen Grundsätze, die so mancherlei Anwendungen und Auslegungen fähig wären, denn allererst richtig beurteilt werden könnten und sollten, wenn ihr wahrer Sinn durch die Gesetze, denen sie zur Grundlage dienen sollten, bestimmt sein würde.«

Er wollte vermutlich zu verstehen geben: daß die Nationalversammlung zu groß für eine solche Arbeit wäre, und daß Philosophieren nicht Regieren sei. Und, wenn man sich den Wert und die Würde einer Nationalversammlung vorstellt; so kommt es einem auch so vor, daß es für die Stellvertreter der Nation, die bestellt waren das dürre Land zu wässern und den Strom des Segens darüber zu bringen und auszuschütten, würklich zu wenig war: dem Volke die hydraulischen Gesetze zu erklären, und ihre Plane und Nivelliermaschinen vorzuzeigen; und daß es diesen Stellvertretern nicht weniger gut angestanden wäre: ihr großes Werk im stillen zu treiben und sich heimlich zu halten und zu verbergen, bis der Strom, hoch daherbrausend, die Wohltäter verraten hätte; und daß es besser gewesen wäre: das Volk, das sie glücklich machen sollten, nicht metaphysisch sondern physisch an sich zu erinnern, und für sich einzunehmen. Und zwar das, wenn im Lande alles, groß und klein, arm und reich, in konvenabler Stimmung gewesen wäre, sich glücklich machen zu lassen. Wenn aber in einem Lande, wie ein ehemaliger Präsident der Nationalversammlung selbst, der Herr Munier, sagt, »seit man von Versammlung der Reichsstände sprach, aller Blick auf die Zukunft gerichtet war, und ein jeder die Begebenheiten nach seinem Interesse und nach seinen Leidenschaften berechnete, und Ehrgeiz sowohl als Haß diesen Augenblick für günstig hielten; die einen während den Konvulsionen der Anarchie die höchste Gewalt an sich zu reißen hofften, und die andern einen Plan hatten: allen Unterschied der Stände aufzuheben, alles zu ebnen, alles durcheinanderzuwerfen, sich mit [429] Trümmern zu umgeben, und das Volk durch das Gift der Ausgelassenheit, das sie unter dem Namen Freiheit dispensieren wollten, zu berauschen«; wenn in einem Lande, wie ein anderes Mitglied der Nationalversammlung, Herr Faucault, umständlich erzählt, »deutliche und bestimmte Gesetze, z.E. die Abschaffung des Lehnsystems und des Grundzinses gemißbraucht wurden: das Volk aufzuwiegeln, und zu den größten Unordnungen und Gewalttätigkeiten gegen die Gutsbesitzer zu verleiten; und die Einwohner noch viel zu weit zurück waren: die Beschlüsse der Nationalversammlung verstehen zu können; – und das Volk noch lange Zeit nicht imstande sein würde: den Sinn derselben zu begreifen; und nicht genug dafür gesorgt werden konnte: sie ihnen von rechtschaffenen Männern erklären zu lassen« etc.; wenn das war; so war es doch von den Stellvertretern der Nation etwas gewagt: dergleichen allgemeine und unbestimmte Sätze bekanntzumachen, die ein jeder zu seiner Absicht mißbrauchen und dadurch die Köpfe zu ihrem eignen Verderben verdrehen konnte.

Wer den Menschen kennt: wie ihm der Kopf so leicht verdreht wird; wie er so geneigt ist, alles in seinem Sinn zu verstehen, eine Handbreit zu nehmen wo ihm ein Fingerbreit gegeben wird, und sich wenn er nur irgend Vorwand und Feigenblatt hat seinen Neigungen und Leidenschaften und ihren Verwüstungen hinzugeben; wie er, auf gewisse Weise dem Hahn gleich, nach dem gezogenen Kreidestrich geht; und, wenn dieser Strich, der ihn hielt und an den er sich hielt, plötzlich verrückt wird, wie er denn auf einmal alle Haltung verliert und keine Schranken weiter kennt etc.; wer das weiß, der ist zwar schnell zum Wollen, langsam aber zum Tun; der bedenkt nicht bloß den Samen den, sondern auch den Boden darein er ihn säen will; der sitzt zuvor mit Ernst und mit Tränen in den Augen, und überschlägt die Schwachheit der menschlichen Natur; und gehet, mit seiner Wohl tat in der Hand, auf und ab, hin und wider, vor- und rückwärts, und spähet ohne müde zu werden, bis er einen Weg und Weise erspähet habe: ihrer mit Ehren loszuwerden. Ein solcher Wohltäter ist ein Geschenk des Himmels. Es ist leicht, sein schönes Bild zu zeichnen; aber schwer, es zu sein. Denn er muß. Wohlgeschmack an dem finden was nicht wohlschmeckt; er muß nie seine Pflicht der Popularität, sondern immer die Popularität seiner Pflicht aufopfern können; muß von der großen Gesinnung wohlzutun nicht berauscht, sondern wahrhaftig beseelt [430] sein. Kurz, er muß sich darauf gefaßt haben und wissen, daß Undank der Welt bester Lohn sei, und entschlossen sein, wie Moses ein geplagter Mann zu werden.

Nähere Untersuchung des neuen Systems

Angenommen daß das neue System, oder ein Vernunftregiment, würklich in der Welt auch möglich wäre; so würde man es doch keine Regierung nennen können, sondern allenfalls eine Gesellschaft der praktischen Politik, eine Staatsbürgerakademie etc. In dem Wort: Regierung, liegt uns die Idee von einer Kraft, die von der Untersuchung des Rechts verschieden ist; die einen festen unerschütterlichen Gang hat, und unwiderstehlich zum Ziel schreitet. Diese Kraft geht durch alle Teile der Staatsverfassung. Sie ist, wie das Herz im menschlichen Körper; und muß ungehemmt und unangetastet bleiben, solange das Leben des Körpers dauern soll. Es ist hier nicht die Frage: ob nicht gegen ihren Gang in einzelnen Fällen regelmäßige Einwendungen und Vorstellungen gemacht werden dürfen. – In welchem Lande werden die nicht gemacht: und in welchem Lande wird nicht darauf gehört? – Nur sie darf nicht angerührt, nicht gehemmt werden, ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht, oder alles ist zu Ende. Ich will dies mit einem Exempel erläutern. Den 22. Jul. 1789, ermordete, wie bekannt ist, das Volk zu Paris öffentlich und auf eine schreckliche Weise den Foulon. Der Marquis von la Fayette, dem, einstimmig und unter allgemeinem Jubel des Volks, das Generalkommando der Pariser Bürgermiliz war übertragen worden, und die Wahlherren von Paris, stellten gütlich dagegen vor; und taten überaus brav, um den Foulon zu retten. Aber umsonst; er ward ermordet. In der Sache mochte das Volk vielleicht nicht unrecht haben, und Foulon des Todes wert sein. Auch würde das von la Fayette vorgeschlagene Gericht ihn vielleicht zum Tode verurteilt haben. Das Volk handelte also nicht einmal gegen: es antizipierte nur. Aber das, was unverletzlich ist, war verletzt worden. Und was tat Fayette? – Er legte seinen Generalkommandostab nieder; weil, wie er sich sehr polis ausdrückte: »der Tag, an dem das Volk ihm das versprochene Zutrauen versagt hätte, auch der Tag sein müßte, an dem er seine Stelle aufgäbe, darin er nun weiter keinen Nutzen mehr stiften könnte«.

Es muß denn eine unwiderstehliche Kraft in einer Regierung sein, und ohne die kann kein Gehorsam und kein Staat gedacht [431] werden; wie ohne einen festen unbeweglichen Punkt, wohl eine in parabolischen und Schneckengängen wild durcheinanderlaufende Figur, aber kein regulärer Zirkel, gemacht werden kann.

Woher soll nun aber in einem Vernunftregiment diese unwiderstehliche Kraft und dieser feste unbewegliche Punkt kommen? – Die Vernunft, antwortet man, ist das eine; und soll das andre geben.

Die Vernunft wollte wohl eine Kraft und unwiderstehlich sein, und könnte es vielleicht auch; aber sie ist es nicht. Und wie sollte sie einen festen unbeweglichen Punkt geben können? Sie existiert ja in dem Regiment nicht außer in den Individuis, und von diesen hat ein jedes seine eigne Vernunft. Jedweder Mensch hat seine Art die Dinge anzusehen, und vernünftig zu sein; und es ist eher möglich, daß alle Pfeifen in allen Orgeln von Europa unisono stimmten, als daß es alle Glieder eines kleinen Staats täten, gesetzt auch daß sie Stimmung hielten.

Es waren immer und zu allen Zeiten viele und mancherlei Philosophien in der Welt. Ist je eine gewesen, die sich nicht in Parteien und Sekten geteilt hätte? Ist je ein philosophischer Spekulant gewesen, der nicht seine Widersacher und seine Oppositionspartei gehabt hätte? Und im philosophischen Felde haben noch alle Streiter ohngefähr einerlei Absichten; sie suchen alle die Wahrheit, und zwar möchten sie eine Wahrheit wie sie ist, und sie wollten sich alle wohl nach ihr richten. In einem Staat und im bürgerlichen Felde ist erstlich der Haufe viel größer; die Interessen sind verschieden, durcheinander, und oft gerade widereinander; die Neigungen und Leidenschaften sind mehr in Bewegung und Spiel; und jedweder sucht eine Wahrheit, nicht nach der er sich, sondern die sich nach ihm richte. Wenn zwei, z.E. einen Prozeß haben, so findet gewöhnlich die Vernunft jeder Partei: daß sie recht habe; weil jede recht haben will etc. – Und doch soll die Vernunft den festen unbeweglichen Punkt geben! – Wo nehmen wir Brot hier in der Wüsten? –

Wohl wahr, spricht man; aber, gebt den Menschen nur richtige Begriffe! Aufklärung! Aufklärung! Der Mensch muß aufgeklärt werden! – Nun ja, gegen die richtigen Begriffe hat niemand etwas; auch gibt es für jeden Menschen gewisse Dinge, worüber es recht nützlich und gut ist ihn aufzuklären, das heißt, ihm zu sagen: dies und das ist so, und nicht so; dies und das taugt, oder taugt nicht; dies und das muß geschehen, oder nicht geschehen etc. Nur, wer mit dem Medusenkopf der Aufklärung [432] die Neigungen und Leidenschaften zu versteinern denkt, der ist unrecht berichtet.

Es ist, zwischen den Begriffen und dem Wollen im Menschen, eine große Kluft befestigt. Das Rad des Wissens und das Rad des Willens, ob sie wohl nicht ohne Verbindung sind, fassen nicht ineinander. Sie werden von verschiedenen Elementen umgetrieben, und sind etwa wie eine Wind- und Wassermühle. Frage den falschen Messer, den falschen Wäger einmal, ob er nicht weiß, daß man rechtes Maß und Gewicht geben muß. Wer weiß nicht, daß man nicht töten soll? Wir wissen es nicht allein, sondern es widersteht auch ein natürlicher Widerwille gegen das Töten in uns, und in der Ferne geht der Scharfrichter mit dem Schwert – und tötet niemand? – Wer weiß nicht, daß man nicht stehlen soll? Und Galgen und Rad warnen noch überdas an allen Heerstraßen: – und stiehlt niemand? – So mit allen heiligen Zehn Geboten. Aber, was erwartest denn du mehr von deinen Geboten? Verstehst du es besser, als der liebe Gott? – Er konnte mit Geboten nicht zum Ziel kommen, und wählte deswegen einen andern Weg. – Und du denkst mit Geboten und Aufklärung auszureichen? – Mache doch einmal eine Probe; kläre einmal deinen Knecht oder sonst einen ersten besten auf: über den Ort wo die Schublade mit deinen Louisdor steht; kläre ihn auf, so viel du willst, über die Schändlichkeit der Untreue und über Pflicht und Recht; und gib acht: ob damit das heilige Grab sicher verwahrt sei, und ob nicht vielleicht dein Knecht unsichtbar und zu gleicher Zeit die Schublade leer werde. Siehe doch an: die tausend Verordnungen und mancherlei Vorstellungen, die um dich her in der Welt gegeben und gemacht werden; siehe doch an: was du selbst in deinem kleinen Zirkel verordnest und vorstellest. – Ist es damit ausgerichtet?

Ist dir das alles aber noch nicht klar, und zu weit weg; so will ich dir näher kommen. Gehe in dich, und frage dich selbst. Frage aufrichtig dein eigenes Herz: ob es nicht etwas anders ist, was dich zum Wollen bewegt, als das bloße Wissen? Ob die Räder des Wissens und des Willens in dir immer miteinander, und ob sie nicht oft gegeneinander gehen? Ob du nichtsogar bisweilen, wenn du das Rad des Besserwissens in der Ferne umgehen hörest, ob du denn nicht bisweilen mit Fleiß abwärts und aus dem Wege gehest, damit du seinen Laut nicht vernehmest? – Lieber, gestehe und leugne nicht. Du bist es nicht allein dem es also gehet; es geht andern Leuten auch so, und den meisten geht es noch [433] ärger. Gestehe denn aber auch, daß es eitel Traum und Täuschung sei, daß die Vernunft und Aufklärung den festen unbeweglichen Punkt geben und den Neigungen und Leidenschaften Gebiß anlegen könne! Und glaube nicht länger an eine Sache, die nicht wahr ist, und die nie hat wahr gemacht werden können, und die leider durch eine Erfahrung von 5793 Jahren widerlegt wird. Denn was anders war je die Absicht der bessern und weiseren Menschen aller Zeiten bei ihrem Tun und Treiben, als überall der Vernunft die Herrschaft über Sinne und Leidenschaften zu verschaffen? Und haben sie es tun und zustande bringen können? – Und wahrlich ihrer einige hatten das Ding beim rechten Ende angefangen.

Ein Staat nach dem neuen System oder ein Vernunftregiment ist denn unmöglich, weil man wohl klug aber nicht gut machen kann; weil die Menschen nicht wollen wie sie denken, sondern, vielmehr umgekehrt, denken wie sie wollen, und also durch Aufklärung noch kein Gehorsam geschafft wird.

Doch wir wollen die Sache noch von einer andern Seite angreifen. Wir wollen einen Staat, nach dem höchsten Ideal des neuen Systems in concreto annehmen; die Maschine einmal rund gehen lassen, und sehen was werden wird. Dieser Staat soll nur aus einer Million Menschen bestehen. Kein Staatsbürger in demselben soll etwas auf Glauben und Vertrauen annehmen noch sich irgend etwas begeben, sondern den vollen Genuß seiner Vernunft und seiner Menschenrechte haben; es soll darin bloß menschlich hergehen; alles soll durch die Gesellschaft selbst bestellt und bestimmet werden; und es soll, keine Einrichtung, kein Gesetz, gültig sein, als was durch die Vernunft eines jeden einzelnen dieser zehnmalhunderttausend Menschen, die, nach der Bevölkerung von Deutschland gerechnet, circa einen Raum von 500 Quadratmeilen einnehmen, eingesehen, gut gefunden und genehmiget worden ist.

So viel sieht sich gleich im voraus ab, daß es eine sehr langweilige Regierung geben muß; und man will verzweifeln: ob je ein Gesetz zustande kommen werde. Doch wollen wir eins in Vorschlag bringen. Und zwar soll zuerst das Münzwesen reguliert, und ein vorteilhafter Münzfuß festgesetzt werden. Alle Staatsbürger haben allerdings das Recht: in einer für den Staat so wichtigen Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich will nicht davon sagen, was für Zeit und Umstände dazu gehören würden, um nur bloß die [434] Sache zur allgemeinen Wissenschaft zu bringen. Diese Schwierigkeit soll schon überwunden, und der Vorschlag jedwedem einzelnen Staatsbürger insinuiert sein. Aber, nun weiß niemand von ihnen, wovon die Rede ist. Unter hunderttausend wissen etwa hundert: was ein Münzfuß; und einer: was ein vorteilhafter Münzfuß ist. Diese zehn also müssen entscheiden, wenn etwas Kluges werden soll. Und für die übrigen neunmalhundertundneunundneunzigtausendneun hundertundneunzig bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte über den Münzfuß zu begeben und Glauben und Vertrauen zu den zehn Münzverständigen zu haben, welche die Rechte der Gesellschaft in Münzsachen vertreten, und eine Art von Münzkollegium im Lande wären.

Wo Münze ist, da wird es auch nicht an Streit und Händeln fehlen, und wir müssen denn auch eine Rechtspflege haben. Alle Staatsbürger haben freilich wieder das Recht: über eine für den Staat so wichtige Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich überlasse es jedwedem: ob, wenngleich ein jeder Mensch ein Gefühl von Recht und Unrecht hat, ob es je möglich sei, daß zehnmalhunderttausend Menschen sich über so viele Gesetze und Formalien, als eine Rechtspflege erfodert, einig werden sollten! Aber, als möglich angenommen was unmöglich ist; angenommen: daß alle zehnmalhunderttausend Staatsbürger über alle die Dinge zu einer Meinung und Stimme gekommen wären, daß sie alle würklich die Gesetze gemacht hätten; so können sie alle sie doch nicht exekutieren. Und, wie sie sich auch darüber einig werden, durch Wahl oder durchs Los, über wenige oder über mehrere; so müssen sie sich doch einig werden, und es muß zu einem Kollegio von einigen kommen, das die Rechte der Gesellschaft in Justizsachen vertritt. Und, für alle die andern Staatsbürger bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte in Justizsachen zu begeben, und Glauben und Vertrauen zu dem Justizkollegio zu haben. Und die Ordnung, Ruhe und Glückseligkeit sowohl der ganzen Gesellschaft als der einzelnen Staatsbürger hängt davon ab: daß dies Kollegium in Justizsachen, wie das Münzkollegium in Münzsachen, bis weiter honoriert werde.

Und so weiter, und so weiter.

Also, ohne Rechte-Vertreten und In-Händen-Haben abseiten eines oder einiger, und ohne Rechte-Begeben und Glauben und Vertrauen abseiten des ohne allen Vergleich größern Teils der [435] Staatsbürger, ist eine bürgerliche Einrichtung platterdings unmöglich! – – – –

Aber, da wäre ja nebenher noch etwas anderes und etwas sehr Unerwartetes zum Vorschein gekommen? – Auf die Weise wäre ja das neue System älter als das alte! Auf die Weise scheint es ja: daß der Zustand des Selbstsehen und der Menschenrechte, den unsre Schriftsteller als eine neue Entdeckung, als die nach und nach gereifte Frucht der Zeiten, und als den uns und unserm erleuchteten und glücklichen Jahrhundert vorbehaltenen großen Fund ansehen; daß, sage ich, dieser Zustand der älteste und erste gewesen; und daß man, weil das Ding so nicht gehen wollte und so nicht gehen konnte, auf ein anderes denken und zu dem alten System greifen mußte! –

Freilich! Es scheint so. Der Strumpf kann allerdings wieder zum langen Faden gemacht werden; aber, der lange Faden war vor dem Strumpf.

Freilich; es scheint so, und es ist auch wohl so. Das neue System war zuerst, und von da ging man zumalten über.

Und dieser Übergang ist nicht leicht und nicht unbedeutend gewesen. Und es war kein kleines und geringes Werk: das Selbstdenken und Selbstwollen eines jeden einzelnen, dabei keine Ordnung und kein Glück bestehen kann, aus dem Sinn und in ein Gleis zu bringen; den Eigendünkel und natürlichen Trotz, die Halsstarrigkeit, und den Übermut etc. der menschlichen Natur zu bändigen; und, statt ihrer, Gehorsam, Ehrerbietigkeit, Zurückhaltung, Zuvorkommen, Diskretion, Delikatesse und die übrigen Grazien des gesellschaftlichen Lebens zu introduzieren.

Wenn man bedenkt: was es, nachdem diese Bändigungsfalten und -gleise einmal gelegt und die bürgerlichen Einrichtungen schon gemacht sind, und die Menschen in dem Respekt gegen die Obrigkeit geboren und erzogen werden; was es da noch kostet und immer gekostet hat, die natürliche Unbändigkeit und das natürliche Gefühl von Menschenrechten, das jeder Mensch dunkel in sich hat und das sich in jedem Bürger- und Bauerntumult rührt, in Ordnung und Zaum zu halten; so läßt sich einigermaßen absehen: was es gekostet habe, und was dazu gehört habe, wie viele Zeit und wie viele Weisheit, was für Liebe und Geduld, und wie viele harte Stöße der äußerlichen Gewalt, um diese Falten zuerst zu legen, und diese wohltätigen und für die bürgerliche Glückseligkeit aller und jedes einzelnen unentbehrlichen [436] Bande zuerst zu knüpfen. Ich sage: einigermaßen. Denn keine äußerliche Gewalt etc. allein hat dazu hinreichen können; und es hat noch etwas mehr dazu gehört, so viele verschiedene einzelne Willen zu einigen und zu lenken. Und das haben auch die alten Völker und Menschen immer geglaubt. Livius erzählt in seiner Nachricht von dem Ursprung des Römischen Reichs: Numa habe die Furcht der Götter als eine der ersten Notwendigkeiten in dem Herzen des Volkes angesehen; und Plutarch sagt gradezu: »daß es eher möglich sei eine Stadt in der Luft, als einen Staat ohne Religion zu gründen.«

Also die ersten Erfinder und Knüpfer der bürgerlichen Bande haben die Menschen nicht betrogen; sondern sie waren die Väter und Wohltäter ihres Geschlechts, und sie sind es noch bis auf diesen Tag. Und, wenn ihre Wohltat oft gemißbraucht worden ist; so ist das nicht gut und nicht der Wohltat Schuld, und sie hört darum nicht auf eine Wohltat zu sein. Die Menschen können dieser Wohltat nicht entraten, und können sie nicht genug erkennen, und nicht besorgt genug sein, sie zu erhalten und auf die Nachkommen fortzupflanzen.

Und nun. – Nun soll man freilich dem Menschen die Augen nicht zudrücken; nun mag man ihm freilich bescheidentlich sagen und kundtun: daß er nicht für die andern sondern um seinetwillen dasei etc. Aber, wer ohne Rückhalt und Einschränkung »Menschenfreiheit« verkündigt, und unbedingt »die Menschenrechte« predigt; der – seine Absicht sei welche sie wolle, wer will jemand die bestreiten – aber der rüttelt an jenen wohltätigen, so weislich und mühsam geknüpften und unentbehrlichen Banden; gräbt den Eigendünkel, und Selbstwillen etc. wieder aus dem Verborgenen hervor; der verstört überdas im Menschen die schönen Gefühle von Liebe, Glauben und Vertrauen; nimmt ihm das Herz aus dem Leibe, und macht ihn zu einer dürren selbstklugen Hirnschädel ohne Freude für sich und andre! – Und das Beste, was der Mensch auf Erden hat; der letzte Trost, der ihm, wenn er sich von seinem Regenten gedrückt glaubt oder gedrückt ist, übrigbleibt, und der »mit einem Regenten der nicht drücke und alles wiedergutmachen werde«, sein Herz beruhigt und tröstet – auch der soll ihm genommen werden! –

Heißt das die Menschen lieben? – Ich bitte. Ist das bieder und gut? – Und ist es nicht biederer und besser: unbedingt Gehorsam und Ordnung, und Liebe, und Glauben, und Vertrauen auf Gott und Menschen zu predigen? – [437] Aber soll denn Liebe, Glauben und Vertrauen ewig lieben glauben und vertrauen, damit sie ewig betrogen und gemißbraucht werden können? – Sollen denn viele sich ihrer Rechte begeben, damit einer oder einige ungestraft Gewalt und Unrecht üben können?

Das sei ferne! – Betrogene Liebe ist wie Menschenblut; sie schreiet aufwärts um Rache. Nein! Recht muß Recht sein und Recht bleiben. Ich streite nicht wider sondern für das Volk – und wo dem Kleinen Unrecht und Gewalt geschehen soll, da begehre ich nicht zu heißen der Sohn der Tochter Pharao, und will viel lieber Ungemach leiden mit meinen Brüdern.

Die Könige und Regenten sind den Menschen zum Guten gegeben und nicht zum Bösen. Sie sollen nicht Unrecht, sondern Recht und Gleich tun, und wissen daß sie auch einen Herrn im Himmel haben. Der hat sie über die andern gesetzt um der andern willen, und daß den andern durch ihre Hand Barmherzigkeit geschehe. Und wie die Millionen oder die Tausende, die von ihnen ihr Maß häuslicher Ruhe und zeitlichen Glücks erwarten, ihnen gehorsam sein und Glauben und Vertrauen haben müssen: so müssen sie den Tausenden das Maß mit beiden Händen voll drücken und rütteln und sie glücklich machen. Und das ist noch nicht alles.

Wenn ein König in seiner Herrlichkeit mitten unter seinem Volk auf seinem Thron sitzet; so sitzet er da: um, außer dem Glück der Erde, auch das Glück des Himmels zu spenden; so sitzt er da: um, als ein heiliger Künstler, durch lauter wohltätige, lauter milde und edle, lauter große und gute Handlungen GOTT zu konterfeien, und die Menschen nach IHM hungrig und durstig zu machen.

Das sollen die Könige und Regenten! Dazu sind sie berufen, und dazu sind den ersten Königen die Krone und der Szepter gegeben worden. – Und darum lieben auch wir Menschen von Natur dies Geräte, und erwarten von dem, der es an sich trägt, nichts als Gutes; und mögen von ihm nichts Böses hören. Wir Menschen sind Kinder, und so mußte der liebe Gott mit uns wie mit Kindern umgehen, und uns heimlich und hinter unsern eignen Rücken glücklich machen. Und dazu bedurfte es Einrichtungen, und wir fühlen wohl, daß diese Einrichtungen so rein sein müssen, wie der ist der sie gemacht hat.

Ihr Könige, und ihr Regenten! – Euer Stuhl steht in der Welt von Gottes wegen. Und wer darauf sitzt soll groß und unüberwindlich [438] sein, aber mit und durch Recht und Wahrheit! Die allein machen groß, und die allein sind unüberwindlich.

Beschluß

Die in einem Staat unentbehrliche Kraft ist wie das Herz im menschlichen Körper.

Daß für die physische Natur irgendwo ein großes Herz schlagen müsse, durch das und von dem sie in allen ihren Teilen Leben und Bewegung erhält, läßt sich begreifen. Eine leblose Stockholmer Uhr kann zwar wohl in Hamburg oder Osnabrück, von dem Meister der ihr die Bewegung gab getrennet, gehen; aber das lebendige Universum kann von seinem Herzen sowenig getrennt sein, als der menschliche Körper von dem seinigen, und es wird, wie im Kleinen so im Großen, wie im Besondern so im Allgemeinen, eine fortgehende und unaufhörende Systole und Diastole erfodert. – Wenn ebendasselbe große Herz, das für die physische Natur irgendwo schlagen muß, auch für die moralische Natur schlüge; so wüßten wir an was wir uns hier zu halten haben, und wir hätten zu gleicher Zeit einige Auskunft über die unüberwindliche Lenkkraft des menschlichen Willens, sowohl überhaupt als im Staate, und über den festen unbeweglichen Punkt. Doch wie dem auch sein möge, etwas Festes muß der Mensch haben daran er zu Anker liege, etwas das nicht von ihm abhange, sondern davon er abhängt. Der Anker muß das Schiff halten; denn, wenn das Schiff den Anker schleppt, so wird der Kurs mißlich, und Unglück ist nicht weit.

Wenn David seinen Feind und Verfolger Saul in der Höhle, wo er in seiner Hand war, nicht tötet sondern ihm nur einen Zipfel vom Rock abschneidet; so trieb und bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Leidenschaft, sondern etwas anders. Wenn Sokrates die von seinen Schülern veranstaltete Flucht aus seinem Gefängnis nicht annimmt, sondern lieber sterben will und stirbt; so bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Neigung sondern etwas anders. Die meisten würden das Gefängnis verlassen haben, und mit dem Zipfel nicht zufrieden gewesen sein. Warum? – Weil in den meisten die natürliche Neigung und Leidenschaft zum Handeln treibt und bewegt, und das andre dafür nicht zu Wort kommen kann.

Wohl sind unsre Sinne und Leidenschaften die Hörner, Cymbalen und Zinken, die den Laut und die Stimme der Wahrheit [439] in uns zerrütten, verdunkeln und überschreien. Sie sind die hundert schwere Ketten, die uns arme Menschen fesseln und halten, und uns mit Schmach bedecken. Wer sich nur von einer losgemacht hat, ist schon ehrlicher; und so immer weiter den langen sauern Berg hinan. – Und, wer ihn ganz erstiegen hat; wer, durch sein Wollen und Laufen oder durch Gottes Erbarmen, so weit gekommen ist, daß alle Ketten abgefallen sind, und keine mehr an ihm klirrt; der ist wahrhaftiglich einfreier Mann. – Er ist von dem Freiheitler himmelweit und wesentlich verschieden; und diese zwei verhalten sich zueinander: wie sein wollen zu sein, wie unten zu oben, wie nichts zu alles.

Der freie Mann ist los von der Erde und allem kleinen Interesse; auf ihn würkt, von nun an, nichts, ihm gilt nichts, ihn treibt und bewegt nichts, als dasWahre und Gute. Er hat den Rock des Fleisches ausgezogen 57, nährt sich mit der Speise der Götter, und schifft auf dem Ozean der reinen Liebe.

Ein solcher hat Recht mitzusprechen, und ist über die Gesetze. Aber nicht, weil die Gesetze nicht immer heilig beobachtet und gehalten werden müßten; sondern weil er inwendig anders gestellet ist, und immer und in allen Fällen überflüssig, und mehr tut als die Gesetze fodern; weil er zwo Meilen geht mit dem der ihn eine nötigt; weil er nicht allein nicht ehebricht, sondern kein Weib ansiehet, ihr zu begehren in seinem Herzen; weil er nicht allein seinen Feind nicht hasset, sondern segnet die ihm fluchen, denen wohltut die ihn hassen, und, wie der Vater im Himmel, die Sonne möchte aufgehen lassen über die Bösen, und über die Guten.

Wenn nun ein Mann dieser Art eines irregehenden, Rat und Hülfe bedürfenden Volkes sich erbarmt hätte, und, vom Wahren und Guten getrieben, den Szepter in die Hand genommen hätte; – von wem hätte der seine Königschaft, sein Recht und seine Gewalt?

Es hätte freilich außer ihm noch ein solcher im Volke sein oder werden können. Und der wäre dem Könige gleich gewesen; aber er würde gerne sein Untertan geworden sein, weil er nur einerlei mit dem Könige gewollt hätte, und es ihm an dem genug gewesen wäre, daß nur das Gute geschehe.

Es hätte aber auch einer im Volk, der weit davon war, sich ein solcher dünken können. Und so groß und unbegreiflich dieser [440] Fehlgriff ist; so hat die Erfahrung gelehrt, daß er nicht unmöglich ist weder im Kleinen noch im Großen, und daß es dazu nur einiger Veranlassung bedürfe. Schlagt auf die Jahrbücher des Menschengeschlechts, wo ihr wollet. Leset z.E. die Geschichte der Bewegungen, nach des guten frommen Georg Fox Predigt von Freiheit bei einem Teil seiner ersten Anhänger, im 17.; leset die Geschichte der Münsterschen Unruhen nach Luthern, im 16. Jahrhundert 58; und seht: wie schwach und anmaßend die menschliche Natur ist, und wie sie immer den leichten Weg gehet.

Ich breche hier ab, und erspare einem Schwachen von der Schwachheit seiner Mitmenschen zu reden. Aber guter Rat ist doch immer ehrenwert, er komme vom Schwachen oder von dem Starken. [441] Wenn ein guter Hausvater bei Nacht Licht braucht, so hascht er's nicht draußen unter dem weiten Tausend-Sternen-Himmel, und bringt es durch die Fenster herein; sondern er schlägt es mit Stahl und Stein mühsam und künstlich im Hause an, und läßt es durch die Fenster hinausleuchten.


Man kann nicht bergauf kommen, ohne bergan zu gehen. Und obwohl Steigen beschwerlich ist; so kommt man doch dem Gipfel immer näher, und mit jedem Schritt wird die Aussicht umher freier und schöner! Und oben ist oben.

Wie nun der Sklave es auch machen möge, sich seiner Ketten zu entledigen; soviel ist klar, daß er durch Wissen und Vernünfteln die Ketten nicht brechen werde; sondern daß er Hand anlegen müsse, wenn es sein Ernst ist, ihrer loszuwerden.

[442] Und das ist die Besserung, die ich in Vorschlag bringe.

Sie ist unser Tagewerk auf Erden, und der Große Königliche Weg zur Freiheit, der niemand gereuet.

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TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Gedichte und Prosa. Asmus omnia sua secum portans. Sechster Teil. Über die neue Politik. Über die neue Politik. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5524-C