Sechster Teil

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Nachricht

Aller guten Dinge sind zwar eigentlich nur drei; aber ich kann mir nicht helfen, ich muß zu Michaelis a.e. den sechsten Teil meiner »Sämtlichen Werke« herausgeben, und ersuche freundlichst Gelehrte und Ungelehrte, die so gut sein wollen und nichts anders zu tun haben, Pränumeration darauf anzunehmen, und medio August einzusenden: an M. Claudius à Wandsbeck, abzugeben in Hamburg bei dem Herrn Apotheker Herrmann am Speersort.

Der Preis für die Pränumeranten ist 11/2 Mark, oder c. 1/9 Louisdor in Gold, und hernach für die Käufer 2 Mk. Und dafür erhält der geneigte Leser zwischen 12 und 15 Bogen mit diesem und jenem, was ich für gut und nützlich halte; und was bereits einzeln gedruckt und noch nicht gedruckt gewesen. Das übrige werden ihm die Rezensenten und Journalisten zu seiner Zeit schon sagen, und zu rühmen wissen.

Einiges von dem bereits Gedruckten ist von ihnen grade nicht gerühmt, und, man möchte fast sagen, getadelt worden. Aber, sie sollen es ungerne, und bloß aus Liebe zur Wahrheit, getan haben.

Es ist überhaupt ein sonderlich Ding um den gelehrten Schöppenstuhl. Man sollte denken, daß man selbst wissen müßte, was man schreibt; doch das ist nicht. Wenn sie es gesagt haben, denn weiß man's, und muß es glauben. Dawider wäre auch weiter nichts einzuwenden, und wäre ganz gut. Nur eins will dabei seit einiger Zeit Mode werden, was nicht so gut ist. Die Schöppen fangen nämlich seit einiger Zeit an, sich in ihren Relationen auf eine ganz eigene besondre Art auszudrücken und auszulassen, und herrscht so ein Gemein-Geist darin. Das ist freilich bei ihnen anders zu verstehen, und ist freilich nicht die gewöhnte Grobheit und Ungezogenheit; aber es klingt natürlich so, und könnte leicht unrecht ausgelegt werden. Und das muß uns doch für die Gelehrsamkeit und für die Gelehrten leid sein, und sie sollten es lieber nicht tun usw.

Das noch Ungedruckte sind hauptsächlich: Briefe an Andres, christlichen Inhalts. Und, wenn die Leute nicht zurückhalten und schweigen, die geoffenbarte Religion nichts achten; warum sollten die schweigen, die sie von ganzem Herzen ehren und darin ihr Glück suchen.


Wandsbeck, den 24. Juni, 1797.

Asmus.


(Siehe die Hamburger Zeitungen vom 28. Juni 1797.)
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Vorrede

Mein sechster Teil kommt etwas später, als die Anzeige verspricht; sonst aber meine ich Wort gehalten zu haben.

Kupfer im Büchlein sind nicht versprochen worden, und sind auch keine darin. Aber desto mehr bereits Gedrucktes und bisher Ungedrucktes.

Es wäre mir lieb, wenn das Ungedruckte den Rezensenten und Journalisten besser gefiele, als die bereits gedruckte Nachricht von der neuen Aufklärung, und die Fabel über die Preßfreiheit ihnen gefallen hat. Die Nachricht ist gemacht, unsre brausende und übertreibende Schriftsteller am Ärmel zu zupfen, und rechtliche und loyale Gesinnungen zu befördern; und die Herren Anzeiger hätten wohlgetan, diese Absichten befördern zu helfen, wenn sie doch einmal diese Kleinigkeit anzeigen wollten.

Etwas Ähnliches könnte man auch von der Fabel sagen. Es wäre freilich zu wünschen, daß sie nicht wahr wäre, und die Menschen durchgängig so gut wären, daß Preßfreiheit allgemein sein könnte.

Die Melodie S. 469 ist von Herrn Schulz, und eigentlich zu einer Hymne des seligen Herrn von Kleist gemacht, in »Uzens Lyrischen Gedichten, religiösen Inhalts etc.« Der Herr Kapellmeister wird es verzeihen, daß ich ihr hier einen neuen Dienst zumute, und sie habe abdrucken lassen. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, daß, wenn sonst Melodien zu Texten gemacht werden, man bei ihm die Sache umkehrt, und Texte zu seinen Melodien macht.

Die Briefe an Andres sind an Andres.

Nicht ein neu Gebot schreibe ich ihm: sondern das alte Gebot, das wir haben von Anfang gehabt. Wiederum ein neu Gebot schreibe ich ihm, das da wahrhaftig ist.

Über die neue Politik

Einleitung

Alle Beiträger und Herausgeber versprechen ihren Lesern die Wahrheit; ich auch. Doch muß ich aufrichtig sagen, daß ich nicht ohne Skrupel bin, ob alle Beiträger und Herausgeber, mich selbst [416] nicht ausgenommen, auch halten können, was sie versprechen. Eigentlich kann man nur geben was man hat, und bisweilen hat man nicht, was man meinet zu haben. Freilich, die Wahrheit sollte immer und in allen Fällen uns leiten – aber gewöhnlich leiten wir sie; und denn meinen wir wohl sie zu haben, wir haben sie aber nicht. Indes wird das so genau nicht genommen, und der Wohlstand erfodert, daß man die Wahrheit wenigstens verspreche. Auch mag der Leser noch mit den Herausgebern zufrieden sein, wenn sie ihm nur nichts anders geben, als was sie ehrlich meinen, und es ihm für nichts mehr als was es ist geben, nämlich für ihre Meinung; denn alsdann kann er zusehen, Meinung gegen Meinung vergleichen, und sich so Schadens erwehren.

Es gibt bekanntlich zu dieser unsrer Zeit politische Meinungen, die von denen, die man sonst hatte, abgehen; ein sogenanntes neues System, das dem alten, das bis daher, unter verschiedener Gestalt, in der Welt geachtet und geltend war, entgegen ist. Man ist mit diesem neuen System grade nicht zurückhaltend gewesen, und könnte es also immer als bekannt vorausgesetzt werden. Da es indessen von allen nicht einerlei, sondern mit Abänderungen und mit mehr und weniger Bescheidenheit oder Atrozität vorgetragen wird; so soll hier zum Überfluß einiges angeführt werden, damit ein jeder selbst mit sehe, und sich über die Hauptzüge desselben selbst mit zurechtfinde.

Nach dem alten System: sind in einem großen Hause, goldene, silberne und irdene Gefäße, etliche zu Ehren, etliche zu Unehren; nach dem neuen: sind alle Gefäße gleich, an Materie und an Form. Nach dem alten: ist der König, die Regierung, der Regent etc. Regent, und der Untertan ist Untertan; nach demneuen: sind alle Menschen frei und haben gleiche Rechte. Nach dem alten: macht der Regent die Gesetze, und der Untertan befolgt sie; nach dem neuen: haben alle Staatsbürger zu und an der Gesetzgebung Recht und teil. Nach dem alten: ist der Untertan aus Not untertan, nicht allein um der Strafe sondern auch um des Gewissens willen; nach dem neuen: aus richtigen Begriffen. Nach dem alten: ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; nach dem neuen: macht sich der Mensch seine Einrichtungen selbst; alle Gewalt ist im Volke, das damit bekleidet und davon entkleidet wen und wie es will. Kurz, nach dem alten System: ist der König etc. ein Hirte, der seine Herde auf grüner Auen weidet, ein Vater der seiner Kinder hütet und wacht, ein wohltätiger Genius von höherer Hand bestellt [417] für sein Volk zu denken und zu wollen und mit stiller Liebe über ihm zu schweben, und das Volk, das sich seiner Rechte und des bürgerlichen Selbstdenkens und Selbstwollens begeben hat, lebt im Glauben und im Vertrauen; und das neue System scheint, die Äußerungen unsrer Schriftsteller zusammengenommen, ein allgemeines reines Vernunftregiment zu sein. Die Staatsbürger tun alles selbst; die Schafe weiden sich auf der grünen Aue selbst; die Kinder wachen und hüten ihrer selbst; das Volk schwebt selbst über sich selbst; mit einem Wort: jedweder einzelne ist im Genuß seiner Rechte, und soll, als Staatsbürger, selbst denken und selbst wollen – und darum muß er nun über die Menschenrechte etc. belehrt, und aufgeklärt werden usw.

Es gibt eine Seite, von welcher angesehen diesneue System nicht ohne Schein ist. Das alte ist offenbar großem Mißbrauch unterworfen, und es scheint, daß diesem Mißbrauch durch das neue gewehrt und abgeholfen werde. Und überhaupt ist diese Behandlungsart, wo jeder einzelne Mensch als ein Wesen, das Verstand und Willen hat, behandelt wird, wenn sie praktikabel ist, wohl edel und ehrenwert. Endlich wird: ob der Mensch als Mensch seine Rechte habe, schwerlich irgendwo bezweifelt werden – daß also hier das »Nachsinnen und Wiederkäuen und Bewegen im Herzen« keinem Menschen verargt werden kann, und ihm nicht zur Schande sondern zur Ehre gereicht. Wenn man aber in einer so ernsthaften Sache zufährt, und schon als ausgemacht annimmt was erst ausgemacht werden sollte; wenn man gleich zum Werk schreitet, und heimlich und öffentlich, in Zeitungen und Büchern, gesalzen und ungesalzen, sanft und mit Rumor, von Freiheit und Menschenrechten verkündigt und predigt, und unbedingt mit Aufklärung an dem Menschen hantiert; so ist die Prozedur etwas voreilig und tumultuarisch, und der Kanzler von Ephesus würde sagen: »Ihr Männer von Ephesus, welcher Mensch ist der nicht wisse, daß das Volk nicht zertreten werden soll, und daß es Menschenrechte gebe. Weil nun das unwidersprechlich ist: so sollt ihr ja stille sein, und nichts Unbedächtiges handeln – hat aber jemand zu jemand einen Anspruch: so hält man Gericht und sind Landvögte da; lasset sie sich untereinander verklagen. Wollt ihr aber etwas anders handeln, so mag man es ausrichten in einer ordentlichen Gemeine. Denn wir stehen in der Fahr, daß wir um dieser heutigen Empörung verklaget möchten werden, und doch keine Sache vorhanden ist, damit wir uns solcher Aufruhr entschuldigen möchten.«

[418] Ich sage, die Prozedur sei etwas voreilig. Wir irren alle mannigfaltig. Es könnte doch sein, daß wir auch hier irreten; hier: wo der Irrtum so leicht zu begehen, und so schwer zu vermeiden ist; wo der Bogenschütze nicht bloß vor sich zu sehen hat, sondern auch: was der Pfeil tun und anrichten werde, wenn er von seinem Bogen dahin, und nicht mehr in seiner Gewalt ist; hier: wo es nicht genug ist, daß der Regenbogen in der Luft mit schönen Farben spiele, sondern wo er auch auf die Erde muß können niedergebeugt werden ohne seine Farben zu verlieren, und wo eine ungemeine Erfahrung und eine feine Mathesis dazu gehört, die Strahlenbrechungen bei der Operation im voraus sicher zu berechnen. Denn wir sollen doch nur wollen, was am Ende und wahrhaftig wahr und gut ist, und nicht was nur gleißet und scheint.

Das neue System nun hat großen Eingang und viele Anhänger gefunden, unter allen Klassen von Menschen, und das war zu vermuten und ist kein Wunder.Übelgesinnte Menschen konnten glauben: ihre Rechnung dabei zu finden; eitle und leichtsinnige Menschen waren von jeher eitel und leichtsinnig, und regieren mögen wir alle gern. Auch die Gutgesinnten waren nicht allerdings schußfrei. Ihr edler Unwille über die Schmach und Schande, die Menschen zu allen Zeiten von der Tyrannei haben erdulden müssen, konnte ihnen ins Auge treten, und es so, in diesem System, was es gerne sehen wollte, Land sehen machen; sie konnten, indem sie für ihr Geschlecht einen Tag des Heils heimlich herwünschten, sich durch denSchein eines Anbruchs übernehmen lassen: das Heil von dieser Seite zu erwarten, und ihm mit Freudengeschrei entgegengehen.

Und wenn das Heil würklich da und im Anzuge wäre, wer ginge nicht gerne mit ihnen! – Ist doch des Menschen Herz in seinem Inwendigsten geneigt zu Liebe und Wohlwollen! – Wird es doch nicht befriedigt als durch eine unvermischte, ungestörte und allgemeine Glückseligkeit, wo die Wellen hoch, und rundum bis an den Horizont schlagen! –

Wer aber überzeugt ist, daß von dieser Seite nur Unordnung und Unglück, und kein Heil komme; und daß das alte System, mit allen seinen Gebrechen, das einzige sei, das die Menschen bürgerlich zusammenhalten und glücklich machen kann; – soll der auch mitgehn und frohlocken? – Das soll er nicht! Sondern er soll, nun es einmal darüber zur Sprache gekommen ist, treu und unverhohlen dagegen sagen: was er dagegen weiß, und so gut er [419] es weiß, es bringe ihm Dank oder Undank. Er soll sagen, was wahr ist, und was zum Friede dienet, und was zur Besserung untereinander dienet, mit sanften freundlichen Worten. Wiewohl ihm etwas Eifer nicht zu verübeln wäre. Denn die Sache ist des Eifers wert; und die Löwin, die ihre Jungen verteidigt, pflegt nicht mit dem Schwanz zu wedeln.

Solange politische Meinungen in der obern Atmosphäre, der Region der Gelehrten, verhandelt werden; so geht das die Leute unten auf der Erde wenig an. Wer sich eine gute Rüstung und Mut und Talent fühlt, mag hingehen und Ehre einlegen; und wer sich das nicht fühlt, kann ruhig zu Hause bleiben, und den Verhandlungen zusehen. Seitdem sie aber irgendwo in die untere Region herabgekommen sind, ist die Sache ganz anders, und Maus und Mann sind interessiert. Ein jedweder, der erste der beste, springt wie er geht und steht hervor; nicht, weil er recht haben oder Ehre einlegen, sondern weil er selbst zusehen, und sich in einer so wichtigen Sache nichts will auf die Nase binden lassen.

Und das ist mein Fall. Ich hasse mich und meine Mitmenschen nicht, und es ist mir nicht gleichviel, ob es mir und andern wohl oder übel gehe.

Ich sehe freilich auch wohl ein, daß manches in der Welt anders sein könnte und sein sollte, und daß eine Besserung nicht unnötig wäre; nur kommt es mir vor, daß die Besserung nicht ärger als das Übel sein müsse, das man bessern will; daß man den Kopf nicht drangeben müsse, um das Ohrläppchen zu retten, und daß ein kleineres Glück, das man hat, besser sei, als ein größeres, das man erst haben soll usw.

Auch kommt es mir so vor, daß die äußern Einrichtungen es allein wohl nicht gar täten. Es gibt Republiken, und doch sind dort Mißvergnügte. Also am Menschen liegt es. Dem ist nichts gut und nichts recht; der will immer etwas anders und etwas Neues; will immer bauen und bessern; ist immer nicht reich, nicht mächtig, nicht geehrt genug; und der macht gute Einrichtungen schlecht, und schlechte gut. Der Mensch also muß gebessert werden; und, würde ich raten, nicht von außen hinein. Dreht man doch nicht am Zeiger, daß das Werk in der Uhr recht gehe, sondern man bessert das Werk in der Uhr, daß der Zeiger recht gehen könne. Ebenso möchte ich auch beim Menschen nicht bloß am Zeiger gedreht, sondern das Inwendige gebessert haben, damit auf dem Zifferblatt sich alles von selbst mache. Ich möchte [420] überhaupt, dünkt mich, eine Besserung, dadurch nicht einem Menschen gegen den andern, einer Partei gegen die andre, einem Volk gegen das andre, sondern dadurch allen Menschen, allen Parteien, allen Völkern geholfen würde; kurz eine Besserung, welche die Bösen, gut; die Übelgesinnten, wohlgesinnt; die Törichten, weise; die Treulosen, treu etc. und so, ohne Ausnahme, alle Menschen, Hohe und Niedrige, Fürsten und Untertanen, Freunde und Feinde, zu guten, bescheidenen, barmherzigen, großmütigen, edlen und glücklichen Menschen machte.

Das ist mein Sinn, darauf ich mich verlasse.

Und in diesem Sinn will ich nun, wie Alfred der Harfner, ausgehn, und das feindliche Lager besehen.

Vorläufige Bedenklichkeiten und Zweifel gegen das neue System

Vorläufige Bedenklichkeiten und Zweifel
gegen das neue System

Wenn uns Bewohnern dieser Erde eine neue Sonne gestellet würde, gesetzt auch sie glänzte und funkelte mehr und besser als die alte, und es würde uns, den 20. März, wenn in den Widder getreten und ein neues Jahr wieder angefangen werden soll, freigegeben zu wählen: zwischen der alten und neuen Sonne; – sollten wir da gleich zugreifen? – Ich zweifle grade nicht, daß viele ihre Karte für die neue Sonne abgeben würden; aber ich zweifle auch nicht, daß das übereilt wäre, und daß sie wenigstens einen Gang dieser neuen Sonne durch alle zwölf Zeichen des Tierkreises hätten abwarten sollen, um zu sehen: ob sie auch das leiste, was man von der Sonne erwartet, und was die alte so lange geleistet hat. Besser ist freilich besser; unbesehends aber ist Anhänglichkeit und Vorurteil an und für das Alte edler, als Vorurteil und Anhänglichkeit für und an das Neue. Wenn also die beiden Sonnen gleich gut sind; so muß man für die alte sein, und das von Rechts wegen. Sie hat unserm Geschlecht so lange geschienen; unsre Eltern und Großeltern haben so lange unter ihr gelebt, bei ihrem Lichte gesehen, und an ihren Strahlen sich gewärmt; sie hat, wenn auch hie und da ein Gewitter generiert oder eine Ernte verbrannt worden, sie hat doch unsern Vätern und unsern Müttern so oft ihre Saaten gereift, und Äpfel und Birne gemacht etc. – Es wäre doch undankbar: den alten Freund und Wohltäter aufzugeben, und sich an den neu ankommenden Funkler zu hängen.

Was die alte Sonne ist gegen die neue, das ist eine bisherige [421] Einrichtung gegen eine andre für jedes einzelne Land, und das alte System gegen das neue für die ganze Welt. Doch ist das nur, wenn beide Systeme gleich gut wären. Das scheint nun aber der Fall nicht zu sein; denn, außer dem, daß die neue Sonne nicht die alte ist, hat sie manches wider sich, das einem gleich vor ihres Tempels Tür und auf der Treppe entgegenkommt.

Als zum Exempel, so scheint es ganz natürlich, daß einer oder wenige viele regieren; unnatürlich aber, daß viele einen regieren; am allerunnatürlichsten aber: daß alle alle regieren sollen. Jeder einzelne Mensch hat alle Hände voll zu tun, mit sich allein einig zu werden. Und doch sollen hier, z.B. in einem Staat von nur 100000 Menschen, 100000 einzelne Menschen, außer mit sich selbst, noch mit andern 99999 einig werden.

Gleich noch eins, das un- oder widernatürlich scheint. Nach dem alten System sind die Staatskräfte zweierlei, einige aktiv andre passiv, Mann und Weib; nach dem neuen sind sie Mann und Weib zu gleich, und also hermaphroditischer Art. Im Physischen ist aber das erste, der Gang und Griff der Natur; und das andre, gewöhnlich, der Mißgriff.

So fällt bei dem neuen System auch das sehr auf, daß von Anfang der Welt bis itzt, fünf- bis sechstausend Jahre hindurch, z.E. immer Monarchien gewesen sind, und daß nun, am Ende der sechstausend Jahre, herausgebracht wird, daß nie keine hätten sein sollen. Von jener berühmten Stadt erzählt man wohl, daß dort die Inquisiten erst gehängt werden, und daß denn ihr Prozeß instruiert wird. Aber dem ganzen menschlichen Geschlecht, von seinem Ursprung an bis itzt, ein solches Procedere beilegen! –

So ist ferner der allgemeine Beifall, und der leichte Eingang, den das neue System findet, etwas bedenklich. Es ist mit unsrer Seele, wie mit unserm Körper. Sie hat auch eine Zunge und hat einen Magen. Der Zunge gefällt das Bittere nicht, aber dem Magen ist es heilsam und gesund; und, was den Magen verdirbt, gefällt der Zunge wohl. Es ist aber eine alte Sage, daß die Wahrheit nicht süß sei.

Auch das erregt kleinen Zweifel, daß die Verteidiger des neuen Systems selbst nicht alle recht zu trauen scheinen, und daß die Bescheidenen unter ihnen würklich zurückhaltend sind, und lieber nicht zu weit vorrücken wollen.

Doch sehr große Zweifel und Bedenklichkeiten er regt die Differenz in der innerlichen Gestalt der alt-und neusystemischen [422] Staatsbürger. Ein Mensch, der seine Rechte hingibt und Gott und seinem König vertraut, ist in sich ein lieber Mensch; wenn er nicht schon gut ist, so bessert ihn die Liebe; und mit ihm ist leicht fortkommen. Diesem Menschen ist innerlich wohl, und so ist er nicht geneigt, äußerlich weh zu machen. Er ist gehorsam, willfährig, bescheiden etc., und prätendiert immer weniger als er kann.

Was aber soll man, Ausnahmen verstehen sich von selbst, von einem Menschen erwarten, der kein Vertrauen hat; der alles selbst sehen und betasten will, und immer über seine Rechte brütet? Wenn der nicht auf sehr festen Füßen steht, so stößt ihn die neue Einsicht um; und, unbesehends, ist er kein guter Nachbar. Er führt natürlich immer die Liste seiner Rechte bei sich, ist ungestüm, mißtrauisch, prätendiert immer nicht weniger als er kann, und weiß alles besser. – Und nun ein ganzer Staat von solchen Rechtsgelehrten!

Die ältesten Könige aller alten Völker waren Götter oder Halbgötter, die Söhne der Sonne und der Sterne; und uns andern werden noch die Könige und Regenten von Gott gegeben. Die Völker bedurften denn bisher, um regiert zu werden, Gottes und eines Regenten. Itzo bedarf der Mensch weder des einen noch des andern; er kann alles selbst tun, und ausrichten. Diese Veränderung im Menschen ist groß, und unbegreiflich! Und sie ist bewürkt worden? Durch die Entdeckung der Menschenrechte. Aber wie ist das möglich? Und wie soll das zugehen? – Rechte sind doch am Ende nur Rechte und keine Kräfte, und dazu sind diese Rechte nicht einmal neu gegeben, sondern nur entdeckt worden! – Man wird freilich sagen: die Völker bisher bedurften des alles nicht, sondern standen nur in dem Wahn, des alles zu bedürfen. Ja, aber die Menschen itzo können des alles nicht entbehren, sondern stehen nur in dem Wahn, des alles entbehren zu können.

Auch die neugemachte Entdeckung der Menschenrechte selbst hat viel Unbegreifliches, und darin man sich nicht finden kann. Gewesen sind, natürlich, diese Rechte seit Anfang der Welt; denn die ersten Menschen müssen sie doch wohl so gut gehabt haben, als die letzten. Also gewesen sind die Rechte seit Erschaffung der Welt. Und sie hätten sich so lange verborgen gehalten! Wären itzo allererst an den Tag gekommen! Und keiner von so vielen großen, weisen und weltberühmten Männern wäre darauf geraten! – Kein Ägypter! – Kein Grieche! – Nicht Sokrates![423] – Nicht Plato! – Nicht Konfuzius! – Nicht Newton! – Nicht Leibniz! – Keiner! –

Zwischenbetrachtungen über die Bekanntmachung der Menschenrechte

Den 2. Oktober 1789 anerkannte und deklarierte die französische Nationalversammlung zu Versailles die folgenden Rechte des Menschen und des Bürgers, und legte sie dem Könige zur Genehmigung vor:


  • »1. Artikel. Alle Menschen werden geboren, und bleiben, gleich an Rechten. Die gesellschaftlichen Unterschiede können in nichts als in dem gemeinen Besten gegründet sein.
  • 2. Der Zweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Diese Rechte sind, die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, und der Widerstand gegen die Unterdrückung.
  • 3. Das Prinzipium aller Obersten Gewalt ruhet wesentlich in der Nation. Kein Kollegium, kein einzelner Mensch, kann irgendeine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich von daher ausfließe.
  • 4. Die Freiheit besteht darin, daß man alles das tun kann, was einem andern nicht schadet: also hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jedweden Menschen keine Grenzen als diejenigen, die den andern Gliedern der Gesellschaft den Genuß der nämlichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nicht anders als durch das Gesetz bestimmet werden.
  • 5. Das Gesetz hat nicht das Recht etwas anders zu verbieten, als die Handlungen die der Gesellschaft schädlich sind. Alles, was nicht durch das Gesetz verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann gezwungen werden das zu tun, was das Gesetz nicht befiehlt.
  • 6. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle die Staatsbürger haben Recht, persönlich, oder durch ihre Repräsentanten, wenn es gemacht wird, teilzunehmen. Es muß das nämliche für alle sein, es mag beschützen oder strafen. Alle die Staatsbürger, da sie in seinen Augen gleich sind, haben gleichen Anspruch zu allen öffentlichen Würden, Stellen und Ämtern nach ihren Fähigkeiten, und ohne [424] andern Unterschied als den ihre Tugenden und ihre Talente machen.
  • 7. Kein Mensch kann angeklagt, arretiert, noch in der Gefangenschaft gehalten werden, als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen, und nach den Formalitäten die es vorgeschrieben hat. Diejenigen, welche willkürliche Befehle nachsuchen, ausfertigen, ausüben oder ausüben lassen, müssen gestraft werden; aber ein jeder Staatsbürger, der in Kraft des Gesetzes vorgefordert oder in Verwahrung genommen wird, muß augenblicklich gehorchen: er macht sich strafbar durch den Widerstand.
  • 8. Das Gesetz muß nur unumgänglich und augenscheinlich notwendige Strafen festsetzen, und niemand kann gestraft werden, als in Kraft eines vor dem Verbrechen festgesetzten und öffentlich bekanntgemachten und gesetzmäßig angewandten Gesetzes.
  • 9. Da ein jedweder Mensch für unschuldig gehalten wird, bis er für schuldig erklärt worden ist; so muß, wenn es unumgänglich erkannt wird ihn zu arretieren, alle Härte, die nicht notwendig sein möchte um sich seiner Person zu bemächtigen, durch das Gesetz strenge verboten sein.
  • 10. Niemand darf wegen seiner Meinungen, selbst wegen religiöser Meinungen, beunruhiget werden, vorausgesetzt, daß ihre Publizität die durch das Gesetz festgesetzte öffentliche Ordnung nicht störe.
  • 11. Die freie Mitteilung der Gedanken und der Meinungen ist eins von den köstlichsten Rechten des Menschen: ein jeder Staatsbürger kann also frei reden, schreiben, drucken, doch muß er, in den von dem Gesetz bestimmten Fällen, wegen dem Mißbrauch dieser Freiheit zur Verantwortung stehen.
  • 12. Die Aufrechthaltung der Rechte des Menschen und des Bürgers macht eine öffentliche Kraft notwendig: diese Kraft ist angeordnet, zum Vorteil von allen, und nicht zum besondern Nutzen dererjenigen, denen sie anvertrauet ist.
  • 13. Zur Unterhaltung der öffentlichen Kraft, und zu den Unkosten der Administration, ist eine allgemeine Beisteuer unvermeidlich: sie muß unter allen Bürgern gleichmäßig, nach Verhältnis ihres Vermögens, verteilt sein.
  • 14. Alle die Staatsbürger haben das Recht, durch sich selbst oder durch ihre Repräsentanten, die Notwendigkeit der öffentlichen Kontribution auszumachen, sie freiwillig zu [425] bewilligen, die Anwendung derselben zu inspizieren, und ihre Größe, die Art sie einzusammlen, und ihre Dauer zu bestimmen.
  • 15. Die Gesellschaft hat das Recht von einem jedweden öffentlichen Agenten über seine Administration Rechenschaft zu fodern.
  • 16. Eine jede Gesellschaft, darin die Aufrechterhaltung der Rechte nicht sichergestellet, und die Verteilung der Macht und Gewalt nicht bestimmt ist, hat keine Konstitution.
  • 17. Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, so kann niemand desselbigen beraubt werden, es sei denn wenn die öffentliche Not, gesetzmäßig erwiesen, es augenscheinlich erfordert, und unter der Bedingung einer gerechten und vorläufigen Schadloshaltung.«

Das da ist die Urkunde und der Kodex der Menschenrechte und -freiheit; eine Charta Magna, dadurch dem menschlichen Geschlecht etwas gegeben sein soll, das es vorhin nicht hatte!

Ich habe dies schöne Schaugericht glänzender Wahrheiten und Worte hieher gesetzt zum Vergnügen der Leser die es noch nicht gesehen hatten; und, weil man sich bisweilen Dinge, in der Ferne und auf Hörensagen, anders vorstellt als sie sind, oder, weil sie bisweilen anders sind als man sie sich vorstellt.

Es kommt in dieser Urkunde der Menschen- und Bürgerrechte eigentlich von Menschenrechten wenig vor; das meiste betrifft den Bürger. Und, wie es überhaupt mit allgemeinen Wahrheiten und Sprüchen ist, so ist es auch mit diesen. Sie sagen alles, und sagen nichts; nehmen mit der einen Hand, was sie mit der andern geben! Sind wächserne Heilige, die nach allen Seiten gerecht sind; eine Materia prima, die noch zu Bäumen und Metall, zu Tauben und Tiger werden kann. So ist, z.E., gleich der 1. Artikel, item der 6., ohne Zweifel, gegen einen Adel, und gegen einen Monarchen gemeint, und soll ihnen die Tür verriegeln. – Und auf der andern Seite öffnen ebendiese Artikel allen beiden die Tür wieder. Denn, wenn, nach dem 1. Artikel, in dem allgemeinen Besten adlige und monarchische Rechte gegründet wären, oder wenn, nach dem 6. Artikel, Tugenden und Talente so groß wären, daß ihnen adlige Ehrenstellen gebührten, oder daß ihnen keine als die eine und erste Stelle im Staat genug wäre; so muß Adel und Monarch sein.

[426] Der 2. Artikel könnte, wie er dasteht, noch wohl debattiert werden. Der Zweck einer jeden politischen Verbindung kann nicht wohl eigentlich Erhaltung der natürlichen Rechte des Menschen sein, weil Verlieren oder vielmehr Einschränken nicht Erhalten ist. Natürliche Rechte des Menschen, scheint es, sind Rechte, die der Mensch als Mensch hat, und ohne alle Rücksicht und Verbindung. Tritt er in Verbindung; sobehält er freilich als Mensch diese Rechte, aber er kann sie nicht in ihrem ganzen Umfange erhalten; weil alle die, mit denen er in Verbindung tritt, eben dieselben Rechte haben, und alle diese Rechte in der Ausübung nicht miteinander bestehen können. Daher auch im 4., 10., 11., 17. Artikeln, die Klagelieder nachkommen, und der 2. darin wieder aufgehoben wird. Als, daß ich ein an sich albernes aber hier sehr gut erläuterndes Exempel gebe, ein jeder Mensch hat das Recht, wenn er allein auf einem Rasen liegt, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Will er aber, damit ihn bei Nacht der Wolf nicht störe, oder um andrer Vorteile willen, als Bürger d.i. in Gesellschaft liegen; so hat er, nach wie vor, das Recht die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Aber die andern haben das Recht auch. Und, weil nun auf dem Rasen für alle Beine nicht Platz ist; so muß er sich zu einer andern Lage bequemen. Und das Geheimnis und die Güte der Einrichtung besteht darin: daß für alle Beine gesorgt werde, und einige nicht zu eng und krumm, und andere zu weit und grade liegen.

In einem Fall, wo, nach diesem Exempel, einer ganzen Nation die Beine bequem gelegt werden sollen; wo einem gedrückten und niedergebeugten Volk Luft gemacht werden soll, den Kopf wieder aufzuheben; sieht man nur auf die Sache, und nimmt übrigens in der Freude seines Herzens alles für voll. Und so mag denn auch wohl der allgemeine Enthusiasmus für die Charta Magna mit zu erklären sein.

Der 3. Artikel ist nur wahr, wenn er wahr ist. Wenn es aber wahr ist, daß alle Oberherrschaft ursprünglich von Gott herkommt; so ruht sie nicht in der Nation. Er steht also bis weiter dahin; denn, daß die Nationalversammlung ihn bekanntgemacht hat: das kann ihn doch nicht wahr machen, und ebensowenig: daß der König ihn genehmigt hat.

Ich lasse die übrigen Sätze in Ruhe. So angesehen freuen schöne allgemeine Wahrheiten, wie zarte Blumen. Aber so leicht, wie sie entstehen, vergehen sie auch wieder; weil sie, wie gesagt, immer [427] geben und nehmen, und zwei Hände haben, dabei man sie anfassen kann. Eine Probe von solchem Geben und Nehmen sind unter andern noch der 10. und 11. Artikel. So schön darin die Denk- und Preßfreiheit aussehen, so unsicher sind sie, und es hängt ganz von der vorbehaltenen Untersuchung über die Meinungen, im 10., und über den Mißbrauch, im 11. Artikel, ab: sie in die ärgste Preß- und Denksperre zu verwandeln. Doch dafür kann niemand, und darum sind allgemeine Sprüche keine positive Gesetze.

Alle Mitglieder der Nationalversammlung waren nicht darüber einig, und stritten lange darüber: ob die Bekanntmachung der Menschenrechte notwendig sei. Und würklich läßt sich über diese Notwendigkeit auch hin und her sehen, und sonderlich: wie allgemeine Wahrheiten, die männiglichen bekannt sind, oder bekannt sein können, die in und auf sich selbst beruhen und keines Menschen Genehmigung bedürfen, dem Könige zur Genehmigung vorgelegt werden. Wenn z.E. der König, der so viele Jahre die öffentliche Kraft gewesen war, und der, nachdem sie zerstört worden, über die unglücklichen Folgen bei aller Gelegenheit, selbst bei der Nationalversammlung, klagte und vorstellte; wenn der, nach dem 12. Artikel, seine Genehmigung dazu geben sollte: »daß zur Aufrechthaltung der Rechte des Menschen eine öffentliche Kraft notwendig, und daß diese Kraft zum Vorteil von allen und nicht zum besondern Nutzen derjenigen, denen sie anvertrauet worden, angeordnet sei«; wenn der König, der die allgemeine Beisteuer so viel und so oft, und leider! zu viel und zu oft eingesammlet hatte, und der nun über das Einsammeln keinen Rat weiter wußte und ebendeswegen die Stände zusammenberufen hatte; wenn der, nach dem 13. Art., seine Genehmigung dazu geben sollte: »daß zur Unterhaltung der öffentlichen Kraft und zu den Unkosten der Administration eine allgemeine Beisteuer unvermeidlich und daß sie unter allen Bürgern gleichmäßig, nach Verhältnis ihres Vermögens, zu verteilen sei«; so mußte ihm das doch sonderbar bedünken. Oder wenn er dazu seine Genehmigung geben sollte: »daß eine Gesellschaft, darin die Aufrechthaltung der Rechte nicht sichergestellet, und die Verteilung der Macht und Gewalt nicht bestimmt ist, keine Konstitution habe«; und: »daß alle Menschen gleich an Rechten geboren werden und bleiben etc.« Der Nationalversammlung gereicht es allerdings zur Ehre: die vergessenen und verachteten Rechte der Menschen auf alle [428] Weise in Andenken und Ansehen zu bringen; aber dem Könige konnte doch an der andern Seite die Genehmigung solcher allgemeinen Sätze überflüssig scheinen; und dazu bedenklich, weil er nicht wissen konnte, was er eigentlich darin genehmigt hatte.

Der König verweigerte auch anfangs zu dieser Bekanntmachung seine Genehmigung, und gab bloß zur Antwort: »daß er sich darüber nicht erkläre; daß sie ganz gute Maximen enthalte die bei künftigen Arbeiten zur Richtschnur dienen könnten, daß aber dergleichen Grundsätze, die so mancherlei Anwendungen und Auslegungen fähig wären, denn allererst richtig beurteilt werden könnten und sollten, wenn ihr wahrer Sinn durch die Gesetze, denen sie zur Grundlage dienen sollten, bestimmt sein würde.«

Er wollte vermutlich zu verstehen geben: daß die Nationalversammlung zu groß für eine solche Arbeit wäre, und daß Philosophieren nicht Regieren sei. Und, wenn man sich den Wert und die Würde einer Nationalversammlung vorstellt; so kommt es einem auch so vor, daß es für die Stellvertreter der Nation, die bestellt waren das dürre Land zu wässern und den Strom des Segens darüber zu bringen und auszuschütten, würklich zu wenig war: dem Volke die hydraulischen Gesetze zu erklären, und ihre Plane und Nivelliermaschinen vorzuzeigen; und daß es diesen Stellvertretern nicht weniger gut angestanden wäre: ihr großes Werk im stillen zu treiben und sich heimlich zu halten und zu verbergen, bis der Strom, hoch daherbrausend, die Wohltäter verraten hätte; und daß es besser gewesen wäre: das Volk, das sie glücklich machen sollten, nicht metaphysisch sondern physisch an sich zu erinnern, und für sich einzunehmen. Und zwar das, wenn im Lande alles, groß und klein, arm und reich, in konvenabler Stimmung gewesen wäre, sich glücklich machen zu lassen. Wenn aber in einem Lande, wie ein ehemaliger Präsident der Nationalversammlung selbst, der Herr Munier, sagt, »seit man von Versammlung der Reichsstände sprach, aller Blick auf die Zukunft gerichtet war, und ein jeder die Begebenheiten nach seinem Interesse und nach seinen Leidenschaften berechnete, und Ehrgeiz sowohl als Haß diesen Augenblick für günstig hielten; die einen während den Konvulsionen der Anarchie die höchste Gewalt an sich zu reißen hofften, und die andern einen Plan hatten: allen Unterschied der Stände aufzuheben, alles zu ebnen, alles durcheinanderzuwerfen, sich mit [429] Trümmern zu umgeben, und das Volk durch das Gift der Ausgelassenheit, das sie unter dem Namen Freiheit dispensieren wollten, zu berauschen«; wenn in einem Lande, wie ein anderes Mitglied der Nationalversammlung, Herr Faucault, umständlich erzählt, »deutliche und bestimmte Gesetze, z.E. die Abschaffung des Lehnsystems und des Grundzinses gemißbraucht wurden: das Volk aufzuwiegeln, und zu den größten Unordnungen und Gewalttätigkeiten gegen die Gutsbesitzer zu verleiten; und die Einwohner noch viel zu weit zurück waren: die Beschlüsse der Nationalversammlung verstehen zu können; – und das Volk noch lange Zeit nicht imstande sein würde: den Sinn derselben zu begreifen; und nicht genug dafür gesorgt werden konnte: sie ihnen von rechtschaffenen Männern erklären zu lassen« etc.; wenn das war; so war es doch von den Stellvertretern der Nation etwas gewagt: dergleichen allgemeine und unbestimmte Sätze bekanntzumachen, die ein jeder zu seiner Absicht mißbrauchen und dadurch die Köpfe zu ihrem eignen Verderben verdrehen konnte.

Wer den Menschen kennt: wie ihm der Kopf so leicht verdreht wird; wie er so geneigt ist, alles in seinem Sinn zu verstehen, eine Handbreit zu nehmen wo ihm ein Fingerbreit gegeben wird, und sich wenn er nur irgend Vorwand und Feigenblatt hat seinen Neigungen und Leidenschaften und ihren Verwüstungen hinzugeben; wie er, auf gewisse Weise dem Hahn gleich, nach dem gezogenen Kreidestrich geht; und, wenn dieser Strich, der ihn hielt und an den er sich hielt, plötzlich verrückt wird, wie er denn auf einmal alle Haltung verliert und keine Schranken weiter kennt etc.; wer das weiß, der ist zwar schnell zum Wollen, langsam aber zum Tun; der bedenkt nicht bloß den Samen den, sondern auch den Boden darein er ihn säen will; der sitzt zuvor mit Ernst und mit Tränen in den Augen, und überschlägt die Schwachheit der menschlichen Natur; und gehet, mit seiner Wohl tat in der Hand, auf und ab, hin und wider, vor- und rückwärts, und spähet ohne müde zu werden, bis er einen Weg und Weise erspähet habe: ihrer mit Ehren loszuwerden. Ein solcher Wohltäter ist ein Geschenk des Himmels. Es ist leicht, sein schönes Bild zu zeichnen; aber schwer, es zu sein. Denn er muß. Wohlgeschmack an dem finden was nicht wohlschmeckt; er muß nie seine Pflicht der Popularität, sondern immer die Popularität seiner Pflicht aufopfern können; muß von der großen Gesinnung wohlzutun nicht berauscht, sondern wahrhaftig beseelt [430] sein. Kurz, er muß sich darauf gefaßt haben und wissen, daß Undank der Welt bester Lohn sei, und entschlossen sein, wie Moses ein geplagter Mann zu werden.

Nähere Untersuchung des neuen Systems

Angenommen daß das neue System, oder ein Vernunftregiment, würklich in der Welt auch möglich wäre; so würde man es doch keine Regierung nennen können, sondern allenfalls eine Gesellschaft der praktischen Politik, eine Staatsbürgerakademie etc. In dem Wort: Regierung, liegt uns die Idee von einer Kraft, die von der Untersuchung des Rechts verschieden ist; die einen festen unerschütterlichen Gang hat, und unwiderstehlich zum Ziel schreitet. Diese Kraft geht durch alle Teile der Staatsverfassung. Sie ist, wie das Herz im menschlichen Körper; und muß ungehemmt und unangetastet bleiben, solange das Leben des Körpers dauern soll. Es ist hier nicht die Frage: ob nicht gegen ihren Gang in einzelnen Fällen regelmäßige Einwendungen und Vorstellungen gemacht werden dürfen. – In welchem Lande werden die nicht gemacht: und in welchem Lande wird nicht darauf gehört? – Nur sie darf nicht angerührt, nicht gehemmt werden, ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht, oder alles ist zu Ende. Ich will dies mit einem Exempel erläutern. Den 22. Jul. 1789, ermordete, wie bekannt ist, das Volk zu Paris öffentlich und auf eine schreckliche Weise den Foulon. Der Marquis von la Fayette, dem, einstimmig und unter allgemeinem Jubel des Volks, das Generalkommando der Pariser Bürgermiliz war übertragen worden, und die Wahlherren von Paris, stellten gütlich dagegen vor; und taten überaus brav, um den Foulon zu retten. Aber umsonst; er ward ermordet. In der Sache mochte das Volk vielleicht nicht unrecht haben, und Foulon des Todes wert sein. Auch würde das von la Fayette vorgeschlagene Gericht ihn vielleicht zum Tode verurteilt haben. Das Volk handelte also nicht einmal gegen: es antizipierte nur. Aber das, was unverletzlich ist, war verletzt worden. Und was tat Fayette? – Er legte seinen Generalkommandostab nieder; weil, wie er sich sehr polis ausdrückte: »der Tag, an dem das Volk ihm das versprochene Zutrauen versagt hätte, auch der Tag sein müßte, an dem er seine Stelle aufgäbe, darin er nun weiter keinen Nutzen mehr stiften könnte«.

Es muß denn eine unwiderstehliche Kraft in einer Regierung sein, und ohne die kann kein Gehorsam und kein Staat gedacht [431] werden; wie ohne einen festen unbeweglichen Punkt, wohl eine in parabolischen und Schneckengängen wild durcheinanderlaufende Figur, aber kein regulärer Zirkel, gemacht werden kann.

Woher soll nun aber in einem Vernunftregiment diese unwiderstehliche Kraft und dieser feste unbewegliche Punkt kommen? – Die Vernunft, antwortet man, ist das eine; und soll das andre geben.

Die Vernunft wollte wohl eine Kraft und unwiderstehlich sein, und könnte es vielleicht auch; aber sie ist es nicht. Und wie sollte sie einen festen unbeweglichen Punkt geben können? Sie existiert ja in dem Regiment nicht außer in den Individuis, und von diesen hat ein jedes seine eigne Vernunft. Jedweder Mensch hat seine Art die Dinge anzusehen, und vernünftig zu sein; und es ist eher möglich, daß alle Pfeifen in allen Orgeln von Europa unisono stimmten, als daß es alle Glieder eines kleinen Staats täten, gesetzt auch daß sie Stimmung hielten.

Es waren immer und zu allen Zeiten viele und mancherlei Philosophien in der Welt. Ist je eine gewesen, die sich nicht in Parteien und Sekten geteilt hätte? Ist je ein philosophischer Spekulant gewesen, der nicht seine Widersacher und seine Oppositionspartei gehabt hätte? Und im philosophischen Felde haben noch alle Streiter ohngefähr einerlei Absichten; sie suchen alle die Wahrheit, und zwar möchten sie eine Wahrheit wie sie ist, und sie wollten sich alle wohl nach ihr richten. In einem Staat und im bürgerlichen Felde ist erstlich der Haufe viel größer; die Interessen sind verschieden, durcheinander, und oft gerade widereinander; die Neigungen und Leidenschaften sind mehr in Bewegung und Spiel; und jedweder sucht eine Wahrheit, nicht nach der er sich, sondern die sich nach ihm richte. Wenn zwei, z.E. einen Prozeß haben, so findet gewöhnlich die Vernunft jeder Partei: daß sie recht habe; weil jede recht haben will etc. – Und doch soll die Vernunft den festen unbeweglichen Punkt geben! – Wo nehmen wir Brot hier in der Wüsten? –

Wohl wahr, spricht man; aber, gebt den Menschen nur richtige Begriffe! Aufklärung! Aufklärung! Der Mensch muß aufgeklärt werden! – Nun ja, gegen die richtigen Begriffe hat niemand etwas; auch gibt es für jeden Menschen gewisse Dinge, worüber es recht nützlich und gut ist ihn aufzuklären, das heißt, ihm zu sagen: dies und das ist so, und nicht so; dies und das taugt, oder taugt nicht; dies und das muß geschehen, oder nicht geschehen etc. Nur, wer mit dem Medusenkopf der Aufklärung [432] die Neigungen und Leidenschaften zu versteinern denkt, der ist unrecht berichtet.

Es ist, zwischen den Begriffen und dem Wollen im Menschen, eine große Kluft befestigt. Das Rad des Wissens und das Rad des Willens, ob sie wohl nicht ohne Verbindung sind, fassen nicht ineinander. Sie werden von verschiedenen Elementen umgetrieben, und sind etwa wie eine Wind- und Wassermühle. Frage den falschen Messer, den falschen Wäger einmal, ob er nicht weiß, daß man rechtes Maß und Gewicht geben muß. Wer weiß nicht, daß man nicht töten soll? Wir wissen es nicht allein, sondern es widersteht auch ein natürlicher Widerwille gegen das Töten in uns, und in der Ferne geht der Scharfrichter mit dem Schwert – und tötet niemand? – Wer weiß nicht, daß man nicht stehlen soll? Und Galgen und Rad warnen noch überdas an allen Heerstraßen: – und stiehlt niemand? – So mit allen heiligen Zehn Geboten. Aber, was erwartest denn du mehr von deinen Geboten? Verstehst du es besser, als der liebe Gott? – Er konnte mit Geboten nicht zum Ziel kommen, und wählte deswegen einen andern Weg. – Und du denkst mit Geboten und Aufklärung auszureichen? – Mache doch einmal eine Probe; kläre einmal deinen Knecht oder sonst einen ersten besten auf: über den Ort wo die Schublade mit deinen Louisdor steht; kläre ihn auf, so viel du willst, über die Schändlichkeit der Untreue und über Pflicht und Recht; und gib acht: ob damit das heilige Grab sicher verwahrt sei, und ob nicht vielleicht dein Knecht unsichtbar und zu gleicher Zeit die Schublade leer werde. Siehe doch an: die tausend Verordnungen und mancherlei Vorstellungen, die um dich her in der Welt gegeben und gemacht werden; siehe doch an: was du selbst in deinem kleinen Zirkel verordnest und vorstellest. – Ist es damit ausgerichtet?

Ist dir das alles aber noch nicht klar, und zu weit weg; so will ich dir näher kommen. Gehe in dich, und frage dich selbst. Frage aufrichtig dein eigenes Herz: ob es nicht etwas anders ist, was dich zum Wollen bewegt, als das bloße Wissen? Ob die Räder des Wissens und des Willens in dir immer miteinander, und ob sie nicht oft gegeneinander gehen? Ob du nichtsogar bisweilen, wenn du das Rad des Besserwissens in der Ferne umgehen hörest, ob du denn nicht bisweilen mit Fleiß abwärts und aus dem Wege gehest, damit du seinen Laut nicht vernehmest? – Lieber, gestehe und leugne nicht. Du bist es nicht allein dem es also gehet; es geht andern Leuten auch so, und den meisten geht es noch [433] ärger. Gestehe denn aber auch, daß es eitel Traum und Täuschung sei, daß die Vernunft und Aufklärung den festen unbeweglichen Punkt geben und den Neigungen und Leidenschaften Gebiß anlegen könne! Und glaube nicht länger an eine Sache, die nicht wahr ist, und die nie hat wahr gemacht werden können, und die leider durch eine Erfahrung von 5793 Jahren widerlegt wird. Denn was anders war je die Absicht der bessern und weiseren Menschen aller Zeiten bei ihrem Tun und Treiben, als überall der Vernunft die Herrschaft über Sinne und Leidenschaften zu verschaffen? Und haben sie es tun und zustande bringen können? – Und wahrlich ihrer einige hatten das Ding beim rechten Ende angefangen.

Ein Staat nach dem neuen System oder ein Vernunftregiment ist denn unmöglich, weil man wohl klug aber nicht gut machen kann; weil die Menschen nicht wollen wie sie denken, sondern, vielmehr umgekehrt, denken wie sie wollen, und also durch Aufklärung noch kein Gehorsam geschafft wird.

Doch wir wollen die Sache noch von einer andern Seite angreifen. Wir wollen einen Staat, nach dem höchsten Ideal des neuen Systems in concreto annehmen; die Maschine einmal rund gehen lassen, und sehen was werden wird. Dieser Staat soll nur aus einer Million Menschen bestehen. Kein Staatsbürger in demselben soll etwas auf Glauben und Vertrauen annehmen noch sich irgend etwas begeben, sondern den vollen Genuß seiner Vernunft und seiner Menschenrechte haben; es soll darin bloß menschlich hergehen; alles soll durch die Gesellschaft selbst bestellt und bestimmet werden; und es soll, keine Einrichtung, kein Gesetz, gültig sein, als was durch die Vernunft eines jeden einzelnen dieser zehnmalhunderttausend Menschen, die, nach der Bevölkerung von Deutschland gerechnet, circa einen Raum von 500 Quadratmeilen einnehmen, eingesehen, gut gefunden und genehmiget worden ist.

So viel sieht sich gleich im voraus ab, daß es eine sehr langweilige Regierung geben muß; und man will verzweifeln: ob je ein Gesetz zustande kommen werde. Doch wollen wir eins in Vorschlag bringen. Und zwar soll zuerst das Münzwesen reguliert, und ein vorteilhafter Münzfuß festgesetzt werden. Alle Staatsbürger haben allerdings das Recht: in einer für den Staat so wichtigen Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich will nicht davon sagen, was für Zeit und Umstände dazu gehören würden, um nur bloß die [434] Sache zur allgemeinen Wissenschaft zu bringen. Diese Schwierigkeit soll schon überwunden, und der Vorschlag jedwedem einzelnen Staatsbürger insinuiert sein. Aber, nun weiß niemand von ihnen, wovon die Rede ist. Unter hunderttausend wissen etwa hundert: was ein Münzfuß; und einer: was ein vorteilhafter Münzfuß ist. Diese zehn also müssen entscheiden, wenn etwas Kluges werden soll. Und für die übrigen neunmalhundertundneunundneunzigtausendneun hundertundneunzig bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte über den Münzfuß zu begeben und Glauben und Vertrauen zu den zehn Münzverständigen zu haben, welche die Rechte der Gesellschaft in Münzsachen vertreten, und eine Art von Münzkollegium im Lande wären.

Wo Münze ist, da wird es auch nicht an Streit und Händeln fehlen, und wir müssen denn auch eine Rechtspflege haben. Alle Staatsbürger haben freilich wieder das Recht: über eine für den Staat so wichtige Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich überlasse es jedwedem: ob, wenngleich ein jeder Mensch ein Gefühl von Recht und Unrecht hat, ob es je möglich sei, daß zehnmalhunderttausend Menschen sich über so viele Gesetze und Formalien, als eine Rechtspflege erfodert, einig werden sollten! Aber, als möglich angenommen was unmöglich ist; angenommen: daß alle zehnmalhunderttausend Staatsbürger über alle die Dinge zu einer Meinung und Stimme gekommen wären, daß sie alle würklich die Gesetze gemacht hätten; so können sie alle sie doch nicht exekutieren. Und, wie sie sich auch darüber einig werden, durch Wahl oder durchs Los, über wenige oder über mehrere; so müssen sie sich doch einig werden, und es muß zu einem Kollegio von einigen kommen, das die Rechte der Gesellschaft in Justizsachen vertritt. Und, für alle die andern Staatsbürger bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte in Justizsachen zu begeben, und Glauben und Vertrauen zu dem Justizkollegio zu haben. Und die Ordnung, Ruhe und Glückseligkeit sowohl der ganzen Gesellschaft als der einzelnen Staatsbürger hängt davon ab: daß dies Kollegium in Justizsachen, wie das Münzkollegium in Münzsachen, bis weiter honoriert werde.

Und so weiter, und so weiter.

Also, ohne Rechte-Vertreten und In-Händen-Haben abseiten eines oder einiger, und ohne Rechte-Begeben und Glauben und Vertrauen abseiten des ohne allen Vergleich größern Teils der [435] Staatsbürger, ist eine bürgerliche Einrichtung platterdings unmöglich! – – – –

Aber, da wäre ja nebenher noch etwas anderes und etwas sehr Unerwartetes zum Vorschein gekommen? – Auf die Weise wäre ja das neue System älter als das alte! Auf die Weise scheint es ja: daß der Zustand des Selbstsehen und der Menschenrechte, den unsre Schriftsteller als eine neue Entdeckung, als die nach und nach gereifte Frucht der Zeiten, und als den uns und unserm erleuchteten und glücklichen Jahrhundert vorbehaltenen großen Fund ansehen; daß, sage ich, dieser Zustand der älteste und erste gewesen; und daß man, weil das Ding so nicht gehen wollte und so nicht gehen konnte, auf ein anderes denken und zu dem alten System greifen mußte! –

Freilich! Es scheint so. Der Strumpf kann allerdings wieder zum langen Faden gemacht werden; aber, der lange Faden war vor dem Strumpf.

Freilich; es scheint so, und es ist auch wohl so. Das neue System war zuerst, und von da ging man zumalten über.

Und dieser Übergang ist nicht leicht und nicht unbedeutend gewesen. Und es war kein kleines und geringes Werk: das Selbstdenken und Selbstwollen eines jeden einzelnen, dabei keine Ordnung und kein Glück bestehen kann, aus dem Sinn und in ein Gleis zu bringen; den Eigendünkel und natürlichen Trotz, die Halsstarrigkeit, und den Übermut etc. der menschlichen Natur zu bändigen; und, statt ihrer, Gehorsam, Ehrerbietigkeit, Zurückhaltung, Zuvorkommen, Diskretion, Delikatesse und die übrigen Grazien des gesellschaftlichen Lebens zu introduzieren.

Wenn man bedenkt: was es, nachdem diese Bändigungsfalten und -gleise einmal gelegt und die bürgerlichen Einrichtungen schon gemacht sind, und die Menschen in dem Respekt gegen die Obrigkeit geboren und erzogen werden; was es da noch kostet und immer gekostet hat, die natürliche Unbändigkeit und das natürliche Gefühl von Menschenrechten, das jeder Mensch dunkel in sich hat und das sich in jedem Bürger- und Bauerntumult rührt, in Ordnung und Zaum zu halten; so läßt sich einigermaßen absehen: was es gekostet habe, und was dazu gehört habe, wie viele Zeit und wie viele Weisheit, was für Liebe und Geduld, und wie viele harte Stöße der äußerlichen Gewalt, um diese Falten zuerst zu legen, und diese wohltätigen und für die bürgerliche Glückseligkeit aller und jedes einzelnen unentbehrlichen [436] Bande zuerst zu knüpfen. Ich sage: einigermaßen. Denn keine äußerliche Gewalt etc. allein hat dazu hinreichen können; und es hat noch etwas mehr dazu gehört, so viele verschiedene einzelne Willen zu einigen und zu lenken. Und das haben auch die alten Völker und Menschen immer geglaubt. Livius erzählt in seiner Nachricht von dem Ursprung des Römischen Reichs: Numa habe die Furcht der Götter als eine der ersten Notwendigkeiten in dem Herzen des Volkes angesehen; und Plutarch sagt gradezu: »daß es eher möglich sei eine Stadt in der Luft, als einen Staat ohne Religion zu gründen.«

Also die ersten Erfinder und Knüpfer der bürgerlichen Bande haben die Menschen nicht betrogen; sondern sie waren die Väter und Wohltäter ihres Geschlechts, und sie sind es noch bis auf diesen Tag. Und, wenn ihre Wohltat oft gemißbraucht worden ist; so ist das nicht gut und nicht der Wohltat Schuld, und sie hört darum nicht auf eine Wohltat zu sein. Die Menschen können dieser Wohltat nicht entraten, und können sie nicht genug erkennen, und nicht besorgt genug sein, sie zu erhalten und auf die Nachkommen fortzupflanzen.

Und nun. – Nun soll man freilich dem Menschen die Augen nicht zudrücken; nun mag man ihm freilich bescheidentlich sagen und kundtun: daß er nicht für die andern sondern um seinetwillen dasei etc. Aber, wer ohne Rückhalt und Einschränkung »Menschenfreiheit« verkündigt, und unbedingt »die Menschenrechte« predigt; der – seine Absicht sei welche sie wolle, wer will jemand die bestreiten – aber der rüttelt an jenen wohltätigen, so weislich und mühsam geknüpften und unentbehrlichen Banden; gräbt den Eigendünkel, und Selbstwillen etc. wieder aus dem Verborgenen hervor; der verstört überdas im Menschen die schönen Gefühle von Liebe, Glauben und Vertrauen; nimmt ihm das Herz aus dem Leibe, und macht ihn zu einer dürren selbstklugen Hirnschädel ohne Freude für sich und andre! – Und das Beste, was der Mensch auf Erden hat; der letzte Trost, der ihm, wenn er sich von seinem Regenten gedrückt glaubt oder gedrückt ist, übrigbleibt, und der »mit einem Regenten der nicht drücke und alles wiedergutmachen werde«, sein Herz beruhigt und tröstet – auch der soll ihm genommen werden! –

Heißt das die Menschen lieben? – Ich bitte. Ist das bieder und gut? – Und ist es nicht biederer und besser: unbedingt Gehorsam und Ordnung, und Liebe, und Glauben, und Vertrauen auf Gott und Menschen zu predigen? – [437] Aber soll denn Liebe, Glauben und Vertrauen ewig lieben glauben und vertrauen, damit sie ewig betrogen und gemißbraucht werden können? – Sollen denn viele sich ihrer Rechte begeben, damit einer oder einige ungestraft Gewalt und Unrecht üben können?

Das sei ferne! – Betrogene Liebe ist wie Menschenblut; sie schreiet aufwärts um Rache. Nein! Recht muß Recht sein und Recht bleiben. Ich streite nicht wider sondern für das Volk – und wo dem Kleinen Unrecht und Gewalt geschehen soll, da begehre ich nicht zu heißen der Sohn der Tochter Pharao, und will viel lieber Ungemach leiden mit meinen Brüdern.

Die Könige und Regenten sind den Menschen zum Guten gegeben und nicht zum Bösen. Sie sollen nicht Unrecht, sondern Recht und Gleich tun, und wissen daß sie auch einen Herrn im Himmel haben. Der hat sie über die andern gesetzt um der andern willen, und daß den andern durch ihre Hand Barmherzigkeit geschehe. Und wie die Millionen oder die Tausende, die von ihnen ihr Maß häuslicher Ruhe und zeitlichen Glücks erwarten, ihnen gehorsam sein und Glauben und Vertrauen haben müssen: so müssen sie den Tausenden das Maß mit beiden Händen voll drücken und rütteln und sie glücklich machen. Und das ist noch nicht alles.

Wenn ein König in seiner Herrlichkeit mitten unter seinem Volk auf seinem Thron sitzet; so sitzet er da: um, außer dem Glück der Erde, auch das Glück des Himmels zu spenden; so sitzt er da: um, als ein heiliger Künstler, durch lauter wohltätige, lauter milde und edle, lauter große und gute Handlungen GOTT zu konterfeien, und die Menschen nach IHM hungrig und durstig zu machen.

Das sollen die Könige und Regenten! Dazu sind sie berufen, und dazu sind den ersten Königen die Krone und der Szepter gegeben worden. – Und darum lieben auch wir Menschen von Natur dies Geräte, und erwarten von dem, der es an sich trägt, nichts als Gutes; und mögen von ihm nichts Böses hören. Wir Menschen sind Kinder, und so mußte der liebe Gott mit uns wie mit Kindern umgehen, und uns heimlich und hinter unsern eignen Rücken glücklich machen. Und dazu bedurfte es Einrichtungen, und wir fühlen wohl, daß diese Einrichtungen so rein sein müssen, wie der ist der sie gemacht hat.

Ihr Könige, und ihr Regenten! – Euer Stuhl steht in der Welt von Gottes wegen. Und wer darauf sitzt soll groß und unüberwindlich [438] sein, aber mit und durch Recht und Wahrheit! Die allein machen groß, und die allein sind unüberwindlich.

Beschluß

Die in einem Staat unentbehrliche Kraft ist wie das Herz im menschlichen Körper.

Daß für die physische Natur irgendwo ein großes Herz schlagen müsse, durch das und von dem sie in allen ihren Teilen Leben und Bewegung erhält, läßt sich begreifen. Eine leblose Stockholmer Uhr kann zwar wohl in Hamburg oder Osnabrück, von dem Meister der ihr die Bewegung gab getrennet, gehen; aber das lebendige Universum kann von seinem Herzen sowenig getrennt sein, als der menschliche Körper von dem seinigen, und es wird, wie im Kleinen so im Großen, wie im Besondern so im Allgemeinen, eine fortgehende und unaufhörende Systole und Diastole erfodert. – Wenn ebendasselbe große Herz, das für die physische Natur irgendwo schlagen muß, auch für die moralische Natur schlüge; so wüßten wir an was wir uns hier zu halten haben, und wir hätten zu gleicher Zeit einige Auskunft über die unüberwindliche Lenkkraft des menschlichen Willens, sowohl überhaupt als im Staate, und über den festen unbeweglichen Punkt. Doch wie dem auch sein möge, etwas Festes muß der Mensch haben daran er zu Anker liege, etwas das nicht von ihm abhange, sondern davon er abhängt. Der Anker muß das Schiff halten; denn, wenn das Schiff den Anker schleppt, so wird der Kurs mißlich, und Unglück ist nicht weit.

Wenn David seinen Feind und Verfolger Saul in der Höhle, wo er in seiner Hand war, nicht tötet sondern ihm nur einen Zipfel vom Rock abschneidet; so trieb und bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Leidenschaft, sondern etwas anders. Wenn Sokrates die von seinen Schülern veranstaltete Flucht aus seinem Gefängnis nicht annimmt, sondern lieber sterben will und stirbt; so bewegte ihn so zu handeln nicht die natürliche Neigung sondern etwas anders. Die meisten würden das Gefängnis verlassen haben, und mit dem Zipfel nicht zufrieden gewesen sein. Warum? – Weil in den meisten die natürliche Neigung und Leidenschaft zum Handeln treibt und bewegt, und das andre dafür nicht zu Wort kommen kann.

Wohl sind unsre Sinne und Leidenschaften die Hörner, Cymbalen und Zinken, die den Laut und die Stimme der Wahrheit [439] in uns zerrütten, verdunkeln und überschreien. Sie sind die hundert schwere Ketten, die uns arme Menschen fesseln und halten, und uns mit Schmach bedecken. Wer sich nur von einer losgemacht hat, ist schon ehrlicher; und so immer weiter den langen sauern Berg hinan. – Und, wer ihn ganz erstiegen hat; wer, durch sein Wollen und Laufen oder durch Gottes Erbarmen, so weit gekommen ist, daß alle Ketten abgefallen sind, und keine mehr an ihm klirrt; der ist wahrhaftiglich einfreier Mann. – Er ist von dem Freiheitler himmelweit und wesentlich verschieden; und diese zwei verhalten sich zueinander: wie sein wollen zu sein, wie unten zu oben, wie nichts zu alles.

Der freie Mann ist los von der Erde und allem kleinen Interesse; auf ihn würkt, von nun an, nichts, ihm gilt nichts, ihn treibt und bewegt nichts, als dasWahre und Gute. Er hat den Rock des Fleisches ausgezogen 57, nährt sich mit der Speise der Götter, und schifft auf dem Ozean der reinen Liebe.

Ein solcher hat Recht mitzusprechen, und ist über die Gesetze. Aber nicht, weil die Gesetze nicht immer heilig beobachtet und gehalten werden müßten; sondern weil er inwendig anders gestellet ist, und immer und in allen Fällen überflüssig, und mehr tut als die Gesetze fodern; weil er zwo Meilen geht mit dem der ihn eine nötigt; weil er nicht allein nicht ehebricht, sondern kein Weib ansiehet, ihr zu begehren in seinem Herzen; weil er nicht allein seinen Feind nicht hasset, sondern segnet die ihm fluchen, denen wohltut die ihn hassen, und, wie der Vater im Himmel, die Sonne möchte aufgehen lassen über die Bösen, und über die Guten.

Wenn nun ein Mann dieser Art eines irregehenden, Rat und Hülfe bedürfenden Volkes sich erbarmt hätte, und, vom Wahren und Guten getrieben, den Szepter in die Hand genommen hätte; – von wem hätte der seine Königschaft, sein Recht und seine Gewalt?

Es hätte freilich außer ihm noch ein solcher im Volke sein oder werden können. Und der wäre dem Könige gleich gewesen; aber er würde gerne sein Untertan geworden sein, weil er nur einerlei mit dem Könige gewollt hätte, und es ihm an dem genug gewesen wäre, daß nur das Gute geschehe.

Es hätte aber auch einer im Volk, der weit davon war, sich ein solcher dünken können. Und so groß und unbegreiflich dieser [440] Fehlgriff ist; so hat die Erfahrung gelehrt, daß er nicht unmöglich ist weder im Kleinen noch im Großen, und daß es dazu nur einiger Veranlassung bedürfe. Schlagt auf die Jahrbücher des Menschengeschlechts, wo ihr wollet. Leset z.E. die Geschichte der Bewegungen, nach des guten frommen Georg Fox Predigt von Freiheit bei einem Teil seiner ersten Anhänger, im 17.; leset die Geschichte der Münsterschen Unruhen nach Luthern, im 16. Jahrhundert 58; und seht: wie schwach und anmaßend die menschliche Natur ist, und wie sie immer den leichten Weg gehet.

Ich breche hier ab, und erspare einem Schwachen von der Schwachheit seiner Mitmenschen zu reden. Aber guter Rat ist doch immer ehrenwert, er komme vom Schwachen oder von dem Starken. [441] Wenn ein guter Hausvater bei Nacht Licht braucht, so hascht er's nicht draußen unter dem weiten Tausend-Sternen-Himmel, und bringt es durch die Fenster herein; sondern er schlägt es mit Stahl und Stein mühsam und künstlich im Hause an, und läßt es durch die Fenster hinausleuchten.


Man kann nicht bergauf kommen, ohne bergan zu gehen. Und obwohl Steigen beschwerlich ist; so kommt man doch dem Gipfel immer näher, und mit jedem Schritt wird die Aussicht umher freier und schöner! Und oben ist oben.

Wie nun der Sklave es auch machen möge, sich seiner Ketten zu entledigen; soviel ist klar, daß er durch Wissen und Vernünfteln die Ketten nicht brechen werde; sondern daß er Hand anlegen müsse, wenn es sein Ernst ist, ihrer loszuwerden.

[442] Und das ist die Besserung, die ich in Vorschlag bringe.

Sie ist unser Tagewerk auf Erden, und der Große Königliche Weg zur Freiheit, der niemand gereuet.

Rencontre

HERR V. PÜSTER: Nun, meine Herren, was sagen Sie, und wie sollte es wohl um die Kreuze werden?

RAT MÄUSSLER: – Und es war aus mit ihnen.

HERR MYRTENZWEIG: Wohl, Freund! Der Himmel rötet sich, und rüstet sich allgemach zum Tagwerden.

DOKTOR HÜTHENTHÜT: Es ist allerdings ein sehr guter Anfang; doch besser wär's noch, die Sonne wäre schon am Himmel.

HERR V. PÜSTER: Fürchten Sie nicht, wir kommen ins reine.

[443] DOKTOR HÜTHENTHÜT: Eigentlich sollte man wohl bei einer so guten Sache auch nicht fürchten. Aber Menschen sind Menschen; und das Eisen kann auf halbem Wege kalt werden.

DIE GEBRÜDER BACKENZAHN: Ungeschmiedet nicht, dafür lassen Sie uns sorgen.

DOKTOR HÜTHENTHÜT: Nur vorsichtig, vorsichtig, und nichts übereilt! Chi va piano va sano.

DIE GEBRÜDER BACKENZAHN: Ei was, Doktor! Sie wollen ewig evakuieren. Der Körper ist einmal genug gereinigt, und es ist Zeit, heroische Mittel zu geben.

HERR V. PÜSTER: Bravo! Voran! Es ist so Holzmangel.

HERR WÜRZER: Wenn ich recht höre, so scheinen die Herren keine große Freunde der christlichen Religion zu sein?

HERR V. PÜSTER: Sehr große nun wohl nicht.

DIE GEBRÜDER BACKENZAHN: Wir sind daran, den – zusammenzupacken und aus der Welt zu schaffen.

WÜRZER: Und wie bald denken Sie damit fertig zu werden?

RAT MÄUSSLER: Das läßt sich wohl so bestimmt nicht sagen. Gut Ding will Weile haben.

ASMUS: Oh, ich bitte für die Kreuze, lieben Herren!

HERR V. PÜSTER: Seht doch! Und warum das?

ASMUS: Es ist so eine schöne Figur, wenn's weiter nichts wäre. Und denn sind sie doch auch manchem traurigen und betrübten Menschen zum großen Trost gewesen.

RAT MÄUSSLER: Grade das soll nicht sein. Die Menschen sollen sich damit nicht länger trösten; sie sollen nun etwas anders haben, sich zu trösten.

ASMUS: Kann man sich denn trösten, womit man will? Ich habe gemeint, man muß sich trösten womit man kann.

WÜRZER: Er hört ja, daß das Wohl der Welt in guten Händen ist. Die Herren wollen den Menschen die Kreuze umsetzen, und sie sollen reichlich dafür wieder haben.

ASMUS: Oh, ich bitte für die Kreuze, lieben Herren! Sie kennen sie nicht, und können sie nicht ersetzen.

HERR V. PÜSTER: Nun, was hat Er denn so recht und eigentlich für die Kreuze?

ASMUS: Das kann ich den Herren so en détail nicht sagen. Aber, ich möchte Sie fragen, was Sie dagegen haben?

RAT MÄUSSLER: Das können wir Ihm wohl sagen, wenn Er es nur verstehen kann.

ASMUS: Ich will mein Bestes tun.

[444] RAT MÄUSSLER: Die moralischen Schnürbrüste sind noch viel schädlicher, als die physischen.

ASMUS: Das kann ich schon nicht verstehen. Ich bitte, sagen Sie mir das noch einmal.

WÜRZER: Versteht Er, die Welt hat sich bisher genieren, und im Reifrock und Schnürbrust der Religion sitzen und Pein und Langeweile haben müssen; und sie soll nun einen lustigen Nachtag en négligée haben.

ASMUS: Laß den Herrn Rat Mäußler doch.

RAT MÄUSSLER: Ohne Figur denn: Die menschliche Natur ist eine edle reiche Natur, voll allerlei schöner Neigungen und Triebe. Man hat sie bisher durch Alfanz und Aberglauben widerrechtlich gedrückt und geknickt; und sie soll nun sich selbst und ihrem eigenen Genio überlassen werden.

WÜRZER: Soll sich selbst überlassen werden, versteht Er, und in ihrer eigenen Brühe sieden. Die schönen Triebe sollen nun einen ganz freien ungehinderten Lauf haben, und sich tummeln, wie ein Fisch im Wasser, versteht Er, und wie ein Tänzer im Ballsaal.

ASMUS: Aber, wer soll den Takt schlagen?

WÜRZER: Vermutlich ein jeder Ballgast selbst.

ASMUS: Aber, wird das nicht mancherlei Takt geben, und durcheinandergehen?

WÜRZER: Vermutlich wohl.

RAT MÄUSSLER: Vermutlich wohl nicht. Die Menschen haben alle einen Takt und eine Meinung in sich, wenn sie rein sind.

ASMUS: Da sagen Sie ein wahres Wort, Herr Rat. Das glaube ich auch; und grade das ist der Trost, damit ich mich bei der unglücklichen Verschiedenheit der Meinungen unter den Menschen aufrichte und tröste. Aber, sind denn alle Menschen rein, ich bitte Sie?

WÜRZER: Wer wird solche Fragen tun? Freilich sind sie rein, oder werden es doch auf dem Ball bald werden. Und wenn es etwa hie und da fehlen sollte; wird Herr Rat Mäußler schon nachhelfen.

ASMUS: Die Sache ist zu ernsthaft, Würzer. Wie kannst du lachen?

WÜRZER: Sie ist mir auch nicht gleichgültig. Aber laß mich, und versuche du gute Worte. Ich lache für Geld.

HERR V. PFEIL: Ein Wort im Vertrauen, Herr Asmus. Ich bin Ihrer Meinung, und glaube mit Ihnen, daß die Religion unentbehrlich [445] sei, um den Menschen eine gewisse moralische Haltung zu geben, und Ordnung und Wohlsein in der Welt zu erhalten. Es gibt Flecke, wo die Justiz und Polizei nicht hinkönnen, und da muß die Religion helfen. Und die Leute, die Religion abgeschafft wissen wollen, kennen die Welt und den Menschen nicht. Auch ist der Nutzen, den die Religion der Welt leistet, nicht geringe, sondern aller Achtung und alles Dankes wert. Aber, glauben Sie in Ernst, daß außerdem noch etwas Wahres im Christentum sei?

ASMUS: In Ernst, Herr v. Pfeil.

Frau Rebekka mit den Kindern,

an einem Maimorgen


Kommt Kinder, wischt die Augen aus,
Es gibt hier was zu sehen;
Und ruft den Vater auch heraus ...
Die Sonne will aufgehen!
Wie ist sie doch in ihrem Lauf
So unverzagt und munter!
Geht alle Morgen richtig auf,
Und alle Abend unter!
Geht immer, und scheint weit und breit
In Schweden und in Schwaben,
Dann kalt, dann warm, zu seiner Zeit,
Wie wir es nötig haben.
Von ohngefähr kann das nicht sein,
Das könnt ihr wohl gedenken;
Der Wagen da geht nicht allein,
Ihr müßt ihn ziehn und lenken.
So hat die Sonne nicht Verstand,
Weiß nicht, was sich gebühret;
Drum muß wer sein, der an der Hand
Als wie ein Lamm sie führet.
Und der hat Gutes nur im Sinn,
Das kann man bald verstehen:
[446]
Er schüttet seine Wohltat hin,
Und lässet sich nicht sehen;
Und hilft und segnet für und für,
Gibt jedem seine Freude,
Gibt uns den Garten vor der Tür,
Und unsrer Kuh die Weide;
Und hält euch Morgenbrot bereit,
Und läßt euch Blumen pflücken,
Und stehet, wenn und wo ihr seid,
Euch heimlich hinterm Rücken,
Sieht alles was ihr tut und denkt,
Hält euch in seiner Pflege,
Weiß was euch freut und was euch kränkt,
Und liebt euch allewege.
Das Sternenheer hoch in der Höh,
Die Sonne die dort glänzet,
Das Morgenrot, der Silbersee
Mit Busch und Wald umkränzet,
Dies Veilchen, dieser Blütenbaum
Der seine Arm ausstrecket,
Sind, Kinder! »seines Kleides Saum«,
Das ihn vor uns bedecket;
Ein »Herold«, der uns weit und breit
Von ihm erzähl und lehre;
Der »Spiegel seiner Herrlichkeit«;
Der »Tempel seiner Ehre«,
Ein mannigfaltig groß Gebäu,
Durch Meisterhand vereinet,
Wo seine Lieb und seine Treu
Uns durch die Fenster scheinet.
Er selbst wohnt unerkannt darin,
Und ist schwer zu ergründen.
Seid fromm, und sucht von Herzen ihn,
Ob ihr ihn möchtet finden.

[447] Lied der Bauern zu – an ihre Gutsherschaft,

am Geburtstage


(Nach der Schulzischen Melodie. Volkslieder, 1. Teil, pag. 34)


VORSÄNGER:
Mit Gesang in unserm Munde
Kommen wir herein,
Dich zu sehn in dieser Stunde;
Wollst nicht zürnig sein!
Sieh, wir konnten uns nicht wehren,
Deinen Festtag auch zu ehren,
Mit zu freun, mit zu freun!

ALLE:
Sieh, wir konnten uns nicht wehren,
Mit zu sein,
Und uns mit zu freun.

VORSÄNGER:
Unter einem guten Zeichen
Bist du uns erkorn,
Aus den andern deinesgleichen;
Denn die Hochgeborn
Sind nicht alle Hochgeboren.
Mancher Bauer wird geschoren,
Wird geschorn, wird geschorn.

ALLE:
Wir, wir werden nicht geschoren,
Nicht geschorn
Von den Hochgeborn.

VORSÄNGER:
Sollten wir an deinem Feste
Denn nicht wacker sein?
Blieben still und stumm im Neste,
Wie ein Stock und Stein?
Nein, das Herz in uns sich rühret;
Ehre dem, dem Ehr gebühret.
Das steht fein, das steht fein!

[448] ALLE:
Ehre dem, dem Ehr gebühret.
Das steht fein,
Wohl für groß und klein!

VORSÄNGER:
Fromme Menschen sein und Christen,
Ist ein guter Brauch;
Ach, wenn's alle Herren wüßten,
Ja, sie wären's auch;
Und gehorsam wären Knechte,
Plauderten nicht Menschenrechte,
Wie ein Gauch, wie ein Gauch.

ALLE:
Und gehorsam wären Knechte,
Guter Brauch;
Und für Herren auch.

Eine Fabel

Vor etwa achtzig, neunzig Jahren,
Vielleicht sind's hundert oder mehr,
Als alle Tiere hin und her
Noch hochgelahrt und aufgekläret waren,
Wie jetzt die Menschen ohngefähr;
– Sie schrieben und lektürten sehr,
Die Widder waren die Skribenten,
Die andern: Leser und Studenten,
Und Zensor war: der Brummelbär. –
Da kam man supplicando ein:
»Es sei unschicklich und sei klein,
Um seine Worte und Gedanken
Erst mit dem Brummelbär zu zanken,
Gedanken müßten zollfrei sein!«
Der Löwe sperrt den Bären ein,
Und tat den Spruch: »Die edle Schreiberei
Sei künftig völlig frank und frei!«
[449]
Der schöne Spruch war kaum gesprochen,
So war auch Deich und Damm gebrochen.
Die klügern Widder schwiegen still,
Laut aber wurden Frosch und Krokodil,
Seekälber, Skorpione, Füchse,
Kreuzspinnen, Paviane, Lüchse,
Kauz, Natter, Fledermaus und Star,
Und Esel mit dem langen Ohr etc. etc.
Die schrieben alle nun, und lieferten Traktate:
Vom Zipperlein und von dem Staate,
Vom Luftballon und vom Altar,
Und wußten's alles auf ein Haar,
Bewiesen's alles sonnenklar,
Und rührten durcheinander gar,
Daß es ein Brei und Greuel war.
Der Löwe ging mit sich zu Rate
Und schüttelte den Kopf und sprach:
»Die besseren Gedanken kommen nach;
Ich rechnete, aus angestammtem Triebe,
Auf Edelsinn und Wahrheitliebe –
Sie waren es nicht wert die Sudler, klein und groß;
Macht doch den Bären wieder los!«

Claudius

Als der Sohn unsers Kronprinzen,
nach der Geburt, gestorben war

Mit den vielen andern, Groß und Kleinen,
Klag ich schmerzlich deinen Tod;
Will bei deinem Sarge satt mich weinen
Und die Augen rot.
Nicht: daß du dich nicht, nach Herzensgnüge,
An die holde Mutter schmiegst,
Und daß du, statt freundlich in der Wiege,
Tot im Sarge liegst; –
Hier ist Vorplatz nur, spät oder frühe,
Gehn wir alle weiter ein,
[450]
Und es lohnt sich wahrlich nicht der Mühe
Lange hier zu sein;
Nicht: daß du des Vaters Glanz hienieden
Und sein Königreich nicht sahst,
Und daß du die Krone, dir beschieden,
Nicht getragen hast; –
Ach, die Kronen sind nicht ohne Bürden,
Sind nicht ohn Gefahren, Kind!
Und es gibt für Menschenkinder Würden,
Die noch größer sind;
Sondern: daß wir hier ein Land bewohnen,
Wo der Rost das Eisen frißt,
Wo durchhin, um Hütten wie um Thronen,
Alles brechlich ist;
Wo wir hin aufs Ungewisse wandeln,
Und in Nacht und Nebel gehn,
Nur nach Wahn und Schein und Täuschung handeln,
Und das Licht nicht sehn;
Wo im Dunkeln wir uns freun und weinen,
Und rund um uns, rundumher,
Alles, alles, mag es noch so scheinen,
Eitel ist und leer.
O du Land des Wesens und der Wahrheit,
Unvergänglich für und für!
Mich verlangt nach dir und deiner Klarheit;
Mich verlangt nach dir.

Eine Korrespondenz
zwischen mir und meinem Vetter

Hochedelgeborner

Hochzuehrender Herr Vetter,

Ich habe Ew. Hochedelgeborn etwas zu sagen und zu fragen, daran mir doch gelegen ist, und darüber ich seit einiger Zeit in einer Art von Verlegenheit bin.

[451] Seht, meine Kinder wachsen heran, und ich weiß nicht: ob ich sie soll vernünftig, oder unvernünftig werden lassen.

Verstehen Ew. Hochedelgeborn wohl, wie das zu verstehen ist. Eigentlich unvernünftig will ich sie nicht haben, das kann der Herr Vetter auch wohl denken. Warum sollte ich sie unvernünftig haben wollen? So toll werde ich ja nicht sein, das können Ew. Hochedelgeborn wohl denken. Aber, ob es vielleicht mehr als eine Vernunft gibt, ich kann in die heurige mich nicht finden. Sie nennen Dinge vernünftig, die ich unvernünftig, und Dinge unvernünftig, die ich vernünftig finde. Da bin ich nun zwischen Tür und Angel, und weiß nicht: ob ich eine unvernünftige Vernunft, oder eine vernünftige Unvernunft vorziehen soll. Als zum Exempel, da haben sie das bekannte Ding von der permanenten Aufklärung, und daß von nun an alles mit Vernunftgründen getrieben und gezwungen werden soll. Das Ding scheint mir gar artig und bequem und ich habe es so gerne begreifen wollen; aber ich kann es nicht begreifen. Das kann ich wohl begreifen, daß Vernunftgründe da hingehören, wo sie hingehören; aber das kann ich nicht begreifen, daß sie da hingehören wo sie nicht hingehören, und ich komme immer darauf zurück: wo sie nicht dienen, da gehören sie nicht hin, und wo sie nicht hingehören, was sollen sie da? – Lacht man doch über jenen Prediger, der am Ufer stand und den Fischen predigte.

Dem Herrn Vetter kann ich's wohl sagen, ich habe auch einmal unter der Hand mit dieser neuen Art und Kunst einen kleinen Versuch bei meinen Kindern gemacht. Aber das wäre mir fast übel bekommen, und die Jungens hätten mich bald zum Hause hinaus räsoniert. Flugs ergriff ich wieder die strikte Observanz, und halte seitdem strenge auf Gehorsam; und das geht viel besser. Auch ist, dünkt mich, Gehorsam an sich etwas Löbliches und Liebliches, und man kann ein Kind das aufs Wort gehorcht, und so ein enfant raisonneur nicht nebeneinander sehen, ohne das eine zu lieben, und dem andern die Rute zu gönnen.

Es gibt freilich gute Gründe: für alles was ein Kind tun muß; aber selten kann das Kind die verstehen, und oft darf es sie nicht wissen, wenn nicht mehr verdorben als gutgemacht werden soll.

Wie denn nun? Soll nun alles stehn und liegen bleiben; und weil das Warum nicht an den Mann will, auch das Was an den Nagel gehängt werden?

[452] Ich denke, man wehrt lieber der ersten Not, und gewöhnt die Kinder einstweilen an das Was.

Das Warum ist ein heimlicher Schatz, der ihnen aufbewahrt bleibt, und der am besten vorderhand mit Fideikommiß belegt wird, bis sie zu Verstand kommen. Dann mögen sie ihn finden, und einsäckeln, und uns im Grabe danken.

Aber ich gehe noch weiter, Herr Vetter, und sage: daß oft unvernünftige Gründe die helfen, Gott vergeb mir die Sünde, besser sind, als vernünftige, die nicht helfen.

Der Herr Vetter weiß, daß die Wahrheit einem ehrlichen Kerl über alles geht. So gibt es auch Unwahrheiten und Aberglauben, die durchaus ausgerottet, und nicht geduldet werden müssen. Ich meine nur, daß die Vernunft nicht immer gradezu und ohne Unterschied zufahren muß, und daß es Fälle gibt, wo es besser ist, sich, um einer guten Absicht willen, bis weiter so gut zu helfen als man kann. Nimmt man es doch keinem Menschen übel, wenn er seinen Freund hinters Licht führt, um ihm eine Freude zu machen, und ihn auf einen Fleck hinzubringen wo er ihn haben will, und wo er ihn mit der Wahrheit nicht hinbringen konnte ohne das ganze Spiel zu verderben.

Ich will ein Exempel geben. Der Herr Vetter weiß die Kinderstuben–Sage: »daß neugeborne Kinder nicht allein gelassen werden dürfen, weil sonst der Alb das Kind holt und dafür einen Wechselbalg in die Wiege legt«. Nun will ich grade nicht dafür stehen, daß es Wechselbälge gibt; ich, für meine Person, habe nie keinen gesehn, es möchte denn sein, daß die Wärterin der Vernunft der Zeit nicht auf ihrer Hut gewesen wäre. Aber ich weiß, daß gute Gründe vorhanden sind, die Wärterinnen glauben zu machen: daß sie neugeborne Kinder nicht aus den Augen lassen dürfen; und daß diese Gründe bei allen Wärterinnen nicht rechtskräftig sind. Wenn nun jemand, der das auch wußte und die Natur der Wärterinnen besser kannte als unsereins, wenn nun der den Alb und Wechselbalg inventiert hätte, um allen neugebornen Kindern einen Dienst zu tun; wer ist der Klügste, der, der den Wechselbalg auf die Bahn brachte, oder der Ritter Sankt Georg, der ihn mit seinem Lichtspeer erlegte?

Aber, es gibt doch vielleicht keine Wechselbälge! Wohl wahr. Aber wer weiß, wieviel es vielleicht nicht gibt von dem, was andre täglich inventieren; und wer kann sagen, ob alle die hochberühmten Kinder, die in der philosophischen Wiege gewiegt werden, echt sind? Was schadet denn ein Wechselbalg [453] mehr oder weniger, wenn er sonst nur kein Gift unterm Schwanze führt?

Der Erfinder des Wechselbalgs mochte wohl auch wissen, daß es keine Wechselbälge gibt; aber er stellte sich dumm, weil er Gutes stiften wollte. Wer die Kunst versteht, verrät den Meister nicht. Aber der Ritter Aufklärer Sankt Georg verstand die Kunst nicht, plapperte die Sache aus, und störte das Gute. Und ist das so etwas Großes, und des Geschreies wert?

Der Herr Vetter mag nun sagen, wer recht hat: der, der sich klug dünkt; oder der, der sich dumm stellt? Und ob alte Leute nicht Kinder- und Kälbermaß wissen müssen usw. Und soviel von dem ersten Punkt, oder von Aufklärung und Aberglauben.

Der zweite Punkt betrifft Glauben, und den allgemeinen Sturm, den die Vernunft itziger Zeit auf geoffenbarte Religion läuft. Und da habe ich mich bei Ew. Hochedelgeborn gehorsamst erkundigen wollen: ob es damit auch wohl Not haben sollte?

Ich zwar kann es mir kaum einbilden. Denn sieht der Herr Vetter, ich habe, sans compraison, nur ein Geheimnis: Dinte zu machen, und das ist ja nur ein kleines und schlechtes Geheimnis; alle Welt macht Dinte. Aber laß die Vernunft mir doch einmal a priori mein Rezept raten. Und was einer nicht raten kann und nicht weiß, darüber kann er, dünkt mich, doch eigentlich nicht urteilen und richten.

Doch die Vernunft soll so überaus kunstreich sein, daß sie das kann. Nun so mag sie denn beweisen und bewiesen haben, so viel sie will: daß meine Kunst Dinte zu machen nicht tauge, und daß es gar solch eine Kunst nicht gebe. Aber was geht das mein Rezept an? Hab ich's darum weniger? Und wird es darum keine gute Dinte machen? –

Und doch will die Vernunft über das Geheimnis der Religion richteln! – – – – – – – – – – – – – – – –

Und wenn der Schäker noch was Bessers an ihrer Stelle zu geben hätte. Aber das fehlt viel.

Was sie »natürliche Religion« nennen, ist wohl eine feine äußerliche Zucht, aber es ist nicht würdig und wohlgeschickt.

Dem Menschen muß etwas wahr und heilig sein! Und das muß nicht in seinen Händen und nicht in seiner Gewalt sein; sonst ist auf ihn kein Verlaß, weder für andre noch für ihn selbst. Was soll doch einer für Furcht vor Götter haben, die er selbst inventiert und gemacht hat? Und was kann er von ihnen für Trost erwarten? – Auch ist das scharfsinnigste Gemächt der[454] Selbgöttler eigentlich nur zum Staat und für die guten Tage, und ich hab's mehrmal gesehn, Vetter, wenn's was gilt, so lassen sie die Ohren hängen.

Und nun zum Beschluß noch eine Frage: Soll ich meine Kinder die »kritische Philosophie« studieren lassen oder nicht studieren lassen? Die Meinungen über diese Philosophie sind so verschieden. Einige sagen, daß sie von nichts zu etwas, und andre wieder, daß sie von etwas zu nichts führe. Nun ist mir das Nichts von jeher in der Seele zuwider gewesen, und ich habe nie können recht dahinterkommen, was es eigentlich für ein Ding ist. Ich mag es sonst wohl, daß meine Kinder von allem mitsprechen können. Nur muß es sie nicht verderben. Verdorben will ich sie nicht haben, für keinen Preis.

Ich wollte sie so gerne gut haben, lieber Vetter! Gib mir Rat dazu, und ich lasse mir einen Finger für Dich abhacken.

Der ich die Ehre habe mit besonderer Hochachtung zu sein,

Hochedelgeborner
Hochzuehrender Herr Vetter,
Ew. Hochedelgeborn

ganz gehorsamer Diener etc.

Antwort

Spart den Finger, Vetter! Denn, wenn ich Euch probaten Rat geben könnte; so wäre er doch zuwenig, und für das, was ich Euch geben kann, ist er viel zuviel.

Ich protegiere Eure Philosophie mit Leib und Seele, Vetter; doch rate ich immer, daß Ihr Eure Kinder vernünftig werden lasset.

Mit den Produkten der Zeit müßt Ihr es so genau nicht nehmen. Die Vernunft ist heuer Mode, und Ihr wißt wohl, wie es mit den Modewaren ist. Sie sind nicht immer solide gearbeitet, und können es, bei der Menge die gefodert wird und bei der Verschiedenheit der Lieferanten, auch nicht sein. Übrigens halten sie ihre Zeit, und so weiter.

Was den zweiten Punkt, oder den Sturm, der auf geoffenbarte Religion gelaufen wird, anlangt: da sollte ich nicht denken, Vetter, daß es damit Not hätte. Haltet Ihr nur Euer Dintenrezept unter Schloß, und seid ganz ruhig. Die Leute zu Eleusis hatten weiland auch ein Rezept: Dinte oder sonst etwas zu machen, und darin rät die Vernunft nun schon an die dreitausend [455] Jahre, und noch hat sie es nicht geraten. Gewisse Talente kann man ihr nicht absprechen, und es mag wohl sein, daß einige Leute sie zu scheel ansehen undzu despektierlich von ihr denken und sprechen; aber verlaß Dich sicher darauf, daß es Dinge gibt, die sie, ungeholfen, nicht kann und nicht weiß.

Seht, es ist eigends mit ihr bestellt. Wo in abstracto gespielt wird, da ist sie sehr behende in die Karten zu kucken und ihr Spiel zu machen. Aber bei demPositiven will es nicht fort. Und, Vetter, wenn sie auch Euer und aller Welt Geheimnisse raten könnte und geraten hätte, so liegt doch das Geheimnis der Religion sehr sicher; denn das ist einzig undsondrer Art.

Deswegen blieben auch sonst die größten Weltweisen, wie zum Exempel Newton, Baco, Boyle etc. wenn sie Geheimnisse der Natur oder der Kunst geraten hatten, vor diesem mit Bescheidenheit und Respekt stehen. Und, wenn das neuerer Zeit nicht geschieht; so geschieht das, nicht weil die neuen Newtons besser und mehr wüßten warum sie weitergehen, denn das fällt ihnen selbst wohl nicht ein; sondern weil sie nicht mehr wissen und verlernt haben, warum sie stehenbleiben sollten; es geschieht, weil gewisse Leute, die sonst wenigstens den Wohlstand respektierten, dahin verfallen sind, selbst weiterzugehen und es hierin einer dem andern zuvorzutun; und weil die Welt nach und nach leichtsinnig gemacht und gewöhnt ist, sich dergleichen Dinge gefallen zu lassen, oder gar zu bewundern. Bewundre Du dergleichen Dinge nicht, und bleibe auf Deinem Wege. Du brauchst denn auch nicht umzukehren, wenn der Rausch vorüber sein wird.

Wir fühlen wohl alle die großen Schwierigkeiten der Abschaffung aller Imperative und der Verwandlung der Moralität in Heiligkeit. Aber darum. Wirhaben die Idee der Sache; die Tradition sagt: sie ist wahr, und ist geschehen; und uns alle in unserm Innersten verlangt und dürstet darnach. Daß du es nicht begreifen kannst, das hat nichts zu sagen. Wieviel kannst du nicht begreifen, oder lieber was kannst du begreifen von dem was vor Augen ist? Und dies liegt hinter dem Berge.

Wenn einer für sich es nicht glauben kann; so ist das gut. Ein ehrlicher Mann kann nicht glauben, was er nicht glauben kann. Will er aber andre Leute auch nicht glauben lassen, und eine Sache leugnen und bestreiten, die so viele gescheute und tugendhafte Menschen glauben und geglaubt haben; so ist das nicht gut, und man muß ihn der edlen Bescheidenheit erinnern. Und wenn [456] er gar beweisen will, daß die Sache nicht möglich sei; so muß man ihm grade ins Gesicht lachen.

Endlich auf Eure Frage, wegen der kritischen Philosophie kann ich Euch nicht anders als zweischneidig antworten. Seht, diese Philosophie hat viel Gelenke und ist fein ineinandergefügt, und es gehört Talent dazu, zu folgen und sich durchzuarbeiten.

Sind Eure Kinder also muntere Bursche, die da wissen was sie wollen und die an Mut und Geist grade keinen Mangel haben; so laßt sie darangehen, und sich versuchen und ihre Kräfte üben. Sie werden nicht ruhen, bis sie durchhin sind, und dann sehen was sie haben. Und das wird ihnen den Magen nicht verderben.

Sind sie aber nur mittelmäßige Gesellen; so macht ihnen diese Philosophie schwarz, und haltet sie davon zurück. Denn sie bleiben doch nur darin hängen wie die Lerchen im Netz, und das treibt das Geblüte zu Kopf und taugt nicht.

Zwar sie würden nicht alleine hängen, und es würde ihnen an Gesellschaft nicht fehlen. Aber es ist das doch eine unbequeme Art zu existieren.

Und da lob ich mir die Philosophen, die sich setzen, wie die allerneuesten tun.


Lebt wohl, Vetter.

Der ich auch die Ehre habe zu sein

Ew. ganz gehorsamer Diener etc.

Lied der Schulkinder zu –
an ihre kranke Wohltäterin

DIE KNABEN:
Einst unser Herr auf Erden war,
Uns hergesandt von Gott;
Der war ein Retter in Gefahr,
Ein Helfer in der Not!

DIE MÄDCHEN:
Er zog umher von Haus zu Haus
In niedriger Gestalt,
Und eine Kraft ging von ihm aus,
Die heilete die Welt.

[457] DIE KNABEN:
Wer elend war blieb schüchtern stehn
Und klagte ihm sein Leid;
Ein Wort, ein Blick ... dann war's geschehn!
Das war eine selige Zeit.

DIE MÄDCHEN:
Wie kamen sie doch, jung und alt,
Auf Bett und Bahr zu ihm!
Und gingen alle alsobald
Geholfen wieder heim.

DIE KNABEN:
Geholfen gingen sie davon,
Und fröhlich all und frisch:
Der »Knecht«, der »blindgeborne Sohn«,
Das »Hündlein unterm Tisch«;

DIE MÄDCHEN:
Der arme »Knabe taub und stumm«,
»Jairus' Töchterlein«,
»Der durchs Dach zu Kapernaum
Im Bette kam herein«;

DIE KNABEN:
Und jene Frau, die all ihr Gut
Mit Ärzten schier vertan;
Sie hatte nicht zu sprechen Mut,
Und rührte heimlich an.

DIE MÄDCHEN:
Sie stand und stand und wagt' es kaum,
Und trat von hinten her,
Und rührte an des Kleides Saum –
Und hatte ihr Begehr.

DIE KNABEN:
Oh, wär er hier doch, dieser Mann!
Wir liefen gleich zur Stund
Für dich zu ihm, und rührten an –
Und denn wärst du gesund!

[458] DIE MÄDCHEN:
Oh, wär er hier doch, dieser Mann!
Wir liefen gleich zur Stund
Für dich zu ihm, und rührten an –
Und denn wärst du gesund!

KNABEN UND MÄDCHEN:
Und denn wärst du gesund!

Urians Nachricht von der neuen Aufklärung, oder Urian und die Dänen

URIAN:
Ein neues Licht ist aufgegangen,
Ein Licht, schier, wie Karfunkelstein!
Wo Hohlheit ist, es aufzufangen,
Da fährt's mit Ungestüm hinein.
Es ist ein sonderliches Licht;
Wer es nicht weiß, der glaubt es nicht.

DIE DÄNEN:
Erzähl Er doch von diesem Licht!
Was kann es? Und was kann es nicht?

URIAN:
Erst lehrt es euch die Menschenrechte.
Seht, wie die Sache euch gefällt!
Bis jetzo waren Herr und Knechte,
Und Knecht und Herren in der Welt;
Von nun an sind nicht Knechte mehr,
Sind lauter Herren hin und her.

DIE DÄNEN:
Sind also keine Knechte mehr!
Sind alles Herren hin und her!

URIAN:
Sonst war Verschiedenheit im Schwange,
Und Menschen waren klug und dumm;
Es waren kurze, waren lange,
Und dick und dünne, grad und krumm.
[459]
Doch nun, nun sind sie allzumal
Schier eins und gleich, glatt wie ein Aal.

DIE DÄNEN:
Nun aber sind sie allzumal
Schier eins und gleich, glatt wie ein Aal!

URIAN:
Man nannte Freiheit bei den Alten,
Wo Kopf und Kragen sicher war,
Wo Ordnung und Gesetze galten,
Und niemand krümmete kein Haar.
Doch nun ist frei, wo jedermann
Radschlagen und rumoren kann.

DIE DÄNEN:
Doch nun ist frei, wo jedermann
Radschlagen und rumoren kann!

URIAN:
Vernunft, was man nie leugnen mußte,
War je und je ein nützlich Licht.
Indes was sonsten sie nicht wußte,
Das wußte sie doch sonsten nicht.
Nun sitzt sie breit auf ihrem Steiß,
Und weiß nun auch, was sie nicht weiß!

DIE DÄNEN:
Das macht sie gut! ... auf ihrem Steiß –
Und weiß nun auch, was sie nicht weiß!

URIAN:
Religion war hehre Gabe
Für uns bisher, war Himmelbrot;
Und Menschen gingen drauf zu Grabe:
Sie sei, und komme her, von Gott.
Nun kommt sie her, weiß selbst nicht wie? –
Man saugt nun aus dem Finger sie.

DIE DÄNEN:
Nun kommt sie her, wir wissen, wie?
Sie saugen aus dem Finger sie.

[460] URIAN:
Auch wißt ihr wohl vom Potentaten,
Wie der großmächtiglich regiert,
Und wie, ohn Streit und Advokaten,
Dem Szepter Ehr und Furcht gebührt.
Doch nun ist Szepter gar nicht viel,
Nicht besser, als ein -stiel.

DIE DÄNEN:
Uns ist und bleibt der Szepter viel!
Euch lassen wir den – andern Stiel.
Wir fürchten Gott, wie Petrus schreibet,
Und ehren unsern König hoch.
Was Wahrheit ist, und Wahrheit bleibet
Im Leben und im Tode noch;
Das ist uns heilig, ist uns hehr!
Ihr Fasler, faselt morgen mehr.

SCHLUSSCHOR:
Was himmelan die Menschen treibet;
Sie besser macht; was Probe hält;
Was Wahrheit ist und Wahrheit bleibet
Für diese und für jene Welt;
Das ist uns heilig, ist uns hehr!
Ihr Fasler, faselt morgen mehr.

Asmus.

Übungen im Stil
a) Naiver Stil.

Urian

an die – Rezensenten der ersten bei Perthes hinter dem breiten Giebel herausgekommenen Ausgabe seiner Nachricht: von der Neuen Aufklärung.


Ihr geht gar unbarmherzig dran,
Und schmähet alles um und an,
Schmäht den Poeten und den Mann,
Und Perthes und den breiten Giebel –
Nehmt doch die Wahrheit nicht so übel!

[461] b) Verhaltener Stil.

Der Literatus N.N.


Als er geboren war, und in der Wanne lag;
Da klapperte der Storch entsetzlich auf dem Dach,
Und seine Mutter rief und sprach:
»Das gibt einmal 'n großen Mann,
Hör einer doch den Storch nur an!«

c) Bedenklicher Stil.

Der Mensch, liebes Kind, hat eine Erkenntnis a priori und eine a posteriori, Vernunft und Erfahrung. Diese beide arbeiten sich einander in die Hand, und bringen denn ebensoviel zuwege, als der Mensch zur Leibesnahrung und Notdurft braucht. Denke gern über beide, und ihre gemeinschaftliche Arbeit und Verbesserung nach. Nur trenne sie nicht; denn sie sind Mann und Frau, und müssen beisammen sein zu einer vernünftigen Haushaltung und wenn legitime Kinder sollen geboren werden.

Sie, die Frau oder Modifikation dein selbst, ohne den Mann: ist eine hölzerne Servante, die nichts kann, und nichts ist; und er, der Mann ohne die Frau: ist ein alter Junggesell, der am Fenster sitzt und die Kinder winseln hört die er hätte haben können. Oder, wenn dir vielleicht, weil du doch eines Fabrikanten Sohn bist, ein ander Gleichnis besser paßt; die Erfahrung liefert die rohen Materialien, und die Vernunft macht die Fabrikware daraus. Wenn keine Materialien geliefert werden; so steht die Fabrike still, oder kann höchstens nur Formen machen.

So fein und schwürig auch die Einsicht in den Methodum der Warenfabrikation ist; so geht es doch mit der Sache selbst so leicht und natürlich vonstatten, als mit dem Luftholen.

Und man holt recht gut Luft, ohne zu wissen wie sie geholt werden muß und geholt wird.

Ein alter Brahmine sagt über die Allwissenheit des Brahm: »Von allen vielbegreifenden Eigenschaften ist die Allwissenheit die größte. Von eigner Eingebung – ist sie keinem Zufalle der Sterblichkeit, der Leidenschaft und des Bösen unterworfen. Für sie gibt es keine dreifache Zeit, keine dreifache Art des Seins. Von der Welt getrennt – ist sie von allem unabhängig.«

Mit unsrer Wissenheit ist es anders beschaffen. Sie ist von der Stirne bis zur Brust unterworfen und abhängig, und ihre Füße [462] liegen in dem Stock der Zeit und des Raums. Aber unser Scharfsinn und Indüstrie sind unerschöpflich. Wir suchen zu entfliehen, über Land oder über Meer – und wenn wir auch den Stock selbst zum Kiel eines Dreimasters brauchen sollten.

Doch, liebes Kind, so entkommen wir nicht, und unsre selbstgeschäftige Vernunft ist jener leibhafteLord, der, nachdem er sein großes Vermögen durchgebracht hatte, schuldenhalber festgesetzt war, und nun im Turm Projekte machte, die Nationalschuld abzutragen.

d) Planer Stil.

Was ist, das ist. Und was nicht ist, das ist nicht.

e) Kinderstil.

Brief


Meine liebe Mama, ich grüße Dich. Mein lieber Papa, ich grüße Dich. Mein lieber Hans, ich grüße Dich.

Ich grüße Euch, so viel als ich kann.

Mein lieber Papa und Mama, ich danke Euch für den Brief, als ich danken kann.

Nun ist es schlechtes Wetter, und gestern auch; die zwei Tage gehen immer kalt weg.

Ich bin sehr lustig. Ich denke, daß ich nicht unartig bin. –

Ich habe Dich viel tausendmal lieb, alle drei.

Wenn Du wieder zu Hause kommst, so denke ich wohl, daß ich schon einen a auf der Rechentafel machen kann, und vielleicht auch einen c.

Ich will mich üben auf das Lernen allein.

Lieber Hans, es ist erstaunlich, erstaunlich mit die Fliegen.

Ich weiß gar nicht mehr, wie der Hans aussieht.

Aber meine liebe Mama, ich kann mir noch gut vorstellen, daß ich Dich leiden mag, und Papa und Hans auch, wenn sie auch nicht hier sind, und gar wenn sie hier sind.

Ich grüße noch einmal.

Es ist wohl zu viel, aber ich muß doch noch einmal grüßen.

Es regnet.

Ich will eben zu Tische gehen. Wir haben nichts als gelbe Wurzeln, nichts anders. Das ist ein unmenschlich elendig Essen; und so geht es meist alle Mittag.

Das ist das letzte Mal, daß ich schreiben kann.

Den 18. August.

[463] f) Galanter Stil.

Eine gewisse Anmerkung betreffend.


Die hohen Götter zuweilen geruhn
Herabzulassen sich, und Menschenwerk zu tun.
So sahn wir jüngst den großen kritischen Poeten
Aus dem Kategorienhimmel in den Hühnerhof treten,
Und freundlich Hekatomben wie Haber streuen
Für die Hühner des griechischen Leuen.

g) Nachbarlicher Stil.

Am Geburtstag eines langen Emigranten.

(NB. Der Marsch aus Henri IV. muß dazu gehen.)


Sir Prinz Heraklius schickt seine Musikanten
Zum langen Emigranten,
Ihm zu spielen diesen Tag
Was der Orient vermag
Mit Reigen,
Mit Pfeifen,
Schellentrommel,
Vox humana,
Triangel
Und Becken- und Rutengetös.
Auch hätt er für sein Leben
Gern etwas mitgegeben;
Aber, aber,
Aber, aber, da gebricht's.
Denn Seiner Hoheit haben nichts;
Auch heute nichts,
Und nimmer nichts.
Sir Prinz Heraklius schickt seine Musikanten
Zum langen Emigranten:
Daß er überglücklich sei,
Alles Kummers frank und frei!
Er lebe hoch!
Er lebe lebe hoch!
Der liebe Lange lebe hoch!
Und aber hoch,
Aber hoch!

[464] h) Pikanter Stil.

Über die wiederholt und von so vielen Seiten her geäußerte Politessen gegen den Brummelbären und den Urian.


Die Wahrheit bleibt doch Wahrheit, wie ich sehe;
Gut eingerieben tut sie wehe.

i) Freundlicher Stil.

>

An den Brunnen zu Pyrmont, den 4. August 1797.


Fern aus einer kleinen Hütte
Komm ich her zu dir. Ich hör, du machst gesund.
Lieber Brunnen, schön und rund,
Bitte dich aus Herzensgrund,
O du lieber Brunnen! Bitte, bitte!
Mache mir mein Liebchen doch gesund!

k) Konfuser Stil

Deficit. Ist auch so leicht zu treffen.

l) Brillanter Stil

Ehrwürdiger,

lieber Herr Bruder,

Ich wohne am Wasser, und nehme mir die Freiheit, einige Bewohner dieses schönen Elements, durch meinen Freund N.N. der bei Ihnen durchreiset, an Ihre Küche abliefern zu lassen. Sie sind ein kleines Opfer, das Ihrem Namen gebührt, und das ich, als eine Captatio Benevolentiae, meinem neuen Nachbar mit Vergnügen bringe.

Ich brenne schon lange, Ihre Bekanntschaft zu machen, und mich mit Ihnen über die itzige Gestalt der Theologie zu unterhalten. Wer in aller Welt hätte, vor Semlers Zeiten, sich solche Riesenschritte, und eine solche transzendentale Veränderung in unsrer Kunst auch nur ahnden lassen? Zeit war's indes, und würklich hohe Zeit. Die Philosophen, und man kann sagen ein jedweder in seinem Fach, fingen seit lange an, auf den Grund zu gehen und Perlen zu fischen; und der Kirchen-Lugger trieb sich auf der Oberfläche herum, und machte mit seiner altfränkischen Parlamentarflagge eine traurige Figur dazu. Nun die [465] Bahn einmal gebrochen und die Theologie hinüber ins philosophische Klima gebracht und gebettet ist, haben wir keine Not weiter, und können alle, ein jeder seines Orts, ruhig fort und vorwärts arbeiten.

Erlauben Ew. Ehrwürden, daß ich Sie mit meiner besondren Denkart und Methode etwas näher bekannt machen darf.

Auf der einen Seite war, sowie ich auf der Universität die gehörige Richtung und Weisung erhalten hatte, gleich mein Entschluß gefaßt: mich aus demtheologischen Heerrauch ganz und gar herauszuziehen. Ich merkte mir deswegen alles in der Bibel was die Probe nicht aushält sorgfältig an, und hatte mir, schon als Kandidat, eine Liste über die Hauptpassus und -aberglauben gemacht – die ich denn, gleich in den ersten Amtsjahren, einen nach dem andern mit der Vernunft angegriffen und herausgehoben habe; und seitdem immer und bei aller Gelegenheit daran erinnere und sie gleichsam als eine Reihe Zähne beständig um den Hals trage.

(Im Vertrauen gesagt, ist mir und meinem Kollegen, dem Syrer und Chaldäer, diese Arbeit sauer genug geworden, und hat uns oft viel Kopfbrechens gekostet. Und noch sind einige Dinge übrig, denen wir weder durch Akkommodation noch durch den damaligen Sprachgebrauch etc. etwas anhaben können. Doch diese Bucephale werden mir einige berühmte Männer, die ich auf einer projektierten Gelehrtenreise bald zu sprechen hoffe, schon bändigen helfen.)

Auf der andern Seite habe ich mich ganz in Moral und Menschenglück hineingeworfen; bleibe aber in abstracto und fasse alles à jour, doch bald so bald so und immer anders; damit einesteils das Einerlei nicht ermüde, und andernteils damit die feste Form nicht nach und nach Ahnenrechte erwerbe, und sich so die Vernunft selbst nicht zu Aberglauben verhärte.

Das wären etwa die Hauptlinien einer Methode, darüber ich, wenn ich es sagen darf, schon von manchem Gelehrten ein Kompliment erhalten habe.

Ich sehe auch davon die ersprießlichsten Folgen. Das Bewußtsein, und der edle Trotz auf die schönste Gabe des Himmels lebt und webt in meiner Gemeine. Der gemeinste Kerl fodert hier Gründe, lacht über Glauben und Vertrauen; und will sehen.

Von den leeren Zeremonien sage ich Ihnen nichts. Ich mache keine mehr. Ich mache fast nichts mehr. Der ich die Ehre habe etc.

[466]

m) Schlichter Stil

Antwort


Sie werden dahin kommen, daß Sie würklich nichts mehr machen, lieber Herr Bruder.

Warum wollen Sie keine Zeremonien machen? Unser Herr Christus selbst hat alle Gerechtigkeit erfüllt; so können Sie es wohl auch tun. Wir wissen alle, daß in dem Äußern nichts liege; aber Zeremonien können gute Rührungen veranlassen, und auf gute Gedanken bringen. Auch sind sie bisweilen ein Fähnlein über dem Wasser, das uns anzeigt, wo der Schatz gewesen und versunken ist. Lassen Sie das Fähnlein stehen. Es ist übrigens schlimm genug, daß Ihre Zeremonien so leer sind. 59

Und was haben Sie anzugreifen, und herauszuheben? Sie sind berufen, das Evangelium zu lehren, und dürfen nicht daran ändern noch rühren.

Sie sind kein Perlenfischer und Bijoutier, der seine und überhaupt keine gleißende Ware zu Markt bringen soll. Sie sollen Gottes Wort predigen, ein Tröster in Not und Tod sein, und sich selbst und Ihre Gemeine selig machen.

Ich widerrate Ihnen deswegen auch die projektierte gelehrte Reise. Bleiben Sie zu Hause, und suchen das Böse, was Sie bisher gestiftet haben, so viel möglich wiedergutzumachen.

Ich danke Ihnen für die Fische, und habe die Ehre etc.

Krieg und Friede

(Kann auch nach der Schulzischen Melodie,Volks-Lieder I. Teil, S. 38, gesungen werden.)


DER VORSÄNGER:
Es ertönt ein Lied vom Frieden;
Macht den Sängern Platz!
Denn er ist fürwahr hienieden
Gar ein großer Schatz;
[467]
Und zu Felde gehn und kriegen
Ist kein Glück, und kein Vergnügen!
Saget an!
Saget an!

ALLE:
Nicht zu Felde gehn, und kriegen!
Menschenblut
Ist doch viel zu gut.

DER VORSÄNGER:
Heißt zwar: Völker überwinden,
Glorreich insgemein.
Glor-reich können wir's nicht finden,
Glor-arm mag's wohl sein.
Ohne Not ist auch zu siegen
Uns kein Glück, und kein Vergnügen.
Saget an!
Saget an!

ALLE:
Wollen ohne Not nicht siegen.
Menschenblut
Ist doch viel zu gut.

DER VORSÄNGER:
Wenn der Fürst nur leibt und lebet
Für den Untertan,
Und das stille Hausglück schwebet
Über Frau und Mann,
Und die Kinder in der Wiegen
Wohlgemut und sicher liegen! ...
Saget an!
Saget an!

ALLE:
Ja, du lieber Fürst! Nicht kriegen!
Menschenblut
Ist doch viel zu gut!

[468] [470]DER VORSÄNGER:
Doch, wenn ohne Fug und Ehren
Jemand trotzt; und droht
Herd und Altar zu zerstören;
– Not hat kein Gebot –
Denn zu kriegen und zu siegen,
Und zu schlagen, bis sie liegen!
Saget an!
Saget an!

ALLE:
Das ist Recht, und ist Vergnügen.
Menschenblut
Ist denn nicht zu gut!

In der Allee zu Pyrmont,
morgens beim Aufgang der Sonne

EINIGE BRUNNENGÄSTE:
Da kommt sie her. Der Berg frohlocket laut,
Und bringt ihr seinen Rauch!
Das Tal frohlockt, geschmückt wie eine Braut!
Und wir frohlocken auch!

ALLE:
Und keiner ist, wie Er!

EINIGE:
Auf, denkt an den, der sie geschaffen hat!
Der ist ein großer Herr!
Held, Friedefürst und Vater, Kraft und Rat;
Und keiner ist, wie Er!

ALLE:
Und keiner ist, wie Er!

EINIGE:
Ihm wird's nicht Tag; Er hat kein Schlafgemach!
Er schläft und schlummert nicht!
Sein Vaterherz ist ewig ewig wach!
Und ewig Lieb, und Licht!

[470] ALLE:
Und ewig Lieb, und Licht!

EINIGE:
Er sitzt dort hoch in stiller Einsamkeit,
Und sinnt auf unser Wohl,
Den großen Schoß voll Wohltat weit und breit,
Und beide Hände voll;

ALLE:
Und beide Hände voll;

EINIGE:
Und sieht herab auf Sterne, Land und Meer
Mit unverwandtem Blick!
Sieht seine Kinder alle rundumher,
Ihr Elend und ihr Glück!

ALLE:
Ihr Elend und ihr Glück!

EINIGE:
Er sieht auch uns hier, traurig, arm und bleich
An Stock und Krücken gehn –
Dort fließt der Brunnen, daß er wieder reich
Und froh uns mach und schön!

ALLE:
Und froh uns mach und schön!

EINIGE:
O du Barmherziger! Du Gnädiger!
Barmherzig für und für!
Du Gnädiger! O du Barmherziger!
Herr Gott, dich loben wir!

ALLE:
Herr Gott, dich loben wir!
Herr Gott, wir danken dir!
Dich, Gott Vater in Ewigkeit
Ehret die Welt weit und breit.
[471]
All Engel und Himmels Heer
Und was dienet deiner Ehr,
etc. etc.

An Frau Rebekka;

bei der silbernen Hochzeit, den 15. März 1797


Ich habe Dich geliebet und ich will Dich lieben,
Solang Du goldner Engel bist;
In diesem wüsten Lande hier, und drüben
Im Lande wo es besser ist.
Ich will nicht von Dir sagen, will nicht von Dir singen;
Was soll uns Loblied und Gedicht?
Doch muß ich heut der Wahrheit Zeugnis bringen,
Denn unerkenntlich bin ich nicht.
Ich danke Dir mein Wohl, mein Glück in diesem Leben.
Ich war wohl klug, daß ich Dich fand;
Doch ich fand nicht. GOTT hat Dich mir gegeben;
So segnet keine andre Hand.
Sein Tun ist je und je großmütig und verborgen;
Und darum hoff ich, fromm und blind,
Er werde auch für unsre Kinder sorgen,
Die unser Schatz und Reichtum sind.
Und werde sie regieren, werde für sie wachen,
Sie an sich halten Tag und Nacht,
Daß sie wert werden, und auch glücklich machen,
Wie ihre Mutter glücklich macht.
Uns hat gewogt die Freude, wie es wogt und flutet
Im Meer, so weit und breit und hoch! –
Doch, manchmal auch hat uns das Herz geblutet,
Geblutet ... Ach, und blutet noch.
Es gibt in dieser Welt nicht lauter gute Tage,
Wir kommen hier zu leiden her;
Und jeder Mensch hat seine eigne Plage,
Und noch sein heimlich Crève-coeur.
[472]
Heut aber schlag ich aus dem Sinn mir alles Trübe,
Vergesse allen meinen Schmerz;
Und drücke fröhlich Dich, mit voller Liebe,
Vor Gottes Antlitz an mein Herz.

Christiane

Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!
Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
Und suchte, bis ich's fand;
Und blieb denn lange stehen,
Hatt große Freud in mir:
Das Sternlein anzusehen;
Und dankte Gott dafür.
Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.

Der Tod

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.

Die Liebe

Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
Und dringt durch alles sich;
[473]
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.

Über die Unsterblichkeit der Seele

»Die Versinnlichung der Kräfte gibt Warm und Kalt, Freude und Leid; welche kommen und gehen, und wandelbar und unbeständig sind. Trage sie mit Geduld, Sohn des Bharat; denn der weise Mann, den diese Dinge nicht irren, und dem Freude und Leid gleichgültig sind, ist gestellet für Unsterblichkeit. Ein imaginäres Ding hat keine Existenz; so wie hingegen ein Ding, was wahr ist, gar ohne Existenz nicht gedacht werden kann. Wer in die Grundursachen der Dinge schauen kann, sieht eines jedweden Dinges Gestalt. Wisse, daß der, durch den alle Dinge gemacht sind, unvergänglich ist, und daß niemand diesem unerschöpflichen Wesen etwas anhaben kann. Die Körper, welche die Seelen, die sie bewohnen und ewig unvergänglich und über allen Begriff sind, einhüllen, sind nur endliche Wesen. Deswegen, o Arjoon, entschließe dich zu fechten. Der Mann, welcher glaubt, daß es die Seele sei, welche tötet, und der, welcher denkt, daß die Seele vernichtet werden könne, sind beide, einer wie der andre, betrogen; denn sie tötet nicht und wird nicht getötet. Sie ist kein Ding, von welchem ein Mensch sagen könnte: es ist gewesen, es ist nun oder es wird künftig sein. Denn sie ist ein Ding ohne Anfang; sie ist von jeher, beständig und ewig, und kann in dieser ihrer sterblichen Hülle nicht vernichtet werden. Wie kann der Mensch, welcher glaubt, daß dies Ding unvergänglich, ewig, unerschöpflich und ohne Anfang ist, wie kann er denken, daß er es töten, oder veranlassen könne, daß es getötet werde? Wie ein Mann alte Kleider abwirft und neue anlegt, so geht die Seele, wenn sie ihre alte sterbliche Hüllen verlassen hat, in andre ein, die neu sind. Das Schwert teilet sie nicht, das Feuer verbrennet sie nicht, das Wasser verderbt sie nicht, der Wind verdorret sie nicht; denn sie ist unteilbar, unverbrennlich, unverderblich, und unverdorrlich: sie ist ewig, absolut, fortdauernd, unbeweglich; sie ist unsichtbar, unbegreiflich und unveränderlich. Deswegen, wenn du glaubst, daß dem so sei, mußt du nicht kümmern etc.«

Dies Stück ist aus der vor einigen Jahren vom H. Generalgouverneur Hastings bekanntgemachten Bhaguat-Gita, die zwar [474] nicht voll so alt als der Hollwellsche Schasta, aber doch auf 4000 Jahre angegeben wird. Vielleicht ist es einem und dem andern Leser, der von ohngefähr diese uralte Dokumente nicht gelesen hat, nicht unangenehm, noch einiges davon zu lesen, grade weil sie so alt sind.

Über die Glückseligkeit Krischna 60

»Die ungestüme Sinnlichkeit reißt das Herz auch des verständigen Mannes, der sich angelegen sein lässet sie zu überwinden, mit Gewalt dahin. Dem von höherer Kraft getriebenen Menschen (the inspired man), der sein Vertrauen auf mich setzet, ist es möglich sie zu zähmen, und glücklich zu werden. –

Der Mann ist glücklich, der, allen Lüsten des Fleisches abgestorben, ohne unregelmäßige Begierden, ohne Selbstklugheit und Stolz wandelt. Das ist: sein Glück bei Gott suchen. Wer ein solch Vertrauen auf das höchste Wesen hat, der geht nicht irre; und in der Stunde des Todes, wenn er sie sehen sollte, wird er eingehen in die unkörperliche Natur des Brahm. –

Diejenigen, die meiner unsichtbaren Natur nachtrachten, haben größere Arbeit zu bestehen; denn ein unsichtbarer Pfad ist für körperliche Wesen schwer zu finden. –

Der unkörperliche Brahm ist bereitet von der Welt her für Menschen die frei sind von Lust und Unlust, für Menschen von demütigem Herzen und gebeugtem Geist und die mit ihrer eignen Seele wohl bekannt sind.« (Bhaguat-Gita)

Hauptpunkte der von Hollwell
bekanntgemachten Fragmente des Schasta,

oder des ursprünglich geoffenbarten Gesetzes


  • »1) Das Dasein eines urersten Wesens ohne Anfang.
  • 2) Die Schöpfung einer Geisterwelt, deren Oberhäupter, welchen Gott sein eignes Wesen mitgeteilt hatte, auf göttlichen Befehl alles hervorgebracht haben, und regieren.
  • 3) Eine große Revolution in der Geisterwelt, veranlaßt durch [475] die Empörung eines Teils jener Wesen, und deren Verstoßung.
  • 4) Die dadurch veranlaßte Schöpfung einer materiellen Welt zur möglichen Wiederherstellung der abtrünnig Gewordenen etc.
  • 5) Alle Seelen der Menschen und Tiere sind ursprünglich gefallene Geister;
  • 6) Daher der itzige Zustand des Menschen eine Folge jener Übertretung ist;
  • 7) Der Urheber jenes ursprünglichen Abfalls ist noch itzt der Hauptfeind und Verführer der Menschen;
  • 8) Zur Wiedererlangung seines verlornen Zustandes bedarf der Mensch des Beistandes höherer Wesen etc.
  • 9) Zwischen dem Tode und der vollkommenen Wiederherstellung gibt es noch sieben Perioden der Läuterung etc.
  • 10) Die himmlischen Wesen erleichtern dem Menschen seinen itzigen Prüfungsstand.« (Das Brahmanische Religionssystem etc. von Dr. Joh. Fr. Kleuker. 1797)

»Da die Chineser mit andern Nationen keine Gemeinschaft gehabt haben; so ist wahrscheinlich, daß sie bei ihrem Ursprung, der bis gegen die Zeiten der Sündflut zurückliegt, die Erkenntnis des wahren Gottes erhalten haben. Viel mehr noch muß man dies von dem Fo-hi, ihrem Stifter sagen, da sein Name selbst, Pao-hi, wie ihn Konfuzius und alle seine Nachfolger nennen, Opfer – Victima, bedeutet, und er, wie die Ausleger sagen, zuerst die Opfer eingerichtet hat.« –


Çu-çu sagt:


»Obgleich die Natur, die der Mensch vom Himmel erhalten hat, in Hinsicht ihrer Wurzel, als vernünftig, und als etwas Festes, Wahres und nicht Gemachtes anzusehen ist; so kennt der Mensch, weil er durch die fehlerhaften Bewegungen seines Willens schon von jener Unschuld und Wahrheit der ursprünglichen Reinigkeit abgewichen ist, sie doch nicht deutlich, und kann sie auch im Handeln nicht erreichen, wie es der Natur Beschaffenheit und Zustand fodert etc. –

Du denkst, daß ich vielerlei und viele Dinge mühsam gelernt und ins Gedächtnis gesammlet habe. Aber die Sache verhält sich ganz anders. – Ich verstehe alle Dinge durch eins.

Die Regel, welche die Vollkommenen das Mittel zu erhaschen, [476] befolgen, ist im Gebrauch groß und breit und allgemein; und doch ist ihre inwendige Kraft in sich zart, fein und verborgen, und also wenigen bekannt.« (Confucius, Sinarum Philosophus etc. Parisiis. M.DC.LXXXVII. in Fol.)

Briefe an Andres

Erster Brief

Es geht mir ebenso, Andres, wenn ich in der Bibel von einem Alten und Neuen Bunde, von einer Konnexion und einem Verkehr zwischen dem HÖCHSTEN Wesen und unserm Geschlecht lese; ich mache auch oft das Buch zu, und falte die Hände: daß die Menschen vor Gott so hoch geachtet und wert sind!

Es drückt einen das freilich nieder in den Staub; aber man kriegt zu gleicher Zeit Respekt für sich selbst, und wittert Morgenluft – und man kann und kann den Mittler zwischen beiden nicht genug ansehen und lieben, und möchte ihn für andre mit lieben, die es nicht besser wissen.

Der Mensch kann die Wahrheit verkennen, verachten und aufhalten; aber, wie umwegs oder verkehrt er es auch treibe, so irrt er sich nur, und mitten in solchem Treiben suchet und meinet er sie. Er kann ihr'r nicht entbehren; und es ist nicht möglich, wenn sie ihm erscheint, daß er sein Haupt nicht vor ihr beuge.

[477] Irren ist menschlich, Andres! Aber die Wahrheit ist unschuldig. Sie ist immer bereit und immer wert, und wird auch wohl am Ende recht behalten.

Aber es macht Dir graue Haare, schreibst Du, unsern Herrn Christus verkannt und verachtet zu sehen. – Du liebe gerechte Seele, mag es doch; wer sie um ihn trägt, der trägt mit Ehren graues Haar.

Zwar seinetwegen brauchst Du Dir keine wachsen zu lassen. Er will wohl bleiben, was er ist. So viele ihrer die Wahrheit nicht erkennen und nutzen, die haben des freilich Schaden; aber was kann es ihr schaden, ob sie erkannt und genutzt wird, oder nicht? Sie bedarf keines, und es ist die Größe und Herrlichkeit ihrer Natur, daß sie immer bereit ist, von Undank nicht ermüdet wird, und wie die aufgehende Sonne mit den Wolken und Dünsten ringt, um sie zu reinigen und zu vergolden.

Laß sie denn ringen, Andres; und brich Dir auch um was Du nicht ändern kannst das Herz nicht.

Wer nicht an Christus glauben will, der muß sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und Du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben sollen; und das kann er überschwenglich, nach dem was von ihm geschrieben steht, und wir wissen keinen, von dem wir's lieber hätten.

Keiner hat je so geliebt, und so etwas in sich Gutes und in sich Großes, als die Bibel von ihm saget und setzet, ist nie in eines Menschen Herz gekommen und über all sein Verdienst und Würdigkeit. Es ist eineheilige Gestalt, die dem armen Pilger wie ein Stern in der Nacht aufgehet, und sein innerstes Bedürfnis, sein geheimstes Ahnden und Wünschen erfüllt.

Wir wollen an ihn glauben, Andres, und wenn auch niemand mehr an ihn glaubte. Wer nicht um der andern willen an ihn geglaubt hat, wie kann der um der andern willen auch aufhören an ihn zu glauben.

Nur eine so zarte überirdische Gestalt ist gar zu leicht verändert und verstellt, und sie kann von Menschenhänden sozusagen nicht berührt werden ohne zu verlieren. Deswegen ist auch immer des Zankens und Streitens über ihn unter den Menschen kein Ende gewesen.

Von allen den Streitern sind die, welche die Bibel aufrechthalten und doch alles Übernatürliche natürlich machen und mit ihrer Philosophie belegen und reimen wollen, unstreitig die schwächsten; [478] denn sie haben weder Verstand noch Mut, und sind nicht Fisch noch Fleisch. Dazu sind sie immer in Not und kommen nicht zum Ziel, denn es ist viel schwerer die Vernunft gegen die Offenbarung, als die Offenbarung gegen die Vernunft zu retten; und, wenn sie zum Ziel kommen, so haben sie nichts.

Wer menschliche Weisheit sein läßt was sie ist, sich aber bescheidet, daß es eine größere gebe, undGott Mittel und Wege haben könne davon der Mensch nicht weiß, und daß eine Offenbarung über unsre Einsichten sein müsse, und das Unbegreifliche an ihr kein Flecken, sondern, wenn sie sonst das Gepräge göttlicher Liebe trägt, grade ihr Wahrzeichen und ihre Schöne sei; der ist besser daran, und kann allen den Zänkereien unbekümmert zusehen, und indes in seine Scheuern sammlen.

Alles muß allerdings zusammenhängen, und wird sich auch wohl reimen lassen, wenn die data bekannt sind. Die Spekulanten lassen es sich nicht träumen, daß das brillanteste Feld der Spekulation hinter der Kirchmauer liege.

Doch, dem sei wie ihm wolle, Andres; wir glauben der Bibel aufs Wort, und halten uns schlecht und recht an das, was die Apostel von Christus sagen und setzen.

Die ihn selbst gesehen und gehört haben, und an seiner Brust gelegen sind, die sind ihm doch näher gewesen, als wir und die Glosse. Und was auch bisher unter den Gelehrten erfunden sein mag, und wie gut sie auch wissen und verstehen mögen; so scheint es doch, die Wahrheit zu sagen, daß die Apostel es besser wissen und verstehen müßten.

Lebe wohl, Andres, und schreibe bald wieder.


Dein etc.

Zweiter Brief

Als die Leute in dem Markt der Samariter, bei denen unser Herr Christus Herberge bestellen ließ, ihn nicht annehmen wollten, sprachen seine Jünger, Jakobus und Johannes: »Herr willt du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie Elias tät« – Und das nimmst Du so übel und kannst es den beiden Jüngern nicht vergeben noch vergessen! – Du freust einen, Andres! Aber ich kann auf meinen Jakobus und Johannes nichts kommen lassen, und ich muß ihnen bei Dir das Wort reden und ihre Ehre retten.

[479] Vorläufig darf man über das »Feuer vom Himmel fallen lassen« so ängstlich nicht sein, denn es hat damit gute Wege; und wer es kann fallen lassen, der wird schon wissen, was er zu tun und zu lassen hat. Über Handlungen höherer Ordnung können wir nicht urteilen, und so müssen wir auch nicht darüber urteilen wollen. Die Sache, wovon hier geredet wird, ist bloß menschlich, und da will ich, wie gesagt, versuchen, die Donnerskinder mit Dir auszusöhnen.

Erstlich hatten sie das Exempel des Elias vor sich, den sie noch kürzlich in sehr glorreichen Umständen gesehen hatten; und denn suchten sie ihres Meisters Einwilligung, und, natürlich, auch seine Kraft. Doch, Du pflegst zu sagen: schweige von einem andern, oder setze dich ganz an seine Stelle. Wir wollen uns denn hinsetzen. Es sitzt sich ohnedas an der Stelle so gut.

Christus war mit den Jüngern auf der Reise nach Jerusalem. Er reiste hier eigentlich in Angelegenheiten der Samariter, und tat diese Reise, wie alle das andre, um sie und alle Menschen sanft zu betten, und ihnen eine ewige Herberge zu bereiten. Zwar das mochten die Jünger, ob er ihnen gleich verschiedentlich darüber gesprochen hatte, doch vielleicht noch so ganz nicht begriffen haben. Aber sie waren doch zwei drei ganzer Jahre mit ihm umhergezogen, und hatten gesehen, daß er nicht seinetwegen umherzog, und nicht gekommen war, sich dienen zu lassen; daß er nichts als Gutes lehrte und Gutes tat, links und rechts und ohne Ansehen der Person, und daß er sich nicht zweimal bitten ließ, und jedem, der sein bedurfte, mit Liebe und Freundlichkeit zuvorkam. Dazu war es itzt das letzte Mal, daß er ihre Herberge brauchte, denn die Zeit war erfüllet, daß er sollte von hinnen genommen werden, und er ging hier der Schmach und dem Tode entgegen – Und nun wird ihm das Nachtlager versagt, und seine Boten werden abgewiesen ... Andres, kannst Du es den Jüngern übelnehmen, wenn sie da unwillig wurden? Der ist kein schlechter Mann, dem die Galle überläuft, wenn er so Gutes mit Undank belohnen, und Recht und Billigkeit mit Füßen treten sieht!

Und nimm nun noch dazu die Anhänglichkeit und Liebe, womit die Jünger ihrem Herrn und Meister zugetan waren und anhingen. Wem alles gleichviel und einerlei ist, der hat gut sprechen. Aber, wem es an etwas gelegen und in der Brust nicht hohl ist, dem ist anders zumute, als den Eiszapfen am Dache des Toleranztempels. Das Herz hat auch seine Rechte, und läßt [480] nicht mit sich spielen wie mit einem Vogel. Überhaupt ist es nicht Unrecht: Auge um Auge; Zahn um Zahn! Und schilt mir den Mann nicht, der für Recht und Billigkeit stehen bleibt, und die Hand ans Schwert legt. Etwas von dem Dreimännertrotz, der sich auf nichts in der Welt als auf sich selbst und seine gute Sache stützt, und doch vor der Gewalt und Menge nicht beugen will, ist nicht so übel. »Unser Gott«, sagten sie, »kann uns wohl erretten. Und wenn er es auch nicht tun will; so sollt ihr dennoch wissen, daß wir das goldene Kalb nicht anbeten wollen.«

Kurz, wie es an den drei Männern edel war, daß sie an Feuer nicht dachten; so war es an den beiden Jüngern nicht unedel, daß sie daran dachten.

Freilich Christus bedräuete sie; und wer, das »Feuer vom Himmel« in seiner Hand, unter seinen durch und durch gewürkten Rock zurückhalten und verbergen und sich vor Freund und Feind wie ein Verbrecher hinführen lassen konnte, damit der Wille des Vaters im Himmel geschehe; der konnte dräuen, und vor dem hatten die Jünger sich zu schämen, daß sie nicht wußten, wes Geistes Kinder sie waren. Aber ich will auch wissen, daß sie vor einem jeden andern Geist sich nicht zu schämen hatten, und daß der Geist des Christentums nicht ohne Ursache ein Geist der Herrlichkeit genannt wird.

Gut ist ein ander Ding, als edel; und Freisein ein ander Ding, als an seiner Kette reißen und rütteln. Edle Menschen gibt es von Natur, aber gut ist niemand, als der einige Gott, und wen der gut gemacht hat.

Dein etc.

Dritter Brief

Ich soll Dir das weiter auseinandersetzen –.

Edel ist: Ahndung der Heimat; das Gute in Feindesland; der König im Gefängnis. Wer Freude am Guten hat und gerne gut wäre, und mit sich kämpft und streitet, daß er's sei, der ist ein edler Mann.

Was soll ich Dir viel auseinandersetzen? Du weißt ja, besser als ich, wie es geht. Man will gern immer – das Eitle nicht liebhaben, unparteiisch sein, nicht böse werden wenn man beleidigt wird, geistlich gesinnt sein usw.; aber man kann es nicht. Wenn auch auswendig, so geht es doch inwendig nicht rein ab. Und, wenn auch das Feld behalten wird; so ist darum doch kein [481] Friede. Der Feind bleibt im Lande, und man muß mit dem Gefangenen sich placken und plagen.

All Fehd ein Ende, und rein Haus machen: das ist die Weisheit Gottes, welche die Edeln gelüstet zu schauen, die Weisen wissen, und die Toren verachten.

Edel ist also nicht gut; aber es ist darum edel und nichts Gemeines, und ihm gebührt Ehre und Achtung von jedermann, wo es sich sehen läßt.

Von den Mund-Edeln, die nämlich nur von Edel und Gut sprechen und schreiben, tiefgelehrt oder ungelehrt, ist hier die Rede nicht. Die werden gar nicht mitgezählt.

Ohne Kampf und Verleugnung gibt es keinen Adel und wahren Wert für den Menschen, und ohne Kampf kennet er die Kluft nicht, die in unserm Inwendigen zwischen Wollen und Sein, zwischen Edel und Gut, befestiget ist, und kann sie nicht kennen. »Die auf dem Meer fahren, die sagen von seiner Fährlichkeit –. Daselbst sind seltsame Wunder, mancherlei Tiere und Walfische: durch dieselben schiffet man hin.«

Erfahrung machet den Meister. Und nur die, welche sich in den Defileen und Labyrinthen jener großen Kluft versucht, und mit den seltsamen Wundern und mancherlei Ungeheuern vor den Toren des Friedes, gekämpft und sich selbst daran gewagt haben, nur die können wissen: ob es dort Mühe und Fährlichkeit hat, und ob man dort eines heiligen Zweiges bedarf oder nicht. Und es wäre sehr lustig zu sehen, wenn ein Stubenzeichner einen solchen edlen Ritter und Veteran, der unter den Waffen an Ort und Stelle grau geworden ist, aus seinen Landkarten zurechtweisen und eines Bessern belehren wollte.

Du siehst denn, welchen Leuten die Religion gleichgültig und entbehrlich bedünken kann, und welchen Leuten sie unentbehrlich und heilig ist; und daß diese, alle Komplimente beiseite gesetzt, sich ihrer Anhänglichkeit und Achtung nicht zu schämen brauchen.

Leb wohl, Andres.

Vierter Brief

Du möchtest gern den Sinn der unterirdischen Unternehmungen in der Mythologie der alten Völker wissen, und warum doch die großen heroischen Menschen, die feurigen Sucher und Liebhaber der Wahrheit, in die Unterwelt heruntergestiegen sind. – [482] Ich denke, Andres, weil sie, was sie suchten, hier oben nicht haben finden können. Wer hier sein Gnüge findet, der muß mit unvollkommner, sichtbarer, veränderlicher und vergänglicher Natur genug haben. Wenn also eine vollkommne, unsichtbare, unveränderliche und unvergängliche Natur der Freund war, den ihre Seele liebte; so mußten sie ihn anderswo suchen gehen. Seine Fußstapfen fanden sie in dem Sichtbaren und Vergänglichen wohl, aber ihn fanden sie nicht.

Doch, warum grade unter der Erde die Veredelung sein selbst suchen? –

Wird doch nichts in der Luft gesäet! Samen und Tierarten legen in der Erde die Schale ab, ehe sie ihre neue Gestalt und Existenz erhalten. Gehen doch auch die Menschen leiblich in die Erde, ihren Staub abzuschütteln und der Wahrheit näher zu kommen. Vielleicht, daß daher ein Bild genommen ist; oder, weil das Weizenkorn, ehe es Frucht bringet, zuvor ersterben, und also einen Schritt rückwärts, herunter, tun muß; oder, weil die Weisen sich fügen wollten in die Ideen der Welt, die dort Schätze vermutet und sucht; oder, weil der ihrige da gefunden wird, wo es Mühe kostet hinzukommen, und wo nicht ein jeder von Hause aus hinsehen kann. Vielleicht ist's auch noch anders, Andres, ich weiß nicht; aber, mich dünkt, wenn wir hätten erfinden sollen, wir hätten auch, die Schwärmer in der Luft, und die wahren ernsthaften Liebhaber unter der Erde suchen lassen.

Offenbar muß man von Erde und Himmel und von allem, was sichtbar ist, die Augen wegwenden, wenn man das Unsichtbare finden will. Nicht, daß Himmel und Erde nicht schön und des Ansehens wert wären. Sie sind wohl schön, und sind da, um angesehen zu werden. Sie sollen unsre Kräfte in Bewegung setzen, durch ihre Schöne an einen, der noch schöner ist, erinnern und uns das Herz nach ihm verwunden. Aber, wenn sie das getan haben, denn haben sie das Ihrige getan, und weiter können sie uns nicht helfen.

Der Mensch ist reicher als sie, und hat, was sie nicht geben können. Alles, was er um sich her Leben haben sieht, stirbt; und er weiß von Unsterblichkeit. Er sieht in der sichtbaren Natur nichts als Zeitliches und Örtliches; und er weiß von einem Ewigen und Unendlichen. Er sieht nur Mannigfaltigkeit, lauter Zerstreutes und Zerstückeltes; und doch will er immer Einen, unter Eins fassen, aus Einem herleiten usw.

[483]

Wie und woher könnten ihm solche heterogene und bewundernswürdige Dinge kommen, wenn sie nicht aus ihm selbst kämen und in ihm nicht etwas Heterogenes und Bewundernswürdiges wäre.

Selbst die Weisheit und Ordnung, die der Mensch in der sichtbaren Natur findet, legt er mehr in sie hinein als er sie aus ihr herausnimmt. Denn er könnte ihrer ja nicht gewahr werden, wenn er sie nicht auf etwas, das er in ihm hat, beziehen könnte, so wie man ohne Maß nicht messen kann. Himmel und Erde sind für ihn nur eine Bestätigung von einem Wissen, des er sich in sich bewußt ist, und das ihm die Kühnheit und den Mut gibt: alles zu meistern und aus sich zu rektifizieren. Und mitten in der Herrlichkeit der Schöpfung ist und fühlt er sich größer, als alles was ihn umgibt; und sehnt sich nach etwas anderm.

Andres, der Mensch trägt in seiner Brust denKeim der Vollkommenheit, und findet außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Konterfeis in dem sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach, und hängt sich so freudig und begierig an sie an, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können, wenn sie getroffen sind, sehr angenehm überraschen und täuschen, aber nimmermehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Leben – und das kann ihm niemand geben, als der es hat.

Gott befohlen, Andres.

Dein etc.

Fünfter Brief

»Und es begab sich darnach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging: und seiner Jünger gingen viel mit ihm, und viel Volks.

Als er aber nahe an das Stadttor kam: siehe, da trug man einen Toten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Witwe, und viel Volks ging mit ihr.

Und da sie der Herr sähe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹

Und trat hinzu, und rührete den Sarg an: und die Träger stunden. Und er sprach: ›Jüngling, ich sage dir, stehe auf.‹

Und der Tote richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter.«

[484] Man kann eine solche Geschichte nicht lesen, ohne die Mutter seligzupreisen, und den Toten und die Träger und alle Menschen die dabeiwaren; aber doch sonderlich die Mutter. Du weißt, Andres, wenn man ein Kind schwer krank hat das man gerne behalten will, wie man da geht und die Hände ringt, und immer hofft, auch wenn man nicht mehr kann und sollte. Man hofft noch immer, und hört auch nicht auf, solange die Kranke noch lebendig und im Bette ist. Wenn sie aber auf dem Brett liegt, wenn der Sarg kommt und die Träger, und die Tote herausgetragen wird; denn muß man wohl aufhören, und bleibt denn nichts übrig als hinter den Sarg herzugehen und zu weinen.

Die Witwe zu Nain scheint auch keinen andern Rat gewußt zu haben, und sie hoffte wohl auch nicht mehr, als sie, hinter der Leiche her, aus dem Stadttor ging. Und es würde ihr auch nicht anders als uns andern ergangen sein, ihr Kind wäre eingesenkt und mit Erde beschüttet worden und sie hätte allein wieder zurückgehen müssen; wenn nicht unser lieber HerrChristus grade des Weges hergekommen wäre, und sie ihm mit der Leiche begegnet wären.

Und darum ist es eben so groß und erfreulich, daß er einmal auf Erden gewesen ist, und Menschen das Glück haben konnten, ihm zu begegnen.

»Und als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹«

Es ist immer etwas über alle Maßen Zartes und Großmütiges in dem Benehmen Christi. Wer nicht helfen kann hat gewöhnlich Mitleiden, und wer Mitleiden hat kann gewöhnlich nicht helfen. Auch ist mancher mitleidig, weil die Reihe auch an ihn kommen kann, weil er den andern braucht, oder ihm Verbindlichkeit hat usw. Hier ist das alles ganz anders. Auch, nach dem ersten Ansehen hatte die Witwe recht, Mitleiden von Christus zu erwarten und zu fodern; nach der Wahrheit aber war ein anderes Verhältnis zwischen ihm und ihr. Vor ihm war sie, was wir alle sind: undankbare Kinder, eine ungeratene Tochter die ihres Vaters Haus mutwillig verlassen und sich selbst unglücklich gemacht hatte; undChristus war: der Vater, der ihr nachgegangen war, um das verlorne Kind aufzusuchen, und der sie nun hier in einer elenden Hütte mitten unter den bittern Folgen ihrer Vergehung antraf. Sie mußte sich schämen, ihm unter die Augen zu kommen, und hatte nichts als Vorwürfe zu erwarten, und verdient.

[485] Aber »als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: ›Weine nicht.‹«

Und das war ihm noch nicht genug. Er wollte nicht allein vergeben und vergessen, sondern auch in der gegenwärtigen Lage und Verlegenheit Rat schaffen.

»Und er trat hinzu, und rührete den Sarg an, und die Träger stunden.«

Vermutlich kannte die Witwe den Herrn Christus nicht, und wird also in ihrem Schmerz nach dem Rabbi und seinem: »Weine nicht«, wohl nicht sonderlich hingehört haben. Sie hat gewiß den Sarg mit keinem Auge verlassen, und von dem Rabbi nichts erwartet – noch nicht, als er hinzutrat, und den Sarg anrührete, und dem Jüngling aufzustehen gebot.

Als aber der Kopf aus dem Sarge emporkam, als der einzige Sohn sich aufrichtete und anfing zu reden, und ihr wiedergegeben wurde ... Andres, wie wird sie da den wunderbaren Rabbi angesehen, sich vor ihn auf die Erde hingeworfen, und ihm Hände und Füße geküßt haben.

Und was meinst Du die Umstehende? – Lukas sagt: »Es kam sie alle eine Furcht an, und preiseten Gott etc.«, und das scheint mir sehr natürlich. Denn, so rührend die Szene auch immer sein mochte; so mußte doch das höhere Interesse die Oberhand gewinnen. Man verliert die Witwe aus den Augen, und zittert, und preiset Gott: daß es also wahr ist, daß im Tode nur das Gehäuse und die Hülse zerfällt; daß der Geist des Menschen nach dem Tode übrigbleibt, und man wahrhaftig auf Wiedersehen rechnen kann.

Andres! die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen ...


Aber auch die Toten, die nicht in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen.

Sein Reich war nicht von dieser Welt. Ob er gleich Herr und Meister der sichtbaren Natur war, und seine Lehre über alles wohltätig auch für das Leben ist, und er selbst, im Leiblichen immer und bei aller Gelegenheit half und diente; so war doch dies eigentlich sein Feld und Gebiet nicht. Er war gesetzt über das Unsichtbare, und ein Pfleger der heiligen Güter. Und alle seine sichtbare Werke und Wunder waren nur seine kleinere und Nebenwerke, die er verrichtete und tat, um die Menschen über [486] die größere zu belehren, und ihnen, durch das was sie sahen, die Augen zu öffnen über das was sie nicht sahen.

Als er dort zu dem Gichtbrüchigen sprach: »Sei getrost mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben«; so wird der Gichtbrüchige selbst zwar wohl inneworden sein und gewußt haben: was das sei, wenn Christus einem Menschen seine Sünden vergibt; aber, die Schriftgelehrten die umherstanden wußten es nicht, und hatten deswegen ihre Bedenklichkeiten. Und Christus sagte: »›Auf daß ihr wisset, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünden zu vergeben‹, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: ›stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim.‹ Und er stund auf und ging heim.«

So auch hier. Die Auferweckung eines Toten ist freilich ein großes Werk; aber es gibt noch ein größeres. Wie Geist und Willkür größer und edler ist, als Leib und Mechanismus; so ist auch die Auferweckung des geistlichen Jünglings zu Nain, oder: die Herstellung unsers Geistes in seine ursprüngliche Herrlichkeit, ein ander Werk. Aber dies hohe, und eigentliche Werk Christi, ist unsichtbar. Damit wir aber wüßten, daß er der von der Welt her erwartete, und von allen guten Menschen begehrte, Held und Helfer sei, und Macht habe, den erstorbenen Geist des Menschen zu wecken; so weckte er leiblich Tote. Und die das hörten und um die Wahrheit bekümmert waren, die wußten, weil niemand die Werke tun kann: daß er sei ein Lehrer von Gott kommen; und gingen zu ihm, um bei ihm Rat und Trost für ihre Seele zu finden.

Menschen können keinen geben, was sie auch sagen und versprechen. Sie können von der Leiche wohlreden, können sie kleiden und mit Blumen schmücken, ihr den Kopf und die Hände zurechtlegen etc.; aber tot ist tot, und sie bleibt stille und stumm im Sarge liegen. Wenn aber Christus den Sarg anrühret; so richtet der Tote sich auf, und fängt an zu reden.

Durch Worte und Floskeln wird aus dürrem Winterholz kein grünes; wohl aber durch ein gleichartiges Leben.

Sechster Brief

Es war einmal ein Edler, des Freunde und Angehörige durch ihren Leichtsinn um ihre Freiheit gekommen, und in fremdem Lande in eine harte Gefangenschaft geraten waren. Er [487] konnte sie in solcher Not nicht wissen, und beschloß, sie zu befreien.

Das Gefängnis war fest verwahrt, und von inwendig verschlossen, und niemand hatte den Schlüssel.

Als der Edle sich ihn, nach vieler Zeit und Mühe, zu verschaffen gewußt hatte; band er dem Kerkermeister Hände und Füße, und reichte den Gefangenen den Schlüssel durchs Gitter, daß sie aufschlössen und mit ihm heimkehrten. Die aber setzten sich hin, den Schlüssel zu besehen und darüber zu ratschlagen. Es ward ihnen gesagt: der Schlüssel sei zum Aufschließen, und die Zeit sei kurz. Sie aber blieben dabei, zu besehen und zu ratschlagen; und einige fingen an, an dem Schlüssel zu meistern und daran ab- und zuzutun.

Und als er nun so nicht mehr passen wollte; waren sie verlegen, und wußten nicht, wie sie ihm tun sollten. Die andern aber hatten's ihren Spott, und sagten: der Schlüssel sei kein Schlüssel, und man brauche auch keinen.

Siebenter Brief

Es ist immer so, Andres, die Hauptpunkte einer Religion sind verhüllt und zugedeckt; und so ist das heilige Abendmahl allerdings ein Geheimnis. Dafür haben es die Anhänger Christi von Anfang an genommen, und dafür nimmt es auch Luther. Auch pflegten die ersten Christen es gerne in geheim zu halten, und noch in den Zeiten des öffentlichen christlichen Gottesdienstes mußte die übrige Versammlung abtreten.

Wie es nun überhaupt mit Geheimnissen ist; wer sie nicht weiß, der erklärt sie, und wer sie erklärt, der weiß sie nicht. Erzwingen und mit Gewalt nehmen lassen sie sich nicht; wer sie aber zu verdienen sucht und sich den Besitzer zum Freunde zu machen weiß, der erfährt sie bisweilen. Darum wollen wir ehrerbietig und demütig vor der Tür dieses hochheiligen Geheimnisses stehenbleiben, und die Außenseite ansehen, schlecht und recht und wie die Bibel sie gibt. Sie liegt jedermann offen; und ist, so wie der ganze letzte Abend und Abschied – als in dieser Welt nichts anders; wie denn auch ein solcher Abend und Abschied in dieser Welt nur einmal gewesen ist.

Wie Christus selbst sagt und die ganze Christenheit glaubt, bezieht das Alte Testament sich auf das Neue. So hohe geistige [488] Ideen, als die: von himmlischen Gütern; von einer unsichtbaren Befleckung und einem geistlichen Fall, die geschehen waren; von unsichtbarer Reinigung und einem Wiederhersteller der versprochen war und zu seiner Zeit kommen werde etc., konnten unter den ersten Menschen, die den großen Begebenheiten näher waren, wohl von Mann zu Mann fortgepflanzet werden; sie würden aber mit der Zeit für die Welt erloschen und verloren gewesen sein, wenn sie nicht von den alten Weisen und Propheten unter einer sinnlichen Hülle öffentlich vor die Augen gebracht und beständig gehalten worden wären. Moses war vor allen andern ein solcher Weise und Prophet, und er knüpfte diese Hüllen, um ihnen desto mehr Interesse zu geben, an die politische Geschichte seines Volks, damit es ihnen »ein Zeichen sei in ihrer Hand und ein Denkmal in ihren Augen, auf daß des Herrn Gesetz sei in ihrem Munde, daß der Herr sie mit mächtiger Hand aus Ägypten geführt habe«. – Und man kann den mosaischen Gottesdienst, außer dem was er in sich war, als die allervollkommenste Prophezeiung ansehen, die wir von Christus haben. Die Schrift sagt auch: daß hinfort kein Prophet in Israel aufgestanden sei wie Mose; und Moses redete noch auf dem Berge mit Christus über den Ausgang, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem.

Die heiligen Schriften des N.T. drücken sich sehr bestimmt darüber aus, daß der Leib und das BlutChristi das Reinigungs- und Erlösungsmittel für den gefallenen Menschen sei.

»Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, aber den Leib hast du mir zubereitet.«

»Das Blut Jesu Christi seines Sohnes macht uns rein von aller Sünde.«

»Nun aber hat er euch versöhnet mit dem Leibe seines Fleisches durch den Tod.«

»Und wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöset seid von eurem eiteln Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.«

»Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben; sondern mein Vater gibt euch das rechte Brot vom Himmel.«

»Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel kommen: wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.« –

[489] »Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.«

Wir mögen nun verstehen oder nicht verstehen, was der Leib und das Blut Christi sei; nach der Bibel muß der Mensch sie genießen und ihrer teilhaftig werden, wenn er genesen will. Und so hatte Moses ein Osterlamm angeordnet das genossen werden mußte, und mit dessen Blut »beide Pfosten an der Tür und die Oberschwelle bestrichen wurden, daß der Würgengel vorübergehe«. So waren Opfer, und ein Hoherpriester, der am Versöhntage mit Blut ins Heilige ging usw.

Diese Hüllen und Schatten der himmlischen Güter bestanden noch zu Christi Zeiten, und nun war die große Stunde gekommen, wo sie ausgedienet hatten, und das wesentliche Opfer, das durch jene bedeutet war, selbst geopfert werden sollte.

»Wir haben auch ein Osterlamm, Christus, für uns geopfert.«

»Am Ende der Welt ist Christus einmal erschienen, durch sein eigen Opfer die Sünde aufzuheben.«

»Christus ist kommen, daß er sei ein Hoherpriester der zukünftigen Güter, durch eine größere und vollkommenere Hütte die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist, die nicht also gebauet ist. Auch nicht durch der Böcke oder Kälber Blut, sondern er ist durch sein eigen Blut einmal – in den Himmel selbst – eingegangen, und hat eine ewige Erlösung erfunden.«

Entweder, oder! Wir müssen die Bibel zerreißen, oder festhalten an dem Bekenntnis: »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden«; wie es auch bisher beim Genuß gesagt, und geglaubt wird.

Daß die ganze Sache über unsre Einsicht ist, und wir sie nicht verstehen; ist nicht wider sie. Denn sie soll nicht Menschenwitz und -werk sein; und wird, in unserer und in den Traditionen aller Völker wo davon dunkler oder heller geredet wird, als höheren Gehalts und Ursprungs gegeben. Und, wenn in dieser Sache ein Wille erscheint, der mit unbegreiflicher Erbarmung will; so kann es nicht befremden, wenn kein Verstand ihm gewachsen ist.

Übrigens genießen wir jeden Tag und Augenblick Wohltaten, die wir nicht verstehen. Wir werden geboren und gesäuget, und holen Odem, und verstehen nichts. Wir verstehen auch die leibliche Medizin nicht die wir einnehmen, und doch hilft sie uns und rettet uns bisweilen das Leben. Der Kunstverständige versteht [490] sie, und weiß sie zuzurichten. Und darum ist ein Unterschied zwischen einem Weisen, und einem – Nicht-Weisen. Die Nicht-Weisen mögen unwahr und ohne Grund sein; aber die Sache kommt von guter Hand.

Aber ich komme wieder zu dem letzten Abend, wo er seinen Vertrauten über das was bevorstand, und über das neue Gesetz und Testament die nötige Auskunft geben, und Abschied von ihnen nehmen wollte.

Andres, der Abschied des Sokrates aus der Welt war sehr schön und rührend; auch als Sokrates mit seinen Jüngern ausgeredet hatte und den Giftbecher nun ansetzte und trank, weinten sie und warfen sich an die Erde. Aber hier ist mehr, als Sokrates; hier ist die Herrlichkeit Gottes; und man will vergehen, so wie er, dem Tode geweiht und schon gesalbt zu seinem Begräbnis, in den großen gepflasterten Saal hereintritt und sich neben dem Osterlamm hinsetzt.

»Mich hat herzlich verlangt«, sagte er zu den Zwölfen, »dies Osterlamm mit euch zu essen, ehedenn ich leide.«

Wie er hatte geliebt die Seinen, so liebte er sie bis ans Ende. Man kann sich nicht satt daran lesen: wenn er, der solch ein Werk zu vollbringen und solch einen Kelch zu trinken vor sich hatte, noch bei der letzten Mahlzeit den Johannes an seiner Brust zu Tische sitzen läßt, und den Jüngern Bissen eintaucht und gibt; wenn er so bekümmert von dem Jünger spricht der ihn verraten werde, den Verräter nicht nennen will, und nur ihn selbst fühlen läßt, daß er sein Geheimnis wisse; wenn er dem Petrus, der sich vermaß, von dem Hahn sagt der nicht zweimal krähen werde; wenn er hingehen will, den Jüngern die Stätte zu bereiten; wenn er sie seine Freunde nennt; wenn sie ihn wiedersehen sollen, und ihr Herz sich freuen und ihre Freude niemand von ihnen nehmen soll etc. etc.

Doch in diesem heiligen Kreise war nicht bloß von einem Abschied von Freunden, sondern von größern Dingen die Rede. Und er unterrichtete seine Boten und die künftigen Lehrer der Welt noch einmal von dem Geheimnis des Reiches Gottes: – Eins mit dem Vater, das ist das Ziel; er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben, und niemand komme zum Vater als durch ihn; wenn er nicht hingehe zum Vater, so komme der Tröster nicht zu ihnen; wenn er aber hingehe, wolle er ihn senden, den Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgehet und den die Welt nicht kennet, und nicht empfahen kann; und der werde bei [491] ihnen bleiben ewiglich, und in ihnen sein, und sie würden denn alles wissen, und ihre Bitten würden geschehen.

Aber eine Lehre, die solche Verheißungen und Macht dem Menschen gibt, konnte mißverstanden werden. Damit aber die Jünger wüßten: was sie meine und wes Geistes Kind sie sei; stand der Herr und Meister, als »er wußte, daß ihm der Vater alles hatte in seine Hände gegeben und daß er von Gott kommen war und zu Gott ging«, auf, legte seine Kleider ab, nahm einen Schurz und umgürtete sich, goß Wasser in ein Becken und wusch ihnen die Füße.

Wie wird Dir, Andres, wenn Du ihn Fuß waschen, und, mit dem Schurz, und dem Becken in der Hand, von einem Jünger zum andern gehen siehst?

Und, wenn man denn an die und jene denkt, die sich nach seinem Namen nennen!

Aber sie sind auch nicht sein, und können sich nennen nach wem sie wollen.

Keiner, und hätte er aller Sternen Lauf erfunden und trüge Kron und Szepter und wär ein Herr der ganzen Welt, wenn er nicht das alles und sein eigen Leben für ihn vergessen kann; der ist sein nicht wert.

Seine Lehre war nicht für diese Welt, und ihre Hauptseiten sind darüber hinaus, und unsichtbar. Weil sie aber doch in dieser Welt sein sollte; so mußte sie eine sichtbare haben, und die Welt wissen, wes sie sich zu ihr zu versehen habe. Und der Stifter gab dies Beispiel der Demut und Entäußerung, und setzte die Liebe als das Kenn- und Wahrzeichen seiner Jünger.

So groß und hehr nun auch alle diese Belehrungen und Eröffnungen waren, und so viel erfreuliches Licht auch daraus den Jüngern über das Neue Gesetz und Testament aufgehen mußte; so blieb doch der Stein auf ihrem Herzen, und es fehlte noch ein Aufschluß.

Er hatte in der Schule zu Kapernaum, als er von den Kräften seines Leibes und Blutes redete, den Genuß derselben ausschließlich als das Mittel des Lebens und einer ewigen Vereinigung mit ihm gesetzt; und nun wollte er hingehen zum Vater, von ihnen weg und wo sie ihm nicht folgen konnten.

Natürlich war ihr Herz, wie die Schrift sagt, voll Traurens worden, weil er solches zu ihnen geredt hatte. Und du kannst denken, Andres, sie saßen um ihn und sahen ihn an, und sehnten sich nach seinem Leib und Blut.

[492] Lege Deine Stirne auf die Erde.

»Und er nahm das Brot, dankete und brach's, und gab's den Jüngern, und sprach: ›Nehmet, esset; das ist mein Leib.‹

Und er nahm den Kelch, und dankete, gab ihnen den, und sprach: ›Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für viele, zur Vergebung der Sünden.‹«

Das sagte er, und mehr hat es ihm nicht gefallen zu sagen.

Und darauf ging er hinaus, den Haß und die Verachtung der Welt zu verdienen und ihnen »das gute Werk zu erzeigen von seinem Vater, um welches sie ihn steinigen«.

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Notes
Entstanden zwischen 1790 und 1798. Erstdruck der Sammlung: [1798] »beym Verfasser, und in Comißion bey Friedr. Perthes in Hamburg«.
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TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Sechster Teil. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-531B-0