Die Blinde

1

Es hat die Zeit gegeben,
Wo hinaus mein Auge mich trug,
Zu folgen im tiefen Lichtmeer
Der flüchtigen Wolken Zug;
Zu streifen über die Ebne
Nach jenem verschwindenden Saum,
Mich unbegrenzt zu verlieren
Im lichten unendlichen Raum.
[160]
Die Zeit ist abgeflossen,
Lebwohl, du heiterer Schein!
Es schließet die Nacht der Blindheit
In engere Schranken mich ein.
O trauert nicht, ihr Schwestern,
Daß ich dem Licht erstarb;
Ihr wißt nur, was ich verloren,
Ihr wißt nicht, was ich erwarb.
Ich bin aus irren Fernen
In mich zurücke gekehrt,
Die Welt in des Busens Tiefe
Ist wohl die verlorene wert.
Was außen tönet, das steiget
Herein in mein Heiligtum;
Und was die Brust mir beweget,
Das ist mein Eigentum.

2

Wie hat mir einer Stimme Klang geklungen
Im tiefsten Innern,
Und zaubermächtig alsobald verschlungen
All mein Erinnern!
Wie einer, den der Sonne Schild geblendet,
Umschwebt von Farben,
Ihr Bild nur sieht, wohin das Aug er wendet,
Und Flammengarben;
So hört ich diese Stimme übertönen
Die lieben alle,
Und nun vernehm ich heimlich nur ihr Dröhnen
Im Widerhalle.
Mein Herz ist taub geworden! wehe, wehe!
Mein Hort versunken!
Ich habe mich verloren und ich gehe
Wie schlafestrunken
[161]

3

Jammernd sinn ich und sinn immer das Eine nur:
Wonneselig die Hand, welche beseelet, sanft
Gleitend über sein Antlitz
Dürft ihm Form und Gestalt verleihn!
Armes, armes Gehör, welches von ferne nur
Du zu schlürfen den Ton einzig vermagst, ins Herz
Ihn nachhallend zu leiten,
Ob nachhallend, doch wesenlos!

4

Stolz, mein Stolz, wohin gekommen!
Bin ein armes, armes Kind,
Deren Augen, ausgeglommen,
Nur zu weinen tauglich sind.
Lesen kann ich in den seinen
Nicht das heimlich tiefe Wort,
Meine schweigen, aber weinen,
Weinen, weinen fort und fort.
Ja wir sind getrennt! In Scherzen
Und in Freuden wandelst du,
Über mich und meine Schmerzen
Schlägt die Nacht die Flügel zu.

5

Wie trag ich's doch zu leben
Nur mir und meiner Pein?
Dem Liebsten sollt ich dienen,
Da wollt ich selig sein!
Ich wollt ein treuer Page
Um den Gebieter stehn,
Bereit zu jeder Botschaft
Und jeden Gang zu gehn.
[162]
Ich kenne jede Windung
Der Straßen, jedes Haus,
Und jeden Stein am Wege,
Und weiche jedem aus.
Wie freudig zitternd trüg ich
Ihm nachts die Fackel vor,
Die freud'ge Luft ihm spendend,
Die selber ich verlor!
Oh, traurig ist's im Dunkeln,
Ich weiß es nur zu sehr!
Licht wollt ich, Licht verbreiten
Um seine Schritte her.
Ihn sollte stets erfreuen
Das allerfreu'nde Licht,
Sein Anblick sollte jeden
Erfreuen, mich nur nicht.
Und sollte da mich treffen
Der Menschen Spott und Hohn,
Ich seh es nicht, und hört ich's,
Ach das ertrüg ich schon.

6

Du mein Schmerz und meine Wonne,
Meiner Blindheit andre Sonne,
Holde Stimme, bist verhallt.
Meine Nacht hüllt sich in Schweigen,
Ach, so schaurig, ach, so eigen,
Alles öd und leer und kalt!
Leise welken, mich entfärben
Seht ihr Schwestern mich und sterben,
Und ihr fragt und forscht und klagt:
Laßt das Forschen, laßt das Fragen,
Laßt das Klagen, seht mich tragen
Selbst mein Schicksal unverzagt.
[163]
Hingeschwunden ist mein Wähnen,
Ohne Tränen, ohne Sehnen
Welk ich meinem Grabe zu;
Nichts dem Leben bin ich schuldig,
Stumm, geduldig, trag ich, duld ich,
Schon im Herzen Todesruh.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Die Blinde. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4ECD-B