Chios

1

Der Dichter

»Auf! wach auf! entsetzlich müssen
Fieberträume dich erschrecken,
Krampfhaft stöhnst du, – laß mit Küssen
Dich dein treues Weib erwecken.« –
Dank dir, Weib; verscheuchst die bangen
Träume, hegst mich traut umfangen,
Und noch starrt mein Haar empor;
Noch, wohin die Blicke schweifen,
Seh ich blut'ge Leichen schleifen,
Schwebt der Greuel Bild mir vor.
[363]
Dieses Buch 1 – es ist vergebens!
Laß an deiner Brust mich weinen,
Nimmer wird die Lust des Lebens
Wieder lächelnd mir erscheinen.
Chios, blühnder Friedensgarten,
Weh! du unterliegst dem harten,
Dem entmenschten Blutgericht;
Deine neunzig tausend Bürger
Sind erwürgt, es zürnt der Würger,
Daß an Opfern es gebricht.
Allah! ruft der Moslim, hauet
Greise nieder, Kinder, Frauen;
Christus! ruft der Raja, schauet
Himmelwärts mit Hochvertrauen;
Er begehrt die heil'ge Palme; –
Menschen mähet der, wie Halme,
Jauchzet auf, ob Allahs Sieg. –
Das ist zu des Himmels Rache,
Das ist für die heil'ge Sache
Völker- und Vernichtungskrieg!
Die dem Wüterich zu Willen
Christensklaven hier verladen,
Schnöden Goldesdurst zu stillen
Sich in Blut und Tränen baden,
Die nach Stambul blut'ge Glieder
Liefern der erschlagnen Brüder –
Weh mir! – sind – o Schand und Spott!
Wagt mein Mund es auszusprechen? –
Franken sind es, und die Frechen
Nennen Christum ihren Gott.
Und die Pairs von Frankreich haben
Eines hohen Rats gepflogen,
Solcher Schandtat, solchen Knaben
Recht und Strafe zugewogen.
Du – Villele, sollst mir sagen,
Der den Rat zu unterschlagen
[364]
Du dich nicht entblödet hast:
Kennst du noch des Schlafes Mächte?
Nicht die Träume meiner Nächte
Tauscht ich gegen deine Rast!

Fußnoten

1 Pouquevilles »Geschichte der Wiedergeburt Griechenlands«. VI. Buch.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Lieder und lyrisch epische Gedichte. Chios. 1. Der Dichter. 1. Der Dichter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4C14-A