Das Gebet der Witwe

Nach Martin Luther


Die Alte wacht und betet allein
In später Nacht bei der Lampe Schein:
»Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr!
Recht lange leben, ich bitte dich sehr.
Die Not lehrt beten.«
Der gnädige Herr, der sie belauscht,
Vermeint nicht anders, sie sei berauscht;
Er tritt höchst selbst in das ärmliche Haus,
Und fragt gemütlich das Mütterchen aus:
»Wie lehrt Not beten?«
»Acht Kühe, Herr, die waren mein Gut,
Ihr Herr Großvater sog unser Blut,
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Der nahm die beste der Kühe für sich
Und kümmerte sich nicht weiter um mich.
Die Not lehrt beten.
Ich flucht ihm, Herr, so war ich betört,
Bis Gott, mich zu strafen, mich doch erhört,
Er starb, zum Regimente kam
Ihr Vater, der zwei der Kühe mir nahm.
Die Not lehrt beten.
Dem flucht ich arg auch ebenfalls,
Und wie mein Fluch war, brach er den Hals;
Da kamen höchst Sie selbst an das Reich
Und nahmen vier der Kühe mir gleich.
Die Not lehrt beten.
Kommt Dero Sohn noch erst dazu,
Nimmt der gewiß mir die letzte Kuh –
Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr!
Recht lange leben, ich bitte dich sehr.
Die Not lehrt beten.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Lieder und lyrisch epische Gedichte. Das Gebet der Witwe. Das Gebet der Witwe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4BE0-8