Der hundert und neun und dreyßigste Psalm

Herr, du erforschest mich. Mein Ruhen und Bewegen,
Ist besser dir, als mir, bewust.
Du siehst es, wenn in meiner Brust,
So wie der Wellen Sturm, sich meine Lüste regen.
Eh mir ein Wort entfährt, ist dir es schon bekannt,
Und was ich denck' und thu, das steht in deiner Hand.
O Allmacht! die kein Mensch auf Erden kan verstehen,
Wo ist der Ort, der mich versteckt,
Den nicht so gleich dein Geist entdeckt?
Flög ich in einem Schwung zu den gestirnten Höhen,
Mein Gott, so bist du da. Führ ich zur Höllen Grund,
Da machest du dich auch mit Rach' und Schrecken kund.
[213]
Könt' ich, der Sonne gleich, den Himmels-Kreiß durchstreichen,
Und folgen, biß sie ihre Glut
Löscht in des letzten Meeres Fluth;
So würde mich auch dort dein starcker Arm erreichen.
Der Schatten finstrer Nacht deckt meine Sünde nicht,
Weil deiner Augen Blitz durch alle Winckel bricht.
Und, Herr, wie bliebe dir mein Wandel doch verborgen?
Der du, eh' ich das Licht geschaut,
Den Cörper, den du mir gebaut,
Mit lebendigem Geist hast wollen selbst versorgen;
O Herr, du zeichnetest von Ewigkeit schon auf
Was mir begegnen soll, und meiner Jahre Lauf.
Diß Wunderwerck allein kan mich schon überzeugen,
Daß ich in unverfälschtem Sinn
Dir Danck und Opffer schuldig bin;
Da Erd' und Himmel nicht von deinen Kräfften schweigen.
So, daß man eh den Sand der Wüsten zehlen kan,
Als was für Wunder du, o grosser Gott, gethan.
Mein Hertz ist dessen voll. Ich finde mein Vergnügen
Darin, daß ich den gantzen Tag
Der Länge nach betrachten mag,
Wie sich doch alles muß nach deiner Ordnung fügen.
Ja, wenn die Sinne sich vom Schlaffe loß gemacht,
So spür' ich, daß ich auch im Traum daran gedacht.
Wie aber? fehlt es dir itzund an Donnerschlägen,
Dem Hauffen, der dir spöttlich flucht,
Und nur das Blut der Frommen sucht,
Zu zeigen, daß du ihn bald in den Staub kanst legen?
Sein Stoltz und Lästern wird noch immerhin gemehrt,
Weil dein gerechter Grimm nicht dieses Wesen stört.
[214]
Gewiß, ich hasse sehr, die dich den Höchsten hassen:
Wie reden sie so lästerlich!
Wie setzen sie sich wider dich!
Drum kan ich meinen Zorn nicht in den Gräntzen fassen,
Er bricht in Eiffer aus, mich kräncket deine Schmach,
Darum so stellen sie auch meiner Seelen nach.
Erforsche mich, mein Gott, und prüfe mein Gemüthe,
Schau, ob noch etwan Heucheley,
Und eitle Liebe bey mir sey,
Alsdenn so wircke stets in mir, nach deiner Güte.
Weil auch des Himmels Bahn so schmahl und schlüpfrig ist,
So leite du mich selbst, der du mein Vater bist.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von. Gedichte. Geistliche Gedichte. Der hundert und neun und dreyßigste Psalm. Der hundert und neun und dreyßigste Psalm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4A2E-D