Johann Gustav Büsching
Volkssagen, Märchen und Legenden

[3] Vorwort.

Sagen und Mährchen werden gemeiniglich in früher Jugend den Kindern vorgeführt, es ist gleichsam eine süßere und mildere Speise, die man ihnen einflößt, da sie die härtere und rauhere, welche das wirkliche Leben und seine Geschichte uns giebt, nicht ertragen können. Ein rosenrother Morgenhimmel geht dem Kinde auf, es lebt in einer Welt unschuldiger Träume, und es wird wohl nicht leicht einer von uns so unglücklich gewesen sein, daß ihm diese Freude der Kindheit ganz entgangen ist. Späterhin kehren wir stets mit Lust und Liebe wieder dahin zurück, und das Erzählen der Mährchen den Kindern, die nun auf unsere Stimme lauschen, [3] wie wir einst auf die Töne der Erzähler, ist nicht bloß Wohlgefallen, die Kinder zu erfreuen, (da lassen wir uns oft manche Fehler zu Schulden kommen), sondern die ewig rege und unwandelbare Liebe am Mährchen selbst, die in uns wohnt und der wir Freiheit geben.

Es sei mir erlaubt, zum Eingange dieses Buches zu erzählen, wie die Mährchen und Sagen in mein Leben eintraten. Mancher wird glauben, ich wiederhohle das, was in seinem Innern vorging; denn die ersten Empfindungen der Kinder sind sehr gleichmäßig und einfach, es herrscht ein allgemeiner Grundakkord, aus dem sich die andern erst entwickeln. Diesen Bildungsverwandten ist das Büchlein besonders gewidmet, so wie allen geliebten Personen und lieben Freunden, die meinem Treiben nicht abhold sind. Andern, die einen verschiedenen Weg gingen, mögen diese Erzählung als ein Mährchen betrachten, das ich zum Eingange ihnen darbiete; denn es mag auch wohl ein halbes Mährchen sein, da der kindischen Tage duftige Nebelzeit mir wieder klar werden muß. Sie mögen die kleinen Gestalten, [4] die durch meine Phantasie zogen und sie belebten, als das stille Volk betrachten, das einst die einsamen Vesten Deutschlands durchwandelten, und Freude mir, wenn diese Gebilde ihnen nicht ganz unlieblich erscheinen.

Wie die Lust an Mährchen sich in mir entwickelte, oder die Geschichte der Entstehung dieses Büchleins.

Meinen Eltern geboren, um sie einigermaßen über den Tod eines innigst und höchst geliebten Töchterleins, der wenige Zeit nach meiner Geburt erfolgte, zu trösten, mit der ich zugleich alle jüngern Geschwister verlor, gingen meine ersten Entwickelungsjahre einsam hin. Das Kind fühlt dies noch nicht, die nährende Amme, die mit ihm tändelnden und scherzenden Eltern sind ihm genug. Aber schon um mein drittes Jahr erinnere ich mich einer großen Sehnsucht nach einem Gefährten und Gespielen, und wohl weiß ich noch die Freude, die ich hatte, als mir ein Brüderlein geboren ward. [5] Die Lust dauerte nicht lange, mein Brüderchen starb bald wieder und versetzte mich, das Kind, in eine nicht geringere Klage, als meine Eltern, und wohl weiß ich noch, wie ich am Fenster des Zimmers stand, worin mein kleiner Bruder entweder starb, oder sein Leichnam lag, und mich durch die Tröstungen der Wärterin kaum beruhigen, kaum meine Thränen anhalten konnte. Das Kind vergaß diesen Schmerz bald.

Nun war ich wieder allein, die Lust an Gesellschaft, an gemeinschaftlichem Spiele erwachte immer mehr, die Besuche der Nachbarskinder genügten mir nicht, auch entstand unter den verschieden gestimmten häufig Streit und Zank, alle Freude ward zerrissen und dann war ich auch, nach meinen Wünschen, viel zu oft allein. Eine treue Wärterin, eine sorgfältige, stets bemühte Tante, eine mich über alles liebende Mutter spielten wohl mit mir, und selbst der Vater versagte es mir nicht, Abends, nach seiner Arbeit, Soldat und dergleichen zu spielen, und mit einem Stocke Schildwach zu stehen; aber alles genügte mir nicht und da es [6] immer nicht das Rechte war, was meine Seele wünschte, so ward ich oft im Spiele unartig und das Spielen war vorbei. Die Leute waren mir alle zu groß, ich wollte kleine Persönchen haben, so groß wie ich; mit denen ließ sich besser spielen, hier spielte ich nur, und man spielte mit mir; es ging nicht so recht vom Herzen.

Da sing ich nun an, meine Mutter angelegentlichst zu bitten, sie möchte mir ein Brüderchen oder Schwesterchen verschaffen, darin erkannte ich das einige Heil. Man verwies mich zur Ruhe; ich bat wieder, dringender und ward mit der Nachricht beschwichtigt, wenn ich recht artig wäre, sollten meine Wünsche erfüllt werden. Das versprach ich; aber ich muß nie so artig gewesen sein, denn meine Wünsche wurden nicht erfüllt. Von jener Zeit mag auch wohl die Wurzel eines für mich unendlich peinigenden Gedankens in meine Seele gelegt sein, des Gedankens: allein in der Welt zu stehen, eine Idee, die mich immer mit gräßlicher Beängstigung befällt, wenn eine geliebte Person [7] aus meinem Kreise gerissen wird. Ich muß etwas haben, woran ich mich halte im Leben.

Meine Puppen, meine Baukasten, meine Thiere gefielen mir gar wohl; zu Weihnachten marschirten gar artiges Fußvolk und Reiter auf, alles ging anfangs gut, bis ich immer wieder dahinter kam, daß ich alles that und die unglücklichen Puppen gar nichts. Keine rührte einen Arm oder ein Bein. Im Unmuth wurden sie daher oft gar zu sehr gestoßen, verloren das, was sie rühren sollten, und den Kopf noch oben drein. An Schelten fehlte es nicht. Meine kleinen Freunde bewegten papierne Puppen, an Drähten und Faden, ich that es auch, sie mußten sogar Komödie spielen, die ich aufführte, obgleich ich nur die höchst dürftigste und mangelhafteste Idee davon hatte; denn erst in meinem zehnten Jahre sah ich die Bühne. Anfangs ging es gut, meine beiden Hände arbeiteten munter und es schien doch eine freiwillige Bewegung in den Puppen zu sein. Aber die Faden verwickelten sich, meine Koulissen, Bücher aus meines Vaters Bibliothek, fielen um, fielen auf die Wachsstöckchen, es brannten Löcher [8] hinein, da nicht schleunig alles gerettet werden konnte, und die ernste Weisung erfolgte: solche Narrenspossen zu lassen; ich sollte nun etwas lernen, das wäre besser. – Es wollte mir gar nicht in den Kopf.

Was mir das Leben nicht gab, sollte mir die Phantasie ersetzen, und in ihr sollte mir ein Leben aufgehen, das mich Stunden lang beschäftigen konnte, mir jetzt noch Anlaß giebt, öffentlich davon zu sprechen. Die goldenen Mährchen kamen auch zu mir herüber, ich ging durch eine ziemliche Reihe, aber vor allen erschien mir die Person des Däumchen gar wunder lieblich und hübsch, es war das lebendige Püppchen, das ich mir wünschte, zierlich, gewandt, verständig, meine Freundchen waren mir oft zu täppisch und ungeschickt und gingen selten in meine Ideen ein, und doch zum Spielen gar zu schön zu brauchen. Die kleinen Freunde, die zu mir kamen, waren recht angenehm, sie kamen aber zu selten, wir wurden nicht vertraut, darum erfuhren sie auch nichts von den Bildern, die ich mir machte, wovon ich gleich erzählen werde. Einem, glaube ich, sagte ich [9] einmal ein Wort davon, er lachte mich aus, denn ich nahm die Sache in der Wahrheit: es müßte ein Däumchen geben; und nun war mein Mund verschlossen, die Welt meiner Phantasie bewahrt.

Aus dem einen Däumchen wurden bald mehrere, es ward eine kleine zierliche Familie, die mir vor der Phantasie vorjaukelte und mit der ich mich in Gedanken spielend beschäftigte, indem ich vor meiner Seele die kleinen Gestalten das thun sah, was ich wünschte. Bald ward es ein Völkchen und ich machte mir selbst die Geschichte des stillen Volks, ohne davon etwas gehört zu haben. Mährchen hörte ich nun gar zu gerne und mein zweiter Bruder konnte mich durch ein solches gewaltig erfreuen. Besonders liebte ich von ihm zu hören die Mähre von funfzig Räubern, in dem sich öffnenden und schließenden Berge, da sie gar zu heimlich und schauerlich war, so wie die Geschichte vom Bauer Kiebitz. Wie ein ächter und wahrer Mährchenerzähler thun muß, stand der Gang der Geschichte stets unwandelbar fest und ich konnte mich nicht satt hören, wenn mich auch bisweilen die Frage, mitten im Erzählen, ob [10] ich den Nachtwächter wohl hörte und ob ich die Männer wohl bemerkte, unbedeutende Worte, die mir aber immer einen Schauer einflößten, ohne mich eigentlich furchtsam zu machen, sehr erschreckte.

Ich hatte aber auch Mährchen, die ich wirklich haßte, vor allem die Geschichte, mit der auch Sancho Pansa seinen Herrn nicht wenig erzürnt, mit der Erzählung von dem Hirten, der die vielen tausend Schafe einzeln über den Fluß setzen muß, das gar zu hübsch anfängt und gar zu kurz ist; denn man glaubt, daß jenseits des Stromes ein herrliches Mährchenland liegen muß, da alle andere Mährchen zu einem Ziele führen, nur dies nicht. Immer hoffte ich zu erharren, daß das letzte Lamm hinüber wäre und nun die Geschichte begönne, aber immer ward ich auf fernere Zeit verwiesen; er sei noch nicht hinüber und so harre ich noch. Doch ward ich ein paarmal mit der Geschichte angeführt.

Das stille Volk in meinem Innern ward mir stündlich werther, täglich mehrte sich der keine Roman, der in meiner Seele sich entspann, aber ich betrachtete es immer als eine Welt [11] außer mir, die ich nicht festzustellen im Stande war. Desto lieber ward mir aber die Idee selbst, klein zu seyn, und es setzte sich eine Lust an kleinen Personen fest, welche wohl einen tiefen Eindruck in meine Phantasie gemacht haben muß, denn noch jetzt würde man mir eine sehr große und bedeutende Vorliebe für kleine, zierlich und lieblich gebaute Personen mit vieler Deutlichkeit nachweisen können. Vor allem bemühte ich mich, so klein mich zu machen, daß ich Dinge unternehmen möchte, die mein kleines Volk leicht thun könnte. So kugelte ich mich in einen Korb zusammen, in dem die nächtliche Wäsche des Abends ins Zimmer gebracht ward. Mein doch zu großer Körper drohte ihn zu zersprengen, er knackte und knarrte verrätherisch laut und die haushälterische Mutter vertrieb mich mit einigen Drohworten aus dem gewünschten Häuslein, wohin ich nur sehr verstohlen zurückkehren durfte und in kurzem ganz vergebens. Dann lag ich auch gerne hinter Mutter und Großmutter in der Ecke des Sophas, dicht wie ein Knäul gedrängt und ließ mich von der Bewegung, die das Spinnen [12] dem Sopha mittheilte, schaukeln; denn damals gab es noch Deutsche Frauen, die spannen, und der Spinnrocken ist ja der eigentliche Signalstern der Mährchenwelt.

Der Tod meines Vaters brachte mir ein anderes Sein. Zwar blieb ich in meiner Vaterstadt, aber meine Mutter bezog eine weit entfernte Gegend der Stadt, meine Freunde und Gespielen blieben zurück, nur mein liebes stilles Volk begleitete mich und ward desto inniger von mir umfangen. Je mehr ich heranwuchs, je mehr Wahrheit bekamen die Gestalten und wurden äußerlich; ich fing immer mehr an zu glauben: es gäbe wirklich so ein Volk. Gulliver's Reisen fielen mir in die Hände, ich las einiges darin, das Zwergenvolk, wie es mir meine Phantasie gab, war darin beschrieben, es waltete kein Zweifel mehr ob, es gab solche Männlein und nun fehlte nur die Kunst, – sie zu entdecken.

Daß mein Völkchen Häuser baute, Geräthschaften und Thiere hatte, so zierlich und nett und klein wie sie selbst, das war keiner Frage unterworfen. Besonders dachte ich sie [13] mir gar stattlich und freudig auf ihren kleinen Rossen und noch kann ich aus Göthe's Romanze die Verse nicht hören:


Es kommen drei Reiter, sie reiten hervor,

Die unter dem Bette gehalten,


ohne daß auch meine ganze Jugendreiterschaar wieder beweglich wird und sich im Galopp daran schließt, in zierlichen Kreisen die Pferdlein taumelnd. Daß sie im freien Felde nahe an der Straße wohnen würden, glaubte ich nicht; ein Wald mußte sie beherbergen. Sparsam die umliegende Gegend besuchend, gemeinhin, wenn wenig andere dort waren, erhielt selbst die Umgebung von Berlin mir ein fremdartiges, einsameres Ansehen, das ich durch Bilder dichter, schauerlicher, alter Wälder, von denen ich las und hörte, vergrößerte.

Gar furchtsamlich erschien mir daher ein sehr lichtes Gehölz, das der Gegend, wo ich jetzt wohnte, nahe lag und das ich manchmal vom Thore aus sah. Bald glaubte ich, dort wohne mein kleines Volk, und wünschte nun nichts sehnlichers, als einmal hinausgehen und suchen zu können. Ich dachte es mir gar zu[14] süß, wenn ich mir so ein paar kleine Freunde mitnehmen könnte, die dann in meinem Zimmer wohnen sollten und mich durch ihre artigen Geberden und Sprache, denn Deutsch sprachen sie wie ich, zu erfreuen sich bemühten. Endlich kam ich einmal hinaus. Ich suchte und suchte verstohlen, so viel ich konnte, und fand, wie natürlich, nichts. Aber eine düsterere Spitze des Gebüsches, wohin ich nicht kam, zog mich an sich und schien mir Gewährung zuzuwinken. Späterhin kam ich auch dorthin, wieder nichts. Nun glaubte ich sie mir nicht mehr so nahe, ich setzte sie ferner; der mir ganz unbekannte Grunewald trat an die Stelle der nur zu bekannt gewordenen Hasenheide und mein Glaube war nicht gestört, nur stand alles weiter vor mir und ich verzweifelte für jetzt, die niedlichen Männlein zu sehen, zu sprechen, mich ihrer Gesellschaft zu erfreuen.

Weit in mein Knabenalter nahm ich diese Phantasien mit hinein und nur langsam verflogen sie bei andern Geschäften. Schon beinahe in das Jünglingsalter getreten, nahm mein Geist eine ganz eigene Richtung und die alten [15] Bilder traten wieder hervor. Die Liebe zum Mittelalter, zur Deutschen Vorzeit, erwachte, auf der Schule noch, in mir, auf eine eigene Art, deren Erzählung, so wie ihre Ausbildung, nicht hierher gehört. Im Widerstreit, der sogar zuletzt offenbar ward, von allen, die mich umgaben, mehr oder minder selbst verhöhnt, denn keiner wußte, was ich suchte und fand, bildete sich diese Liebe fort, und da ich mancher andern Arbeit ein Stündchen abstahl, litten diese wohl, wie nicht zu läugnen, aber ich tröstete mich schon damals mit dem Spruche: man könne nicht Alles sein, wenn man nur Eins recht zu sein sich bemühte, man möchte nun das Ziel erreichen oder nicht. Auf den ernstlichen und guten Willen hielt ich gar viel.

Wie ward mir, als mir in Deutscher Vorzeit eine neue Mährchenwelt aufging; denn wie ein Mährchen mußte es mir erscheinen, in einer mir so dunkel geschilderten Zeit hellleuchtende Sterne zu sehen, in öden Gegenden Blumen wachsen zu finden, die dann doch auch recht zierlich waren und gar zu bekannt und heimisch. Mühsam arbeitete ich mich durch den verwachsenen [16] Pfad, auf dieser, auf jener Seite konnte ich nicht weiter, ich machte fester auf einer die Probe und sie gelang. Nur sehr langsam und allmälig konnte ich vorschreiten, die großen, erhabenen Gestalten der Nibelungen, die überkräftigen und bis zur Riesengröße gesteigerten Recken Karls des Großen, die wackern und zierlichen Degen des Hofes, den König Artus beherrschte, traten mir, in wunderbare Sagen verflochten, entgegen, und Bragur breitete dann auch die noch unendlichere und tief begründete Nordische Götterwelt vor mir aus. Eine solche neue Welt, in der Sage und Geschichte neben einander schwebten, und in einander verbunden waren, mußte den Jüngling gewaltig ergreifen und ihn für immer bestimmen; also geschah es auch. Wie die Mährchen in der frühen Kindheit seine Phantasie angezogen und belebt hatten, selbst den Knaben noch beschäftigend, so sollten die alten Mähren dem Jünglinge und Manne eine stets unerschöpfliche Quelle von Forschungen werden.

Nun kamen die alten Sagen auch wieder hervor, die ich in der Jugend gehört, bei vielen [17] zeigte sich eine tiefere Quelle, ein unendlich bewunderungswürdiges Fortschreiten und verschwistert sein. Geschichte, Religion, Liebe und Dichtkunst verflochten sich so wunderbar, daß jede neue Erkenntniß höher reitzte. – Da ward mir auch Musäus bekannter. Das Mährchen, in dem die zierlichen Zwerge so treu die geliebte Herrin in dem gläsernen Sarge bewachten, zog mich, wegen seiner Lieblichkeit, besonders an, aber auch die drei Schwestern gefielen mir sehr wohl, so wie der Anfang der Libussa, Rolands Knappen und andere, doch war mir schon damals etwas in ihnen, was mir nicht recht behagte. Späterhin erkannte ich sehr wohl, was dies sei: ein ihm oftmals gemachter Vorwurf.

Tiecks Mährchen mußten mir über alles gefallen; denn in ihnen möchte am wahrsten der Weg getroffen sein, wie Mährchen erzählt werden müssen, wenn sie in der Bearbeitung ein neues Sein erhalten sollen, aber dennoch behalten die neuen Volksmährchen der Deutschen, von Mdme. Naubert, weniges abgerechnet, stets den Vorrang bei mir und sind mir immer [18] die liebsten und werthesten. Nicht allein wegen der reichen, herrlichen Stoffe, sondern auch vorzüglich wegen der sinnigen Bearbeitung, oft auch wegen der lieblichen Verflechtungen mehrerer Mährchen in eines. Wer wird nicht von dem stillen Volke, der lieblichen Erzählung von der Mutter Hulla, in dem Mährchen vom kurzen Mantel, wie die Hulla so treu sorgsam sitzt und am Rocken der Freundin spinnt, die ihre Geduld so auf die Probe setzte, wer wird von dem ganz herrlichen Rübezahl'schen Mährchen, Erdmann und Maria, so wie von dem schauerlichen, der weißen Frau, nicht auf mannichfache Art, wie ich, ergriffen worden sein? – Auf diese Weise war ich befriedigt und das andere Heer der Mährchensammlungen, so schlecht es mitunter war, konnte meinen Mißmuth nicht erregen, da ich sie als ganz verfehlte Ansichten dieser lustigen und schönen Welt gleich zurückschob. So gingen alle Sammlungen bei mir vorbei, nur eine, Volksmährchen von Gustav, habe ich nie erhalten können, welches mir um so unangenehmer ist, da in meiner Familie der Glaube war, ich sei der Verfasser, da nahe, [19] mir liebe Plätze, bei meiner Vaterstadt, der Tummelplatz waren und gleicher Vorname leicht zu solcher Annahme berechtigen konnte.

Je mehr die Mährchenwelt mich anzog, je mehr Lust hatte auch ich, mich darin zu versuchen, aber ich fühlte nicht die Kraft in mir, ein liebliches Mährchen, aus einem nur oft hingeworfenen Stoffe, zu bearbeiten, und in meinem Innern war eine Stimme, die mir immer zu sagen schien, es gäbe einen andern Weg, der meinem ganzen geistigen Streben angemessen und noch jetzt fast gar nicht betreten sei. Die Volkssagen, nacherzählt von Otmar (Nachtigall), zeigten mir den Weg, den ich einzuschlagen hätte, wenn ich, meinem ganzen Triebe folgend, einen zweckmäßigen Gebrauch von meiner kommenden Sammlung in der Folge machen wollte. Ein inneres Drängen und Treiben zu literarischen Forschungen, selbst bei so leicht beweglichen Dingen, wie die Lieder, Sagen und Mährchen des Volks, kann ich nicht abläugnen; denn ich habe es, durch mehrere Arbeiten, zu sehr bekundet. Man hat es manchmal getadelt und [20] ein mit mir gleich gesinnter Freund theilt mit mir gleiche Rüge.

Ein weites Feld hierzu boten mir die Sagen, Mährchen und Legenden in ihren verschiedenen Verzweigungen, in ihren Abweichungen und in ihren gegenseitigen Verbindungen anderer Seits. Manches schien mir hierbei unumgänglich nöthig zu erinnern, besonders, da so viel Historisches durch sie alle geht. Wahre Historiker, ich nenne nur das Haupt aller, unsern Johannes von Müller, haben uns gelehrt, daß man die Sage nicht als ein nichtiges Fabelwesen niedertreten und verwerfen müsse, sondern daß auch sie, klug benutzt, in die Geschichte einzutreten vermöge und so sollte wohl der Blick aller mehr auf diese Sagengebilde geschärft werden.

Ein jedes Land hat seine Sagen und Mährchen. Erstere schließen sich an die Geschichte an, sind oft selbst an Orte des Landes geknüpft und mit ihnen, durch den Mund des Volks, selbst bei der Ruine, noch unwandelbar verbunden. Eigene, wahrhafte Mährchen führen diese zweifelhaften Gebilde ganz in das heitere Reich der Dichtkunst und die Legenden, [21] Sagen, Mährchen und Religion so wundersam oft verschlingend, will nothwendig mitgenommen sein, wenn eines oder das andere ganz verstanden werden soll. So wurden auch diese drei von mir verbunden, nach den Völkern, so viel es ging, geordnet, und ihnen im Innern wieder eine chronologische Stellung gegeben, da oft, nicht gering gewichtig, der ganze hohe und gefallene Sinn des Volkes sich in den frühsten und späteren Mährchen, wie in den Liedern, ausspricht.

Einige Sagen und Mährchen schwebten frei, sie gehörten keinem Volke und möchten dann wohl meistentheils großes Gemeingut des mächtigen Mittelalters sein. Andere wiederhohlen sich unter mehrern Volksstämmen mehrfach und sollen bald hier, bald dort geschehen sein. Gewöhnlich liegt ihnen eine religiöse oder moralische Tendenz zum Grunde und jedem Hörer waren sie daher gerecht, sie in seine Nähe zu verlegen und dadurch eindringlicher zu machen; denn ein nahes Unglück oder ein Gräuel im benachbarten Orte erschreckt die Gemüther immer mehr, als eines im ferneren Lande.

Wie die Chronik, wie dies und jenes Buch, wie der Mund des Volks, oder der Freunde, wie die eigene Erinnerung mir die [22] Sage und das Mährchen einfach gab, so stellte ich sie auch hin. Gerne vermied ich die reiche Gelegenheit bogenlanger Anmerkungen, mich nur kurz begnügend den historischen Zusammenhang, die literarischen Nachweisungen, Abweichungen, Uebereinstimmungen verschiedener Stämme oder auch Uebereinstimmung mit fremden Sagen anzugeben, da sich so vieles von selbst giebt und fügt, manches aber auch durchaus überflüssig gewesen sein würde, vielleicht schon jetzt ist.

So hat denn ein neues Mährchenreich in meiner Phantasie ein lustiges Lager aufgeschlagen. Die Lieder, Gesänge und Sagen der Altvordern haben es gegründet und im bunten Kreise bewegt sich jene Welt des Mittelalters vor mir. Schon einigemale wagte ich es, diese Welt auch anderen zu eröffnen; Freunde erfreuten mich durch Beifall, halbe Freunde betrachteten vornehm und mit einer gewissen Wichtigkeit, immer sich meinem Standpunkte entgegen, niemals in ihn, stellend, meine Erzeugnisse und beurtheilten so halb, daß mir die dritte Klasse derjenigen, die ihr Verdammungsurtheil rein aussprach, bei weitem lieber war. Sie haben doch eine Ansicht, und geben sie, wie sie dieselbe haben.

[23] In neuem Felde trete ich diesen Dreien entgegen, sie freundlich begrüßend und bittend, wenn ihnen diese Sagen und Mährchen, die schon mannichfach einst durch ihre Jugend gingen, gefallen, auch auf den Sammler einen heitern Blick zu werfen und ihn vor allem zu neuem Hervortreten durch Stoff zu erfreuen, ihm die Mährchen ihrer Umgebungen zu senden, die immer mehr und mehr jetzt in dem Strudel der Zeit verschwinden. Auch mögen sie mit nicht gar zu bösen Blicken dieses Vorwort betrachten, das eben so anspruchslos, wie die folgenden Mährchen, gemeint ist. So werden wir eine lustige Gesellschaft bilden, wie sie einst die alte Zeit, zur Erzählung der Mährchen, sah, und der, der eine Sage in der wahrhaft richtigen Bearbeitungsart dem Erzähler einst einmal wieder giebt, wird ihm eben so lieb sein, als der Freund, der ihm eine neue bringt, und dieser Freunde wünscht er sich recht viele.


Breslau, den 23. Novbr. 1811.


Büsching. [24]

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TextGrid Repository (2012). Büsching, Johann Gustav. Märchen und Sagen. Volkssagen, Märchen und Legenden. Vorwort. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-48D9-E