Gottfried August Bürger
Aus Daniel Wunderlichs Buch

[1649] Vorrede

Ich verstehe mich nicht darauf, aus nichts etwas, oder aus etwas viel zu machen. Ich verstehe mich nicht darauf, mit einem Goldkörnchen Roß und Reiter zu übergulden, und daher glänzen zu lassen, als wäre alles eitel gediegenes Gold. Dennoch möcht ich das Körnchen, so bisweilen, durch Ungefähr, oder Suchen, mir in die Hand fiele, nicht gern wieder wegwerfen.

Dies ist verdolmetscht in Prose: ich verstehe nicht die Kunst derjenigen dreitausend deutschen Büchermacher, welche in drei Jahren viertausendsiebenhundertundneun Bücher verfertigen konnten 1; nicht die Macherkunst, aus nichts ein dickes Etwas von vielen Alphabeten, oder von einer kurz an den Mann zu bringenden Wahrheit lange, schimmernde Abhandlungen herauszuspinnen. Und doch ist mir, als wüßt ich manches Ding, das nicht jedermann weiß; ist mir, als fühlt ich Elastizität des Geistes, Mut und Kraft genug, ein Ding zu packen, zu halten, zu schleudern und in die Luft emporzureißen; ist mir, als umgäbe mich ein Licht, das die Dinge, nah und fern, mehr als andere mir aufhellt; ist mir, als ob ich wohl fähig sei, manches, indem in meinen Lebensgang so dahinschlendere, zu erfahren, zu denken, und zu empfinden, das nicht unwert der Mühe wäre, auch von andern erfahren, nachgedacht und nachempfunden zu werden.

Wirf nichts mehr weg, sprach ich einst zu mir selbst, wie du vorhin getan hast. Nichts ist so schlecht; es ist wozu gut. Heben doch wohl viele der dreitausend Büchermacher Papierschnitzel sorgfältig auf. – Ich ging hin, und ließ mir ein Buch von weißem Papier zusammenheften, und schrieb auf, was ich erfuhr, dachte und empfand. Dies mein Aufgeschriebenes kann ich um so füglicher mein Buch nennen, als ich nie sonst ein Buch geschrieben habe, noch eins schreiben werde. Den Titel gebar also nicht der Originalkitzel, sondern die Notdurft. Mir selbst dünkt nichts abgeschmackter, als mit unerhörten Titeln frappieren zu wollen, [1649] wiewohl dies oft der armselige Behelf mittelmäßiger Büchermacher ist.

Ich schrieb ohne alle andere Bücher, aus eigenem Kopf und Herzen. Dennoch gebe ich mich ebensowenig für einen absoluten Selbstdenker, als meine Gedanken für neu und eigen aus. Manches mag ich vorhin gelesen, manches mag ich von gescheiten Leuten gehört, manches auch selbst geschaffen haben. Aber auch nicht alles, was man selbst erschafft, ist eigen und neu. Hundert Köpfe können, ohne alle fremde Zutat, oft einerlei Ding ersinnen.

Sehr unbesonnen wird oft der Mangel an Neuheit und Originalität gerügt. Gerade als ob alles, was geschrieben wird, neu und unerhört sein müßte. Was ist ganz neu unter der Sonne? – Nicht alle lesen alle Bücher. Wenn daher jener dem ersten Tausend von Lesern geschrieben hat; warum sollte dieser nicht das nämliche dem zweiten Tausend schreiben dürfen? – –

Wahrheit! Unerforschliche, ewige Gottheit! nach dir gehn meine Blicke aus. Noch nie hat dich ein sterbliches Auge ganz erblickt; nimmer werden dich aller Sterblichen Augen zusammen in deiner vollen schönen Gestalt schauen. Der scharfsichtigste Weise entdeckt an dir nur kleine einzelne Teile. Tun sie sich zusammen und sagt einer dem andern: »Das sah ich! – Und ich das!« so ist vielleicht am Ende der Welt möglicher, als jetzt, das erhabenste schwerste Abbild der Ähnlichkeit einigermaßen näher zu bringen.

1. Von der Einteilung des Schauspiels

I

Von der Einteilung des Schauspiels

Trauerspiel – Freudenspiel – rührendes, weinerliches Lustspiel – Possenspiel – heroisches, bürgerliches, bäuerliches, schäferliches – und der Himmel weiß! was noch sonst für Spiele die Theorienmacher uns herrechnen! Und doch tun sie der Sache noch lange nicht genug, wenn sie alles, was sich nach ihrer Weise teilen läßt, bis ans Ende fortteilen wollen. Daß sie doch alle der Batteux holte! Und ihren Verstand weit droben im Ariostischen Monde in tausend Fläschchen verteilte, und jedes dicht und fest zupfropfte! Schauspiel ist – Schauspiel, und damit gut! Jene Teilung gemahnet mich nicht anders, als wenn man die liebe Mutter Natur in die lachende und weinende, tragikomische und komisch-tragische tabellieren wollte, da sie doch das alles in einer, [1650] und eine in dem allen ist. Wisset ihr nicht, daß sie Freud und Leid, Krieg und Frieden, Ruh und Aufruhr, Haß und Liebe, Versöhnung und Rache, Tod und Leben in einem Neste brütet? Warum zimmern also wohl die kindischen Kinder der Kunst so viel hundert Kästchen und Fächerchen, alles das auseinanderzusondern? Wie mögen sie ihr wohl vorschreiben, wie sie das all? ob sie's einzeln, oder paarweise? oder die ganze Hecke auf einmal ausfliegen lassen soll? Was Mutter Natur tut, das ist recht; was sie paart, das ist wohlgepaart. Daß euch die Hand nicht aus dem Grabe wachse, weil ihr euch an der Mutter vergreift! Wisset ihr nicht, was Sokrates sagte, daß Schmerz und Wollust an ihren Enden zusammengeknotet wären?

Da meinen sie nun verbieten zu können, daß das Komische nichts Tragisches, und das Tragische nichts Komisches begleite, und bedenken nicht, wie sehr einem mit dem andern oft aufgeholfen werden könne. Hat nun erst einmal ein Junker solch Sprüchlein auswendig gelernt, so spricht er darnach frisch vom Munde weg, ohne das Gefühl der Natur zu Rate zu ziehen. Freilich hat dies auch die leidige Theorei versäuft. Also meinst du aber doch, Menschchen, daß dich die volle Lache, in einem und ebendemselben Nu, nicht manchmal ebenso durchschauern könne, als der grimmigste Blick des Wüterichs? Ei Lieber! wie wenn der Teufel zu dir träte, und dich bei voller Lache zum höllischen Tanz aufforderte? Dann würdest du ja wohl zum Teufel sagen: Dein Anstand ist komisch und schickt sich nicht für diese tragische Situation! Oder würdest du verlegen sein, wie du diesen Akt nennen solltest? Nenn ihn doch Tragikomödie! – –

Darum kenn ich nur ein Spiel; und das heißt Schauspiel. Das sei, wie es wolle! Nur gefalle es den Kindern der Natur.

2. Herzensausguß über Volkspoesie

II

Herzensausguß über Volkspoesie

Warum haben Apoll und seine Musen bloß auf dem Gipfel des Pindus ihr Wesen? Warum entzückt ihr Gesang bloß die Ohren der Götter, oder der wenigen, welche Atem und Kraft genug hatten, die steilen Zinnen des Olymps zu erklettern? Sollten sie nicht herunterkommen und auf Erden wandeln, wie Apoll vorzeiten unter den Hirten Arkadiens tat? Sollten sie nicht ihre Strahlengewänder, bei deren Anblick so oft das irdische Auge erblindet, droben lassen, und die Natur der Menschen anziehn? [1651] Unter den Menschenkindern, sowohl in Palästen als Hütten, ein und aus gehn, und gleich verständlich, gleich unterhaltend für das Menschengeschlecht im ganzen dichten? Das sollten sie freilich! Aber wie wenig noch haben's die deutschen Musen getan!

Unsere Nation hat den leidigen Ruhm – nicht gerade die weise – sondern die gelahrte – zu heißen. Der Ruhm möchte ganz schätzbar sein, wenn's nur nicht gar zu viel Quisquiliengelahrtheit wäre. Dieser Quisquiliengelahrtheit haben wir's gutenteils zu verdanken, daß bei uns die Poesie des allgemeinen Eingangs in Ohren und Herzen sich nicht rühmen kann, den sie bei mancher andern Nation schon fand, weil wir so hoch und tief gelahrt sind, daß wir schier aller Völker Sprachen reden können; ihre Handlungen, Sitten und Gebräuche, all ihre Weisheit und Torheit auswendig wissen; in ihren Feldern und Wäldern, Städten und Dörfern, Tempeln und Palästen, Häusern und Ställen, in ihren Küchen, Kellern, Boden und Zimmern, in Garderoben, Kisten und Kasten, und der Himmel weiß, wo alle noch sonst? bekannt und bewandert sind; so sind wir auch in unserm Dichten und Trachten, Reden und Tun, so fremd und ausländisch, daß der Ungelehrte unserer Landsleute selten klug aus uns werden kann. Das schlimmste ist, daß wir das alles lernen, bloß um es zu wissen und dadurch zünftig zu sein. Es bleibt meistens totes Kapital; und wie kann auch Münze kursieren, die oft gar keinen innerlichen Wert hat, und deren Gepräge längst aus der Mode gekommen ist?

Dies möchte meinetwegen überall so seinen alten Gang hingehn, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte billig nicht auf gelehrte Reisen gehn, sondern ihren Naturkatechismus zu Haus auswendig lernen. Wo steht aber im deutschen Naturkatechismus geschrieben, daß sie fremde Phantasien und Empfindungen einholen, oder ihre eigene in fremde Mummerei hüllen solle? Wo steht's geschrieben, daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern vel quasi eine Göttersprache stammeln soll? – Göttersprache? – Daß es dem lieben Gott erbarme! – Diese Göttersprache, die viele unserer Musensäuglinge lallen wollen, ist oft nichts anders als rauhes Löwen- und Stiergebrüll, Roßwiehern, Wolfsgeheul, Hundgebell und Gänsegeschnatter. Anstatt den Strom des Gesangs vom mählichen Abhang, mit distinkten, vernehmbaren Wohlgetön, dahinströmen zu lassen, stellt man sich auf eine schroffe Felsenspitze, wirft, unter gräßlichen Verzuckungen, [1652] den Kopf in den Nacken, verdreht die Augen, und stürzt sein Krüglein, mit unvernehmlichem, verwirrenden Geräusch hurlpurl hinab, und am Ende ist's doch wohl nicht so viel, daß eine Mücke sich daraus satt trinken kann.

Man will keine menschliche, sondern himmlische Sonnen malen; nicht wie seinesgleichen, sondern wie Völker anderer Zeiten, anderer Zonen; man will oft gar, wie der liebe Gott und die heiligen Engel empfinden. Hieran, ihr deutschen Dichter, nicht aber an dem kalten und trägen Publikum, wie ihr falsch wähnet, liegt es, daß eure Gedichte nicht durch das ganze Volk gäng und gäbe sind.

Diesem Unheil abzuhelfen, ist freilich kein kräftiger Mittel, als das so oft beschriebene und zitierte, aber so selten gelesene Buch der Natur zu empfehlen. Man lerne das Volk im ganzen kennen, man erkundige seine Phantasie und Fühlbarkeit, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen, und für diese das rechte Kaliber zu treffen. Alsdann den Zauberstab des natürlichen Epos gezückt! Das alles in Gewimmel und Aufruhr gesetzt! Vor den Augen der Phantasie vorbeigejagt! Und die güldenen Pfeile abgeschossen! Traun! dann soll's anders gehn, als es bisher gegangen ist. Wer's dahin bringt, dem verspreche ich, daß sein Gesang den verfeinerten Weisen ebensosehr, als den rohen Bewohner des Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche, entzücken werde. Dies sei das rechte Nonplusultra aller Poesie!

Hier deucht mir, seh ich manche Vers- und Theoreienmacher mit weiser Miene mir entgegenlächeln. Sie wollen sagen: Daß doch nicht alle Gegenstände, sonderlich die Belustigungen des Verstandes und Witzes, so allgemeinverständlich und behäglich sich behandeln ließen. Mir deucht, das liebwerteste Lehrgedicht, das Epigramm und manche andere ihres Gelichters, die in den poetischen Theoreien auch ihr Stühlchen haben, wollen soeben aufspringen und Lärmen machen. – Lieben Leute, eure Theorei irret die Theorei der Natur ganz und gar nicht. Die Natur, wenn ich nicht gewaltig irre, weiset der Poesie das Gebiet der Phantasie und Empfindung, hergegen das Reich des Verstandes und Witzes einer andern Dame, der Versmacherkunst, an. Jede soll sich vornehmlich auf ihrem angewiesenen Grund und Boden herumtummeln. Doch will sie beide keinesweges gänzlich trennen, und Hader unter ihnen stiften. Sie mögen, als verträgliche Nachbarinnen, nebeneinander hausen; mögen sich auch wohl hie und da [1653] freundnachbarlich an Hand gehn; mögen einander Schüssel, Topf, Besen und Elle borgen; mögen endlich auch einerlei Sprache, die nur gleichsam im Dialekt sich unterscheidet, reden! Im Grunde aber bleiben sie doch voneinander gesondert. Durch diese Grenzteilung soll die Versmacherkunst an ihren Ehren und Würden im geringsten nicht gekränkt sein. Sie mag eine artige Frau und ihr Reich ein schönes Reich sein. Welche von beiden aber den Vortritt habe, und zu haben verdiene? wäre unpolitisch zu entscheiden, da die Mitglieder beider Staaten bis hieher öfters, so hübsch friedlich und schiedlich hinüber und herüber zu lustwandeln pflegten. Immer bleib es auch künftig bei dieser Weise.

Mit den Angelegenheiten der Versmacherkunst hab ich hier nichts zu schaffen. Mir liegt das Wohl und Weh der Poesie am Herzen. Ihre Produkte wünscht ich insgesamt volksmäßig zu machen. Zunächst ist hier von der lyrischen und episch-lyrischen Gattung die Rede. –

Aber der Zauberstab des Epos, der den Apparatus der Phantasie und Empfindung beleben und in Aufruhr setzen soll, ist nur in wenigen Händen. Viele suchten und fanden ihn nicht, weil er wirklich nicht leicht zu finden ist, und sie ihn nicht am rechten Ort suchten. Wo er noch am ersten und leichtesten zu finden ist, das sind unsere alten Volkslieder. Seit kurzem erst sind einige echte Söhne der Natur ihm hier auf die Spur geraten.

Diese alten Volkslieder bieten dem reifenden Dichter ein sehr wichtiges Studium der natürlich poetischen, besonders der lyrischen und episch-lyrischen Kunst dar. Sie sind meist, sowohl in Phantasie, als Empfindung, wahre Ausgüsse einheimischer Natur. Freilich hat die mündliche Tradition oft manches hinzugetan und weggenommen, und dadurch viel lächerlichen Unsinn hineingebracht. Wer aber das Gold von den Schlacken zu scheiden weiß, wird wahrlich keinen verächtlichen Schatz erbeuten. – Und wär's denn wohl der Mühe nicht wert, daß ein Mann, mit hemsterhuysisch-kritischer Nase, sich darauf beflisse, den heterogenen Anflug wegzunehmen, und die alte verdunkelte, oder gar verlorne Lesart wiederherzustellen? –

In jener Absicht hat öfters mein Ohr in der Abenddämmerung dem Zauberschalle der Balladen und Gassenhauer, unter den Linden des Dorfs, auf der Bleiche, und in den Spinnstuben gelauscht. Selten ist mir ein sogenanntes Stückchen zu unsinnig und albern gewesen, daß nicht wenigstens etwas, und sollt es auch nur ein Pinselstrich des magisch rostigen Kolorits gewesen sein, [1654] poetisch mich erbauet hätte. Gar herrlich, und schier ganz allein, läßt sich hieraus der Vortrag der Ballade und Romanze, oder der lyrischen und episch-lyrischen Dichtart – denn beides ist eins! Und alles Lyrische und Episch-Lyrische sollte Ballade oder Volkslied sein! – gar herrlich, sag ich, läßt er sich hieraus erlernen.

Freilich kömmt mir hier wieder die sogenannte höhere Lyrik, die unter dieser Gattung nicht stehen will, und sich wohl recht was dünkt, quer in den Weg gelaufen. Ich kenne Werke von dieser höhern lyrischen Gattung, die bei allem dem sehr volksmäßig sind. Jene, die nicht fürs Volk ist, mag hinlaufen, wohin sie will. Mag sie doch für Götter und Göttersöhne, den erhabensten Wert haben! Für das irdische Geschlecht hat sie nicht mehr, als der letzte Fixstern, dessen Licht aus tiefer dunkler Ferne zu uns herflimmert. Dies Urteil würde ich aussprechen, wenn ich auch selbst ein solcher Göttersohn wäre, denn es ist mir hier mehr fürs liebe Menschenvolk, als für Götter und Göttersöhne zu tun. –

Durch Popularität, mein ich, soll die Poesie das wieder werden, wozu sie Gott erschaffen, und in die Seelen der Auserwählten gelegt hat. Lebendiger Odem, der über aller Menschen Herzen und Sinnen hin weht! Odem Gottes, der vom Schlaf und Tod aufweckt! Die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Lahmen gehend und die Aussätzigen rein macht! Und das alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammertal!

Von der Muse der Romanze und Ballade ganz allein mag unser Volk noch einmal die allgemeine Lieblingsepopee aller Stände, von Pharao an, bis zum Sohn der Magd hinter der Mühle hoffen! Unbegreiflich ist mir's daher, wie einige Leute diese Muse zu einer Aftermuse, oder zur Zofe einer von den neuen Pierinnen machen, und ihr kein ander Instrument, als den Dudelsack in die Hand geben mögen; da sie doch das ganze unermeßliche Gebiet der Phantasie und Empfindung unter sich hat; da sie es doch ist, die den »Rasenden Roland«, die »Feenkönigin«, »Fingal« und »Temora« und – sollte man's glauben? – die »Ilias« und »Odyssee« gesungen hat? Wahrhaftig! Alle diese Gedichte waren denen Völkern, welchen sie gesungen wurden, nichts als Balladen, Romanzen und Volkslieder. Eben daher erhielten sie den allgemeinen Nationalbeifall, der so vielen Leutlein unbegreiflich ist. Uns Deutschen sind sie freilich nicht mehr volksmäßig; aber wir sind auch nicht die Griechen, nicht die Italiener, nicht die Briten. Deutsche sind wir! Deutsche, die [1655] nicht griechische, nicht römische, nicht Allerweltgedichte, in deutscher Zunge, sondern in deutscher Zunge deutsche Gedichte, verdaulich und nährend fürs ganze Volk, machen sollen. Ihr Dichter, die ihr ein solches nicht geleistet habt, und daher wenig, oder gar nicht gelesen werdet, klaget nicht ein kaltes und träges Publikum, sondern euch selbst an! Geb uns einer ein großes Nationalgedicht von jener Art, und wir wollen's zu unserm Taschenbuch machen. Steiget herab von Gipfeln eurer wolkigen Hochgelahrtheit, und verlanget nicht, daß wir vielen, die wir auf Erden wohnen, zu euch wenigen hinaufklimmen sollen.

Daß Volkspoesie bisher vernachlässigt, daß Ballade und Romanze schier verächtlich und poetisches Spielwerk worden, daran sind wohl hauptsächlich mit die nackigen Poetenknaben schuld, die sich einbilden, sie könnten auch wohl Balladen und Romanzen machen, und diese Dichtart gleichsam für das poetische Abc halten. Da nehmen sie das erste das beste Histörchen, ohne allen Endzweck und Interesse, leiern es in langweiligen, gottesjämmerlichen Strophen, hier und da mit alten Wörtchen und Phrasen läppisch durchspickt, auf eine drollig sein sollende Art, mit allen unerheblichen Nebenumständen des Histörchens, von Kopf bis zu Schwanz herab, und schreiben drüber »Ballade«, »Romanze«. Da regt sich kein Leben! Kein Odem! Da ist kein glücklicher Wurf! Kein kühner Sprung, sowenig der Bilder als Empfindungen! Nirgends was Aufrührendes, sowenig für den Kopf, als fürs Herz! – O ihr guten Poetenknaben, nehmt's von nun an zu Ohren und Herzen, daß Volkspoesie, eben deswegen weil sie das Nonplusultra der Kunst ist, die allerschwerste sei. Laßt uns nicht ferner durch das: ut sibi quivis speret idem verführen, um die sprödeste aller Musen zu buhlen!

Ich hemme meine Herzensergießung mit dem Wunsche, daß doch endlich ein deutscher Percy aufstehen, die Überbleibsel unserer alten Volkslieder sammlen, und dabei die Geheimnisse dieser magischen Kunst mehr, als bisher geschehn, aufdecken möge. Öfters hab ich zwar schon mündlich diesen Wunsch meinen Freunden geäußert und gesagt, er sollte weiter fortgepflanzt, und irgendwer veranlaßt werden, ihn auszuführen. Allein bisher noch vergebens! Unter unsern Bauren, Hirten, Jägern, Bergleuten, Handwerksburschen, Kesselführern, Hechelträgern, Bootsknechten, Fuhrleuten, Trutscheln, Tirolern und Tirolerinnen, kursieret wirklich eine erstaunliche Menge von Liedern, worunter nicht leicht eins sein wird, woraus der Dichter [1656] fürs Volk nicht wenigstens etwas lernen könnte. Manche davon, so ich gehört, hatten im Ganzen, viele in einzelen Stellen, wahres poetisches Verdienst; ein gleiches versprech ich mir von weit mehrern, so ich nicht gesehen habe. So eine Sammlung von einem Kunstverständigen, mit Anmerkungen versehen! – Was wollt ich nicht dafür geben! – Zur Nachahmung im ganzen und gemeinen Lektur wäre sie freilich nicht; aber für die Kunst, für die einsichtsvolle Kunst würde sie eine reiche Fundgrube sein. Nur die Poetenknaben müßten vor allen andern ihre, alles betappenden Fäuste davon lassen, oder mit dem güldnen Plektrum eins drauf haben.

3. Zur Beherzigung an die Philosophunkulos

III

Zur Beherzigung an die Philosophunkulos

Ihr weisen ästhetischen Fliegen, die ihr auf Shakespeares göttliche Stirn euch setzet, euren Rüssel putzet und nie wieder wegflieget, ohne ein kleines Denkmal eurer Unart hinterlassen zu haben, meint, ihr hättet ihr großes Recht widerfahren lassen, wenn ihr ihn wegen seiner abenteuerlichen Zauber- und Gespensterszenen mit der Barbarei seines Zeitalters höchstens entschuldiget habet. In einem Zeitalter, sagt ihr, da Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Niedere an Hexen, Gespenster und ihre Alfanzereien wie an ein Evangelium glaubten, waren diese Vorstellungen ernsthaft und erhaben und erschütterten, wie Religion, das Herz; aber in unserem erleuchteten philosophischen Jahrhunderte sind sie abgeschmackt und dienen mehr zum Lachen als zum Schrecken. Sonderbar! Da doch ihr nämlichen Herrn den Zeus, die Juno, den Merkur, die Venus, den Amor, den Apoll, die Musen, die Minerva mit allen ihren Schulfüchsereien in anderen Gedichten herumspuken lasset, ohne nur ein Wort dagegen einzuwenden.

Mein freundlich geliebter Herr Vetter Daniel Säuberlich 2 nimmt das Ding gar von einer sehr ernsthaften und religiösen Seite, und meinet, daß die poetische Bearbeitung der Hexen- und Gespenstergeschichte den leidigen Aber- und Köhlerglauben wieder auf den Thron helfen würde. Sollte dies eine natürliche Folge davon sein, so wundert's mich sehr, daß in Berlin das Heidentum noch nicht wieder in Schwang gekommen ist.

[1657] Aber, liebe Herren, ist es denn wirklich wahr, daß euer Verstand wie Cherub mit flammendem Schwerte so aufmerksam vor eurem Herzen Wache hält, daß kein Eindruck von jenen Dingen eindringen kann? Ich bilde mir doch auch ein, einen solchen nicht ganz und gar finsteren schlafenden Wächter zu haben; dennoch gehet mein Herz in Sturm und Aufruhr über, wann Bankos Geist Macbeths Stuhl bei Tische eingenommen hat, oder das Gespenst Hamlets das schrecklichste Geheimnis um Mitternacht entdecket, oder Macbeths Hexen im unterirdischen Gewölbe um den Kessel von Greuel den Höllentanz tanzen und schauderhafte Geistergestalten aus dem Abgrunde heraufrufen. Um des Himmels willen! wie geht das zu?

Ihr, die ihr den Wust der leidigen Natur durch Polychrest-Pillen der Philosophei wegpurgiert habt, werdet bei mir dies Phänomenon den Dünsten eines verschleimten Magens vermutlich zuschreiben. Und in der Tat habt ihr nicht unrecht. Da habe ich unglücklicherweise einmal ein Shakespearisches Sprüchlein:


There are more things of in heaven and earth –
Than are dreamt of in your philosophy,

verschluckt, welches noch diese Stunde unverdauet, wie Blei, mir im Magen liegt und die Wirkung aller eurer philosophischen Wunderelixiere zuschanden macht.

Wie, wenn nun unten im Abgrund des Meeres Völkerschaften und Philosophen es gäbe, welche leugneten, daß auf der trockenen Oberfläche der Erde Menschen wohnten und mitleidig auf diejenigen herabsähen, welchen etwa einmal ein Taucher und Perlenfischer unten erschienen? Diese Instanz rühret euch freilich nicht. Denn ihr seid gleich mit der Antwort: Da unten gibt's keine Gelehrten, keine Philosophen, denn sie haben ja weder Bibliotheken, noch Tinte, Feder und Papier, und wie die Werkzeuge der Gelahrtheit weiter heißen. Oh, daß ihr aber doch nie aufhöret, fremde Dinge in eurem bekannten Maß und Scheffel zu messen! Kennet ihr denn nur die sichtbare Körperwelt ganz? Ich geschweige der unsichtbaren Körperwelt. Müßt ihr denn bei Hexerei und Gespenstern gerade an Geister gedenken? Wie könnet ihr mit Zuversicht verneinen, daß es unter der Erde oder über der Erde und ihrer Atmosphäre körperliche Geschöpfe noch gebe, die dort so gut ihr Element, als wir auf Erden und in der gröberen Luft, oder die Bewohner des Wasserreichs haben? Und [1658] ist es denn unmöglich, daß nimmermehr ein solches Wesen aus Zufall oder aus Endzweck dessen, dem kein Ding unmöglich ist, sich ebenso in die niedere Sphäre herablasse, wie der Taucher hinunter in den Ozean? Ihr räsoniert gemeiniglich, als ob ihr glaubet, daß außer dieser sichtbaren Körperwelt, außer Gott und seinen heiligen Engeln und abgeschiedenen Seelen schlechterdings kein anderes lebendes und vernünftiges Wesen existierte, und höret nicht auf, alles κατ' ανϑρωπος beständig zu modeln. Muß denn gerade alles, was körperlich ist, mit den derbesten Püffen eure Sinne berühren? Ihr wisset, daß Glas und Wasser Körper sind; doch könnt ihr mitten durch hinschauen und werdet sie kaum gewahr. Ihr wisset, daß die Luft und der feinste Äther Körper sind; dennoch fühlet ihr oft an keinem einzigen eurer Sinne die Berührung. Wiederum meinet ihr, alles, was Körper ist, müsse euch die Fäuste füllen. Daher lachet ihr, wenn die Einfalt euch erzählet, sie habe in ihrer Kammer bei fest verrammelten Türen und Fensterladen eine Gestalt erscheinen und wieder verschwinden sehen, und krähet: eine so große Gestalt müsse denn also durch das Schlüsselloch hereingekommen sein! Lieber, schaut doch einmal in den Spiegel! Ihr seht euer zweites Ich! Ist das nichts, oder ist es etwas! Nichts kann eure Sinne nicht berühren. Ihr wisset, daß es ein Etwas von zurückprallenden Lichtstrahlen, daß es Körper ist; könnet es aber mit keinem einzigen Sinne, als eurem Gesichte fühlen.

Ist es etwa Weisheit, alles zu leugnen, was über die Kräfte und Wirkungen der euch bekannten Natur hinausgeht? Ihr hacket ja sonst so unbarmherzig auf einen Freigeist los, der die Dreieinigkeit Gottes oder die Transsubstantiation und andere Mysterien eurer Religion unbegreiflich oder widernatürlich findet, und krähet: Ja, übernatürlich ist nicht widernatürlich! Wieviel soll man nun von eurem Glauben an Religionsgeheimnisse halten, wenn ihr die anderen, weil ihr sie nicht versteht, für Undinge ausgebet? Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder überirdischer Wesen nicht erscheinen können, da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet? Warum soll es keine Wirkungen aus Ursachen geben, deren Zusammenhang nicht in einer dicken schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euren groben Sinnen betastbar ist? Ihr habt die Gestalt des Magnetenausflusses nie mit euren Sinnen wahrgenommen; dennoch sehet ihr, daß er das Eisen an einem sinnlichen Nichts in die Luft emporzieht.

[1659] Bis hierher habe ich euch gezeigt, daß es selbst aus Gründen gesunder Vernunft nicht abgeschmackt sei, an ein auf dem Theater erscheinendes Gespenst oder eine Bezauberung zu glauben. Aber ich will einmal annehmen, ihr hättet euch durch Gegengründe trotz allem von der Nichtigkeit solcher Erscheinungen überzeugt, sollten alsdann Shakespeares Zauber- und Gespensterszenen abgeschmackt und lächerlich sein? Ich sage nein! Selbst den wenigsten unter euch, so sehr auch euer Eigensinn oder eure Vernunft von der Nichtigkeit überzeugt sein mag.

Gottlob! Des Menschen Herz ist stärker als seine Vernunft. Trotz allen Philosophemen eures Kopfes bangt es euch die Herzgrube, durchschauert es alle eure Gebeine, wann ihr um Mitternacht auf einem Gottesacker wandelt. – – –

Fußnoten

1 S. Gatterers Hist. Journ. T.1. S.266.

2 S. die Vorrede zu Nicolais Feynem kleynen Almanach. Berlin 1777.

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TextGrid Repository (2012). Bürger, Gottfried August. Theoretische Schriften. Aus Daniel Wunderlichs Buch. Aus Daniel Wunderlichs Buch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-47F0-F