[697] Die Ewigkeit aus dem Frantzösischen

O Vorwurf, der so hoch, als fürchterlich,
Deß Unermeßlichkeit das Hertz mit Schrecken rühret,
O Abgrund, den kein Mensch begreift, in welchem sich
Mein gantz verwirrter Geist verlieret;
Mit welchen Farben mahl' ich dich!
Du tiefes Meer der Zeiten, die vergehen;
Aus dir kommt jedes Jahr, das wieder in dich fällt,
Du künftigs Grab von unsrer Welt,
Du Quell, woraus dereinst die künft'gen Welt' entstehen!
Entstehn, sich enden, sterben, leben,
Verweilen, folgen, Aufschub geben,
Sind Wörter, die bey dir nichts heissen und nichts seyn,
Die Folge der Natur, die Zeiten, so verschwunden,
Versencken, samt den künft'gen Stunden,
Ihr kurtzes Seyn in dich, als einen Punct, hinein.
Ihr Stunden, Tag', ihr Wochen, Monden, Jahr',
Fort, häuft euch auf einander auf!
Eilt, fliegt, erfüllet euren Lauf!
Erschreckt uns durch die Zahl der ungezählten Schaar.
Welch ein gewaltigs Heer! Vergebens sucht das Dencken
Der tiefen Algebra darein sich zu versencken.
Allein, was seyd ihr doch bey der Unendlichkeit,
Aus welcher ihr gebohren seyd?
Ihr seyd nicht einst geschickt, sie anzufangen.
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Die Thaten, wovon itzt so viele melden,
Der edlen Geister Frucht, versincken samt den Helden
In eine finstre Nacht.
Viel tausend herrliche, vortreffliche Gedancken
Versencken sich mit dem, der sie gedacht,
In seines Sarges enge Schrancken.
Die Unvergänglichkeit, mit welcher ihre Seelen
Sich, voll von eitlem Stoltz, vermählen,
Ist bey der Ewigkeit ein kleines Bächlein nur,
Von dessen Kriechen man im Grase kaum die Spur
Gewahr wird, und das sich im Ocean verlieret,
Wohin sein Lauf es führet.
Ihr festen Ehren-Mahl', ihr stoltzen Mausoleen,
Umsonst sucht euer Grund von Ertz und Marmor-Stein
Bey Völckern, die annoch von uns entfernet seyn,
Den Ruhm, nein mehr den Hochmuths-Tand,
Von Rom und Griechen-Land
Zu übertragen, zu erhöhen;
Ihr werdet alle schnell, dem Schatten gleich, vergehen.
Die Ewigkeit in ihrer düstern Nacht,
In welcher sie aus tausend Dingen,
Die allbereit dahin sind und vergingen,
Ein traurig wüstes Chaos macht,
Vermischt, was niemahls war, mit dem, was nicht mehr ist.
Wie, daß du denn, mein Hertz, so voller Schwachheit bist,
Und übergiebst dich selbst der schwartzen Traurigkeit!
Warum willt du so sehr den Gift und Grimm
Verläumderischer Zungen scheun?
Folg' immer unbewegt der ernsten Weisheit Stimm'!
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Veracht' ein augenblicklich Leid!
Durchdringe von der künft'gen Zeit
Die grause Dunckelheit,
Und suche das, was wahr, darin zu lesen!
Vergleich die Dauer deiner Pein
Mit der Unendlichkeit,
Und gläube fest, daß das, so endlich, nie gewesen!
Mir edler Festigkeit bewaffne deinen Muth
Die Hoffnung zu dem höchsten Gut;
So wirst du bald, von hinnen weggenommen,
In unverwelcklicher Unsterblichkeit
Der seeligsten Vollkommenheit,
Dein wahres Wesen überkommen.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Die Ewigkeit aus dem Frantzösischen. Die Ewigkeit aus dem Frantzösischen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4484-C