Ludwig Börne
Theaterkritiken

[205] Vorrede

Deutschlands kritische Nacht war gekommen, die Wärter saßen kopfschüttelnd am Bette, alte Basen machten bedenkliche Runzeln, und die Lichter wurden nicht mehr geputzt. Da richtete sich der Kranke plötzlich auf, saß ganz gerade, blickte umher und fragte: »Wo bin ich?« – »In Ihrer alten Wohnung, bei den lieben Ihrigen« – antwortete der Arzt, freundlich und vergnügt, und machte eine siegreiche Miene. Ein wohltätiger Schweiß war ausgebrochen, die Fieberphantasien hatten aufgehört, der gute alte Puls war gleich wieder da, und die Gesundheit kehrte mit schnellern Schritten zurück, als sie sich entfernt hatte. Noch einige Tage blieb der Genesende schwach; aber er lächelte selig, alles war ihm recht, er war alles zufrieden. Noch einige Tage, und Vetter Michel stand wieder auf den Beinen, schnitt sich zwölf Dutzend neue Federn und aß abends seinen Kartoffelsalat. Noch einige Tage, und das Testament, in der Furcht des Todes geschrieben, wurde hervorgesucht und zerrissen; es sollte alles beim alten bleiben. Noch einige Tage, und der Krankenwärter kam glückwünschend und erinnerte an den neuen blauen Rock, den ihm der Kranke versprochen hatte, wenn er wieder aufkäme. Der Gesunde lachte den guten Mann aus und sagte: »Im Fieber mag ich wohl viel dummes Zeug gesprochen und versprochen haben ...« Ach! es war eine schöne Zeit. Zwar habe ich nicht mitgefochten im Befreiungskriege – mir fehlte das gehörige Maß des Körpers und des Glaubens –, aber ich habe den Franzosen auch kleine Stöße gegeben. Von der Polizeistelle eines rheinischen Bundesstaates war ich, ohne Stuhl [205] und Stil zu wechseln, zur Polizeistelle eines deutschen Bundesstaates gekommen. Früher hatte ich gehorsame, eilfertige Briefe nach allen Postwinden geschrieben, um arme deutsche Jungen, die sich versteckt hatten, weil man sie als widerspenstige Konskribierte verfolgte, zu erspähen und den französischen Metzgerknechten auszuliefern. Jetzt schrieb ich noch gehorsamere, noch eilfertigere Briefe, um alte Deutsche mit pedantischen Herzen, die immer noch Liebe und Bewunderung für Napoleon zeigten, als Verräter festzuhalten und deutschen Metzgerhunden zur Bewachung zu übergeben. Einmal fing man einen solchen Spion, und ich mußte ihn auf Befehl meiner Vorgesetzten zwingen, sich bis auf das Hemd auszukleiden, im nachzusehen, ob er sich nicht die drei Farben tätowirt hätte. Ich fand nichts, sah, daß alles gut war und Deutschland wirklich frei. Darauf bekam ich meinen Abschied, und das war auch gut. Ich trieb Privatpatriotismus und gab eine Zeitschrift heraus: Die Wage. Ach Himmel! An Gewichten fehlte es mir nicht, aber ich hatte nichts zu wiegen. Das Volk auf dem Markte tat nichts und machte keine Geschäfte, und das Völkchen in den höhern Räumen handelte mit Luft und Wind und andern imponderablen Stoffen. Ich war in sehr großer Verlegenheit. Das Journal war angekündigt, der Druck hatte schon begonnen, die Abonnementsgelder waren schon ein- und ausgezogen, und ich wußte noch nicht, wie ich mein Versprechen erfüllen und das Versprochene voll machen sollte. Da riet mir ein Freiwilliger Jäger, der sein Leben liebgewonnen und, um es fortzusetzen, Komödiant geworden war, ich solle über das Theater schreiben. Der Rat war gut, und ich befolgte ihn. Ich setzte die wohlweise Perücke auf und sprach Recht in den wichtigsten und hitzigsten Streithändeln der deutschen Bürger – in Komödiensachen. Wie ein Geschworener urteilte ich nach Gefühl und Gewissen; um die Gesetze bekümmerte ich [206] mich, ja ich kannte sie gar nicht. Was Aristoteles, Lessing, Schlegel, Tieck, Müllner und andere der dramatischen Kunst befohlen oder verboten, war mir ganz fremd. Ich war ein Naturkritiker in dem Sinne, wie man einen Bauer vor zwanzig Jahren – ich glaube, er hieß Maus –, der Gedichte machte, einen Naturdichter genannt hatte. Die Katze Kritik ging damals sehr schonend um mit jener Maus, zog ihre Krallen ein und liebkoste sie. Eine gleiche Nachsicht fand ich auch, wahrscheinlich aus gleichem Grunde: weil man eine gewisse bäuerliche Natürlichkeit an mir bemerkt. Die Menschen sind gar nicht so schlimm, als man gewöhnlich glaubt. Sie lassen jedem gern seine Meinung, häßlich oder schön, wenn er nur fest darinsteckt wie in seiner Haut; versteckt man sich aber hinter einer Meinung, dann ziehen die Leute mißtrauisch den Vorhang weg, um zu sehen, wer dahinter ist. Meine Kritiken fanden vielen Beifall, sogar Kotzebue lobte mich. Wie wütend war ich über Sand, als er mir meinen lieben guten Kotzebue umgebracht, der mich gelobt hatte. Es war Hamlet, der Polonius erstach, Rattengift – dummes Volk!

So sind diese dramaturgischen Blätter entstanden, die ich jetzt, gesammelt und vermehrt, den Lesern vorlege. Möchten sie größere Freude daran haben, als ich selbst dabei gefunden. Ich beklage verlorne Zeit und fruchtlose oder übel verwendete Mühe. Der Kritiker befördert so wenig die schöne Kunst, als der Scharfrichter die Tugend befördert. Beide schrecken nur von Vergehungen ab, beide bestrafen sie nur. Ich fange an zu glauben, daß die armen Bühnendichter doch recht haben mögen, wenn sie ihre Rezensenten Freudestörer schelten. Wir sind wirklich garstige Raupen, die Blatt nach Blatt abfressen, bis vom Buche nichts mehr übrigbleibt als der Deckel und die Rechnung des Buchhändlers. Ehe die Schlange Kritik mich verführte, war ich unschuldig wie der Mensch im Paradiese; [207] ich konnte über einen Ifflandschen Hofrat, wenn er tugendhaft war, weinen wie ein Bürgermädchen, und über Bären und närrische Pudeln gleich einem Wiener lachen. Da aß ich vom Baume der Erkenntnis, lernte Gutes vom Bösen unterscheiden, und meine Zufriedenheit war hin. Da kam ich mit einem Vergrößerungsglase in das Schauspielhaus und entdeckte häßliche Flecken und Unebenheiten, wo ich früher alles schön und glatt gefunden. Da fing ich die armen Leute zu plagen an, und mich am meisten.


– Ein Kerl, der kritisiert,
Ist wie ein Tier auf dürrer Heide,
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
Und ringsumher liegt schöne grüne Weide.

Es ist wahr, ich hatte bei meinem dramaturgischen Bestreben eine schönere und bessere Absicht als die, einen armen Dichter zu kränken, den die Natur schon genug gekränkt hatte, und seine armen Bewunderer zu verspotten. Aber ich blieb immer ein Tor, zu hoffen, das Feiertägliche werde wirken, wo das Wochentägliche nicht gewirkt, und zu vergessen, daß es Lehren gibt, die, wenn nötig geworden, fruchtlos sind. Ich sah im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens, und wenn mir das Bild nicht gefiel, schlug ich, und wenn es mich anwiderte, zerschlug ich den Spiegel. Kindischer Zorn! In den Scherben sah ich das Bild hundertmal. Ich war bald dahintergekommen, daß die Deutschen kein Theater haben, und einen Tag später, daß sie keines haben können. Das erstere war mir gleichgültig – man kann ein sehr edles, ein sehr glückliches Volk sein ohne gutes Schauspiel – aber das andere betrübte mich. Dieser Schmerz gab meinen Beurteilungen eine Leidenschaftlichkeit, die man mir zum Vorwurfe gemacht, weil man sie mißverstanden. »Sie sind zu scharf« sagten mir oft Freunde, weil sie dachten, ich hätte es auf einen Dichter, einen Schauspieler abgesehen. Guter [208] Gott! Wäre der Dichter oder der Schauspieler mein Sohn gewesen, ich hätte ganz so von ihm gesprochen wie von dem Fremden, so wenig dachte ich daran, einem wehe zu tun. Es war oft komisch, wenn junge Leute, die Respekt vor mir hatten, im Theater oder nach demselben auf meine Worte horchten, was ich urteilte von dem neuen Stücke, ob ich es für gut oder schlecht erklärte. Wahrhaftig, ich hatte beim zweiten Akte den ersten, wenn der Vorhang fiel, alles vergessen, und ich erinnerte mich gar nicht, ob das Stück gut oder schlecht war. Aber am folgenden Tage kam immer etwas, das mich daran erinnerte: das Stück mußte schlecht gewesen sein, und da setzte ich mich hin und beurteilte es und tadelte die Zeitung des Morgens im Komödienzettel des Abends, die Natur in der Kunst. Ich schlug den Sack und meinte den Esel. Das französische Schauspiel, das klassische zumal, ist mir weit mehr zuwider als das deutsche; aber nur, wenn ich es lese, nicht, wenn ich im Lande es darstellen sehe. Dann gewahre ich bald, daß die Gebrechen des französischen Dramas die der Franzosen, die ihrer Nationalität sind; die Gebrechen des deutschen Dramas aber zeugen von der Unnationalität der Deutschen, und das ist zum Verzweifeln, das ist keine bloße Komödie. Ein Volk, das nur der Pferch zum Volke macht, das, außer demselben, den Wolf fürchtet und den Hund verehrt und, wenn ein Gewitter kommt, die Köpfe zusammensteckt und geduldig über sich herdonnern läßt; ein Volk, das beim Jahresschlusse der Geschichte gar nicht mitgerechnet wird, ja, das sich selbst nicht zählt, wo es selbst die Rechnung macht, – ein solches Volk mag recht gut, recht wollig, ganz brauchbar für das Haus sein; aber es wird kein Drama haben, es wird in jedem fremden Drama nur der Chor sein, der weise Betrachtungen anstellt, es wird nie selbst ein Held sein.

Alle unsere dramatischen Dichter, die schlechten, die guten [209] und die besten, haben das Nationelle der Un-Nationalität, den Charakter der Charakterlosigkeit. Unser stilles, bescheidenes, verschämtes Wesen, unsere Tugend hinter dem Ofen und unsere Scheinschlechtigkeit im öffentlichen Leben, unsere bürgerliche Unmündigkeit und unser großes Maul am Schreibtische – alles dieses vereint, steht der Entwicklung der dramatischen Kunst mächtig im Wege. Reden heißt uns handeln und schweigen groß handeln. Die Skulptur kam in der christlichen Zeit durch die Entwöhnung, nackte Gestalten zu sehen, herunter, und die Ungewohnheit, nackte Charaktere zu sehen, läßt die dramatische Kunst in Deutschland nicht aufkommen. Zwar versetzt sich der Deutsche leicht in jedes neue Verhältnis, in jede fremde Empfindung; aber diese Leichtigkeit wird durch die andere, sichaus jeder Lage zu versetzen, wieder zunichte gemacht. Der Deutsche reflektiert über alles, sieht alles aus der Vogelperspektive und ist darum nie in der Mitte der Sache. So ist er erhaben über den Scherz, handhabt ihn und ist nie scherzhaft. Den Punkt, den sich Archimedes wünschte, hat er gefunden, und er sollte wünschen, daß er ihn verlöre. Und tritt der Deutsche in ein fremdes Verhältnis ein, dann geschieht es als Gast, er ist bescheiden und verlegen und tut nicht wie zu Hause darin. Der Deutsche hat alles und ist nichts, und die dramatischen Charaktere seiner Schauspiele haben darum nur, was sie sein sollten. Im Lustspiele, wenn ja einmal die Dummheit aufhört und der Witz erscheint, sehen wir den Geist, aber nicht den Charakter des Witzes; wir sehen witzige Geister, aber keine witzige Charaktere. Die Personenhaben Witz und sind nicht witzig. Bezeichnend für diese Gattung der Fehlerhaftigkeit ist Raupach, ein Mann von Geist, Geschmack und schöner Darstellung. Alle seine komischen Personen machen sich über sich selbst lustig, greifen dadurch in das Recht des Zuschauers ein und rauben diesem alle Lust. Sein Eifersüchtiger [210] in »Laßt die Toten ruhen«, sein Shakespeares-Narr in »Kritik und Antikritik«, persiflieren ihren eigenen Charakter; der eine verspottet die Eifersucht, der andere die Shakespeare-Manie. Sie tragen die Maske ihres Charakters, verstellen ihre Stimme, sind aber nicht, was sie scheinen. Ich habe, soviel ich mich erinnere, in den Kritiken dieser Sammlung noch andere Bemerkungen über die Unbedeutendheit des deutschen Lustspiels und die Schuld daran gemacht, und ich will hier darauf hinweisen.

Hat das Lustspiel keine Lust, ist das Trauerspiel dafür um so trauriger. Man braucht ein doppeltes Maß von Tränen, eines für die Leidenden im Gedichte, ein anderes für den leidenden Dichter selbst. Der arme Tragödist, ein geplagter Schulmeister, auf dessen Bänken naseweise Könige und wilde Völker sitzen, und der die Rute gebrauchen soll für beide, bekommt sie öfter, als er sie austeilt. Er ist furchtsam, versteckt sich hinter die Tugend, sagt, nicht er gebiete, sondern sie, nicht er sei streng, sondern sie, und man möge ihm nichts übeldeuten. Im Hause haben wir Mut, der Deutsche hält etwas auf sein Hausrecht; da sind wir imstande, wie der Geiger Miller in »Kabale und Liebe«, sogar einem Präsidenten mit dem Hinauswerfen zu drohen. Aber vor der Türe, wo die Polizei beginnt, wenn die Dekoration einen Palast, eine Straße, einen Markt vorstellt, da sind wir ängstlich und blöde, sehnen uns nach der warmen Stube, nach den gemütlichen Pantoffeln zurück; und dichten wir Tragödien in dieser weinerlichen Stimmung, wird ein lyrisches Gedudel, ein Papa Tell, ein empfindsamer Tiroler, ein operlicher Belisar daraus. Im Leben und im Drama kommt es darauf an, recht zu behalten; dem ehrlichen Deutschen aber liegt daran, recht zuhaben, und darum haben seine Helden alle recht und die Geschlagenen immer unrecht. Unser Hausherz, unsere Provinzialempfindung verdirbt die [211] Kunst. Dem tragischen Dichter ergeht es wie dem Schweizersoldaten. Er steht mitten im tragischen Schrecken, der Sturm der Schlacht tobt wild, Waffen klirren, Wunden ächzen, das Leben steigt im Preise, der Tod wird wohlfeil, der Augenblick gebietet, der Mut über den Augenblick, die Flamme der Begeisterung erwärmt selbst den kalten Feigling, der Held kämpft wie ein Löwe – da, horch! – da summt einer den Kuhreigen; der Held steht stille, es wird ihm schwabbelig, seine Augen tröpfeln, er läßt den Arm sinken, wirft das Schwert hin, desertiert, vergißt Ehre, Pflicht, Ruhm, alles, läuft in die Heimat zurück, setzt sich hinter den Ofen und weint unaufhörlich. Da sitzt der Held, statt zu streiten, wann im Herzen des Dichters – warm, weil er sich warm gelaufen; denn was ist ein deutsches Herz? – eine gefrorene Schweiz, nichts mehr.

Den armen Rest nimmt eine schamlose Zensur hinweg. War nicht Grillparzers jungfräuliche Muse schön und hold? Nun seht, seht! Man hat sie der ehrlosesten Mißhandlung preisgegeben, in der Wachtstube der Polizei wurde sie geschmäht und geschändet, und jetzt schleicht sie bleich und mit verweinten Augen umher, daß einem das Herz vor Mitleid springen möchte. Sagt nicht: »So schlimm ist es nicht überall!« – doch, doch, so schlimm ist es überall. Nicht die Zensur, die das Drucken verbietet, die andere ist die verderblichste, die uns am Schreiben hindert; und das tut sie im ganzen Lande. Wir werden zensiert geboren, unsere Ammenmilch ist zensiert. Ein Deutscher könnte fünfzig Jahre Großinquisitor sein, und er würde das freie Denken nicht verlernen; aber setzt ihn auf eine menschenleere Insel, wo er sein eigener König ist, und er schreibt nicht frei. Er würde immer fürchten, irgendein Schwachkopf auf einer der Inseln im Stillen Ozean könnte sich an eines seiner harten Worte stoßen und würde sie darum alle mit weichem Wulste umgeben. [212] Wir sind so sehr gewöhnt, vorsichtig zu sein, daß uns die Vorsicht zu tierischem Instinkte geworden und wir sie gar nicht mehr brauchen. Dem Deutschen ist ganz unbekannt, wieviel der Mensch an Wahrheit, Grobheit und Satire, ohne zu sterben, ertragen kann. Er weiß noch weniger, daß der Mensch gar nicht daran stirbt, sondern vielmehr stärker und gesünder davon wird. Selbst verwöhnt und verzärtelt, verwöhnt und verzärtelt er auch die Kinder seines Geistes. Er windelt sie gegen die Luft bis zum Halse ein, und sie liegen da wie die ägyptischen Mumien, regungslos und bedeckt mit Hieroglyphen. Darum ist auch kein Leben, darum herrscht auch das Fratzige und Rätselhafte in allen dramatischen Gedichten. Der Dichter will nicht gedeutet sein, er nimmt seine Urbilder nicht aus der Wirklichkeit. Sie verspotten die Torheiten des vorigen Jahrhunderts, züchtigen die Verbrechen des vorigen Jahrtausends, und wenn nicht ein Bräutigam aus Mexiko oder ein Vetter aus Lissabon kommt, wissen sie nichts Neues aufzutreiben. Sie kennen die Natur und kennen den Menschen nicht. Eine Laune machen sie zur Leidenschaft, den Rausch der Leidenschaft zur perennierenden Empfindung, Empfindungen zu Gedanken, und unfruchtbare Gedanken lassen sie Handlungen gebären. Unmögliche, mißgestaltete Ungeheuer von Geschichten lassen sie geschehen, und sie vergessen, daß, wenn im Leben auch das Unwahrscheinlichste zuweilen wirklich wird, es doch auf der Bühne nie geschehen darf. Und gelingt es ja einmal einem dramatischen Dichter, das wirkliche, gelebte Leben schön und wahr darzustellen, leugnet er es ab, opfert seinen Künstlerruhm seiner Ruhe auf und sagt:


Bemüht euch nicht, im Buche der Geschichte
Der Quelle meines Liedes nachzuspüren;
Die Wirklichkeit taugt selten zum Gedichte.

Es sei alles erfunden, alles gelogen, er habe an nichts dabei [213] gedacht, das Stofflose sei der echte Stoff für ein Drama, und an nichts zu denken, das sei die rechte Art, eine Tragödie zu schreiben! denn


Was niemals war, das ist zu allen Zeiten.


Mit dem französischen Drama hat die Kritik freilich auch ihre große Not und Langeweile; aber der Zuschauer nie. Ist es kein Trauerspiel, ist es kein Lustspiel, so ist es doch wenigstens eine Zeitung von den Ereignissen des Tages, an denen jeder teilnimmt. Man weint oder lacht, pfeift oder klatscht, man macht Lärm und hat seine Freude daran. Wenn aber dem deutschen Drama der Kunstwert mangelt, mangelt ihm alles. Nur der einzige Kotzebue hat den Verstand gehabt, seinen Schauspielen, die sich alle gleichen, wenigstens den Kalendernamen des Tages zu geben, und er hat damit gewirkt. Es ist ganz zum Verzweifeln, daß der Deutsche mit der Temperatur der Jahreszeiten nie im Einklange steht. Im Winter geht seine Seele nackt, im Sommer trägt sie einen Pelz. Im Kriege ist er politisch und spricht nicht von Politik, während dem Frieden teilt er die Welt aus. Er schreibt Bücher über den Haushalt der Athener; um den Haushalt der Österreicher, welchen er sein Geld anvertraut, bekümmert er sich nicht. Eine Berliner Akademie hält am Geburtstage des großen Friederichs eine Vorlesung über die Infinitesimalrechnung, und es wäre doch wahrhaftig zeitgemäßer, wohltätiger und patriotischer, zur Feier eines solchen Tages eine Vorlesung über den deutschen Fürstenbund zu halten. Engländer und Franzosen walzen mit der Zeit, der Deutsche tanzt einen Menuett mit ihr. Sie sind sich immer entgegen, der Chapeau steht oben, die Dame unten; sie entfernen sich voneinander und sehen sich dabei schief an, und wenn sie sich begegnen, reichen sie sich die Hände, aber mehr zum Adieu als zum Willkommen. Will ja einmal ein Deutscher der Zeit die Hand küssen, [214] benimmt er sich so ungeschickt dabei, daß alle Welt lachen muß. Einer Tat die Farbe der Empfindung geben, das vermögen sie nicht. Dem Zechbruder Lessing errichten sie ein Spital, und für den heiligen Bonifazius in Fuld werden sie wahrscheinlich ein Schauspielhaus bauen. Luther zum Andenken – Luther und ein Andenken! Es kommt noch dazu, daß sie dem lieben Gott eines setzen – wollten sie vor mehreren Jahren in Eisleben eine Art Findelhaus gründen, und Goethe sollte in seiner Vaterstadt einen Tempel der Vesta haben; er war schon in Kupfer gestochen. Können die dramatischen Dichter besser sein? Und wären sie es, und spielten sie aus dem Tone der Zeit, es würde nichts helfen. In Tirol ist ImmermannsTrauerspiel von Tirol, wie uns Heine erzählt, selbst zum Lesen verboten. Ist ganz recht; die Tiroler könnten das Jodeln darüber verlernen, und die guten Wiener hätten ein Vergnügen weniger. Kein Schauspieldirektor denkt daran, unter den Tausenden von Studien eines zu wählen, das für den Tag paßt. Doch ja, in den ersten Wintertagen spielen sie überall den Graf Benjowsky, weil eine Schneedekoration darin vorkommt. Das ist aber auch die ganze Huldigung, die man dem Geiste der Zeit bringt. Das Volk ist nicht besser. Denkt denn einer bei Raupachs Rafaele an die Griechen? Neulich war ich ein Narr. Ich sah LessingsMinna von Barnhelm aufführen. Darin sagt der Wachtmeister Werner: »Unsere Vorfahren zogen fleißig wider den Türken, und das sollten wir noch tun, wenn wir ehrliche Kerls und gute Christen wären.« Varna war gerade an die Russen übergegangen, und ich dachte: Jetzt geht der Lärm los! ... O, mein Gott! kein Goldfingerchen hat sich gerührt. Ja es war stiller als vorher; es schien, als hätte der Atem des ganzen Hauses gefürchtet, irgendeine Teilnahme zu verraten. Dieses geschah freilich in Hannover; aber Hannover ist nur der Titel des Landes; ganz [215] Deutschland ist hannövrisch. Der Teufel mag Komödien schreiben für solche Menschen!

Ich wollte, daß ich auch sagen könnte: wer mag vor solchen Menschen spielen! Aber, warum nicht gut spielen? Das Drama sei, wie es wolle, der Zuschauer sei, wie er wolle, gut spielen ist immer möglich und wird immer empfunden und mit Dank aufgenommen. Vielleicht kann man den niederen Stand der deutschen Schauspielkunst erklären, aber zu entschuldigen ist er gewiß nicht. Und wenn man die zwanzig guten Schauspieler und Schauspielerinnen, die Deutschland vielleicht hat, versammelte und sie auf einer Bühne, im nämlichen Stücke, auftreten ließe, es würde doch nicht gut gespielt werden. Jeder bekümmert sich nur um seine Rolle, keiner um das Ganze, keiner um die Rolle des Mitspielenden. Warum sind die Orchester gewöhnlich gut, obzwar deren Mitglieder gewiß nicht alle Künstler sind, die fühlen und verstehen, was sie vortragen? Es kommt daher, weil sie in Ordnung gehalten werden, weil sie aus einem Takte, einem Tone spielen. Könnte man die Schauspieler nicht auf gleiche Weise leiten? Könnte man ihnen nicht Ton, Takt, Temperatur vorschreiben? Könnte nicht der Regisseur hinter den Kulissen mit einem Stäbchen kommandieren und das Zeichen geben, wenn geschrien oder gelispelt, langsam oder geschwind gesprochen, wenn der Kopf hängen oder sich gerade halten, der rechte oder der linke Arm sich bewegen soll? Die Schauspieler verstehen gewöhnlich das Stück und ihre Rolle nicht. Gebt ihnen Shakespeares Hamlet, und sie machen aus Hamlet einen Helden, aus dem Könige einen Schuft, aus Polonius einen Einfaltspinsel und Ophelia zur Schwärmerin. Man sollte bei jedem Theater einen Dramaturgen anstellen, der jedes neue Stück und die einzelnen Rollen darin den Schauspielern kritisch erläuterte. Die Bessern unter ihnen würden dadurch belehrt und ausgebildet, und bei denen [216] von minderer Fassungskraft wenigstens das gewonnen werden, daß sie den Bau und Zusammenhang des neuen Stücks, daß sie es räumlich kennen lernten. Das wäre schon Vorteil genug. Man hat mir von Schauspielern erzählt, die schon zwanzig Jahre in einem Stücke aufgetreten sind, ohne dessen Ausgang zu kennen, weil sie lange vor demselben abzutreten haben und sie immer, die Zeit nicht zu verlieren, gleich in das Weinhaus gingen ... Warum keine Theaterschule? ... Doch das würde uns hier zu weit ablenken.

Ich habe auch einige Bemerkungen über schauspielerische Darstellungen – jedoch ohne Namen zu wiederholen – aus alten Blättern in diese Sammlung aufgenommen. Es geschah der Buße wegen; denn wahrlich, wenn ich an meine ehemaligen Beurteilungen der Schauspieler mich erinnere, möchte ich Asche auf mein Haupt streuen und meine Kleider zerreißen. Ich habe jenen guten Menschen sehr wehe getan. Die Beurteilungen bezogen sich alle auf die Bühne meines Wohnorts. Ich war damals noch fremd in der Theaterwelt, sah, daß schlecht gespielt wurde, und dachte, das wäre unserer Bühne eigentümlich. Das Repertoire fand ich erbärmlich, und ich wähnte, das sei allein bei uns so. Als ich aber auch andere Bühnen kennen gelernt, erfuhr ich, daß es nirgends besser sei, ja an vielen Orten noch schlechter als bei uns. Ich bitte darum die Herren und Damen, welchen ich einst zu nahegetreten, herzlich um Verzeihung. Mein Urteil war eine Art Kriegsgericht, es war ein Dezimieren; sie bekamen die bösen Würfel, aber hundert andere waren schuldiger als sie.

Mit gutem Vorbedachte habe ich an die Spitze meiner gesammelten Schriften diese dramaturgischen Blätter gestellt, sie sind ihre Furiere, sie sollen ihnen Quartier machen. O! Ich sehe es schon im Geiste: man wird an das Fenster laufen, wenn ich vorübergehe, man wird vielleicht an manchem Orte mir die Pferde ausspannen. Was kann [217] man Schöneres, was kann man Glorreicheres tun als über Theater sprechen und schreiben? Wenn der Knabe die Schule verläßt, spricht und schreibt er von Leistungen unserer Schauspieler; dann bekommt er die Toga, und der deutsche Bürger ist fertig. Der Messager des Chambres, das Blatt der französischen Regierung, hat am Schlusse dieses Jahres in seiner Übersicht der europäischen Politik unseres Vaterlandes nicht mit einem Worte erwähnt. In diesem Jahre soll das anders werden! Man wird von uns berichten: »In Deutschland sind im verflossenen Jahre zwei neue Bände Theaterkritiken erschienen, und viele Dienstjubilate sind gefeiert worden.« Vorigen Sommer im Bade, als mich mein Barbier zum ersten Male unter seinem Messer hatte, brachte mir der Kellner einen Brief; jener schielte nach der Adresse, und gleich fühlte ich das Blut an meinem Gesichte herabrieseln. »Gott, Gott!« – sprach der Mensch – »Sie haben den schönen Aufsatz von der Sontag geschrieben? Wir haben uns bald buckelig darüber gelacht.« Vor Überraschung und aus reiner Hochachtung hatte er mir einen Schnitt gegeben. Wäre ich gar der Vater der großen Sontag gewesen und die Adresse hätte es ihm entdeckt, ich lebte nicht mehr, er hätte mir aus Ehrfurcht den Hals abgeschnitten. Geht nun, geht! Ergötzt die Barbierer und die Barbierten und macht mir Ruhm!


Hannover, im Januar 1829.

[218][219][235]

Die Ahnfrau
Trauerspiel von Grillparzer

O Dank, Dank diesen freundlich grünen Bäumen,

Die meines Kerkers Mauern mir verstecken!

Ich will mich frei und glücklich träumen.

Warum aus meinem süßen Wahn mich wecken?


Diese Worte der Königin Maria, könnte man sie nicht dem Dichter zuwenden, der von den Mauern, zwischen welchen der menschliche Wille gefangen sitzt, alle Blüten und Täuschungen wegzieht, die sie verhängen, und dem erschrocknen Blicke die steile, kalte Notwendigkeit zur Anschauung gibt? Warum aus unserm süßen Wahn uns wecken? – Sooft das Schicksal mit der zermalmenden Keule als Sieger die Bühne verläßt, so oft ist auch die dramatische Kunst von ihrer Bestimmung abgewichen, und der Tempel der Freude hat sich in einen Tempel des Gottesdienstes umgewandelt. Dort mag es frommen, daß der Mensch, der in seinem Übermute sich ungebunden wähnt, die ewige Weltordnung, die ihn unauflöslich kettet, verehren lerne. Dort mag es gut sein, daß dem vom Gefühle der Vergänglichkeit gepreßten Herzen der allgemeine Blutlauf der Dinge, dem es folgen muß, aufgezeigt und ihm für den Verlust seiner Freiheit die Unsterblichkeit geboten werde. Aber wo der Mensch sich menschlich freuen soll, da muß er wie ein Vogel hoch in den Lüften schweben, die unter seinen Füßen liegende schmutzige Notwendigkeit aus den Augen verlieren und es zu vergessen suchen, daß sie ihn endlich dennoch anziehen werde. Daß die Tragödiendichter der alten und der neuen Zeit dies so oft nicht beachtet und den Menschen als Sklaven des Geschickes dargestellt hatten, eben daraus wird kund, wie der gottesdienstliche Ursprung [235] der dramatischen Kunst in ihren Werken sich herabgeerbt habe, und dann, daß solche Schicksalstragödien dennoch eine Art schmerzlicher Lust gewähren, zeigt uns, wie es gleichviel sei, ob eine rauhe oder eine sanfte Hand die Saiten des Herzens berühre – nur daß sie bewegt werden und tönen. Wird nun zwar verstattet, daß der Dichter den Menschen der Macht des Schicksals unterwerfe, so darf dies doch nur in einem Kampfe der sittlichen Freiheit gegen die sittliche Notwendigkeit, nicht in einem Widerstreite jener gegen die Notwendigkeit der Naturgesetze dargestellt werden. Es mag die eigne Lust in der allgemeinen Seligkeit untergehen, nie aber darf das besondere Leben dem gemeinschaftlichen Tode hingeopfert werden. Dies ist in der Ahnfrau geschehen, und das ist ihre Fehlerhaftigkeit.

Wenn ein Mensch, unzufrieden mit der Mitgift des Glückes, die ihm zuteil geworden, sich die Freuden anderer räuberisch anmaßt und das waltende Geschick endlichen Freiheit der Gemeinschaft aufgeopfert wird. Wo bestraft, dann zeigt sich hier die Regel der Weltordnung, nach welcher die sittliche Freiheit des einzelnen der sittlichen Freiheit der Gemeinschaft aufgeopfert wird. Wo aber der Enkel die Schulden seiner Voreltern bezahlen und für ihre Sünden büßen soll, wo die Nachkommen als leibeigne Glieder des Familienhauptes, dessen Bewegung sie folgen, angesehen werden; wo das verbrecherische Blut der Ahnen durch die ganze Reihe der Geschlechter fließt und sie versauert, bis endlich die Ader durchgefressen ist und die Schuld, die Buße und das Leben in einem großen Morde ausströmen; – wenn dem Schicksalskampfe ein solcher Ausgang gegeben wird, wie in der Ahnfrau es geschehen, da hat der Dichter nicht die gerechte Vorsehung, sondern die blinde Naturkraft siegen lassen, und dieser Streit zwischen sittlicher Freiheit und massiver Notwendigkeit, als zwischen ungleichen [236] Waffen, ist gemein und unkünstlerischen Stoffes. Wenn zwischen Aufgang und Untergang, zwischen Quelle und Ausfluß sich eine lange Zeit oder ein breiter Strom gelagert und wir mit unsern schwachen Sinnen das feine Gespinst, das Ursache und Wirkung aneinanderbindet, übersehen, dann schreckt uns endlich am Ziele die täglich, aber leise waltende Regel als Schicksal mit Donnerworten auf. Die Griechen verehrten und fürchteten das Fatum als eine tückische und rächende Macht, welche die Freuden der Menschen zerstöre und ihre Schwäche schonungslos bestrafe. Aber der Christ erkennt nur eine Allmacht voll Güte und versöhnlicher Liebe. Nicht weil die christliche Glaubenslehre die Verehrung eines blinden Geschickes verbietet (es gibt keinen Zwang für das Gemüt), sondern weil der Glaube der Christen ins Gefühl und Leben aufgenommen, kann das Fatum im Sinne der Alten nicht auf unsre Bühne gebracht werden. Wenn noch überdies, wie in der Ahnfrau, dieses so geschieht, daß eine abgeschmackte Puppe die Triebfeder des Ganzen wird, dann ist nicht allein das wahre Ziel der Tragödie, sondern auch der Weg zum gewählten falschen Ziele verfehlt.

Was Grillparzer in der Vorrede zu diesem Trauerspiele in der Absicht sagte, um sich gegen empfangene Beschuldigungen zu verteidigen, klagt ihn nur noch lauter an. »Der verstärkte Antrieb zum Bösen, der in dem angeerbten Blute liegen kann, hebt die Willensfreiheit und die moralische Zurechnung nicht auf.« Allein wenn dieses ist, dann hätte die Tugend, nicht das böse Geschick, als siegreich dargestellt werden sollen. Freiheit ist nur vor einer Tat; sobald sie geschehen, war sie notwendig. Eine verwirrende und trügerische Ansicht herrscht im Leben wie in der Kunst der Neuern. Die Bühne der Griechen war eine Schule der Weisheit: dort ward ihnen die Übermacht des Geschickes bekannt, sie traten erschüttert, aber[237] nicht mit zerrissenen Gefühlen ins Leben zurück, und sie lernten mit dem ihnen gewordenen Teile der Freiheit sich begnügen. Die Bühne der Christen ist eine Schule der Torheit: die Tugend soll siegen und das Laster siegt. Ist der Wille frei und stark, warum unterliegt er? ist er schwach, warum wird die Schwäche als Sünde angerechnet? ... Leidenschaften? ... Ob wir diesen, ob wir unserem bösen Geschicke unterlagen, es war der nämliche Kampf – das Schicksal hat uns besiegt. Sobald ein Mensch mit sich selbst zerfällt, sobald es ihm an Kraft gebricht, eine Leidenschaft zu bekämpfen oder zu befriedigen, ist dieser sein feindlicher Teil zur Außenwelt übergetreten, hat sich mit der großen Notwendigkeit verbündet und führt so den Krieg gegen den schwachen Überrest der Selbständigkeit.

Das Gespenst, welches Grillparzer auf die Bühne gebracht, welchen dramatischen Zweck wollte er damit erreichen? Sollte das übermächtige Einwirken irgendeines geistigen Daseins hierdurch fühlbar gemacht werden, wozu diese sinnliche Einkleidung, worüber Kinder erschrecken und Erwachsene lachen? Sollte das Fieberbild einer erkrankten Einbildungskraft, vom Aberglauben vorgegaukelt, dargestellt werden, dann hätte eben, um den Ursprung solcher Erscheinungen zu erklären, das Gespenst nicht den Blicken des kalten Zuschauers sichtbar gemacht, sondern nur durch Worte und Gebärden des geängstigten Geistersehers verraten werden dürfen, welche Erscheinung ihm vorschwebe. – –

Vorgehende, gegen die Tragödie gerichtete Bemerkungen sollten nur andeuten, welche Verwirrung in der Ansicht der dramatischen Kunst der Neuern herrsche, nicht den herrlichen und geistreichen Dichter sollten sie treffen. Gäbe es nur eine größere Zahl solcher dramatischen Dichtungen, daß wir endlich der jämmerlichen Familiengeschichten ledig würden, die wie Wanzen sich in alle Ritzen [238] der Bühnenbretter eingenistet haben, gar nicht zu vertreiben sind und uns zur Verzweiflung bringen.

›Herr *** vom Leipziger Theater spielte als Gast den Jaromir und gab uns einen seltenen, ja seltenen Genuß. Das ist Kunst! ruft die aus dem Schlafe geweckte Erwartung verwundernd aus. Es gehört ein ungemeiner Reichtum künstlerischer Hilfen dazu, und es wird eine nicht geringe Kraft erfordert, um in dieser Rolle nicht unterzugehen. Dem Schauspieler wird durch die ganze Handlung nicht ein Augenblick der Ruhe vergönnt, mit gleich starker Leidenschaftlichkeit betritt und verläßt er die Bühne, und er findet keine Zeit, sich für die entscheidenden Momente zu sammeln. Den Kampf auf Tod und Leben seiner Gefühle gab uns Herr *** mit ergreifender Wahrheit. Dieses Feuer, diese unauslöschliche Glut der Leidenschaft mußte Jaromir fühlbar machen, um in dem Herzen des Zuhörers für seine Verbrechen Erbarmen zu finden. Der kalte, besonnene Bösewicht bliebe ein Gegenstand des Hasses und Ekels. Herr *** zeigte im Vortrage der oft gesangartigen Verse eine große Mannigfaltigkeit einschmeichelnder und stets angemessener Modulationen der Stimme. Sein Gebärdenspiel war manchmal zu reich. Nur die großen Bewegungen des Herzens müssen sich kundtun, doch darf nicht jeder Pulsschlag der Empfindung durch Zeichen sich kenntlich machen wollen.‹

[239][240][246]

Don Carlos
Trauerspiel von Schiller

Es könnte den Mut geben, die Fehler eines der Meisterstücke deutscher Dichtkunst offen zu besprechen, wenn [246] man wahrnimmt, welcher Anstrengung Schiller selbst, in seinen Briefen über Don Carlos, bedurfte, um nur einem Teile der diesem Werke gemachten Rügen sich entgegenzusetzen, und wie unentschieden sein Sieg gewesen sei. Doch an diesem bejahrten Denkmale der Kunst, seit lange allen sichtbar und zugänglich, hat das Urteil sich wohl schon längst erschöpft, und nur erneuerte, keine neue Bemerkungen lassen sich erwarten. Darum mag nur so viel berührt werden, als nötig ist, um vor der Ungerechtigkeit zu schützen, daß wir die Schwächen der Dichtung der Darstellung anrechnen.

Auch das herrlichste Gemälde, vor unsere Augen hingestellt, würde von seinem Eindrucke verlieren, hätten wir den Pinselstrichen beigewohnt, aus welchen es sich nach und nach zusammengestaltet hat. Die Werke göttlicher Schöpfungskraft entspringen leicht und froh aus dem Gedanken, und wo ein Kunstwerk die himmlische Natur, die es beseelt, uns zuspiegeln soll, da muß der irdische Fleiß, der es zu stande gebracht, unsichtbar bleiben. Der Landmann verkauft gleichgültig die Frucht, die er hat wachsen sehen, aber wir finden sie süß, weil uns der lange Weg von der Wurzel bis zur Krone des Baumes nicht ermüdet hat.

Wie die Pinselstriche zum vollendeten Gemälde, wie die Wurzel zur Frucht, so steht die Gesinnung des Menschen zu seiner Tat. Die Überlegung ist Wurzel, die Empfindung ist Blüte, die Handlung ist Frucht des menschlichen Geistes. Nur letztere soll in der Tragödie zum Vorschein kommen, geschmückt wohl mit den Blumenkränzen der Gefühle, aber der dunkle Keim, aus dem beide entsprossen, muß bedeckt bleiben. Die Lust des Schauspiels soll ein Erntefest sein, keine ermüdende Saatbeschäftigung. Erfüllt Don Carlos diese Forderung? Nein, er hält uns nur dafür schadlos. Nichts geschieht, wenig wird empfunden, am meisten wird gedacht. Es ist ein schönes vergoldetes [247] Lehrbuch über Seelenkunde und Staatskunst, vom Schulstaube gereinigt, uns in die Hände gegeben.

In diesem Menschengemälde ist kein vorherrschendes Bild. Drei Gruppen sind in gleich starkem Lichte in den Vordergrund gestellt: Philipp mit seinen Trabanten, die Königin und Carlos, Posa mit seinen Traumgestalten. Es ist ein Dreispiel, welches die Einheit der Teilnahme zerreißt; der Infant bewirbt sich um diese Teilnahme, der Marquis erhält sie, und nur der König hätte sie verdient; denn er ist der einzige, welcher weiß, was er will, und tut, was er will, und dessen schnell reifende Entschlüsse uns immer wach, von dem Schneckengange der Vorsätze nicht eingeschläfert finden.

Die Schauspieler sind es nicht, welche die Schuld der Ermüdung zu tragen haben, die ein vierstündiger Unterricht in Dingen der Weltweisheit, auf deutsche Art vorgetragen, den Lehrjahren entwachsenen Zuhörern verursachen muß. Welcher Schalk hat noch überdies diesen gegenwärtigen Don Carlos für unsere Bühne eingerichtet? An die Stelle des Domingo ist ein Staatssekretär Perez gesetzt. Wie ein Meteorstein ist er aus den Wolken gefallen, man weiß nicht, wie er entstand, woher seine Macht, sein Einfluß, das Vertrauen, das ihm der König gibt? Übrigens sind ihm viele Reden des Beichtvaters ganz ohne Sinn in den Mund gelegt. So sagt ihm der König nach der fürchterlichen Entdeckung, die seinem Argwohne zugetragen ward:


– – – – Redet offen
Mit mir. Was soll ich glauben, was beschließen?
Von Eurem Amte fordr' ich Wahrheit.

Wahrhaftig, der ärmste Schlucker von einem Kopisten würde in Spanien nicht Staatssekretär sein wollen, wenn es sein Amt erforderte, täglich mit Gefahr seines Kopfes einem Despoten die Wahrheit zu sagen. Wozu geschah die [248] Umänderung eines Beichtvaters in einen Staatssekretär? Hat man aus Schonung die düstere, schleichende, tückische Pfaffheit als gehässiges Bild nicht wollen erscheinen lassen? So war sie in Spanien nicht gewesen. Dort trat die geistliche Macht kühn und offen hervor und handelte mit klarer Willenskraft. Domingo ist nicht bloß der geschäftige Wind, das fliegende Insekt, welches den Blütenstaub von den männlichen zu den weiblichen Blumen trägt und so die Handlung befruchtet; sondern der kluge Diener der Inquisition, welcher die Seele der ganzen Staatslist war und sich auch dafür bekannte. Der Großinquisitor am Schlusse weiß allein das Rätsel zu lösen, und außer ihm keiner. Es wäre zu unserer Zeit sehr wohlgetan, die Dichtung in ihrer alten Form wieder auf die Bühne zu bringen, damit, was man am Morgen vor den Geschäften des Tages gedankenlos in der Zeitung liest: daß in Madrid die Inquisition sich wieder ausbreite, wirksamer am Abend im Schauspielhause als Schreckbild in die Seele dränge und sie mit Abscheu erfüllte. – –

Das Lob, das man dem Tacitus erteilt: er sei am tiefsten in die Seele eines Tyrannen eingedrungen, kann man Herrn *** in der Rolle des Philipp nicht versagen. Ihr erkennt ergrimmt einen jener Könige, die an der Vorsehung zweifeln machen, und ihr fragt den Himmel, warum ein Mensch, der nicht verdiente, die Sonne aufgehen zu sehen, sagen durfte, daß sie in seinem Reiche nicht untergehe? Herr *** hatte sein ganzes Spiel mit gleicher Mächtigkeit durchgeführt.Der böse Geist der schlaflosen Nächte, an welchen ein Tyrann leidet und leiden macht, war er malerisch getreu. Eines war mir in dessen meisterhafter Darstellung aufgefallen; nämlich daß er sich einen Fußschemel unterstellen ließ, sooft er sich setzte. Den majestätischen Philipp mußte dieses häusliche Bequemtun sehr entstellen, zumal wie es Herr *** zur Schau brachte, indem er gewöhnlich nur den einen Fuß [249] auf den Schemel stellte und den andern leicht hinabwiegen ließ. Darf ein Erdengott zeigen, daß er müde werden kann? –

Herr *** spielte den Alba lobenswert. Dieser Held ist kein Mordbrenner, wie er dem jugendlich-schwärmerischen Carlos und dem innern Auge menschenfreundlicher Geschichtsforscher erscheint, sondern ein großer, ruhiger, besonnener Mann, der aus Ehrgeiz, hätte es die Zeit und seine Pflicht erfordert, auch weich und tugendhaft gewesen wäre. So muß er gespielt werden.

[250][251][303]

Das Käthchen von Heilbronn
Von Heinrich v. Kleist

Fürwahr, es ist Mark darin und Geist und Schönheit. Von der dunkeln Tiefe des Gemüts bis hinauf zu jener heitern Höhe, auf welcher die Schöpfungskraft frei und besonnen waltet, führt uns ein lockender Weg, mit abwechselndem Reize, bald zwischen lieblichen Winden, blumigen Auen und besonnten Feldern, bald zwischen stürzenden Wetterbächen, erhabenen Wildnissen und Wäldern voll Sturm und Brausen. Gleich anmutig ist Wanderung und Ziel. Warum haben die tückischen Parzen dieses blühende Dichterhaupt so frühe in das Grab gebeugt?

Welch ein Unternehmen, so kühn als unbesonnen, den Schleier der Isis wegzuheben, hinter welchem der Tod lauscht! Nur Priestern frommt ein solcher Anblick, nicht der Menge, welcher mit der letzten Täuschung auch das letzte Glück entschwindet. Das wäre die so gepriesene Liebe, von Kindern angelallt, von Greisen angestottert, und das wäre ihr Band? Hätten wir's nie erfahren!

Graf Wetter von Strahl, reich, im Lande angesehen, edel-stolz, voll des Mutes und der Kraft seines jugendlichen Alters und jener alten Zeit, ein an Seele wie an Leib geharnischter Ritter – und Käthchen, Tochter eines Bürgers von Heilbronn, ein süßes wunderschönes Mädchen, werden, sie, die sich nie gesehen, von einer geheimnisvollen Macht einander im Traume angetraut. Dem todkrank darniederliegenden Grafen erscheint im Wahnsinne des Fiebers ein glänzender Cherub, führt ihn weit weg in die Kammer eines schönen Kindes und zeigt es ihm als die für ihn bestimmte Braut, sagend, es sei die Tochter des Kaisers. Dieselbe Nacht sieht Käthchen im gesunden[303] Traume (das gesunde Weib erhebt sich zum kranken Manne wie das wache zum schlafenden) einen schimmernden Ritter eintreten, der sie als seine Braut begrüßt. So sich angelobt, bringt später ein Zufall den Grafen in Käthchens Vaterhaus. Diese, ihn erblickend, erkennt allsogleich die Traumgestalt. Da stürzt plötzlich ihres Körpers und ihrer Seele Bau und eigene Haltung zusammen, sie fliegt ihrem Pole zu und bleibt ohne Willen und Bewegung an ihm hangen. Vergebens wird sie vom Ritter weggerissen, von diesem selbst mit Füßen zurückgestoßen, wie ein Tier, wie eine Sache behandelt, sie ist immer wieder da und folget ihm auf allen seinen Zügen. Wohl lernt er das Bürgermädchen lieben, aber werter bleibt ihm sein Ritteradel. Endlich bis in den Grund des Herzens gerührt, forscht er Käthchens Inneres aus, da sie einst im magnetischen Schlummer sich befand, wo die Seele, zwischen der Nacht der Erde und dem Tage des Himmels in der dämmernden Mitte schwebend, miteinem Blicke beide umfaßt, und da ward ihm kund, was er im Geräusche eines tatenvollen Lebens nicht früher erhorchen konnte, daß sie die Verheißene sei, die ihm im Traume gezeigt worden. Später tritt auch der Kaiser auf, gibt sich als Käthchens natürlicher Vater zu erkennen und diese, nachdem er sie zur Fürstin erhoben, dem Grafen zum Weibe.

Dieses Schauspiel ist ein Edelstein, nicht unwert an der Krone des britischen Dichterkönigs zu glänzen. Man braucht nur den herrlichen Monolog des Grafen, womit der zweite Akt beginnt, gelesen zu haben, um das Lob gerecht zu finden. Um so deutlicher fallen zwei Flecken in das Auge. Die wirkliche Erscheinung des Cherubs beim Sinken des brennenden Schlosses Thurneck konnte nicht unzeitiger geschehen. Die Seele, die so tief geneigt war, sich dem Anwehen einer verborgenen Geisterwelt, die im Traume sich offenbarte, gläubig hinzugeben, wird durch das sinnliche Wunder, das sich im Wachen ergibt, enttäuscht[304] und wendet sich, nüchtern gemacht, vom Unbegreiflichen kalt hinweg. Zweitens spielt das Fräulein Kunigunde, ohne Willen des Dichters, die Rolle der Närrin in diesem ernsten Schauspiele. Gibt es eine tollere Erfindung als dieses Fräulein, welches durch Schönheit und Liebreiz allen Rittern des Landes den Kopf verrückt und am Ende sich als eine garstige Hexe kundgibt, die mit falschen Zähnen, aufgelegter Schminke und einem schlankmachenden Blechhemde die Göttin Venus vorzulügen verstand?

Aber wie haben sie dieses Stück wieder zugerichtet, damit es in ihren Raum, ihre Zeit und ihre Umstände sich füge! Das ist ein ganz eignes Kapitel des Jammers. Wie wehe gar muß es dem Künstler selbst tun, der die schönsten Teile seines Gemäldes wegschneiden sieht, damit es nur in den engen Rahmen passe. Zuvörderst ist in der Femgerichtsszene vieles ganz unbedachtsam ausgelassen worden. Es ist wahr, daß einige Reden darin etwas lang sind, allein es durfte dennoch kein Wort fehlen, damit es klar und verständlich werde, wie durch einen arbeitsamen Trieb der Natur sich Faden an Faden gereiht, um das sympathetische Netz zu flechten, das zwei Herzen unzertrennlich machte. Zweitens hatte man unerklärt gelassen, auf welche Weise der Kaiser Käthchens Vater geworden sei. Das war wieder einmal aus jener entnervten Sittsamkeit geschehen, welche der Verführung heuchlerische, vermaledeite Kupplerin ist.

›Graf von Strahl, Herr ***. Beim Himmel, die Rolle ist schwer, und ich möchte den Schauspieler sehen, der sie trägt, leicht aber doch so, daß die Kraft nicht die Last verschlinge und man wahrnehme, wieviel er zu tragen habe. Vor dem Femgerichte: alle die mannigfaltigen Reden mit ihren Chamäleonsfarben, – Erzählungston, – Nachahmung fremder Stimme, – unbändige Kraft an die Schranke des Gesetzes pochend, – Verstellung der [305] Wahrheit und Wahrheit der Verstellung, – das Gefühl unter freiwilliges Joch gebeugt, – Trotz der Unschuld, – Spott, – dastehend mit recht fest zusammengeknäulter, nicht allseitig hinausflatternder Kraft; nicht sich brüstend, den Körper leicht tragend mit der Seele, wie das Schwert in einer starken Faust, – (es ist ein Unverstand vieler Schauspieler, daß sie wähnen, Helden müßten sich spreizen, gerade sie dürfen es am wenigsten; bei kräftigen Menschen lehnt sich der Körper leicht am Geiste an, aber bei Schwächlingen findet die matte Seele am stärkern Körper ihre Stütze; nur solche Gewaltsmenschen mögen sich spreizen, die keine andere Macht haben als die Meinung, die man hat von ihrer Macht, wie König Philipp in Don Carlos). – Der Dichter läßt den verliebten jungen Löwen Tränen vergießen; ich bitte, welcher Schauspieler (der unsrigen) versteht es, als Held zu weinen, ohne sich lächerlich zu machen? – Nun vor allen: die Beschwörungsszene, wo der Graf den Geist des schlummernden Käthchens aus dem Körper, seinem dunkeln Sarge, hervorruft und um das Geheimnis überirdischer Dinge befragt (das vorgeschriebene Auflegen der Arme um den Leib hätte strenger beobachtet werden müssen, hierin war die Macht des Zaubers). – – So seht, wieviel als Graf von Strahl zu tun war! – – – Käthchen: Demoiselle Lindner. Gewiß und wahrhaftig, das demütige, gottgefällige, wundersüße, heimgefallene Kind hätte wahrer, lieblicher und rührender nicht dargestellt werden können. Es war nur ihre Schuld, wenn man es vergaß, wie schwer die Schlafrednerin zu spielen sei. Das Insichhineinreden, wo der Mund zugleich Ohr und Lippe ist, der melodische Schmelz der Stimme in den Worten: »O Schelm.« – »Nein, nein, nein.« – »Bitte, bitte!« Man sah den himmlischen Wein der Liebe im goldenen Becher der Sinnlichkeit blinken. Wußte Dem. Lindner, was sie tat, dann zeigte sie sich als eine besonnene Künstlerin, [306] handelte sie nach dunkeln Trieben, auch gut, das Glück ist eine schöne Gabe. – – Herr *** spielte Käthchens Vater, den Waffenschmied Friedeborn. Er war aber nicht der derbe, begüterte Handwerksmann, der den Hammer von Eisen zu führen gewöhnt ist und wohl täglich seinen guten Humpen Wein trank; der keinen Teufel fürchtet und nur weich ist an der Stelle, wo er sein Goldkind liebt; er war – nichts oder was man will. – – Was ist das wieder für ein toller Einfall mit der Puppe gewesen, die man aufhockte und statt Kunigunden in die Köhlerhütte trug? Man hätte entweder die lebendige tragen, oder die ausgestopfte fortspielen lassen sollen; Einheit muß sein. –‹

[307]

[308] [307]Verlegenheit und List
Lustspiel von Kotzebue

Kotzebue ist ein Wucherer, der ein kleines Kapital durch große Zinsen verhundertfacht; ein guter Wirtschafter, der mit wenigem ausreicht; ein geschickter Frauenschneider, der das nämliche Kleid nach jeder wechselnden Mode umgestaltet. Er macht schneller ein Lustspiel als die Welt den Stoff dazu. Er ist leichter zu übertreffen als zu ersetzen. Was Verlegenheit und List darbietet, genießt man zum tausendsten Male mit ungeschwächter Lust. Eine Gasthausstube mit zwei Flügeltüren – ein Onkel – das Schicksal der Christen: die Polizei – ein Kammerdiener und eine Kammerjungfer – viel Liebe und wenig Geld – eine Heirat. Zwei Dinge sind mir in unsern Komödien unerklärlich. Erstens, daß die Hauptgeschichten in Wirtshäusern vorfallen. Ich bin viel gereist, habe aber in der Heimat immer mehr Abenteuer als im Gasthofe erlebt. Es ist natürlich, der Wechsel der Gasthäuser ist zu [307] groß, als daß sich zwei Fremde mehr als streifen können. Wie gelangt man dort gar zu einer Frau? Zweitens fällt mir auf, daß die bedeutendsten Herzens- und Familiengeheimnisse in Gegenwart der Bedienten besprochen werden. Ich kenne die große Welt wenig, die von liebender Beschaffenheit gar nicht; aber bei uns Bürgerlichen ist es nicht Sitte, daß Liebender und Geliebte im Beisein des Kammerdieners und der Kammerjungfer ihre Herzen ineinandergießen, während jene, gleich den Bildern im Spiegel, die rührendsten Gebärden nachäffen. Im gegenwärtigen Lustspiele geschieht es; ja, während der junge Baron seinem Onkel flehentlich zu Füßen liegt und um Vergebung seiner Schuld und Schulden bittet, ist die ganze Hausdienerschaft Zeuge der Rührung. Haben vielleicht die vornehmen Leute weniger Stolz und mehr Menschenliebe als die gemeinen, und behandeln sie ihre Diener wie ihresgleichen, oder sehen sie aus Hochmut die Bedienten als Zimmermöbel, als Gipsfiguren an, die man nicht zu beachten brauche?

[308][309][314]

Cardenio und Celinde
Trauerspiel in fünf Aufzügen von Karl Immermann

Wir sind so ungewohnt, bei den dramatischen Dichtern unserer Tage Fülle der Gesundheit und Kraft und Mut zu finden, daß die Freude über diese schönen Gaben, wo sie ja einmal uns überrascht, uns zur Nachsicht stimmt und wir der Fülle die Ungemessenheit, dem Mute den Übermut und der Kraft ihre Rauheit gern verzeihen. Der Dichter dieses Trauerspiels hat sich als ein solcher gezeigt, dem wenig mangelt, der aber vieles zuviel hat – ein erträglicher Fehler, da wir hoffen dürfen, daß die Erfahrung, die leichter nimmt als gibt, ihn verbessern werde. Besonnenheit gibt die Zeit, Begeisterung der Herr der Zeit; die eine ist Lohn, die andere Geschenk. Wem aber der Himmel sich gnädig zeigte, dem soll auch der Mensch gewogen sein, und er soll nicht murren, daß dem Schlafenden geworden, was dem Wachenden gehörte. Wenn wir die Mängel rügen, die, wie uns dünkt, Cardenio und Celinde in sich schließt, so geschieht es diesmal nur, um zu zeigen, wie groß die Nachsicht sei, die dem Dichter gebührt, und wie viele Schulden seine gütige Natur für ihn bezahlt.

Cardenio und Celinde ... Dieses und ist hier aber nicht, wie in Romeo und Julia, das Liebeband, das zwei Leben zu einem bindet, sondern das arithmetische Plus, das zwei sich gleichgültige Größen miteinander verschwägert und die Familie weiter, aber nicht inniger macht. Die Einheit der dramatischen Handlung kann aber nicht durch Addition mehrerer Handlungen bewirkt werden. Herr Immermann hat, man begreift nicht, aus welcher Laune, seinen Stoff, der zu einem guten Rocke hingereicht hätte, zu zwei Wämsern verarbeitet. Es ist [314] einmal geschehen, und nachdem wir dieses gerügt, bleibt uns zu betrachten übrig, ob die Jacken schön paßlich und wie sie stehen.

Cardenio, ein junger Spanier, Student in Bologna, liebt Olympien, Lysanders, einer Magistratsperson, neuvermählte Gattin. Er war ihrer Gegenliebe froh, sie war ihm schon als Braut zugesagt, als sich plötzlich über den Morgen der Liebenden wie ein giftiger Nebel das Gerücht verbreitete, es sei in Olympiens dunkler Kammer ein Mann überrascht worden. Cardenio tappt umher, sucht ängstlich nach Licht, erwartet Erklärung; sie wird ihm nicht, Olympia schweigt. Der Spanier tritt zurück, entsagt der Geliebten. Da meldet sich Lysander, der sich schon früher, aber unglücklich, um Olympiens Gunst beworben, und bietet ihr seine Hand an. Diese, in der Lebensgefahr ihrer Ehre, ergreift den rettenden Arm und wird Lysanders Gattin. Olympia war unschuldig, sie kannte selbst den Mann nicht, der sie im Dunkehl in seine Arme geschlossen. Sie dachte und hoffte, es sei Cardenio gewesen; als dieser aber schwieg, mußte sie dulden. Nach der Hochzeit gestand ihr Lysander, er sei es gewesen, der sich mit Hilfe einer bestochenen Dienerin zu ihr geschlichen. Er habe durch diese List bezweckt, was er durch sie erreicht –


Meine Kühnheit
Trug mich zum Ziel der allerfernsten Wünsche
Und lehret, daß Verstand die Welt beherrscht.

Lysander ist übrigens ein leidlicher Mann, und Olympia konnte, ohne schweren Kampf, ihre alte Neigung ihrer neuen Pflicht aufopfern. Cardenio trägt einen verzeihlichen Groll in seinem Herzen – nicht gegen Lysander, dessen redliche Bewerbung er nicht schelten kann, sondern gegen den unbekannten Dieb seines Glückes. Er will Bologna, den Schauplatz einer so schmerzlichen Begegnung, verlassen, doch vorher noch versuchen, ob er Olympien [315] zu keiner Erklärung bewegen könne. Er denkt, müsse er sie schuldig finden, wolle er eine unedle Neigung aus seinem Herzen verbannen; rechtfertige sie sich, könne er von einer schönen Vergangenheit ein reines Bild mit in seine Heimat nehmen. Er bittet Olympien um eine Zusammenkunft. Diese, schwach, gewährt ihm, was sie ihm früher versagt, und schwächer, gesteht sie dem ungestüm Fragenden, daß Lysander, ihr Gatte, der Mann gewesen, der sich in ihr Zimmer geschlichen. Jetzt weiß Cardenio, wen er zu hassen; doch Lysanders Wert verkennt er noch immer nicht. Er sagt von ihm:


Er ist gerecht und edel, schädigt keinen,
Er ist bereit, wo Wais' und Witwe weinen,
Er liebt Olympien und sagt mit Fug,
Daß sie der Freude hat bei ihm genug –
Und ist ein Schurke doch mit Haut und Haar,
Ein Aff' und Schurke, wie kein zweiter war.
So kämpft der Unglückliche mit seinem Hasse, ihn bald überwältigend, ihm bald unterliegend –
Das Herz ist nur ein Taubenschlag, Gefühle
Ziehen flatternd aus und ein –

sagt Cardenio ein anderes Mal. Ja, wenn es nur Tauben wären! Aber der Geier kam auch, und der Teufel siegte. Cardenio überfällt den heimkehrenden Lysander bei Nacht auf der Straße und tötet den Unbewaffneten. Er tut es im Sinnesrausche. Die Tat war um so weniger schlimm, als es der Rausch mehr gewesen. Der Wein war mit sinnverwirrenden, sinnbetäubenden Dingen gemischt. Wer reichte ihm den unseligen Becher? Ein langer, ein sehr langer Arm! Ein breiter Strom trennte den Mundschenken von dem Trinker; ein Eisendraht war über den Strom gezogen, und über diese schmale Brücke kam das umzauberte Schicksal hergeritten. Gehen wir jetzt an das andere Ufer; glauben wir nur, führt uns die gefährliche Brücke auch hinüber.

[316] Celinde liebt Cardenio, der ihre Liebe nicht erwidert. Celinde ist ein leichtfertiges Mädchen, von ihrem Blute dem Laster verkuppelt. Sie ist gutmütig, weil sie schwach ist, aber sie hält sich für gut, weil sie schlecht ist nach Grundsätzen. Den durchsichtigen Schleier ihrer Buhlerei verbrämen Floskeln genug. Mit heißer Leidenschaft liebt sie den jungen Spanier, sie, die so viele verschmäht, denn:


Er weiß zu quälen – das, das ist der Punkt,
Wer uns zu quälen weiß, dem huld'gen wir,
Wir mögen nicht in Ruhe sein.

»So sind alle Weibsbilder; wenn man sie nicht immer beängstigt, so wird ihnen übel« – hat der ungeschlachte Falstaff in seiner Sprache schon längst gesagt. Celinde erfährt, daß sich Cardenio zur Abreise vorbereite. In so enge Zeit eingeschlossen, schlägt ihre Leidenschaft hoch in Flammen auf. Sie klagt, sie weint. Sie läßt Tyche rufen, eine alte Dienerin, eine Haushexe. Sie sagt ihr: da sie umzugehen wisse mit Kräutern und Tränken, mit Karten und Sprüchen, möge sie ihr doch raten und helfen in ihrer Liebesnot. Tyche murmelt: gegen solche Pein und Betrübnis gäbe es wohl Mittel genug, doch wären sie für so junges, süßes Blut zu scharf. Celinda ist gierig und glaubt nur neugierig zu sein. Sie forscht weiter, sie läßt sich erzählen von den Zaubermitteln. Tyche spricht:


Wenn wir das Herz von jemand kriegen können,
Der dich recht zärtlich liebt, und weihn's mit Sprüchen
Und brennen's dann zu Asche und vermischen
Die Asche mit 'nem Kuchen oder Wein
Und bringen diesen Kuchen oder Wein
Cardenio'n bei, wird er ein anderer Mensch,
Er folgt dir wie der Pudel seinem Herrn.
Laß peitschen mich, wenn es nicht zutrifft, Kind!

Celinde lacht die Hexe mit ihren Tollheiten aus und schickt sie fort.

[317] Im Haufen von Celindens unerhörten Anbetern steht auch der Johanniterritter Marcellus. Celinde lebt von seinen Geschenken, läßt sich dankbar liebäugelnd Schreibfedern von ihm schneiden und hält ihn am seidenen Faden ihrer Reize nah und fern. Ein Türkenkrieg ruft den geistlichen Ritter von Bologna ab; er will auf den Abend Celinden zum letzten Male besuchen. Vor ihm kommt Cardenio, auch um von Celinden, als einer Bekannten, Abschied zu nehmen. Celinde weiß ihren Schmerz zu beherrschen, sie scheint ruhig und heiter und scherzend empfängt und entläßt sie den Freund, um, nachdem er fort war, lauter aufzujammern. Der Augenblick ist gekommen, wo die Unglückliche wählen muß zwischen ihrer Seligkeit und ihrem Geliebten. Wie eine verlorne Mücke flattert sie matt um das trübe Licht, das sie endlich erhascht. Sie läßt Tyche rufen, läßt sich von ihren Zaubertränken noch einmal erzählen; immer liebetrunkener horcht sie auf. Da wird Marcellus gemeldet. Tyche führt ihn in ein Seitenzimmer, verbindet ihm die Augen und heißt ihn schweigen und sich ruhig halten. Auf des Ritters Verwunderung und Frage wird ihm geantwortet, so sei es Celindens Laune, und sie werde bald kommen. Jetzt nimmt Tyche einen Dolch, bringt ihn Celinden und sagt ihr, das Herz zum Liebestrank sei gefunden; sie solle Marcellus ermorden. Celinde tritt entsetzt zurück. Die Hexe, unbekümmert um die Rechtfertigung vor dem Himmel, denkt, sie werde die Tat, wenn sie einmal geschehen, vor Celinden zu verantworten wissen. Sie selbst stößt dem Ritter den Dolch in die Brust. Celinde, im andern Zimmer, hört den Angstschrei des Getroffenen; Marcellus, der sich aufgerafft, stellt sich blutend unter die Türe und überhäuft Celinden mit den Verwünschungen eines Sterbenden; dann sinkt er nieder. Celinde fällt in Fieber und Wahnsinn; das Bild des blutigen Ritters steht gebannt vor ihren Blicken. Tyche sucht sie zu beschwichtigen, [318] ihr lügend, sie habe die Tat nicht vollführt, der Ritter sei nicht ermordet, sondern fort, zu Schiffe gegangen. Celinde beruhigt sich, Tyche nimmt des Ritters Herz und bereitet den Liebestrank. Sie sucht dann Cardenio auf, erzählt ihm, sie komme von Olympien, die, krank an süßen Vorwehen einer Mutter, nach ihr geschickt, um sie zu streicheln; denn es sei bekannt, sie habe »einen guten Strich«. Die Alte malt es mit brennenden Farben, wie reizend Olympia »im puren Hemdchen« dagesessen; sie peitscht Cardenios Blut, daß es hoch aufsteigt und ihm die vollen Adern den Hals einschnüren. Ihm wird wehe, er fordert einen Trunk, Tyche reicht ihm den Becher mit dem Liebestranke. Cardenio findet den Wein »trüb und molkig«; doch er trinkt ihn, er trinkt und leert den Becher. Plötzlich, wie aus einer langen Vergessenheit erwachend, fragt er: »Was macht die liebliche Celinde?« Der Zauber hat gewirkt. Cardenio geht zu Celinden, ergibt sich ihr. In diesem Taumel der Sinne, von Wein und Blut und Liebe vergiftet und berauscht, lauert er dem klugen Lysander auf und tötet ihn, wie wir erzählt.

Die Tat geschieht vor Lysanders Wohnung. Darauf stößt Cardenio das blutige Racheschwert, als Zeichen heiliger Fem, in die Haustüre und eilt fort. Sein Freund Pamphilio, der umhergegangen, ihn aufzusuchen, kommt an die Stätte des Verbrechens, sieht die Leiche, sieht das Schwert, nimmt es in die Hand und wird so von Lysanders Dienern, die aus dem Hause gekommen, übereilt und für den Mörder gehalten. Einer derselben schlägt ihn nieder. Doch die Wahrheit wird bald kund. Unterdessen hatte Marcellus' geängstigter Diener, der seinen Herrn nirgends finden konnte, sich an die Gerichte gewendet. Es wird ausgeforscht, daß der Ritter in Celindens Wohnung gewesen, man findet dort seine Leiche, man findet sein Kreuz unter Tyches Gepäcke, die Hexe wird festgenommen, [319] sie bekennt den Mord. Celinde und Cardenio, durch Liebe und Verbrechen aneinandergekettet, wollen entfliehen. Es ist Morgen. Cardenio geht die Straße hinab, zu sehen, ob sie noch unbesetzt von Wächtern sei. Lysanders Geist versperrt ihm den Ausweg, er flieht entsetzt zurück. Celinde sucht seine kranken Einbildungen zu beschwichtigen, sie auch geht an das Ende der Straße; da erscheint ihr Marcellus' zürnender Geist, sie stürzt zu Boden und stirbt am Schrecken. Cardenio fällt in die Hände des Gerichts, und um dem Blutgerüste zu entgehen, stürzt er sich in sein eignes Schwert. Tyche wird zum Scheiterhaufen geführt. –

Die menschlichen Schicksale, welche die Kunst des Tragöden nachbildet, müssen, und wären sie noch so ungeheuer, doch immer menschliche Gestaltung haben. Aber in Cardenio und Celinde wird kein Bild der sittlichen, es wird nur eines der sinnlichen Natur des Menschen aufgestellt. So darf es nicht sein. Das Ebenbild Gottes soll nie unkenntlich werden; auch irrende, selbst verworfene Menschen sind nur gefallene Engel; doch in diesem Trauerspiele sind alle Menschen nur emporgehobene Tiere. Der Dichter hat sie fehlerhaft in zwei Gruppen geordnet, welche Ohr und Auge und Betrachtung und Empfindung teilen. Doch wäre es nur das allein; es ist aber noch schlimmer! Cardenio gehört zu beiden Gruppen; als der Diener zweier Herren ist er bald hier, bald dort, man weiß nicht, wo man ihn zu suchen, und die Aufmerksamkeit geht oft vergebene Wege. Die Empfindung, die wir nicht ganz dem Ganzen geben können, können wir auch nicht unter das Einzelne verteilen. Es ist nichts, das Liebe, nichts, das Abscheu einflößt. Das Schicksal schneidet Gesichter, und wir lachen nur darum nicht, weil sie von Krämpfen herkommen. Fünf Menschen sterben, den sechsten sehen wir zum Tode führen – und wir bleiben kalt. Fünf Menschen lieben siebenmal, [320] und keine dieser Liebesarten rührt uns. Cardenios Liebe zu Olympien geht früher unter, als der Vorhang aufgeht, und wir sehen nur noch ihren blutroten Abendschein. Seine Liebe zu Celinden ist ein Fieberwahn. Olympiens Liebe zu Cardenio ist eine erkaltete, ihre zu Lysander eine vernünftige; Marcellus' Liebe ist eine unwürdige. Lysander liebt wie ein Ehemann und Celinde wie eine Buhlerin. Tyche ist ein gemeines, aberwitziges, altes Weib. Es schimmert ein Lichtschein, der sie hätte verklären können, aber er ist zu weit entfernt. Tyche war einst von Celindens Vater verführt worden, und es war ihr davon »ein blöder Junge« übriggeblieben. Der Dichter hat dieses Verhältnis nicht benutzt; auch wäre wohl nur etwas Psychologie herausgekommen. Der Schicksalstrank, hier die chemische Flüssigkeit, die löst und bindet, ist »trüb und molkig«. Wir wissen wohl, daß es Zauber und Wunder gibt, doch nur für die, welche daran glauben. Aber Cardenio weiß nicht, was er trinkt, und es wirkt doch – das ist nicht Sympathie, das ist nüchterne Physik, und wir fragen prosaisch die Toxikologie, ob solche Wirkung möglich sei?

Doch bei allen ihren Mängeln hat diese Tragödie etwas, das wohl gefällt. Der Dichter kränkelt nicht ohne Ende und Hoffnung; er hat von jenen tüchtigen Übeln, aus welchen der Kranke, genest er nur, kräftiger hervorgeht. Die Sprache ist frisch, die Bilder quellen hervor, sie brauchen nicht gepumpt zu werden. Wir freuen uns des guten Stoffes, können wir auch nicht seine Gestaltung loben; wir freuen uns des edlen Marmors, denn jenes matten Biskuits und schalen Alabasters sind wir satt und übersatt. Der Kraft fehlt die Anmut, wohl nicht auf immer, denn sie fehlt der Kraft. Das Leben eines Dichters ist ein Gastmahl, zu dem sich die Götter alle, wenn sie ihm gnädig sind, versammeln. Die Grazien aber kommen erst spät zum süßen Nachtische. Ehe sie erscheinen, vernehmen [321] wir ungemessene Reden, hören wir Männerspäße erschallen, die, ob sie zwar den Wein loben, sich nicht geziemen. Doch die Anmut erscheint, und der Übermut verschwindet.

[322][323][329]

Die Entführung aus dem Serail
Oper von Mozart

Gibt es ein übersinnliches Land, wo man in Tönen spricht – die Meister der Kunst führen euch hinauf, indem sie euch erheben: nur Mozart allein zeigt uns den Himmel, zu dem andere emportragen müssen, in unserer irdischen Brust. Das ist's, was ihn nicht allein zum Größten macht aller Tondichter, sondern zum einzigen unter ihnen. Um Mozartscher Musik froh zu werden, bedarf es keiner Erhebung, keiner Spannung des Gemüts; sie strahlt jedem, wie ein Spiegel, seine eigene und gegenwärtige Empfindung zurück, nur mit edleren Zügen; es erkennt jeder in ihr die Poesie seines Daseins. Sie ist so erhaben und doch so herablassend, so stolz und doch jedem zugänglich, so tiefsinnig und verständlich zugleich, ehrwürdig und kindlich, stark und milde, in ihrer Bewegung so ruhig und in ihrer Ruhe so lebensvoll. Musik, wenn sie als heimatliche Sprache der Liebe und Religion sich austönt, wird so himmlisch als bei Mozart bei keinem vernommen. Aber bewunderungswürdiger als in jener Höhe, wo das Wort schon im Sinne seine Verherrlichung findet, ist Mozart in der Tiefe, wo er, das gemeine Treiben adelnd, die Poesie der Prosa, den Farbenschmelz des Schmutzes und den Wohlklang des Gepolters kundmacht. Die Singstücke der Konstanze, der Donna Anna und das furchtbare Auftreten des steinernen Gastes sind vielleicht minder unnachahmlich als Osmins Gesänge. So ein meisterhafter Geselle, so ein verklärter Brummbär und hündischer Frauenwächter, wie er ergrimmt sich an dem verriegelten Gitter abmartert, durch welches er täglich den Honig sieht, den er nicht ablecken darf, so ein erboster Kerl, der alle Welt haßt, weil er nicht lieben kann, wird so bald nicht wieder in Musik gesetzt.

[329][330][342]

Das Trauerspiel in Tirol
Ein dramatisches Gedicht von Immermann

Als ich das Buch aufblätterte, hineinsah und den Vizekönig von Italien gewahrte, den Herzog von Danzig, den Andreas Hofer, den Speckbacher, den Pater Haspinger, den Priester Donay – gute alte Bekannte –, da dachte ich gleich: nie endet das glücklich, es müßte denn ein Wunder geschehen. Wenn Geschichten, die wir gelebt, und Menschen, die wir gekannt, auf der Bühne dargestellt werden, fordern wir Treue von den Schilderungen, Ähnlichkeit von den Bildnissen, und finden wir sie nicht, werden wir mit dem Dichter unzufrieden sein. Gibt er sie uns aber, was haben wir dann? Der Aufstand in Tirol, der Herzog von Danzig, Andreas Hofer – [342] was sind sie? Verse, halbe Reime, aus dem großen Drama unsrer Zeit herausgerissen, ohne Sinn, unverständlich und gar nicht zu deuten, wenn man nicht kennt und beachtet, was vor-, was mitgeht und was folgt. Ein Drama aber muß ein ganzes, abgeschlossenes, lebendiges Wesen sein, das vor unsern Augen geboren wird und stirbt; das sein eignes Herz hat, seine eigenen Glieder, das sich bewegt nach eigenem Gesetze seinen eigenen Dunstkreis hat und die Welt nur berührt, sie als Nahrung zu erfassen. Nein, das kann nicht gut werden, dieses Trauerspiel wird nur eine Trauerspielerei sein; wenn viel, ein Schlachtgemälde.

Ich hatte noch andre Sorgen. Wohl gibt es nichts, das erhabener und schöner wäre, als der Kampf eines Volkes für sein Vaterland. Aber der Kampf, daß er schön sei, muß einer sein für Land und Freiheit. In den Tagen Griechenlands und Roms war er immer ein solcher; denn wie in jenen Zeiten die bürgerliche Lage eines Volkes auch gewesen, ob es sich selbst beherrschte oder einem Fürsten gehorchte, ob dieser mild und gerecht regierte, oder streng und wie es ihm beliebte – das Volk verlor immer, wenn es besiegt wurde. Es verlor sein Geburtsland, die Wiege seiner Kinder, die Gräber seiner Voreltern und seine Freiheit. Es wurde weggeführt und in Sklaverei geworfen. In unsern Tagen ist es aber anders. Ein besiegtes Volk wird nicht mehr verjagt, es wird nicht mehr seiner Güter und Freiheit beraubt; es wechselt nur seine Gesetze. Ob dieses ein Unglück sei, das mitfühlend zu beweinen, müssen wir erst bedenken; wir müssen untersuchen, studieren, ob die alten oder neuen Gesetze besser sind; wir müssen berechnen, ob besser sei, zu leben unter Österreichs oder unter Bayerns Herrschaft. Hat man aber Zeit zu rechnen, wenn man vor den Lampen sitzt? Schlimm, wenn man sie hat ... Doch die Liebe für den angestammten Fürsten? Der Kampf[343] für diesen, ist er nicht auch ein schöner? Es ist ein würdiger Kampf, es ist ein Glaube wie ein andrer, und heilig wie jeder. Aber ... das Herz hat seinen Hunger wie der Magen seinen. In einer wüsten, kahlen, menschenleeren Zeit greift das Herz nach jeder Nahrung, daß es sich nur fülle, daß es nur fortbestehe. Da kämpft der Bauer für den Ritter, der Ritter für den Lehnsherrn, der Lehnsherr für den Kaiser. Ist aber der schöne Sommer gekommen, grünen und blühen die Felder, hängen süße Früchte an den Bäumen, stehen die Halme voll, und dem Herzen genügt noch immer ungesunde unerquickliche Nahrung – dann ist es die Not nicht mehr. die solche traurige Gelüste erklärt; nur die Armut tut's, die Armut des Herzens. Das ist kein Künstlerziel. Im Leben weinen wir mit jedem Schmerze, auf der Bühne nur mit dem schönen.

Noch nie ging ein Volk unter, das für seine Freiheit kämpfte; noch keines starb eines gewaltsamen Todes, sie starben nur immer den gemachen Tod aller lebenden Geschöpfe. Völker schwimmen gut und lang, und stürzen die Wellen über sie zusammen, glauben wir sie gesunken. Doch gleichviel, wir sehen und leben kurz, und das Volk, das unseren Augen untergegangen, ist uns gestorben, und wir beweinen es. Aber nur in der Geschichte, dort, wo unsre Einbildungskraft den feindlichen Widerstand so lange vergrößern darf, bis die Niederlage der Freiheit aufhört, schändlich zu sein. Aber anders ist es auf der Bühne. Da sehen und zählen wir den Feind, da sehen wir auch das unzählbare Volk, und es wird lächerlich, wenn es unterliegt. Nur der Sieg kann das Drama retten. Die Tiroler unterwerfen sich den Franzosen. Wie? Warum? Was ist geschehen? Ein Held wird getötet oder gefangen, und dann ist es aus mit seiner Kraft. Aber ein Volk! Sind die Tiroler alle auf dem Schlachtfelde geblieben? Hat man sie alle in Ketten [344] geworfen? Nein. Die wenigen Gefallenen vermißt man nicht, und wenn der Vorhang sinkt, sehen wir des Volkes noch so viel, als wir gesehen, da der Vorhang aufging. Warum weichen sie? ... Vielleicht frägt einer: warum so feilschen mit dem Herzen? Die Tiroler fielen, weil sie den Mut verloren, weil sie schwach waren. Ist Schwäche nicht auch ein böses Geschick? Wir wollen um sie weinen ... Gut, es sei! Die Tiroler waren schwach, und darum sanken sie. Aber nein, sie sanken nicht bloß, man ließ sie sinken: Die Geretteten ließen die edlen Schwimmer sinken, die sich in die Flut gestürzt, sie zu retten. Die Tiroler waren nicht bloß schwach, sie waren auch dumm. Schwach und dumm zugleich. – Das ist zuviel! Über solche Menschen kann man nur die Achseln zucken, um sie weinen kann man nicht. Die Tiroler gehören in Venturinis Chronik des 19. Jahrhunderts, nicht in die Chronik des menschlichen Herzens – sie gehören in keine Tragödie.

Ohne Führer kann ein Volk nicht siegen, ohne solchen darf man es nicht besiegen lassen – das hatte ich nur zeigen wollen. Wo sind aber die Führer der Tiroler? Warum hat sie der Dichter nicht hervorgestellt? Sind die Tiroler von selbst gegangen, haben sie frei geschlagen? Nein, sie wurden aufgezogen, und da gingen sie einen Tag und blieben am Abend stehen, weil man sie nicht von neuem aufgezogen. Wir möchten gern den Uhrschlüssel und die Hand sehen, die das getan. Hofer hat es doch nicht vollbracht? Der war nur der Leithammel, nicht einmal der Hund, der Schäfer gewiß nicht. Oder war es ein Glaube, der die Tiroler geführt? Welcher? Für welchen haben sie gekämpft? Sie sollen es uns sagen, wir wollen sie reden lassen, wir wollen sie anhören.

Als Hofer vor der Schlacht am Berge Isel mit etwas gesalbter feierlicher Lustigkeit, nach Art des Königs[345] David, Wein trinkt aus einem silbernen Pokale, auf dessen Deckel das alte Schloß Tirol eingegraben war, bewegt ihn dieser Anblick, denn – sagt er – das erinnere an


Die Freiheiten, die Recht' und Privilegien
Der sel'gen, gnäd'gen Frauen Margarete.

Wir sind froh, die Quelle der Anhänglichkeit der Tiroler für ihren alten Landesherrn endlich gefunden zu haben, ob sie zwar publizistisch ist und trübe. Ein schlichter Landmann braucht es freilich nicht zu wissen, daß Freiheit besser sei als Freiheiten, Gerechtigkeit besser als Rechte, und besser Gleichheit als Privilegien. Es muß wohl etwas Rätselhaftes in jener Liebe sein; denn der Vizekönig von Italien, der als kluger Feldherr sich doch gewiß bemüht hatte, die Verfassung des Landes, das er bekriegen sollte, und die Stimmung seiner Bewohner und deren Grund zu begreifen, weiß sich nicht herauszufinden. Er sagt zum Grafen Barraguay, einem von seinem Gefolge:


Fassen Sie die Treue,
Womit das Volk am Hause Habsburg hängt?
Den Eigensinn, das Beßre, was von außen
Zu seinem Heil ihm zukommt, abzulehnen?
Ich mind'stens fasse die Gesinnung nicht; –
worauf Barraguay antwortet:

Sie sind denn doch nur Deutsche, wie die andern. –


Wir wollen uns mit diesem naseweisen Franzosen nicht aufhalten, er ist ein viel zu gemeiner Mensch, um deutsche Herrlichkeit zu fassen; wir wollen Hofer hören. Nach dem Friedensschlusse erscheint er vor dem Vizekönig, bringt ihm die Unterwerfung Tirols, empfiehlt das Land seiner Milde und spricht:


Bedaure das unglückliche Tirol!
Laß unsern Sinn von deinen Spöttern nicht
[346]
Zur Fratze dir verspotten! Lobt man doch
Den Hund am meisten, der von seinem Herrn,
Und keinem andern, seine Speise nimmt,
Ihr habt zum Grabe Österreich gemacht!
Ich sage dir: Der arme, treue Hund
Wird auf dem Grabe sich zu Tode heulen!

Mag diese hündische Liebe loben und lieben, wer da will, aber der Dichter wende sein heiliges Auge von ihr ab, nicht die darf er singen! Der Vizekönig, noch immer unbelehrt, fragt:


Warum liebt ihr Östreich?
Denk' mal darüber nach und sag' die Gründe,
Die euch so heiß nach Wien und Schönbrunn wenden
Wir wolln dann miteinander prüfen, ob
Der neue Landsherr nicht alles tat,
Nicht alles tun kann, um den Preis zu zahlen
Für diese Liebe. Warum liebt ihr Östreich?
HOFER.
Mein Herr, die Frage legt' ich selber mir
Und keiner, glaub' ich, in Tirol sich jemals vor.
Ich kann dir keine Antwort darauf geben.
VIZEKÖNIG.
Besinne dich nur, ich laß dir Zeit, du sollst,
Es ist mein Wille, dich ganz frei erklären.
HOFER.
So helf' mir Gott, ich weiß dir nicht zu sagen,
Warum den Kaiser wir zu Wien verehren.
Ich schüttle mein Gedächtnis suchend durch, –
Wir ziehen nur in Krieg, wenn wir gefährdet;
Wir zahlen Steuern nur, die wir bewilligt;
Wir haben gleiche Rechte mit den Rittern,
Wir stimmen auf dem Landtag, so wie sie;
Und freundlich immer war der Kaiser uns.
Und doch erspäh' ich in dem allen nicht
Den Winkel, der den Grund der Liebe birgt.
[347] Das alles ist es nicht, was uns macht hüpfen
Und jauchzen und das Herz vor Freuden zittern,
Wenn wir die schwarz und gelben Fahnen sehn.
Der neue Herr könnt' alles das gewähren,
Und dennoch glaub' ich – frei soll ich ja reden, –
Die alte Liebe bliebe, wie ein Kind,
Dem man die Hand gebunden, uns im Herzen.
VIZEKÖNIG.
Es scheint mithin, daß grundlos diese Liebe.
HOFER.
Ich glaube selbst, die Lieb' hat keinen Grund.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Ich bin ein Bauer
Und kann nicht, was ich meine, deutlich sagen,
Allein es dünkt mich fast, wenn ich's bedenke,
Als käm' die Liebe von der Erde nicht;
Vielmehr sie sei ein Strahl, den Gott der Herr
Vom Himmel in das Herz der Menschen sendet,
Daß sie drin scheinen solle, gleich dem Lichtlein,
So aus der Hütte Fenstern freundlich blinkt.

Das ist alles recht gut, alles recht schön, nur zu gut und zu schön für einen Bauer. Hofer denkt und spricht von der Liebe wie ein Philosoph, ja besser, denn Hofer weiß, daß er nichts weiß, und das wissen die Philosophen selten. Der Bauer hat nicht sein Herz, der Dichter hat seinen Helden erklärt. Doch es sei. Die Liebe ist ohne Grund, und diese Liebe ohne Grund war der Grund des Aufstandes der Tiroler. Wir wollen alles vergessen, woran wir nicht denken können, ohne uns zu verwirren – könnten wir nur auch vergessen, daß Hofer einige Minuten früher, an demselben Orte, in der nämlichen Unterredung zum Vizekönige gesagt:


Ich bin nicht aufgestanden freventlich,
Nicht wie ein Ritter aus dem Stegreif!
Vielmehr, ich habe höchste Mahnung und
[348]
Des Kaisers Willensmeinung abgewartet
Und eher nicht den Stutz zur Hand genommen.
Ich kann wahrhaftig meine Zweifel, ob
Ich ihn ablegen solle, kann sie nicht
Aus meiner Seele in die Lüfte schicken,
Eh' ich nicht Kaisers Hand und Siegel, nicht
Den Friedensbrief von meinem Kaiser sehe.

Also war es doch nicht die Liebe ohne Grund, die ihn getrieben! Also hat er doch nicht aus dem Stegereif geliebt? Sein Herr befahl ihm, das zu tun, und er tat es. Er befahl ihm, das nicht mehr zu tun, und er tat es nicht mehr. Ist die Liebe eine Verschreibung, eine Wechselschuld? Wenn der Liebegläubiger dir sagt: Du bist mir nichts mehr schuldig, sieh, ich zerreiße die Verschreibung – bist du dann frei? Auch Ferdinand hieß sein Volk die Waffen niederlegen, und es hat es nicht getan. Tirol hätte ein anderes Spanien werden können; aber freilich war das Herz der Spanier ein Springbrunnen, keine Pumpe – es war kein deutsches Herz.

So suchen wir noch immer vergebens, was die Tiroler beseelt, und waren sie nicht beseelt, was sie getrieben, die Führer suchen wir. Warum ist nicht Hormayr da? Wie artig, wie prächtig wäre es gewesen, diesen Mann zu sehen und sprechen zu hören, der sich so heiß bemüht für Östreich gegen – Bayern. Aber Hormayr lebt! Wie! lebt denn der Vizekönig nicht auch? Was liegt daran, daß wir ihn seit einigen Jahren nicht gesehen, weil er unter der Erde wohnt? Wer ihn nicht kennt, wer keinen Zutritt zu ihm hat, wer nicht in München wohnt, kann der nicht denken, er lebe noch; muß er die Zeitung gelesen haben?

Speckbacher, der zweite Anführer der Tiroler, spricht von den Franzosen:


Ich hasse sie, ich weiß nicht recht warum.
Doch hass' ich sie, und bis ich diesen Haß
[349]
In ihrer Leiber rotem Born gelöscht,
Soll mir von Fried' und Freundschaft niemand sprechen.

Beim Himmel! ... Doch still, da reden noch andere; hören wir, was die sagen. Der Priester Donay, Hofers Eigentümer, der seine große Puppe mit dem langen Barte streckt und richtet und setzt und stellt und legt, wie es ihm beliebt, will sein Spielzeug den Tirolern als Oberhaupt empfehlen und spricht:


Wählt ihn zum Haupte, den die Heil'gen lieben!
(Und der den frommen Dienern unsrer Kirche
Gern alles gönnet, was ihr Herz begehrt).
Diese letzten Worte flüsterte er dem Kapuziner Haspinger zu, ihn gleichzustimmen, und dieser sagt:
Ich will mein Haupt nicht scheren und den Staub
Von meinen Füßen nicht zur Erde schütten,
Bis ich die Feinde unsrer heil'gen Kirche
Vom Boden weggetilgt, wie sie's verdienen.

Ist das vielleicht der Schlüssel zu den Bewegungen der Tiroler? Kurz – er ist's. Wie in Spanien war es auch in Tirol Pfaffentrug, der das Volk aufgerührt, und der Herzog von Danzig ruft daher mit Recht seinen Soldaten zu:


Denkt eures Ruhmes, ihr beherzten Braven,
Folgt mir zum Angriff auf die Pfaffensklaven!

Aber der Dichter hätte diesen Schlüssel größer machen sollen, er ist zu klein. Ein Kritiker, der gräbt und schaufelt und umhersieht, konnte ihn wohl finden; aber der flüchtige Leser oder der Zuschauer, den die Lichter blenden, bemerkt ihn gewiß nicht. Die angeführten Reden der beiden Priester sind die einzigen, die das Geheimnis verraten – zu wenige Worte, zu leise ausgesprochen, und nur den Nahestehenden vernehmlich, wenn sie gut aufhorchen.

[350] Doch Glaube oder Unglaube, freie Liebe oder Folgsamkeit, edler Stolz oder Knechtsinn – der Dichter will uns zum Mitleiden, zum Abscheu, zu freudiger Überraschung oder zum Schrecken führen, und erreicht er sein Ziel, hat er es immer gut erreicht. Aber gelangte unser Dichter, wohin er wollte? Nein. Wir sollen um die Tiroler weinen, und wir bemitleiden die Franzosen; wir sollen über das schlimme Ende einer guten Sache erschrecken, und wir erschrecken nicht; denn der Ausgang überrascht uns nicht, wir haben ihn vorhergesehen, es kam, wie es kommen mußte. Wenn nicht das böse Geschick, sondern der Unverstand entscheidet, warum da geduldig sitzen bis zum letzten Blatte oder bis der Vorhang sinkt? Es gibt keinen Deutschen, der nicht die Wege des Unverstandes kennte. Ich sage: wir bemitleiden die Franzosen, und ich wette, das geschähe, wenn dies Trauerspiel von der Treue der Tiroler durch die Aufführung uns recht lebendig vor die Augen träte. Die Franzosen streiten mit ihrer gewohnten Tapferkeit, die Tiroler von ihren unerreichbaren Bergen herab, hinter undurchdringlichen Felsen hervor. Wir sind keine ritterlichen Narren, die Ehre haben und fordern – behüte uns Gott! Die Tiroler in der Geschichte brauchen keine Tapferkeit, die Franzosen mit Ruhm zu besiegen; aber die Tiroler auf der Bühne hätten Tapferkeit gebraucht, unsere Herzen zu besiegen. Sie zeigten keine, die Steine behielten Recht, und es zwingt uns darum, mit dem Vizekönig zu empfinden, wenn er spricht.


Ich klage nicht, wenn Menschen fallen, leider
Will's unsre Zeit, will's unser Schicksal so,
Doch wenn sie in dem Kampf mit Felsen, mit
Der blinden, wütenden Natur verderben,
Unnütz verderben, dann empört sich mein Gemüt.

Wie schön hat der Dichter – schöner als gut war – den Kampf geschildert, den Kampf der Berge, die zornig [351] werden und ein Herz bekommen, gegen Menschen, die der Schreck entherzt!


Wir klimmten in der Felsensäulen Mitte,
Da grade, wo sie ob der Brücke hangen,
Die schmal und spärlich überbaut den Fluß,
Und lösten alle Lärchen aus den Wurzeln
Und hoben Felsenblöck' aus ihren Betten
Und rammten in das Erdreich schwache Pfeiler
Und legten erst die Lärchen auf die Pfeiler
Und schoben dann die Blöcke auf die Lärchen;
Jetzt luden unsre guten Büchsen wir
Und hingen still wie Gemsen an den Zacken.
Nicht lange drauf, da kamen hergezogen
Die hüpfenden Franzosen in der Tiefe.
Sie trippelten in Hasten übers Brücklein
Und sahen aus von oben klein wie Mäuse.
Und als die rechte Zeit gekommen war,
Gab ich das Zeichen mit der Jägerpfeife,
Und unsre Buben löseten die Stützen.
Da hob der Berg zu dröhnen und zu wandern an
Und ging, als wie ein rollend Weltgericht,
Hinunter in die Tiefe! – Alsobald
Klang ein erschrecklich Wimmern aus dem Schlunde;
Geschrei und Heulen, wie dicht bei uns, tönte,
Drauf stieg ein Dampf empor und rollte qualmend,
Die Schlucht bedeckend, bis zu unsern Füßen.
Wir alle schossen durch den Dampf hinab,
Daß, wer noch lebt', empfing vom Blei sein Grab!
Wie nun der Staub verzogen war, so stiegen
Wir von dem Grat und gingen zu den Feinden.
Da sahn wir nichts als Stein getürmt auf Stein,
Gebrochne Augen, rauchendes Gebein!
Die Brücke lag in Trümmern, und die Eisack,
Von wild verschränkten Totengliedern starrend,
Sprang, wie ein rasend Untier, übers Schlachtfeld.

[352]

Der Dichter hätte ebensogut, ja besser, die Franzosen durch ein Erdbeben können vernichten lassen; dann hätte uns doch das Mitleid nicht beunruhigt, das wir jetzt für übermütige Feinde nur mit Bedenken haben.

Ständen unsern deutschen Landsleuten nur wahre Franzosen, im schlimmen Sinne des Wortes, entgegen; hätte der Dichter den braven Tirolern gegenüber, die nicht wanken, nicht deuteln und nicht klüger sein wollen, als sie sind, Franzosen erscheinen lassen, wie wir sie kannten – summende Witzkäfer des 18. Jahrhunderts oder Phrasenmacher aus der Freiheitsfabrik oder übermütige Knechte aus der Kaiserzeit, daß wir, wenn auch von jenen nicht angezogen, doch wenigstens von diesen abgestoßen würden! Aber er tat es nicht. Alle Franzosen, welche auftraten, sind brave Leute, die tun, was sie müssen, aber denken, wie sie sollen, und sagen, was sie denken. Nur der kleine Page des Vizekönigs, der sich über den langen Bart Hofers lustig macht und meinte, er könne den Jakob in »Joseph von Ägypten« spielen – nur dieser erinnert mit wenigen Worten an Paris. Der Herzog von Danzig ist ein Biedermann, ein tapferer Soldat, in der schönsten Bedeutung dieses Ausdruckes. Der Vizekönig hat gar etwas deutsches Romantisches, er blickt nicht bloß weit, sondern auch tief, er hat etwas Überfranzösisches, er ist sinnig. Wie sinnig er ist, zeigt sich in folgender Rede, die er dem Grafen Barraguay hält, als dieser nicht begreifen kann, warum die Niederlage, die der Herzog von Danzig von den Tirolern erlitten, seinen gnädigen Herrn so betrübe? Der Vizekönig erwidert, nicht das wechselnde Kriegsglück habe ihn überrascht, bestürzt gemacht, ihn beunruhige etwas anderes:


Wodurch denn sind wir groß geworden, Graf!
Als daß wir gingen mit dem Sturm des Volkes?
Der wehte uns den lichten Sternen zu
[353]
Und gab uns Kräfte, unsern goldnen Tempel
Inmitten dieser mürben Welt zu bau'n.
Uns regte an ein mächtiges Bewegen,
Ein zeugender, ein frischer Lebensgeist,
Und gegenüber war nur toter Stoff,
Nur Zahlen, Uniformen, Kabinette,
Die Fürsten ohne Völker, und die Völker
Hinwieder ohne Fürsten. –
Hier aber tritt uns ja dasselb' entgegen,
Was uns getrieben. Dieses arme Volk,
In seiner Einfalt, unter seinen Pfaffen,
Ist zu derselben Mündigkeit gelangt,
Wie wir mit unserm glänzenden Verstande,
Es will auf sich stehn, einen Willen haben.
Wer schauderte wohl nicht, wenn sich die Geister,
Die selbst wir riefen, gegen uns sich wenden!
Dies deutet eine böse Spaltung an,
Der schwangern Zeit unheimliche Geburten!

Ja, übersinnig ist der Vizekönig, er hört das Gras wachsen. Als Graf Barraguay, ihn zu trösten, sagt: »Deutschland wird uns nie gefährlich werden« – erwidert er:


Das gebe Gott! Denn würd' es uns gefährlich,
So endet' die Gefahr in unserm Sturze.
In diesem Lande voll Geheimnisse
Reift alles heimlich, unsichtbar heran,
Und seine Schrecken sind unüberwindlich.
Wir würden uns noch voll Gesundheit wähnen,
Wenn uns der Wurm schon nah am Herzen säße.

Der gute Vizekönig denkt zu gut von uns. Wäre Rußland nicht gewesen, das den kalten Ofen eingeheizt – nie wäre das Strohfeuer der einen mit der knorrigen, eichenen Geduld der andern zusammengekommen, und der Rauch der Freiheit wäre nie emporgestiegen.

Das Schauspiel hat keinen Kern, die Schale wickelt sich um nichts. Das Gemälde hat keinen Rahmen, was ist hier, was ist dort? Wo ist die Länge, die Breite, wo der [354] Boden, wo die Luft? Es ist eine Seite aus der Weltgeschichte, die mitten im Satze beginnt und mitten im Satze aufhört. Vielleicht, daß uns die Bilder entschädigen für das, was ihrer Zusammenstellung, was dem Gemälde mangelt – betrachten wir sie.

Hofer ist der Papa seines Volkes, ein guter Mann, aber schwach und abergläubisch. Er ist ein Teig für Pfaffen, und die haben ihn ganz weich geknetet. Er hat Träume und läßt sie sich von einem Pater auslegen. Wenn er schlagen soll, betet er, und wenn er geschlagen, weint er, statt den Sieg zu verfolgen. Als man ihm verkündet, er sei zum Oberhaupte gewählt worden, faßt er die Torheit gar nicht, bis ihm ein Pater sagt:


Begreifst du's nicht, so nimm es für ein Wunder;
Ein König wird nur durch ein Wunder König.
– und Speckbacher (es ist fast Spott):

Brauch' unsern Rat, wir brauchen dein Gemüt.


Da faßt er die Wahl und das große Ritterschwert, das man ihm in die Hände gibt. Nun will man von ihm wissen, welchen Plan er zur bevorstehenden Schlacht entworfen, und er antwortet: er habe keinen, das werde sich schon finden zu seiner Zeit. Zwar ist er kein pragmatischer Kopf, der viel über die Geschichte der drei letzten Jahrhunderte nachgedacht; doch hört man ihn einmal sagen:


– – – – mit den neuen Büchern
Und neuen Moden stürzte das Verderben
Über unsre Buben, über unsre Mädchen.

Also die Bücher haben es getan, auch in Tirol haben sie das Volk verdorben! Wie gut östreichisch der Mann gesinnt ist! Ist es aber wahr, so hat Speckbacher etwas geprahlt mit der patriotischen Einfältigkeit seiner Landsleute, als er dem Herzog von Danzig sagte:


[355]

Wir lesen nichts als den Kalender, Herr.


Hofer, da er vor dem Vizekönige steht, ist so demütig, so unleidlich demütig! Etwas edler Trotz hätte ihn besser gekleidet. Aber der Backofen der Majestät macht ihn ganz mürbe, gleich in der ersten Minute. Das ist wohl sehr deutsch, aber gar nicht schön. Der Vizekönig will von ihm wissen, warum er die Franzosen hasse und bekriege, und statt ihm kurz und gebührlich zu antworten: ungebetene Gäste wirft man zur Tür hinaus – hält er eine lange gründliche Rede von der Liebe, die keinen Grund hat. Nachdem der Kaiser seinen Frieden geschlossen, geht Hofer traurig in die Berge, wirft sein Schwert in eine Felsenspalte und schläft ermüdet ein. Da erscheint ihm ein Engel. Was? Ein Engel erscheint ihm? Nun ja, er träumt davon, und daß wir wachend sehen, was er im Traume, muß der Engel wohl erscheinen. Es sei gut. Aber der Engel erscheint nicht bloß, er spricht auch eine ganze Zeile, er sagt:


Du sollst das Schwert, das du geführt, behalten –


und legt das weggeworfene Schwert neben dem Schlafenden nieder und verschwindet. Nein, das ist zuviel. Der Engel spricht Deutsch und trägt das lange Ritterschwert der alten Grafen zu Görtz in seiner luftigen Hand! Ein englisches Schwert, das könnte wohl sein – die englischen Waffen waren damals in Tirol wie überall und immer zu finden, wo Feinde der Franzosen – aber das Schwert eines Engels! das ist zu schwer zu tragen und zu glauben! Als Hofer erwacht und sich der Traumesmahnung erinnert und das Schwert findet, sagt er, er wäre betrogen mit dem Frieden, und beginnt den Aufruhr von neuem. Endlich ist er überzeugt, legt die Waffen nieder und irrt verzweiflungsvoll in den Bergen umher. Er ist dem Kriegsrechte verfallen, seine Freunde wollen ihn retten, ihn aus dem Lande führen, doch er [356] will nicht flüchten, er will als Märtyrer endigen, aber er zeigt sich nicht begeistert, hochsinnig, sondern entseelt und stumpfsinnig, so daß wir die Schwäche des Unglücklichen beweinen, nicht sein Geschick. Er geht unter ... Ja geschähe das nur, ginge er unter; der Tod versöhnt wie die Schuld so die Torheit. Aber er stirbt nicht, er wird nur gefangen, und wir erfahren, er solle nach Mantua geführt und dort vor das Kriegsgericht gestellt werden. So bleiben wir nach Endigung der Tragödie noch ungewiß über das Schicksal unsers Helden. Wird er verurteilt, freigesprochen werden? Wird man ihn begnadigen? Wird nicht das dankbare Östreich sich für ihn verwenden? Es kostete nur ein freundliches Wort, ganz gewiß geschieht's. Wir zweifeln – das ist nicht gut. Der dramatische Dichter muß seine Rechnung mit unsrer Einbildungskraft abschließen, ehe der Vorhang sinkt; er darf uns nicht als Schuldner verlassen.

Speckbacher ist der Mann seines, jedes Volkes. Er ist kühn, diebesschlau, wie es sich gebühret, der Übermacht entgegen. Als er im Wirtshause am Berge Isel mit dem Herzoge von Danzig zusammentrifft, verliert er, obzwar erkannt als früheres Parteihaupt, seine kecke Fassung nicht. Ja er verhöhnt den Herzog, indem er in seiner Gegenwart eben rückkehrende Boten unter Anspielungen eines Pferdehandels über die Fortschritte des Aufstandes ausfragt und sich von einem den Feinden gelieferten Treffen berichten läßt. Das war wohl toll, übermütig, frech; wer aber in solcher Zeit der Not mutig bleiben will, der muß sich in Keckheit betrinken. Speckbacher kennt und braucht die Pfaffen, er ist nicht ihr Knecht. Daß er nicht gewußt, warum er die Franzosen befeinde, haben wir schon gehört. Es ist bei ihm, wie bei den Seinigen, eine Art Sinnlichkeit, Jagdlust, Freude am Stutz, vielleicht auch dankbare Erinnerung an die landesherrlichen Preisdukaten, die er an Schützenfesten [357] sich wohl gewonnen. Als nach dem Frieden alles verloren, rettet er sich für bessere Tage. Er will nicht romantisch untergehen wie Hofer. Romantik ist die Auszehrung der Freiheit, die ihr fieberrote Wangen gibt, und darunter den bleichen Tod. Speckbacher ist der Tatenheld des Dramas; Hofer ist nur der Leidensheld eines Romans.

Der Priester Donay, ein Judas bis auf die Reue, liefert den frommen Hofer zu gewissem Tode aus. Er ist ein arithmetischer Schurke, eine hölzerne, leblose Rechenmaschine des Eigennutzes. Solche Menschen gibt es zwar im Leben; aber wir erkennen sie nicht, sie sind zu fein. Auf der Bühne aber, durch das Vergrößerungsglas der Kunst gesehen, machen sie uns Ekel und Grauen. Dort muß ein Bösewicht kalt sein oder heiß, das Fieber der Leidenschaft muß ihn beherrschen. Eine gesunde schlechte Natur können wir nicht hassen, sie ist von unserm Herzen gar zu weit. Dieser Priester, da er dem Grafen Barraguay den versteckten Hofer herbeizuschaffen verspricht, bedingt sich seinen Lohn so gemein wie ein Taglöhner; er fordert sein Trinkgeld. Er ist ein schlechter Geselle, kein Meisterschurke. Ihm gegenüber stellt der Kapuziner Haspinger, ein braver Mann, so viel man mit einer Standesvorliebe brav sein kann. Die Kirche ist ihm alles. Zwar kämpft er wacker mit, während Donay seine Haut schont, aber von Treue und Vaterlandsliebe ist auch bei ihm kein Wort. Den Bruder Donay kann er nicht ausstehen. Das ist gewiß kein Handelsneid; aber es scheint oft so. Diese beiden geistlichen Herren bilden den Dampf der Machine, der sie treibt. Man sieht ihn nicht, man spürt ihn nur. Nun ist zwar die Insurrektion der Tiroler eine Dampfmaschine gewesen; aber auf der Bühne soll es für die Zuschauer keine Geheimnisse geben. Der Dichter hätte uns den Kessel, den Ofen, die Räder, den Maschinenmeister zeigen sollen. Der Kessel [358] platzt, alle Spur geht verloren, und wir wissen nicht, wo das Leben war und woher der Tod gekommen.

Was ist der Nepomuk von Kolb für ein Mann? Der Dichter nennt ihn im Personenverzeichnisse einen Abenteurer. Aber ist er das? Ein Abenteurer ist ein kleiner bürgerlicher Held, der, seine kleine Kraft und seinen kleinen Mut zu üben, kleine bürgerliche Gefahren sucht und es mit ihnen aufnimmt. Er wagt falsche Würfel, Stockschläge, Zweikämpfe, das Gefängnis, die Polizei, und tritt ganz nahe zum Pranger heran. Er ist ein angenehmer Schwätzer, macht Glück bei den Weibern, gibt sich für einen Edelmann aus, ist Protestant und Jesuit, Demagog und Spion, verliert sich oft im Staatsgefängnisse, rettet sich wunderbar, schreibt Memoiren und lügt sehr. Kolb tut nichts von dem allen. Vielmehr wagt er den Pulverkrieg, führt eine Schar an und kämpft gegen die Franzosen. Ist er ein Betrüger oder ein Dummkopf? Eher das erste wie das andere; ich halte ihn nicht für so dumm, als der feine Donay meint. Im Lande gilt er für einen Schwärmer; man nennt ihn den Fluch der guten Sache, den ausgelassenen Nepomuk von Kolb. Aber Kolb beträgt sich nicht wie ein Schwärmer, sondern wie einer, der sich über Schwärmer lustig macht, er karikiert ihre Sprache. Denkt ein wahrer Schwärmer an Geld? Aber Kolb spricht zweimal davon. Er sagt einmal zu Donay:


Wo sahst du Witz bei leerem Beutel blühn?
Donay! ich bin erschrecklich im Verfall.
Kein Engel spricht, und alle Gläub'ger schrein.
– und ein andermal sagt er zu seiner Schar:
Kommt, meine Kerle, keines Groschens mächtig,
Doch all von Mut und tapfern Taten trächtig!

Kolb ist ein Volksnarr, der Harlekin der Insurrektion, aber weder ein Schwärmer noch ein Abenteurer.

[359] Jetzt zu dir, arme Elsi. Ach! es ging dir sehr schlimm im Leben und im Gedichte. Elsi ist Wildmanns Frau, des Wirtes am Isel. Bei diesem kamen oft die Tiroler Eidgenossen zusammen. Dort kehrte auch der Oberstlieutenant Lacoste, im Gefolge des Herzogs von Danzig, ein. Der Franzose verführte das junge Weib. Hat er das wirklich getan? Es wäre sehr gut, wenn man das glaubte, der Elsi und der Tragödie willen; aber ich glaube es nicht. Hat Elsi ein Boudoir? Trinkt sie Tee? Schläft sie bis an den hellen Tag? Trägt sie Marabufedern? Das alles nicht. Nein, Elsi wurde nicht verführt, sie verließ ohne Sträuben den rechten Weg. Das merke man sich, es hat Einfluß. »Alter mürrischer Wildmann« – sagt einmal Hofer. Das ist's. Wildmann entdeckte das Verständnis. »Seit gestern weiß ich's« – sagt er zu seiner Frau. Er verstößt sie, er jagt sie aus dem Hause. Sie weint und fleht vergebens. Der Mann sagt: die Untreue könnte er ihr verzeihen;


Doch daß du deine Ehre hast vergeudet
An meinen Feind, an unsers Landes Feind,
Das ist's, was Milde aus dem Busen weist,
Barmherzigheit zur Sünde macht und Mitleid
Zur feigen Schwäche.

Der Kampf zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit in Wildmanns Brust, in Wildmanns Munde, ist sehr schön geschildert; aber ich weiß nicht, warum das Gefühl, das der Dichter so geschickt in uns weckte, nicht recht gedeihen will. Die Empfindung kann nicht zur Ruhe und nicht zur Unruhe kommen. Sollen wir das treulose Weib verdammen? Aber die Verräterin am Vaterlande verachten wir, und was wir verachten, mögen wir beschämt, doch nicht bestraft sehen – der Schmerz brennt die Schande weg. Sollen wir die Bürgerin verdammen? Aber die Liebe, selbst die entartete noch, jammert uns ... Die [360] verstoßene Elsi verläßt das Haus und läuft dem Oberstlieutenant Lacoste nach. Sie läuft? Ja, sie muß laufen, der Weg ist weit. Sie geht bis nach Villach in das Hauptquartier des Vizekönigs, wo sich Lacoste aufhält. Sie läßt sich bei ihrem Freunde melden. Der Bediente sagt: eine junge Frau, sie heiße Elsi, wolle ihn sprechen. Der Franzose antwortete barsch, er kenne das Weib nicht, er kenne keine Elsi. Das ist hart; aber der Krieg ist auch hart. Hat der Franzose nicht recht, wenn er sagt:


Das wär' zu harte Strafe unsrer Sünden,
Wenn sich die Schönen, die die Langeweile
Von ein paar müß'gen Stunden uns vertrieben,
Gleich Furien an unsern Fersen hingen –?

Das arme Weib, so schnöde abgewiesen, fällt in Verzweiflung und Wahnsinn, taumelt fort und schleicht von Elend zu Elend. Überall verhöhnt und weggestoßen, gerät sie in ein wildes Felsental, wo sie mit dem unglücklichen flüchtigen Hofer zusammentrifft. Die Szene dieser Begegnung ist schön, sehr schön. Der gute Hofer macht keinen Unterschied zwischen seinem eigenen unverschuldeten Mißgeschicke und dem verschuldeten des gefallenen Weibes; er sieht nur einen gemeinschaftlichen Schmerz. Aber Elsi ist so ruhig, so fürchterlich ruhig. Sie fühlt keine Schmerzen mehr, der Brand ist schon in ihrem Herzen. Hofer sucht sie zu trösten. Wildmann, erzählt er ihr, habe ihm zugesagt, sie wieder aufzunehmen. Es sei zu spät, antwortet Elsi. Sie bekennt, daß sie ein blutiges Vorhaben pflege, und Hofer kann ihren Sinn nicht ändern. Sie kehrt, da es dunkel ist, in das Haus ihres Mannes, den der Krieg entfernt, zurück. Ihr Kind und das Gesinde schickt sie unter einem Vorwande fort. Lacoste kehrt ein. Der Weg im Dienste führte ihn vorbei, er ist müde und will da übernachten. Als Lacoste schläft, legt Elsi Feuer an und verbrennt das Haus und den alten Freund. Dann stürzt sie sich in einen Abgrund ... Das ist ein niederträchtiger [361] Mord! Glaube Elsi ja nicht, uns mit ihren schönen Reden zu täuschen, wenn sie spricht:


Ein tirolisch Weib
Kann sich vergessen; aber aufgeschreckt
Vom eklen Rausch, bedeckt sie ihre Schande
Und ihren Schänder mit dem tiefsten Dunkel.
Was aber ist wohl dunkler als das Grab?

Nicht der Rausch, der Durst hat sie zur Besinnung geführt; nicht die Reue über ihr Verbrechen, der Verdruß, das Verbrechen nicht fortgesetzt zu haben, brachte sie zur Buße. Sie bringe sich um; aber was hat ihr Lacoste getan, daß sie ihn meuchelmordet? Er hat sie schnöde fortgeschickt – aber sie ließ ihm ja nicht sagen, daß sie ihr Mann verstoßen habe, daß sie eine Zuflucht bei ihrem Freunde suche! Sie ließ sich melden zum Besuche, Lacoste dachte, sie käme zum Zeitvertreibe, und ihr die Zeit zu vertreiben, ließ ihm im Hauptquartier seine Pflicht keine Zeit. Nein, diese Rache war nicht tirolisch, und sie verunziert die schöne Bewegung des Landes, die, als solche vorzustellen, sich doch der Dichter so sehr bemüht hat. Das, was Elsi getan, war kein gerechter Aufstand gegen die Franzosen, das war freche Empörung gegen die Natur.

Etwas sehr Wahres, Schönes, aber zugleich Bedenkliches hat der Dichter in seiner Vorrede bemerkt. Er hat eine Saite berührt, die er lauter hätte sollen tönen lassen, die aber freilich, zu stark angeschlagen, gar leicht springt. Er sagt: »Eine besondere Schwierigkeit, dem deutschen Theater, wie es gegenwärtig ist, gemäß zu dichten, liegt darin, daß das Publikum vorzugsweise nur von dem Deklamatorischen und Rhetorischen, nicht aber von dem Poetischen und Charakteristischen angesprochen wird. Der abgesonderte und einsame Zustand, worin die meisten Deutschen leben, begünstigt die Neigung, sich gewisse prächtige Gesinnungen und Gedanken vorzusagen[362] und dem einförmigen Strome einer einseitig angeregten Empfindung bis ins Unendliche zu folgen. Alles, was ihnen in solcher Form und von solchem Gehalte von andern geboten wird, ist ihnen gemäß. Ein sozialer und öffentlicher Zustand dagegen fordert notwendig zur Gestalt auf und bildet den Sinn für Gestalt aus ... Das Deklamatorische und Rhetorische führt, konsequent ausgebildet, zur Zerstörung des eigentlich Dramatischen. Es bewirkt, daß den Personen Sentenzen und Schilderungen in den Mund gelegt werden, die weder aus dem Charakter noch aus der Situation hervorgehen.« – Aber wie ist das zu ändern? Der Bühnendichter kann sich sein Volk nicht umgestalten, das Volk erzieht sich seine Bühne. Schauspiele sind für die Menge, und was der Menge nicht gefällt, berührt sie gar nicht. Der Deutsche liebt Reden, die Rede ist ihm die geliebte Suppe; der Dichter mag etwas Handlung hineinbrocken, aber nicht zuviel, sie muß Platz zum Schwimmen haben. Wir denken gut und reden schlecht, reden viel und tun wenig, tun manches und vollbringen nichts. Aber unsere Gleichgültigkeit gegen Handlungen entspringt nicht aus unsrer Vorliebe für Worte, sondern umgekehrt, unsre Vorliebe für Worte entspringt aus Scheu vor Handlungen. Die keuschen Deutschen wenden ihre Augen weg vor jeder nackten Tat. Es geschieht etwas ohne Umstände – pfui, wie abscheulich! Wir gleichen den verschämten Söhnen Noahs, die über ihren entblößten betrunkenen Vater rückwärts schreitend ihre Kleider warfen. Aber Worte sind die Kleider der Taten. Bei uns machen nicht bloß Kleider, auch Worte machen Leute. Diese Tatenscheu hat ihren Grund in der Geheimnissucht, die uns angeboren, die wir geerbt. Wir tun gern nichts; denn das nicht Geschehene bleibt am leichtesten verschwiegen. Das Geheimnis ist unser Gott, Verschwiegenheit unsere Religion. Wir lieben die Stille und das Grauen. Bei uns hat [363] jeder seine Geheimnisse oder sucht sie, der Bettler wie der König. Der Minister möchte gerne jede Bombe im Kriege mit Baumwolle umwickeln, daß man sie nicht fallen höre, und der Polizeidirektor meint, der Staat würde zugrunde gehen, wenn der Bürger erführe, daß sich sein guter Nachbar am Morgen erhenkt hat. Wer von uns den Jüngsten Tag erlebt, wird viel zu lachen bekommen. Was Gott unter zwanzig Bogen spricht, wird zensiert werden, und wenn die Welt brennt und das Fett schmilzt von den Sündern herab, wird die Polizei bekanntmachen: »Unruhestifter haben das Gerücht verbreitet, es sei heiß in der Welt; aber das ist eine hämische Lüge, das Wetter war nie kühler und schöner gewesen. Man warnt jedermann vor unvorsichtigen Reden und müßigem Umherschweifen auf der Straße. Eltern sollen ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, Meister ihre Gesellen im Hause behalten! Man bleibe ruhig! Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.« ... Und dann wird die Welt untergehen und ruhig werden, und dann wird die ganze Welt deutsch sein. Handlung – Gestaltung – woher? Ich wollte lieber verdammt sein, alle Hochzeitgedichte für alle Philisterbräute in Deutschland zu machen als Schauspiele für ihre Väter, Männer und Brüder. Worte, Worte, Worte. Es gibt nur ein einziges Drama, das dem Deutschen gefällt, ihm angemessen und doch dabei schön ist, musterhaft und höchst vollendet – Hamlet. Aber ein Shakespeare mußte kommen, es zu dichten, ein Zauberer, der alles kann.

[364][365]

Emilia Galotti
Von Lessing

Wenn am Ziele der Wanderung eine schöne Landschaft für den rauhen, steilen und mühsamen Weg belohnt, so mag nicht minder ein reizender Weg für ein unerfreuliches Ziel Ersatz geben. Solches geschieht mit Emilia Galotti. Bei Virginius, dem Vorbilde Odoardos, stand der Vater im Solde des Bürgers, und man sieht nur mit freudiger Rührung ein frommes Lamm auf dem Altare der Freiheit bluten. Aber wenn die schreckliche, unnatürliche Tat, wie hier, vergebens geschieht, wenn der Vater seine Tochter ermordet, nicht für die Götter oder das Vaterland, nicht um ihre Herzensreinheit zu bewahren, die er keiner Verderbnis fähig hält, sondern nur um ihre anatomische Unschuld zu retten, so wendet man sich mit Abscheu vor einem solchen Anblicke zurück. Auch die Sittenlehre aus dem Munde des Prinzen befriedigt die gerechte Forderung des Zuhörers nicht. Die Wahrheit wäre mit einem solchen Opfer zu teuer bezahlt, die Lüge ist es um so gewisser. »Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« Nein, mein Prinz! die Verantwortlichkeit der Minister gilt nur in Staatssachen; wo Fürsten beginnen Menschen und wo sie aufhören menschlich zu sein, da treten sie unter das [366] Gesetz der Sitten. Gute Fürsten haben auch immer gute Ratgeber gefunden.

Aber wie reizend sind die Irrgänge des Dichters, und selbst der Unnatur der bürgerlichen Schauspiele, deren Vater Lessing war, sieht man gern nach, wenn sie so voll hohen Adels sind wie bei ihm. Wie wahr sind die Charaktere aufgefaßt, wie naturtreu und scharf, und doch kühn und geistreich, sind sie umschrieben, und wie fein schattiert. Es wird dem Leser oder Zuhörer kein Spielraum zum Irren gegeben; er muß die Personen ganz so ansehen, wie sie ihm erscheinen sollten. Wie faßlich und willkommen sind die Kunstlehren und Kunst-Liebegeständnisse in der Malerszene. Welche männlich kräftige und zugleich anmutige Sprache überhaupt. Man bedauert, daß Lessing unter den Deutschen nur sich selbst zum Vorbilde nehmen konnte und die schönsten Erfindungen seines Geistes an unterirdische Grundsätze, worauf die nachgeborenen Dichter ins Freie bauten, verwenden mußte. Dreißig Jahre später wäre er genußbringender und unsterblich geworden.

Die kunstfertige szenische Darstellung solcher Dramen findet Hindernisse, die nicht bloß in dem darstellenden Künstler liegen, sondern auch in der gegenwärtigen Zeit und ihren Schauspieldichtern. Jene hat die scharfe Sonderung der Stände im bürgerlichen Leben, die noch zu Lessings Tagen obwaltete, abgestumpft. Die Großen sind herab-, die Niedrigen hinaufgestiegen; diese und jene sind durch so viele Hände und Schicksale gegangen, daß sie ihr Gepräge verloren haben und sich nur noch durch den Metallwert unterscheiden. Das Zunftwesen und die Häuslichkeit sind aufgehoben, und keiner ist mehr Herr in seiner Werkstätte, noch fremd in eines Fremden Hause. Man hindert sich wechselseitig, und es geschieht nichts. Daher viel Kraft und wenig Taten, viel Geist und wenig Gedanken, viel Empfindung [367] und wenig Teilnahme, viel Licht und wenig Farben. Wo sollen unsere Schauspieldichter die Vorbilder zu bürgerlichen Charakteren hernehmen? Sie können ihr Talent nicht üben und müssen es aus Mangel an Übung endlich, verlieren. Alle ihre Personen sind daher humoristisch, und der ganze Theatereffekt beruht darauf, daß sie im letzten Akte aus dem Charakter stürzen. Der unverschämte Betrüger wird beschämt, die Spröde zuvorkommend, der unerbittliche Vater gerührt, die Eifersucht geheilt, der Bösewicht gebessert, der Wildfang gesetzt. Den Schauspielern ist hierdurch eine köstliche Zwickmühle aufgetan. Geht es nicht auf diese Weise, so geht es auf die andere. Da sie, wie die Personen, die sie darzustellen haben, nicht wissen, was sie wollen, und ihr Spiel gleich den gespielten Charakteren ohne bestimmte Richtung hin und her schwankt, so wäre es ein seltener unglücklicher Zufall, wenn sie nicht in einem Abende einmal zusammentreffen und glückliche Momente haben sollten. In einem Kotzebueschen Stücke kann auch ein gewöhnlicher Schauspieler nicht durchaus schlecht spielen; aber in den Dramen Lessings, wo die plastischen Dimensionen kein Zurückbleiben und keine Überschreitung dulden, kann er dieses allerdings. Aus den angeführten Gründen darf in gegenwärtiger Zeit nur wasjetzt möglich ist, gefordert werden, und von diesem Möglichem ist bei der Darstellung der Emilia Galotti manches geleistet worden.

Durch Vortrauer, Schmerz und Klage geht Emilia zum Tode. Sie erscheint zuerst unter dem Nonnenschleier des Grabes, dann als geschmücktes Schlachtopfer. Ihre heitere Vergangenheit liegt hinter der Bühne. Keine Kraftäußerung, keine Helle; ihr Spiel sei leise und düster, gleich einer sinkenden Lampe, und das augenblickliche Aufflackern der Heiterkeit, während sie mit Appiani vom Hochzeitkleide redet, mache das Nachtstück nur [368] noch schauerlicher. Sind dieses die Forderungen an die Rolle der Emilia, so ließ Demoiselle *** nichts zu wünschen übrig. – Herr ***, als Odoardo, bewährte seine ausgezeichnete Gabe, mit dem Anstande des Weltmannes die Biederherzigkeit eines schlichten Bürgers und die Gemütlichkeit eines Hausvaters zu vereinigen. In bezug auf Nachfolgendes wird bemerkt, daß er einer der wenigen von den Mitgliedern unserer Bühne ist, die das Gebieterische der Vornehmen als ein angebornes Recht unbefangen auszuüben verstehen und nicht, gleich Emporkömmlingen, Eilfertigkeit aus Furcht, Arroganz aus Mißtrauen und barsches Wesen aus Schwäche damit verbinden. Manche andere wissen nicht einmal, wie man dem Kutscher befiehlt, anzuspannen. – Herr *** spielte den Prinzen. Von dem Fürsten hatte er nur das Staatsrechtliche, von dem Hofmanne nur die Charakterlosigkeit, von dem Liebenden nur das Lächerliche. Er war hart, wo er fest, morsch, wo er weich, schwach, wo er nur nicht gebieterisch sein sollte. Ist es denn so schwer, sich in einen Fürsten hineinzudenken, da doch jeder ein Fürst in seinem Hause ist und wenigstens im Bedienten einen Untertan zählt! Hoheit ist nicht ungemessene Breite; die Hochgestellten sehen ihren Untergebenen aus der Vogelperspektive, und sie haben nicht nötig, den Gehorchenden Platz und Rede wegzunehmen, um sich auszudehnen. Man hörte es Herrn *** an, daß er erst seit sechs Uhr auf dem Throne sitzt. Wenn er als Herr sprach, imponierte er, als müßte er sorglich dem Widerspruche zuvorkommen und gebrauchte die ganze Artillerie der Macht, um einen furchtsamen Hofmann zu schrecken, der schon vor dem Schalle des leisesten Wortes zurückfährt. Dann beging er den Fehler, die Personen nicht anzusehen, mit denen er sprach, und weit von ihnen entfernt zu bleiben. Das gehört nicht zur Fürstengrazie. Es ist sehr unbequem, mit einem zu reden, [369] der hinter dem Rücken steht, aber Fürsten machen sich's bequem; und was den räumlichen Abstand betrifft, so mag wohl der Untergeordnete ehrerbietig zurücktreten, aber der Vornehme muß ihm immer wieder auf den Leib rücken. Den Regierungsgrundsatz, die Untertanen in der Entfernung zu halten, dehnte Herr *** sogar auf leblose Sachen aus; denn als er das Bildnis der Orsina betrachtete, das nur zwei Fuß hoch war, blieb er fast die ganze Zimmerweite davon ab stehen, als wäre es ein Freskogemälde, und dennoch wird von den Augen und dem Munde der Gräfin gesprochen, die man doch in solcher Entfernung unmöglich genau sehen konnte. Die Szene mit dem Maler mißlang ihm im höchsten Grade. Die feinen Bemerkungen, die der Dichter dem Prinzen in den Mund legt, wurden mit gar keiner Feinheit und als wären sie nicht verstanden worden, vorgetragen. Auch gegen den Maler war Herr *** zu vornehm zurückhaltend. Der Prinz liebte die Kunst und die Künstler und mußte also herablassender und freundlicher gegen Conti sein, als es Herr *** war. Um von den vielen Beispielen falscher Deklamation nur eines herauszuheben, hatte Herr *** die Worte, mit welchen er den Maler verabschiedete: »Lassen Sie sich für beide Porträte bezahlen, was Sie wollen, so viel Sie wollen, Conti« mit dem höchsten Pathos gesagt und mit den prächtigsten Gebärden begleitet (wie die Schauspieler es oft tun, wenn sie eine Rede schließen, weil sie glauben, diese müsse immer wie eine Rakete, ehe sie verlischt, knallen und platzen); diese Betonung war höchst unzeitig. Es hörte sich an, als brächte der Prinz mit Anstrengung ein Opfer. Viel Geld mag dem Künstler ein wichtiges Wort sein, aber einem Fürsten, der nur zu seinem Schatzmeister schickt, ist es keines; der Prinz wollte nur seine Zufriedenheit ausdrücken, und dieses mußte mit Ruhe geschehen, wenn auch mit Nachdruck. – Man könnte dem Marinelli, diesem[370] Großvater aller theatralischen Hofschurken, gram werden wegen der unleidlichen Brut von Söhnen und Enkeln, die er in die Welt gesetzt und mit welchen er seit fünfzig Jahren unsere Bühnen übervölkert hat. Es ist nicht die Schuld des Ahnherrn, wenn seine Nachkommenschaft ausgeartet ist; er hat ihnen die besten Grundsätze hinterlassen, und er selbst steht vollendet da als Schmeichler, Sünder und Verführer. Wie unverschämt entblößt er sich gleich bei seinem ersten Auftritte, wo er, dem Prinzen gegenüber, die Gräfin giftig verlästert, vor der er einige Wochen früher noch im Staube lag. Herr *** ist sonst Meister in solchen Rollen und bewährte sich auch heute als solcher, indem er die Grundzüge dieses Charakters richtig auffaßte und darstellte. Aber nur die Grundzüge, im Kolorit war einiges verfehlt. Er war etwas zu steif und unrührig. Der Prinz ist jung und liebt und mochte wohl einem solchen sein Vertrauen schenken, der sich ihm herzlich hingab, nicht aber fest, schroff und dürre, wie ein Felsen im Meere, selbst in seiner Untertänigkeit eine imponierende Selbstbeherrschung zeigte und durch sein Lauern und seine Ruhe, der Leidenschaft gegenüber, beschämend und unbehaglich sein mußte. Auch zeigte Herr *** überall zuviel Hohn. Das liegt nicht in der Rolle. Bösewichter solcher Art tun keine Schandtat aus Liebhaberei, sondern nur, weil sie ihnen Vorteil bringt, und daher ohne die Grimasse der Sünde, so wie sie ohne die Verklärung der Tugend auch etwas Gutes tun, wenn es ihnen nützlich ist. Nur die bessern Menschen begehen eine Übeltat mit Leidenschaft, weil sie sie nur in Leidenschaft begehen. – Die Rolle der Gräfin Orsina ist ungemein schwierig. Der Verstand, einen Charakter so aufzufassen, wie ihn sich der Dichter gedacht hat, und die Kunstfertigkeit, ihn getreu nachzubilden, reichen hier nicht hin. Denn der wahre Charakter der Gräfin erscheint nicht auf [371] der Szene. Ihr Geschick hatte sie mürbe gemacht, sie so, wie der Maler Conti ihr Bildnis, umgestaltet, worüber der Prinz sich äußerte: »Stolz haben Sie in Würde, Hohn in Lächeln, Ansatz zu trübsinniger Schwärmerei in sanfte Schwermut verwandelt.« Die Stolze erscheint gedemütigt, die Spötterin verspottet, die giftige Eifersüchtige sich mit Recht gekränkt fühlend. Da ihre Strafe größer ist als ihre Schuld, so kann man der Unglücklichen das Mitleid nicht versagen. Frau ***, eine vorzügliche Künstlerin im tragischen Fache, und die immer bedenkt, was sie tut, hat ihr Spiel meisterhaft durchgeführt. – Nicht so Herr *** als Maler Conti. Er hatte sich das Ansehen eines funfzigjährigen Mannes gegeben, war altväterisch gekleidet, sah aus wie ein Prokurator und betrug sich auch darnach. Was auch der Kostümschlendrian gefordert haben mag, ein Maler hätte sich wohl etwas malerischer kleiden dürfen. Die steife Untertänigkeit war einem sich fühlenden Künstler nicht angemessen, hier am wenigsten, wo der Prinz herablassende Freundlichkeit zeigte. Alle das Feine, Gedankenreiche und Empfindungsvolle, was Conti zu sagen hatte, ging durchaus verloren, da es im dürren Professortone hergesagt wurde.

[372][373][379]

Das Kind der Liebe
Schauspiel von Kotzebue

Schon die Exposition ist prächtig! Wilhelmine, die Tränenweide, steht auf der Landstraße, und zum Behufe der Rührung werden alle mögliche Menschen, Soldaten, Bauern, Bäuerinnen, Jäger, Wirte, Pächter, Juden an ihr vorbeigeführt. Diese armen Leute müssen reisen, um uns zu rühren und selbst gerührt zu werden, oder um nicht gerührt zu werden und uns hierdurch um so mehr zu rühren. Welch erschrecklichen Hunger und Durst hat die arme Frau! Wie rührend ist es, wenn der brave Sohn die Mutter mit Brot und Wein ätzet! Welche Natürlichkeit! Jawohl; doch um die Hälfte des Eintrittpreises könnet ihr im nächstgelegenen Gäßchen noch viel natürlicheren Jammer sehen und auch stillen zugleich. Wie spitalmäßig die kranke Wilhelmine aus einer Ohnmacht [379] in die andere fällt! wie herzbrechend! Ach, jawohl, der große Kotzebue! Warum er nun bei seiner hohen Dichtergabe, der nichts zu hoch war, nicht auch eine Kindbetterinstube dramatisiert hat, vor, während und nach der Geburt, zum Nutzen der Hebammen? Warum er nicht ein Schauspiel geschrieben hat, genannt: Das hitzige Fieber, wo im fünften kritischen Akte der Schweiß ausbricht? So ein dramatisches Klinikum hätte tüchtige Mediziner gebildet ... Die kranke Wilhelmine, was sie schwätzen kann, trotz ihrer Schwäche, es ist zum Erstaunen! Die gesündeste Männerlunge tät' es ihr nicht nach. Fräulein Amalie ist ein Gänschen ohnegleichen. Dem Vater, der sie fragt, ob sie Grillen habe, antwortet sie: »Wenn man die Grillen vertreiben will, so muß man Erbsen mit ein wenig Quecksilber kochen lassen, davon sterben sie!« Dem Pfarrer sagt sie: »Heiraten Sie mich – Sie will ich heiraten.« Aber, würde ein Mädchen im Bauche der Erde erzogen, so weiß es doch, daß sich solche Reden nicht schicken. Und die Tochter eines reichen Edelmanns, welche die Bälle in der Residenz besucht! – – Und der Pfarrer mit seinen langweiligen Predigten, und der Graf von der Mulde! Ist das Natur, daß ein Deutscher von Erziehung, und sei er noch so sehr französischer Affe, und gebrauche er noch so häufig französische Redensarten, sich vornehmen solle, seine Muttersprache wie ein Franzose auszusprechen, und wird er nicht unwillkürlich richtig sprechen müssen? – »Aber es soll ja auch Karikatur sein.« – Wenn auch. Die Karikatur darf quantitativ steigen, aber nicht qualitativ. Shakespeare läßt den Lügner Falstaff prahlen, er habe vierzehn Räuber in die Flucht gejagt; er läßt ihn aber nicht aufschneiden, er sei einer Taube in der Luft nachgeflogen und habe sie beim Flügel erwischt.

Wenn Kotzebue noch ziemlich rüstig erscheint, solange er auf der Ebene des gemeinen Lebens vorschreitet, so [380] wird er doch gleich engbrüstig und verliert den Atem, sobald er nur zwei Schritte zu steigen hat. Schnitzen und drechseln kann er etwas, aber malen nicht im geringsten. Man überdenke nur einmal nachfolgende Stellen aus der sechsten Szene des zweiten Aktes. Der Oberst läßt den Pfarrer rufen: »Oberst: Ohne Umstände, verzeihen Sie, wenn meine Botschaft vielleicht ungelegen kam. Ich will Ihnen mit drei Worten sagen, wovon die Rede ist. – Man hat mir gestern abend eine erbärmliche Übersetzung aus dem Französischen zugeschickt, die vor ohngefähr zwanzig Jahren die Presse verlassen. Ich selbst besitze ein recht niedliches deutsches Original, wovon ich, ohne Ruhm zu melden, der Verfasser bin, und da verlangt man, ich soll meinen Namen ausstreichen und es mit jener schalen Übersetzung zusammenbinden lassen. Nun wollt' ich Sie, Herr Pastor, als Korrektor meines Buchs, einmal fragen, was Sie dazu meinen? Pfarrer: Wirklich, Herr Oberst, die Allegorie versteh' ich nicht. Oberst: Nicht? Hm! hm! das tut mir leid! Ich dachte Wunder, wie klug ich's eingefädelt hätte! Also kurz und gut, Herr Pastor, der junge Graf von der Mulde ist hier und will meine Tochter heiraten.« Nun, um aller Musen willen, wer hätte auch eine solche Allegorie verstehen können! Wenn ein Buchdrucker, Korrektor, ein Buchbinder, ein Originalschriftsteller und ein Übersetzer beisammen im Tollhause wohnen und in der Sprache ihrer Gewerbe faseln, können sie keine verrücktere Allegorie zustande bringen.

[381][382][387]

Die Heimkehr
Trauerspiel von Houwald

Nachdem sich der Vorhang aufgerollt, sieht man die Stube einer Försterswohnung. Alles ländlich, einfach, fast ärmlich. Runde Fensterscheiben, verschabter Großvaterstuhl, an der Wand eine Schwarzwälder hölzerne Uhr, ein gedrucktes, wahrscheinlich von Forstfreveln handelndes Plakat und eine Karte von Europa, von den ältesten Homannschen, mit glänzenden Lackfarben. Am Tische, auf welchem Blumen liegen, steht ein schönes junges Mädchen, beschäftigt, einen Kranz zu flechten, und plaudert dabei mit ihrem achtjährigen Brüderchen. Der Kranz ist für den Vater, wenn er von der Jagd heimkehrt; denn sein Geburtstag ist heute. Das ist nun freilich für eine Försterstochter schon sehr viel Poesie; ein prosaischer Blumenstrauß wäre natürlicher gewesen. Man verwundert sich noch mehr über die zierliche Kleidung der Waldbewohnerin: im feinsten weißen Musselin, weiße Rosen an der Brust und in den Haaren; sie hätte damit auf den Kasinoball gehen können. Und wie sie spricht! Wie zart, wie empfindsam, wie sauber. Sie erklärt dem Brüderchen den Sinn und die Bedeutung jeder Blume, die sie in den Kranz einflicht; Thekla in Wallenstein hätte nicht besser reden können, und das Brüderchen ruft ihr beifällig zu: »O herrlich, Schwester! Wahrlich du bist klug!« Zuletzt kommt die Reihe an den Rittersporn. Der Rittersporn, sagt die Blumensprachlehrerin:


[387]
Der Rittersporn zeigt einen Ritter an,
Er ist hinausgesprengt mit Roß und Schwert,
Doch nimmer ist er heimgekehrt.

Dieses wiederholt sie in der Folge, und alsobald rührt sich in dem Zuhörer die trübe Ahnung, was die Sache für ein Ende nehmen werde, auf gleiche Weise aufgeregt wie im Ingurd, durch das unermüdliche Refrain der träumenden Asla:


Der Ritter lag – der Ritter lag erschlagen,
Zerschmettert! Und weit von ihm lag sein Schild.

Der trübe Ausgang eilt auch schnell genug herbei. Denn kaum hat das Mädchen seine Blumenlehre mit folgenden Worten geendigt:


Doch nun zum Kranz, daß er vollendet werde!
Sonst überrascht mich noch der Vater hier.
Heut bin ich sein Hofjuwelier

und man kaum Zeit hat, sich zu wundern, wie ein Waidmann mit einem Juwelier zusammengerate, da tritt – das Schicksal in die Stube, als Armenier gekleidet, in grünem, pelzverbrämtem Rocke und mit einem langen Barte. Der Bart ist schwarz, der Mann ist stark und rüstig und gebärdet sich wild. Aber die Kinder erschrecken gar nicht, welches doch in einem abgelegenen Förstershause so natürlich gewesen wäre, da dort oft Räuber und gefährliches Diebsgesindel einkehren. Sie sehen ihn für einen alten schwachen Mann an und geben ihm Wein. Der Armenier spricht unsinniges Zeug, schließt das Mädchen in seine Arme; und da das kluge, unausstehlich feintuende Knäbchen sich mit ihm schön unterhält, ruft er ganz toll aus:


Fort aus den Nest, verruchte Kuckucksbrut!


Da ist der Tränenquell. Die Geschichte verhält sich nämlich wie folgt: Heinrich Dorner, ein Soldat, schließt das Mädchen seiner Liebe, und das ihm mit gleichem Herzen [388] zugetan, als Gattin in die Arme. Er versprach ihr, den Dienst zu verlassen. Aber nach der Hochzeit vergißt er sein gegebenes Wort, läuft hinaus aufs Feld, streicht den ganzen Tag umher und läßt sein junges Weibchen allein zu Hause. Selbst ein süßes Pfand der Gattenliebe bändigt den Wilden, fesselt den Unsteten nicht. Endlich geht er sogar in den Krieg; nicht etwa in einen Befreiungskrieg, welches der Uneigennützigkeit wegen erhaben gewesen wäre, nicht etwa gewaltsam angeworben, nicht etwa, weil er seiner Frau überdrüssig geworden, sondern nur aus heftigem Tatendrange. Dreizehn Jahre bleibt er weg, und in den letzten neun Jahren, ohne seiner Frau ein Wort zu schreiben. Zwar sagt er, er habe jenseits des Meeres dienen müssen; aber im Verlaufe eines Jahres gelangt ein Schiff auch von dem entferntesten Ende der Welt nach Europa; er hätte also schreiben können, wenn ihm an seiner Frau nur im mindesten gelegen gewesen wäre. Des Soldatenlebens müde, fällt ihm ein, zurückzukehren, um zu sehen, was Weib und Kind machen. Verkleidet kommt er in sein Haus, als Armenier vermummt, und findet, wie wir oben gesehen, ein erwachsenes Mädchen, in dem er seine eigene Tochter erfährt, und einen Knaben, des Försters Sohn. Er gibt sich seiner Tochter nicht zu erkennen, und diese erzählt ihm auf Befragen: der Förster sei ihr Stiefvater, das heißt ihrer Mutter zweiter Mann. Er tobt gewaltig. »Wie?« sagt er, »wie? deine Mutter hat aufs neu' gefreit?« – »Ja wohl«, antwortet die Tochter. Jetzt tritt die Försterin ins Zimmer, einen Geburtstagskuchen, auf dem ein Wachskerzchen steckt, in den Händen tragend. Sie sieht den Fremden nicht eher, bis ihn ihr die Kinder zeigen. Dann sagt sie ihm: »Wir führen zwar keine Wirtschaft, aber Ihr seid uns doch willkommen, labt Euch.« Das Gespräch spinnt sich fort. Er, leidenschaftlich, aufbrausend, in mühsam zurückgehaltenem Grimme. Sie, [389] nichts merkend, ihn nicht erkennend, den immer noch Heißgeliebten, wie sie mehreremal gesteht. Er ist noch jung, verändert kann er sich nicht viel haben. Ein Spötter müßte denken: Sie kennt ihn recht gut, aber sie ist pfiffig, sie will nichts wissen. Der Armenier erzählt, ihr toter Mann lasse sie grüßen. Dann macht er ihr Vorwürfe, daß sie zum zweiten Male geheiratet. Sie erwidert darauf:


Ach, mir war vor der zweiten Ehe bange!


aber ihr Vater habe ihr lange zugeredet, den Förster, der sie schon lange geliebt, nicht auszuschlagen, damit sie versorgt werde. Endlich, und da sie in der Zeitung gelesen, ihr Heinrich sei geblieben, habe sie sich bereden lassen. Auch sei sie jetzt mit ihrem zweiten Manne ganz zufrieden.

Nun kommt der Förster von der Jagd zurück. Umarmungen, Glückwünsche zum Geburtstage. Der Armenier muß alle diese Zärtlichkeiten mitansehen und möchte bersten. Der Förster fragt: »Was meint ihr wohl, Kinder, was ich heute geschossen habe?« Sie raten hin und her und treffen's nicht. »Einen schwarzen Schwan habe ich geschossen.« Verwunderung. Er erzählt, im Schilfe hätte ein Schwanenweibchen gesessen, und um deren Besitz hätten sich zwei Schwanenmännchen blutig gestritten. An der ängstlichen Teilnahme, welche das Weibchen für den einen der Kämpfenden gezeigt, habe er, der Förster, sogleich erkannt, daß dieser der legitime Eheschwan sei, und um dem Streit ein Ende zu machen, habe er dem usurpatorischen eine Kugel durch den Leib geschossen und bringe ihn in seinem Ranzen mit. Dem aufhorchenden Armenier gießt diese Waidgeschichte Öl in die Wunde. Das ist ja grade mein Fall, denkt er, du Förster bist der usurpatorische schwarze Schwan, den ich aus der Welt schaffen muß. Während die Familie auf[390] einen Augenblick das Zimmer verläßt, greift er wütend nach der Büchse – sie ist nicht geladen. Da fällt ihm ein, daß er Gift zu seinem eigenen Gebrauche bei sich führe. Er schüttet es in den angefüllten Becher, der für den Förster bestimmt ist. Dieser mit der Familie tritt wieder ins Zimmer. Er setzt den Becher an den Mund, stellt ihn aber wieder weg, um noch etwas zu sprechen. Dann reicht er ihn seiner Frau. Diese will trinken auf das Andenken ihres toten Heinrichs. Der Armenier fällt ihr in die Arme und sagt: »Tut das nicht!« Dann fragt er sie, was sie tun würde, wenn der totgeglaubte Dorner zurückkehre. Die Försterin antwortet, sie würde ihm freundschaftlich bemerken, für dieses Leben wolle sie ihrem zweiten Manne bleiben, aber im künftigen Leben kehre sie zu ihrem Heinrich zurück; und nachdem sie solche Reden geführt, schmiegt sie sich dem Förster an. Darauf fragt er die Tochter das gleiche, die gibt die nämliche Antwort und schmiegt sich ihrem Stiefvater auf die andere Seite an. Endlich fragt er das Söhnchen. Das Bübchen, das überall mitspricht, antwortet wie die Vorigen und umklammert den Vater gleichfalls. Der Armenier, nachdem er diese mißtönende dreistimmige Fuge mitangehört, denkt: wie ich sehe, ist hier nichts für mich zu tun. Als man ihm daher den Becher zuerst kredenzte trank er ihn mit einem Zuge aus. Bald wird ihm übel. Mutter und Kinder laufen fort, nach einem Arzte zu schicken. Der Förster bleibt allein zurück, und diesem gibt sich der Sterbende als Heinrich Dorner zu erkennen, läßt ihn aber schwören, nie seiner Frau etwas davon zu sagen.

Das Schicksal, auf seiner Menschenjagd, kehrt wohl auch einmal in eine stille Försterswohnung ein, aber dann hat es sich verirrt, es bückt sich, um durch die Türe zu kommen, und findet keinen Platz, seinen Hofprunk auszukramen. Der Dichter der Heimkehr hat alle Wände eingeschlagen, [391] um dem königlichen Fatum Gemächlichkeit zu verschaffen. Welche Kriecherei! Welche Verschwendung! Kam es je einsiedlerischen Landbewohnern in den Sinn, einen vornehmen bösen Gast mit solcher Pracht zu bewirten? Welche kostbare Reden! Welche hohe Pfeilerspiegel, worin die Empfindungen sich belächeln! Wie viele feingespitzte Betrachtungen für einen Förster, eine Pfarrerstochter, ein im Walde erzogenes Mädchen und einen achtjährigen Knaben! In einer der ersten Szenen, wo Mutter und Tochter sich liebkosen und erstere zur zweiten sagt, ihr Busen sei die warme Erde, aus der sie, Tochter, als Rose entsprossen, antwortet die Rose, sich an der Mutter Brust werfend:


O dürft' ich auch, so wie die Ros' es kann,
Hier, wo ich aufgeblüht bin, einst vergehn.

Warum will sie vergehen? Warum früher sterben als die Mutter? Woher diese nervenschwache Stimmung einer Waldnymphe? Nur eine einzige natürliche Rede kommt im ganzen Stücke vor. Die Mutter hält sie:


Wie schön
Der Kuchen diesmal mir geraten ist!

Sonst überall ist der unleidliche Stelzentritt der Empfindung. Über das ganze Stück der tränenfeuchte Himmel; gleich nach aufgehobenem Vorhange in allen Worten und Gebärden das düstere Grabgeläute, den traurigen Ausgang verratend. Die Familie will des Vaters Geburtstag feiern und ist also froh gestimmt. Der zerschmetternde Blitz sollte aus heiterem Himmel kommen. Aber auf den Gesichtern aller Auftretenden zeigen sich voreilig die Gewitterwolken.

Die Handlung – welche Unnatur! Ist es glaublich, daß ein Mann von so heftiger Liebe dreizehn Jahre lang freiwillig von Weib und Kind wegbleibt, daß er nicht schreiben will oder daß er keine Gelegenheit findet zu [392] schreiben? Ist es glaublich, daß er, trotz seines Bartes, von seiner Frau, mit der er fünf Jahre verheiratet war, nicht sollte erkannt worden sein? Ist es in der Natur, daß ein kriegslustiger, kühner und daher gewiß von aller Falschheit fremde Mann auch nur auf den Gedanken kommen konnte, seinen Nebenbuhler meuchelmörderisch und feige mit Gift von der Welt zu schaffen?

Und die Entwicklung! – Die Frau erfährt nicht, daß der Armenier ihr voriger Mann sei; er will ihr den Schmerz ersparen. Das ist sehr hübsch, sehr edelmütig, aber poetisch, aber dramatisch ist es nicht! Wo bleibt das Schicksal? Ach wäre es nur immer weggeblieben. Mit Schmerz denkt ein Liberaler daran, daß in Deutschland nie Geschwornengerichte werden eingeführt werden dürfen. Welches Unheil würde daraus entstehen, wenn man einer in der neuen ästhetischen Schule gebildeten Jury die Strafgerechtigkeit in die Hände geben wollte? Schlägt ein Vater den Sohn tot, um ihm sein Geld zu stehlen, denkt eine poetische Jury: »es war ein vierundzwanzigster Februar,« und spricht: Nicht schuldig. Erschlägt ein Kain seinen Bruder, wird es einer Zigeunerin zugeschoben und der Mörder losgesprochen. Versucht ein Mann seinen Nebenbuhler zu vergiften, erwägt die psychologische Jury, daß eine Geschichte von einem schwarzen Schwan unglücklicherweise in die Quere gekommen, und vergibt ... Es ist zum Erbarmen!

[393][394][397]

Über den Charakter des Wilhelm Tell
in Schillers Drama

Aus Schillers liebevollem, weltumflutenden Herzen entsprang Tells beschränktes, häusliches Gemüt und seine kleine enge Tat; die Fehler des Gedichtes sind die Tugenden des Dichters. Wäre es mir auch immer gleichgültig, nur dieses Mal möchte ich nicht mißdeutet sein – ich vermisse, doch ich beklage nicht. Der reiche Schatz der Kunst kann eine Kostbarkeit entbehren, das Seltenste ist ein edler Geist. Dem liebenswürdigen Schiller stehen seine Mängel besser als besseren Dichtern ihre Vorzüge an. Ihm zittert das Herz, ihm zittert die Hand, welche formen soll, und formlos schwanken die Gestalten. Der Frost bildet glänzende Kristalle, bildet schöne Blumen an den Fensterscheiben, der Frühling schmilzt sie weg; das Glas wird leer, doch durchsichtig und zeigt den warmen blauen Himmel; das Auge staunt nicht mehr an, aber es weint.

Es tut mir leid um den guten Tell, aber er ist ein großer Philister. Er wiegt all sein Tun und Reden nach Drachmen ab, als stünde Tod und Leben auf mehr oder weniger. Dieses abgemessene Betragen im Angesichte grenzenlosen Elends und unermeßlicher Berge ist etwas abgeschmackt. Man muß lächeln über die wunderliche Laune des Schicksals, das einen so geringen Mann bei einer fürstlichen Tat Gevatter stehen und durch dessen [397] linkisches Benehmen die ernste Feier lächerlich werden ließ. Tell hat mehr von einem Kleinbürger als von einem schlichten Landmann. Ohne aus seinem Verhältnisse zu treten, sieht er aus seinem Dachfenster über dasselbe hinaus; das macht ihn klug, das macht ihn ängstlich. Als braver Mann hat er sich zwar den Kreis seiner Pflichten nicht zu eng gezogen; doch tut er nur seine Schuldigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Er hat eine Art Lebensphilosophie und ist mit Überlegung, was seine Landesleute und Standesgenossen aus bewußtlosem Naturtriebe sind. Er ist ein guter Bürger, ein guter Vater, ein guter Gatte. Es ist sehr komisch, daß er seinen gesunden Bergesknaben, starken Kindern einer rauhen Zeit, eine Art Erziehung gibt, wie sie Salzmann in Schnepfenthal den seidnen Püppchen des 18. Jahrhunderts gab. Er härtet sie ab, sie sollen ausgerüstet werden gegen das Ungemach des Lebens, ja er bemüht sich sogar, ihren Verstand aufzuklären und die abergläubische Wirkung der Ammenmärchen zu zerstören. Tell hat den Mut des Temperaments, den das Bewußtsein körperlicher Kraft gibt; doch nicht den schönen Mut des Herzens, der, selbst unermeßlich, die Gefahr gar nicht berechnet. Er ist mutig mit dem Arm und furchtsam mit der Zunge, er hat eine schnelle Hand und einen langsamen Kopf, und so bringt ihn endlich seine gutmütige Bedenklichkeit dahin, sich hinter den Busch zu stellen und einen schnöden Meuchelmord zu begehen, statt mit edlem Trotze eine schöne Tat zu tun.

Tells Charakter ist die Untertänigkeit. Der Platz, den ihm die Natur, die bürgerliche Gesellschaft und der Zufall angewiesen, den füllt er aus und weiß ihn zu behaupten; das Ganze überblickt er nicht, und er bekümmert sich nicht darum. Wie ein schlechter Arzt sieht er in den Übeln des Landes und seinen eigenen nur die Symptome, und nur diese sucht er zu heilen. Geschickt [398] und bereit, den einzelnen Bedrängten und sich selbst zu helfen in der Not, ist er unfähig und unlustig, für das Allgemeine zu wirken. Als der flüchtige Baumgarten seine Landsleute um Beistand anfleht, denken diese mehr an die Verfolgung als an den Verfolgten, lassen sich erzählen, klagen um das Land und zaudern mit der Hülfe. Tell erscheint, sieht nicht auf die Verfolgung, sondern nur auf den Verfolgten und rettet ihn. Ein solcher Mann kann in einem Schiffbruche als guter Schwimmer vielen Verunglückten Hülfe leisten; doch unfähig, das Steuer zu führen, wird er den Schiffbruch nicht verhüten können. Wenn er nun in einem Sturme den Geängstigten zuruft: fürchtet euch nicht, ich kann schwimmen, ich ziehe euch aus dem Wasser – wird er, wie überall, wo der Charakter mit den Verhältnissen in Widerspruch steht, komisch erscheinen und eine Wirkung hervorbringen, die der ernsten Würde der Tragödie schädlich ist.

Auf dem Rütli, wo die Besten des Landes zusammenkommen, fehlte Tells Schwur; er hatte nicht den Mut, sich zu verschwören. Wenn er sagt:


Der Starke ist am mächtigsten allein


so ist das nur die Philosophie der Schwäche. Wer freilich nur so viel Kraft hat, grade mit sich selbst fertig zu werden, der ist am stärksten allein; wem aber nach der Selbstbeherrschung noch ein Überschuß davon bleibt, der wird auch andere beherrschen und mächtiger werden durch die Verbindung. Tell versagt dem Hute auf der Stange seinen Gruß; doch man ärgert sich darüber. Es ist nicht der edle Trotz der Freiheit, dem schnöden Trotze der Gewalt entgegengesetzt: es ist nur Philisterstolz, der nicht Stich hält. Tell hat Ehre im Leibe, er hat aber auch Furcht im Leibe. Um die Ehre mit der Furcht zu vereinigen, geht er mit niedergeschlagenen Augen an der Stange vorüber, damit er sagen könne, er habe den Hut [399] nicht gesehen, das Gebot nicht übertreten. Als ihn Geßler wegen seines Ungehorsams zur Rede stellt, ist er demütig, so demütig, daß man sich seiner schämt. Er sagt, aus Unachtsamkeit habe er es unterlassen, es solle nicht mehr geschehen – und wahrlich, hier ist Tell der Mann, Wort zu halten.

Der Apfelschuß war mir immer ein Rätsel, ja mehr – ein Wunder. Er soll geschehen sein, man glaubt daran, gleichviel. Die Natur ist oft unnatürlich, sie schafft Mißgestalten, und die Geschichte ist oft undramatisch; aber man muß das liegen lassen. Ein Vater kann alles wagen um das Leben seines Kindes, doch nicht dieses Leben selbst. Tell hätte nicht schießen dürfen, und wäre darüber aus der ganzen schweizerischen Freiheit nichts geworden. Man frage nur die Zeugen der Tat, man höre, was sie sagen, beobachte die Schweigenden – sie alle haben sie verdammt. Ja die gelungene Tat ist noch ganz so häßlich, als es die gewagte war; das Entsetzen bleibt, und die Furcht, der Vater hätte sein Kind treffen können, ist größer, als die frühere war, er könnte es treffen. War Geßlers Gebot so ungeheuer, daß es einen Vater ganz aus der Natur werfen konnte und er nicht mehr bedachte, was er tat: so hätte auch Tell, ohne Bedacht, dem Befehle nicht gehorchen oder den Tyrannen erlegen sollen. Aber er war doch besonnen genug, wie ein Weib zu bitten, und sein lieber Herr, lieber Herr zu sagen, wofür der bange Mann Ohrfeigen verdient hätte. Daß er dem Landvogt tollkühn eingestand, was er mit dem zweiten Pfeile im Sinne geführt, das war auch wieder Philisterei; die ehrliche Haut kann nicht lügen. Dieses ängstliche Wesen, diese Unbeholfenheit des guten Tell entsprang aber nicht aus Scheu des Untertanen vor seinem Herrn – dieses Gefühl, wie er später gezeigt, konnte er überwinden – nein, es war die Scheu des Bürgers dem Edelmanne gegenüber. Ganz anders betrug [400] sich der Ritter Rudenz. Das ist es aber eben, und das hätte der Dichter bedenken sollen. Man muß das Bürgervolk nur immer in Masse kämpfen lassen; man darf keinen Helden aus seiner Mitte an seineSpitze stellen. Der schönste Kampf kommt in Gefahr, dadurch lächerlich zu werden.

Es ist traurig – ja schlimmer: es ist verdrüßlich, daß Tell in die Lage kommt, um der guten Sache willen schlechte Streiche machen zu müssen. Verrat kann wohl notwendig werden, aber sittlich wird er nie, auch nicht, wenn er an Feinden begangen. Und ist es nicht Verrat, ist es nicht ein schlechter Streich, wenn Tell, als der Landvogt sich auf dem See seiner Hülfe anvertraut – der Feind dem Feinde – dem Schiffe entspringt, es in die Wellen zurückstößt und wieder dem Sturme preisgibt? Tell zeigt sich hier auch wieder als Pedant, als Schulmoralist und buchstäblicher Worthalter. Er glaubt nicht, den Landvogt getäuscht zu haben; er versprach, ihn aus der gegenwärtigen, zehn Schuhe breiten Gefahr zu retten, und dies hat er getan. Dem Schiffer, dem Tell nach seiner Befreiung das Ereignis erzählte, sagt er:


Ich aber sprach: Ja, Herr, mit Gottes Hülfe
Getrau' ich mir's und helf' uns wohl hindannen.
So ward ich meiner Bande los und stand
Am Steuerruder und fuhr redlich hin; –

Das nennt er redlich hinfahren! Wie ist nur der schlichte Mann zu dieser feinen jesuitischen Sinnesdeutung geraten? ... Jetzt kommt Geßlers Mord. Ich begreife nicht, wie man diese Tat je sittlich, je schön finden konnte. Tell versteckt sich und tötet ohne Gefahr seinen Feind, der sich ohne Gefahr glaubte. Die Natur mag diese Tat rechtfertigen, so gut es ihr möglich ist, aber die Kunst vermag es nie. Als Tell später mit Johann von Schwaben zusammentrifft und dieser mit dem Mordgesellen [401] Brüderschaft machen will, stößt ihn jener mit Abscheu zurück und spricht:


Unglücklicher!
Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen
Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?

Doch Tell irrt. Aus Ehrsucht hat er freilich den Landvogt nicht getötet, doch mit Notwehr – sollte diese ja, gegen eine rechtliche Obrigkeit, je rechtlich stattfinden können – kann er sich nicht entschuldigen. Damals, wenn er, um den Schuß von seinem Kinde ab zuwenden, den Bogen nach Geßlers Brust gerichtet hätte, wäre es Notwehr gewesen, später war es nur Rache, wohl auch Feigheit – er hatte nicht den Mut, eine Gefahr, die er schon mit Zittern kennen gelernt, zum zweiten Male abzuwarten.

Sollte ich aber jetzt auf die Frage Antwort geben: wie es denn Schiller anders und besser hätte machen können, – wäre ich in großer Verlegenheit. Der dramatische Dichter, der einen geschichtlichen Stoff behandelt, kann eine wahre Geschichte nach seinem Gebrauche ummodeln; denn es schadet der Geschichte nicht, man kennt sie, und sie bleibt doch geschehen, wie sie geschah. Eine geistige Überlieferung aber darf er niemals ändern. Diese besteht nur durch den Glauben und wird zerstört, wenn der Glaube umgeworfen oder anders gerichtet wird. Eine solche Überlieferung ist das Ereignis mit Tell. Aus diesem Zwange aber entsprangen Verhältnisse, mit welchen die Kunst nicht fertig werden konnte. Schiller führte uns mit Bedacht und Geschicklichkeit die Leiden der Schweizer vor Augen; wir sehen, was Baumgarten, Melchthal, Berta und die übrigen dulden und fürchten. Diese Leiden fließen endlich in ein Meer der Not zusammen, das alles bedeckt; diese Klagen bilden endlich eine Vereinigung, die das Land rettet. Tell aber ragt im Tun und Leiden zu monarchisch vor, gehört nicht zu dem topographischen [402] Schicksale der Schweiz und ist übrigens der Mann nicht, eine monarchische Rolle zu spielen. Er ist zu ängstlich, bedenkt zuviel und duckt sich gern. Den Mann mit breiten Schultern füllt nicht ganz seine Seele aus. Warum ihn aber Schiller so behandelt, ist schwer zu erklären. Er hätte ihn können alles tun, alles ertragen lassen, was er getan und ertragen, und ihn dabei trotziger, hochsinniger, gebietender machen können.

Wilhelm Tell bleibt aber doch eines der besten Schauspiele, das die Deutschen haben. Es ist mit Kunstwerken wie mit Menschen: sie können bei den größten Fehlern liebenswürdig sein. Was heißt aber ein liebenswürdiges Schauspiel? Ein liebenswürdiges Schauspiel ist ein Schauspiel, das liebenswürdig ist; die Kritik weiß hierüber nicht mehr als jedes andere Frauenzimmer.

[403][404][410]

Maria Stuart
Trauerspiel von Schiller

Ob die dichterische Vortrefflichkeit eines Schauspieles für dessen schlechte theatralische Darstellung Ersatz gebe oder das durch letztere erregte Mißbehagen nur noch größer mache, darüber gelangt man nicht sogleich zur klaren Ansicht. Ich habe mich endlich für das letztere, [410] nämlich dafür bestimmt, daß das schlechte Spiel in einem guten Stücke am meisten unerträglich sei. Doch gibt es hier wieder einen Höhepunkt, bei dem sich die Sache umwandelt. Es können Schauspieler unter aller Beurteilung ihr Spiel zur Parodie eines dramatischen Meisterwerks machen und hierdurch ohne ihr Verdienst höchst ergötzlich werden. Diese Art der Unterhaltung würde die heutige Vorstellung gewährt haben, hätten alle unsere Mimen so gespielt wie einige. Aber leider geschah es nicht, und ich vermochte darum nur die drei ersten Akte auszudauern, auf welche auch allein die nachfolgenden Bemerkungen sich beziehen. Die schlechtern Schauspieler waren es nicht, sondern die bessern, die mich diesmal fortgetrieben.

Frau *** darf sich in der Darstellung der Elisabeth in die Reihe der vorderen tragischen Künstlerinnen setzen, und ihr allein verdanken wir, daß Schillers Maria Stuart wenigstens ein Monodrama blieb. Gelang ihr auch minder das, was die heuchlerische Königin scheinen wollte, darzustellen, als das, was sie ist, so war doch selbst dieser Teil ihres Spiels nicht sowohl die Schattenseite als eine schwächer beleuchtete Gegend in einem schönen Landschaftsgemälde. Einige Bemerkungen, sollten auch rügende darunter vorkommen, können der Künstlerin beweisen, daß sie die Aufmerksamkeit an jede ihrer Reden und Bewegungen zu fesseln verstand. Bei den Worten, welche sie gegen den bewerbenden französischen Gesandten richtet:


Die Könige sind Sklaven ihres Standes,
Dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen –

legte sie die Hand aufs Herz. War dies recht getan? Ich glaube nicht. Auch davon abgesehen, daß diese Bewegung zu spielen selbst die aufmerksamste Heuchelei so selten bedächtig genug ist (aus physischen und physiologischen Gründen, die hier nicht erörtert werden können), [411] so wäre sie hier, wo Elisabeth als Königin erscheinen sollte, auch bei wahrem Gefühle, als etwas zu Bürgerliches und Häusliches, nicht an ihrem Orte gewesen. Überhaupt ist dieses Fingerdeuten auf den Sitz der Gefühle, das die Bewohner der Bretterwelt so häufig gebrauchen, etwas Tadelnswertes. Nur höchstens in der Oper, beim Singen, ist es zu dulden als ein trauriger, aber notwendiger Entrechat der tanzenden Hände, ohne welchen diese nicht zum Gleichgewicht und Stehen gebracht werden können. Im Schauspiele aber ist das Handaufdiebrustlegen (ein wahres Kommandowort) etwas Unedles und Unnatürliches, das oft eine komische Wirkung hervorbringt. Es wird hierdurch die Liebe zu einer bloßen Wallung des Geblüts herabgezogen und ihr Schmerz als ein Muskelkrampf erklärt. – In der nämlichen Szene, da Elisabeth dem Grafen Leicester das Ordensband abnimmt und es dem französischen Gesandten umhängt, warf Frau ***, als sie den bekannten Wahlspruch des Hosenbandordens »Hony soit qui mal y pense« aussprach, einen strengen zurechtweisenden Blick auf Leicester, der mißmutig über die französische Brautbewerbung hätte dastehen sollen. Es war dies ein feiner Zug der Künstlerin, die sich dagegen beim Schlusse dieser Szene sehr vergaß, indem sie, statt sich gegen die französischen Herren zu verneigen, sie mit der Hand fortweisend verabschiedete. Als vorzüglich in der Darstellung gelungen verdienen einige Stellen in dem Spiele der Frau *** herausgehoben zu werden. Erstens der Schluß der Unterredung mit Mortimer, wo sie dem unerfahrnen und anscheinend arglosen Jüngling, wie auf den Zehen nachschleichend, mit ihrem buhlerischen Netze zu umgarnen sucht:


Das Schweigen ist der Gott
Der Glücklichen. – Die engsten Bande sind's,
Die zärtesten, die das Geheimnis stiftet!

[412] In den Ausdruck dieser Worte und in die sie begleitenden Gebärden hatte Frau *** alles gelegt, was ein Weib und eine Fürstin nur Lockendes und Verführerisches zu bieten weiß. Die Stacheln ihres Blickes waren reich mit Rosen überhängt. Nicht die Tugend (das fühlt man schmerzlich), nur eine andere Leidenschaft, die früher vom Herzen Besitz genommen, vermag einer solchen Versuchung ohne Kampf zu widerstehen. Auch bei der Zusammenkunft mit Marie zeigte sich Frau ***, wenigstens in mehreren Stellen, als sinnreiche Künstlerin. Elisabeth, der es schwül wird unter der Maske der Gelassenheit und des Gleichmutes, welche ihr Mariens unterwürfiges Betragen aufzwingt, sucht endlich einen Anlaß zum Lüften der Maske gewaltsam herbeizuführen. Da beginnt sie:


Bekennt Ihr endlich Euch für überwunden?
Ist's aus mit Euern Ränken? usw.

und nachdem es ihr so gelungen, Marien aufzureizen, endet sie, unter höhnischem Lachen, mit den Worten, die auf sie selbst zurückfallen:


Jetzt zeigt Ihr Euer wahres
Gesicht, bis jetzt war's nur die Larve.

In diese ganze Rede, so reichlich versehen mit allem, was Eifersucht, Haß, Neid, Heimtücke und Schadenfreude nur Giftiges aufzutreiben vermochten und worin Königin, Weib und Teufel so innig verschmolzen erscheint, hatte Frau *** alles hineingelegt, sowie auch alles wieder aus ihr genommen, was nur immer der Dichter bestrebt haben mochte. Dieses war um so schwieriger und daher der dankbaren Anerkennung um so würdiger, da Elisabeth nur zu der Luft sprach; denn mehr noch als im Leben stand ihr die Marie dieses Abends im Spiele als Widersacherin gegenüber. Vor Tadel schützt sie unsere Abhärtung, wir sind nicht mehr so reizbar als sonst. Der [413] Hunger ist auch in Kunstgenüssen ein guter Koch, und die Zeit wird nicht entbleiben, daß wir die spartanischen Suppen unserer Bühne wohlschmeckend finden werden. Wer nur gesehen hat, wie die schottische Königin in der eben besprochenen Szene sich abgemattet hat, um sich einen Schwung zu geben, und wie ihre Seele, gleich einer Henne mit beschnittenen Flügeln, auf der Bühne herumhüpfte und nicht vermochte, nur über die Mauer des Parks aufzufliegen, der hat ihr sein Mitleid gewiß nicht versagt. Wenn unsere Theaterdirektion die Gelegenheit, die sich ihr darbietet, das schöne Dutzend voll zu machen, verschläft und diese Königin Maria anzuwerben versäumt, dann dürfen wir uns glücklich schätzen. – Herr *** hat den Grafen vonLeicester gespielt, und mit welcher Natur, mit welcher Täuschung! Nicht der leiseste Schatten, nicht der unmerklichste Farbenpunkt dieses so schwierigen Charakters war dem Künstler entgangen. Wo Taten sprechen wie hier, bedarf es der Worte nicht. – Herr ***, als Mortimer, befriedigte nur mäßig, obschon Rollen dieser Art sonst recht im Mittelpunkte seines Kunstkreises liegen. Durchaus verfehlt schien mir sein Spiel da, wo Mortimers Liebe gegen Maria bis zur wahnsinnigen Vergessenheit der äußern Welt hinaufsteigt und er die Schmerzensreiche an seine Brust drückt. Herr *** war ausschlagende Flamme und demgemäß schreiend in seinen Reden und voller Heftigkeit in seinen Gebärden. Stille, düstre, zusammengedrängte, eingeschlossene Glut möchte wohl erforderlicher gewesen sein. Die leidenschaftliche Umarmung der Königin durfte nur als eine sinnlose Handlung des Körpers erscheinen, welcher, der Aufsicht der verirrten Seele entzogen, nach eignem Triebe verfuhr. –

[414][415][423]

Sappho
Trauerspiel von Grillparzer

Vor etwa zwei Jahren wurde uns diese Tragödie mit dem Spiele der Frau Schröder als Sappho gleichzeitig bekannt. So empfingen wir eine köstliche Frucht in goldner Schale mit Dank und Freude aus den Händen der großen Künstlerin. Später wurde sie uns wiederholt, aber auf flacher Hand, und heute auf irdenem Teller dargereicht. Der Reiz zum Genusse der Frucht ward schwächer, wenn auch nicht das Gefühl der Annehmlichkeit, indem man sie genoß. Nicht etwa, als hätte das Spiel jener Künstlerin Mängel des Dichtwerks versteckt oder ersetzt, die nun, ihrer Hülle oder Entschädigung verlustig, nackt und unverzeihlich erschienen – so nicht. Aber oft geschieht, daß uns eine Wirklichkeit anzieht, die uns als ein Gedachtes abstößt, daß wir an der Gegenwart preisen, was wir als ein Entferntes tadeln, und an der Wahrheit, was uns an der Dichtung nicht erfreut. Die Sinne und das Herz prüfen nicht; die Sinne neigen sich zum Schönen, das Herz liebt und haßt. Aber der Geist urteilt und unterscheidet, was liebenswürdig und was hassenswürdig sei. Die Strafe des Verbrechens, der verschuldete Schmerz, die törichte Klage kann unser Mitleid nicht erregen; aber um den Verbrecher auf dem Blutgerüste, um den Duldenden aus Leichtsinn, um den verzweiflungsvollen Toren weinen wir gewiß; die [423] Schwachheit tadeln, den Schwachen bemitleiden wir. Und so würde behauptet, daß wir der Sappho der Dichtung nicht ganz bewilligen können, was wir der Sappho der Bühne zugestanden.

Ich mache mit den Philologen nicht gemeinschaftliche Sache, deren einer, da er zu Berlin die Sappho darstellen sah, ausrief: »Das ist dummes Zeug!« Ich rede keinem Konrektor nach, den es verdrießt, daßseine Sappho, von der man »leider« nur noch einige Fragmente hat, so verkleinert worden, indem sie der Dichter sich mit Lappalien beschäftigen ließ. Ich kenne die lesbische Sappho gar nicht; ich weiß nichts von der grausamen Geliebten des Alcäus, nichts von der Ehefrau des Kerkolas; ich kenne nur die gekrönte Dichterin und das liebende Weib und will betrachten, wie der Dichter Liebe und Ruhm feindlich sich gegenübergestellt und wie traurig der Kampf geendet, da der Sieg ohne Entscheidung geblieben und ein gemeinschaftliches Grab beide Kämpfenden verschlang. Freilich spottet die Natur der Befehle wie der Verweise eines Dramaturgen; aber darf auch die Kunst nichts darstellen, als wozu ihr die Natur ein Vorbild reicht, so darf sie doch nicht jede Erscheinung der Natur zum Vorbilde nehmen. Die Natur schafft, indem sie zerstört, und sie zerstört das Einzelne, um die Gesamtheit zu erhalten. Doch die Kunst stellt nur das Einzelne dar, und zernichtet sie ein Besonderes, um nur ein anderes Besondere zu erhalten, erkauft sie das Leben des einen mit dem Tode des andern, so ist dieses eine frevelhafte launische Wahl, durch keinen Zweck entschädigt, durch keine Weisheit geleitet.


Erhabene, heil'ge Götter!
Ihr habt mit reichem Segen mich geschmückt!
In meine Hand gabt ihr des Sanges Bogen,
Der Dichtung vollen Köcher gabt ihr mir,
Ein Herz zu fühlen, einen Geist zu denken
[424]
Und Kraft zu bilden, was ich mir gedacht.
Ihr habt mit reichem Segen mich geschmückt,
Ich dank' euch!
Ihr habt mit Sieg dies schwache Haupt gekrönt
Und ausgesät in weitentfernte Lande
Der Dicht'rin Ruhm, Saat für die Ewigkeit!
Es tönt mein goldnes Lied von fremden Zungen,
Und mit der Erde nur wird Sappho untergehn.
Ich dank' euch!
So spricht Sappho,
Die Könige zu ihren Füßen sah
Und, spielend mit der dargebotnen Krone,
Die Stolzen sah und hörte und – entließ.

und dieses Weib, so hoch gestellt von Menschen und von Göttern, so in der Fülle des Wertes und dieses Wertes froh und sich bewußt: sie kehrt zurück, aus der Mitte der versammelten Griechen, die Herrlichste unter den Herrlichen, die Gepriesenste unter den Gepriesenen, die Glücklichste unter den Glücklichen, siegestrunken, lobberauscht; auf ihrem Haupte den frischesten jüngsten Lorbeer; sie kehrt zurück, mit Jauchzen entlassen, mit Jauchzen empfangen; sie kehrt zurück und – steht dem Sklaven, der ihren Siegeswagen sollte ziehen, als Sklavin zur Seite! Das ist nicht Sinken mehr der Größe, das ist schon ihr Fall. Das Grab ist geöffnet, der Sarg ist aufgeschlagen, die Würmer nagen an der Leiche. Wozu unser Bangen, da die Gefahr schon erreicht, wozu unsere Tränen, da die Verwesung schon eingetreten, was fürchten, da nichts mehr zu hoffen ist? Sie kehrt zurück, und, noch ehe sie herannaht, ist sie schon verurteilt, durch einen niedrigen Diener verurteilt, durch Rhamnes, der mit den Worten:


Der Mann mag das Geliebte laut begrüßen,
Geschäftig für sein Wohl liebt still das Weib!

[425]

die der Herrin entgegenjubelnden Mädchen in das Haus zurückweist. Aber Sappho verkündigt dem versammelten Volke laut und gebieterisch ihre Liebe und ihre Schande. Als ruhmvolle Herrin dürfte sie nicht lieben, als liebendes Weib seine Liebe nicht verkündigen. Wir wissen nicht, was wir empfinden sollen, und die Einheit der Empfindung, die in dramatischen Dichtungen nicht minder sorgfältig als die Einheit der Handlung gehütet werden muß, wird getrennt. Wir müssen der Sappho vergessen, sollen wir dem Weibe seine Liebe verzeihen, aber wenn wir der Sappho vergessen, welche Teilnahme kann noch ferner eine alltägliche Schwäche bei uns finden? Eine Königin im Krankenbette mit der Krone auf dem Haupte; oder eine Königin auf dem Throne von Fieberschauern gerüttelt – so oder so erscheint uns Sappho, und durch diese Nachbarschaft von Größe und Schwäche wird Ehrfurcht wie Mitleid von uns abgewehrt.

Wenn die Liebe Geist und Arm des Mannes unterwirft und als Gebieterin des Ruhmes erscheint, dann mögen wir seinen Fall beweinen oder auch verzeihen; denn nur einfach ist die Schwäche und die Schuld. Doch wenn das Weib, das sein stilles Haus verließ, von seiner Höhe herabstürzt, wird es nur Schadenfreude finden; denn zwiefach ist die Schuld – daß es gesunken und daß es gestiegen. Die Flügel des weiblichen Geistes sind immer aus Wachs, doch nur den Fall, nicht den Ruhm der kühnen Tat teilen sie mit Ikarus.

Wenn behauptet wird, die Liebe Sapphos müsse mit Spott und Unwillen erfüllen, ist es etwa die Verstimmung unseres Gemüts, ist es etwa mein irrender Murrsinn, der dieses ungerechte Urteil fällt? Ist es nicht Sappho selbst, die ihre eigene Liebe geringschätzt und fast verhöhnt – ja geringschätzt, so sehr sie sich auch abmüdet, sich vor sich selber zu verstecken. Sie denkt [426] über ihre Liebe, und die wahre Liebe denkt nicht. Sie will auf ihrem Herzen spielen, wie auf ihrer Leier; aber bei der wahren Liebe ist eins Finger und Saite. Sie lauscht dem Urteile der Welt, um es zu verschmähen; aber die wahre Liebe vergißt die Welt und hört nicht, was sie spricht. Ihre Liebe ist ihr nur das Höchste, aber die wahre Liebe hat auch nichts unter sich noch zur Seite, sie ist alles und füllt alle Räume aus.

Sappho kehrt von den olympischen Spielen in den Kreis einer sie anbetenden Menge zurück. Sie steigt mit Phaon von ihrem Siegeswagen und ihrem Ruhme herab. Die Ihrigen jauchzen. Da fühlt sie alsobald, daß sie diesen ehrfurchtsvollen Empfang nicht mehr verdiene. Sie sucht die Vorwürfe ihres Inneren zu beschwichtigen, und da sie es nicht vermag, trotzt sie ihnen, mit Ingrimm, schuldbewußt:


Mögt ihr's immer wissen!
Ich liebe ihn!

ruft sie dem versammelten Volke zu. Kann die wahre Liebe fürchten, daß man ihre Wahl nicht achten werde? Sie duldet zwar nicht, daß man verletze, was ihr heilig; aber ehe man das Heilige verletzt, ahnet sie nicht, daß man wagen könne, es zu verletzen. Aber Sappho zittert der Mißbilligung entgegen. Darum lauert sie auf jede Miene, horcht auf jedes Wort der sie Umgebenden und wiegt ängstlich und empfindlich jeden Laut ab. Sie stellt ihren Sklaven, den Geliebten, mit den Worten vor: »Hier sehet euern Herrn!«Rhamnes (verwundert, halblaut): »Herrn?« Sappho: »Wer spricht hier? (gespannt) was willst du sagen?«Rhamnes (zurücktretend): »Nichts!« Sappho: »So sprich auch nicht!«

Doch wie! Darf ein Weib, weil es den Lorbeer sich gewonnen, nicht auch die Myrte durch ihre Locken flechten? Darf es nicht bewundern, weil es bewundert, nicht [427] lieben, weil es angebetet wird? Sappho – ihre Eltern sanken früh ins Grab – ward am Mutterherzen der Musen gewartet. Des Gesanges und der Dichtung Gaben schnell entfaltend, sie fortgetragen durch heitere blaue Lüfte, von dem offnen Ohr der Griechen bald vernommen, bald angestaunt, ihr Ruhm von Tempel zu Tempel eilend – so im raschen Fluge bis hinauf zum Sitze der Götter, erreichte sie den Gipfel ihres Ruhms glücklich und gesättigt. Da fiel das blitzende Auge Phaons in ihr Herz und erhellte seine Leere. Sappho kannte die Liebe nicht, und ... doch nein, ihr war Liebe nicht fremd:


Der Freundschaft und der – Liebe Täuschungen
Hab' ich in diesem Busen schon empfunden;

sie bekennt es und damit ihre Schuld. Nicht überrascht, nicht überwältigt wurde die Unerfahrne von der Leidenschaft. Sie gab sich ihr willig, unbedacht hin, und wäre Phaons Treue nur um einen Tag älter geworden, dann hätte Sappho selbst von dem Felsen am Meere in die Wellen hinabgejammert und ihren Verrat zu spät bereut – wir dürfen es denken.

Aber tritt die Kraft nicht am herrlichsten hervor, wenn Schwäche sie umschattet? Macht nicht das Tal den Berg? Göttlich ist der große Mensch, aber ohne Fehl wäre er Gott, und unsrer Liebe wie unsrer Bewunderung entrückt. Steht Sappho nicht größer da als zuvor, nachdem sie sich aufgerafft und ihre Liebe als ein Spielwerk, mit dem sie zu ernst gespielt, weit von sich werfend, ihrer Lust, der Erde entflieht, um zu den Sternen emporzusteigen? Da sie spricht:


Ich will mit Sapphos Schwäche euch versöhnen,
Gebeugt erst zeigt der Bogen seine Kraft.

Hat sie nicht den schönsten der Siegeskränze sich erkämpft? ... Nein, das tat sie nicht. Kleiner noch als im [428] Leben zeigt sich Sappho sterbend. Sie versöhnt mit ihrer Schwäche nicht, sie entzieht sie nur dem Vorwurfe. Der Bogen zeigt nicht seine Kraft; er bricht und zeigt seine Gebrechlichkeit. Sie liebt und haßt, und ohnmächtig, ihr Herz zu entleeren der Liebe und des Hasses, zerschlägt sie das Gefäß, damit die Empfindung von selbst entströme. Ihr Tod war nicht das Werk freier Entschließung. Er ward im Wahnsinn beschlossen und im Wahnsinn vollführt, und nur das Meer, nicht die Reue, bedeckt ihre Schuld.

Doch schon zu lange habe ich in diese Sonne gesehen, um ihre Flecken zu ergründen; geblendet senke ich den Blick, mich ferner nur ihrer Wärme und ihres Lichtes zu erfreuen. Sapphos Ruhm und Tag sahen wir traurig, blutrot untergehen; aber um so süßer und freundlicher steigt ihre Nacht herauf, mit dem milden Mondlichte der Weiblichkeit und den Liebestönen der klagenden Nachtigall. Welche tiefe, doch nicht einschneidende, verwundende, nur vordringende Blicke hat der Dichter in das weibliche Herz geworfen! Von dem Dornenritze jener Rose, der Sapphos Herz blutig anstreifte, bis zum Dolchstoße der Entführung Melittens, der es durchbohrte – wie wahr, schön und naturtreu ist das alles vorgebildet! Vergebens sucht die männerkundige Sappho die Gefahr, die ihrer Liebe droht, herabzudeuteln, vergebens bittet sie ihren Ruhm um Entschädigung für ihren Schmerz, ihren Stolz um Beistand gegen ihn, sie entrinnt dem Verderben nicht. Wie das Vöglein, wenn es der Blick der Klapperschlange traf, von ihrem giftigen Anhauche umnebelt, festgehalten, nicht zu entfliehen vermag und immer weiter gezogen, endlich in den offnen Rachen stürzt – so auch Sappho, da die Eifersucht ihr Schlangenhaupt gegen sie reckt; gelähmt sind die Flügel ihres Geistes, und besinnungslos sucht sie selbst den Untergang. Wenn mir auch das Gebot [429] der Dramaturgen, eine dramatische Handlung dürfe eine gewisse Bühnenlänge nicht überschreiten, sonderbar erscheint, da ich erwäge, daß doch dem Maler verstattet ist, eine meilenweite Landschaft in einen fußengen Rahmen zu sperren, wenn nur Licht und Schatten, Größenverhältnis und Fernsicht beobachtet sind – so rühmlich bleibt doch, daß der Dichter Sapphos jene Forderung so völlig zu gewähren verstand. Innerhalb eines Tages und einer Nacht sieht man den Keim, das Wachsen, die Blüte, die Frucht, das Hinwelken der Liebe; die Natur selbst hätte keine längere Zeit bedurft.

Phaon, wie klein und niedrig erscheint er neben Sappho, wie, er selbst dunkel, Schatten werfend in ihren Glanz! Wir stimmen ihm bei, wenn er ausruft:


Wer glaubte auch, daß Hellas' erste Frau
Auf Hellas' letzten Jüngling würde schauen?

– und so sehr bei, daß wenig sein bescheidener Sinn uns rührt. Sappho sucht ihn aufzurichten, nicht um ihn, um sich selbst zu erheben:


Dem Schicksal tust du unrecht und dir selbst!
Verachte nicht der Götter goldne Gaben!
So spricht sie und rechnet diese Gaben vor. Allein,

Der kühne Mut, der Weltgebieter Stärke –


ist er Phaon eigen, glaubt ihn Sappho in dessen Besitz? Warum so ängstlich besorgt, wie eine Mutter um ihr krankes Kind besorgt, zeigt sie sich um ihn? Wie sie der Weltgebieter Einen, den Sklaven ihres Hauses, vorstellt!


Ihr seht hier euern Herrn. Was er begehrt,
Ist euch Befehl, nicht minder als mein eigner.
Weh dem, der ungehorsam sich erzeigt,
Den eine Wolke nur auf dieser Stirn
Als Übertreter des Gebots verklagt!
Vergehen gegen mich kann ich vergessen,
[430]
Wer ihn beleidigt, wecket meinen Zorn,
Und nun, mein Freund, vertrau' dich ihrer Sorgfalt ...

Wie undankbar, wie verächtlich erscheint Phaon! Daß er Sappho, die er hoch verehrte, nicht zu lieben vermochte, das ist nicht sein Vergehen; er vermochte es nicht, weil er sie hoch verehrte. Daß er aber den Mut gewann, sich gegen ihre Größe aufzulehnen, zeigt sein kleines Gemüt; er hätte jenen Mut nicht gefunden, hätte er ihre Größe zu umfassen verstanden.

Doch eben in der Bildung eines solchen Phaons hat der Dichter seine Meisterschaft gezeigt. Ein Geringerer als er hätte den Geliebten Sapphos mit allen Gaben des Geistes und Gemüts ausgestattet, um ihn der Anbetung einer solchen Liebenden würdig zu machen. Wie versäumt wäre alsdann geworden, was am meisten not tut! Denn wo anders könnte Sappho Nachsicht finden für ihre Verblendung als in der Größe dieser Verblendung? Wo anders Mitleid für ihre Niederlage als in der Unscheinbarkeit des Feindes, der sie besiegte, weil er ungefürchtet nahe kommen durfte? Wenn zeigt sich die Liebe allmächtiger, als indem sie alles gibt und nichts dafür nimmt? Wäre Phaon Sapphos würdiger gewesen, dann erst hätte man ihr vorrechnen können, wie töricht sie getauscht und wie sie, wenn sie auch viel empfing, doch für das, was sie hingegeben, nicht genug empfangen. Die wahre Liebe würdigt ihren Gegenstand, aber das ist die wahre Liebe nicht, die nur das Würdige liebt.

In Melitta sehen wir den Sieg der Weiblichkeit über mannartigen Hochsinn; den Sieg des Herzens über Geisteskraft und den der Anmut über Schönheit. Verschwiegen, verschlossen, träumend wie eine Blume, erwartend die liebende Hand, die sie brechen wird, sich ihr nicht entgegenstreckend, fromm ergeben, still gehorchend[431] – so steht sie dem Undanke und der Rauhheit Phaons, wie der Rachsucht und Heftigkeit Sapphos gegenüber, und so überlebt die bescheidene Lampe der Sklavin die verzehrende Sonne der Gebieterin.

Soll ich noch sprechen von dem holden Zauber in allen Reden unseres Dichters? Von dieser bald milden, bald glühenden Farbenpracht, von der Schönheit und Wahrheit seiner Bilder, von der Tiefe und Wärme seiner Empfindungen? Dieser wundervolle paradiesische Garten ist genug gepriesen, wenn ich ihn den Fruchtmarkt anderer neuen Dichter gegenüberstelle. Dort findet sich des Willkommnen gar viel für Küche und Magen, nur nichts für Herz und Phantasie. Zierliche Weltweisen sind sie mit Lob zu nennen, welche Bücherschränke voll guten Verstandes mit Blumengirlanden umhängen oder wohl auch einer saftigen Frucht ein abgerissenes grünes Blatt unterlegen, oder eßliche Kuchen mit Dragee bestecken – aber Dichter sind sie nicht. Grillparzer ist ein Dichter.

[432]

[433] [432]Henriette Sontag in Frankfurt

Seit die holde Muse des Gesangs, Henriette Sontag, vor einem Jahre in Weimar erschienen und die frommen deutschen Stern-Priester unter Zither- und Zimbelklang diese Konstellation zweier Größen auf eine so seltsamliche, spanisch-maurische, hyazinthenduftige, süß-dämmerliche Weise gefeiert und sie gesungen haben: »Der Dichterkönig hat das Wunderkind gepflegt mit Speise und Trank«, statt zu berichten: Fräulein Sontag hat bei Herrn v. Goethe zu Nacht gegessen – seitdem bin ich ganz toll geworden über das toll gewordene Volk, das über Nacht umgesprungen und, gewohnt wie es war, [432] an der Flamme des Prometheus nur seine Kartoffeln zu kochen, plötzlich Feuer schluckte und, gewohnt wie es war, seine mäßige Genießbarkeit unter bittere und harte Schalen zu verbergen, auf einmal anfing, süß zu werden und zu schwabbeln und zu gleißen und zu liebäugeln wie Gelee. Ich hatte die aufgebrachtesten Dinge im Sinne, die ich alle wollte drucken lassen; aber wohl mir, daß ich mich bedacht und es nicht getan! Wie hätte man des unbeugsamen Rhadamanthus gespottet, der endlich der Federvasall eines schönen Mädchens geworden! Wahrlich, seit ich die Zauberin selbst gehört und gesehen, hat sie mich bezaubert, wie die andern auch, und ich weiß nicht mehr, was ich spreche. Nur im Dämmerlichte, wie eines Traumes, erinnere ich mich, daß ich vor meiner Seelenwanderung der Meinung gewesen, es sei doch nicht recht, daß wir Deutsche, die wir uns so schwer begeistern, die wir erst zu trinken anfangen, wenn andere schon Kopfschmerzen haben – daß wir unser jungfräuliches Herz, das noch nie geliebt, gleich der ersten lockenden Erscheinung hingeben, die, wenn auch schön, doch nicht unverwelklich, wenn auch wohltuend, doch nicht wohltätig ist. Es sei eine unbesonnene Verschwendung, erinnere ich mich gedacht zu haben. Jetzt aber denke ich anders, und ich sage: es ist schön, laßt uns des Augenblicks genießen, wozu für unsere Enkel sparen? Wer weiß, wie lange es dauert, bis man uns wieder einmal erlaubt, unsere Bewunderung laut auszusprechen und einer Gottheit zu huldigen, die wir gewählt, der wir nicht zugefallen. Nun möchte ich diese Zauberin, die ein solches Volk umgestaltet, loben, aber wer gibt mir Worte? Selbst die ungeheure Masse von Papierworten, die wir hier in Frankfurt geschaffen, seit uns der bare Sinn ausgegangen, selbst diese ist erschöpft. Man könnte einen Preis von hundert Dukaten auf die Erfindung eines neuen Adjektives setzen, [433] daß für die Sontag nicht verwendet worden wäre, und keiner gewönne den Preis. Man hat sie genannt: die Namenlose, die Himmlische, die Hochgepriesene, die Unvergleichliche, die Hochgefeierte, die himmlische Jungfrau, die zarte Perle, die jungfräuliche Sängerin, die teure Henriette, liebliche Maid, holdes Mägdelein, die Heldin des Gesanges, Götterkind, den teuern Sangeshort, deutsches Mädchen, die Perle der deutschen Oper. Ich sage zu allen diesen Beiwörtern ja, aus vollem Herzen. Selbst nüchterne Kunstrichter haben geurteilt: ihre reizende Erscheinung, ihr Spiel, ihr Gesang, könnte auch jedes für sich verglichen werden, so habe man doch die Vereinigung aller dieser Gaben der Kunst und der Natur noch bei keiner andern Sängerin gefunden. Auch diesem stimme ich bei, ob mich zwar die Seltenheit dieser Vereinigung nicht bestechen konnte; denn mit der größten Anstrengung war es mir nicht gelungen, sie zugleich zu sehen und zu hören, und ich mußte ihre einzelnen Vorzüge zusammenrechnen, um die Summe ihres Wertes ganz zu haben. Daran halte ich mich: was eine wochentägliche deutsche Stadt in so festliche Bewegung bringen konnte, ohne daß es der Kalender oder die Polizei befohlen, das mußte etwas Würdiges, etwas Schönes sein. Unsere Sängerin zu preisen, will ich von dem Taumel reden, den sie hier hervorgebracht; denn ein so allgemeiner Rausch, lobt er auch die Trinker nicht, so lobt er doch den Wein.

Henriette Sontag könnte, mit einer kleinen Veränderung, wie Cäsar sagen: ich kam, man sah, ich siegte. Der Sieg ging vor ihr her, und ihr Kampf war nur ein Spiel zur Feier des Sieges. Die erste Huldigung, die sie in dem überwundenen Frankfurt gefunden – die erste, aber zugleich die wichtigste Huldigung, weil sie guten deutschen treuen Sinn und hohe, innigste Verehrung bezeichnete – war ihr von dem hiesigen Fremdenblättchen [434] dargebracht, welches ihre Ankunft mit den Worten verkündigte: »Fräulein Sontag, königlich preußische Kammersängerin, mit Gefolge und Dienerschaft.« Es ist nämlich zu wissen, daß unser täglich erscheinendes Fremdenblättchen den Wert und die Würde der Reisenden auf eine höchst sinnreiche, genaue und streng staatsrechtliche Weise bezeichnet. Ist ein Fremder reich, dann hat er einen Bedienten, ist er sehr reich, hat er Bedienung; ist er zugleich vornehm, hat er Dienerschaft; und ist er sehr vornehm, hat er Gefolge und Dienerschaft. Statt Gefolge wird zuweilen Suite gebraucht; was aber diese zarte Feudalschattierung ausdrücken solle, darüber sind die Frankfurter Lehnrechtslehrer nicht einig. Fürstliche Personen reisen mit hohem Gefolge und Dienerschaft. Indem man also der Fräulein Sontag Gefolge und Dienerschaft zuerkannte, hat man sie bis an die Stufen des Thrones geführt, und ohne Rebellion konnte ihr mehr Ehre gar nicht erzeigt werden. An diese erste Huldigung reihet sich am schicklichsten die letzte an, die sie hier gefunden. Nämlich der Wirt des Gasthauses, in welchem Fräulein Sontag vierzehn Tage gewohnt, schlug bei ihrer Abreise jede Bezahlung aus und veredelte und verjüngte dadurch den alten Römischen Kaiser zu einem Prytaneum, in welchem ruhmvolle Deutsche im Namen des Vaterlandes bewirtet werden. Zwischen diesen beiden Huldigungen breiteten sich die andern in unzähliger Menge aus. Fräulein Sontag war hier in einer Zeit erschienen, wo die allgemeine Aufmerksamkeit zu beschäftigen viel schwerer war, als sie zu verdienen. Die Nachricht von der Schlacht bei Navarin und dem kriegerischen Trotze der Ungläubigen war kurz vor der Sängerin hier angelangt, und dennoch sprach man von der letztern auch, obgleich jeder kleine Funke von Zwietracht zwischen den Mächten das staatspapierne Frankfurt gleich in helle lichte Flammen setzt. [435] Die wilde türkische Musik, durchtönt von einer süßen Nachtigall, war gar wunderlich zu hören. Der Sultan und die Sontag, Codrington und Othello, der Divan und der Barbier, das wurde alles untereinander gemischt. Sogar die Juden bekamen einen leichten Schwindel, und wenn man sie auf der Börse von Achteln und Quarten sprechen hörte, wußte man nicht, ob sie Takte oder Prozente meinten. Die Eingangspreise in das Schauspielhaus wurden verdoppelt, und das sagt viel! denn uns Frankfurtern, so reich wir auch sind an Geld, ist jede ungewöhnliche Ausgabe eine unerträgliche. Die Zuschauer strömten in großen Scharen herbei, und nicht bloß die hiesigen Einwohner, nicht bloß die Bewohner der nahegelegenen Städte, gar weit her, von Köln und Hannover kamen die Fremden. Es war wie bei den Olympischen Spielen. Ein Engländer, der keinen Logenplatz mehr bekommen konnte, wollte das ganze Parterre für sich allein mieten und zeigte sich, als man ihm bemerkte, daß dieses schicklicherweise nicht auszuführen sei, sehr erstaunt über die wunderliche Kontinentalprüderie. Ein junger Mensch machte den Weg von dem acht Stunden entfernten Wiesbaden zu Fuße, langte gerade hier an, als das Haus geöffnet wurde, erstürmte sich einen Sitz, war so gutmütig, diesen einer matten Dame abzutreten, stellte sich, ward dann ohnmächtig, ehe die Vorstellung begann, wurde, weil in Ohnmacht zu fallen kein Platz da war, stehend und leblos von Hand zu Hand zur Türe hinausgeschoben, erholte sich erst wieder, als der Vorhang schon gefallen war, und kehrte noch in der nämlichen Nacht zu Fuße nach Wiesbaden zurück. Einen hiesigen Einwohner hatte die Enge und die Schwüle so erschöpft, daß er nach Hause gehen mußte und noch denselben Abend starb. Von einigen Verletzungen und Erkrankungen, von solchen, die mehrere Tage das Bette hüten müssen, hat man sich erzählt. In [436] diesen Tagen war das Intelligenzblatt wie besät mit verlornen Ketten, Ringen, Armbändern, Schleiern und andern Dingen, welche Weiber im Gedränge verlieren können. Als ich am Tage des ersten Auftretens der Sontag zum Optiker kam, um mein zur Ausbesserung dahin gegebenes Perspektiv zu holen, mußte es unter andern funfzig Ferngläsern, die alle in gleicher Absicht dort versammelt waren, hervorgesucht werden. Es war eine allgemeine Augenrüstung der ganzen waffenfähigen Mannschaft in Frankfurt, und die vielen hundert im Glanze des neuen Kronleuchters schimmernden Fernröhren, die alle auf ein schwaches Mädchen gerichtet waren, boten einen furchtbaren, kriegerischen Anblick dar. Doch nie war eine Artillerie schlechter bedient worden; denn der Feind wurde gar nicht, nur die ungeschickten Artilleristen wurden beschädigt.

Das Schauspielhaus wurde zwei Stunden früher als gewöhnlich geöffnet, und schon lange vorher war der große Platz vor demselben mit Menschen bedeckt. Die Hälfte der Menge war gekommen, in das Haus zu dringen, die andere Hälfte hinter der Fronte dem Kampfe zuzusehen. Ein hiesiger Theaterkritiker hat das Gedränge sehr treffend mit den Worten geschildert: »Man hätte glauben sollen, dem ersten eintretenden Fuße wäre ein Paar goldne Stiefel zugedacht.« Nun denke man ja nicht, es sei etwas Kleines, es sei ein bloßes Lustgefecht, in das hiesige Theater zu stürmen. Das Haus ist gar nicht gebaut, den Eingang zu erleichtern, sondern vielmehr ihn zu erschweren, es ist wie eine Festung gebaut, der sich Vauban nicht zu schämen hätte. Eine schmale und steile Treppe von etwa zwölf Stufen führt unmittelbar von der Straße das Haus hinauf, und diese Treppe wird von der engen Eingangstüre in zwei Hälften geschieden, ohne daß außer- und innerhalb der Türe ein Absatz ist. Dieses Pförtchen öffnet sich nach außen und wird im dramatischen [437] Stile plötzlich, rasch und unerwartet wie ein Theatercoup, und zwar von innen aufgestoßen, so daß die auf der Treppe stehende Menge mit Leichtigkeit herabgestürzt werden kann. Wenn man noch nie gehört, daß bei solchen Gelegenheiten Frankfurter den Hals gebrochen, so haben sie dieses bloß ihrer vortrefflichen gymnastischen Erziehung zu verdanken, die sie von Kindheit an in diesen gefährlichen Stürmen geübt hat. Hat man nun die erste Tür und die zweite Treppenhälfte zurückgelegt, dann gelangt man an eine andere Türe, die halb offen steht. Hinter ihr aber steht ein Riese mit breiter Brust und ausgebreiteten Armen und wehrt den Eindringenden. Wer etwas klein ist, schlüpft dem Riesen unter den Armen durch, die Großen aber müssen warten, bis die Schlagbäume sich auftun.

Eine so hochgespannte Erwartung zu befriedigen, habe ich, ehe ich die Wirklichkeit erfahren, nicht für möglich gehalten. Aber alle Zuschauer gestanden, daß Fräulein Sontag jede Erwartung übertroffen habe. Und hier, wo der Schein zum Wesen gehört, was könnte verführt, was geblendet haben? Eine bezaubernde, unbeschreibliche Anmut begleitet alle Bewegungen dieser Sängerin, und man weiß nicht, ob man ihr Spiel oder ihren Gesang als den schönen Putz einer vollkommenen Schönheit ansehen soll. In scherzhaften Rollen bewahrt sie immer jene weibliche Schicklichkeit, die auf den Brettern so leicht zu verletzen, und in ernsthaften eine Hoheit, die zugleich gebietend und rührend ist. Madame Catalani soll von ihr geurteilt haben: Elle est unique dans son genre, mais son genre est petit; wer sie aber als Desdemona in Rossinis Othello gehört hat, wird dieses Urteil sehr ungerecht finden. Man vergaß ganz den abgeschmackten Text des Rossinischen Othello, man sah und hörte Shakespeares Desdemona. Sie ist ebenso bewunderungswürdig im einfachen Gesange, der zu dem Herzen spricht, als im verzierten, [438] der nur mit dem Ohre plaudert. Man sah alte Männer weinen – eine solche Wirkung bringt eine bloße Künstelei, sei sie noch so unvergleichlich und unerhört, nie hervor. Ihre kleinen Töne, ihre wundervollen Verschlingungen, Triller, Läufe und Kadenzen gleichen den anmutigen kindlichen Verzierungen an einem gotischen Gebäude, die dazu dienen, den strengen Ernst erhabener Bogen und Pfeiler zu mildern und die Lust des Himmels mit der Lust der Erde zu verknüpfen, nicht aber jenen Ernst zu entadeln und herabzusetzen. Die Begeisterung, welche Henriette Sontag als Desdemona entzündet, glich einem griechischen Feuer, das gar nicht zu löschen war, und ... Doch jetzt klammere ich mich an den Felsen der Besonnenheit, der sich einzig mir zur Rettung darbietet. Vielleicht war es auch der Strudel, der mich fortgerissen, vielleicht war es nicht bloß eine Art zu reden, wenn ich früher sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich spreche.« Sollte so etwas geschehen, sollte mir etwas Menschliches begegnet sein – dann will ich mich nicht allein dem spottenden Mitleide preisstellen, sondern mich unter meine schiffbrüchigen Leidensgenossen mischen und will darum einiges von dem erzählen, was einige Theaterkritiker und Dichter hier und in Darmstadt von der Sontag gesagt, gesungen und gewütet haben. So verbunden spotten wir der Spötter.

Mir schwindelt! Ich habe trunkene Deutsche gesehen – aber nicht betrunken von Wein, sondern trunken von Begeisterung! Die Zeit ist im Gebären, das Jahrhundert wird Vater werden, und große Dinge werden geschehen. Was ist gedichtet, was gefabelt worden! Es war ein Landsturmsaufgebot im Olymp; selbst die Weiber, Kinder, Greise und Veteranen der Mythologie mußten die Waffen ergreifen. Kritische alte Weiber haben der Sängerin Liebeserklärungen gemacht, und düstere Rezensenten haben mit ihr gekost. Schwere Philologen haben [439] leichte Gedichte gemacht, und tändelnde Anakreons haben mit dem schönen Mädchen von Tod und Unsterblichkeit gesprochen, von dem Jammer der Erde und von der Seligkeit des Himmels und haben sie sehr gebeten, ihre bisherige Unschuld zu bewahren. Ein »Klausner« sang:


Liebling! komm, den Schleier mir zu heben!
Komm, enträtsle meinen hohen Sinn.

Aber ach! der Liebling ist nach Paris gereist und hat den hohen Sinn des Verschleierten nicht enträtselt.»Eine Geisterstimme an Henriette Sontag« ließ sich vernehmen, aber es war kein düstrer Ton aus dunkler Gruft, sondern das süße Saitengeflüster in einer spanischen Nacht, und der Geist war sehr vollblütig. Das Jahrhundert von Volta war schon überaus selig, wenn es die Freude einmal elektrisierte, aber das genügt nicht mehr – unsere Sängerin durchzückte ihre kritischen Frösche mit »galvanischer Freude«. Ein Sterngucker sprach von der »Milchstraße, die dem Auge des Glücklichen immer neue Welten entdeckt«. Ein anderer sagte: »Es gab keine Meinungen, keine Spaltungen mehr, die Palme der Zufriedenheit begeisterte alle Gemüter, jede Zwietracht war verschwunden.« Ach, warum schickt man die Sängerin nicht nach Konstantinopel, daß sie den Divan beschwichtige? In deutschen Novembertagen war die Sängerin von »hesperischen Lüften« umgaukelt. Ein anderer sagte stolz, er werde mit Stolz einst seinen Enkeln erzählen:»Auch ich lebte in dem großen Zeitalter.« Ein Dichter sang prophetisch und aufrichtig:


Mich verläßt in deinem Kreise
Hauch, Bewegung, Geist und Leben.
Ein anderer:
Wie war es nur ein kleines Wort,
Was Sie mir sagte!
[440]
Wie war es nur ein Silberblick,
Den Sie mir tagte!
Und selig leb' ich lange Zeiten
Schon von dem Worte nur, dem Blick.

Wenn dieser nüchterne Poet so mäßig fortlebt, kann er Cornaros hohes Alter erreichen. Ein Kritiker wünschte sich »eines Argus Augen, um allen Reiz der holden Erscheinung einzusaugen«, und reimte, ohne es zu wollen. Ein anderer Prosaist hatte sehr malerische und physikalische »Gedankenflocken« – wegen der Wintertage, die Wasser in Schnee verwandeln. Ein anderer ließ sich vernehmen: »O zarte Perle im Strahl eines gefühlvollen Blickes! Du rollest über die jugendliche Wange, damit ein Seraph mehr als Äon die Seele aller Tugendhaften beschütze!« Ein bejahrter Dichter sang aus eigener Erfahrung:


In alle Glieder dringet Mark,

und der willkommene Schluß eines Sonettes lautet, wie folgt:
So klang vielleicht die Harmonie der Sphären
Am ersten Sonntag nach dem Wort: »Es werde«,
Den Ewigen zu preisen und zu ehren.
Uns jenes Sonntags Wohllaut zu gewähren,
Verlieh er eine Sontag jetzt der Erde
Und Ohren uns, die Einzige zu hören.

Dieser theologische Sonettist behauptet also geradezu, die Menschheit habe erst jetzt, im sechstausendsten Jahre ihres Alters, Ohren bekommen. Ach, er mag recht haben! Die Geschichte sprach schon sechstausend Jahre, und wir hörten sie nicht. Der Schöpfer wird es uns wohl nicht übelnehmen, wenn wir künftig, sooft die Sontag nicht singt, unsere Ohren zu etwas anderm gebrauchen.

Nicht bloß die Menschen am Main und Rhein, sondern auch die sogenannte leblose Natur hat Henriette Sontag [441] beseelt, erfreut und betrübt. Wir haben gelesen: »Die Natur hat den Einzug der Sontag in Frankfurt durch ein besonderes Zeichen gefeiert; denn in dem Augenblicke ihres Eintreffens in unsern Mauern wurde ein leuchtendes Meteor am Horizonte sichtbar, das sich mit Kanonendonner endigte.« Freilich hatte hiergegen ein anderer bemerkt, daß die Feuerkugel, von welcher hier die Rede ist, dreißig Stunden später als die Sontag erschienen und hat dieses aus den Berichten der hiesigen Physikalischen Gesellschaft zu beweisen gesucht. Aber was ein ungläubiger Gibbon spricht, verdient keine Beachtung und soll uns unsere Seligkeit nicht rauben. Wir haben ferner gelesen: »Kaum hatte die Heldin des Gesanges unsere Mauern verlassen, so fing selbst der Himmel an zu weinen.« Dieses Wunder kann ich beschwören; ich habe selbst gesehen, daß es zu regnen anfing, sobald die Heldin des Gesanges die Tore hinter sich hatte.

Man muß unsern »schneeumstöberten« Pindaren die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie in ihren »luftein- lufthindurchaufschwimmenden« Sontagspäanen sich von jeder irdischen Fessel freizuerhalten gewußt und sich von keiner erdstaubigen Regel befehlen ließen;


Denn in Dithyramben, alles, was da glänzen will,
Muß luftig sein und dunkel und schwarzglimmerig
Und flügelschwungreich;

Doch immer gelang es ihnen nicht. So konnten sie von dem gemeinen Gedanken nicht loskommen, daß der Name der Sängerin zugleich der eines Wochentages und daß in Sontag zugleich Sonne und Tag enthalten sei. Sie machten die unglaublichsten Anstrengungen, sich von diesem Gedanken freizumachen; aber wenn sie des Teufels hätten werden mögen – es ging nicht! Daher ein ewiges Vergleichen zwischendem wöchentlichen und der säkularischen Sontag und ein unaufhörliches Besingen der Sonne und des Tages. Ich wüßte nicht, was ich darum [442] gegeben, hätte die Sängerin statt Sontag »Freitag« geheißen. Dann hätte noch ein deutscher Zeitungsschreiber die Freiheit besingen dürfen, und man würde den Druck der Freiheit einmal auf eine andere Art gesehen haben; denn der mitberauschte Zensor hätte wahrscheinlich aller nüchternen Reklamationen gespottet ... Ich könnte noch manches erzählen von dem, was die »flügelschwungreichen Dithyrambenmeister vom Stamm der Schwänzler« und auch erzählen von dem Brekekex koax koax, das »des Sumpfs Quellgeschlecht, unter Schaumaufboppelung« gesungen und wieder gesungen; aber es soll genug sein. Ich muß endigen, ehe mir jemand zurufe:


Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten!


›Wir mögen lachen, doch erbosen wollen wir uns nicht über dieses seifenblasige Entzücken einer grauen Zeit, welcher der Ernst gebührte. Die guten Deutschen loben so gern – nach, daß sie niemals die Geduld haben zu warten, bis ihr Lob kühl, klar und zu Zucker geworden, sondern es schon flüssig als Sirup verbrauchen und in anwidernden Lebkuchen spenden. Henriette Sontag – dieses rühmen alle, die sie auch außer der Bühne kennen, solle solche bald vierschrötige, bald schwindsüchtige Schmeicheleien mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit aufnehmen und so gutmütig sein, nicht einmal darüber zu lachen. Möge sie diesen reinen Sinn auch in Paris bewahren! Doch sollte ihr etwas Verzeihliches begegnen, sollten ihr die gewürzteren Schmeicheleien der französischen Küche das Herz verderben, dann eile sie schnell nach Frankfurt zu unserer Theaterdirektion, und diese Hungerkur wird sie gewiß wiederherstellen. Sie hat das schon erprobt, das gute Kind, gewöhnt überall als ein Schmuck mit Baumwolle umwickelt zu werden, hat die packtuchene Berührung unserer kaufmännischen Theaterdirektion sehr rauh gefunden und hat empfindlich darüber geklagt. [443] Man hat ihr mit dem größten Eigensinne Rollen aufgedrungen, die ihr nicht lieb waren, und die ihrer Wahl zurückgewiesen, und man hat sie bei der Bezahlung – ich sage, um mich nicht lange zu besinnen: geprellt. Als sie ein früheres Mal hier auftrat, bekam sie bei verdoppelten Eingangspreisen die halbe Einnahme. Sie erbot sich diesmal in Briefen aus Berlin, unter gleichen Bedingungen zu singen. Man schrieb ihr aber zurück, dieses sei durchaus nicht tunlich, man dürfte es nicht zum zweiten Male wagen, die Eingangspreise zu verdoppeln, denn das Publikum sei schon das erste Mal über diese Neuerung sehr aufgebracht gewesen; man wolle ihr dagegen für jede Vorstellung fünfzig Louisdors geben. Fräulein Sontag ging dieses ein. Als sie aber hierher kam, verdoppelte man die Eingangspreise doch und wollte von dem Vertrage nicht abgehen, und als es zur Ausbezahlung der bedungenen fünfzig Louisdor kam, gab man ihr statt Louisdor Friedrichsdor; nämlich die Sontag, die als eine Berlinerin ihren Friedrich im Herzen hatte, schrieb: »Ja, ich bin es zufrieden, ich will für jede Vorstellung fünfzig Friedrichsdor nehmen.« Aber dieses war ganz offenbar nur ein Schreibfehler, der aus einem schönen Patriotismus entsprungen, und es läßt sich ja gar nicht denken, daß sie sich zu weniger verstanden, als man ihr angeboten. Doch unsere Theaterdirektion, welcher die vier Vorstellungen der Sontag fünftausend Gulden reinen Vorteil gebracht, hielt sich an den Schreibfehler, und durch diese Rabulisterei verdiente sie noch zwei- bis dreihundert Gulden mehr. Fräulein Sontag hätte klagen sollen; der Gemahl der Theodora hätte gewiß nicht gegen sie entschieden. Auch wollte unsere Sängerin, größtenteils zum Vorteile der Witwe eines hiesigen Kapellmeisters, der viele Jahre die Oper geleitet, und welchem unser Orchester seine ganze Vortrefflichkeit verdankt, im Schauspielhause ein Konzert geben; aber das [444] Haus wurde ihr versagt, ob es zwar für einen Tag gefordert wurde, wo keine Vorstellung war. Der Direktor des Theaters soll sie bei dieser Gelegenheit sehr rauh und barsch behandelt haben. Gegen diesen Präsidenten werden seit undenklichen Zeiten Klagen geführt, und dennoch wird er alle Jahre von den Unzufriedenen freiwillig wieder zu dieser Stelle gewählt. Der Mann muß doch seine Verdienste haben, er muß unentbehrlich sein. Auch weiß er das, und er hat geschworen, man solle ihn nur tot aus dem Theater tragen.‹

[445][446][448]

Das Bild
Trauerspiel von Freiherrn v. Houwald

»Bei der größten Wahrheitsliebe kommt derjenige, der vom Absurden Rechenschaft geben soll, immer ins Gedränge: er will einen Begriff davon überliefern, und so macht er es schon zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist, welches für etwas gehalten sein will. Und so muß ich noch eine andere allgemeine Reflexion vorausschicken, daß weder das Abgeschmackteste noch das Vortrefflichste ganz unmittelbar aus einem Menschen, aus einer Zeit hervorspringe, daß man vielmehr mit einiger Aufmerksamkeit eine Stammtafel der Herkunft nachweisen könne.« Mit diesen Worten beginnt Goethe in seiner Italienischen Reise die Beschreibung der tollen Land-, Garten-, Haus- und Kunstwirtschaft, die der Prinz Pallagiona auf seinen Besitzungen bei Palermo treibt. Durch die Anführung dieser Rede sichere ich den einen oder den andern Vorteil. Meinen eignen – sollte es mir nicht gelingen, den Tadel, den ich gegen das Bild auszusprechen gedenke, fest zu begründen, den des Dichters – sollte es mir gelingen.

Was ist der Zweck der dramatischen Kunst? Nur zur Frage, nicht zur Antwort ist hier Raum. Auch ist genug, des flüchtig zu gedenken, daß die Kunst eine Nachahmung der Natur in dem Sinne sei, daß sie dasSchaffen, nicht die Geschöpfe der Natur nachahmt, daß sie schafft wie, nicht was die Natur. Die bildende Kunst tut es der äußern, die dramatische der menschlichen Natur, das heißt, der Geschichte nach. Sie stellt die Kraft und die Reizbarkeit, das Handeln und das Leiden des Menschen dar. Wie nun aber jede Kraft durch ihre Begrenzung, durch den Stoff, auf den sie einwirkt, bestimmt, und wie [448] jedes Leiden durch eine äußere Kraft erregt wird, so ist der dramatische Künstler zugleich ein bildender; er hat in seinen Werken nicht bloß die wahre Beschaffenheit der menschlichen, sondern auch die der großen Natur, die Verhältnisse rein aufzufassen und treu darzustellen. Und wie er diese Forderung erfüllt, das wäre der erste Versuch, der über den Gehalt eines dramatischen Werkes anzustellen sei. Wir wollen diesen Maßstab an eine Geschichte, die wir, wie folgt, ersinnen, anlegen:

Einer der Großen des Landes will die bestehende Regierung stürzen. Die Verschwörung wird entdeckt, er muß flüchtig werden, mit ihm fliehen seine Angehörigen. Man zieht seine Güter ein, er wird zum Tode verdammt, und die Strafe des Gesetzes wird am Bildnisse des Schuldigen vollzogen. Darauf kehrt der Flüchtige verkleidet zurück, sein Unternehmen noch einmal zu versuchen. Er wird erkannt, eingekerkert, entgeht aber dem Henkertode, da er früher im Kerker stirbt. Welche Empfindungen wird dieser Tod bei den Hinterlassenen erwecken, zu welcher Handlung wird er sie anreizen? Gewiß, sie werden um den verlornen Gatten, Vater und Bruder trauern, sie werden seinen Tod beweinen – aber auch rächen? Nein. Nicht eine blutige Tat, die Triebfeder einer blutigen Tat kann die Angehörigen eines Geopferten zur Rache auffordern. Und war die Triebfeder zur Verurteilung und Einkerkerung des Grafen eine gehässige, zu bestrafende? Der Graf hatte sich wirklich verschworen, das Gesetz hat ihn gerichtet. Wen sollte die Rache treffen? Den Fürsten des Landes, der, was seine Pflicht war, den Staat vor Aufrührern geschützt? Die Richter, die das Urteil gesprochen? Tritt ja die Rache auf, so kann sie es nicht als eine Tat der Zärtlichkeit und Liebe, nur als eine Tat der Politik kann sie erscheinen. Die sie zu vollführen übernommen, müssen, gleichgesinnt mit dem Verstorbenen, die mißlungene Verschwörung von neuem [449] anzetteln, und der Trieb, den Tod eines geliebten Freundes zu rächen, mag sie dann zu ihrem Unternehmen noch mehr anfeuern. Aber alleiniger Zweck kann unter solchen Verhältnissen die Rache nicht werden. Wenn nun die Regierung, welcher das Opfer fiel, durch Eroberung einer andern Macht vertrieben wird, wenn dieser neuen Regierung die Familie des Gestorbenen ergeben ist, wenn daher die Trauer um den Toten an dem Ehrgeize keinen Unterstützer findet, dann wird sie verstummen und nicht mehr auf Rache sinnen. Gegen wen sollte diese ferner gerichtet sein? Gegen die Polizeidiener, die den flüchtigen und zurückgekehrten Grafen erkannt und ins Gefängnis geführt, oder etwa gegen einen armen schlechten Teufel von Auflaurer, der um eine Handvoll Geld den Geächteten verriet? Oder gegen wen sonst? Nun wahrlich, es erratet's keiner, wenn ich es ihm nicht sage ... Doch laßt uns zum Bilde zurückkehren; denn die hier erzählte Geschichte ist der Inhalt dieser Tragödie – erzählt, soweit die Geschichte möglich ist; wo das Unglaubliche beginnt, lasse ich den Dichter selbst reden.

Ein Graf Nord hatte die spanische Herrschaft in Neapel zu stürzen gesucht. Flüchtig, nach entdeckter Verschwörung, ward sein Bild an den Galgen geschlagen. Als Mönch verkleidet, kehrt der Graf zurück, wird erkannt, verhaftet und stirbt im Gefängnisse. Dieses ereignete sich wenigstens zehn Jahre vor der Handlung, die in der Tragödie sich vor unseren Augen abspielt. Der Schauplatz ist auf dem Schlosse des Grafen Gotthard von Nord, Bruders des Verstorbenen, in der Schweiz. Außer diesem befinden sich noch daselbst und treten als Hauptpersonen auf: Kamilla, die verwitwete Gräfin Nord; ihr Sohn Leonhard, ein Jüngling von 18 Jahren; ihr Vater Marchese di Sorrento; ein Maler Spinarosa und der Schloßkastellan. Die Familie hatte sich aus dem politischen Sturme hierher gerettet. Aber seitdem hatte sich [450] ihr Schicksal aufgeheitert. Die österreichische Herrschaft hatte sich Neapels bemächtigt, und die neue Regierung die eingezogenen Güter des verstorbenen Grafen und seiner Angehörigen letztern zurückgestellt. Der alte Marchese erwartet einen Boten aus Italien mit der Bestätigung seines Glücks.

Da er flüchtig und verarmt eine Freistätte suchte, ließ er seinen Enkel Leonhard, noch Kind, in Italien zurück. Unbekannt mit seiner Herkunft, als verlassene Waise, kam der Knabe in eines Malers Hände, der dessen Naturanlage zur Kunst sorgfältig entwickelte. Meister Spinarosa, durch einen geheimen Zug des Gemüts an den Knaben gekettet, ward sein Lehrer, Freund, Vater, und da der Zögling heimgeholt wurde, um ferner in dem erneuerten Glanze des Großvaters zu leben, begleitete ihn Spinarosa, gedenkend, sich nie mehr von ihm zu trennen. Sie waren einen Tag früher, ehe die Handlung des Dramas beginnt, auf den Gütern des Grafen Nord angekommen. Da lernt nun Leonhard den Marchese als seinen Großvater, Kamilla als seine Mutter, den Grafen Nord als seinen Oheim kennen. Er erfährt von dem Marchese seines Vaters Schicksal, wie dieser eine Verschwörung angezettelt, wie er sich flüchtete, wie sein treues Bild am Galgen aufgehängt wurde, wie er darauf zum zweiten Male sich verkleidet nach Neapel gewagt, wie er erkannt wurde, denn:


– – – – – – – – – – – – – Das Bild
Am Galgen, von verruchter Hand gemalt,
Es war zu treu und wurde sein Verräter.
Worauf Leonliard erwidert:

O pfui! Wer hat die Kunst so tief entweiht!


Das ist nun die Schraube, um welche sich die Handlung dreht, und geschraubter findet sich wohl auch keine in der ganzen dramatischen Welt. Man möchte Leonhards [451] Worte des Unwillens, die wir soeben aussprechen gehört, wiederholen: denn nie haben possierlichere Stelzen den Dienst des Kothurns vertreten. Viele Jahre sind seit dem Tode des Grafen vorüber, und noch ist alles Sinnen und Trachten des Marchese und des alten Kastellans darauf gerichtet, wie sie den Maler entdecken, der das Bild verfertigt, das man an den Galgen hing; denn dieses Bild, reden sie sich ein,weil es so treu gewesen, habe den Grafen verraten. Und nicht allein diese, sondern selbst ein Kardinal in Neapel, der Oheim des Marchese, hat sich jene Narrheit in den Kopf gesetzt; denn der von ihm an den Marchese geschickte Bote erzählt:


Auch Seine Eminenz sind tief empört
Und wollen ihre ganze Macht gebrauchen,
Den Maler zu erforschen; denn solch ein Bild
Mit diesem Fleiß und dieser Sicherheit
Zu malen, meinen sie, sei nur das Werk
Der schändlichsten Verräterei – –

Meinen sie! Alle Ehrfurcht vor der Meinung einer Eminenz; aber ich kann mich nicht darein finden. Kenner der ausübenden Henkerkunst werden es besser wissen als ich, was es mit der Hinrichtung im Bildnisse eigentlich für eine Bewandtnis hat. Wird nicht, wie es mir wahrscheinlich dünkt, nur irgendein Bild symbolisch an den Galgen geschlagen, mit der Absicht, es solle den flüchtigen Verbrecher vorstellen, oder wird wirklich das Konterfei des Verurteilten und in der Absicht dazu gebraucht, daß er erkannt und ausgeliefert wird? Angenommen, daß dieses sich so verhalte und daß der Graf wirklich daher erkannt und eingekerkert worden sei, weil sein treues Bildnis ihn verraten; wie kann aber auch der witzigste Argwohn auf den Gedanken kommen, daß ein Maler aus Bosheit, in der Absicht, den Grafen den Henkern zu überliefern, das Bild gemalt habe? Er müßte es dann aus der Erinnerung gemalt haben, denn hätte [452] der geächtete Graf sei nem Pinsel gesessen, dann braucht' er ihn ja bloß beim Kragen zu fassen und der Gerechtigkeit einzuhändigen. Also ein Maler wäre zur Polizei oder zum Kriminalgericht gekommen und hätte gesagt »ich bin ein Feind des flüchtigen Verbrechers, da habe ich euch aus Rache sein Bild gemalt; ich stehe euch dafür, es gleicht ihm wie ein Ei dem andern, schlagt es an den Galgen, es wird seine Dienste tun!« Aber wäre es nicht möglich, ja wahrscheinlich, daß das Bild des Grafen früher, und keineswegs zu diesem schrecklichen Vorhaben, gemalt worden wäre und daß man es unter den Möbeln des Geächteten, die man mit den Palästen, in denen sie waren, wie erzählt, konfisziert hatte, gefunden und zu peinlichen Zwecken benutzt habe? Ja die Familie, der Marchese, mußte ja daran denken, daß sich der Graf einmal habe malen lassen, da dieser Umstand wegen eines gewissen Vorfalles, der sich dabei ereignet hatte, der Gräfin Kamilla unvergeßlich bleiben mußte. Indessen, genug der Bedenklichkeiten und Einwendungen, es gibt unerklärliche Idiosynkrasien des Gemüts, und der Haß gegen einen unbekannten, vermutlich ruchlosen Maler mag eine solche sein. Ja, es muß eine Idiosynkrasie hier stattfinden, denn man glaube nicht etwa, daß die Anverwandten, von heftiger Liebe und Zärtlichkeit für den schon vor Jahren verstorbenen Grafen immer noch beseelt, zu solchen Rachephantasien sich verblenden ließen. Sie haben ihn alle nicht sonderlich geliebt. Er war ein roher, harter Mensch. Der Marchese klagt, sein Schwiegersohn habe ihm nur Unglück in die Familie gebracht. Kamilla, sein Weib, hatte eine frühere Neigung durch ihre ganze Ehe stets ungeschwächt bewahrt. Der Graf Gotthard von Nord konnte dem verstorbenen Bruder auch nicht gut sein, da er ihm genannte Kamilla, die früher ihm selbst als geliebte Braut bestimmt gewesen, weggeschnappt hatte. Der junge Leonhard kannte [453] seinen Vater kaum. Nur der alte Kastellan bedauert seinen jungen Gebieter, den er als Knaben auf den Armen getragen, aufrichtig, die übrigen aber tragen ihn nur in effigie im Herzen und lieben ihn in contumaciam – sie haben es nur mit seinem Bilde zu tun.

Wie gesagt – Schwiegervater, Sohn, Bruder, Kastellan, alle sinnen darauf, wie sie den verräterischen Maler finden und züchtigen könnten. Da spricht der Kastellan:


Ich habe drüber Jahre lang gebrütet,
Wie ich ihn kennen will.

Der gute Mann hat das folgendermaßen angefangen. Zuerst hat er sich nach Neapel geschlichen, das aufgehängte Bild nächtlicherweise vom Galgen abgenommen und dafür ein anderes hingehängt; sodann ist er durch vieles Überlegen und Suchen dahintergekommen, daß in der Ecke des Gemäldes der Künstler ein Zeichen hingemacht (sein Monogramm). Jetzt war der Weg zur Rache gefunden. Sie wollen sich sämtlich auf die Wanderung begeben, den Mordmaler aufzusuchen, übertragen jedoch, wie billig, dem jungen Leonhard die Rache. Dieser wird feierlich mit einem Schwerte umgürtet, zum Ritter geschlagen und ihm der Eid abgenommen, des Vaters Tod zu rächen! Während sie sich aber auf solche Weise rüsten und beraten, hat ihnen der böse Geist das Opfer schon zugeführt; denn der Maler, der das Galgenbild gemalt, ist kein anderer als Spinarosa. Wie er in das Haus seiner Feinde gekommen, ist oben schon gesagt; jetzt muß erzählt werden, auf welche Weise er dazu kam, den Grafen Nord zu malen. Zwar scheint dieses so natürlich, aber der gerade Weg taugt in keinen Tragödien; um gehörig spät zum fünften Akte zu gelangen, müssen krumme Wege eingeschlagen werden.

Gräfin Kamilla brachte ihre Kinderjahre in einem Kloster zu. Da ereignete sich, daß daselbst mehrere Bilder restauriert werden sollten. Der berühmte Meister, dessen [454] Kunst man in Anspruch nahm, hatte keine Zeit und schickte einen seiner Schüler, einen Deutschen namens Lenz. Wie dieser nach und nach die beschädigten Madonnen ausbesserte, bekamen sie alle das Gesicht der schönen Kamilla. C'est l'amour qui a fait ça! Die kleine Kamilla erwiderte die Liebe des jungen Malers. Da ward sie aus dem Kloster gezogen und dem Grafen Nord angetraut. Dieser hat von der Liebschaft gehört und will dem Maler, der seine Braut, wenn sie es auch damals noch nicht gewesen, zu lieben wagte, einen Streich spielen. Er läßt ihn rufen, um sich malen zu lassen. Lenz kommt, ohne zu wissen, daß er den Mann seiner Geliebten vor sich habe, und malt den Grafen. Als das Bild fertig ist, ruft der Graf Kamilla herbei, hunzt den armen Lenz in ihrer Gegenwart herab und sagt, das Bild tauge nichts. Nachdem er die Absicht, den Jüngling in Gegenwart der Geliebten zu beschämen und zu ärgern, erreicht, läßt er ihm den bedungenen Lohn auszahlen. Dieser aber wirft ihm das Geld vor die Fuße, stürzt fort, ändert seinen Namen und irrt in der Welt umher. Auf diese Weise ward das verhängnisvolle Bild geboren, das den Grafen das Leben kostete. So sinnreich bestrafen Dichter die Bosheit!

Jetzt ist Lenz unter dem Namen Spinarosa in der Nähe seiner Geliebten. Die Flamme seines Herzens hat er durch alle Wege seines Lebens treu gewartet, und auch sie hat die Neigung für ihren Jugendfreund ungeschwächt erhalten. Noch hat er sie, sie ihn nicht gesehen. Wie rührend wird die Erkennung sein! Welch ein freudiger Schrecken wird beide überfallen! ... Ach nein, daraus wird leider nichts, denn Kamilla ist blind, trägt eine Binde vor den Augen und hat sich so verändert, daß sie unkenntlich geworden ist. Wie, blind ist sie? Das ist nicht möglich. Also darum muß der unschuldige, unglückliche Maler mit einem Degen totgestochen werden, weil die [455] Dame blind ist? Hätte sie gesehen und ihn erkannt, dann wären alle Mißverständnisse und der daraus entsprungene Jammer verhütet worden. Darf ein dramatischer Künstler sich so etwas erlauben? Darf er die Bühne zum Lazarette machen? Wenn das habsüchtige, räuberische Schicksal, diebisch oder gewaltsam, in das schwache, unbewahrte Menschenherz einbricht, wenn dann die Angst unsere Schritte beflügelt, das Entsetzen uns unbeweglich macht, das Mitleid unsere Empfindung in Tränen auflöst – Angst, weil das drohende Geschick so übermächtig – Entsetzen, weil es zu flüchtig, ihm zu enteilen – Tränen, weil der Liebende ein Mensch ist wie wir, dem wir in jedem Nerven, in jedem Gliede den Schmerz nachempfinden – kann alles dieses auch dann in uns eindringen, wenn das duldende Schlachtopfer des Geschickes nicht menschlich gestaltet ist wie wir? Wenn es einen Schmerz fühlt, für den wir keinen Nerven haben, wenn das Unglück bei ihm durch eine offene Pforte eindringt, die bei uns verschlossen ist und bewehrt? Was kümmert uns ein Jammer, der durch Blindheit veranlaßt wird!Wir haben unsere guten Augen, wir sehen umher, uns kann so etwas nicht erreichen. Was kann einem Blinden nicht alles Trauriges begegnen, ohne daß es der Tücke des Fatums bedürfe! Er kann von einer Höhe stürzen und den Hals brechen; er kann mit einem Stocke einen bellenden Hund treffen wollen und seinen Vater erschlagen; er kann seinem eignen Kinde statt Zucker Rattengift in die Milch mischen. Die Gerichte können ihn darauf des Mordes beschuldigen und zum Tode verurteilen. Seine Frau stürzt sich aus Verzweiflung ins Wasser. Das ist gewiß Jammer genug; aber es ist ein pathologischer, kein dramatischer. Auch Shakespeare hat kranke, geisteszerrüttete, blinde Menschen auf die Bühne gebracht. Allein bei ihm erscheint der Wahnsinn nicht als Quelle, sondern als Ausfluß des dramatischen Geschickes, und [456] seine Blinden sind nur als Teile der Szenerie hingestellt, wie man Blitz, Donner und Seestürme auf die Bühne bringt, um einem schauerlichen Gemälde einen entsprechenden Rahmen zu geben. Aber im Bild ist die Blindheit der Gräfin die Wurzel aller Leiden, die Ursache aller Verwirrung, und man kann ohne schadenfrohen Kitzel nicht daran denken, daß der Hofrat Himly aus Göttingen, wenn er zufälligerweise einige Monate früher als Spinarosa nach der Schweiz gekommen und die blinde Gräfin durch ihn geheilt worden wäre, dem Schicksale und dem Herrn von Houwald einen rechten Possen gespielt und jenes um seine Beute, diesen um seine Tragödie geprellt hätte.

Aber an welchem Augenübel leidet denn eigentlich die schöne Gräfin, und wie kam sie dazu? Hat sie den grauen oder schwarzen Star? Hat sie ein Fell oder Flecken im Auge? Ist sie blind geboren? Ist das Übel nach einem Nervenfieber oder nach einer Entzündung übriggeblieben? Ach nein, das alles nicht. Sie hat sich um ihren verstorbenen Gatten blind geweint. Wahrhaftig, das ist romantisch, welch eine Treue, welch eine Liebe, welche Zärtlichkeit! Liebe? Zärtlichkeit? Ei, bewahre der Himmel! Sie hat ihren Mann nie geliebt, sie war der Neigung ihrer Jugend stets treu geblieben, der junge deutsche Maler lebte verborgen in ihrem Herzen. Und doch hat sie sich um ihren Gatten blind geweint? Das ist unglaublich! Ei, es muß wohl wahr sein; sie selbst und ihr Vater erzählen es. DerMarchese sagt seinem Enkel Leonhard, da er ihm das traurige Ende, das sein Vater in Neapel genommen, mitteilt:


Durch unsere Freunde ward mir bald die Kunde.
Ich sucht' es deiner Mutter zu verbergen;
Denn sie lag damals mit dir an den Blattern
Darnieder; aber sie erfuhr es doch;
Und ob die frohen Stunden ihrer Ehe
[457]
Ihr gleich nur spärlich zugemessen waren,
Doch war sie tief und auf den Tod betrübt,
Und in dem scharfgesalznen Tränenquell
Des Grams verloschen ihre schönen Augen.
Und die Gräfin sagt von ihrem verstorbenen Manne:
Ich hab' ihn lang beweint, doch meine Tränen
Sie löschten wohl der Augen schwaches Licht,
Doch nimmer die geheime mächt'ge Flamme
Der ersten Liebe.

Sie, Marquis, haben Ihre Sache gut gemacht; Sie wußten Ihrem Märchen einige Wahrscheinlichkeit zu geben. Indem Sie erzählten, die scharfgesalzenen Tränen des Grams hätten die schönen Augen Ihrer Tochter ausgelöscht, ungeachtet sie eine unglückliche Ehe gehabt, da fühlten Sie selbst, wie unglaublich das sei, und da haben Sie, anscheinend ganz absichtslos, die Bemerkung eingeflochten, daß die Gräfin zur selben Zeit an den Blattern krank gelegen. Es war dieses ein feiner ophthalmologischer Zug. Die Spötter, die an der aufrichtigen Betrübnis Ihrer Tochter zweifeln mochten, können in ihrem Sinne annehmen, sie sei von den Blattern, aber nicht aus Trauer blind geworden. Aber Sie, schöne Gräfin, haben sich gewaltig verschnappt. Wie! Sie wollen uns weismachen, daß die nämlichen Tränen, die nicht stark genug gewesen waren, die geheime, mächtige Flamme Ihrer ersten Liebe zu dämpfen, dennoch vermochten, das Licht Ihrer Augen auszulöschen, und Sie sagen uns das in vier aufeinanderfolgenden Zeilen, damit der Widerspruch recht handgreiflich werde? Gehen Sie uns, Sie sind sehr schlimm, Sie haben so etwas von einer Witwe zu Ephesus. Ihre Blindheit war nichts als eine Folge der Blattern, aber um sich das Ansehen einer zärtlichen betrübten Witwe zu geben, haben Sie den Leuten aufgebunden. Sie hätten sich um Ihren Mann blind geweint.

[458] Nun zurück zur Geschichte! Maler Spinarosa wird von dem Marchese aufgefordert, seine blinde Tochter zu malen, doch ohne daß sie davon wisse; denn sie habe sich immer gesträubt, einem Pinsel zu sitzen. Spinarosa wird in das Zimmer seiner Geliebten geführt. Er erkennt sie zwar nicht, und sie weiß nichts von seiner Gegenwart. Aber das in unsern neuern Tragödien so beliebte Dehnen und Sehnen, die magnetische Sympathie, das schwermütige Wesen, die sauersüße Empfindung, wobei einem ganz jämmerlich zumute wird, läßt sich alsbald verspüren. Er wird ahndungs- und andachtsvoll, ihr wird heiß und schwül, sie bekommt das Asthma und muß ins Freie. Da kniet er mitten im Zimmer nieder, die Abendglocken läuten dazwischen. Um den langen ungewissen Zustand zu verkürzen, sage ich gleich, daß er endlich von Kamillas Gesellschafterin erfährt, wen er gemalt habe, daß er der Vertren seine Hoffnung mitteilt, jetzt die Geliebte heiraten zu können, daß diese ihm sagt: daraus werde wohl nichts werden; denn der Marchese sei ein stolzer Mann.

Jetzt zu einem andern. Wenn ich Sprünge mache und außer Zusammenhange die Geschichte erzähle, so ist das nicht meine Schuld. Die Handlung hat mehrere Episoden, die ihr an Bedeutung nicht nachstehen. Sie könnten Stoff geben zu vier bis sechs Tragödien. Die Personen laufen verwirrt durcheinander, zerstoßen sich die Köpfe und versperren sich wechselseitig den Weg. Keiner weiß, wohin er gewollt, und alle verfehlen das Ziel. Der Graf Gotthard von Nord, Bruder des Verstorbenen, liebte Kamilla. Sein Vater hatte sie ihm ehemals als Braut zugedacht, seine zweite Mutter aber, aus Liebe zu ihrem eigenen Sohne, diesem Kamilla zugewendet. Der Graf hatte darauf das Malteserkreuz genommen. Da jetzt Kamilla Witwe, denkt er sich mit ihr zu vermählen, das Kreuz mit einer Frau zu vertauschen, und nachdem er sich vom Papste die nötige Dispensation verschafft, [459] entdeckt er dem Marchese seine alte Neigung zu Kamilla und bittet um ihre Hand. Dieser willigt mit Freuden ein, unterrichtet aber den Grafen von der früheren Neigung, die seine Tochter für einen deutschen Maler hegte. Der Graf will Kamilla ausholen, er spricht mit ihr von Herzensangelegenheiten und erhält das Geständnis, daß sie ihren Lenz nie vergessen werde. Der Graf erfährt von Spinarosa, daß Lenz lebe und daß dieser sein Freund sei. Der Graf ist hochherzig, er ladet Spinarosa ein, ihn nach Deutschland zu begleiten, um Lenz aufzusuchen. Er will seinen beglückten Nebenbuhler Kamillen in die Arme führen.

Kamilla hatte auch erfahren, daß Lenz noch lebe, und seitdem spricht sie wachend und träumend von ihm. Ihr Vater, der Marchese, der darin ein Hindernis zu ihrer Verbindung mit dem Grafen findet, bittet Spinarosa, er solle vorgeben, sein Freund Lenz wäre kürzlich gestorben, wie er soeben aus einem Briefe erfahren. Dieser jammert, in Dialogen und Monologen, ob so grausamer Zumutung; endlich verspricht er's zu tun und nimmt sich vor, in nächster Nacht heimlich das Schloß zu verlassen, um seiner Qual und dem Schmerze Kamillas zu entgehen. Er bittet den Kastellan, ihn nachts verstohlen die Pforte zu öffnen, ihn aber vorher in die Ahnenbildergalerie des Schlosses zu führen, weil er seine Augen noch einmal an dem von ihm gemalten und dort aufgehängten Bilde Kamillas weiden wolle. Der Kastellan verspricht es zu tun. Nun erinnere man sich, daß dieser alte treue Diener sich seit vielen Jahren in den Kopf gesetzt, durch das Monogramm des Galgenbildes den verräterischen Maler ausfindig zu machen. Darauf entdeckt er auf dem neugemalten Bilde Kamillas das nämliche Monogramm und schließt daraus, daß Spinarosa das Galgenbild verfertigt habe. Der Umstand, daß dieser sich heimlich aus dem Hause stehlen wolle, bestätigt ihn in [460] seinem Argwohne. Natürlich will der Mörder entfliehen, weil er sich entdeckt glaubt. Dem Marchese wird die Sache mitgeteilt, und beide nehmen sich vor, den Maler in der Bildergalerie zu belauschen, zu überfallen und zur Rede zu stellen. Um Mitternacht wird Spinarosa von dem Kastallan in die Galerie gelassen. Dort spricht er eine Zeitlang mit dem Bilde Kamillas. Darauf gewahrt er ein verhängtes Bild. Er zieht den Vorhang weg! Hölle und Teufel! Wut. Er zieht den Degen und stößt damit das Bild, es durchbohrend, von der Wand herab. Es war das Konterfei des von ihm gemalten Grafen Nord, der ihm seine Geliebte entzogen und ihn so schnöde behandelt. Sollte ihn dieser Anblick nicht in Wut setzen? In dem nämlichen Augenblicke stürzt der Marchese und der Kastellan herein. Das an den Galgen geschlagene, von dem Kastellan dem Galgen abgestohlene und in die Galerie gehängte Bild des Grafen wird von Spinarosa herabgeworfen. Das ist lautes Bekenntnis seiner Tat. Der Marchese zieht den Degen, und da sich der Maler ihm nicht entgegensetzen will, durchstößt er ihn.

Dies geschah um Mitternacht. Wie schafft man sogleich Kamilla herbei? Diese hatte ihrer Gesellschafterin gesagt, sie wolle diese Nacht etwas lange aufbleiben in der Nähe der Galerie, weil dann Geister dort herumwandeln sollen, und sie wolle hören, was Wahres daran sei. Auf den Mordlärm eilt sie herbei. Sie sieht den blutenden Geliebten. Sie sieht ihn, denn in diesem Augenblicke erhält sie das Gesicht wieder, der Wahnwitz überfällt sie, und sie sinkt tot hin. Der Maler stirbt auch, und der Marchese bedauert seine Übereilung. Man hätte wahrhaftig den Maler wohlfeiler sterben lassen können!

Und käme nun der Dichter dieser Tragödie und spräche: »Herr Rezensent, Sie wollen schlau sein, aber wie haben Sie sich ertappen lassen! Sie konnten glauben, daß es mir damit Ernst gewesen? Es konnte Ihnen entgehen, [461] daß ich mich durch mein Bild über die dramatische Scharlatanerie und Kinderpossenreißereien der deutschen Poeten habe lustig machen wollen?« – Wahrhaftig, ich würde rot werden und mich schämen. Man hat die Sprache in dieser Tragödie gelobt, sie soll blühend, bilderreich sein; aber gar manches wird gemalt und gar manche Kräuter blühen. Ich kann die Bearbeitung so wenig loben als die Wahl des Stoffes und will, meinen Tadel zu begründen, einige Stellen ausziehen.

Der Kastellan beginnt das Stück mit folgenden Worten:


Lauft! lauft! und reißt die Türen auf und zu,
Als sei das wilde Heer hier eingezogen! –
Wie mir ob dem Spektakel fast der Mund
Erstaunend offen steht, so sperrt die Burg
Auch ihre längst verschloßnen Tore auf.

Die Türen zureißen ist falsch. Reißen heißt gewaltsam trennen; wenn aber die Tür heftig zugeschlagen wird, so wird sie gewaltsam mit dem Türpfosten verbunden. Will der Kastellan ein Maul haben wie ein Tor, so habe ich nichts dagegen; aber wenn ihn der Mund fast offen steht, das heißt nur halb, so kann er es mit dem zum Empfange der einziehenden Gästeganz geöffneten Tore nicht wohl vergleichen. Nun laßt uns weiter gehen; wenn der Kastellan schlecht spricht, so beweist das noch nichts gegen die übrigen; auch in einem prächtigen Palaste ist die Bedientenstube schlechter tapeziert und möbliert als die Zimmer der Herrschaft. Freilich spricht der Kastellan so preziös, so sentenziös, daß man ihn mit seiner Herrschaft verwechseln könnte ... Der junge Leonhard in der Unterredung mit dem Kastellan sagt:


Was du die Welt nennst, liegt mir noch verborgen;
Doch hat die Kunst mir eine aufgetan;
Da steht der Glaub' und die Erfahrungen
Der alten Meister seit Jahrhunderten
Gesammelt – –

[462] Einem Knaben wie Leonhard ist allerdings die Welt verborgen, allein er ist sich dessen nicht bewußt. Der muß die Welt schon viel kennen, der es weiß, daß er sie nicht genug kennt. Über den Unsinn dieser Rede will ich mich nicht weiter verbreiten; daß es der junge Mensch als Maler an eitlem Kunstgeschwätze nicht wird fehlen lassen, das läßt sich denken, sowie auch, daß er ganz unausstehlich altklug spricht. In unsern neuen Tragödien gebärden sich die Helden wie die Kinder und die Kinder wie Erwachsene. Der kleine Otto in der Schuld ist hierin mit seinem Beispiele vorausgegangen. Der sanfte Raffael, wenn er den Kunstschüler Leonhard nach Art des Novalis und des Klosterbruders hätte sprechen hören, würde freilich nur gelächelt haben; aber der kräftige Michelangelo hätte mit seiner derben Faust dem Jungen gewiß einige Ohrfeigen gegeben und ihm zugedonnert: Arbeite, Pursche, und räsoniere nicht! ... Der Marchese, in der Erzählung, die er seinem Enkel von der mißlungenen Unternehmung des Vaters gegen die Regierung von Neapel macht, sagt:


Und weil dein Vater, der Verschwörung Haupt,
Zum Tod verurteilt worden war, so hing
Man wenigstens von ihm ein treues Bild
In contumaciam am Galgen auf.

»Verurteilt worden war«, – überhaupt alle diese Verse, sind doch etwas gar zu bürgerlich und herablassend. »Wenigstens« hat etwas Drolliges. In den beiden letzten Versen herrscht Unsinn. Der Verbrecher wird in contumaciam, d.h. als der Vorladung nicht Gehorchender, als Ausbleibender gehängt, aber nicht das Bild, das wird in Person gehängt. Um ein Bild in contumaciam, in effigie aufzuhängen, müßte man seine Kopie an den Galgen schlagen. So hängt in manchen Bildergalerien ein Raffael, ein Tizian in contumaciam, das heißt, nicht das Original, welches nicht zu haben war, sondern die Kopie. Der [463] Ausdruck in contumaciam, steif, hölzern, übertölpelnd wie er ist, gehört in ein Lehrbuch des peinlichen Prozesses, aber in kein Dichterwerk. Das hängt sich zentnerschwer an den Flügel des Pegasus. Das gemeine Wort Galgen, welches der gemütliche Dichter »der Vergeltung Säule« nennt, kommt in dem Bild so häufig vor und macht auf selbst ehrliche Ohren einen so unangenehmen Eindruck, daß in der Handschrift dieses Dramas, dessen sich die hiesige Bühne bedient, mit Recht das viel erhabnere, poetischere Hochgericht dafür gesetz wurde.

In der ersten Szene des dritten Akts spricht der Kastellan mit dem Grafen Nord von seinem Racheplan gegen den Mordmaler, wenn er ihn fände. Der Graf sucht ihn zu besänftigen und sagt:


– Blinde Rach' ist eine gier'ge Wölfin,
Die ihrer eignen Mutter Leib zerfleischt,
Indes sie selbst mit Reue schwanger geht.

Also die Rache ist eine Wölfin. – Das läßt sich hören. Die ihrer Mutter Leib zerfleischt – mag hingehen, obzwar die Naturgeschichte nichts davon sagt; denn wie ist es denkbar, daß sich die alte starke Wölfin von ihrer schwächeren Tochter sollte beißen lassen? Aber freilich, diese Tochter ist so schwach und jung nicht mehr; denn sie ist schwanger, so daß, indem sie von der Mutter frißt und das abgerissene Fleisch durch die Verdauung in ihr Blut übergeht, ihre Leibesfrucht damit ernährt und der Enkel mit der Großmutter gefüttert wird. Aber womit ist die Wölfin schwanger? Mit – Reue. Hat man je gehört, daß eine Wölfin mit Reue trächtig geht? Oder bezieht sich die Reue auf Rache, die Rache geht mit Reue schwanger, so ist diese ganze Bildnerei und Vergleichungsart durchaus fehlerhaft in stilistischer Beziehung. Will man einen Begriff durch Versinnlichung oder etwas Körperliches durch Vergleichung mit einem andern Körperlichen[464] anschaulicher machen, so muß man bei der Natur des Vergleichenden stehenbleiben und darf nicht zum Verglichenen zurückkehren. Man darf in kein Landschaftsgemälde natürliche Blätter und Blumen anbringen. Ich will ein Beispiel anführen, wie man einen solchen Fehler macht und vermeidet. Ihr möchtet einem schönen Mädchen über ihre großen leuchtenden Augen und seidenen Augenwimpern etwas Schmeichelhaftes schriftlich oder mündlich sagen. »Deine Augen gleichen zwei Sonnen«, das mag hingehen, ob es zwar auch nicht ganz recht ist; denn man sieht nie am Himmel zwei Sonnen nebeneinander. Nun weiter: »Deine Augen sind zwei glänzende Sonnen, über welche, das blendende Licht zu mildern, zwei seidene mit Fransen gerändete Vorhänge herabhängen.« Das wäre falsch, denn über der Sonne befinden sich keine Vorhänge. Wenn ihr aber sagt: »Deine Augen sind zwei kristallne Fenster, über welche Vorhänge mit schwarzseidenen Fransen hängen«, so ist das ein ganz vortreffliches Bild, was auch ein Tapezierer dagegen einwenden möchte.

Julie, der Kamilla Freundin, entdeckt, daß Spinarosa kein anderer als Maler Lenz sei. Sie will Gewißheit haben und ihn ausholen. Sie fragt ihn nach seinem wahren Namen. Spinarosa sagt:


Gibt euch mein Name
Von unserm Leben nicht ein treues Bild?
worauf Julie erwidert:
Auch dornenlose Blumen trägt der Lenz,
Sagt, habt Ihr nie den Maler Lenz gekannt?

Abgesehen von der Gemeinheit dieses Wortspiels, so liegt auch ein widriger Pleonasmus darin. »Dornenlose Blumen trägt der Lenz«. Sie legt einen Nachdruck auf das Wort Lenz. Gut, sie will ihn sticheln. Allein wozu das Sticheln, wenn sie gleich darauf mit den Worten:

[465] »Habt Ihr den Maler Lenz gekannt?« ihn unter die Rippen stößt? –
Es ist von dem schändlichen Mordmaler die Rede. Der Marchese sagt:

O schändlicher Verrat! Den Bösewicht,
Der hier aus Gift und Rache Farben mischte,
Kennt' ich ihn nur, ich tauchte diesen Pinsel

(an den Degen fassend)

In seines Herzens roten Farbentopf,
Bleich wie die Wand sein Angesicht zu malen!

»Aus Gift und Rache Farben mischt«. Diese Mischung taugt nichts: Gift ist eine Substanz und Rache ein Begriff. Es ist gerade so, als wollte man Mehl und Unschuld untereinandermischen. Das Schwert einen »Pinsel« zu nennen, ist nur einem betrunkenen Husaren im Wirtshause erlaubt, keinem Marquis. Das Herz einen »roten Farbentopf« zu heißen, mag der Dichter verantworten. Wie aber will er es anfangen, aus einem Topfe mit roter Farbe weiß zu malen? Das ist ein Taschenspielerstreich!

Nennt der Marchese das Schwert einen Pinsel, so macht dagegen Leonhard den Pinsel zum Schwerte:


Wer konnte wohl die Kunst so tief entweihen
Und seinen Pinsel zu dem Richtschwert machen?
Bei ebendieser Gelegenheit läßt sich der Kastellan wie folgt vernehmen:
Der Meuchelmord
Ist nicht so schändlich; 's ist ein einziger Stoß
In Hast und Wut geführt ...
Allein der Maler saß und malt' und traf!
Besonnen brütet' er die Schandtat aus
Und gab das Kücklein in des Henkers Pflege,
Daß es im luftigen Käfig dort gedeihe,
Wo es von fremder Ehr' und Leben fraß ...

[466] Die Schandtat ist ein junges Huhn; gut. Es kommt in des Henkers Pflege – nicht gut. Es gibt sich kein Henker mit der Hühnerzucht ab, außer zu seinem häuslichen Bedarf; er nimmt keine Hühner in Kost gegen Bezahlung. Das Huhn gedeiht im luftigen Käfig. Es ist wahr, zweckmäßig ist, sie hoch zu stellen, damit sie der Marder nicht holt; aber wer hat je einen Hühnerkorb unter dem Galgen aufgehängt? Noch mehr, das Kücklein wird mit fremder Ehr' und Leben gefüttert, statt mit Gerste. Das ist unerhört. Oder ist es die Schandtat, die Ehre und Leben frißt? Aber dann muß ich meine Bemerkung, die ich oben bei der mit Reue trächtigen Wölfin gemacht, hier herabziehen. Ist die Schandtat einmal zum Kücklein geworden, so muß sie als Huhn leben und sterben und darf nie mehr wieder Schandtat werden.

Aber diese Kritik hat sich sehr ausgedehnt, daß ich die Leser bitten muß, zu ihren Anfangsworten noch einmal zurückzukehren.

[467]

[468] [467]Nachtrag zu vorstehender Kritik
veranlaßt durch das »Tübinger Literaturblatt«,
herausgegeben von Müllner

›Das erste Heft des zweiten Bandes meiner lieben Zeitschrift, der Wage, wird in der genannten Beilage zum Morgenblatte (12. Dezember 1820, Nr. 104) viel gelobt und wenig getadelt. Mit dem erstern bin ich vollkommen einverstanden, mit dem andern aber nicht, und ich will die Gründe sagen, warum ich es nicht bin. Der Buchrichter 1 hat sich geäußert, bei mirüberwiege der [467] Witz die Urteilskraft; und, an einer andern Stelle, ich hätte mehr Witz als Urteil. Eigentlich wäre dieses kein Tadel; denn da es nicht zwei Dinge in der Welt gibt, die gleich groß oder gleich schwer sind, so muß auch notwendig von verschiedenen Geistesgaben, die ein Mensch vereinigt, die eine schwerer oder größer sein als die andere. Ich dürfte mich also des erhaltenen Lobes freuen und dem freundlichen Spender dafür danken. Es ist aber eine eigene Erscheinung, daß, wenn einem hochstehenden bedeutenden Manne ein Wörtchen entfällt, wie eine Schneeflocke so leicht, es oft als Lawine auf die Köpfe der Menge stürzt und dort manche Stellung verrückt oder gar umwirft. Freunde und Nicht-Freunde hatten früher mein Urteil immer richtig gefunden, sobald sie aber das Literaturblatt gelesen, erzählten sie, es stünde darin, ich hätte durchaus kein Urteil, und dies sei wahr. Ja, ein Bekannter kam zu mir und fragte: »Haben Sie das Morgenblatt gelesen?« und als ich mit Ja geantwortet, rief er: »O weh!« und ging fort. Da nun kein Richter abgesetzt werden kann, außer im Falle eines überwiesenen Verbrechens, also auch kein Kunstrichter, so muß mir viel daran gelegen sein, meine Unschuld darzutun, damit ich mein Kunstrichteramt nicht verliere. Ich werde also beweisen, daß das Literaturblatt unmöglich habe behaupten wollen, es mangle mir durchaus an Urteilskraft, da man wohl Urteilskraft ohne Witz, aber nie diesen ohne jene haben kann. Freilich werden es die Leser unschicklich genug finden, daß ich wie ein Tölpel von meinem eigenen Witze und von meiner eigenen Urteilskraft rede; denn wie bekannt, darf jeder Mensch seinen[468] guten Magen, sein gutes Herz, sein gutes Gedächtnis und seine Geliebte öffentlich loben; seinen Geist, seinen Witz und seine Frau aber nur im stillen. Aber ich verletze auch diese Anstandsregel nicht. Ich behaupte bloß, daß wenn ich Witz habe, wie er mir im Literaturblatt zugesprochen, ich auch Urteilskraft besitzen müsse.

Die Monarchen U und W des Konversationslexikons haben mir zum Kriege gegen die Rebellen, wel che die Verfassung meines Kopfes umgestoßen, indem sie ihm die gesetzgebende, richterliche und ausübende Gewalt entzogen und nur den Hofprunk des Witzes gelassen, ihren Beistand angeboten. Aber das Hülfsheer meiner Verbündeten verstärkt mich wenig. Meistens ausgediente Soldaten, noch von der Kantischen Kriegsschule, mit langen gepuderten Zöpfen und mit so großem Gepäck beladen, daß sie nicht von der Stelle können. König U schickte mir: »Urteilskraft (judicium) ist die zweite Handlungsweise des Verstandes im weitern Sinne oder des Denkvermögens (welches Begreifen – Verstand im engern Sinne – Urteilen und Schließen umfaßt), nämlich die Fähigkeit des Geistes, das Verhältnis der Dinge durch Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere und Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine zu bestimmen.« Diese schweren Reiter werden wenig ausrichten, sie fangen mir noch keinen einzigen Kohlenbrenner in den Schluchten der Abruzzen. Ferner: »Die Urteilskraft ist das Spezifische des Mutterwitzes.« Ungeübtes Fußvolk – schade! es kämpft mit Wärme für meine Sache. Aber Mutterwitz ist nur Lottoglück: die ihn haben, treffen die Gewinste auf Zahlen, die sie blind gezogen. Endlich: »Ein großer Mangel der Urteilskraft ist eigentlich das, was manDummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« Diese unglückselige Artillerie weiß nicht, wo der Feind steht, und richtet ihr Geschütz gegen meine eigenen Glieder. Wenn [469] ich jetzt nicht alles aufbiete, noch den Sieg zu erringen, so bin ich ganz verloren, ich bleibe dumm und komme nie wieder auf die Beine. Das Hülfsheer des Königs W fand ich nach der Musterung etwas brauchbarer, doch traute ich ihm nicht ganz und stellte es in den Hinterhalt; denn seine Äußerung: »Witz ist eine spielende Urteilskraft«, schien mir ein Einverständnis mit dem Feinde zu verraten.

Ich beginne die Schlacht. Urteilen heißt: eine wirkliche Sache oder deren Spiegelbild (den Begriff)ur–teilen, sie in ihre Ur-Teile zerlegen, ihre Grundstoffe auseinandersondern, um ihr inneres Wesen, ihre Beschaffenheit kennenzulernen. Es gibt Dinge, die den körperlichen Sinnen, oder wenn sie sich an denPforten des Geistes melden, äußerlich an Gestalt, Größe und Farbe ganz gleich erscheinen, obzwar ihre innere Natur voneinander abweicht; es gibt wieder andere Dinge, die bei äußerer Ungleichheit dem innern Wesen nach übereinstimmen. Das Urteil ist daher entweder trennend oder bindend; jenes straft die äußere Übereinstimmung, dieses die äußere Uneinigkeit Lüge. Man hat das eine Scharfsinn, das andere Witz genannt und hat nicht gut daran getan, wenn man nicht etwa dadurch bloß einen doppelten Ausfluß, sondern auch eine doppelte Quelle des Urteils bezeichnen wollte; denn es gibt nur eine Urteilskraft, die nur in ihrer Tätigkeit verschieden ist. Aber nicht einmal darin verschieden ist der Witz, welcher bloß einschnelles Urteil ist. Wie die voltaische Säule mit der Schnelle eines Augenblicks Alkalien und Erden zersetzt, während die gemeine Chemie sich auf trocknem und nassem Wege erst abmatten muß, so entdeckt der Witz bald und leicht die Grundstoffe einer Sache, die das Urteil nur langsam und mit Mühe ausfindig macht. Der witzige Kopf unterscheidet sich von dem bloß urteilskräftigen wie der Reisende in einem Wagen von dem Fußgänger: jener erreicht früher [470] das Ziel. Die Andersdenkenden werden freilich behend hierauf erwidern: »Das eben ist es! an dem vornehmen Reisenden gehen Landschaften, Städte, Dörfer und Menschen eilig vorüber, er kann die Gegenstände weder kennenlernen, noch genießen; der bescheidne Fußwanderer aber hat Zeit alles genau zu untersuchen.« Wohl wahr; doch es kömmt hier darauf an, ob der Weg Zweck des Reisens war oder das Ziel? Beim Urteilen aber ist der Schluß das Ziel, nicht das Urteilen; die Teilung, nicht die Art des Teilens. Der Witz hebt eine große Kraft mit einem Hebel, das Urteil braucht viele Menschenhände dazu. Der Witz ist nicht so belehrend als das Urteil, aber er will auch nicht belehren, er spricht nur für Ausgelernte und erinnert sie an das, was sie schon wissen. Jede Sache, jedes Verhältnis hat eigene Gesichtszüge, alle Dinge haben äußere Kennzeichen, die ihrer innern Natur entsprechen; der Witz kennt diese Zeichen, das Urteil will das Bezeichnete selbst sehen; jener erratet, wozu dieses erst die Beweise sucht. Ein Fremdling in der Naturkunde will die Art eines Baumes kennenlernen; er gräbt die Wurzel aus, er schält die Rinde ab, er spaltet das Holz, er steckt die Frucht in den Mund. Da kömmt ein Pflanzenkundiger, dem das Sexualsystem bekannt ist; er wirft einen Blick auf die Blüte, und ein einziger Staubfaden führt ihn glücklich durch das Labyrinth. Dieser ist Witz, jener Urteil. Die Aussprüche des Witzes verdienen so starkes Vertrauen als die des Urteils, aber sie erhalten es nicht; denn der letztere beweist, und jener fordert Glaube. Das Urteil, wie jedes gerichtliche sollte, gibt Gründe an, der Witz aber verdammt oder spricht frei, ohne sich zu erklären. Man spricht von der Oberflächlichkeit des Witzes; es gibt allerdings eine solche, aber sie liegt nicht in seiner Natur, sondern in seinem Grade, wie es auch ein oberflächliches Urteil gibt. Ich glaube also hinlänglich bewiesen zu haben, daß der [471] Witz nichts anders als das geflügelte Urteil ist; man kann aber keine Flügel haben ohne einen Körper, an dem sie hängen. Habe ich das Schlachtfeld behauptet, so verdanke ich den Sieg ganz allein meinen eigenen Kriegsvölkern; denn weder die Königlich Uhuschen, noch die Königlich Weheschen Truppen, sind ein einziges Mal zum Schusse gekommen.‹

Das Literaturblatt sagt von mir: ›(ich erzähle es mit sichtbarem aber ungesehenem Erröten allen Nichtlesern des Morgenblattes)‹ »Herr B. scheint uns ein offener gewandter, ungemein witziger Kopf zu sein; ganz geeignet, unterhaltende Rezensionen zu schreiben ... was aber die echte Kritik betrifft, so dürf[te] ihm – vielleicht der Umstand im Wege sein, daß der Witz die Urteilskraft überwiegt. Diese Vermutung beruht hauptsächlich auf der vor uns liegenden Theaterkritik, die er von Houwalds TrauerspielDas Bild geliefert hat. Er hat scharfsichtig alle Gebrechen der Vorfabel und der Handlung ausgefunden und mit anziehender Leichtigkeit anschaulich gemacht. Aber wenn Houwald von dem Maler, der aus Bosheit das an den Galgen geschlagene Bild eines Verfolgten täuschend ähnlich gemalt und dadurch diesen ins Verderben gestürzt haben soll, in folgenden Bildern spricht:


Besonnen brütet' er die Schandtat aus
Und gab das Kücklein in des Henkers Pflege,
Daß es im luft'gen Käfig dort gedeihe,
Wo es von fremder Ehr' und Leben fraß –

so ist darinnen mehr Witz – tragischer nämlich, Witz des Pathos – als in den gemachten Einwendungen: ›Wer hat je einen Hühnerkorb unter dem Galgen aufgehängt? Und das Kücklein wird mit fremder Ehr' und Leben gefüttert, statt mit Gerste!‹ Herr B. hat hier offenbar übersehen, daß die poetische Diktion nicht füglich nach [472] den Grundsätzen der Hühnerzucht beurteilt werden kann.« ›Dieses ganze richterlich Verfahren enthält eine Nichtigkeit im Sinne der Rechtslehre, wie der Herausgeber des Literaturblattes, der ein gutes Buch über die richterliche Entscheidungskunde geschrieben hat, selbst bekennen muß. Die Anklage lautet auf Mangel an Urteil; die Aussage des Zeugen aber auf Mangel an Witz die Behauptung des letztern mag wahr sein, indessen bin ich nicht darüber vorgeladen worden. Auch ist der geführte Beweis falsch.‹ Übersehen habe ich nicht, daß die poetische Diktion nicht nach den Grundsätzen der Hühnerzucht beurteilt werden könne. Wenn ich das Gegenteil irrig behauptet, so war es ein Fehler der Überlegung, keiner der Sinne; denn ich behaupte es noch. Der Dichter spricht in Bildern – was heißt das? Das heißt: er will etwas Unsichtbares (eine Empfindung, einen Gedanken) durch etwas Sichtbares anschaulich machen; er will ein unbekanntes Größenverhältnis durch ein bekanntes finden lassen. Dann muß aber, soll der Zweck der poetischen Diktion erreicht werden, das vorgestellte Bild wirklich in der sinnlichen Welt vorhanden, die als bekannt angenommene Größe wirklich bekannt sein. In der bemerkten Stelle wollte Houwald seine Empfindung, wie sich Saat, Wachstum, Frucht und Ernte einer Übeltat zusammengesellten, bis endlich das bestimmte Opfer vergiftet hinstürzt, den Lesern durch ein Bild versinnlichen. Was tut er? Er läßt einen Menschen sich niederkauern, ein Ei legen, wie eine Henne gackern und endlich das Ei, welches unter der schweren Last unbegreiflicherweise ganz bleibt, ausbrüten. Dieses ist weder dem Ohre noch dem Auge faßlich. Man sagt zwar bildlich: der Mensch brütet über eine Schandtat, aber die Sache selbst, das Original darf man ihn nicht verrichten lassen. Nun ist das Kücklein auf der Welt, es soll leben, aber all sein Tun und Leiden darf allerdings nur nach den Grundsätzen[473] der Hühnerzucht beurteilt werden, man darf nichts mit ihm vornehmen, was dem entgegen ist, was Naturgeschichte oder Landwirtschaft rücksichtlich des Federviehs verfügt haben. Das Kücklein darf also weder in die Pflege eines Henkers gegeben, noch darf es an den Galgen gehängt, noch mit Ehr' und Leben, am wenigsten aber mit fremder Ehr' und Leben gefüttert werden; denn für einen Henker, der Diebe bestraft, würde es sich gar nicht schicken, selbst zum Diebe zu werden. Bei der Sprachmalerei fällt man aus Zerstreuung leicht und oft in solche falsche Bilder. Nun kann wohl der Dichter mit der Wärme seiner Empfindung den Mangel an Aufmerksamkeit entschuldigen, aber der kalte Beurteiler nicht, und diesem kommt daher zu, die entdeckten Fehler zu rügen. So mochte wohl Houwald in der besprochenen Stelle, da er vom Fressen der Ehr' sprach, ganz das Kücklein vergessen und sich nur der Schandtat erinnert haben. Daraus entstand die fehlerhafte Mischung von Kunst und Natur; man darf, wie ich ›in der Wage‹ ohngefähr gesagt habe, einengemalten Baumstamm nicht mit natürlichen Blättern und Blüten krönen, etwa aus Mangel an Farben. Es wäre dieses, als wie wenn ein Übersetzer, wo ihm die verdolmetschenden Worte mangeln, die Worte der Ursprache einmischen wollte. Hätten übrigens die vier besprochenen Verse auch nicht gegen die poetischeDiktion gefehlt, so hätten sie sich doch immer gegen die poetische Kunst vergangen. Der Witz des Pathos mag allerdings in der wirklichen Welt seinen Quintilian vergessen und in tolle Redensarten ausbrechen; die wahre Verzweiflung macht allerdings garstige Gesichter – aber auf der Bühne darf sie es nicht; dort müssen selbst die Krämpfe der Seele sich in den Wellenlinien der Schönheit bewegen.

Das Literaturblatt urteilt ferner: »Endlich, wenn der Verfasser den Gebrauch der Blindheit an einer Hauptperson [474] in der Tragödie u.a. aus diesem Grund tadelt: 'Was kümmert uns ein Jammer, der durch Blindheit veranlaßt wird? Wir haben unsere guten Augen, wir sehen umher, uns kann so etwas nicht erreichen' usw., so hat er nicht nur den Ödip in Kolonos vergessen, sondern auch den Umstand übersehen, daß bei jedem Zuschauer wenigstens so viel Phantasie vorausgesetzt werden muß, als nötig ist, um sich mit sehenden Augen in den Zustand eines Blinden zu versetzen. Wird wohl irgendeiner am Schlusse des 'Wallenstein' das Mitleid mit der Terzky durch den Einfall von sich scheuchen: Was kümmert mich die Gräfin, ich habe keinen Gift im Leibe«? Der Grund freilich ist nicht fest genug, ob zwar auch nicht ganz so locker, als behauptet wird. Man kann wohl mit sehenden Augen sich in den Zustand eines Blinden versetzen, aber nicht in alle Folgen dieses Zustandes, nicht in jeden Kummer jeder einzelnen Entbehrung. Das Gesicht des Schmerzes, welches die unglückliche Liebe zeigt, wird uns rühren, doch haben wir für jede der tausend Sorgen, die heimlich an dem Herzen des Unglücklichen nagen, keine besondere Träne. Wir schenken ihm eine runde Summe des Mitleids und haben uns dann abgefunden. Gegen diesen Grund, warum tragische Personen nicht blind erscheinen dürfen, läßt sich, wie auch geschehen ist, Einwendung machen; ich habe aber bessere Gründe teils dargereicht, teils angeboten. Ich sagte, es dürfe kein tragisches Geschick in einer Krankheit des Leidenshelden seine Quelle haben. Die Ursache liegt ganz oben. Der Zweikampf zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit, oder wahrer und christlicher gesprochen: Der Kampf der Freiheit des einzelnen gegen die Freiheit der Welt ist es, was in der Tragödie uns bewegt. Dann muß es aber eben die Freiheit sein, welche stritt und unterlag, nicht die gefesselte Sklaverei. Der kranke Mensch jedoch ist ein Leibeigener, dem, weil er nicht [475] ebenbürtig mit der freien Welt, kein ritterlicher Kampf gebührt. Er fiel – denken wir Gesunden – weil er die Waffen nicht zu führen verstand, wir aber werden uns zu verteidigen wissen. Kann der tragische Dichter diese Hoffnung des Siegs aufkommen lassen, wenn er dem unbezwingbaren Geschicke die gebührende Ehrfurcht erhalten will? Ich hatte freilich, als ich die Blindheit der Gräfin Kamilla getadelt, nicht an Ödip in Kolonos gedacht, aber jetzt, da ich daran erinnert worden, finde ich dort eine Stütze mehr für meine Behauptung. Hätte Ödip seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet, weil er, als Blinder, sie als solche nicht erkannte, dann hätte Sophokles den Fehler Houwalds begangen. Aber Ödips Blindheit war nicht die Quelle, sie war die Folge seiner Tat und seines Mißgeschickes. Nicht seine Blindheit, seine Selbstblendung rührt uns, und sie macht die höchste tragische Wirkung. Wir lernen darin, daß man dem Verhängnisse nicht entgehe, indem man die Werkzeuge seiner Rache meidet; denn weichen wir diesen aus, so muß unsere eigene Hand die Strafe des Geschickes an uns selbst vollstrecken. Bei Ödip erschüttert uns der boshafte Witz, das grausame Vorspiel des neckenden Schicksals: Er sah, solange er blind war, und war blind, sobald er sah. Daß es nicht das Blind-sein, sondern das Blind-werden ist, was für Ödip aufregt, kann man leicht versuchen, wenn man beide Tragödien dieses Namens voneinander trennt. Ödip der König weggedacht, macht Ödip in Kolonos durchaus keine Wirkung; ja es ist – ich kann kein anderes Wort finden – es ist ekelhaft, den alten augenlosen Bettler zu begleiten, zu sehen, wie unbehülflich er ist, wie ihm seine Tochter beistehen muß, wenn er sich setzt oder aufsteht, wie er alles greifen muß, um es zu erkennen! Das blutende Schlachtopfer kann rühren, aber nicht das abgeschlachtete – dem Leichnam wenden wir den Rücken. – Auch das Beispiel der [476] Terzky am Schlusse des Wallensteins ist nicht anwendbar gegen mich. Haben wir auch kein Gift im Leibe, so haben wir doch Gefäße im Leibe, die des Giftes empfänglich sind. Auch ist es nicht das Gift, die Vergiftung ist es, die tragisch auf uns einwirkt. Es entsteht nicht der Wunsch in unserem Herzen: Möchte doch eiligst ein Arzt herbeigeholt werden und möchte, bis er kommt, die Gräfin einstweilen Öl oder Seifenwasser trinken! Nein, sie mag sterben; wir beklagen nur den Untergang ihres Hauses. So sehen wir bewegt die Blätter vom Baume fallen, – an den Blättern verlieren wir nichts, nur der Winter macht uns traurig, der sie herabschüttelt.

›Es ist mir zum Vorwurfe gemacht worden, daß ich einen Sprachfehler gerügt, der doch nur auf Rechnung des Abschreibers oder des Schauspielers zu setzen gewesen wäre. Ich muß diesen Vorwurf hinnehmen. Wie ich zu jener unschicklichen Rüge gekommen, begreife ich selbst nicht; doch war es nur Vergessenheit, nicht Mangel an Wohlwollen, wie gemeint wird. Ich kenne so wenig den Dichter als ich die Dichtkunst übe, und sooft ich auch geirrt haben mag, ich irrte nie aus Leidenschaft. Zwar äußert sich dasLiteraturblatt, ich möchte wohl bei der Beurteilung des Bilds »durch bekannte Lobhudeleien« ein weniggereizt worden sein; allein dieses sollte gewiß nicht heißen, empfindlich gemacht, sondern veranlaßt, und ich muß gestehen, daß es sich wirklich so verhält. Jede Kritik sollte nur auf eine solche Veranlassung geschrieben werden. Wenn ein Dichtwerk, oder sonst ein anderes, nicht gelobt wird, wenn es keinen Beifall findet, ist es dann nicht eine abscheuliche zwecklose Grausamkeit, es öffentlich herabzusetzen und einen Schriftsteller, der, sei er noch so bescheiden, für seine Erzeugnisse immer Vaterliebe hat, zu kränken? Aber sobald es unverdientes und allgemeines Lob erlangt, muß die Kritik ihre Härte üben. Ich glaube nicht, [477] daß eine schlechte dramatische Dichtung den Geschmack des Lesers oder Hörers verdirbt, ich glaube aber, daß sie, indem sie dem verdorbenen Geschmacke huldigt, diesem gesetzliche Herrschaft und Erblichkeit gibt und daß man solchem verderblichen Einflusse begegnen müsse. Ich habe Houwalds Bild von keinem tadeln, von vielen preisen hören. Auch Böttiger in derAbendzeitung hat es hoch erhoben. Ein so kenntnisreicher Beurteiler! Was soll ich denken? Es wäre doch traurig, wenn mir keine andere Wahl bliebe als zwischen der Erklärung: ich habe den Verstand verloren, oder: Böttiger hat ihn verloren; ich müßte das erstere wählen. War es Wohlwollen? Das wäre sehr zu tadeln! Ich bin so glücklich, keine Freunde zu haben, die schlechte Bücher schreiben; aber hätte ich solche – nun freilich, ich würde sie auch nicht tadeln, ich schwiege. Weiter darf sich die Nachsicht nicht erstrecken; man kann sich selbst, aber man darf nicht fremde Rechte dem Freunde opfern, und auf Wahrheit hat die ganze Welt heiligen Anspruch.

Einige Bild-Verehrer haben mich als einen Ikonoklasten feindlich behandelt und den Bildersturm abzuschlagen gesucht. Die in Frankfurt erscheinendeIris sagte inbezug auf mich, man habe Houwalds Tragödie, »mißverstehend den tiefen Sinn der Dichtung, streng getadelt; aber der reine Geist, der darin waltet, ist unverwundbar.« Von der Enkelin des Oceanus wundert es mich sehr, daß sie mir hierin entgegen war. Meine Landsmännin hätte wissen sollen, daß Karl der Große selbst schon vor länger als tausend Jahren gegen die Bildverehrung geschrieben und daß eine damals in unserer Vaterstadt gehaltene Kirchenversammlung ihm feierlich recht gegeben hat. Wollte die Iris anderer Meinung sein, so hätte sie wenigstens Karl dem Großen und mir ihre Gründe angeben und die von mir gegebenen Gründe der Verwerfung widerlegen sollen. – Die der Ikonolatrie warm [478] ergebeneAbendzeitung kam mit großer Macht zu Wasser und zu Lande (in Prosa und Versen) mir entgegengezogen. Ein Frankfurter Briefwechsler (so genannt weil sie Briefe gegen Geld wechseln) schrieb nach Dresden:»Houwalds schöne Dichtung hat in Hrn. Börne, der in zwei neuen Heften seiner Zeitschrift (Die Wage) der Welt zeigt, daß er noch in ihr ist, einen ereiferten Gegner gefunden. Nach seinem Ausspruche taugt der Plan nichts, die Sprache ist unpoetisch, und es findet sich sogar – man höre! – ein Verstoß gegen die Jurisprudenz. Mit dem genialen A.E. Hoffmann und dem Edelmanne Hrn. A.v. Schaden geht Hr. Börne nicht besser um. Da entstand denn in einem Kreise billiger Kunstfreunde, welche Hrn. Börnes Aussprüche nicht billigen konnten, folgendes Distichon:


Adolf von Schaden zu tadeln? Mag sein! Dahin reichet dein Maßstab;
Aber von Hoffmann laß ab, Lieber, der steht dir zu hoch!
Nimmst du gar Houwalds so treffliches Bild auf die richtlose Wage,
Ja, dann hängt es fürwahr in contumaciam da. –

Die billigen Kunstfreunde mögen wohl damals billigen Wein getrunken haben, als das Distichon in ihrem Kreise entstand. Es ist mir nicht klar geworden, ob der Dichter mein Freund oder Feind sei, ob er mich loben oder tadeln wollte. Zwar duzt er mich und nennt mich »Lieber«, doch vielleicht ist er mir nur aus metrischen Gründen zugetan. Den Schwung, das Malerische des Distichons habe ich lebhaft aufgefaßt. Das»von Hoffmann laß ab!« ist wahrhaft plastisch; ich fühlte die Hand des Polizeidieners, der mich beim Arme packte, um mich aus dem Prügelgemenge zu ziehen. Aber über den Sinn des letzten Zeilenpaars bin ich zweifelhaft. Heißt es: meine Wage wäre einGalgen! Das bin ich zufrieden; denn an den Galgen wird keiner unverdient gehängt. Oder wollte der[479] Dichter sagen: ich sei ein Galgenstrick? Ich wollte ihm nicht raten, dieses gemeint zu haben. Das wäre schlecht von ihm, ich bin ein ehrlicher Mann und bin kein Galgenstrick, und hat er mich wirklich einen Galgenstrick genannt und ich bringe heraus wie er heißt, dann verklage ich ihn bei der Dresdner Polizei.

Mit dem Prosaisten aber bin ich nicht zufrieden, das ist ein grober Mensch. Warum beleidigt er mich? Wozu sagt er von mir, ich hätte durch zwei Hefte derWage der Welt zeigen wollen, daß ich noch in ihr sei? Mich ärgert das sehr. Solche Grobheiten belustigen weder, noch belehren sie die Welt. Der Herausgeber der Abendzeitung hätte diese Kränkung nicht aufnehmen sollen. Das Blatt ist sonst immer fein, immer wohlriechend; wahrscheinlich hat der Lampenbub vorn, ohne daß es der Hausherr wußte, dieses brenzlige Öl in die Lampe gegossen.‹

[480][467]

Fußnoten

1 »Rezensent« ist ein helles und heiteres Wort, das seinen nächtlichen Sinn falsch bezeichnet; es dringt lustig ins Ohr wie Schalmeienklänge aus dem sonnigen Tale herauf. Buchrichter aber ist grauenvoll und malerisch, es tönt fast wie Blutrichter. Als Versuch will ich in dieser meiner kunstgerichtlichen Einrede sehen und zeigen, wie es sich ausnimmt. Uns arme Sprachreiniger aber verlache man ja nicht – das istunsere Beute aus dem Befreiungskriege der Deutschen!

Hamlet
Von Shakespeare

Unter den Schauspielen des britischen Dichters, die sich nicht in der Geschichte oder Fabel Englands bewegen, ist Hamlet das einzige, das nordischen Boden und nordischen Himmel hat. Der naturkundige Shakespeare verstand es gut und achtete wohl darauf, welche Luft am gedeihlichsten sei für jede seiner Menschenarten. Dem bunten Scherze, der flatternden Freude, der entschiedenen Leidenschaft, der hellen, scharf umgrenzten Tat gab er den blauen sonnigen Süden, wo die Nacht nur ein schlafender Tag ist; den wehmütigen, brütenden, träumerischen Hamlet versetzte er in ein Land des Nebels und der langen Nächte, unter einen düstern Himmel, wo der Tag nur eine schlaflose Nacht ist. Gleich dem Nord, dem feuchten Kerker der Natur, hält uns dieses Trauerspiel gefangen, und es erquickt uns wie der Sonnenstrahl, der durch einen Ritz der Mauer in das Dunkel dringt, wenn, wie es einmal geschieht, wir das warme Wort »Rom« und das helle »Frankreich« darin vernehmen.

Die genauesten Schätzer, wie die wärmsten Freunde des Dichters haben Hamlet als sein Meisterwerk erklärt. Wir müssen die Grenzen dieser Meinung suchen. Hamlet ist nicht das bewundrungswürdigste Werk Shakespeares; aber Shakespeare ist am bewundrungswürdigsten im Hamlet. Nämlich: erstaunen wir über eine ungewöhnliche Kraft, geschieht es nicht, wo ihre Wirksamkeit beginnt, sondern wo diese aufhört; denn nur die Ausdauer einer Kraft zeugt von deren Größe. So hier. Durchwandern wir die glänzende Bahn des Dichters und kehrt am Ziel unsere Bewunderung ermüdet um, finden wir Hamlet auf dem Rückwege, den wir nicht erwartet. Shakespeare [482] mußte sich verdoppeln, mußte aus sich heraustreten, ihn zu schaffen, er hat darin sich selbst überholt. Aber dieses ist nicht gesagt in der rednerischen Sprache der Lobpreisung, sondern in der nüchternen der Berechnung. Hamlet ist eine Kolonie von Shakespeares Geiste, die unter einer andern Zone liegt, eine andere Natur hat und von ganz andern Gesetzen regiert wird als das Mutterland.

Shakespeare ist ein Naturgläubiger, ein Naturweiser. Sein Gott ist ein offenbarter Gott, die Abspiegelung der Welt im menschlichen Geiste ist seine Weisheit. Was er uns zeige, Himmel und Erde, Hölle und Paradies, Leben und Tod, er läßt es erscheinen als freundlich-menschliches Gesicht. Alles atmet, alles lebt, und der Tod ist nur das Hauptbuch über Einnahmen und Ausgaben des Lebens. Ganz anders Hamlet; da ist alles mystisch. Überall sonst tritt der Heroismus hervor, bei Hamlet steht die blöde Genialität im Hintergrunde. Da ist die Nachtseite, die weibliche Natur des Lebens, das Empfangende, Gebärende, da hören wir die Wehen der Schöpfung. Sonst überall bei Shakespeare erscheint die Philosophie und gestaltet sich als Erfahrung; im Hamlet verschwindet die Erfahrung und steigt als Dunst der Philosophie zum Wolkenhimmel auf. Alle andere Charaktere des Dichters sind konvex und bilden Brennpunkte; Hamlet ist der einzige konkave Charakter, dessen Strahlen divergieren. Alles sonst, auch das Furchtbarste, das Gräßlichste erscheint im Sonnenlichte. Bei Hamlet erschreckt selbst der Scherz; denn ihn bleicht der Mondschein. Nicht der Geist des ermordeten Königs ist das schlimmste Grauen; er zeigt sich in der Nacht, in dieser dunklen Wohnung der Geister, wo wir nur schüchterne Gäste sind. Der Geist bei Tage in unserm eigenen Hause – Hamlets Geist ist viel entsetzlicher.

Shakespeare ist König, nicht untertan der Regel. Wäre er wie ein anderer, dürfte man sagen: Hamlet ist ein [483] lyrischer Charakter, der aller dramatischen Gestaltung widerstrebt; Hamlet ist das Un-Ding, schlimmer als der Tod, das Ungeborene. Doch es ist Shakespeare! – wir müssen gehorchen und schweigen.

Über dem Gemälde hängt ein Flor. Wir möchten ihn wegziehen, das Gemälde genauer zu betrachten; aber der Flor ist selbst gemalt. Die Nähe des Auges muß die Schwäche des Lichtes ersetzen. Werfen wir zuerst einen Blick auf die Umgebungen unseres Leidenshelden. Hamlet ist nicht der Mittelpunkt, wir müssen ihn dazu machen; wir wollen erst seinen Kreis bilden und ihn dann hineinstellen. Doch vor allem rüsten wir uns männlich gegen den Irrtum, der uns im Leben wie auf der Bühne so oft besiegt. Im Leben beurteilen wir die Menschen nach ihrem Rufe; auf der Bühne glauben wir von den dargestellten, ohne zu untersuchen, alles, was die Tugendhaften im Schauspiele von ihnen sagen und denken. Das ist nicht die rechte Art; wir müssen sie selbst beobachten und prüfen. Hamlet ist gar nicht so edel und liebenswürdig, wie er seinem Mädchen erscheint; der König ist lange nicht so nichtswürdig, wie ihn Hamlet lästert. Ja, wir müssen uns sehr vorsehen, daß wir den bösen Oheim nicht lieber gewinnen als den guten Neffen.

Der Schauplatz ist ein nordischer Hof, halb gekleidet im wilden Eisen der alten Zeit, halb im Tuche unserer Tageshelden, die, hinter der Fronte, mit ihrem Schwerte Federn schneiden. Der Rost der Politik fing schon an, den kriegerischen Stahl fleckig zu machen. Gradsinn und krumme Wege ziehen nebeneinander her, Grobheit und Schmeichelei begegnen sich. Die Hofleute haben schon die Witterung des 18. Jahrhunderts und wissen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Verstand gewahren wir genug; aber nicht Geist, nicht Witz noch Bildung. Die beiden Studenten, Hamlet und Horatio, sind Orakel, und ihre [484] Gelehrsamkeit wird angestaunt. Der Scherz ist etwas plump und unzüchtig; die Silbenstecherei gehört zu den Turnierübungen der schönen Geister jener Zeit. Das Volk ist störrig – »Ihr falschen Dänenhunde«, sagt die Königin.

Der König hat seinen Bruder ermordet, dessen Witwe geheiratet und sich die Krone aufgesetzt. Er ist verschlossen, wir können ihm nicht in die Brust sehen; aber es scheint, er ist der Königin ernstlich zugetan, und wir dürfen glauben, daß seine Liebe älter sei als sein Ehrgeiz und sein Verbrechen. Er hat es begangen, er hat sich den unterirdischen Mächten verkauft; doch seine Rechnung ist ihm klar; er weiß, was er ausgegeben, und auch, was er eingenommen. Der König gleicht allen Bösewichtern Shakespeares, die, es in guter hausbackenen Meinung zu sagen, der Sittlichkeit gar nicht heilsam sind. Man kann Shakespeares Bösewichtern nicht recht gram werden; sie sind nicht schlimm für eigene Rechnung allein, sie bilden Gattung, sie tragen das Kainszeichen auf ihrer Stirne, das Titelblatt von dem Sündenbuche der Menschheit, das nicht verantwortlich ist für den Inhalt, den es anzeigt. Der König, nach seiner großen Schuld, tut nicht mehr Böses, als nötig ist zu ihrer Benutzung und seiner Sicherheit, und er tut es nicht eher, als bis der Gebrauch und seine Gefahr ganz nahegekommen. Selbst arg, quält ihn doch der Argwohn nicht. Er ist sehr nachsichtig, sehr langmütig gegen Hamlet, dessen wahre Stimmung er, und er allein, durchschaut, sobald er ihn nur einmal unbemerkt beobachtet. Er ist ein vornehmer Geist, dem sein untergebenes Gewissen nur in der stillen Zurückgezogenheit vertraulich nahen darf. Einmal, da es ihn überrascht, und er seine starken Knie vor Gott beugt, sind wir bewegt, und es schmerzt uns, daß ihm das Beten nicht gelingt und daß ihm die Schuld leichter fiel als die Buße. Er ist ein stattlicher Herr, Ehrfurcht gebietend und dabei [485] staatsklug, beredsam und freundlich. Er behandelt den alten, unbrauchbar gewordenen Polonius mit schonender Achtung, Laertes und die übrigen Hofleute mit einschmeichelnder Aufmerksamkeit. Er ist zechlustig wie sein Land; er ist es aus Neigung und zeigt es aus Politik. Er hat eine bewunderungswürdige Geistesgegenwart, die er nie verliert. Wenn er Hamlets Schauspiel plötzlich verließ, geschah es nicht, weil er seine innere Bewegung nicht bemeistern konnte; denn wäre das, wäre er gleich nach der Pantomime aufgebrochen, die doch als der erste Eindruck ihn am meisten überraschen mußte. Er entfernt sich nur, sich zu retten; denn er fürchtet, das Spiel könnte ernsthaft endigen und auf Hamlets peinliches Gericht möchte gleich die Hinrichtung folgen. Darin verkannte er Hamlet; er bedachte nicht, daß ein starker Mann der einmal fest beschlossenen Tat nie eine Drohung vorausschickt. Die ruhige Haltung und königliche Würde verläßt ihn nicht, als Laertes an der Spitze einer empörten Rotte in den Palast dringt; nicht, als Hamlet unerwartet von seiner Seereise zurückkehrt und den Plan vereitelt, nicht, als die Königin vergiftet niedersinkt, deren Ohnmacht er für Nervenscheu vor Blut erklärt; selbst nicht, als er selbst unheilbar hinfällt – er verbirgt die Gefahr und sendet nach Hülfe. In diesem letzten, fürchterlichen Augenblicke, am Rande des Todes, verläßt der König den Menschen nicht, dankbar für die von ihm erhaltenen Opfer. Er begleitet ihn hinüber in die andere Welt, hinauf zu jenem ewigen Richter, ihn dort zu verteidigen. Wir dürfen hoffen, der gnädige Gott werde dem Menschen verzeihen, was der König begangen; war es ein Verbrechen, König zu sein, war es nicht seines, sondern das seines Volks.

Die Königin ist schwach, sie ist Hamlets Mutter. Ihr Teil an dem Verbrechen bleibt zweifelhaft; sie ist Hehlerin, kauft wohlfeil gestohlenes Gut und fragt nicht, [486] ob ein Diebstahl geschehen. Des Königs männliche Art hat sie überwältigt; ihres Sohnes Gewissenslampe, erst um Mitternacht entzündet, brennt nicht bis zum Morgen, und sie erwacht mit den Sünden des vorigen Tages.

Fortinbras und Laertes, Hamlets Altersgenossen, hat der Dichter mit bedächtiger Kunst dem Königssohne zur Seite gestellt, daß sie Licht werfen auf seine Schatten. Fortinbras streckt mit schöner Keckheit seine Hand aus nach Hamlets künftigem Erbgut, und als er ertappt wird, wendet er sich ruhig zu eines andern Tasche. Er trommelt, wie zum Spotte, in Hamlets stillen Schlaf, und als dieser ausgeträumt und stirbt, ist er auf der Stelle wieder da, bei hellem Tage den Thron zu besteigen, zu dem er früher im Dunkeln hat hinaufschleichen wollen. Laertes, der leichtgesinnte Jüngling, verläßt im Fluge das liederliche Paris, den Tod seines Vaters zu rächen, und ist sehr bereit, sich die Zinsen seiner Ungeduld mit einer Krone bezahlt zu machen – und der ernste, tugendhafte Hamlet, dem man auch einen Vater gemordet, kommt, ganz entkönigt, geschlichen von dem keuschen Wittenberg her und schleicht fort und träumt und besinnt sich und vollbringt nichts. Mit Laertes' lauter Trauer um Ophelia sucht er zu wetteifern; seinen stillen Schmerz um sie teilt er nicht.

Horatio hat auch in Wittenberg studiert und kam mit starkem Geiste und schwachem Fleische von dort zurück. Er ist ein ganzer Lateiner geworden und weiß zu erzählen von Rom und dem großen Cäsar. Die jungen Hofleute werden sich wohl im stillen über ihn lustig gemacht haben. Da Hamlet umkommt, sagt Horatio, er wäre kein Däne, sondern ein alter Römer, und er wolle seinem Herrn und Freunde in den Tod nachfolgen; aber er läßt es schön bleiben. Hamlet brauchte seinen Vertrauten nicht zu wählen, die Natur selbst hat ihm Horatio angetraut.

[487] Polonius war in seiner Jugend ein kluger Kopf. Dem alten Manne ist sein Verstand zu schwer geworden, und er kann ihn nicht mehr aus der Scheide bringen. Er trägt ihn gern zur Schau, als könnte er ihn noch führen, und er freut sich der oft geprüften Waffe. Nur unzeitiger Spott kann den Greis lächerlich finden. Auf Liebe, Wahnsinn und Schwärmerei versteht er sich zwar nicht viel; denn diese Krankheitsfälle sind ihm in seiner Hofpraxis noch nicht vorgekommen. Doch versteht er sich auch nicht auf geheime Tücke, und er ließe sich für die Biederkeit seines Königs totschlagen. Die schöne Erfahrung, die das Alter verschafft, besitzt er im hohen Grade. Er gibt seinem Sohne ganz vortreffliche Reiseregeln; er ist ein liebender Vater und gar nicht grämlich, wie es alte Leute sind. Seiner Tochter macht er zwar ernste, doch zugleich milde und freundliche Vorstellungen über ihren Umgang mit Hamlet, und der Ehrgeiz verleitet ihn nicht, ein Verhältnis zu unterhalten, das seiner Staatsdienerpflicht als unschicklich erscheint. Und doch wäre dieses Verhältnis nicht ohne Hoffnung gewesen; denn wie man von der Königin erfährt, hatte sie eine Verbindung zwischen Hamlet und Ophelia in ihren Gedanken. Polonius ist ein treuer Diener seines Herrn, ein Biedermann und kein gemeiner Höfling. Wenn er Hamlets launischer Meteorologie schmeichelt, so geschieht es nicht aus alberner Kriecherei, sondern weil er den Spötter für toll hält. Wir freuen uns, daß der gute alte Mann stirbt und daß er den Untergang des Königshauses und seines eigenen nicht sieht.

Ophelia ist gut und auch beschränkt wie ein Bürgermädchen. Der Hof hat sie nicht verdorben und nicht verfeinert. Hamlet verführte sie, und sie bemerkte nicht eher, was sie verloren, bis sie mit dem Mörder ihres Vaters es unersetzlich verloren. Zum Glück für ihre Tugend kam die Etikette der Pietät, die Politik der Moral [488] zu Hülfe. Sie verliert die Vernunft und das Leben und weiß nicht worüber. Die Kleine stand gerade in einem Fußtritte des weit dahinschreitenden Schicksals; die Eiche, die der Sturm brach, fiel um und legte das Veilchen nieder.

Ist der Geist wirklich so erhaben, als er schon oft geschildert worden? Er tritt geharnischt auf; aber, wie mir scheint, ist nur seine Hülle umpanzert, seine innere Seele aber ist weich und bloß. Die Familienähnlichkeit zwischen ihm und seinem Sohne Hamlet ist gar nicht zu verkennen. Er ist ein schwacher, philosophischer, geflügelter Geist, der in der Luft zu Hause ist. Wesen solcher Art singen wie die Vögel, deren Ton kein Wort zum Körper hat. Hamlets Vater spricht gern, viel und kunstrednerisch; man könnte glauben, einen verklärten Schauspieler zu hören. Die Zeit, die ihm zum Herumwandern verstattet, ist so sehr kurz, und er verliert sie fast unbenutzt. Statt mit dem Wichtigsten, mit den Tatsachen, mit seiner Ermordung anzufangen, erzählt er zuerst von seinen Höllenqualen und zeigt die größte Lust, eine große dichterische Schilderung davon zu machen. Er will einen regelmäßigen Klimax beobachten und mit dem Fürchterlichsten, mit dem Brudermorde endigen; das ist aber hier ein Fehler. Das Schauerlichste an einem Geiste ist, daß er erscheint und spricht; was er tut und sagt, und wäre es das Schrecklichste, ist nach dem andern Kinderei. Auch scheint der Geist in jener Welt seine Menschenkenntnis nicht verbessert zu haben, sonst hätte er jeden andern eher als Hamlet zum Vollstrecker der Rache gewählt. Vielleicht war das auch gar nicht die Absicht seiner Erscheinung. Er wanderte auf gut Glück umher, sich einen Rächer zu suchen; unglücklicherweise aber war am ganzen Hofe Hamlet das einzige Sonntagskind. Der Geist ist so besorgt, Horatio und die andern Zeugen schwören zu lassen, daß sie nicht reden wollten [489] von dem, was sie gesehen, versäumt aber, was viel nötiger war, seinem Sohne Verschwiegenheit zu empfehlen. Dieser plaudert und verplaudert alles und vereitelt dadurch den Wunsch seines Vaters und sein eigenes Vorhaben. Der König kommt zwar endlich um, doch wird er nicht gerichtet als der Mörder seines Bruders, sondern als der Mörder seines Neffen. Der alte Maulwurf war blind.

In dieses Land, an diesen Hof, unter diese Menschen kommt Hamlet, ganz warm, von Wittenberg zurück, erkältet sich augenblicklich und gewinnt den Schnupfen, an dem zarte Seelen so sehr oft leiden. Aus dem Treibhause der Schule wird er in die freie Welt gesetzt und verkümmert. Ein Königssohn, zu Krieg und Jagd erzogen, übte er sich in Wittenberg, wilde Theses zu bestreiten und hasenfüßige Sophismen aufzutreiben. Zwar wird die schwere deutsche Philosophie zur Grazie in dem geistreichen Fürstensohne; aber desto schlimmer – die geschmeidige dringt in die feinsten Adern des Lebens und hemmt den Lauf des fröhlichen Blutes, während die plumpe nur die großen Wege versperrt. Das einzige, was er von der hohen Schule Brauchbares für das niedere Leben mitgebracht, seine Fechtkunst, auf die er so eitel ist, gereicht ihm zum Verderben. Er ist weitsichtig, sieht ganz deutlich die Gefahr, die ihm im fernen England droht; aber er sieht nicht die scharf geschliffene Degenspitze, die nur einen Finger weit von sei nen Augen blinkt. Hamlet ist ein Feiertagsmensch, ganz unverträglich mit dieser Werkeltagserde. Er verspottet das eitele Treiben der Menschen, und diese tadeln seinen eiteln Müßiggang. Ein Nachtwächter, beobachtet und verkündet er die Zeit, wenn andere schlafen und nichts von ihr wissen wollen, und schläft, während andere wachen und geschäftig sind. Wie ein Fichtianer denkt er nichts, als ich bin ich, und tut nichts, als sein Ich [490] setzen. Er lebt in Worten und führt als Historiograph seines Lebens ein Schreibbuch in der Tasche. Ganz Empfindung, verbrennt ihn das Herz, das ihn erwärmen sollte. Er kennt die Menschheit, die Menschen sind ihm fremd. Er ist zu sehr Philosoph, um zu lieben und zu hassen.Die Menschen kann er nicht lieben, den Menschen kann er nicht hassen; darum ist er ohne Teilnahme für seine Freunde und ohne Widerstand gegen seine Feinde. Mut, dieser Bürge der Unsterblichkeit – wer hätte Mut, wenn er sich nicht unsterblich glaubte? – er hat ihn nicht, der Königssohn. Weil er in jedem Menschen das übergewaltige Menschenvolk erkennt, ist er furchtsam, was andere nicht sind, die mit ihren kleinen Augen im einzelnen nur den einzelnen sehen. In der Schuld seiner Mutter sieht er die Gebrechlichkeit des Weibes, in dem Verbrechen seines Oheims die lächelnde Schurkerei der Welt. Soll er ihn wagen, diesen tollkühnen Streit? Er zittert. Ihm fehlt nicht der Mut des Geistes, den ein tapferes Heer von Gedanken umgibt; ihm fehlt der Mut des Herzens, für das nur das eigene Blut kämpft. Darum ist er kühn in Entwürfen und feige, sie auszuführen. Zum Übermaße des Verderbens kennt sich Hamlet sehr gut, und zu seiner unseligen Schwäche gesellt sich das Bewußtsein derselben, das ihn noch mehr entmutigt.

Hamlet ist ein Todesphilosoph, ein Nachtgelehrter. Sind die Nächte dunkel, steht er unentschlossen, unbeweglich da; sind sie hell, ist es immer nur eine Monduhr, die ihm den Schatten der Stunde zeigt, er handelt ungelegen und geht irre im trügerischen Lichte. Das Leben ist ihm ein Grab, die Welt ein Kirchhof. Darum ist der Kirchhof seine Welt, da ist sein Reich, da ist er Herr. Wie liebenswürdig erscheint er dort! Überall betrübt, da ist er heiter; überall dunkel, da ist er klar; überall verstört, da ist er ruhig. Wie treffend, geistreich [491] und witzig zeigt er sich dort! Sonst betrübend durch seine Todesgedanken, wird er uns tröstlich zwischen Gräbern. Indem er das Leben als einen Traum verspottet, spottet er den Tod auch zu nichts. Da ist er nicht schwach – wer ist stark im Angesichte des Todes? Da endigt alle Kraft, aller Wert, da hört alle Berechnung, alle Schätzung, alle Verachtung, jede Vergleichung auf. Da darf Hamlet ungescholten den Befehl seines Vaters vergessen, da braucht er dessen Tod nicht zu rächen. Soll er einen Verbrecher, der in den letzten Zügen einer Krankheit liegt, auf das Blutgerüst schleppen? Wie grausam! Umbringen im Angesichte des Todes – wie lächerlich, welch eine kindische Ungeduld! Es ist, als ginge eine Schnecke dem kommenden Winde entgegen.

In dieser schnöden Welt muß die Tugend Gewalt haben, um Macht zu haben, anmaßend sein, der Anmaßung zu begegnen, und mit den Waffen der Hölle für den Himmel kämpfen. Hamlets Tugend hat keine Tüchtigkeit. Ein so zarter Jüngling mit seinem ewig jungen Herzen kann in keinem Königshause gedeihen, wo man alt geboren wird. Hamlet hat den Adelstolz der hochgeborenen Seelen, und er kann sich zu keiner niedrigen Natur herablassen. Geistreich und feingesittet, wird es ihm nicht behagen in einem betrunkenen Lande. Zeigt er sich trüb gestimmt und schwärmerisch, wird er verachtet und verspottet werden; wenn heiter, wird er selbst ein Spötter sein, was keiner ungestraft ist, an einem Fürsten aber, dem gleiche Waffe sich nicht offen entgegensetzen darf, sich im verborgenen am gefährlichsten rächt. Hamlet tadelt die Zechlustigkeit des Hofes, macht Polonius' geschäftige Dienertreue lächerlich und verhöhnt die elende Kriecherei der Höflinge. Sein Oheim ist ihm unleidlich, und er würde ihn hassen, auch wenn er nicht der Mörder seines Vaters wäre. Der Geist ohne Charakter steht dem Charakter ohne Geist und jener [492] diesem immer feindlich gegenüber. Hamlet fühlt sich überwältigt von der stillen, ruhigen, machtgebietenden Art des Königs. Er weiß recht gut, daß es nur eitle Fechterkünste sind, die ihn abhalten; aber er kann ihnen nicht begegnen, er selbst hat diese Künste nicht geübt, und dieses gibt ihm jenen heftigen Groll, der selbstbewußte Schwäche immer begleitet. Dem Könige gegenüber ist er blöde und verlegen, und aus dem ganzen Heere von Hohn und Haß, das sich um sein Herz gelagert, tritt selten eines jener großen Worte hervor, deren Hamlet so viele zählt, den friedlichen König herauszufordern. Wie froh wird Hamlet sein, wenn er erfährt, daß sein Oheim ein Bösewicht ist; wie wird er sich erleichtert fühlen, wenn sein Haß einen Grund bekommen, wenn seine Abneigung ihm zur Pflicht geworden! Der Mord des Vaters ist nicht Hamlets Schmerz, er ist nur das Gefäß seiner Leiden; jetzt faßt er, was ihn quält. Unglücklich wäre er immer gewesen.

Der Tod des Vaters ruft Hamlet zurück. Die Heirat der Mutter bekommt er drein in seine Trauer. Hamlet weiß besser als einer, besser als etwas, daß Menschen sterblich sind. Aber daß auch Empfindungen sterblich sind, die der Jüngling für ewig hielt, daß eine Liebe endigen, man zweimal lieben und von einer edlen Liebe zu einer gemeinen herabsteigen könne – das überrascht ihn schmerzlich, das verwirrt ihn, für diese neue Erfahrung ist selbst sein weiter Kreis der Trostlosigkeit zu eng. Hamlets Einbildungskraft ist kühn, sie wirft alles vor sich nieder. Sein Oheim hat eine Krone empfangen aus den Händen seiner Mutter – er hat Vorteil gezogen von dem Tode seines Vaters – er hat diesen tot gewünscht – er hat seinen Bruder ermordet. Das ahnete Hamlet, ehe es ihm der Geist entdeckt. Dieser erscheint, sagt laut, was sich der Sohn leise gesagt, und fordert ihn zur Rache auf. Hamlet entsetzt sich – nicht über den [493] Mord; er entsetzt sich, daß er ihn rächen soll. Nur auf freies Denken und Fühlen angewiesen, soll er nachdenken und handeln; die Natur hat ihn durchsichtig geschaffen, und er soll auf Liste sinnen und sie verdecken; er ist zum Dulden geboren und man erwartet Taten von ihm. So geklemmt zwischen dem heiligen Gebote seines Vaters und den strengen Verboten seiner Natur, wird er bald hier fort-, bald dort zurückgestoßen, verliert alle freie Bewegung, und so sehen wir ihn hingeschleppt von Entwürfen, die seiner Ohnmacht spotten, von Versuchen, die ihm mißlingen, von großen Worten, die ihn lächerlich, und kleinen Handlungen, die ihn verächtlich machen – und so sehen wir ihn endlich in einem gemeinen Handgemenge schimpflich umkommen und alle, die ihn umgeben, nicht den Schlägen, nein, einer Schlägerei des Schicksals unterliegen.

Die fürchterliche Stunde ist da, wo Hamlet den Geist seines Vaters sehen soll. Und hätte er tausend Seelen, sie dürften sich nicht bewegen; und hätte er tausend Herzen, sie müßten stillstehen und horchen. Aber in dieser Bangigkeit, wo wir selbst, gleichgültige Hörer eines Märchens, taubes Ohr, blindes Auge sind – was tut Hamlet? Er füllt die Erwartung mit unnützem Werg aus. Er hält eine anthropologische Vorlesung, spricht wie ein Prediger von häßlichen Gewohnheiten, welche die saubersten Tugenden beschmutzen, und stellt nüchterne Betrachtungen über das zu viele Trinken an. Der Geist schreckt ihn auf, er hatte ihn schon ganz vergessen. Der Geist spricht Feuerworte, Hamlet brennt – es ist Zunder. Eine Minute, und es ist verglommen, und die Asche seiner Begeisterung fliegt in den Wind. Er will rasch sein zur schönen Tat, er möchte fliegen, der Rückweg zum Palaste ist ihm um eine Welt zu lang. Aber, noch hat er keinen Schritt getan, und er hat schon Mittel gefunden, die Rache mit seiner Bedächtigkeit, die [494] Pflicht mit seiner Schwäche zu vereinigen. Er will mit Witz anfangen, was nur der Verstand unternehmen, nur der Mut vollführen kann. Er will es fein machen, will politisch sein, sich toll stellen. Was denkt er sich dabei? Soll ihm die Tollheit den Zutritt zum Könige erleichtern? Sie wird ihn nur erschweren. Soll sie den König einschläfern? Sie wird ihn nur wachsamer machen. Will er seine Schwermut vermummen? Er soll sie heilen, er soll sie rächen. Stellt sich Hamlet toll? Er ist es. Es gibt Wahnsinnige, die lichte Zeiten, es gibt andere, die lichte Räume haben, in welche sie zu jeder Zeit sich stellen und von dort aus ihren eigenen Wahnsinn beobachten können. Zu den letztern gehört Hamlet. Er glaubt mit seinem Wahnsinne zu spielen, und dieser spielt mit ihm.

Hamlet beginnt sein tolles Spiel und prüft dessen Wirksamkeit zuerst an der Unschuldigsten in seinem Kreise, an der liebendgläubigen Ophelia. Es ist eine unbeschreibliche Häßlichkeit in diesem Betragen. Er hätte das gute Mädchen eher zur Vertrauten als zur Hülle seines Geheimnisses machen sollen. Hamlets Verwirrtheit wird bemerkt; der aufmerksame König schickt Rosenkranz und Güldenstern, des Prinzen Jugendfreunde, hinter ihn, den Grund seines Trübsinns zu erspähen. Hamlet ist eitel; er verstellt sich, will aber zugleich seinen klugen Kopf zeigen und merken lassen, daß er sich verstellt. Er läßt sich nicht ausforschen, bekennt aber, daß er ein Geheimnis habe. Die Spione müssen zwar unverrichteter Sache abziehen, aber nur, weil sie Höflinge sind, die sich auf Schwärmereien nicht verstehen. Hamlet beharrt in seiner schmählichen Untätigkeit; statt anzugreifen, verschanzt er sich gegen Angriffe. Wenn auch Mensch und Sohn, durfte er darüber den Fürsten nicht vergessen; er mußte in dem Mörder seines Vaters auch den Mörder seiner Krone bestrafen. Nicht meuchelmörderisch [495] soll er den König töten, er soll das Verbrechen laut verkündigen und sich an die Spitze des Volkes stellen, das ja, wie Laertes' Beispiel gezeigt, dem Könige so ungewogen und so leicht zu lenken ist. Aber Hamlet geht umher wie Hans der Träumer. Da werden ihm die Schauspieler gemeldet; er wacht auf, er lebt wieder. Auf die Kunst versteht er sich, er liebt sie. Einer der Komödianten trägt etwas vor von Hekuba; er redet sich in das Zeug hinein und wird blaß und weint. Hamlet fühlt sich beschämt, überhäuft sich mit Scheltreden und betrinkt sich in Worten, um Mut zu bekommen. Es dauert nicht lange, und er redet sich wieder in Zweifel, um die Tat verschieben zu dürfen. Vielleicht hat ihn ein tückischer Geist betrogen, vielleicht ist sein Oheim unschuldig. Er will ihn prüfen durch psychologische Mittel, er will einen chemischen Versuch anstellen, die Schauspieler sollen des Königs echte Farbe dartun. Er gibt ihnen ein Stück auf, worin ein Mord dargestellt wird, er macht selbst Verse dazu, und mehr als für seinen Vater zeigt er sich besorgt, daß ihm die Schauspieler durch schlechten Vortrag seine schönen Verse verunzieren möchten. Er unterrichtet sie mit einer Ruhe, mit solchem Bedachte und mit solcher Umständlichkeit, als habe er sein gutes Auskommen und sonst keine Sorgen auf der Welt. Der König wird gefangen, Hamlet ist ganz vergnügt, daß ihm seine List gelungen; die gewonnene Erfahrung zu benutzen, daran denkt er nicht. Seine Mutter läßt ihn rufen, er geht und hält sich lange im Vorzimmer auf; dort philosophiert er. Er hält den schönen Monolog, der aber in dem Munde eines Fürsten sich so häßlich ausnimmt. Das Leben ist ihm verhaßt; aber nicht wegen der Leiden, nein, wegen der Handlungen, die es auflegt. Kein anderes Mittel, sich vor den Plagen der Welt zu schützen, als Flucht, Selbstmord; der Tod soll die Todesfurcht heilen. Er trifft [496] den König unbewacht, jetzt könnte er ihn töten; aber er betet. Hamlet will grausam sein, er will ihn betrunken zur Hölle schicken. Jetzt spricht er mit seiner Mutter; da ist ihm wohl und behaglich, da vertragen sich Pflicht und Neigung. Der Geist selbst hat ihm Schonung aufgelegt, nur reden darf er, Dolche keine brauchen. Es rührt sich etwas hinter dem Vorhange; Hamlet hat Mut, er sieht den Gegner nicht; er verwundet den weichen, wehrlosen Teppich und trifft Polonius, den guten alten Mann.

Hamlets Wahnsinn steigt; die Maske der Verstellung, halb fällt sie, halb läßt er sie sinken. Der König wird zum Äußersten gebracht, er muß selbst zugrunde gehen oder Hamlet verderben. Da beschließt er, ihn nach England zu schicken, zu seinem Untergange. Er gibt ihm ganz freundliche Rechenschaft von der Notwendigkeit seiner Entfernung. Hamlet ist es gleich zu frieden, das Wörtchen nein steht nicht in seinem Wörterbuche, er sagt gut und läßt sich schicken. Er denkt an nichts, er entfernt sich von allem. Auf dem Schiffe übt er ein Bubenstück, begeht eine schimpfliche feige Tat gegen seine Begleiter Güldenstern und Rosenkranz. Diese jungen Leute wollten ihr Glück machen, sie zeigten sich dem Könige gefällig; aber sie durchschauen seine Tücke nicht und wissen nichts von der Botschaft, die sie nach England bringen. Hamlet schreibt wie ein Gauner falsche Briefe, schiebt sie den echten unter und bringt seine Begleiter und Jugendfreunde in die Falle, die ihm selbst gestellt. Er tut es nicht aus Bosheit, nicht aus Rachsucht, er tut es nur aus Eitelkeit. Noch nie ist ihm eine Tat gelungen, er will sich einmal etwas zugute tun, er will sich mit einem klugen Streiche bewirten. Der Zufall wirft ihn nach Dänemark zurück. Ob er jetzt auf etwas sinne, läßt er nicht erraten. Er wird zum Fechten mit Laertes eingeladen. Kaum hat er es zugesagt, wird es [497] ihm übel ums Herz; nur die Ahnung einer Tat macht ihn schon krank. Er wird handeln, er wird sterben. Vorher versöhnt er sich mit Laertes auf eine würdige, rührende Art; noch einmal taucht der edle Schwan herauf und zeigt sich rein von dem Schmutze dieser Erde. Hamlet ficht, wird tödlich verwundet, und da, als er nichts mehr zu verlieren hat, als er keinen Mut mehr braucht, bringt er den König um. Es ist die Keckheit eines Diebes, der schon unter dem Galgen steht und Gott, die Welt und seinen Richter lästert. So endet ein edler Mensch, ein Königssohn! Er, der Wehe über sich gerufen, daß er geboren ward, die Welt aus ihren Fugen wieder einzurichten, tritt wie ein blindes Pferd das Rad des Schicksals, bis er hinfällt und ein armes Vieh, den Peitschenhieben seiner Treiber unterliegt!


Das ist das Los des Schönen auf der Erde.


Man hat viel von Shakespeares Ironie gesprochen. Vielleicht habe ich nicht recht verstanden, was man darunter verstanden; aber ich habe Ironie überall vergebens gesucht. Ironie ist Beschränktheit, – oder Beschränkung. Für letztere war Shakespeare zu königlich, für erstere hatte er eine zu klare Weltanschauung; er sieht keinen Widerspruch zwischen Sein und Schein, er sieht keinen Irrtum. Oft zeigt er uns lächelnd des Lebens verstellten, doch nie spottend des Lebens lächerlichen Ernst. Doch im Hamlet finde ich Ironie, und keine erquickliche. Der Dichter, der uns immer so freundlich belehrt, uns alle unsere Zweifel löst, verläßt uns hier in schweren Bedenklichkeiten und bangen Besorgnissen. Nicht die gerechten, nicht die Tugendhaften gehen unter, nein schlimmer, die Tugend und die Gerechtigkeit. Die Natur empört sich gegen ihren Schöpfer und siegt; der Augenblick ist Herr und nach ihm der andere Augenblick; die Unendlichkeit ist dem Raume, die Ewigkeit [498] ist der Zeit untertan. Vergebens warnt uns das eigene Herz, das Böse ja nicht zu achten, weil es stark, das Gute nicht zu verschmähen, weil es schwach ist; wir glauben unsern Augen mehr. Wir sehen, daß wer viel geduldet, hat wenig gelebt, und wir wanken. Hamlet ist ein christliches Trauerspiel.

Die Welt staunt Shakespeares Wunderwerke an. Warum? Ist es denn so viel? Man braucht nur Genie zu haben, das andere ist leicht. Shakespeare wählt den Samen der Art, wirft ihn hin, er keimt, sproßt, wächst empor, bringt Blätter und Blüten, und wenn die Früchte kommen, kommt der Dichter wieder und bricht sie. Er hat sich um nichts bekümmert, Luft und Sonne seines Geistes haben alles getan, und die Art ist sich treu geblieben. Aber den Hamlet staune ich an. Hamlet hat keinen Weg, keine Richtung, keine Art. Man kann ihm nicht nachsehen, ihn nicht zurechtweisen, nicht prüfen. Sich da nie zu vergessen! Immer daran zu denken, daß man an nichts zu denken habe! Ihn nichts und alles sein zu lassen! Ihn immer handeln und nichts tun, immer sich bewegen und nie fortkommen zu lassen! Ihn immer sich als Kreisel drehen lassen, ohne daß er ausweiche! Das war schwer. Und Shakespeare ist ein Brite! Hätte ein Deutscher den Hamlet gemacht, würde ich mich gar nicht darüber wundern. Ein Deutscher brauchte nur eine schöne, leserliche Hand dazu. Er schreibt sich ab, und Hamlet ist fertig.

[499]

[500] [499]Der Jude Shylock im Kaufmann von Venedig

Als nach geendigtem Schauspiele die Frauenzimmer nach Hause kamen, erzählten sie, der Gastspieler, der den Shylock dargestellt, sei hervorgerufen worden, habe [499] sich wie üblich zierlich bedankt und habe unter anderm gesagt: ein solches Ungeheuer, wie Shylock, finde man zum Glücke in der Wirklichkeit nie. Da war ich recht froh, daß ein schlimmer Husten mich abgehalten, der Vorstellung beizuwohnen. Doch vielleicht hatte der menschenfreundliche Mann nur aus Gutmütigkeit so gesprochen. Es leben in dieser Stadt viele und reiche Juden, die von ihren christlichen Mitbürgern gehaßt und geneckt werden. Weil nun der fremde Schauspieler der christlichen Einwohnerschaft die Schadenfreude gewährt, zu seinem Benefize den Kaufmann von Venedig zu wählen, wollte er den Juden, die das Haus bevölkern helfen, wohl auch etwas Artiges sagen. Aber ernst durfte es ihm mit seiner wunderlichen Rede nicht gewesen sein; sonst hätte er gezeigt, daß er seine Rolle gar nicht verstanden. Ob es in der Natur jüdische Menschenfresser und Vampire gibt oder nicht, darauf kommt es hier nicht an; aber daran ist sehr viel gelegen, daß man nicht glaube, der große Dichter habe uns einen kleinen Judenspiegel für einen Batzen, nach Art des Hundt-Radowsky, zeigen wollen. Wenn der Himmel uns unwissenden Menschen einen Propheten wie Shakespeare schickt, so geschieht es wahrlich nicht bloß, daß er uns lesen lehre, sondern zu größerer Botschaft. Überhaupt ist Shakespeares Sendung das Predigen und das Lehren nicht. Wollte er aber ja einmal ein Schulmeister sein, so dachte er im Kaufmann von Venedig gewiß eher daran den Christen, als den Juden eine Lehre zu geben.

Shylocks Judentümlichkeit in Ehren gehalten, diese schöne Moral, die alle ungemünzten Leidenschaften verachtet – ist doch, sich selbst zum Trotze, etwas Großes, etwas Erhabenes in ihm, das auf seine eigene Niedrigkeit mit Stolz herabsehen darf. Shylock ist ein gestiegener Jude, ein Racheengel; er hat sich zu einer Höhe hinauf empfunden, wo er fähig wird, etwas zu tun, das [500] nicht seinem Beutel wuchert, etwas zu tun für alle. Er will sein geschmähtes, niedergetretenes Volk an dessen Peiniger, dem Christenvolke, rächen. Den Geldteufel in Shylock verabscheuen wir, den geplagten Mann bedauern wir, aber den Rächer unmenschlicher Verfolgung lieben und bewundern wir. Glaube man ja nicht, es sei eine Kleinigkeit, einem guten, christlichen Manne ein Pfund Fleisch aus der Brust zu schneiden! Das ist wohl eine Kleinigkeit für einen bösen Christen, aber nicht für einen Juden. Der Jude kann grausam sein von Geist, aber von Herzen ist er es nie; er hat ein weiches, mürbe geschlagenes Herz, er ist mitleidig, er kann kein Blut sehen. Wer weiß, ob es Shylock ausgeführt, wer weiß, ob ihm das Messer, das er so schadenfroh an seiner Sohle gewetzt, nach dem ersten Tropfen Blutes nicht aus den Händen gefallen wäre; Antonio hätte wagen dürfen, es darauf ankommen zu lassen. Und welche Opfer bringt Shylock seiner Rache! Dreitausend, sechstausend, neuntausend Dukaten! Und die Dukaten der Juden, das sind keine gewöhnlichen Dukaten, die sind viel mehr wert als die andern; ihre Liebe zu ihnen vergrößert sie in ihren Augen. Und nicht bloß diese Summe wagt er, er wagt mehr, die Zinsen dieser Summe; denn mehr ist dem Juden der Gewinn als der Besitz. Konnte Antonio nicht bezahlen zur Verfallzeit? Aber Shylock vertraut den Rachegöttern, vertraut den Meeresstürmen und den gefährlichen Winden böser Gerüchte, und sie täuschen ihn nicht. Auch lasse man sich von Shylock ja nicht irre machen, wenn er sagt, er hasse Antonio, weil dieser, wie ein Narr, Geld ohne Zinsen verleihe und dadurch die Zinsen in Venedig herunterbringe, und durch seine Entfernung werde er im Handel gewinnen. Nein, darum haßt Shylock den Antonio nicht. Die christliche Kaufmannschaft in Venedig wird auch nicht aus lauter edlen Antonios bestanden haben, und ein Mann allein, sei er [501] noch so reich, kann den Wert des Geldes nicht verringern. Shylock ist ein Jude, er schämt sich vor sich selbst, bares Geld einer Einbildung aufzuopfern, und er sucht sich darum etwas weis zu machen. Schwärmt auch der Jude einmal, weiß er doch, daß er krank ist. Aber krank ist Shylock wirklich; nicht den Handelsfeind, den Glaubensfeind verfolgt er in Antonio und gibt im Fieberwahnsinne vollwichtige Dukaten für eine luftige Empfindung hin.

Der Schauspieler, der die Rolle des Shylock übernimmt, mag zusehen, wie er damit fertig wird. Der blutdürstige Haß des Juden soll uns entsetzen, wie jede Glaubenswut, wie jeder Wahnsinn; aber Ekel und Abscheu darf er nicht erwecken, gleich einer körperlichen Krankheit. Shylocks vermaledeite Geldsucht und die Krämpfe, in die gestörter Eigennutz seine Seele werfen, sollen unser Inneres empören, aber lächerlich sollen wir das nicht finden – wenn uns der leibhaftige Teufel erscheint, ist wahrlich nicht Zeit zum Lachen. Nun aber im Teufel den Gott zu zeigen, durch eine Sandwüste von Sünde bis zur kleinen Quelle der Liebe vorzudringen, die so weit entfernt, so verborgen rieselt: das gibt wohl dem darstellenden Künstler Arbeit genug. Denn Shakespeare tut nicht wie gewöhnliche Menschen und gewöhnliche Dichter, die, es ihrem Herzen oder ihrer Kunst bequem zu machen, lebende vermischte Dinge, gleich Scheidekünstlern, in ihre toten Elemente auflösen, reine Charaktere darstellen, diese lieben, jene hassen, diese anziehen, jene abstoßen – so tut Shakespeare nicht. Er nimmt nicht Partei, er gibt keinem Recht als der Sittlichkeit, die lauter im Leben nie erscheint; sondern läßt die Erscheinungen miteinander hadern und mischt sich nicht in ihren Streit. Der Dichter hat alles mögliche getan, den Christenhaß des Juden zu rechtfertigen, und mit gleicher Anstrengung bemühete er sich, den Judenhaß des Christen [502] zu entschuldigen. Wie sollte Shylock den Antonio nicht hassen, um so mehr hassen, je besser und edler der Mann ist! Antonio ist gut, edel und hülfreich, nur nicht für den Juden. Er beschimpft ihn vor den Augen aller Welt, er mißhandelt ihn, wo und sooft er ihm begegnet. Ja in dem nämlichen Augenblicke, da er seine Gefälligkeit, sein Geld braucht, vermag er es nicht über sich, seinen Haß, seine Verachtung zu verbergen, und der gute edle Antonio, der seinem Freunde Bassanio alles aufopfert, ist doch nicht edel genug, dem Freunde zuliebe, einem Juden gütige Worte zu geben. Dann entführt ein Windbeutel von Christ Shylocks Tochter; diese beraubt und verläßt ihren alten Vater, und nur erst mit dem Vorsatze, eine Christin zu werden, beginnt sie ihre Bekehrung damit, den Vater zu verachten, weil er ein Jude ist. Das könnte wohl das Blut einer Taube in Drachenblut verwandeln. Der Christ haßt den Juden, der Jude vergilt es dem Christen, und indem er es tut, rächt Shylock die verspottete Tugend auch an sich selbst. Er gibt Geld hin, sein Volk zu rächen, und erfährt, daß Gold nicht Herr der Welt ist, wie der Jude glaubt, sondern daß Liebe mächtiger ist als Gold, selbst im Juden.

Sooft ich Shakespeare lese, habe ich einen wahren Kummer, daß er nicht in unsern Tagen lebt, sie uns klar zu machen. Es ist, als geschähen die Geschichten nicht auf die gehörige Art, wenn kein rechter Meister da ist, der sie auf die gehörige Art erzählt. Ein Charakter, ein Verhältnis, die dieser große Dichter nicht geschildert, weil sie ihm unbekannt waren, ist wie ein Buch ohne Titel, dessen Inhalt wir erst zusammenlesen müssen. Es geschieht oft, daß große Zeiten keine großen Geschichtschreiber, Dichter oder Künstler finden, die fähig wären, sie würdig zu beschreiben, zu schildern oder bildlich darzustellen. Die vornehmen Geschichten sind zu stolz, zu unruhig oder zu beschäftigt, gewöhnlichen Künstlern [503] ruhig zu sitzen. Diese können ihre Züge nur im Fluge erhaschen oder müssen warten, bis die Zeit gestorben, um dann von ihrer Leiche einen Abguß zu nehmen, dem das Leben fehlt, wie dem Urbilde. Einem Maler wie Shakespeare aber halten die Zeiten stille, wohl wissend, daß die Natur nur der Kunst ihre Unsterblichkeit verdankt. Wie hätte Shakespeare unsere Shylocks, die großen Shylocks, mit christlichen Ordensbändern auf jüdischem Rockelor, geschildert! Wie hätte er die papierverkehrenden Shylocks ohne Rockelor gezeichnet, die das Fleisch und Blut ganzer Völker in Scheinen besitzen und die nicht mit Lumpen Papier, sondern mit Papier Lumpen machen! Wie hätte er die Ruchlosen dahin gemalt, welchen Gott ein Finanzminister ist, der spricht: es werde! und es wird eine papierne Welt; Adam, der erste Bankier; das Paradies, ein seliger Pari-Stand der Staatspapiere; der Sündenfall, der erste Fall der Kurse; welchen die Blätter der GeschichteMetalliques, Bankaktien, Partiale sind; welchen der jüngste Tag ein Ultimo ist; Gott Mars, der dem Ruhme, der Ehre, dem Glücke der Völker, dem Glauben, dem Rechte und andern solchen schnöden Dingen die Ruhe der Kurse aufgeopfert, ein vermaledeiter Baissier; Sultan Mahmud, der Beschützer der christlichen Papiere, ein großer Mann, ein gewaltig großer Mann, ein zweiter Josua; der österreichische Beobachter, das sechste Buch Mosis! O, wie hätte Shakespeare, dieser große Wechselmäkler zwischen Natur und Kunst, der das Geld der einen gegen das Papier der andern eintauscht, die Geheimnisse der Börsenherzen aufgedeckt! Wie hätte er unsere Börsenleute dahingestellt, welche die Griechen ein »Lumpenvolk« schelten! – Hört ihr Catos Asche lachen? – Was hat der venetianische Shylock getan? Dreitausend gute Dukaten für ein armes Pfund Christenfleisch hingegeben; das Gelüste war wenigstens teuer bezahlt. Aber[504] unsere Shylocks, alten und neuen Testaments, ersäufen für ein Achtelchen ganz Hellas, als wär's ein blindes Kätzchen. Der Shylock von Venedig war ein Lamm, ein Kind, eine gute Seele; und doch hat der Schauspieler oben in Frankfurt gesagt: ein Ungeheuer wie Shylock gäbe es nicht in der Natur, und Shakespeare sei ein Verleumder! O, guter Schauspieler! Die Geschichte lügt, wenn sie Menschen Christen nennt, weil ihre Ahnen Wurst gegessen; aber Shakespeare lügt nicht.


Notes
Die wiedergegebenen Theaterkritiken Börnes erschienen zuerst in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift »Die Waage«, in Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« oder in der ersten Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften«, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1828/1832. – Die in Winkelklammern ›...‹ eingeschlossenen Passagen wurden von Börne nicht in die Ausgabe der »Schriften« übernommen.
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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Theaterkritiken. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3CB3-1