[99] Die sieben Greise.

An Victor Hugo.


Du volkdurchströmte Stadt, Stadt, wo die Träume schweben,
Wo das Gespenst uns krallt im hellsten Tagesschein!
Die Rätsel fluten rings, gleichwie die Säfte streben
Durch alle Adern, die dem Riesen Kraft verleihn.
An einem Morgen, als in traueröder Gasse
Die Häuser, überhöht vom Nebel, trüb und bleich,
Erschienen wie ein Deich längs mächtger Wassermasse,
Und als Kulisse, die des Mimen Seele gleich,
Ein gelber Nebel rings die Weiten überschwemmte,
Ging ich, gestählter Kraft und hohen Mutes voll,
Mit meiner Seel im Streit, die schon Erschlaffung hemmte,
Die Straße, schütternd von der Karren dumpf Geroll.
Da sah ich einen Greis, der sich mit Lumpen deckte,
– Sie ahmten tiefstes Grau des Regenhimmels nach –
Und dessen Anblick leicht der Wohltat Fülle weckte,
War nicht die Bosheit, die ihm aus den Augen brach.
Sein Augenstern erschien, als ob ihn Galle tränkte,
Aus seinem Blick rann Frost, indessen langgehaart
Sein steifer Bart sich wie ein Degen niedersenkte,
Erstarrt und fürchterlich gleichwie des Judas Bart.
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Gebrochen war er, nicht gebeugt. Es war sein Rücken
In rechtem Winkel zu dem Bein, so daß sein Stab,
Vollendend dies Gebild der Furcht, in allen Stücken
Ihm das Erscheinen und das irre Straucheln gab,
Das einem Juden mit drei Füßen zu vergleichen,
Wie ein gelähmtes Tier durch Schnee und Schmutz er ging,
Als träte ewig er mit seinen Schuhn auf Leichen,
Nicht stumpf, nein, haßerfüllt der Welt, die ihn umfing.
Ihm folgt sein Ebenbild: Bart, Blick, Stock, Rücken, Fetzen,
Kein Unterschied! Entstammt demselben Höllenbrand!
Dies greise Zwillingspaar zog – wunderlich Entsetzen –
Mit gleichem Tritte in ein nie erschautes Land.
Welch böser Anschlag stieß mein Herz in solche Qualen,
Welch schnöder Zufall kam, zu Boden mich zu ziehn,
Denn nacheinander sah mein Blick zu sieben Malen
Den greisen Fremdling, wie er furchtbar mir erschien.
Ein jeder, der den Schreck verhöhnt, der mich umnachtet,
Und der nicht spüren mag ein brüderliches Graun,
Bedenken soll er das: Des Alters ungeachtet
War in der Sieben Blick die Ewigkeit zu schaun!
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Wie konnt ich lebend sehn den achten meiner Dränger?
Voll schicksalsschweren Hohns, selbst Sohn und Vater sich?
Den grausen Phönix, den gespenstgen Doppelgänger ...
Jedoch den Rücken wandt dem Höllenzuge ich.
Verzweifelnd, Säufern gleich, die alles doppelt sehen,
Stürzt ich nach Haus und schloß die Tür, von Schreck gehetzt,
Krank und zu Eis erstarrt, den Geist in Fieberwehen,
Durch dieses Rätsel und sein sinnlos Spiel entsetzt.
Umsonst rang die Vernunft, daß sie das Steuer fasse,
Im Spiel brach ihre Kraft der Sturm mit mächtgem Stoß,
Und meine Seele schwamm, wild tanzende Barkasse,
Auf einem Ozean voll Graun und uferlos!

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TextGrid Repository (2011). Baudelaire, Charles. Lyrik. Die Blumen des Bösen (Auswahl). Pariser Bilder. Die sieben Greise. Die sieben Greise. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1FEF-5