[96] Der Schwan.

An Victor Hugo.

I.

Du bists, Andromache! Dies Flüßchen, das ein grauer
Und armer Spiegel ist, wo einstmals hoheitsvoll
Geglänzt die Majestät all deiner Witwentrauer,
Der falsche Simois, der durch dein Weinen schwoll,
Scheint mir, als ob belebt er mein Gedächtnis hätte,
Als ich hinüberschritt das neue Karussell.
– Das einstige Paris ist hin, die Form der Städte
Verwischt sich, nicht einmal die Liebe stirbt so schnell.
Im Geiste schau ich nur das Feld von Hütten wimmelnd,
Der Kapitale und der Schäfte wirren Wust,
Das Gras, die Blöcke rings, in feuchtem Moose schimmelnd,
Und durch der Fenster Schein den Trödelkram und Grust.
Schaubuden standen dort. Da sah ich in der Frühe,
Zur Zeit, da fröstelnd sich in klarem Morgenduft
Die Arbeit neu erhebt und es uns deucht, als sprühe
Vom Besen wie ein Sturm Staub in die stille Luft,
Wie sich ein Schwan, der, dem Verließ entkommen, schweifte,
Mit breitem Flossenfuß am staubgen Pflaster rieb,
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Die weißen Schwingen auf dem rauhen Boden schleifte,
Den Schnabel öffnend vor der Gosse stehen blieb.
Erzitternd badete im Staub er sein Gefieder
Und sprach, das Herz erfüllt vom blauen Heimatssee:
Wann, Wolke, regnest du? Wann fällst, o Blitz, du nieder?
Ich sah des Armen fremd und sagenhaftes Weh.
Zum Himmel reckte er, wie es Ovid gedichtet,
Zum Himmel, blau und hart wie grausam bittrer Spott,
Auf seinem schwanken Hals sein durstig Haupt, als richtet'
In seiner herben Qual Vorwürfe er an Gott!

II.

Paris wird anders, doch in meiner tiefen Trauer
Bleibt alles! Der Paläst' und der Gerüste Meer,
Die Vorstadt hüllen sich in deutungsvolle Schauer,
Und die Erinnerung liegt auf mir felsenschwer.
So überkommt ein Bild vorm Louvre mich bedrückend,
Dein denk ich, großer Schwan, gequält, fast lächerlich,
Doch wie Verbannte mit Erhabenheit sich schmückend,
Verzehrt von einem Wunsch ohn Ende, und an dich,
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Andromache, die, jäh des Gatten Arm entsunken,
Ein Tier, vorm mächtgen Griff des Pyrrhus niederbrach.
An einer leeren Gruft sich beugend, gramestrunken,
Das Weib des Helenus und Hektors Witwe, ach!
Der Negrin denke ich, die krank zum Niedersinken,
Im Schmutze watend und das Auge unverwandt,
Die Palmen sucht, die schlank in Afrika ihr winken,
Durch die gewaltige, endlose Nebelwand;
An jeden, der verlor, was nie, nie seine Augen
Mehr schauen; an die Schar, gestillt vom Tränentrank,
Die an dem Schmerze, wie an gütger Wölfin saugen,
Die magren Waisen, die gleich Blumen welk und krank!
Es tönt das Horn im Wald, in den mein Geist vertrieben,
Ein alt Erinnern mir mit vollgeschwelltem Hauch!
Der Schiffer denke ich, auf fernem Riff geblieben,
Gefangner, Fliehender! ... und mancher andern auch!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Baudelaire, Charles. Der Schwan. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1F01-A