272. Schlimmer Führer.

Ein Hochschüler, der mit einem befreundeten Knaben heimreis'te, wurde, einige Stunden von seinem Orte, von der Nacht ereilt und nahm einen Führer. Dies war ein kleiner, buckeliger Kerl, welcher um einen billigen Lohn sie begleiten wollte. Nachdem die drei eine ziemliche Strecke zurückgelegt, fiel auf einmal der Führer der Länge nach vor sich hin, sprang jedoch, als ihm die andern zu Hülfe eilten, schnell wieder auf und ging weiter. Dieses Hinfallen und Aufspringen wiederholte sich nun von Zeit zu Zeit, so, daß den jungen Leuten angst und bange wurde, besonders als sie schon ein paar Stunden gegangen waren und noch immer weder einen Ort, noch einen Menschen entdecken konnten. Auf ihre öftere Frage, ob dies auch der rechte Weg sei, antwortete der Führer jedesmal: »Ja, meine Herren.« Endlich, als sie gerade aus einem Wald traten, erblickten sie seitwärts im Felde einen[257] Schäfer bei seiner Heerde und eilten zu ihm, gewahrten aber mit Schrecken, daß der Schäfer und die Schafe gespenstige Dunstgestalten waren, welche regungslos dastanden. Von nun an fiel der Führer nicht mehr vorwärts, sondern dann und wann rückwärts nieder. Da fragten sie immer ängstlicher, ob dies auch der rechte Weg sei, und er antwortete stets: »Ja, meine Herren.« Nachdem sie abermals eine geraume Zeit, immer ohne jemand zu begegnen, fortgegangen, sahen sie nahe am Wege einen von vielen Leuten umgebenen Rabenstein, worauf ein armer Sünder knieete, gegen den der Scharfrichter eben mit dem Schwert ausholte: alles wie von Nebel und ohne Bewegung, gleich dem Schäfer und den Schafen. Da sprang der Hochschüler mit gezogenem Degen auf den Führer, der gerade wieder rückwärts fiel, und durchbohrte ihn etliche Mal mit gewaltigen Stichen. Der Führer machte sich aber so wenig daraus, daß er es nicht einmal zu bemerken schien und bei jedem Stiche in gewöhnlichem Tone sagte: »Ja, meine Herren.« Ihrer Sinne kaum mehr mächtig, gingen nun die jungen Leute noch eine Strecke fort, und unversehens standen sie bei den Eltern des Hochschülers im Zimmer. Es war zwischen ein und zwei Uhr, und sie hatten für die wenigen Stunden Entfernung über die halbe Nacht gebraucht. Dennoch begehrte der Führer seinen vollen Lohn und ging, nach dessen Empfang, keck von dannen. Der Hochschüler wurde, in Folge der Begebenheit, wahnsinnig und blieb es bis zu seinem Tode.


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TextGrid Repository (2011). Baader, Bernhard. 272. Schlimmer Führer. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-172B-1