VI. Die Ruine Werdenfels. – Das Fräulein von Schroffenstein.

Die Ruine Werdenfels.

Gegen Mittag heiterte sich das Wetter auf, und man versprach sich einen schönen Nachmittag. Die Familie beschloß, die Ruine Werdenfels zu besuchen, und der Freund versprach, gleichfalls von der Partie zu seyn. Der Weg dahin ist weniger einladend und befriedigend, als nach den andern Seiten der Gegend; er führt der Loisach entlang, die überall Spuren der Versandung und Verwüstung zurück läßt. – Nach einer halben Stunde langt man an der Schwaige an, welche an dem Fuße des Vorhügels liegt, auf dem die Ruine steht. Die Wirthschaftsgebäude jener Schwaige sind neu, freundlich, geräumig und bequem. Es stößt ein hübscher Garten an, in dessen schattiger Laube sich's angenehm sitzt. Unfern stürzt ein kleiner Wasserfall nieder, dessen Rauschen belebt und erquickt, ohne zu stören und zu [113] betäuben. Saftig grüne Wiesen ziehen sich längs des Hügels hinunter. Der Ausblick gegen den majestätischen Süden steht offen. Das Auge fühlt sich durch freundliche Beschränkung angezogen, während ihm zugleich die Freiheit gegeben ist, ins Unendliche auszuschweifen.

Es wurde verabredet, daß die Großeltern in der Schwaige verweilen möchten, indeß die Uebrigen den Hügel hinansteigen und die Ruine besuchen wollten. Auf das Zureden des Vaters ließ sich auch die Mutter bereden, von der Partie zu seyn; er selbst beschloß bei den Großeltern zurück zu bleiben, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Die Tante, obgleich sie's verschworen, keinen Berg mehr zu besteigen, mußte doch der zudringlichen Bitte der Mutter nachgeben. »Sie selbst, sagte sie, wolle auch einmal so etwas wagen, damit sie nicht in der Stadt ausgelacht würde, wenn sie bekennen müßte: sie sey im Gebirge gewesen, und hätte keinen Berg bestiegen; – habe sie aber das Wagniß überstanden, so könne sie sich dessen sehr rühmen und überaus groß damit thun.« Sie traf nur noch Anstalten, daß, nach ihrer Zurückkunft, Erfrischungen für Alle bereit stünden.

Nach einer halben Stunde etwas mühsamen Steigens war man, mit Weibern und Kindern, [114] oben auf der Terrasse. Die alten, hohen Mauern sehen einen verwunderlich an; so morsch, daß ein Jahrtausend an ihnen vorüber gegangen zu seyn scheint, und doch zugleich so fest, daß man meinen möchte, es könne noch ein Jahrtausend an ihnen vorübergehen. Indem man sich nun aber umkehrt, nach der Landschaft hin: welch ein Anblick! welch eine Aussicht! Es ist zwar dieselbe Gegend, die man immer schon gesehen, oft durchwandelt hat; aber von einem höhern Standpunkt aus betrachtet, erscheint sie in einem neuen, erhabenern Charakter. Die tiefer liegenden Gegenstände, zwischen denen man sich umgethan, und die man einzeln beschaut hat, werden nun näher zusammengerückt und durch einander mehr verklärt und gehoben, und die höher und ferner liegenden, die Gebirge und Gewässer und Wälder, die vordem in ansehnlicher, gleichsam vornehmer Absonderung erschienen, sie zeigen sich jetzt im Zusammenhang, und alle, auch die verschiedenartigsten Gegenstände gestalten sich, wie die Elemente in einer wohlgeordneten Gesellschaft, zu einem großen, lebendigen Ganzen.

Der Freund übernahm das Geschäft eines Dolmetschers, und zeigte und benannte den Neugierigen die verschiedenen Spitzen des Gebirgszuges, wobei er, mit einiger Selbstgefälligkeit, die Stellen [115] bezeichnete, die er selbst, je von Zeit zu Zeit, bestiegen.

Da kamen die Knaben, die sich unbemerkt entfernt hatten, lärmend zurück: »Vater! Onkel! da drunten ist's schön! noch viel schöner!« – Es ärgerte beinahe den Freund, daß die Kinder der Ueberraschung, die er bereiten wollte, zuvorgekommen. Er mußte es sich indeß gefallen lassen, daß man ihnen nachfolgte.

Man steigt durch die Mauern und über den Schutt, wie durch ein weites, hohes Grab einer untergegangenen Herrlichkeit. Da leuchtet plötzlich durch eine Maueröffnung eine heitere, mannichfach gestaltete Gegend herein, licht und farbig verklärt, wie in einercamera lucida. Man glaubt sich, wie durch einen Zauberschlag, in eine andere, ferne Landschaft versetzt. Es eröffnet sich hier die Aussicht nach Norden, über Farchent nach Eschenlohe, und in die nach dem ebenen Lande auslaufenden Berge; dieLoisach zieht sich schlängelnd, wie ein silberner Faden, durch die Fluren; der Charakter der Gebirge ist sanfter, gedämpfter, als derer gegen Süden; das Auge folgt allmählich, leicht angeregt und überall befriedigt, immer weiter und weiter, und ruhet zuletzt in dem Durchschnitt, den es gewonnen, in voller, ruhiger Betrachtung; – während gen Süden zu die imposante[116] Erscheinung mit Einem Male hereinbrich den Sinn beinahe betäubend, so daß von der Macht der Einen Schönheit die Anmuth des einzelnen Schönen verdeckt und entzogen wird.

Man verweilte noch einige Zeit auf der sonnigen und luftigen Terrasse, und vergnügte sich, im Angesicht der heitern Landschaft, in traulichen Gesprächen.

»Diese Mauern hier – sagte der Onkel – scheinen auf ein höheres Alter hinzudeuten, als die Ruinen anderer Ritterschlösser.«

»Man ist auch – erwiederte der Freund – so ziemlich der Meinung, daß sie, wenigstens der Grundlage nach, römischen Ursprungs seyen, obwohl freilich die Form des Ausbaus einer spätern Zeit und Sitte anzugehören scheinen. Ueberhaupt schwebt über der Geschichte der Grafschaft Werdenfels großes Dunkel. Das gräfliche Geschlecht scheint schon sehr frühe ausgestorben zu seyn. Das ›Landl,‹ wie es im Munde des Volkes gewöhnlich heißt, kam schon vor undenklichen Zeiten unter den Krummstab von Freysing, und ward, als vereinzelter, entfernter Gebietstheil, nach altem Herkommen milde regiert, besteuert und verwaltet. Daher denn die Geschichte fast gänzlich davon schweigt, und beinahe keine Ueberlieferung, keine Sage vorhanden ist. [117] Nur das Einzige meldet sie uns: in uralten Zeiten hätten sich drei Brüder adeligen Geschlechtes im Thale niedergelassen, und sich da Schlösser erbaut: der eine in Eschenlohe auf jenem Bühel, wo, wie wir so eben vorher gesehen, ein Kirchlein steht; der andere hier zur Stelle, zuWerdenfels; der dritte am Fuße des Wachsenstein, dessen Schloß Schroffenstein geheißen habe.

Man zeigte uns neulich, als wir in Hammersbach waren, die Stelle, wo das Schloß gestanden haben soll – erinnerte Karl. – Es ist eine geräumige Grube von hohen Bäumen umgeben. Vor mehrern Jahren, sagte der Mann, habe man noch Ueberreste von altem Gemäuer gesehen. Jetzt ist aber keine Spur mehr vorhanden.«

»Wunderbare Verwandelung! sagte die Mutter. Da wo ehedem mächtige Geschlechter gehauset in Ehren und Würden, ist nun keine Spur, kein Stein mehr vorhanden; oder es gemahnt nur noch eine unwirthbare Ruine an die alte, verschwundene Herrlichkeit; oder endlich, es hat sich über den Särgen jener Edlen ein unansehnliches Kirchlein erhoben, auf daß die Andacht mindestens sich noch erinnern möge an die, welche da gewesen!«

»An jene ganz einfache Sage nun – fuhr der Freund fort – die uns meldet, es seyen die Schlösser [118] der drei Brüder in der Richtung erbaut gewesen, daß sie von dannen aus sich gegenseitig sehen mochten, um sich einander zu Schutz und Trutz zu seyn gegen jeden Feind: an diesen örtlichen Umstand mochte sich noch eine andere Sage aus einer spätern Zeit angeschlossen haben, die übrigens nicht so allgemein bekannt ist, wie jene, und darum auch nicht die erforderliche Gewährschaft für sich hat.«

»O, erzählen Sie sie doch – sagte Karl; – es ist hier so recht der Platz, Rittergeschichten zu erzählen und zu vernehmen.«


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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 6. Die Ruine Werdenfels. - Das Fräulein von Schroffenstein. Die Ruine Werdenfels. Die Ruine Werdenfels. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1576-7