[208] Bemerkungen.

1. Bemerkungen zur Geschichte des Doctor Faustus

1. Bemerkungen zur Geschichte des Doctor Faustus.

Die Volkssage von Doctor Faustus ist ohne Zweifel älter, als dieser selbst. Die Bestrebungen einzelner Männer, in die Geheimnisse der Natur tiefer einzudringen, und ihre Versuche in der Anwendung bisher noch unbekannter Naturkräfte, mußten in jenen frühern Zeiten dem Volke auffallend erscheinen, und die Meinung erzeugen, daß diese außerordentliche Einsicht und Kraft nur durch Hilfe der Magie und des Bösen gewonnen werden könnte – in grellem Gegensatze zu jenen wunderähnlichen Erscheinungen und Handlungen, welche im Bereiche der Kirche und vermittelst ihrer Segnungen und Exorcismen stattgefunden, und als Ausflüsse eines gottgefälligen Dienstes gehalten worden. Die Geschichten und Gedichte aus jenen Zeiten thun häufig Meldung von Zaubereien der verschiedensten Art; und die mündliche Ueberlieferung wird sich mit solchen Gerüchten um so lieber abgegeben haben, da das Außerordentliche, Wunderbare, zumal auch das Schreckliche und Grauenvolle, einen eigenen Reiz auf die menschlichen Gemüther ausübt und die ohnehin schon beschränkten Geister befangen hält. 1

Gewiß ist es, daß jene Sage von Doctor Faustus sich erst zu Anfang des 16. Jahrhunderts vollständig ausgebildet, und zu einer zusammenhängenden Geschichte gestaltet hat. Es fand sich damals der frömmere Theil des Volkes zu Fictionen dieser Art mehr als je veranlaßt durch einzelne Gelehrte und Weltweise, die den alten Offenbarungsglauben von sich werfend, nicht durch Vermittelung der [209] heiligen Schrift, sondern unmittelbar durch eigene Fragen an die Geisterwelt und Natur das Räthsel der Welt lösen wollten. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich – wie denn Görres in seinem Buche »die deutschen Volksbücher« mehrere Zeugnisse anführt – daß ein als Schwarzkünstler verrufener Landstreicher Faust zur Reformationszeit gelebt habe 2, in dessen Person die Sage Alles vereinigte, was von Zaubereien der Geistlichen und der fahrenden Schüler bis dahin kund geworden. 3 Entstanden ja um dieselbe Zeit auf ähnliche Art auch andere beliebte Volksbücher; wie denn z.B. in anderer Weise und zu ergötzlicher Unterhaltung des Volkes, jener verrufene Schalk, der Till, zum Träger aller umlaufenden Schwänke auserlesen wurde.

Literatoren von Profession mögen übrigens untersuchen und nachweisen, wann und wo das Volksbuch von Doctor Faustus zuerst erschienen. Man kennt eine Ausgabe v. J. 1588 (Frkft. a.M.). Vor uns liegt eine andere Ausgabe v. J. 1589 (sine loco), welche den Titel führt: »Historia von Doct. Johann Fausti, des ausbündigen Zäuberers und Schwarzkünstlers Teufelischer Verschreibung, Vnchristlich Leben und Wandel, seltzamen Abenthewren, auch vberaus gräwlichem und erschrecklichem Ende. Jetzt auffs newe vberbesehen, vnnd mit vielen Stücken gemehrt.« Nach diesem, oder einem ähnlichen Original vervielfältigten sich die Ausgaben ins Unendliche 4, und die Historie von Dr. Faustus erhielt sich bis auf unsere Zeiten herauf als eines jener Volksbücher geltend und beliebt, welche, neben den lustigen oder anmuthigen Historien hauptsächlich durch abenteuerliche [210] und schauerliche Geschichten die Aufmerksamkeit der Menge fesselten.

Auch die Bühne mochte sich bald dieses tragischen Stoffes bemächtigen, der so zeit- und volksgemäß war. 5 Sicher ist es, daß Doctor Faustus eine stehende Rubrik in dem Repertoir der wandernden Marionetten wurde; und wir Aeltern, die wir über ein halb Jahrhundert zählen, erinnern uns noch gar wohl der geheimen Schauer, die uns Teufel und Hölle, von jeder Bude aus, einjagten, aber auch der unvergleichlichen Späße, die uns Hanswurst zum Besten gab. Wir gingen jedesmal sehr erbaut und belustigt von dannen. – Die beste dramatische Behandlung Fausts aus jener Zeit werden wir aber außer Deutschland suchen müssen, in jener trefflichen Tragödie des Christoph Marlowe, wovon uns erst noch i. J. 1818 Wilhelm Müller eine gute Uebersetzung geliefert hat. Der englische Dichter hat einerseits mit richtigem Tact den Buchstaben der Volkssage in aller Treue wiedergegeben, anderseits aber auch, mit großem Talente, den Geist, die Wahrheit angedeutet, die dieser Mythe zu Grunde liegt, oder ihr doch untergelegt werden kann. – Wahrscheinlich ist es auch, daß der »Don Giovanni« der Italiener in unserm Johann Faust sein Vorbild gefunden habe; irrig aber, daß Calderon seinen »wunderthätigen Magus« nach dieser Mythe gedichtet habe, obwol die Legende, die diesem Drama zu Grunde liegt, wie die jenes »Theophilus«, manche Aehnlichkeit mit unserm Faustus darbietet.

So behauptete sich denn jenes Volksbuch, wie das ihm nachgebildete Schauspiel, unter dem gemeinen Volke die langen Zeiten herauf in seinen Ehren und Rechten, bis endlich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts diese Historie, deren rohe Schale allerdings einen Kern von Wahrheit und Weisheit in sich schließt, die Aufmerksamkeit und Theilnahme großer Geister, zumal der Dichter, auf sich gezogen hat. Es ist bekannt, daß selbst Lessing mit [211] der Idee umgegangen, diesen Stoff dramatisch zu bearbeiten, und das kleine Fragment, das er uns hinterlassen, beweiset, von welchem hohen Standpunkte aus er diese Geschichte zu betrachten und zu behandeln sich vorgenommen. Zu einem ähnlichen Versuche schickte sich der Maler Müller 6 an, und die wenigen Scenen, die er uns vorstellte, sind allerdings im Geiste und mit dem Talente eines Höllen-Breughels gedichtet. In einer fast bizarren Großartigkeit behandelte denselben Stoff der philosophirende Dichter Klinger, 7 der aber die Geschichte ihrem natürlichen Boden entrückte, und in eine höhere, fremdartige Region hinüber spielte. Den Preis unter allen Dichtungen trug aber jener Faust davon, den, um dieselbe Zeit, Goethe begonnen, und erst in unsern Tagen vollendet hat, so daß das Gedicht das Studium eines Menschenalters, die Glut des Jünglings, die Kraft des Mannes, die Weisheit des Greises in sich trägt. Es ist eine divina comödia, worin der Held, dieser deutsche Prometheus, Himmel und Hölle herab und hinauf zieht zur Erde, die ihm darum selbst zum peinigenden, aber auch reinigenden Fegefeuer wird. Außer jenem Dichtwerke des »göttlichen« Florentiners hat wol die romantische Poesie kein größeres geschaffen, als diesen Faust.

Andere Versuche, frühere und spätere, können hier mit Stillschweigen übergangen werden. Es existirt eine besondere Literärgeschichte der Fauste. 8 Der Stoff, die Historie dieses modernen Magiers, ist eben so bildsam für jede beliebige Form, als fügsam für jede größere, wichtigere Idee, die der Dichter damit zu verknüpfen sich vornehmen mag. Faust ist ein Geist, der sich in alle Geister metamorphosiren kann. Er ist der Mensch jedes Zeitalters, jedes kräftigen, freien, wankenden und irrenden Strebens. Seine Geschichte ist die Menschengeschichte selbst, von ihrer Nachtseite betrachtet.

Was nun die von uns hier mitgetheilte Erzählung betrifft, [212] so wird es für unsern Zweck genügend sein, wenn wir nur mit Wenigem davon Meldung thun. Sie ist eine freie Uebertragung und Abfassung jener altdeutschen Geschichte im Buchstab und Geist unserer Zeit. Demnach gestattete man sich die Freiheit, den Charakter jenes Mannes und die Motive seiner Handlungen so zu gestalten und zu denken, wie sein Wesen ungefähr vor unsern Augen und nach der vorwaltenden Geistesrichtung sich offenbaren würde. Wir glauben aber nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß die Krankheit der Menschen unserer Tage der innere Zwiespalt sei, hervorgehend aus der selbstischen Vornehmheit, die keinen Gott über sich, keinen Menschen neben sich, und die ganze Welt unter sich haben möchte. Es ist der Faust, wie ihn sofern auch Goethe sich gedacht, »der Mann, welcher in den allgemeinen Erdeschranken, sich ungeduldig und unbehaglich fühlend, den Besitz des höchsten Wissens, den Genuß der schönsten Güter für unzulänglich achtet, seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen; ein Geist, welcher deshalb, nach allen Seiten hin sich wendend, immer unglücklicher zurückkehrt.«

Nun ist es aber eben die Aufgabe der Volkssage, wie der Poesie, zu zeigen, wie die Abweichung von sittlicher Ordnung auch zugleich und in eben dem Maße eine Entfernung von Glückseligkeit sei, und daß jede ruchlose Handlung, als solche schon, den Keim zu jedem Verderben in sich trage und unmittelbare Strafe nach sich ziehe. 9 Und darum muß das klägliche Ende Fausts schon mit dem Anfange eintreten. Im Augenblicke, wo die infernalischen Mächte zu Hilfe gerufen werden, müssen sie, obgleich scheinbar beglückend, in der That sogleich züchtigend auftreten. Das ist die poetische Gerechtigkeit. Die theologische freilich könnte es wol noch dulden, daß der Sünder den Lohn seines Verbrechens diesseits genießen möchte, in der sichern Voraussicht, es werde die verdiente Strafe jenseits doch nicht ausbleiben. Eine solche Voraussetzung darf aber [213] die Poesie nicht annehmen; denn sie will und kann keinen Begriff geben, kein Dogma unterstellen, dessen Enthüllung und Erfüllung der Zukunft überlassen bleibt, sondern sie beruht auf Anschauung, und fordert die Sache selbst. So wendet sich denn dem Beschauer geradehin die Kehr-und Schattenseite dessen zu, den die Sage den Glücklichen, den Begabten nennt, und zerstört somit den unseligen Wahn derer, die durch gleiche freventliche Künste ihre zeitliche Wohlfahrt zu begründen versucht werden könnten. Die Geschichte mag so immerhin noch schön und sittlich zugleich sein, – schön, selbst noch in ihren nächtlichen Schrecken, und sittlich, sogar in ihren Freveln und Orgien.

Wenn nun sodann jene poetische Nothwendigkeit weiter fordert, daß aus der verderbenschwangern Wolke zuletzt doch der herbeibeschworne Blitz niederfahre und den Unglücklichen vor unsern Augen zerschmettere: so kann damit doch nur das Ende des sichtbaren, leiblichen Lebens, die zeitliche Verdammniß, angedeutet werden, während der Anfang eines höhern, geistigen und seelischen Lebens immerhin noch (unbeschadet aller Orthodoxie) der Ahnung, der Hoffnung, der Gnade anheimgestellt sein mag. Der Vorhang fällt; eine Rettung ist noch denkbar, ja, nach den unmittelbar vorhergegangenen leisen Andeutungen, sogar wahrscheinlich. Der Dichter übergibt den Frevler dem Satan, zum Verderben des Fleisches, »auf daß der Geist gerettet werde am Tage des Herrn.« (Kor. 1, 5.) Auch scheint wirklich jene rohe Vorstellungsweise von der ewigen Verdammniß des ohnehin schon bestraften unglückseligen Faust erst späterhin entstanden zu sein, und es hat sie besonders jener »Christlich Meinende« in sein überarbeitetes Volksbuch aufgenommen, wodurch sich denn diese Ansicht weiter verbreitet und überall unter dem Volke festgestellt hat. – Die ältesten Sagen von Theophilus und ähnlichen Abtrünnigen, die sich dem Teufel verschrieben, gehen sogar in ihrer christlichen Milde noch weiter, als die Sage von Faust; sie lassen ihren Sündern wunderbare Bekehrung und Begnadigung angedeihen. Gewöhnlich ist, nach der Vorstellung jener Zeit, Maria die Vermittlerin vor dem Herrn, die Fürbitterin für den Sünder, der Ihn freventlich verläugnet[214] und verhöhnt hat. Goethe hat diese mildchristliche Vorstellungsweise wohl benutzt, und er konnte und mußte es, da seine große dramatische Dichtung, gleichwie sie vor dem Anfang und in einer überirdischen Sphäre beginnt, so auch erst nach dem Schlusse, dem Tode, endet, und Himmel und Hölle zum letzten entscheidenden Kampfe auftreten läßt. In dem schlichten Volksbuche, so wie in der darnach gebildeten Novelle, ist jedoch jener erste Anfang und jenes letzte Ende nur in die Ferne gestellt und, wie ein Nachhall, der sich zuletzt immer in Harmonie auflöset, der religiösen Ahnung überlassen worden.

Um schließlich dem Leser von dem unglaublich milden, versöhnenden Geiste jener ältern Sagen Zeugniß und Kenntniß zu geben, sei es uns erlaubt, aus dem obenangeführten »Anzeiger« (Jahrg. III, S. 274) eine Legende der Art auszuheben, die uns dort, nebst Andern, Mone mitgetheilt hat. Sie ist aus einer, im niederrheinischen Dialekt geschriebenen Sammlung aus dem fünfzehnten Jahrhundert entnommen; wir wollen sie aber, zur Bequemlichkeit mancher unserer Leser, in die hochdeutsche Mundart übertragen. Sie lautet wörtlich also:

»Wir lesen in dem Buche der Väter von einem gelehrten Kleriker; der kam in solche Armuth, daß der böse Feind sich ihm offenbarte, und gelobte ihm, wär' es, daß er wollte abschwören der Gemeinschaft der heiligen Christenheit und Gottes, und wollte ihm dienen, so wollte er ihn reich machen; dies geschah. Nun schämte er sich aber, daß er gemieden von andern Leuten, darum, daß er nicht auch gebrauchte der Sacramente, die er verläugnet hatte. Darüber rathfragte er seinen Herrn, den Teufel, was er möchte thun. Da antwortete ihm der Teufel und sprach: Geh freilich (keck) zu dem Altar mit den anderen Leuten, aber du sollst ihn (die Hostie) nicht genießen. Er empfing Gottes Leichnam und ging wieder zu ihm (dem Teufel) und sprach: Was soll ich nun thun? Der Teufel sprach: Spei ihn aus, und tritt darauf mit deinen Füßen. Dieser arme Sünder that es. Als dies der böse Feind gesehen, lachte er laut und sprach: Nun ist offenbar, daß du schnöder bist, als ich; du wagtest das zu thun, was ich nicht mag ansehen. [215] Als er dies gesprochen hatte, da verschwand er; und jener blieb geschändet und betrübet stehen, und sah nun, daß er betrogen war. Und er hub Gottes Leichnam auf, seufzend und weinend, aus dem Kothe, und er enttraute sich nicht, das Sacrament in die Kirche zu tragen, sondern er legte es in eine Höhle und deckte einen Stein darauf. Als er wieder zu sich selber kam, da legte er sich vor die Höhle, und schrie und weinte und bat um Gnade, die er doch nicht verdienet hatte, als er doch hoffte. Und er stand auf und sah in die Höhle; so sah er darin sitzen ein schönes glänzendes Kind, gleich der Sonne, und das Kind sprach ihm säuberlich zu, und tröstete ihn und sprach: Nimm mich in deine Hände, auf daß wir versöhnet werden mit einander; denn ich will nicht, daß du verloren seiest. Als er das Kind aufhub behende und mit Freuden, da küßte es ihn an seinen Mund, und hieß ihn, daß er nicht mehr sündigte. Darnach so sah er das Kind fliegen in den Himmel. Und dieser Mensch nahm an sich ein bußhaftiges Leben an derselben Stätte bis an seines Lebens Ende.«

Fußnoten

1 Man erinnere sich nur an die Sagen von Gerberts Bund mit dem Teufel, und an jenen »Theophilus«, der Faust des Mittelalters. Vergl. den »Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters« von H. Frh. v. Aufseß.

2 Grimm (Kinder- und Hausmärchen Th. III. S. 213.) vermuthet jedoch: sein Name sei mythisch, und weil er den Wünschmantel besessen, heiße er der Begabte, das Glückskind, Faustus.

3 Vergl. den Aufsatz in Fr. v. Raumer's historischem Taschenbuch (V. Jahrg.) »Die Sage von Doctor Faust von Dr. Chr. L. Stieglitz.«

4 Das noch jetzt gewöhnliche, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bearbeitete Volksbuch führt den Titel: Des durch die ganze Welt berufenen Erzschwarzkünstlers und Zauberers Dr. Johann Fausts mit dem Teufel ausgerichtetes Bündniß, abenteuerlicher Lebenswandel und mit Schrecken genommenes Ende... zum Drucke befördert von einem Christlich Meinenden.

5 Neumann (Disquisit. de Faust 1685) erinnert: Fausts Andenken würde längst verschwunden sein, wäre er nicht mehrmal auf der Bühne, auch in Trauerspielen vorgeführt worden. Stieglitz a.a.O.

6 Situationen aus Fausts Leben. 1776.

7 Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. 1791.

8 Fr. Peter, die Literatur der Faustsage. Lpz. 1851. A.d.H.

9 In diesem Sinne ist wol auch das bedeutsame Wort des Dichters zu verstehen:

»Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.«

2. Bemerkungen zu den erbaulichen und ergötzlichen Historien

2. Bemerkungen zu den erbaulichen und ergötzlichen Historien.

Die Quellen, aus denen die vorstehenden Erzählungen geschöpft worden, sind denjenigen ohnehin schon bekannt genug, die sich in der Volksliteratur der ältern Zeit einigermaßen umgesehen. Außer den ältesten (z.B. die Gesta Romanorum, die Legenda Aurea, das Buch der Weisheit, die sieben weisen Meister), sodann den Werken von Geiler, Luther, Schuppe und Abraham a St. Clara, wurden benutzt: Pauli Schimpf und Ernst 1, Agricola Sprichwörter, Seb. Brand Esopus (deutsch), Wickram Rollwagenbüchlein, Zinkgref Apophthegmata, S. Dach (Chasmindo) kurzweiliger Zeitvertreiber, Kirchhof Wendunmuth, Gerlach Eutrapeliae; nebstdem noch viele ähnliche Anekdotensammlungen, wie: Grillenvertreiber, Jocoseria, [216] Scherz mit der Wahrheit – und andere Werke der Art mehr, die heutzutage kein Leser von Geschmack mehr lieset.

Die meisten der mitgetheilten Erzählungen sind aus der dunkeln Verborgenheit jener Werke hervorgezogen, und zu Nutzen und Frommen unserer Zeit zur Schau gestellt worden. Die wenigen, welche ganz modern sind in Erfindung und Einkleidung, können sich ohnehin nicht verläugnen, und werden, je nach dem Geschmack der Leser, freilich eine getheilte Aufnahme finden. Aber auch jene ältern entlehnten Historien haben mehrentheils eine Verneuerung, Umformung oder Ueberarbeitung gefunden. Als edle, aber rohe Steine, wie sie in jenen alterthümlichen Schachten gelegen, erforderten oder gestatteten sie doch eine gewisse Politur und eine angemessene Fassung, auf daß sie in voller Reinheit erglänzen und zur Tracht unserer Zeit als Schmuck sich mehr anschicken möchten. Solche freilich, welche von Natur aus als reine Perlen aufgetaucht sind in jungfräulicher Lauterkeit, konnten und mußten auch, nach Gehalt und Gestalt, in ihrer ursprünglichen Art und Weise belassen und durchaus heilig gehalten werden.

Der letztere Punkt, die Frage nämlich, ob derlei alte Sagen und Mähren einer Bearbeitung, Ausschmückung und Umformung unterliegen dürfen, verdient noch eine besondere Erörterung, wozu hier Veranlassung sein dürfte.

Daß Wahrheit, in Treue und Einfalt, das erste unverbrüchlichste Gesetz sein müsse nicht nur in Ansehung wirklicher Geschichten, sondern auch der Sagen und Mähren überhaupt: dies wird wol Niemand in Abrede stellen. Denn erstlich kann die Grenzlinie zwischen dem, was als Wahres und Wirkliches, uns was als blos Gedachtes und Erdichtetes anzusehen sei, nicht genau gezogen werden, so wenig als wie zwischen Prosa und Poesie, die eben auch in ihren Grenzpunkten zusammen fallen. Zweitens verdient selbst das blos Gedachte und Erdichtete, um des Wahren willen, das darin liegen mag, volle Schonung und Beachtung; wie das Helldunkel, das Zwielicht, die Dämmerung eben auch nothwendige Zustände in der Natur und nachahmungswerthe Gegenstände für die Kunst sind. Drittens [217] aber – und dieser Punkt entscheidet – ist jede Sage und Mähre eine literarische Thatsache, die, gleich jedem andern Document, auf eine wortgetreue Mittheilung Anspruch macht; wonach es dann dem Forscher überlassen sein mag, dieselbe als zulässig und wichtig zu hinterlegen, oder auch als unbedeutend, als falsch zu verwerfen. Wer demnach aus erster Hand uns eine solche Geschichte mittheilt, zumal wenn die schriftliche Quelle, aus der er geschöpft, uns übrigen unzugänglich ist, oder gar, wie es bei so vielen Sagen und Mährchen der Fall ist, eine blos mündliche Ueberlieferung Statt gehabt, der muß es sich zur Gewissenspflicht machen, die Geschichte, wie er sie befunden, der Sache und wol auch der Sprache nach getreu wieder zu geben. Jede Veränderung, Auslassung oder Ergänzung im ursprünglichen Texte, so wohl begründet sie sonst auch sein möchte, würde der Wahrheit der Erzählung, so wie der Glaubwürdigkeit des Erzählers Eintrag thun. – Daß und wie diese zarte Schonung und reine unverfälschte Ueberlieferung alter oder sonst unbekannter Sagen und Mähren geschehen solle und könne, das haben zumal die Gebrüder Grimm erwiesen, deren »Hausmährchen« und »deutsche Sagen«, ihre sonstigen Vorzüge ungerechnet, schon um dieses einzigen Umstandes willen, nämlich wegen der Wahrhaftigkeit und der Treue bis im Kleinsten, ewige Dauer sich gesichert haben.

Eine andere Gestalt gewinnt aber die Sache, und es bedingt sich somit auch ein besonderes Verfahren, wenn die Geschichte bereits Allen offenkundig oder doch Jedem zugänglich geworden, und sohin, als Gemeingut, zu besondern Zwecken und nach eigenthümlichen Rücksichten benutzt werden kann. Da mögen denn strenge Historiker und Prosaisten, falls sie dergleichen Sagen nicht lieber ganz verwerfen, auf ihrem kritischen Poch- und Schlemmwerk die spärlichen Körner von dem tauben Gestein sondern, und im Schmelzofen der historischen Kunst mit anderm gediegenem Metall zusammen flößen – wiewol man freilich jene Erzählungen richtiger unter dem Bilde wildwachsender Pflanzen sich denken sollte, die, gleich mundartlichen Formen des Volkes, eben auch ihr Organisches, das man nicht leicht, [218] ohne sie selbst zu zerstören, mechanisch zerlegen oder chemisch auflösen und sondern kann. Noch mehr aber mögen an diesen Findlingen der Natur die Dichter und Künstler Recht üben und sich Freiheit gestatten. Die Poesie, welche so gern das berücksichtiget, dessen die Prosa keine Acht hat, darf hierin ihre ganze Zauberkraft aufbieten, um das Todte zu beleben, das Alte zu verjüngen, das Mangelhafte zu ergänzen, das Dunkle zu erhellen, Alles zu veredeln und zu verschönen.

Aber auch der Poesie steht es nicht zu, in solchen Schöpfungen bloße Willkür zu üben, sondern es liegt ihr vielmehr ob, mit voller Achtung des Ueberlieferten, ihre Bildungen vorzunehmen nach dem Typus, der ihr von der Geschichte, von der Natur selbst vorgehalten wird. Vor Allem hat sie die Idee aufzufassen und festzuhalten, die in solchen Sagen und Mähren wie ein Keim verborgen liegt, und demnach die Entwicklung derselben nach rein organischen Gesetzen gleichsam von selbst geschehen zu lassen. Im Wesentlichen also darf die Poesie daran nichts verändern, nichts dazu, nichts hinweg thun; sie darf nur die zarte Pflanze, wie sie dieselbe gefunden, in Grund und Boden der Phantasie versetzen, daß sie in ihrem Lichte und an ihrer Wärme Gedeihen und Wachsthum gewinne. Selbst bloße Zierathen, wenn sie nicht zur Verklärung der Idee beitragen und deren Ausstrahlungen fördern, können nur hinderlich fallen, weil sie eben durch Hervorhebung der Nebendinge die Hauptsache verrücken und verdecken. Und so ist denn auch der Ton und die Sprache in Erwägung zu ziehen, worin diese alten Historien vorzutragen sind. Am sichersten verfährt man wol, wenn man dieselben in dem Costüme ihrer Zeit vorführt, oder doch nach einem Zuschnitte bekleidet, welcher sich mit ihrem Wesen verträgt, das da ist Einfalt und Natur. Unsere moderne Sprache mit ihren verblümten Redensarten, seinen Wendungen, verschlungenen Perioden, zumal wie sie in so vielen beliebten und belobten Romanen erscheint, passet wol am mindesten zur Einkleidung jener alterthümlichen Stoffe; und wer anders Lust bezeigt zu Bildungen der Art, der lese und studire lieber geradezu den Geiler und den Hans Sachs, [219] und nehme dieser Männer Sprache und Darstellung zum Vorbild und Muster.

Diese strengen Forderungen, wie sie sich aus der Natur solcher Historien selbst ergeben, erleiden jedoch einige Ermäßigung durch den besondern Zweck, den man mit ihrer Mittheilung zu erreichen beabsichtet, so wie durch das Bedürfniß, das von Seite des Lesers entgegen tritt. Auffallender ist dieser Unterschied vielleicht nirgends mehr, und für unsern Fall bezeichnender, als bei der Legende. Wenn der Eine z.B. die Sage von St. Christoph mit diplomatischer Treue erzählt, wie er sie in der Legenda Aurea gefunden, so wird der Andere, der die historische Kritik zu Rathe zieht, die Geschichte als eine eitel fromme Tradition ansehen, und als unhaltbar verwerfen; die Uebrigen aber, die Dichter, dieselbe entweder als ein schönes Phantasiegemälde zu ergötzlicher Beschauung, oder aber als ein gottseliges Exemplar zu frommer Erbauung vor Augen stellen. Der letztere, der pragmatische Zweck steht freilich jeder historischen und auch streng poetischen Ansicht ferne; in dem gegebenen Beispiele aber fällt er mit dem ursprünglichen glücklicherweise zusammen, und bringt das sonst unfruchtbare Gebilde zu neuem Leben. Ist nun dieses Motiv der Erbauung einmal gestattet und gegeben, so kehret sich demnach das Hauptsächliche an jener Mythe von selbst heraus, nämlich St. Christophs Dienst in der Hütte am Gewässer; und seine frühern Abenteuer treten, als blos vorbereitende Momente, zurück, die denn auch in Nebendingen eine freiere Behandlung zulassen, wie sie sich eben zur Darstellung dieses Hünen der Heiligenwelt schicken.

Diesen Zweck der Erbauung und der Ergötzung hat der Volksfreund in der Wahl und der Form seiner Mittheilungen aus Beruf sich vorgehalten, ohne jedoch, nach seinem Wissen und Vermögen, jener ersten und letzten Pflicht, der historischen Treue, zu nahe zu treten. So manche mündliche Ueberlieferungen, z.B. der Volkssagen, hat er sogar wortgetreu zu geben gesucht, wie er sie empfangen; so wie einige jener ältern Geschichten, die er schon nach ihrer ursprünglichen Gestalt in entwickeltem Zustande und [220] in voller poetischen Blüte gefunden hat. Diese Feldblumen und Wildgewächse, im Gegensatze zu denjenigen, welche im Kunstgarten gehegt und gepflegt, wol auch veredelt worden, zeichnen sich auch durch ihre eigenthümliche Physiognomie so sehr aus, daß sie wol nicht der besondern Aufschriften »alt« oder »mündlich« zu bedürfen geschienen haben. Der Kenner wird sie ohne dies schon alle heraus finden und nach Abstammung und Geschlecht bezeichnen können; der bloße Liebhaber aber mag sich lediglich an der Mannichfaltigkeit des Blumenflors erfreuen, und von den Früchten des Gartens sein bescheiden Theil genießen.

Schließlich erlaube ich mir noch, auf eine überflüssige Frage eine nothgedrungene Antwort.»Wozu« – fragt man – »in unsern aufgeklärten Zeiten ein solch einfältiges Volksbüchlein?« Ich antworte: Dazu. Erstlich wollte ich mir eine heilsameLuftveränderung machen, und ein Vergnügen meinen Freunden, welche gern hie und da eine solche Landpartie vornehmen, und Einkehr halten in der Hütte des schlichten, gemeinen Mannes. Zweitens gedachte ich, so viel an mir liegt, dazu beizuhelfen, daß die Wege und Stege in offnem und gutem Zustande erhalten werden für eine Zeit, wo diese blumigen Gemeintriften deutschen Witzes und deutscher Laune wieder lieber besucht werden dürften von Jung und Alt, von Vornehm und Gering. Drittens schien es mir selbst für unsere großstädtische Zeit und Welt ein annehmbarer und nützlicher Versuch zu sein, durch ein solches Büchlein, als ein vermittelndes Organ, die von einander getrennten verschiedenen Klassen desEinen, großen Volkes in einen geistigen Zusammenhang, in gegenseitige, freundliche Berührung und Werthschätzung zu bringen, und zunächst den Gebildeten und Vornehmen, welchen die Kunst der Erziehung aus der Masse erhoben und weit davon entfernt und entfremdet hat, dahin zu bestimmen und zu vermögen, daß er in dem gemeinen Mann die ursprüngliche Natur, den angebornen Adel und die frisch hervortretende Kräftigkeit, überhaupt die Originalität in dessen Denk- und Sprachweise, in dessen Sitten und Gebräuchen, kenne und achte, und so [221] ihm mindestens das Recht zu sein und zu scheinen, wie es ihm zukommt und beliebt, unverkümmert lasse.

Verlässigen Nachrichten zufolge, welche mir ein und der andere Freund ins Ohr geraunt, hat auch wirklich das Volksbüchlein über meine Erwartung zugesagt; und so dürfte mir denn die thörichte Hoffnung fernern Beifalls nicht verargt werden, die mich zu wiederholter Ausgabe ermuthigt hat.

Fußnoten

1 Ausgewählt von H.A. Junghans, Universal-Bibliothek Nr. 945 und 946.

3. Bemerkungen zu den Abenteuern des Spiegelschwaben

3. Bemerkungen zu den Abenteuern des Spiegelschwaben.

Meine Vermuthung, daß es zur schwäbischen Iliade auch eine Odyssee gebe, ist eingetroffen; und ich war in meinen antiquarischen Nachforschungen so glücklich, eine ziemlich gut erhaltene Handschrift zu bekommen 1, welche ich denn hiemit, in treuem Abdruck, meinen Lesern übergebe, verhoffend, daß ihnen die Vergnügen machen werden, als die »Abenteuer der sieben Schwaben«.

Den Verfasser dieser, in ihrer Art einzigen Epopöe auszumitteln, wird schwer, wo nicht gar unmöglich sein. Keinem Zweifel unterliegt es aber, daß es einer und derselbe sei, der beide Gedichte, oder, wenn man so will, Geschichten erfunden hat. Es läßt sich dies schon aus der Gleichheit des Stils und der Sprache, wie der nationalen Gesinnung abnehmen. Die Zeit der Abfassung möchte ich jedoch hieraus nicht bestimmen, da, wie ich schon anderswo bemerkt habe, eine Ueberarbeitung überall sichtbar ist, und die ursprüngliche Form durch Verwischung des Dialects und Uebertragung ins Hochdeutsche theilweise sehr gelitten zu haben scheint.

Künftigen Commentatoren dieses National-Epos sei es auch überlassen, zu untersuchen und zu bestimmen, ob (was mein altdeutscher Freund vermuthet) der Verfasser den Homer gekannt habe, und ob er damit wol gar dessen unsterbliche Gesänge habe parodiren wollen? Ich wenigstens [222] glaube, daß eine solche Behauptung zu gewagt sei. Denn obwol z.B. unter den homerischen Helden einzelne, nicht zu verkennende Gegenstücke an den sieben Schwaben nachzuweisen sind, ein Agamemnon-Allgäuer, ein Achilles-Blitzschwab, ein Thersites-Knöpfleschwab u.s.w.; und obgleich vorzüglich in dem Charakter, den einzelnen Verhältnissen und Abenteuern des Spiegelschwaben auffallende Reminiscenzen und Allusionen auf Odysseus, seine Penelope, und auf so manches Abenteuer desselben, als mehr oder minder klar, zu entdecken sind: so sind das doch lauter Einzelnheiten und Zufälligkeiten, die meines Erachtens zu einem solchen Urtheile keineswegs ermächtigen; zumal, da es den literarischen und kritischen Standpunkt ganz verrücken würde, woraus man diese, so wie ähnliche Volksgeschichten beurtheilen soll. Halten und nehmen wir das Büchlein geradezu für das Product eines einfältigen Mönchs, der, aus der Einsamkeit seiner Zelle, die Welthändel und Weltmenschen in der camera obscura seiner Phantasie vor sich spielen läßt, um jene, die Welt, noch mehr verachten, und diese, die Menschen, bei all ihren Thorheiten, noch mehr lieben zu lernen.

Was nun insbesondere den zweiten Theil dieser in ihrer Art einzigen Epopöe und dessen Helden anbelangt, so wird dem Kenner alter Volksgeschichten sogleich ein ergötzliches Gegenstück beifallen, das aber eben nur als solches, nicht etwa als Vorbild des letztern gelten mag. In der That ist der Spiegelschwab ungefähr ein oberdeutscher Eulenspiegel, der dem niederdeutschen an schalkhafter Laune nichts nachgibt. Zugleich aber stellt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden heraus, so daß, wenn man einmal solche Käuze der Lust wegen sich vorhalten möchte, die Sympathie sich ohne Widerrede dem letztern zuwenden müßte. Der niederdeutsche nämlich erscheint als ein arglistiger, heimtückischer, unflätiger Geselle, der seine Freude hat an dem Schaden Anderer, und um dieses Schadens willen, wie ein boshafter Kobold, die Leute geckt und neckt. Der oberdeutsche dagegen übt reinen Spaß um des Spaßes willen; er ist gemein, ja niedrig, aber nicht grob, nicht niederträchtig; er lügt und trügt, aber aus Instinct, nicht [223] aus böslicher Absicht; er ist immer bereit, Andere zum besten zu haben, aber er versteht auch Spaß über sich selbst und ist nicht ungehalten darüber, wenn man den Spaß sogar fühlbar und handgreiflich macht. Es leuchtet in seinen Reden und Handlungen, bei aller Schalkhaftigkeit immer eine gewisse Gutmüthigkeit hervor, und seine heitere frohe Laune verläßt ihn niemals, ungeachtet so mancher herben Erfahrungen. Um dieses guten Humors willen der eben nur ein unterhaltendes Spiel mit sich und Andern treibt, kann ihm keine Posse mißdeutet oder verargt werden, zumal da er gelegentlich wol auch sich selbst auf den Pranger und zur Schaulust ausstellt. Sogar seine entschiedene, feindselige Richtung gegen das Frauenvolk, die allein ihn sonst widerlich, ja ekelhaft machen müßte, erscheint doch nur als Maske, womit er, komisch geunug, sich selber zu täuschen sucht. Offenbar will er für die Unbilden, die ihm, wol nicht ohne eigene Schuld, von seinem ehelichen Weibe widerfahren, sich schadlos halten durch einen geheuchelten Haß gegen das ganze Geschlecht, der aber, ohnehin nur in Worten sich rächend, unwillkürlich den Stachel gegen sich selbst kehrt.

Wir wollen aber unsern gebildeten Lesern in ihrem Urtheile über den ästhetischen und moralischen Werth dieser Geschichte keineswegs vorgreifen. Wol aber sei es uns erlaubt, zur Bekräftigung unsers Urtheils, aus der kritischen Abhandlung, welche der Handschrift beigebunden war, und aus der Feder eines vor-Gottschedischen Kritikers geflossen zu sein scheint 2, einen Auszug zu geben und anzufügen:

»Der Scopus der Geschichte, sagt der ehrliche Autor, sei augenscheinlich kein anderer, als zu zeigen, wie elend ein Mann sei, ohne ordentliche Hausfrau, die ihn vor allen Extravaganzen bewahre und in Züchten und Ehren erhalte. Das sehe man an dem Spiegelschwaben als einem augenfälligen Exempel, indem er bei aller Indole animi und Sagacitate ingenii, als gemeiner Landstürzer und Vagabund, ein jämmerliches, unstätes Leben führe, und mancherlei Gefahren des Leibs und der Seele ausgesetzt sei. [224] Was die Inventionem anbelange, so fehle es ihr weder anSimplicität, da sich die ganze Handlung so ziemlich um alltägliche Bedürfnisse und Ereignisse drehe, noch aber zu ergötzlicher Abwechselung, da auf dem Scenario, wie in einem Guckkasten, verschiedene Oerter und Leute erscheinen und man sich, so zu sagen, immer in eine neue Welt versetzt zu sein glaubt. Auch die Dispositio sei recht gut, immaßen es die sicherste und beste Norma einer Geschichte sei, daß man die Begebenheiten und Actiones secundum ordinem loci et temporis aufführe, weil dann der Leser dem Autori Schritt vor Schritt gemächlich folgen könne, ohne sonderliche Ermüdung und Ermattung des Verstandes und der Attention.«

Ueber die Moralität der Geschichte äußert er sich folgendermaßen: »Man müsse vor Allem den Helden und die Hauptperson ins Auge fassen, und mehr darauf sehen, was er sei, als was er thue – quid sit, non quid faciat – woraus man erst recht die motiva und die Beweggründe seines Thuns und Handelns zu beurtheilen im Stande sei. Wenn man annehme und supponire, was ein Mensch in seinen Verhältnissen – ein böses Weib im Haus und kein Geld im Sack – Ruchloses anfangen könne: so müsse man sich vielmehr wundern, daß er nicht mehr Scandala begangen habe. Auch seien die Streiche, die er anfange, nicht allzeit ihm und seinem bösen Genio zuzuschreiben, sondern oft nur der Dummheit und Leichtgläubigkeit anderer Menschen, die, da sie sich auf plumpe Weise betrügen lassen, auch mit Recht Schande und Schaden davon hätten. Dem Autori selbst sei es keineswegs als Schuld zuzurechnen, wenn er den Spiegelschwaben als Fatznarren und Landstürzer beschreibe, wie er einer gewesen; vielmehr sei er hoch zu loben und zu preisen, daß er die Wahrheit und die identitatem characteris durchaus inne gehalten. Sodann sei sowol aus der Geschichte selbst, als aus den angehängten Sprüchen und adagiis viel Weisheit und Tugend zu erlernen, was man leicht finden könne, wenn man eben nur suchen wolle. Es arte der Held freilich mitunter bis zur Ruchlosigkeit aus, z.B. in der Geschichte mit dem Pfaffen und mit den Zigeunern. Es sei [225] dies aber eben eine gar sinnreiche Erfindung des Autoris, daß er das Maaß der Sünden voll werden lasse, damit den Sünder die Gnade um so sicherer ergreifen könne; was denn auch geschehen. Kurz – schließt der Beurtheiler – es ist ein gar sinnreiches Gedicht oder Geschichte, daraus man vieles Nützliche lernen kann, ohne lange Weile und Verdruß, was von Büchern, welche Frömmigkeit lehren wollen, nicht immer der Fall ist.«

Diese letztere Bemerkung hätte sich der ehrliche Mann ersparen können. Wol aber wird gern jeder Leser zugestehen – wenn doch die Moralität eines Helden in einem solchen Gedichte in Anschlag gebracht werden soll, – daß der Spiegelschwab, bei allen seinen Kniffen und Griffen, Ränken und Schwänken, ungleich noch sittlicher erscheine, als so mancher Tugendheld in ***schen und ähnlichen Romanen, die zur Erbauung und Ergötzung des gebildeten Janhagels geschrieben sind.

Schließlich ist zu bemerken, daß seit dem J. 1829, wo ich die Geschichte des Spiegelschwaben, nebst andern Historien, als Probeblätter zuerst mitgetheilt habe 3, mir noch eine andere Handschrift zu Gesicht gekommen ist, die ich denn auch zur Verbesserung und Ergänzung der ersten Ausgabe mit kritischer Umsicht benutzt habe. Leider aber ist das ohne Zweifel interessante Kapitel von der Hochzeit des Blitzschwaben, angeblich beschrieben durch den Adolphus, den fahrenden Schüler, hier ebenfalls lückenhaft befunden worden. Es schien darum rathsam, auch in dieser Ausgabe die Schilderung einer schwäbischen Hochzeit, wie ich sie selbst an Ort und Stelle aufgenommen, als Beilage anzufügen, und so den Mangel des ursprünglichen Textes mindestens durch das Bild eines ähnlichen Thatbestandes zu ersetzen.

Fußnoten

1 Eine der beliebten Fictionen des Verfassers. A.d.H.

2 Eine der geschickt ersonnenen Fictionen des Autors. A.d.H.

3 Scherz und Ernst. München, bei Jos. Lindauer.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Zweiter Theil. Bemerkungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1516-0