Ludwig Aurbacher
Büchlein für die Jugend
Enthaltend die Legende von Placidus und seiner Familie, das Mährchen von Marien-Kind, die Volkssagen vom Untersberg, nebst vielen andern erbaulichen und ergötzlichen Historien.

[1] I. Ferien-Reise.

Die Familie hatte beschlossen, die ersten September-Tage, welche im südlichen Bayern, ungeachtet des sonst rauhen Klima's, gewöhnlich einen heitern, freundlichen Charakter annehmen, auf dem Lande und zwar im Gebirge zuzubringen. Man hatte die Gegend gewählt, welche in frühern Zeiten die GrafschaftWerdenfels geheißen, und die, wie wenige Landschaften, das Freundliche, Heimliche, Idyllische zugleich mit dem Grandiosen und Majestätischen der Natur vereiniget. In Garmisch, einem Orte, der, mitten im Thale wohl gelegen, die freie Räumlichkeit eines Dorfes und zugleich die Bequemlichkeit eines Städtchens darbietet, hatte ihnen ein Freund eine Wohnung besorgt, welche die zahlreiche Familie wohl aufnehmen konnte, dergestalt, daß die Frauen ihr Hauswesen selbst auf leichte und wohlfeile Weise zu besorgen vermochten. Man vermißte nur das [1] Angewohnte, Zierliche des heimischen Herdes, nicht aber das Bequeme, Naturgemäße.

Die ersten zwei, drei Tage hatte man in jener süßen Betäubung, in jenem träumerischen Zustande verlebt, den der Städter jederzeit erfährt, wenn er nach langer Zeit wieder einmal auf das Land, mitten in die freie, frohe Natur versetzt wird. Die mannichfachen, bunten Gestalten, die nahen Berge, die üppigen Wälder und Fluren, die entfesselten Bäche, das saftige Wiesengrün, frische Luft, freie Bewegung, heitere Muße – lauter Schönheiten und Genüsse, die, wenn auch früher schon und öfter erfahren, doch wieder in der Erinnerung erblaßt und untergegangen sind, – sie wecken den tauben Sinn, die schlummernde Seele zu plötzlichem Entzücken auf; man lebt ein neues Leben; man fühlt sich durchweg erfrischt, umgewandelt, beseligt. Den Tag über ergeht man sich in der freien, schönen Natur, und zerstreut sich an ihren Zerstreuungen, an ihren mannichfaltigen Reizen, und den Abend – wenn nicht eine wohlthuende Müdigkeit bald zur Ruhe einlädt – verplaudert man in kurzweiligen Gesprächen über das, was man den Tag über gesehen, genossen hat; oder man verliert sich wohl auch in Erinnerungen an die Heimath, an die Freunde in der Ferne, die man so gern sich herbei wünschen möchte, um bei ihrer[2] Theilnahme die Freuden der Natur und des Landlebens doppelt zu genießen.

Die Witterung änderte sich, es trat Regen ein. Bei Leuten, die bloß des Vergnügens und der Erholung wegen auf dem Lande sich aufhalten, ist dieser Umstand von Entscheidung; er veranlaßt sie, auf Zerstreuungen anderer Art zu sinnen, als welche die Natur und sonst wohl die Stadt darbieten, und nöthigt sie, durch Rückkehr auf sich selbst und in enger Beschlossenheit des Familienlebens angenehme Unterhaltung zu suchen.

Der Vater verwendete den Morgen zur Besorgung der nöthigsten Correspondenzen und Rechnungen; die Mutter gab sich in der Küche zu schaffen, und änderte Manches im Hause zu besserer Wohnlichkeit; die Großmutter stand ihr bei in dem Geschäfte, rathend und nachhelfend; die Tante beschäftigte sich mit den beiden Mädchen; der Großvater saß geruhig am Fenster oder erhob sich wohl auch, das Thun und Treiben der Leute zu beschauen; der Onkel endlich war, trotz des schlimmen Wetters, hinausgegangen, und trieb sich im Dorfe und im Freien umher mit den beiden Knaben.

Als die Familie gegen Mittag wieder vereinigt war (die Kinder spielten noch vor Tisch auf dem geräumigen Söller), da nahm der Vater das [3] Wort, und sprach: »Der heutige unfreundliche Morgen hat uns alle gemahnt, daß wir bei unserm längern Landaufenthalte, wollen wir uns nicht mitunter der bösen Langweile bloß stellen, wohl noch auf andere Unterhaltung denken müssen, als welche uns die Natur gewähren kann; denn obgleich übrigens ein stilles, ruhiges Beisammenwohnen einer Familie, wie die unsrige, für sich schon behaglich und gemüthlich genug ist, so will doch auch der Geist seine angemessene Beschäftigung, und er findet sie zumeist in einer bestimmten Aufgabe und in einer freiwilligen Beschränkung innerhalb eines gegebenen Spielraums. Nun haben die Frauen, vor unserer Abreise, uns Männern die schwere Verbindlichkeit auferlegt, daß wir keine Bücher mitnehmen sollen in die ländliche Einsamkeit, und damit so recht den Nerv unsers geistigen Lebens durchschnitten; wogegen sie freilich aber auch das ungeheure Versprechen gethan und gehalten, daß sie keine Schachteln in den Wagen mitnehmen wollten, mit Zier- und anderm Unrath; was denn freilich ihnen große Resignation gekostet hat.«

Die Mutter unterbrach ihn, und bemerkte lächelnd: »die Uebereinkunft sey von beiden Seiten mit gleich schweren Opfern geschehen, da der Männer [4] Lectüre doch auch gewöhnlich nur als solcher Zier- und Unrath anzusehen sey.«

»Um nun die freiwillige Einbuße dieses Zier- und andern Unraths wo möglich zu ersetzen – fuhr der Vater fort – möge denn folgender Rath erwoben und angenommen werden. Da wir doch zunächst der Kinder wegen, und um ihnen Erheiterung und Erholung zu verschaffen, die Stadt verlassen und das Land aufgesucht haben, so wollen wir auch vor Allem darauf bedacht seyn, daß wir diesen unsern Lieben recht viel Angenehmes bereiten, nebst allem nur möglichen Nützlichen. Und darum mache ich den Vorschlag, der auch gewiß euren Beifall erhalten wird: daß wir jeden Tag, oder doch so oft, als es Umstände erlauben und Neigungen einladen, eine Stunde ausschließlich ihrer Unterhaltung widmen, und mit angemessenen Vorträgen und andern, Geist und Herz anregenden, ernsten und heitern Mittheilungen sie erfreuen.«

»Diesen Fall habe sie voraus gesehen – sagte die Tante – und darum habe sie ja eben in Ansehung der jugendschriften Nachsicht empfohlen und Ausnahme hingerathen, um der Kinder willen.«

»Damit sie nämlich – neckte der Onkel – auch einige Nachsicht und Ausnahme hätte erlangen mögen in Ansehung einer und der andern Schachtel.«

[5] »Das Vorlesen aus Büchern, Kindern gegenüber – sagte der Großvater – erscheint mir so unnatürlich und wirkungslos zu seyn, wie eine abgelesene Predigt vor einer Dorfgemeinde. Das Volk und die Kinder wollen das lebendige Wort haben; sie wollen Aug' in Aug', Mund an Mund genießen; und an ihre Herzen geht nur, was von Herzen (par cœur) geht.

Mir wenigstens – sagte die Großmutter – kommt nichts unnatürlicher und verkehrter vor, als z.B. ein Mährchen, das vorgelesen wird. Wie es entstanden, so soll es auch fortgeleitet werden, als lebendige Sage. Die Frucht schmeckt am besten, wenn sie frisch vom Baume gepflückt wird. Ein niedergeschriebenes und vorgelesenes Mährchen erscheint mir wie ein Schmetterling, unter Glas und Rahmen gefaßt. Lieber schau' ich ihn, wie er sich regt und bewegt auf Blumenkelchen, in den Lüften.«

»Und so ist es denn meine Meinung und mein Vorschlag – fuhr der Vater fort – es sollte jedes von uns, abwechselungsweise und zu festgesetzter Stunde, irgend eine Legende, ein Mährchen, eine Volkssage, oder sonst eine Erzählung mittheilen, die für die Kinder unterhaltend und belehrend, und auch für uns Große immerhin noch anziehend genug wäre. Den letztern Punkt dürfte man, wohlgemerkt! [6] nicht aus dem Auge verlieren, damit man nicht Gefahr laufe, daß das Kindliche ins Kindische ausarte. Und ich glaube auch, daß dieser Forderung zu genügen sey. Denn gleichwie unser Umgang mit Kindern nicht nur nicht störend wirkt für sie und uns, sondern im Gegentheil recht sehr fördernd und jede herzliche Annäherung und geistige Erkräftigung anregend: also muß es auch, dünkt mich, eine Sprache, eine Auffassung und Darstellung der Gegenstände geben, welche Jung und Alt gleichmäßig anziehet und befriediget; wie denn in der That die echte Einfalt weise, und die echte Weish it einfältig ist.«

Die Tante bemerkte scherzend, daß dieß doch kaum möglich sey, zumal im Angesicht der Männer, deren Schul- und Weltweisheit zu eng und zu weit sey, um das rechte Maß zu erkennen und anzuerkennen.

»Das sey unsere Sorge – erwiederte der Onkel – an mir wenigstens soll es nicht fehlen, daß der kritische Maßstab richtig gehandhabt werde; und ich werde es jederzeit zu rügen wissen, wenn z.B. die Einfalt gar zu einfältig, oder die Weisheit gar zu naseweis erscheinen würde.«

»Weil nun aber ich es war, der diesen Vorschlag gemacht hat – sagte der Vater – so ziemt es sich[7] wohl, daß ich mit gutem Beispiele voraus gehe, und sohin gleich heute Abends mit einer solchen Unterhaltung beginne, die auch, ihres frommen Inhaltes wegen, dem Tage des Herrn, den wir morgen feiern werden, als vorbereitende Erbauung angemessen seyn sollte. Auch in Ansehung der Form wird die Erzählung genügen, und (setzte er lächelnd hinzu) ihr Uebrigen mögt nur geradezu ein Muster daran nehmen, wie man zu Kindern sprechen soll.«

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 1. Ferien-Reise. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-14D0-1