Das Zeisignest.
Eine Erzählung.

Ein Greis von mehr als hundert Jahren
War in Geschichten sehr erfahren.
Ihm folgte stets ein Chor von jungen Hirten nach,
Zu hören, was der alte Schäfer sprach.
Er wußte rechte Wunderdinge,
Und diese that sein unverdross'ner Mund
Der unerfahrnen Jugend kund.
Einst sprach er von dem Zauberringe,
Durch dessen Kraft einmal ein Hirt,
Wie jetzo noch erzählet wird,
Sich, wenn er wollt', unsichtbar machte
Und ein Geheimniß oft erfuhr,
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Das mancher Schäfer in der Flur
Noch so geheim zu halten dachte.
Dies höreten sie mit Verwund'rung an,
Und jeder wünschte sich den Ring, der es gethan.
Hier ging es eifrig an ein Fragen:
Worinnen stak denn seine Kraft?
Ein schlechter Ring hat nicht die Eigenschaft.
Der alte Schäfer sprach: ich will euch alles sagen,
Dies wirkte ganz allein
Des Zauberringes selt'ner Stein.
Wie manche Kunst ist uns versteckt,
Und schlichten Thieren nur entdeckt!
Der Zeisig baut ein Nest und flicht stets einen Stein
Von dieser Wunderkraft in Reiß und Moos mit ein.
Dies ist ihm von Natur gelehret,
Damit man seine Brut nicht findet und nicht störet.
Er baut in keinem Baum, als der am Wasser steht.
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Doch ist kein Nest zu sehen,
Es müßte denn im Schatten dieses Baums geschehen.
Nun sagt man, daß ein solcher Stein
In jenem Ringe soll gewesen sein.
Dies hört und merkte sich der junge Damaren.
Ein Zeisignest einst zu entdecken,
Kann, dacht' er, dir gar leicht von Statten gehn.
Er ließ sich keine Mühe schrecken,
Und weil sein Vorsatz wichtig war,
So macht er ihn Niemandem offenbar:
So, daß nur Chloris darum wußte,
Die ihm oft suchen helfen mußte.
Kein Ort, wo nur ein Baum am Wasser stand,
War diesen beiden unbekannt.
Sie red'ten ab, daß er im Schatten suchen wollte,
Sie aber nach dem Neste steigen sollte.
Einst sah er einen Baum, von dem ein Zeisig flog,
Der in dem Bache sich den Kropf voll Wasser zog
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Und wieder auf den Baum zurücke kehrte,
Wo er vielleicht die junge Brut ernährte.
Hier, schrie er, muß das Nest von diesem Vogel sein!
Sie steigt hinauf, und er sah in den Bach hinein.
Doch wäre dies mit mir geschehen,
So hätt' ich ganz gewiß wo anders hin gesehen.
Im Schatten sah er was, das einem Neste glich,
Und war bereits für Freuden außer sich.
Greif, ruft er, und sie griff. Das Bild verschwand im Schatten.
Weil sie drei Blätter traf, die es gezeuget hatten.
Er aber meinete, sie hätte schon das Nest,
D'rum lief er eilig zu und rufte: halt' es fest.
Allein sie schwur bei allen Göttern,
Es wäre weiter nichts, als ein Betrug von Blättern.
Jedoch der Argwohn gab dem jungen Schäfer ein,
Es könnte Chloris leicht zu eigennützig sein;
Und aus Verlangen nach dem Steine
Behielte sie wohl gar das Nest für sich alleine.
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D'rum gab er ihr aus Ungeduld
Den allergrößten Undank schuld.
Gut, sagt er, bist du so gesinnt?
Ist dies der Lohn, den man von mir gewinnt?
Werd' ich dir künftig wieder glauben,
So fresse mir der Marder meine Tauben!
So soll der Wolf mir gleich die halbe Heerde rauben!
Die junge Schäferin, die ohne Falschheit war,
Macht ihm durch einen Eid noch einmal offenbar,
Daß er sie ohne Grund verdächte.
Doch weil sie sah, daß dies ihm nur mehr Argwohn brächte,
So wurde sie des Vorwurfs satt,
Und fing aus Eifer an, die Nester zu verfluchen.
Damit du siehst, ob dich mein Mund belogen hat,
So kannst du selbst bei mir nach deinem Neste suchen.
Den Vorschlag nahm der Schäfer an.
Ich hätte dieses auch gethan,
Und schwöre, wenn ich so die Nester suchen sollte,
Daß ich sie hurtig finden wollte.
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Sie hielt den oft verweg'nen Händen still.
Er suchte, doch umsonst, er kriegt kein Nest zu fassen.
Ja, sprach er, darf ich auch wohl suchen, wo ich will?
Die Unschuld konnte dies gar leicht geschehen lassen.
Er griff, wohin? Die schönen Oerter
Verlören ihren Werth durch die bekannten Wörter.
Jedoch, damit ich's kurz erzähle,
Wer dahin greift, wohin er griff,
Der greift dem Mädchen an die Seele.
Ob es der Chloris weh gethan,
Das weiß ich nicht. Genug, sie fing zu lachen an.
Dies Zeugniß hielt er für das größte,
D'rum fühlt er noch einmal nach dem vermeinten Neste.
Gelt! sprach er, endlich hat doch meine Hand entdeckt,
Was Chloris mir mit so viel List versteckt?
Das arme Mädchen schwur, daß es das Nest nicht wäre;
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Er aber sagte höhnisch: Nein,
Ich will der Luft nicht würdig sein,
Wenn ich mich länger noch an deine Worte kehre.
Es wäre nicht das Nest? Du machest mir nichts weiß.
Die Hand belügt mich nicht, ich fühle ja das Reiß.
Mit Worten war er hier nicht abzuspeisen.
Er drang darauf, ihm das, was er gefühlt, zu weisen.
Was sollte Chloris tun? Mir fällt kein Mittel ein,
Denn einmal mußte sie vom Argwohn sich befrein.
Verzeiht es ihr darum, ihr Schönen,
Sie wies es endlich Damarenen.
Wie unaussprechlich war nicht dieses Schäfers Freude!
Er schrie: o Wundernest! o seltsames Gebäude!
Doch Chloris wandte wieder ein:
Du irrst; wär' es das Nest, wie könnt' es sichtbar sein?
Er aber sprach: Du hast den Stein,
Weil du so freventlich geschworen,
Aus Unvorsichtigkeit verloren.
Auf einmal fing er an, die Augen zu verdrehn,
Und vor dem Neste blieb er taumelnd kaum noch stehn.
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Ihr forschet, was ihm widerfahren?
Wer's nicht erraten kann, dem will ich's offenbaren.
Auf's Gold kann Midas selbst nicht so begierig sein,
Als Damaren jetzt auf den Zeisigstein.
Ihr Götter! seufzt er unbedächtig,
Seid ihr, wie man es glaubt, so mächtig,
So müßt' ihr meiner Hand die selt'ne Kraft verleihn,
Ein jedes Ding, das ich ergreife,
Verwandle sich und sei ein solcher Zauberstein.
Hier mocht' er sich vielleicht wohin gegriffen haben,
D'rum fühlt er ganz bestürzt der Götter schnelle Gaben.
Er fühlte zwar, was er sonst auch gefühlt,
Doch wer mit Zaubereien spielt,
Der fürchtet sich, so wahr ich jetzt die Wahrheit schreibe,
Sehr oft vor seinem eignen Leibe.
Der arme Schäfer härmte sich
Er schrie: Der Götter Zorn straft und versteinert mich.
Die Angst gab seiner Schwachheit Stärke.
Er eilete getrost mit seinem Wunderwerke
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Zum leeren Zeisigneste hin.
Hier, Chloris, laß ich dir alleine,
Rief er, das Nest mit sammt dem Steine.
Doch, wo ich recht belehrtet bin,
So sprach die Nymphe trotzig: Du!
Und hielt mit ihrer Hand das kleine Nestchen zu.
Wie aber ging es denn dem kranken Damaren?
Ließ ihn die Schäferin ganz ohne Mitleid stehn?
Kein Mensch soll seinen Feind in Noth und Elend hassen,
Und ohne sie war Damaren verlassen.
D'rum wollte sie nicht unbarmherzig heißen,
Sie suchete vielmehr mit eigner Hand
Dem Schäfer, der so kläglich vor ihr stand,
Den Stein vom Leibe wegzureißen.
Doch mußt' auch dies vergebens sein!
Je mehr die Nymphe riß, je härter war der Stein.
Zuletzt nahm sie sich recht des armen Schäfers an
Und tat weit mehr an ihm, als eine Mutter kann.
Kurz, diese Hilfe war die beste.
Der Zauberstein verschwand nicht eher, als im Neste.
[92]
Ich sollte zwar die Kunst der schönen Nymphe loben;
Allein die Krankheit war nicht ganz und gar behoben;
Wenn Damaren hernach nur seine Chloris sah,
War die Versteinerung auch immer wieder da.

J[ohann] C[hristoph] Rost.

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TextGrid Repository (2011). Anonym. Gedichte. Nuditäten oder Fantasien auf der Venusgeige. Das Zeisignest. Das Zeisignest. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DF2B-7