Zyklus »Sanatorium I.«

Der einsame Park

Im Parke waren Sträucher wie Bergsträucher im Bergsturm mit ganz verbogenen und zusammengebogenen Zweigen. Die Blüten dufteten wie Bergblüten in unzugänglichen Geklüften, zart und von einer andern Erde geboren, geheimnisvoll infolge von Verfeinerungen. Daneben hing in einem Käfig die Turteltaube des Knaben Hans Otto Erik, des einzigen gesunden Menschen im Parke. Und selbst von ihm sagte seine bleiche reizende französische Gouvernante:

»C'est un enfant mélancolique. Il a des regards pour moi comme si j'etais une princesse de France. Il a toujours peur qu'on ne me traite pas comme son cœur tendre me traite dans chaque minute. Je crois qu'il haït tous les gens qui ne se prosternent pas devant moi. Quand il m'apporte une chaise du jardin, c'est comme le fiancé l'apporterait à sa bien aimée. Je crois qu'il est par trop malheureux que je suis bonne et servante. C'est un enfant mélancolique. – – Il voit déjà que le monde est autrement qu'un cœur tendre le commande. Je voudrais lui dire: Otto Erik, on mepaye pour mes services! mais il ne comprendra rien de toutes ces choses, comme si on dirait à un poète que le monde entier est une grande affaire de bourse –«


Der alte Fürst hat sich mit der Weltordnung leichter abgefunden; denn wenn er beim Spaziergange [219] mit der flachen Hand jeden Baumstamm berührt, ist er bereits glücklich und zufrieden.

Die »Königin«, welche niemals eine Königin war, kniet vor dem abgeschlagenen Mandelbaum nieder und betet für sein Schicksal, daß er wieder wachse. Pflanzen und Vögel sind ihre Domäne, und wenn der Dachdecker das Dach ausbessert, beschimpft sie ihn wegen der gestörten Vogelnester. Über die Menschen hat sie keine Herrschaft, aber Pflanzen und Tiere müssen es sich gefallen lassen, daß sie sich ihrer wie eine Schutzgöttin annimmt.

Dem jungen Fräulein ist der erste Kuß unter einer Gaslaterne ins Gehirn gestiegen, und indem sie alle eventuellen schrecklichen Ereignisse vorausahnt, fürchtet sie sie und sucht sie zugleich auf. So flieht sie vor sich selbst in der Todesangst, sich einmal zu

finden und in diesem Augenblicke für ewig sich zu verlieren – – –

Der Baron blickt durch sein Schildkrotmonocle kalt und hart auf den Irrsinn der Welt. Er denkt:

»Idealisten und Träumer, Religionsstifter und Weltbeglücker, was quält Ihr euch ab, um diese Herde von Milliarden blökender Schafe, die euch nie verstehen werden und von euch nichts profitieren als einen öden Religionskultus! Meine alte Wirtschafterin stopft mir meine Zigaretten und meine Strümpfe, und die Probleme der Welt sind mir nichts, je tiefer ich sie erkannt habe! Bismarck hat Deutschland geeinigt – aber China, Japan und Amerika können dieses Werk in wenigen Monaten zunichte machen! Jeder Mensch baut sich sein Nestchen. Daß ich mir keines baue, ist meine tiefste Größe! Ich lache über [220] nichts, ich weine über nichts und nichts kann mich rühren. Ich sehe nur die schauerliche Herrschaft der Unvollkommenheiten in allem und in jedem! Da putze ich mir dann mein Schildkrotmonocle und lasse die Leute über meinen angeblich komplizierten Charakter sich ihre Köpfe zerbrechen. Vielleicht habe ich dann doch den Rebbach, daß irgend jemand mich für eine nicht ganz unbedeutende Persönlichkeit hält. Das bin ich in der Tat, denn die andern nehmen die Dinge des Lebens blöd ernst, während ich sie weise lächerlich finde!«

Der Dichter allein in diesem einsamen Park nimmt die Leiden der Menschen religiös und ernst, und indem er weder sich noch ihnen helfen kann, erlebt er die Martyrien der Gefolterten und der Gekreuzigten. Ihm fehlt sowohl der Wahn als der Skeptizismus, und er geht an der Hoffnung und an der Hoffnungslosigkeit in gleicher Weise schmählich zugrunde!


Der Dichter küßte jedesmal beim Abschied den Knaben Hans Otto Erik auf die Stirn, und dieser machte dabei ein verlegenes und geschmeicheltes Gesicht.

»Mademoiselle, pourquoi ce monsieur m'embrasse-t-il toujours si tendrement sur le front avant de partir?«

»C'est un poète, mon enfant, c'est à dire il voit en toi des choses que personne ne voit que Dieu et peut-être ta petite gouvernante –«


Die Besitzerin des Parkes hatte ihre edlen Kräfte ausgegeben in Gattenliebe und Kindersegen. Oft [221] dachte sie an ihre süße Achtzehnjährigkeit, da ihr wie einem braunen Engel im weißen Mousselinekleid die goldenen Tore des Lebens weit offen standen. Was sah sie da alles, und was sah sie da alles nicht! Aber jetzt sagte sie: »Ich lasse mich nie mit meinen beiden Knaben photographieren. Es ist, wie wenn man lichte Blüten mit ihren dunklen schweren Wurzeln, an denen düstere Erdklumpen hängen, voll Kraft und unbekannten Salzen mitphotographierte. Lassen wir die Wurzeln versteckt im Erdreich, und wenn es jemand ahnt, so wollen wir ihm dankbar sein und ihm einen verständnisvollen Blick geben!«

Aber der Dichter blickte sie an und sagte: »Gnädige Frau, eine adelige Frauenseele altert nie! Sie verjüngt sich, aber niemand merkt es. Die Stunden der Nacht, in denen sie keinen Schlaf mehr findet, die allein wissen davon zu erzählen.« –

Während dieses Gespräches ging der alte Fürst mit seinen eiligen Schritten vorüber und berührte mit seinen Händen flüchtig jeden erreichbaren Baumstamm. Damit waren für ihn alle geheimnisvollen Rätsel des Lebens gelöst, und eine seltene Ruhe kam über ihn infolge seiner segensreichen Tätigkeit – –

[222]

Besuch im einsamen Park

Wie wenn die müde Seele noch einmal auf längst gesprungenen Saiten ihre begeisterten Klagen singen müßte, so ist es, wenn du zu mir kommst, Helene N.!

Der Alltag weicht da wie ein böser Zauber, der uns gefangen hielt, in einem Leben, das nicht die Stunde wert ist, die es bringt! Man lebt dem Tod entgegen!

Das alte Zauberreich von melancholischen Zärtlichkeiten erblüht, und der fade Park wird zum mysteriösen Urwald, wenn dein geliebter Schritt die alten Wege wandelt – – –.

Dein Sprechen wird wieder zu Musik, der Hauch des Atems wird wieder zum Wehen von Frühlings-Gebirgs-Almen mit Kohlröschen und Seidelbast!

Dein Sitzen beglückt und dein Stehen und dein Wandeln – – –.

Alles, was dich unglücklich macht, ist zugleichmein Unglück, und deine Klage trifft ein exaltiertes Bruderherz;

Indem ich leide und dir die Last abnehme unverstandenen Kummers,

Jauchzt meine Seele, daß sie mit dir leiden darf!

Ich möchte dich ins Zauberreich entführen,

Wo du mein Kindchen wirst, gewiegt, getragen, beschützt, in überzärtlichen Armen, an für dich beben dem Herzen – – –

Weg von den Ungetümen »Menschen«, die dich mit ihrem feigen Irrsinn morden!

Bist du denn ein Distelstrauch am Wege, ein Unkraut [223] oder Brennesselgebüsch?! Bist du dem Tritt des schweren frechen Fußes ausgesetzt?!

Bist du nicht eine zarte Blüte Gottes, die behütet werden muß vor jedem rohen Hauche?!

Bist du nicht die, die unser totes Herz zum Leben wiederbringt,

Und deren zarte Gliederpracht aus unserm glotzend stieren Fischaug' ein gerührtes Künstlerauge wieder zaubert?!?

In welche Welt bin ich geraten, pfui!? Wo alles sich in schnöder Ordnung abraspelt!?

Du bist die andere! Anders wie die anderen!

Wie Ambrosia anders war als Rumpsteak mit Salat!

Göttliche Kräfte bringst du, ohne es zu wissen!

Und pflichtlos sinken wir zu deinen Füßen hin! Nur eine Pflicht erkennend, vor dir hinzuknien!

Das zugeschnittene Maß, das alle fördert, ist unsverächtlich und vergiftet uns!

Der ekle Friede sorgenlosen Daseins macht unsere Kräfte stocken und vertrocknen – – –.

Wir müssen brennen, glühen und vergehen!

Und unsere innere Träne, wenn du beim Scheiden uns ruhig die Hand reichst,

Macht uns erst wieder leben, leiden und verzweifeln,

Und auf eine Stunde hoffen, da du, Gebenedeite, wiederkehrst! Für diese Stunde leben wir in Not!

Die da sind, morden uns;

Doch die da kommen, um von uns zu scheiden, bringen uns das Glück des abgrundtiefen Seelenschmerzes wieder!

[224] Wir wollen rauschen, brausen und zerschäumen!

Des Lebens eingedämmte Ordnung ist unser heimtückischer Feind, für dumpfes Erdenleben ganz geeignet, das unter der feigen Maske der Rettung nur lahmlegt und vernichtet und vorzeitigem Tod entgegentreibt – – –.

Helene N., komme, auf daß ich hundert Stunden lang in Fieberzehrung dich erwarten könne – – –.

In Fieber mich verzehren ist mein Leben!

Und scheide von mir, auf daß ich tausend Stunden dir nachtrauern könne – – –.

Mein Geist lebt nicht vom Sein, das lahm macht und gebrechlich – – –;

Mein Geist lebt nur von Hoffen und Verzweifeln!

Du kamst, Helene N., und alles ward belebt und blühte auf – – –.

Du gingst und Trauerflore hingen über der dunklen ausgestorbenen Welt – – –.

Die Welt der Pflichten ist vielleicht gesünder und fördert manches Wertvolle in kleinem Kreise – –;

Wir aber wollen lieber an unseren inneren Symphonien elend scheitern! Des Alltags Werkelton mordet uns ebenso, nur langsamer und qualvoller – – –. Wie stumpfe Messer gegen scharfe Klingen!

Der Folter wollen wir entgehn des leeren Lebens, das unseren Organen ihre Kraft entzieht;

Und in der Schlacht trifft rücksichtsvoller uns der Tod und herrlich plötzlicher,

Als vorbereitet zu jeder Stunde eines Lebens, das weniger als nichts für uns bedeutet!

Helene N., komm wieder in den Park, [225] Wo Irre ihre irren Träume träumen – – –.

Du wirst hier doch vielleicht mehr Menschlichkeiten finden,

Als in der Welt, die sich frech-fälschlich für dienormale hält!!!

[226]

Abendspaziergang

Man hat mir von der geehrten Direktion aus einen ausnahmsweisen Ausgang erlaubt aus den rostroten Ziegelmauern des Sanatoriums, von 6 bis 7 Uhr abends. Es war noch sehr schwül, aber man ahnte bereits an gewissen Wiesendüften und Lufthauchen die Segnungen des anbrechenden Abends.

Der Haushüter schloß auf mit einer Miene, die besagte: »Mir kann's schließlich egal sein, ob der Kerl sich irgendwo auf die Schienen legt. Westbahn, Südbahn, Verbindungsbahn, vor rasende Automobile, oder ob er brav zurückkommt.«

Ich betrat die staubgraue graustaubige Dorfstraße. Überall Frieden und Gesundheit, inmitten von Armseligkeit, Trostlosigkeit und Wiesen, die es zu nichts bringen konnten wegen Staub.

Da erblickte ich die elfjährige braungebrannte Schusterstochter, der ich einen Blick voll Freundschaft und Verehrung gab. Sie erwiderte: »Ich lebe hinter Kerkermauern, ich habe jetzt zum erstenmal einen menschlich-warmen Blick empfangen – – –.« Das sagte sie mit ihren edlen sanften Augen, aber deutlicher als mit Worten, die überhaupt nichts besagen!

Dann sah ich in einem Hochparterrefenster die herrliche Fünfzehnjährige, Fräulein L. Ich sagte zu ihr: »Wissen Sie es bereits, daß alle Männer feig, niederträchtig, heimtückisch und nachsichtslose Mordgesellen sind an solchen Schönheiten wie Sie?!?«

»Ich weiß es«, erwiderte sie mit ihren wunderbaren Augen.

[227] »Ich bin vorläufig eine erstehenswerte preiswürdige Ware. Aber ich werde mir meinen schändlichen feigen Käufer wenigstens gut aussuchen – –.«

Ich erwiderte: »Amen – – –.«

Dann traf ich Frau S. Sie hatte alles, alles bereits hinter sich, und ging zwischen den verstaubten Wiesen spazieren. Sie sagte: »Ich kann gar nicht in diese vielen Fenster blicken, hinter denen die dumme Jugend die Märchenwelt erwartet. Ich möchte sie alle abstechen wie Gänse, um ihnen die langjährigen Martyrien zu ersparen. Wir alle, die wir da sind, sind Dichterinnen; aber die Männer spekulieren an der Börse des Lebens. Wir haben ewig so viel Hoffnung und Dankbarkeit in uns, zu weinen für eine besonders schöne Stunde.«

Da ging die Fünfzehnjährige vorüber, mit ihren Träumen und Schäumen und einem neuen Hut aus Wien. Die Dame sah, daß ich sie unbeschreiblich liebevoll anblickte, anstarrte. Da sagte sie: »Recht so! Vielleicht wird dann der frech-begehrende-zerstörende-infame Blick der anderen Männer keinen solchen Eindruck mehr auf sie machen – – –.« Sie ging weiter zwischen den verstaubten Wiesen.

Ich kam an der Straße an einem verstaubten Heiligenbilde vorbei, das wie aus hellgrauem Ton von einem unmündigen Kinde blöd-ungeschickt hergestellt aussah – – –. Da sagte ich innerlich zu dem Heiligen: »Wer du auch seist, verleihe dieser süßen Fünfzehnjährigen die Erfahrungen der Dame auf den verstaubten Wiesenwegen und meine eigenen – – –!«

Ein Schriftsteller älteren Datums würde nun [228] schreiben: »Da sah mich der hellgraue, verstaubte Heilige an der Dorfstraße so merkwürdig an, so gewissermaßen gnädig verständnisvoll – – –.« Aber mein moderner Impressionismus, romantischer Idealismus, zwingt mich, mitzuteilen, daß das Antlitz des Heiligen ganz unverändert blieb, wie wenn man selbst von ihm diesmal etwas völlig und gänzlich Unmögliches verlangt, erbeten hätte – – –.

Die Fünfzehnjährige ging unbeschreiblich elastischen, geflügelten Schrittes die staubgraue graustaubige Dorfstraße hinab. Sie wußte es, sie könne einen jeden haben, den sie nur wolle. Aber wen sie von allen diesen wollen solle, das, das wußte sie nicht!

[229]

Krankenbesuch in I.

»Du, wir müssen doch einmal, liebe Erna, den kranken Peter aufsuchen. Denk' mal, der K. war schon draußen, der W. und sogar diese ganz unbewegliche und schändlich egoistische B., die da seitdem ein langes und breites erzählt über seine Leiden, die sie weniger interessieren als ein Souper avec ... im ›Schwedischen Pavillon‹. Man kann da nicht zurückbleiben – – –.«

»Ja, aber die Fahrt ist so unbequem und umständlich. Und dann ein Sanatorium – schließlich hat man ja doch auch seine Nerven und ist nicht gewöhnt daran, einen frechen Drahrer als verblödeten Melancholiker wiederzusehen – – –.«

»Ich habe eine Idee. Wir nehmen ein Automobil für die Hinterbrühl, lassen in I. eine Stunde warten und fahren dann weiter zu Baron T. – – –.«

»Ich bin einverstanden. Nur darf er es nie erfahren, daß wir bei ihm nur kurzen Halt gemacht haben – – –.«

»Selbstverständlich wird er das nie erfahren –.«

Zärtlichste Begrüßung in I.

»Nun, Peter, was sagst du, eigens für diesen staubigen Weg auf der Landstraße ein Automobil gemietet, um dich aufzusuchen. Sind wir Freunde?! No, siehst du, da beklagst du dich immer. Das ist bei dir schon ein krankhafter Zustand von Verfolgungswahn geworden!«

Nach einiger Zeit entfernt sich P.A., geht zum Chauffeur, gibt ihm 5 Kronen.

»Für die Mühe des Wartens – – –.«

[230] »Aber bitte, bitte, das wär' ja gar nicht notwendig – – –.«

»Sie, sagen Sie, fahren Sie heute noch weiter?!«

»Nur bis in die Hinterbrühl in die Villa des Baron T. In I. hab' ich nur eine Stund' zu halten wegen einem Besuch – – –.«

P.A., zurückkommend:»Meine Herrschaften, ich bin so leidend, daß ich mich momentan ins Bett legen muß. Gerade heute doppelt bedauerlich, aber der Arzt verlangt es – – –.«

»Mein liebster P.A., lassen Sie sich ja in nichts stören, das wäre unverantwortlich von uns. Wir fahren einfach in die Stadt zurück. Begleiten Sie uns nicht hinaus, gehen Sie schön in ihr Betterl und ruhen Sie sich aus – – –.«

P.A., beim Abschiede: »He, ich lasse in der Hinterbruhl den Baron T. und seine Leute unbekannterweise grüßen, sie werden mich dem Namen nach gewiß kennen – – –.«

[231]

Medizin

Alles in diesem einsamen Park ist doch so lächerlich, blöd und verlogen.

Da kam die Schwester der Direktorin mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Ella. Alles verschwand und starb dahin. Selbst meine schwere Krankheit zog sich zurück, überließ diskret ihre Seufzer dem Rauschen meiner Seele!

Gelb war ihr Teint wie das Fell einer gelben Katze, aschblond ihre dichten Haare. Sie hatte die breite Stirne Goethes und den weiten Beethovenschädel. Ihre Hände aber waren das Wunderwerk der Welt. Gelb, zart, schmal, abgegliedert, und die Nägel wunderbar.

»Ihre Tochter bedarf keiner Maniküre,« sagte ich zu der Mutter, »die Natur hat das genial selbst besorgt – – –.«

»Oh, meine Tochter bedarf keiner künstlichen Mittel, Gott sei es gedankt – – –!«

Meine Krankheit verflüchtigte sich. Die Ärzte schrieben es auf ihr Konto, besonders auf Injektionen und Lezithin. Aber das war alles schamloser Mumpitz. Die gelben, zarten, schmalen, feingegliederten Hände und Finger, die wundervollen Nägel der E.S. bewirkten es. Ich blickte auf diese Hände, wenn sie neben mir saß, ich blickte auf diese Hände, wenn sie Messer und Gabel hielten, ich blickte auf diese Hände, wenn sie den Henkel der Teeschale hielten, ich blickte auf diese Hände, wenn sie die zarten Rohrstäbe des »Diabolo« schwangen. Immer immer, immer blickte ich auf diese gelben, zarten, [232] schmalen, langen, adeligen Hände und Finger und diese von Mutter Natur ideal manikürten Fingernägel. Und die Herren Ärzte fanden, daß die Injektionen und das Lezithin merkwürdige Besserungen in meinem Allgemeinbefinden hervorriefen.

»Sehen Sie, Sie Skeptiker, auch Sie müssen uns doch schließlich recht geben – – –.«

»Ich glaube es jetzt fast schon selbst«, erwiderte ich demütig.

E.S. reiste ab. Ich sagte zu ihr:

»Ich bin krank und alt, darf ich mir eine Gnade erbitten?!?«

»Was wünschen Sie von mir?!?«

»Ihre Hand zum Abschiede küssen zu dürfen!«

»Ein Händedruck wird genügen – – –.«

Einige Tage später sagten die Ärzte: »Die Mittel stumpfen sich ab, wir werden neue versuchen müssen, P.A. verfällt uns seit einigen Tagen.«

Das Fräulein dachte: »Vielleicht hätte ich mir doch die Hände küssen lassen sollen von ihm. Ich glaube, es war sehr arrogant von mir. Wer weiß, ob sich sobald wieder eine solche Gelegenheit findet – – –.«

[233]

Eine ganz wahrhaftige Beziehung

Sie saß an einem riesigen Parterrefenster, das fast den Boden der staubigen grauen elenden Dorfstraße berührte und nähte an einer schönen blinkenden Nähmaschine Blusen von morgens bis abends. Ihre Augen hatten einen Ausdruck von Verzweiflung. Aber sie selbst wußte nichts davon. Sie nähte, nähte und nähte. Sie war ganz mager, ungeeignet für den Sturm des Daseins, der Seelen und Körper rüttelt und hinwegfegt. Abends aß sie das kalte Gemüse vom Mittagstische. Das sah ich alles durch das riesige Parterrefenster hindurch und sie sah, daß ich alles sah.

Eines Abends stand sie vor dem Haustore, so angelehnt. Da sagte sie: »Ich habe eine Stellung angenommen in Mariahilf in einer Blusenfabrik, ich werde nicht mehr privat arbeiten müssen in diesem einsamen Zimmer.«

Da dachte ich: »Dorfstraße, Dorfstraße, du hast deinen Glanz, du hast deinen Reichtum eingebüßt!«

»Man muß sich seine Lage verbessern, nicht wahr?!« sagte sie. »Ich habe Sie übrigens immer an meinem Fenster vorübergehen gesehen, dreimal des Tages. Dreimal des Tages sind Sie vorübergegangen. Aber in Mariahilf werden 40 Mädchen sein, und man wird plaudern können und arbeiten wie in einem Ameisenhaufen – – –.«

»Sie, Fräulein, ich werde auch dreimal an Ihrem Fenster vorübergehen, wenn Sie nicht mehr dasitzen – – –.«

»Ja, werden Sie das?!? Da werde ich also auch [234] zugleich zu Hause sein, wie früher, in meiner Heimat – – –.«

»Lassen Sie vielleicht Ihre blinkende kleine Nähmaschine am Fenster stehen und dabei eine Ihrer angefangenen Blusen – – –.«

»Ja, bitte, das werde ich – – –.«

Das war die einzige wahrhaftige Beziehung mit einer Frauenseele während meines ganzen ereignisreichen Lebens – – –.

Dorfstraße, graue staubige Dorfstraße, du hast deinen Glanz, du hast deinen Reichtum eingebüßt –.

[235]

Verzehrungssteueramt

Es war ein heißer, staubiger Nachmittag in I. Die Wiesen ächzten vor Staub und die alten Bäume an der Laxenburger Allee; der Liesingbach war grau, braun, lila und stank entsetzlich. Selbst die Hunde lagen matt in den Höfen, statt sich den üblichen sexuellen Orgien hinzugeben, die sie über die Nichtigkeit des Daseins hinüberbringen konnten. Ich bemerke weit und breit nichts Anregendes, Emotionierendes. Selbst den Mäderln bei der »amerikanischen Schaukel« konnte ich nicht für 10 Heller eine Paradiesesfreude verschaffen; denn es war niemand vorhanden, und alles schlief in schattigen Teilen von Wiesen, Höfen und Gärten. Die zwölfjährige herrliche Annerl K. hatte Kopf- und Halsschmerzen, und ich konnte ihr nur ihre Lieblingszuckerln, Obersbonbons, zuschicken. Die wunderbare sechzehnjährige Toni W., mit dem Antlitz einer heiligen ergebenen Dulderin, saß in ihrem fest verschlossenen kühlen Zimmerchen und arbeitete an einer netten Singermaschine eine Bluse für eine Freundin, die Sonntag Ausgang hatte. So ging ich die staubgraue Laxenburger Allee hinauf, bis zum braunen Westbahnstatiönchen, neben dem sich das Verzehrungssteueramt für Favoriten befand. Ich setzte mich auf ein schmales Bänkchen, das um einen der alten verstaubten Riesenbäume geschlungen war und erwartete Verzehrungssteuer-Emotionen oder Sonstiges. Aber alle Hunderte von Automobilen, von denen ich erwartete, sie würden ein wenig rechts hinauf gegen Laxenburg zu fahren, hielten perfiderweise[236] ganz strikte die linke Straßenseite ein, worüber ich allmählich in Empörung geriet. Diese Langweile der Ordnung war eine Gemeinheit, wenn man so wie so schon nur mehr auf exzeptionelle Abenteuer angewiesen ist an einem solchen schrecklichen Nachmittage. Ich hätte gerne jedem Automobil zugerufen: »Fahren Sie links, Sie Trottel, fürchten Sie sich vielleicht vor der Behörde?!?« Aber alle fuhren knapp rechts oder höchstens die Mutigsten in der Mitte, was auch noch nichts zu bedeuten hatte. Hundert Wagen mit mysteriösen Gegenständen unter verstaubten Kautschuktüchern hielten bei dem Verzehrungssteueramte. Immer forschte der Beamte mittels eines eisernen, am Ende gebogenen Stabes nach geschmuggelter Ware. Aber immer sagte er kühl-ruhig;

»Vorwärts!« Und der Kutscher bestieg wieder den Kutschbock mit einem fast geblähten, triumphierend reinen Gewissen. Ich war schon ganz verzweifelt. Kein Betrunkener weit und breit, kein Kinder-Verzahrer, wo es doch so viele lauschige Plätzchen dafür gab – – –. Endlich kam ein kleiner Wagen heran.

»Sie, Kutscher, was san denn dös?!?«

»Dös san Kuttelfleck, Herr Oberinspektor – –.« »Dös seh' i, dös brauchens mir nicht erst zu sagen! Aber was für Kuttelfleck?! Rohe oder gesottene?!?«

»Gesottene, Herr Oberinspektor.«

»Die sind gesotten?!? Das wollen Sie einer Behörde weiß machen?!? Die sind nur in siedendes Wasser eintunkt, und gerade bevor sie sieden wollten, herausgezogen, weil rohe Kuttelflecke der Verzehrungssteuer unterliegen!«

[237] »Herr Oberinspektor, ich tu nur meine Pflicht, ich bin Kutscher im Haus, man hat mir das Wagerl mit ausgesottenen Kuttelflecken verpackt – – –.«

»Nun, auf der Fahrt werden sie bei der Hitze nicht wieder roh geworden sein. Rohes Fleisch muß verzollt werden. Ihr habt es in siedendes Wasser getaucht, damit die Oberfläche gesotten ausschaut. Aber bei uns gibt's keine Oberfläche, wir dringen in den Kern der Sache ein!«

Da kommt der kleine dicke Oberinspektor heraus und sagt: »Was gibt's da langes und breites, was is dös für ein Geschmus?!«

»Herr Oberinspektor, ich habe in diesem Wagen scheinbar gesottene, aber tatsächlich rohe Kuttelflecke vorgefunden – – –.«

Der Oberinspektor wirft einen Blick auf die Ware, wie Billroth, Chrobak, Chwostek auf nicht ganz regelrechte Organe.

»Die Kuttelfleck sind roh; Verzehrungssteuer oder zurück!«

Der Kutscher schwang sich infolgedessen auf den Bock und raste wahrscheinlich viele Wegstunden zurück, da er einer unbesiegbaren Macht entgegenstand.

Ich dachte: »Meiner Ansicht nach sollten Kuttelflecke überhaupt, sei es roh oder ausgesotten, mit einer riesigen hohen Verzehrungssteuer für eine kultivierte Großstadt belegt werden, denn es ist ein fades, geschmackloses Fressen ...«

Einige Tage später sagte mir ein Freund: »Seh'n S' Altenberg, das is halt Ihr Fehler, Sie san halt ein Dichter und außerhalb des Lebens. Kuttelfleck, in [238] den Speisekarten ›Löser‹ benamset, sind geradezu eine Delikatesse. Schauen's solche Sachen sollten S' halt nicht schreiben, davon verstehen Sie nichts. Über die Frauenseele haben Sie wirklich manchmal ganz richtige und sogar aparte Einfälle – – –. Sie sollten sich dafür gerade einsetzen, daß Kuttelflecke auch roh nach Wien gebracht werden dürfen, ohne der Verzehrungssteuer zu unterliegen. A jeder kann net Rebhendeln fressen, mein lieber Herr Dichter. Dös merken's Ihnen!«

[239]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Zyklus »Sanatorium I.«. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DA85-0