Melusine

(Melusine, die Wald-Quell-Nixe, Gattin des Grafen Raimund von Poitier, tauchte von Zeit zu Zeit in ihr ursprüngliches Element, Wasser, zurück, wurde wieder Wald-Quell- Nixe.)


Also erstens hatte er sie wirklich aus Verhältnissen herausgehoben, aus Verhältnissen!? Keinerlei Ordnung gab es jedesfalls. Der war da. Und der war da. Und der war da. Und niemand war da. In nichts kannte sie sich mehr aus, hatte eine riesige Güte, eine süsse Menschenfreundlichkeit, war ganz gerührt über das alles. Was thut man mir an?! Nichts Böses. Voll liebevoller Dinge ist die Welt. Man verstrickt sich. Die anderen sollen entwirren. Zu Duellen sollte es kommen. Zu Aussprachen. Einer soll ausbleiben. Alle. Nein. Ja. Wie wird es werden?! Man sollte so viel rechnen. Aber man ist viel zu träge. Wie ein Thier in der Sommerwärme. O wie gut. Raffe Dich auf. Weshalb?! Wozu?! O Herr S., die wunderschönen Veilchen!? Danke vielmals.«

So lebte sie.

Der Ernst des Lebens aber lautete: »Sie, Fräulein, was kosten diese Chocoladen mit Himbeerfüllung?!«

[229] »Es geht nach Gewicht. Das Deka 10 Kreuzer, mein Herr.«

So lebte sie.

Er aber hob sie heraus.

Bald sagte sie: »Du, diese Bilder sind merkwürdig im ›Pan‹, hübsch und hässlich zugleich.« »Gott, dieses eine ›Studio ‹-Heft hab' ich so gern.« »Du, dieser Meunier, das ist die Arbeit! Die Arbeit. Die Arbeit. Die ganze Arbeit! Aber so die Arbeit!«

Sie genierte sich gar nicht, gab Urtheile, wie wenn man sagte: »Hat es Consequenzen?! Nun also. Es wird ja nicht gedruckt. Und Albert übrigens amüsiert es!«

Ja. Es war die Frau, die er geträumt hatte.

Schlechte fade Schriftsteller würden schreiben:

»Manchmal jedoch, in seltenen Stunden, kam ein gewisser Zug von (von was weiss der Schriftsteller nie) auf ihr süsses Antlitz.«

Nein, niemals kam ein gewisser Zug von dem, was der Schriftsteller nicht weiss, auf ihr Antlitz. Sie lernte einfach zu, ohne es zu wissen; wie der Magen verdaut, ohne sich Rechenschaft zu geben. Sie wuchs in eine zugleich einfachere und zugleich compliciertere Welt von selbst hinein. Wunderbare Reisen machten sie zusammen. Sie war wunderschön. Und viele bedankten sich mit Blicken für das Kunstwerk, welches sie im Hotelsaale für nichts betrachten durften. Immer fühlte sie: »Gott, wie gütig ist Albert. Es scheinen sich viele Gefahren [230] im Leben zu befinden. Aber sie trauen sich an mich einfach nicht heran. Die Ordnung verscheucht sie. Meine, unsere Ordnung.«

Einmal sagte ein Philosoph über sie: »Sie hat verlangsamten Stoffwechsel. Alles ist gut geölt, geschmiert, eines fasst ins andere. Aber der Motor, das Centrum der Bewegungsimpulse ist zu schwächlich. Mehret die latenten Spannkräfte!«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Albert gereizt. »Ueberhaupt, Sie, was wollen Sie damit sagen?!«

»Nichts. Schläft sie genug?«

»Ja.«

»Und sonst – – – – alles in Ordnung?!«

»Ja.«

Einmal sagte der Philosoph: »Nun, ein Krieg ist nichts Wünschenswertes. Dennoch reisst er vieles mit, erzeugt strudelnde Wirbel im Menschenmeere, schwemmt todte schwere Sachen weg, die die Wege verlegen. Marienbader Cur der Menschheitsträgheit. Man zählt die Leichen und weint. Wie angenehm ist es jedoch eigentlich, über Leichen zu weinen. Kriege sind gut. Feige Seelen, was schliesset Ihr Friedensverträge vor der Zeit?! Lasset hinwegschwemmen und sterben – – –! Was blickst Du traurig der Scholle nach, die von dem Sturzbach geschwemmt wird?! Aus der bewegten Kraft spriesst an anderem Ort eine Fichte hervor!«

»Schrecklich sind Philosophen,« fühlte Albert. »Sie kennen die Details nicht und – – –.«

[231] Nein, mein Freund, aber das Wesentliche! Bismarck wusste All-Deutschland! Genug!

»Nun, heute habe ich Professor F. consultiert. Glauben Sie, man wartet auf Sie?!«

Aber es fehlte ihr überhaupt gar nichts. Verlangsamter Stoffwechsel!? Gott, man kann doch nicht immer am Rade sitzen oder Berge kraxeln? Uebrigens, von Albert aus – – –. Die Welt und ihr Gerede waren ihm ziemlich gleichgiltig. Anna soll nur radeln und machen, was sie will.

Einmal sagte der Philosoph: »Ein liebevoller Blick ist soviel werth für den Stoffwechsel des Organismus als 100 Kilometer Radfahrt. Eine sanfte Handberührung jedoch ist einer Tournée bereits gleichzustellen durch Tirol, die Schweiz, Frankreich und Italien!«

Jemand erwiderte: »Sehen Sie, das sind die Gifte!«

Alberts Gattin verstand von dem allem einfach einen Schmarren. Sie sagte: »Immer streiten?! Geh' Albert, Du fällst auf alles hinein.«

Eines Abends brachte das Mädchen von »Cabos« die kleinen Bäckereien für ein Souper. Alberts Gattin kam mit ihr ins Gespräch. Es war ein wunderbar frisches Mädchen. Eine ungeheure Controverse begann wegen Haselnusscrêmefüllung mit Ananas-Glace. So etwas Geschmackloses habe es zu ihren Zeiten nicht gegeben. Erdbeer- oder Himbeerüberzug, wenn man schon will, gut. Aber Ananas?! Das ist [232] ja fade. Wissen Sie, wofür man Ananasgeschmack nimmt?! Für Fondants. Nein, wissen Sie, was mein Höchstes war?! Die »Victorias«. Der Prinz hat immer sagen lassen: »Ein Kilo ›Victoria‹ und das Fräulein Anna soll sie selbst bringen.« Aber das Fräulein Anna hat sie nie gebracht.

»Die ›Victorias‹?! Die haben wir ja auch noch.«

»Die ›Victorias‹?! Haben Sie denn eine Idee, Fräulein, wie unsere »Victorias« waren?! Teigig, ganz teigig, aber doch in Form. Da ist wirklich der Graf B. jeden Vormittag Punkt 11, aber Schlag 11, gekommen und ich habe ihm eingepackt, ohne zu fragen. Dann die »Régence« Aber haben Sie denn eine Idee, wie viel ich von den »Régence« an einem Tag verkauft hab'?! Einmal ist die Frau Baronin D. gekommen, hat gesagt: ›Liebes Kind, ich brauche für heute Abend 500 Stück.‹ Frau Baronin, habe ich gesagt, und wenn sie mir einen Tausender hinlegen, ich kann bis heute Abend 7 Uhr nur 100 Stück liefern. So ist es bei uns zugegangen!«

Lange plauderten sie.

Ganz beschämt über den Geschäftsrückgang schlich das wunderbar frisch aussehende Mädchen von »Cabos« von dannen.

Abends, beim Souper, sagte Albert: »Nun, meine Frau sieht aber heute wirklich famos aus. Keine Spur von –. Direct verjüngt.«

Der Philosoph dachte: »Also auch Du, Anna?! Wer ist der Glückliche, sage?! In welchen Armen [233] fandest Du Verjüngung?! Nie hätte ich Dir die Courage zugemuthet zu dieser Rosscur!«

Aber Alberts Gattin sass friedevoll da und brach langsam ein Petit Fourré auf, um zu sehen, was für süsse Pasta darinnen sei.

[234]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Melusine. Melusine. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D975-D