Kapitel In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle , langgezogene Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub .
Die breite , ungepflasterte Straße , die sich , nicht weit von der russischen Hauptstadt , in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache Land erstreckt , lag einsam im Frühnebel da .
Dann holperte ein Leiterwagen , mit einigen Möbelstücken bepackt , schwerfällig des Weges ; der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz , warf den kurzen Schafpelz von den Schultern , und im roten Hemde neben seinen beiden mageren Gäulen hergehend , stimmte er eine Volksweise an , die schwermütig in den Vogelgesang hineinklang .
Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf , meist ein Holzbau , mit geschlossenen Fensterläden und bretterverschlagener Balkontür ; oder es schimmerte ein Garten hervor , wo man eifrig beschäftigt war , das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für den Sommer in Stand zu setzen .
Aber erst nach Beginn der städtischen Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig .
Der Möbelwagen hielt vor einem Hause , das ganz abseits , weit entfernt von jeder Nachbarschaft , zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas feuchtem Wiesengrund lag .
Es war nicht sonderlich groß , besaß aber von allen den schönsten Garten .
Die Frühlingsbäume , die es umstanden , breiteten einen zarten bräunlichen Schleier darüber , und rings über den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen Blattknofpen .
" Die Pforte von außen aufstoßen ! " schrie eine vergnügte Stimme in gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen , und gleich darauf kam ein halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen .
Langsam bewegte sich der Wagen über den Kiesweg bis hinter das Haus , wo einige Stufen zur offenen Terrasse mit der Eingangstür emporführten .
Eine ältliche Magd , mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf , wartete schon unten , griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen , das mit seinem breiten Fenster auf die Terrasse hinaussah .
Im Wohnzimmer stand die Tür zu einem kleineren Nebengemach auf , das bereits vollständig eingerichtet zu sein schien .
Von den Sachen , die man beim Auszug aus der Stadtwohnung im gemieteten Landhause vorgefunden hatte , war offenbar alles Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden , um Ordnung und Gemütlichkeit zu schaffen .
An der Tür lag auf einem deckenumhangenen Ruhebett einen bleiche , nicht mehr junge Frau , deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren ungewöhlicher einstiger Schönheit zeigten .
Unter den halbgesenkten Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und Gehenden .
Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme , bei der ein Lächeln durch die großen blauen Augen ging .
" Erik ! " rief sie bittend , " komme doch her zu mir .
Komme doch her . "
Er stand vor dem Terrassenfenster , in dunkler Morgenjoppe , die Hände in den Seitentaschen versenkt , zwischen den Zähnen eine Zigarette .
Auf den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging in das Zimmer .
Ihr schien immer : ein Strom von Leben käme mit ihm , wenn er so zu ihr trat .
" Nun , Bel , " sagte er heiter , " du sollst sehen , jetzt bricht die Sonne durch den Nebel , und dann trage ich dich in den Garten hinaus . Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen aufgestellt . "
Sie schüttelte den Kopf .
" Ich habe keine Ruhe draußen , solange hier alles noch in solcher Verwirrung ist .
Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen , Erik ?
Seitdem wir gestern herkamen , habt ihr nur für mich gesorgt .
Ach , weißt du , das ist das schlimmste : im ganzen Leben wird nichts mehr recht ordentlich werden .
Alles wird herumliegen . "
" Aber , Bel ! " versetzte er spottend , " welchen Sinn hätte es auch sonst , aufzuräumen ?
Was sind das für Sorgen und Schmerzen ! "
Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein , sondern sah betrübt vor sich hin .
Da fügte er ungeduldig hinzu :
" Damit mußt du dich ernstlich abfinden .
Nicht immer wieder davon anfangen .
Sicherlich bist du dazu geschaffen , als die peinlichste aller Hausfrauen hinter der blitzendsten aller Teamaschinen zu sitzen , und mußt nun statt dessen jahraus , jahrein daliegen und es untätig mit ansehen , wie deine beiden männlichen Hausfrauen , Jonas und ich , es sorglos treiben .
Das ist schwer , ich weiß .
Es ist schwer , sein Talent zu unterdrücken .
Aber es kann dir nicht erspart werden , du mußt es endlich überwinden . "
" Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein , Erik , wenn du nur wolltest . "
" Daß er wie eine Tochter wäre ?
Nein , natürlich will ich das nicht .
Wie kannst du nur solchen Unsinn reden , Bel. "
" Es ist kein Unsinn , Erik .
Du bist so streng gegen ihn , und daher ist er gegen dich oft schüchtern , geht nicht recht aus sich heraus .
Aber mir zu dienen macht ihm Freude - auch in den häuslichen Dingen .
Kannst du mir diese Freude nicht lassen ? "
" Nein , " sagte er kurz , " nicht so , wie du es meinst .
Ich wünsche nicht , daß er verweiblicht wird .
An mir ist es , dir zu dienen - "
Er brach ab , weil die Magd hereintrat ; sie wollte den Fuhrmann ablohnen .
Erik legte Geld auf den Tisch , der , noch staubig , in die Mitte der Stube gesetzt worden war .
" Dies ist das Trinkgeld , Gonne .
Nein , es ist nichts darauf herauszugeben .
Wenig genug für viel Arbeit . "
Als sie hinausgegangen war , blickte er mit einem unterdrückten Lächeln in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber .
" Wir haben entsetzlich viel Geld , Bel. Natürlich .
Wer sollte es uns auch in diesem Winkel abnehmen .
Nicht wahr ? "
" Ach , Erik , das kann doch gar nicht sein .
In diesem , Winkel ' haben wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht .
Ich habe ja nichts dagegen zu sagen gewagt .
Aber wenn du wüßtest , wie es mich im stillen drückt .
Denn du bist es ja , der seine ganze Kraft aufwenden muß , um das viele Geld zu verdienen . "
" Meine ganze Kraft aufwenden ! " wiederholte er langsam , " wie schade ist es doch , Bel , daß es nicht wahr ist .
Ich glaube fast , das wäre so schön , daß ich es sogar umsonst täte !
Es dürfte dann freilich nicht bei den paar armseligen Schulstunden bleiben .
- Nein du , in diesem heiligen Lande vergesse ' ich bald , daß ich überhaupt Kraft aufzuwenden habe .
Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen , wenn - ich Geld habe .
Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr hierher gepilgert ? "
Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus .
" Nun ja , Erik , es ist nur gut , daß dir immer alles zu leicht und zu wenig scheint , " sagte sie , " du hast eine solche merkwürdige Frische .
Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht , wo du beim besten Willen noch mehr Schulstunden hineinstopfen könntest ? "
Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht .
Er antwortete nicht , sondern kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers .
Jonas war aus dem Garten hereingekommen , blieb neben dem Vater stehen und blickte hinaus .
Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne ; man konnte in der Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden , in deren Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand .
Im Hintergrunde schloß ein kleines Gehölz von Birken , Pappeln und Weiden , an denen noch die Kätzchen niederhingen , die Aussicht ab .
Näher zum Hause streckten ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach .
Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des Jahres entgegen .
Einen Augenblick lauschten sie stumm .
Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren , fiel die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf ; sie trat noch stärker dadurch hervor , daß Erik sich bartlos trug .
Derselbe blonde Kopf , breit ausgebaut in Stirn und Schädelform , dieselbe ein wenig stumpf abschließende Nase und derselbe große , im Sprechen und Lachen sehr ausdrucksfähige Mund .
Aber diese ein wenig groben Züge bedurften sichtlich mancher Jahrzehnte , um durchgeistigt und fesselnd zu wirken .
Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und Schatten , die ihnen erst seelischen Reiz verliehen , als die Jugend von ihm ging .
Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht , das in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen ließ , als er wirklich war .
Schön konnte man an ihm nur die großen Blauaugen der Mutter finden und deren blendende Haut , die nur das Krankenlager an ihr entfärbt hatte .
Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen .
In ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen Gestalt ihres Mannes ; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen , so wie er damals war , als sie ihn kennen lernte und er um sie warb .
Es war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren , die ihn damals von Jonas' Alter unterschied , - einundzwanzig Jahre zählte Erik erst , als ihm sein Knabe geboren wurde .
Sie fühlte jedesmal eine kleine Regung von Stolz , wenn sie daran dachte .
Hatte er sich doch toll genug in sie verliebt , um sie mitten in seiner leichtlebigen Pariser Studentenzeit frischweg vom Fleck zu heiraten !
Er , der begabte , ehrgeizige , früh weltmännisch geschulte Mann , band sich an sie , das einfache Kinderfräulein , das nur der Glücksfall einer günstigen Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte .
Die fremden Kinder an der Hand , hatte sie bewundernd in den Salon gespäht , wo er verkehrte .
Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach England und lebten ein paar Jahre von dem geringen Vermögen , das schnell verbraucht war .
Eriks Studien waren breit angelegt gewesen , sie sollten Geistes und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen , aber als Jonas zwei Jahre alt wurde , da galt es , sich mit eisernem Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen , um Brot zu erwerben .
Eine kleine Lehrstelle bot sich ihm , ganz aus der Welt , weit draußen im Meer auf einer friesischen Insel .
Klare-Bel freute sich im Grunde , daß ihre verrückte glückliche Studentenehe in so stille , geordnete Verhältnisse mündete , aber für Erik tat es ihr leid .
Denn erstens war er sicherlich zu viel Größerem berufen als zu diesem abhängigen Stillleben für Weib und Kind , und dann konnte sie ihn sich auch gar nicht anders vorstellen als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und im vollen Verkehr mit einer gebildeten , raffinierten Gesellschaft , die ihn fortriß und die er fortriß .
Wie sie ihn zuerst unter den einfachen Menschen des Volkes dastehen sah , kam er ihr vor wie ein verzauberter Prinz .
Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht : irgendwie werde er auch schon die Leute verzaubern , bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen besser entsprächen .
Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders .
Erik lehrte niemand seine Art , wohl aber nahm er die der Leute an .
Bald sah man ihn ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen wie in seiner früheren Kleidung .
Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab , daß er geradezu echt in der Farbe erschien .
Aber die Folge war , daß er seine Umgebung beherrschte .
Er gab sich nicht , wie Bel gefürchtet hatte , Grübeleien über seine weitausschauenden , ehrgeizigen Wünsche hin , vielleicht war es eine zu aktive Natur dazu .
Was es nur gab , raffte er zusammen , um sich in der Gegenwart voll zu betätigen , und an die Zukunft - an die glaubte er so fest wie ein Kind an Gott .
Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte den Kopf in die Hand .
Weiter als bis hierher dachte sie niemals .
Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht , der es verjüngte .
Die kunstvoll geordneten Locken , die statt jeder festen Frisur dies Gesicht umrahmten , trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe wie damals .
Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn geworden , ja dort hatte sich sogar eine ganz kleine verheimlichte Glatze gebildet .
" Jetzt müssen wir in die Schule wandern , Jonas , " bemerkte Erik und wandte sich vom Fenster .
" Gehst du heute zu den Mädchen , Papa ? " fragte der interessiert .
" Ja .
Aber deshalb brauchst du nicht wieder am Torweg der Mädchenschule auf mich zu warten und dort herumzulungern , " versetzte Erik mit einem Seitenblick , der Jonas verlegen machte .
Ohne ein Wort zu erwidern , trollte sich dieser aus der Stube .
" Jonas fängt früh an !
Er artet dir nach , Erik ! " sagte Klare-Bel lächelnd , und als stünde es mit ihren Worten in irgend einer Gedankenverbindung , griff sie unter allerlei Sachen , die auf einem niederringen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen , einen geöffneten Brief heraus .
" Hier liegt noch die Einladung .
Wenn du wirklich absagen willst , vergiß es nicht heute in der Stadt , oder gehst du persönlich vor ? "
Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig .
Es war eine kurze Einladung , unterschrieben : Warwara Michailowna .
Erik kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch .
" Ich möchte dich wohl was fragen , Erik . "
" Ja , Bel ? "
" Sage mir : gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen Kreis , weil sie dir gefährlich geworden ist ? "
Er fing an zu lachen .
" Nein , Bel , darüber kannst du ruhig sein . "
" Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt ? "
" Das hat sie wohl .
Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten Frau . "
" Junge Mittwen hält man immer für kokett .
Von Warwara würde ich es nicht denken .
Glaubst du das von ihr ? "
Er sah seine Frau verwundert an .
" Ja natürlich .
Alle schönen Frauen sind es .
Auch ist ihr nicht der geringste Vorwurf daraus zu machen .
Das gehört zu ihnen , wie die Schönheit .
Das Gegenteil wäre fast stilwidrig .
- Und es ist gut - vielleicht ein Grund , warum die Schönheit keinen tieferen Schaden anstiftet .
Adieu , Bel ; es ist Zeit für uns zum Bahnhof . "
Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin .
Wie er sich aber zu ihr niederbeugte , um fing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn einen Augenblick , zu ihm aufschauend , fest .
Er hielt geduldig still .
" Du ! " sagte sie lachenden Mundes , ließ sich küssen , und ließ ihn los .
Erik und Jonas waren schon fortgegangen , und Gone räumte eifrig und geräuschvoll in den Stuben auf , als Klare-Bel noch über das letzte Gespräch nachsann .
Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen angelegt , alles andere eher .
Aber wenn man ewig so stilliegen mußte , immer auf dem Rücken , und die Augen an der geweißten Zimmerdecke , so geriet man zuletzt auf alles mögliche , und auch auf das Nachdenken .
An sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie , stets nur indirekt .
Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche , sozusagen hauptsächliche Gedanken , die Sammlung heischten : Erik , Jonas und die gefürchtete Unordnung im Haushalt .
Aber es war merkwürdig , wie viel man aus den drei machen konnte , wenn man sie geschickt kombinierte .
Man hätte meinen können , es seien tausend .
Erik hatte also vorhin gesagt : die Schönheit stifte keinen tieferen Schaden an .
Ja , das war gewiß ein rechtes Glück .
Denn Erik war sehr empfänglich für die Schönheit .
Schon , als sie noch gesund umherging , beunruhigte es sie .
Sie selbst war glücklicherweise sehr schön , aber sie war blond , und ihr schien es , als ob ihn die Braunen ebenfalls interessierten .
Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt .
Aber nur ein einziges Mal erschrak sie , - schrak förmlich auf aus aller bisherigen Freude .
Während des zweiten Jahres auf der Insel .
Da fing er an , sie so viel allein zu lassen ; manchmal war es ihr , als ob sie ihm nicht mehr wie sonst genüge .
Er wurde auch wortkarger .
Und endlich - ja endlich tat sie dann , was er nie im Leben erfahren durfte :
sie ging ihm heimlich nach .
An einem weichen , dunklen Aprilabend war_es .
Das Meer lag regungslos , und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter .
Sie sah ihn aus einem kleinen Hause , hart an der Düne , heraustreten und an ihr vorbei , in Gedanken verloren , heimgehen .
In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste Frau auf der ganzen Insel .
Bei allen stand sie in hohen Ansehen wegen ihres Vestandes , wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen Schicksalen , wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung , aus dessen Fülle sie schöpfte , wenn sie ein feiner , liebevoller Menschenkenner zum Sprechen brachte .
Es war Frau Larsen , einen lahme sechzigjährige Frau .
Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem Manne . -
Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium ; gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen , die ziemlich entfernt lag .
Er war in einen vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen , und an einer der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein .
Dieser sah erhitzt aus , behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und fächelte sich mit dem Taschentuch .
" Wie geht es , Herr Matthieux ? " fragte er Erik , hastig atmend , " hier in der Stadt ist der Mai schon unerträglich , - wirklich , - wenigstens beim Gehen .
Und dabei wagt man nicht , den Sommerüberzieher abzulegen ; jeden Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß .
Ohne Übergänge , ohne Normaltemperatur .
Ein mörderisches Klima . "
Er begleitete sie Worte mit so vielen Gestikulationen , daß man den Eindruck empfing , er werde sich nie im Leben wieder abkühlen .
Erik betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden ungefähr gleichaltrigen Mann , auf dessen entblößtes , bereits stark gelichtetes Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah .
" Ob das meine Zukunft hier ist ? - der Mai unerträglich ! " dachte er , und sagte laut :
" Ich muß gestehen , ich habe eine Schwäche für diesen russischen Frühling .
Er mag unartig sein , vielleicht launischer und gefährlicher als jeder andere , aber dafür ist er ein Wunder .
Er zögert so lange , und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön , daß man seinen Augen nicht traut . "
" Ja ja .
Wenn man Augen dafür behalten kann .
Ich reise nach Schulschluß immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen Windstößen und Verhältnissen .
Ich schreibe an einem Werk - immer in den Ferien in Deutschland .
Das ist meine Erholung .
Da bleibt für den Sommer wenig übrig .
So geht es eben uns allen - allen , die wir uns geistig überarbeiten müssen . "
Erik schwieg einen Augenblick , dann erwiderte er , wie wenn er einen stummen Gedanken beende , ruhig :
" Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als , Geistesarbeiter ' . "
" Ach , Sie meinen doch nicht , weil Sie da drüben , - weil Sie etwas lange in ländlichen Verhältnissen - ? aber ich bitte Sie , bei Ihrem Wissen und Ihrer Begabung !
Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk schreiben ? "
Erik lachte .
" Nein , so meint ich es nicht .
Nicht daß ich drüben vielleicht ein wenig verbauert sein könnte .
Nicht den Mangel an Büchern .
Denn wir - der Lehrer vor allen Dingen - arbeiten doch vorwiegend mit Menschenmaterial .
Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der Gelehrtenstube , scheint mir .
Mitten in das Leben hinein . "
" Hm ! " machte der Kollege , " ich finde , an die Menschen kommt man doch nur sehr oberflächlich heran .
Es bleibt wirklich nur die Schreibtischarbeit .
Aber sagen Sie doch Mal : man sprach davon , daß Sie vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen halten wollten ?
Was war es damit ? "
Eriks Augen verdunkelten sich .
" Nichts war es damit ! " sagte er kurz , " man hat mir den Saal verweigert ! "
" Sehen Sie , sehen Sie !
Das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube .
Man fürchtet , daß Sie ein wenig lebhaft werden könnten .
Wir gehen hier ja eben alle mit gebundenen Händen , - Sie wissen_es doch !
Aber mit einem sollten Sie sich wirklich trösten :
es gibt hier ja gar keine Menschen , unter denen irgend etwas zünden und wirken könnte .
Es gibt nur das Volk , zu dem wir weder sprechen dürfen noch können , - und ein Publikum , das sich amüsieren will . "
Er hatte sich in Eifer gesprochen .
Erik antwortete nicht .
Die Pferdebahn hielt , und beide stiegen aus .
" Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen ? " nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf , und wie er jetzt langsam einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte , sah er ebenso schwerfällig und schläfrig aus , wie vorhin hastig und zerfahren , " ja , da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen !
Sie hatten diese Klasse ja erst im Herbst zu übernehmen . "
" Es war aber Not am Mann .
Auch wollt ich die Mädchen kennen lernen , Fühlung gewinnen , ehe ich sie im Herbst ganz übernehme . "
" Nun , Sie werden es satt kriegen .
Wissen Sie , dieses Geschlecht ist entsetzlich !
Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen .
Auch nicht das geringste .
Rechnen können sie alle nicht . "
" Gott sei Dank ! " sagte Erik .
" Nein , nehmen Sie es nicht humoristisch .
Als Mädchenlehrer verlernt man das Lachen .
Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse ? "
" Hübsche Mädels ! " entfuhr es Erik beinahe ; als er aber die fast bekümmerte Meine seines Begleiters gewahrte , verschluckte er es noch rechtzeitig und erwiderte nur :
" Sie bringen doch Anregung , Abwechslung .
Sehen Sie , hier in meiner Lederrolle : ein ganzer Stoß Aufsatzhefte .
Das kurioseste Zeug .
Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück ; ich ließ sie mir nur geben , um mich zu orientieren .
Auch habe ich eine wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden . "
" Da bin ich nicht neugierig ! " versicherte der Kollege von der Mathematik und kniff die Augen zu , " wahrhaftig nicht .
Aber Sie sind ein beneidenswerter Mensch .
Von Ihrem Vorgänger weiß ich , daß diese blauen Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Albdrücken verursachten . "
" Das war nur eine gerechte Strafe ! " meinte Erik lachend , während sie einen hohen Torbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten , " warum gab er auch Aufsatzthemata wie zum Beispiel das letzte hier :
, Über das Glück .
Arme Mädels , die da in schönem Deutsch beschreiben sollen , was sie doch noch gar nicht genossen haben . "
Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen , das von der Flurhalle zu den Klassen hinaufführte .
" Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls dran , und das ist ja wohl der Zweck , " bemerkte der Kollege steif , denn die letzte Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen , " Ihr Vorgänger hat gewiß an kein Glück gedacht , wozu man die Schule verlassen haben muß . -
Aber hier trennen sich wohl unsere Wege .
Ich meine : wörtlich . "
" Also auf Wiedersehen ! "
" Wünsche beste , Anregung ' . "
Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang , an dem die Klassenzimmer lagen .
Er öffnete eines davon und blickte auf seine Uhr .
Noch war die Frühstückspause nicht vorüber .
Die meisten Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt ; man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise umhergehn und spielen sehen .
Dicht unter dem Fenster , an das er sich setzte , stand der Brunnen mit einer Holzbank ; dort machte es sich eine Gruppe halberwachseuer Mädchen bequem , - das Kichern und Schwatzen drang deutlich bis zu Erik herauf .
In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still ; selten nur klappte eine Tür , oder wurde ein Ruf laut .
Auf den zur Hälfte niedergelassenen Fensterrouleaus brütete die Sonne , und einzelne Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen auf den staubigen Pulten .
Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin , wobei er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß .
Im Grunde waren dies wirklich recht langweilige Schulhefte .
Solch ein Backfisch ist interessant , ohne Zweifel , er ist als Mensch , als Weib , als Backfisch interessant , und eine Welt für sich ; aber von alledem kommt in den Schulaufsatz nichts hinein .
Kein Wunder !
Ist es nicht schließlich ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt ?
Ist nicht der kleinste Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher , aufschlußgebender ?
Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende , schwatzende Mädchengruppe am Brunnen .
Die , die er von seinem Standort sehen konnte , gehörten sicher seiner neuen Klasse an , hatten also die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen .
Er verzieh sie ihnen , während er sie so anblickte , - diese frischen Geschöpfe , die noch das Vorrecht besaßen , ohne Schönheit schön zu sein .
Es waren unter ihnen ganz bestimmte Typen leicht zu unterscheiden , obgleich sie verschiedenen Nationalitäten angehörten .
Drei Sprachen schwirrten durcheinander .
Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr weltlichen Typus .
Beide besaßen etwas Anziehendes , - sowohl dieser schelmische Blick , der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte , als auch der sanfte , sittsam stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel .
Das eigentlich kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr vertreten .
Und vielleicht deshalb auch so wenig Untypisches im ganzen , so wenig Individuelles , - man konnte sie schon klassifizieren , sie waren schon fest geprägt durch die Umgebung , in der sie erzogen wurden , wo es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks Ideal gab , sondern nur gewöhnliche Amts und Standespersonen .
Unwillkürlich suchte seine Hand unter den Heften , als wünsche er sich selbst Lügen zu strafen .
Ja , hier stand die " Merkwürdigkeit " unter den Aufsätzen , - etwas höchst Individuelles jedenfalls .
Anstatt des vorgeschriebenen Titels " Über das Glück " trug er die Überschrift " Seligkeit ! " -
und wie ein Sehnen und Tauchzen klang etwas von dieser Überschrift dem Lesenden aus jeder Zeile entgegen .
Er war nicht in vernünftiger , oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa geschrieben , sondern in Versen , in gänzlich unkorrigierbaren und wilden Versen , in denen die Sprache Reißaus genommen hatte .
Trotzdem wirkten diese Verse , so fehlerhaft sie hingeschrieben waren .
Oder vielmehr : hingeträumt .
Denn im Grunde glich dieses einem unklaren Traum , einem bloßen Gedankenstammeln , einem Siechauflehnen gegen Wort und Logik , aber es steckte unleugbar eine Gefühlsmacht darin .
Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre , aber man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wünsche überfallen , dem , der hier träumte und stammelte , mit Gewalt die Zunge zu lösen , daß er Aufschluß gäbe über seine Seele .
Solche Verse mochte die heilige Therese als Kind gedichtet haben , ehe sie ihre Visionen auf Gott bezog , dachte Erik .
Welche von denen im Hof mochte das sein ?
Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und brachten ihn aus dem Lesen .
Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie sagen : " Er muß unglücklich sein .
Ich will es so .
So unglücklich wie nur möglich .
Sonst tu ich es nicht . "
" Nein , nein , dagegen bin ich ganz ! " rief eine andere in mitleidigem Ton .
" O , ich wäre schon dafür , " suchte eine dritte zu vermitteln , " wenn es nur für eine Weile ist .
Denn später , da heiratet sie ihn ja dafür . "
" Heiratet ? " fragte die erste Stimme erstaunt , " nein , ich denke nicht daran !
Er ist und bleibt unglücklich , sage ich euch .
Ein für allemal .
Aber heiraten werde ich ihn nicht . "
Erik fiel das Heft aus der Hand .
Er stützte sich auf das Fensterbrett und sah vorsichtig hinab .
Er hätte gern gewußt , wie das grausame Geschöpf aussah , das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen wollte und ihn nicht einmal heiratete .
Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den anderen so umstellt , daß sich Erik nicht tiefer hinabbeugen konnte , ohne von unten her gesehen zu werden .
Er erblickte nur zwei schmale , weit vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunklen Strümpfen .
Jetzt zwitscherten alle so durcheinander , daß man nichts verstand .
Dann sagte ein bildhübscher dunkelhaariger Backfisch , während er herzhaft in einen Apfel hineinbiß :
" Ich finde es wirklich komisch von dir .
Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besonderen Eigenschaften ausgestopft , wenn du ihn doch nicht nimmst ?
Er hat doch das Allerbeste abbekommen .
Wenn er nur edel und unglücklich sein soll , so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können , - meint ihr nicht ? "
" Laß sie doch , Wjera , du sollst sehen , sie hat im stillen schon wieder etwas Neues vor , - vielleicht was viel Schöneres , " meinte ein kleines blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze , " und wenn ihr sie nicht in Ruhe laßt , so sagt sie es uns am Ende nicht . "
" Hast du was ?
Hast du was ?
Ist es schön ? " schrien sie erwartungsvoll .
" Es ist nichts für euch !
Aber von allen die allerschönste Märchengeschichte ! " erklärte die Angeredete an der Hausmauer , " kennt ihr die Verse von Uhland ? "
Und sie begann mit einer weichen Stimme zu deklamieren :
" In Liebesarmen ruht ihr trunken , Des Lebens Früchte winken euch ; Ein Blick nur ist auf mich gesunken , Doch ich bin vor euch allen reich .
Das Glück der Erde miss ' ich gerne , Und blicke , ein Märtyrer , hinan , Denn über mir , in goldener Ferne , Hat sich der Himmel aufgetan . "
Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern , bis die letzten Worte gedämpft , in einer Art von schwärmerischer Andacht verklangen .
" Hu ! " sagte die hübsche dunkle Wjera , ordentlich ergriffen , und eine zweite fügte besiegt hinzu : " Ja , dann freilich - "
Aber die , welche deklamiert hatte , lachte nur .
Sie lachte so von innen heraus , so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle , daß Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte , mitzulachen , und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte .
Auch von den Mädchen begannen einige zu kichern .
Aber die meisten verstimmte es .
" Du hast gar keinen Lebensernst ! " sagte die Erste der Klasse strafend , eine andere aber behauptete sogar :
" Sie hat kein Herz .
Sie verlacht ihre eigene Sache , und uns mit . "
Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende zu schmiegen und erinnerte sie :
" Du hast doch versprochen , uns den , Unglücklichen ' endlich zu zeigen .
Willst du es heute auf dem Heimweg tun ? "
" Ja , das will ich .
Denn ich will ihn euch überlassen .
Macht ihn so glücklich , wie ihr wollt . "
" Also denkst du an einen anderen ? "
Die Glocke , die zum Klassenbeginn läutete , unterbrach das Geplauder in diesem kritischen Augenblick .
Arm in Arm schlenderten sie gemächlich ins Schulgebäude hinein .
Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt in der Sonne .
" Jetzt muß ich sie sehen können , " dachte Erik und beugte sich mit ernstem Gesicht vor .
Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen gemacht .
Und er sah sie .
Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt , die Arme hoch über dem Kopf verschränkt , saß sie auf einem umgestülpten Regenfaß , das in diesem beliebten Brunnenwinkel gelegentlich als Sitzbank benutzt wurde .
Sie trug das entschieden aschblonde glanzlose Haar offen , so daß es ihr weich und lockig in einiger Verwirrung über Brust und Schultern fiel .
Das tiefrote Bändchen , wodurch es am Hinterkopf zusammengehalten werden sollte , war hinabgeglitten und bewegte sich leise im Luftzug .
Es war der einzige bunte Punkt und Schmuck am Bilde .
Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem losen graublauen Gewande , das keinerlei Ähnlichkeit mit den hübsch gearbeiteten Kleidern , Miedern , Schleifen und Schürzen der anderen aufwies .
Über den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel kittelartig geschlossen , ließ es zwischen den weichen Falten kaum den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas sonderbar Knabenhaftes .
Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges Gesichtchen , das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Übermut wirkte .
Wie sie so dasaß , den Oberkörper zurückgebogen , die ziemlich dunklen Augen leuchtend erhoben , die Lippen wie in beginnendem Gelächter oder verlangendem Durst halb geöffnet , so daß unter der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne hervorschauten , - da machte sie die Eindruck , als bäume sie sich auf in überschäumender Lebenslust , bereit , jeden Augenblick jauchzend über alle Stränge zu schlagen , - fast unwillkürlich dachte man sich einen Thyrsusstab in die hinausgestreckten verschlungenen Hände , - und der Bacchusknabe war fertig .
Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang , erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte hastig seine Hefte zusammen .
Während er den Weg in seine Klasse antrat , kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit .
Zwei Lämmer in seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt an : die heilige Therese , und dann dieser arge Schlingel und Taugenichts .
Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten , in allen Ecken lebendig geworden , und einige Minuten lang schwirrte es dort durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne .
Dann schwächte sich der Lärm ab , die Klassentüren fielen ins Schloß ; hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz ; einzelne Lehrer , sämtlich in dunkelblauem Frack , der für diese Schulen vorgeschriebenen Uniform , schritten grüßend aneinander vorüber oder blieben , ein paar Worte wechselnd , im Gange stehen .
In Eriks Klasse war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen , als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat .
Einen Augenblick lang ließ er , auf dem Katheder stehend , seinen Blick über die blonden und braunen Mädchenköpfe schweifen , die fast alle mit lebhaften und aufmerksamen Augen zu ihm aufschauten .
Obgleich er erst zum zweitenmal auf diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand , fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie , die ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete .
Er verdankte sie seinem eigenen Entgegenkommen .
Denn die da merkten recht wohl das tatsächliche Interesse , das er ihnen als Lehrer zubrachte , - den Blonden wie den Braunen , den Klugen wie den Dummen , den Willigen wie den Widerspenstigen .
Welche Fehler er auch besitzen mochte , einen wenigstens besaß er nicht : seinen Unterricht wie eine leblose Pflichtmaschine zu absolvieren .
Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte , sich niedersetzend :
" Die Hefte können wieder verteilt werden .
Sie sind zum größeren Teil recht bedauerlichen Inhalts .
Hoffentlich lautet die Fortsetzung viel besser .
In Bezug auf einen Aufsatz möchte ich aber eine Erkundigung einziehen . "
Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte , den Namen ablesend :
" Wer ist Ruth Delorme ? "
Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben , sie hatte sich erhoben , ehe ihr Name von seinen Lippen gefallen war .
Er richtete einen bestürzten Blick auf sie .
Es war der Bacchusknabe aus dem Schulhof .
Jetzt freilich machte sie nicht mehr so ganz den kuriosen Eindruck .
Das ordentlich zusammengenommene Haar und der " Klassenernst " auf ihrem Gesicht störten ihn , - vielleicht auch , daß sie die Augen niedergeschlagen hatte .
Am liebsten wäre ihr Erik mit der Hand über das Gesicht gefahren , wie um eine Maske abzustreifen , damit er darunter die wirkliche Ruth zu sehen bekäme .
Aber das wäre dann der mutwillige , lachende Junge von vorhin gewesen , - und das deckte sich so wenig mit der Vorstellung , die der Aufsatz von ihr weckte .
Das wunderliche Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein .
" Unmöglich ! " entsuhr es ihm .
Sie sah verwundert auf .
" Doch ! " sagte sie .
" Das kann sie !
sie kann Verse machen ! " riefen einige Stimmen .
Man konnte es ihnen anhören , wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden .
" Verse , - das ist ja möglich , " gab Erik zurück , " auch sind sie keineswegs schön .
Ganz das Gegenteil davon .
Aber ein Schulmädchen - "
Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich .
Die Bemerkung war auch gar zu einfältig .
Schulmädchen waren sie ja alle , und eine von ihnen mußte es doch gewesen sein .
Mußte ?
Da kam ihm der Gedanke : vielleicht ist es gar kein selbständiger Aufsatz ?
Er blätterte im Heft zurück .
" Es ist noch ein früherer Aufsatz drin .
Etwas Literarhistorisches .
Der fällt stark dagegen ab .
Lauter mühsam nachgezogene Linien - und falsche Linien .
Es geht die Sage , daß bei den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird .
Sollte das nicht die Lösung des Rätsels sein ? "
Während er aber noch sprach , war er schon überzeugt , daß er sich irrte und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten werde , ihr habe niemand geholfen .
Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte : " Mir hilft niemand . "
Aber wieder schaute er betroffen auf .
Wie klang das !
Grade so , als habe sie unter Tränen gesagt :
" Ich bin ja so mutterseelenallein ! "
Ein stiller Ton war darin , der ihn rührte , - etwas so ganz Neues , Unerwartetes , was er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen konnte .
Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder , in der ruhigen Haltung des Lehrers .
Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam seinen Ausdruck darin , daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die Bank , in die Mitte der übrigen .
Als er dicht vor ihr stand , wurde er sich einer Übereilung bewußt und kehrte , wenn nicht zum Platz , so doch zur Rolle des Lehrers zurück .
" In der Änderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen ; hier galt wohl eine Ausnahme , die mein Vorgänger machte ? " fragte er .
" Er zog sie vor !
sie durfte tun , was sie wollte ! " schrien einige .
" Sie gehört nicht mehr zur Schule !
Sie kommt nur zu einigen Stunden ! " riefen andere .
" Ich gehe bald fort , " sagte Ruth .
" Fort ?
Vom Ort ? " fragte er , und ein brennendes Bedauern überfiel ihn .
Sie hob die Augen .
" Nein .
Nur aus den Stunden . "
Wie beider Blicke sich trafen , sah er ihr Gesicht aufleuchten .
Nicht nur die Augen taten , das Leuchten ging über Stirn und Augen wie ein Lächeln , obschon sie ernst blieb .
Der " Klassenausdruck " fiel von ihren Zügen wie ein vorgehaltener Schleier .
Er gab ihr einen Wink , sich zu setzen .
" Das ist sehr schade , " meinte er dann , ein paarmal auf und ab gehend , und es war ihm selbst nicht klar , für wen es eigentlich schade sei , ob für den Lehrer , oder für die Schülerin , oder für alle beide .
Doch setzte er rasch hinzu : " Es ist zu früh .
Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz nicht . "
Dann richtete er , mit dem Aufnehmen des Unterrichts , keine Bemerkung mehr an sie , vermied es auch während der Stunde , ihren Namen aufzurufen , obgleich es ihn beschäftigte , daß sie fortgehen wollte .
Aber er begriff , daß dies lebhafte Interesse für ein merkwürdiges Kind , wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte , von ihm selbst erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig geklärt haben mußte , ehe daran zu denken war , ihm vor einigen Dutzend neugieriger Mädchenaugen nachzugeben .
Er kannte sehr wohl die üblichen Schwärmereien für den Lehrer , zweifelte auch nicht daran , daß auch er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei , hielt aber doch möglichst daran fest , sich nicht durch sein Benehmen zu verraten , wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte , - was doch unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut .
Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen mit verträumten Augen .
Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin , und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf , was er vortrug , sondern merkte sich nur die Art , wie er vortrug , und die ihm eigentümliche Gebärde der Hand dabei .
Daß er schmale , nervige Hände von edler Form besaß , daß sie aber leicht gebräunt waren , wie bei einem , der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat , merkte sie , - und es kam ihr wie ein Widerspruch vor , der sie beschäftigte .
Die gerade , etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein wie ein Bild , und dann , daß ihm das Haar beim Sprechen in einem strafen kleinen Büschel in die Stirn fiel , und er es stets mit einem kurzen Ruck zurückwarf , wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb .
Es war kurzgehaltenes , schlichtes , dichtes Haar , und es ärgerte sie förmlich , daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte , - nur ein bißchen ; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen , die sahen aber drollig aus , und so schnitt sie sie ihm wieder ab .
Darüber mußte sie lachen ; sie hätte fast laut aufgelacht , und der Sicherheld halber stützte sie den Mund auf die Hände .
Aber bei alledem sah sie nicht aus , als ob sie sich in losem Mutwillen mit solchen Äußerlichkeiten beschäftige , sondern als sinne sie angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach .
So hatte sie schon neulich , in seiner ersten Stunde , dagesessen , von ihm unbemerkt .
Ruth machte noch immer dasselbe verträumte , nachdenkliche Gesicht , als nach Beendigung des Unterrichts sich ein ganzer Schwarm von Mädchen zum Heimgehen um sie drängte .
Sie hatten diesen Augenblick kaum erwarten können , denn nun sollte Ruth ihnen ja den " Unglücklichen " zeigen , der aller Phantasie beherrschte .
Arm in Arm , hintereinander , und mit den Ranzen schlenkernd , gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab und bogen in den Newskyprospekt ein , Ruth vorauf und ohne auf sie zu achten .
Einige sahen sich vorsichtig um , ob ihnen auch niemand folge auf den Wegen , die sie Ruth führen sollte , aber die Straße war ziemlich menschenleer , nur ein paar Dienstmädchen , die den Verwöhntesten den Schulsack trugen , folgten in bescheidener Entfernung , und hinter diesen sah man Erik herankommen .
" Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche ! " sagte die hübsche Wjera zu ihrer Nachbarin , " daß sie solche Geschichten treiben kann .
Ich glube , ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum .
Ja , es ist ganz anders , wenn man noch Eltern hat . "
" Pfui , schäme dich ! " empörte sich das Mädchen , das neben ihr ging , und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite , " es ist doch ein schreckliches Unglück , seine Eltern so früh zu verlieren .
Die arme Ruth !
Denke nur , wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist , - in Belgien und Deutschland , und immer unter fast Fremden . "
" Ja , da kommt man eben auch weit herum , " beharrte der gemütlose Backfisch , " sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen .
Und gerade da möchte ich so gern hin . "
" Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt , " behauptete eine von ihnen etwas unsicher .
Ein schallendes Gelächter erhob sich .
" Ja , im Traum !
Das ist doch nur ein Märchen , das sie erzählt hat .
Höre nur , Ruth , das hält sie für Wirklichkeit ! "
" Da kommt er ! " sagte Ruth mit einem Male .
Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen .
Im ersten Augenblick stoben sie fast auseinander , aber dann sammelten sie sich wieder , räusperten sich , zupften an ihren Kleidern , reckten die Hälse , und die meisten von ihnen wurden rot .
" Hier der Blonde ? "
" Nein !
Der Herr im Zylinderhut . "
Es war keiner von beiden .
Ruth blickte ernsthaft geradeaus und einem Herren ins Gesicht , der auf sie zuschritt .
Ein junger brünetter Mann , im hellen Sommerüberzieher , mit etwas verlebten Zügen , einem kleinen Schnurrbart und mandelförmigen Augen .
Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie , - darüber waren alle einig .
Aber während sie ihn noch anstarrten wie ein Meerwunder , geschah vor ihren Augen das Ungeheuerliche , woran sie eigentlich doch nicht im Ernst geglaubt hatten :
Ruth grüßte ihn , ganz ernsthaft grüßte sie ihn , ohne eine Miene zu verziehen , aber doch so wie einen alten Bekannten .
Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht ; er hatte sie fest fixiert , jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder .
Ziemlich vertraulich tat er das .
Die hübsche Wjera schrie fast auf vor Überraschung und Vergnügen , sie war feuerrot geworden , und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden , mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen .
Ein paar von den anderen aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt , sie genierten sich sichtlich , gingen verlegen neben dem Trottoir auf dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder .
Doch fand der heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen , die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten .
Während er mit ganz verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging , flogen Blicke und Lächeln zu ihm hinüber , empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt .
Ein paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um , und auch er wurde nicht müde , zurückzusehen .
" Nein !
Das ist aber zu arg ! " brach eine von den Sittsamen auf dem Straßendamm los , " es ist geradezu sündhaft ! "
" Ach , du liebe Tugend !
Wir sind es ja gar nicht gewesen , die angefangen haben .
Ruth hat es getan .
Siehat ihn gegrüßt .
Wenn sie jetzt auch so gleichgültig drauf los geht , als ging es sie nichts an . "
" Ja , was schadet denn auch ? " verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas betreten .
" Gewiß schadet es , - abgesehen davon , daß es sündhaft ist , " behauptete die Sittsame , " hast du nie gehört , daß man nicht geheiratet wird , wenn man ein Verhältnis gehabt hat ? "
" Ja , sie hat ganz recht ; es bringt uns in Verruf , " half ihr eine zweite , " und der da würde euch gewiß nicht heiraten , bildet euch das ja nicht ein .
Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten ! " setzte sie schlagend hinzu .
Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln .
" Es ist doch alles nur Unsinn .
Eine bloße Phantasiegeschichte .
Also laß doch !
Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen weiter , dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche , und alle Gefahr ist vorbei . "
" Nein , nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr .
Du hättest ihn uns nicht zeigen sollen , Ruth . "
Diese zuckte ungeduldig die Achseln .
" Das kann ich nicht so trennen .
Wenn wir_es spielen , leben wir es ja auch .
Aber macht es doch , wie ihr wollt , " sagte sie zerstreut .
" Nein , erst mußt du es weiter ausdenken .
Eigentlich ist es auch sehr lustig .
Grade als ob man zweimal lebte : einmal zu Hause und in der Schule , - und dann noch einmal ganz wo anders , wo alles gerade so ist , wie man sich_es ausdenkt . -
Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht wieder gehen . "
" Ach , seid ihr Feiglinge ! " rief Wjera dazwischen , die sich bis jetzt nicht am Streit beteiligt hatte , weil sie sich noch mit dem " Unglücklichen " zu tun gemacht hatte , der irgendwo an einer Straßenecke stehen geblieben war , " ich finde diese Geschichte tausendmal interessanter als all die Phantastereien darum herum .
Was hat man denn von denen ?
Sie amüsieren uns nur , weil man uns eingesperrt hält ! "
Über ihrem Hin und Herreden beachteten sie es gar nicht , daß sie an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren , das heißt , daß die meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim entfernt hatten .
Sie liefen gewohnheitsmäßig mit wie eine Hammelherde , Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen .
Jetzt blieb sie zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust , in eine Seitenstraße einzubiegen , und der Notwendigkeit , zur gewöhnlichen Stunde bei ihren Verwandten einzutreten .
Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit , einen Vorwurf zog sie sich nicht zu , und was ihr jetzt vorschwebte , war süß und lockend gleich einem Frühlingsmärchen .
Aber es gab da etwas anderes , was sie zurückhielt :
wenn sie jetzt hineinging , so blieb sie , wie immer , gänzlich unbemerkt und unbeachtet im ganzen Hauswesen ; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen fortblieb , so wurde sie vielleicht bemerkt , befragt , belästigt .
Und daß entschied .
Wie eine jener kleinen Insekten , die zum Schutz vor feindlichen Mächten die Farbe des Holzes oder Laubes annehmen , auf dem sie sitzen , so verhielt sich , halb unbewußt , auch Ruth gegenüber ihrer Umgebung .
Es war ihre Art , sich zu wehren .
Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand hinter den hohen Türflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes , vor dem ein Soldat Wache stand .
Eine Abteilung des Kriegsministeriums lag darin , nebst mehreren großen Kranswohnungen , wovon Ruths Onkel , der Staatsrat war , eine innehatte .
Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch .
Jetzt erst erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den Droschkenkutschern , die sich sofort um sie sammelten und laut schreiend einander nach Möglichkeit unterboten .
Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr , sie hatten sich ausgezeichnet unterhalten , sich ordentlich echauffiert !
Morgen , wenn sie nach neuer Nahrung begierig waren , kam sie wieder .
---------- Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt , denn er hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden zu geben .
Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf , die geräumig und freundlich , aber vier Treppen hoch lag : dafür konnte man aus den Fenstern die Newa überschauen , durch deren mächtige blaue Wogen der Ladogasee noch seine letzten Eisschollen trieb .
Sie schimmerten durchsichtig im blendenden Maisonnenschein .
Über seine Aussicht freute sich Erik täglich von neuem .
Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen , allerlei zu erledigen und eingelaufene Briefe mitzunehmen , denn die Landpost galt als unzuverlässig .
Heute war er kaum eingetreten , als es klingelte .
Er öffnete die Tür und blieb mit einem Lächeln daneben stehen .
" Warwara Michailowna ! " sagte er .
" Was ist denn das ? " fragte sie , rasch um sich blickend , " schon auf dem Lande ? umgezogen ? allein hier ?
Ich wußte es nicht !
Dann haben Sie also meinen Brief - - ? "
" Ich habe ihn gestern hier vorgefunden , " versetzte er , sie in die angrenzende Wohnstube führend , wo die Polstermöbel schon ihre Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen gleich Gespenstern herumstanden .
Unter dem runden Sofatisch war der Teppich entfernt worden , und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte in der Luft .
" Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen - oder bei Ihrer Frau ! " sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der weißbezogenen Sessel sinken , " trotz Staub und Sonne bin ich also da .
Ich muß wissen , weshalb Sie nicht kommen wollen . "
Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer Frühjahrskleidung , mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie in den Tiefdunkeln Augen , die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem munteren Wesen bildete .
" Ich danke Ihnen ! " erwiderte Erik und blickte sie an , " aber Sie nehmen mir in der Tat die Antwort schon von den Lippen :
ich wollte wirklich nicht kommen .
Mich eine Zeitlang ganz auf dem Lande vergraben . -
Dort können wir ja , wenn Sie erst hinausgezogen sind , so poetisch Fangball spielen und Krocket .
- Ich bin diesen Winter gar zu stark ins Gesellschaftstreiben geraten .
" Und was schadet das ?
Fragen Sie nur Klare-Bel , ob sie Sie nicht auch am liebsten im Gesellschaftsrock sieht ?
Der Salon ist Ihr natürliches Milieu .
Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister , wie sie mitunter mit goldenen Brüllen und blonden Vollbärten zu uns kommen !
Erst seit ein paar Generationen hat sich Ihre Familie dort niedergelassen , - irgendwo an der friesischen Grenze , - französische Emigranten , - weiß ich es nicht gut ? "
" So weit wollen Sie den Beweis herholen , daß ich in Gesellschaft gehen soll ? "
Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms gegen die Tischplatte .
" Sie sind ein Spötter .
Ich wollte nur sagen : bilden Sie sich nicht ein , daß Sie zum Schulmeister geboren sind .
Trotz der blauen Uniform da , die Sie noch anbehalten haben , - die Ihnen übrigens gut steht , weil es ein Frack ist .
Sie sind zum Weltmann geboren .
Wenn Sie uns - mondains - meiden , tun Sie sich selbst weh . - -
Ich weiß es .
Lachen Sie nicht . "
" Ich lache ja nicht .
Sie sind sehr scharfsichtig , Warwara Michailowna .
- Vielleicht zu sehr - ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Sie würden unserer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen , wenn Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden . Hab ich nicht recht ? "
" Nun , nehmen wir also an , ich will nicht berauscht werden , " sagte Erik und kreuzte die Arme ; " daß gerade Sie als Versucherin kommen , ist freilich schlimm für mich .
Ein Glück , daß die Saison zu Ende geht . "
Sie machte einen schmollenden Mund .
" Ich weiß schon .
Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher Oberflächlichkeit . "
Er widersprach nicht .
Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide , und zwischen ihnen lag , unmöglich zu überhören , Warwaras stumme Frage :
" Bin in es , die dich berauscht ? "
" Sie sind ein Egoist , " sagte sie dann aufblickend , " sonst hätten Sie bemerken müssen , daß Sie sich irren .
Wissen Sie nicht , weshalb ich Sie so gern da habe , mitten unter den Menshcen ?
Weil ich gerade ebensogut fühle wie Sie , daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl ist , - inhaltsleer , - und es mich dennoch berauscht , - wie Sie .
Ihre Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich .
Hand aufs Herz ! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen ?
Wir haben eine gemeinsame Versuchung . "
Er blickte sie fest an .
Sie sprach rasch , ein wenig erregt , mit dem weichen , klingenden Tonfall , den er an den Slawen so einschmeichelnd fand .
Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar , ob sie mit ihm kokettierte , oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm sprach , als je mit sich allein .
Es schien ihr wirklich manchmal - und besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins , - als triebe sie ein verwandter Zug zueinander .
Und dann war ihr Erik interessant : als Mensch .
So , wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist .
Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie einer , der ungeduldig auf Beute ausgeht , und weil er die ihm gemäße dort nicht findet , seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht .
" Also : Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung ! " sagte Erik wegblickend - " vielleicht - ein Wettkampf , wer ihr besser erliegt ? "
Sie erhob sich , um zu gehen .
" Sie haben vielleicht recht zu spotten , und es würde nur sentimental klingen , wenn ich antworten wollte : nein ! mehr als das , - eine gemeinsame Sehnsucht , " entgegnete sie , dicht neben ihm , der ebenfalls aufgestanden war , " Sie haben tausendmal recht .
Wir habe ja nie ein ernstes Wort miteinander gesprochen .
Und ein Mann braucht keinen Bundesgenossen .
Er kann_es allein . "
Sie sprach ganz erst , es klang beinahe echt , und was sie sprach , stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunklen Augen .
Eine Minute , - eine verschwindende Minute lang fühlte Erik , wie ihm seine Phantasie etwas vorgaukelte .
Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf , über die der Verstand lachte , - und ein wilder herrischer Wunsch , den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen Selbstbetrug wahr zu machen .
Ohne genau zu wissen , was er tat , hatte er die Hand ausgestreckt , es war eine fast befehlende Bewegung , wie ein : " Bleibe ! "
Er sah nichts mehr deutlich , er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt , dieser Augen , von denen Sehnsucht ausging .
Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die Wange .
Nicht tändelnd , versuchend .
Rasch , heftig , fast gewalttätig .
Er murmelte halb unverständlich : " Mache es wahr ! mache es wahr ! laß mich nicht aufwachen !
Suchtest du mich ? "
Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck .
Sie war selbst berauscht gewesen , einen Augenblick lang , aber die Wucht , womit er darauf einging , ernüchterte sie ebenso rasch .
Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm , an die sie unvorsichtig gerührt hatte .
Nicht wie eine Dreistigkeit , die erstaunt oder verletzt , empfand sie seinen Kuß , sondern wie eine lähmende Gefahr für Leib und Seele , die zu verschlingen droht , was ihr zu nahe gekommen ist .
Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht .
Ihr Blick lief über ihn hin .
Eigentlich sollt er ihr wie ein Kind vorkommen , das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger Erwartung , daß es nicht mehr zu spielen vermag .
Es zerbricht gewaltsam das dargebotene Spielzeug , um zu sehen , was dahinter ist , und bleibt mit enttäuschtem Gesicht stehen .
Das wollte sie nicht .
Lieber noch gespielt haben , als zu ernst genommen werden , - so ernst , daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen Illusionen gemessen würde .
Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten Gesicht .
Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung .
Aber sie weckte auch ihn .
Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen , daß sie spielte .
- Seine Erregung verflog sofort .
Nur etwas Spott blieb in den Augen und um den Mund zurück .
Spott über sich selbst .
Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül .
Fast ungehindert schien die Sonne durch die dünnen weißen Fenstervorhänge , und mißtönend klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf .
Warwara war langsam in den Vorflur gegangen , und Erik geleitete sie an die Haustür .
Sie wechselten kein Wort miteinander .
Erst an der Tür wandte sie sich um zu ihm und Maß ihn mit einem sonderbaren Blick , den er nicht verstand .
Bedauern lag darin , aber auch Ablehnung , eine kleine Überlegenheit über ihn , den Mann , und dann noch etwas , wie ein ganz leises Eingeständnis :
" Ich möchte wohl die sein , die du brauchst , und die dich sättigen könnte , du Wilder .
Aber ich bin es nicht . "
" Ich nehme an : Sie kommen nicht , " bemerkte sie dabei zerstreut .
" Mit Ihrer Erlaubnis : nein ! " entgegnete er und sann dem Blick nach .
Die Tür fiel ins Schloß . - ---------- Ruth war punklich um vier Uhr , zur festgesetzten Mittagsstunde , im Speisesaal erschienen , der , hoch und groß , mit dunklen Mahagonimöbeln ausgestattet , in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag .
Sie hatte ihren äußeren Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt , wie der Onkel , die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten , und saß schweigsam auf ihrem Platz am Tisch , den ein Diener in weißbaumwollenen Handschuhen geräuschlos bediente .
Während des Essens , das die Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte , blieb die Unterhaltung recht einsilbig .
Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche , und seine Frau hatte genug damit zu tun , ihn mit den richtigen Stücken zu versorgen .
Erst als die Mundspüler von grünem Glas , die kein Mensch benutzte , vor jeden einzelnen niedergesetzt waren , und vor der Tante die silberne Kaffeemaschine stand , auf der sie den Kaffee immer eigenhändig bereitete , wurde es ein wenig lebhfter bei Tisch .
Darauf schien Ruth nur gewartet zu haben .
Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte verschwinden .
" Gehst du schon auf dein Zimmer , mein Kind ? " fragte die Tante , " dann sieh dich Mal darin um .
So unordentlich , so wenig zierlich sollt es bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen . "
Ruth machte eine Armesündermiene .
" Ich will wunderschön aufräumen , " sagte sie eilig ; " darf ich dann bis zum Tee noch einmal fortgehen ? "
" Bis zum Tee ?
Ist es denn etwas so Dringendes ? "
" Es ist etwas Dringendes , " sagte Ruth .
Der Onkel sah auf .
" Zu wem willst du denn gehen ?
Es ist wohl jemand aus der Schule ? "
" Ja , " erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Türgriff , den sie schon in der Hand hielt .
" Sage dem Diener , daß er dich begleitet und dort auf dich wartet . "
Der Onkel blickte ihr nach , wie sie leise die Tür hinter sich schloß .
" Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch , " meinte er dann , seine Zigarette anzündend , " ich kenne niemand , der weniger verlangt und sich weniger bemerkbar macht als sie . "
" Weil man ihr alles gewährt , " ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen Stimme , die den baltischen Akzent noch deutlicher hervortreten ließ .
Sie war eine Baronesse aus Livland .
" Alles ? nun weißt du , ein anderes Kind würde nicht so zurückhaltend sein .
Sie weiß zum Beispiel : dies ist die Stunde des intimsten , ungestörtesten Beisammenseins , - und immer geht sie fort .
Aber mit knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt . "
" Nein , das tut sie auch nicht .
Du idealisierst Ruth immer .
Sie liebt uns einfach nicht genug , um sich enger an uns zu schließen .
Manchmal denke ich :
sie ist vielleicht herzlos . "
" Aber Mathilde ! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses nachsagen !
Lies Mal den letzten Brief aus Belgien , wie sie sie da in der Pension loben und zurückverlangen . "
" Ja , das kennt man , mein Lieber .
Sie war ein einträglicher Pensionär .
Und dann sind sie dort katholisch .
Wie kann man ihnen trauen ?
Ich bin es gerade , die deswegen für Ruths Übersiedlung zu uns gewesen ist .
Wir sind doch schließlich verantwortlich für sie .
Dafür , daß sie in Zucht und Ordnung aufwächst .
Was hat man davon , daß ihre Verwandten dort von flämischem Adel sind ?
Die Ansichten sind doch die Hauptsache .
Und diese Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht . "
Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht .
Er wußte , daß für seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen " diese Leute " waren , - während für ihn , gerade umgekehrt , die Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing .
Ihm kam nicht nur die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich vor , sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl .
Mit seinem französischen Namen und den deutschen und slawischen Elementen in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit , daß er nie eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte .
Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland , wie die meisten seinesgleichen , weil er dies für unvornehm hielt .
" Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen , Mama , " bemerkte die Tochter , " jetzt , wo sie so gut wie erwachsen ist .
Nirgends kann man doch so gut in die Welt eingeführt werden wie hier . "
" Aber mir scheint , das will sie gar nicht , " versetzte der Onkel lächelnd , der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften begleitete , " sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehen , und macht sich nichts draus .
Gott sei Dank also , daß wir mit ihr nicht noch einmal dieselben Umstände haben werden , wie seit einem Jahre mit dir , Liuba . "
" Nun bist du wahrhaftig imstande und setztest dein eigenes Kind für Ruth herab , " sagte seine Frau nervös , die kein Gehör für einen scherzenden Ton besaß , " laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien reisen ! "
" Nein ! " entgegnete er ärgerlich , drehte seinen Stuhl vom Tisch ab , ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein .
Als eine der unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre unleugbare Vortrefflichkeit erschienen , wogegen es nirgends einen Appell gab , aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser gänzliche Mangel an Humor .
Die Stunde des " intimsten , ungestörtesten Beisammenseins " war gründlich verdorben .
- Ruth freilich ahnte nicht , daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch den unschuldigen Störenfried spielte , ja sie hatte im Augenblick vielleicht fast ganz vergessen , in welchem Lande der Erde , ob in Belgien oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo , sie sich befand .
Die Hände auf dem Rücken verschränkt , den Kopf ein wenig gesenkt , ging sie rastlos in ihrer Stube auf und ab , und dabei trug ihr Gesicht den Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens , wie vorhin auf der Schulbank während des Unterrichts .
Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet , und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf , als könne sie mit ihren Gedanken nicht recht ins reine kommen .
Nach einer Weile blieb sie stehen , strich sich das Haar aus der Stirn und entsann sich ihres Versprechens , " wunderschön aufzuräumen " .
Damit ging es außerordentlich rasch .
Jedes einzelne Ding , das herumlag , wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert , und als dies gewissenhaft geschehen war , zeigte es sich , daß im Zimmer verblüffend wenig Gegenstände übrig geblieben waren , die man nach der Vorschrift der Tante " zierlich " hätte ordnen können .
Es war ein ganz wohnliches kleines Zimmer , mit hübschen Möbeln , einem rotsamtenen Ecksofa und sogar einer Nippesetagere , worauf ein gläserner Mops stand .
Aber es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin , sondern das einer gut eingerichteten Hotelstube .
Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten etwas über das Wesen derjenigen aus , die hier schlief und lernte und träumte .
Es hatte den Anschein , als sage Ruth täglich auch zu dieser Umgebung , wie vorhin in der Schule :
" Ich gehe doch bald fort . "
Als Ruth fertig war , griff sie hastig nach einem weichen englischen Wollbarett von leichter grauer Strickerei , setzte es wie eine Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube neben der Küche .
Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde , die Messer putzend , rittlings auf einer Bank und sang dazu , so daß die Messer im Takte flogen .
Es war ein junger Tatar , sehr gewandt und , als Mohammedaner , musterhaft nüchtern .
Beten , Singen und Schlafen waren seine liebsten Beschäftigungen .
Als er Ruth rufen hörte , schlüpfte er eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Haustür .
Sie ließ sich von ihm bis zum sinnländlischen Bahnhof begleiten ; dort entließ sie ihn .
" Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehen , Basil , " sagte sie zu ihm , als er mit gezogenem Hut an der Waggontür stand , " aber um neun Uhr mußt du mich hier wieder erwarten . "
Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf , der oben eine kreisrunde , glatt ausrasierte Stelle zeigte , sah aber dabei seine kleine Herrin etwas besorgt an .
Er wollte gern zu " seinen Bekannten " gehen , aber unerhört kam es ihm vor , sie so schutzlos in die weite Welt hinausfahren zu lassen , namentlich gegen Abend , wo es so viele Betrunkene auf den Straßen gab .
" Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten , mitzufahren ? " fragte er und kämpfte mit dem heroischen Entschluß , freiwillig auf sein Vergnügen zu verzichten .
Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht , das eben jetzt fast treuherzig aussah , und schüttelte den Kopf .
" Wo ich jetzt hingehe , darf niemand mitgehen ! " sagte sie feierlich .
Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus , wie eine , die froh ist , alles hinter sich zu lassen ; die kurze Strecke kam ihr lang vor , als führe sie wirklich weit - weit in eine ganz andere Welt .
Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach dem richtigen Weg durchfragen mußte , da wurde ihr bänglich zumute .
Was ihr vorgeschwebt hatte - zwingend , unwiderstehlich , - war ein ganz bestimmtes Traumbild , und solange nur ihre Phantasie daran herummalte , schien sich ihr alles von selbst zu verwirklichen .
Das Wirklichkeitsbild aber , das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den Traum eingriff , verschüchterte sie ; es wäre eigentlich schöner gewesen , wenn sich alles auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte , wie man sich es eben träumen läßt .
Die bange Empfindung nahm nicht ab , sondern zu , als sie endlich dem Hause nahe kam , das sie suchte .
Es war ihr , als erwache sie plötzlich und befinde sich totenallein in wildfremder Gegend .
Eine förmliche Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit , und wie gelähmt blieb sie am Gartengitter stehen .
Da lag das Haus vor ihr ; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn Strohhalme zusammen , die bis auf die Straße verstrent waren , und daneben stand ein Knabe , den Hut im Nacken , und sah zu .
Der mußte sie sicher gleich bemerken .
Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt .
" Die Augen zumachen - fortlaufen ! " dachte sie sehnsüchtig .
Aber das durfte sie nicht .
Ihren eigenen Willen durfte sie ganz gewiß nicht hinterdrein im Stich lassen .
Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun .
Und leise - leise , mit werbendem Klang , lockte aus der Tiefe des Gartens die zweite .
Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben entzückt darauf haften .
" Der Frühling ! " sagte sie jauchzend , ganz laut .
Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr .
Nun erst wurde sie sich dessen bewußt , daß sie doch soeben , auf dem Weg vom Bahnhof , unter grünenden Birken gegangen war , und daß im Grase am Wegrand weiße Anemonen standen .
Jetzt kam es ihr vor , als sei das nur so ein wenig Frühling gewesen , der von den Menschen , die aus diesem Garten traten , unterwegs verstreut wurde .
Aber hier war der Frühling zu Haus , von hier mußte er kommen ; und nun stand sie dicht vor dem Gitter , hinter dem er blühte .
In dem rotgoldenen Duft , den die Sonne darum wob , schaute er mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie ein Märchen hinter dem alten Hause hervor .
Da einzutreten , das war fast , als ob man aus einem Traum gar nicht herauskäme .
Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert , an der jemand stand , von dem er nicht recht wußte , ob es ein Mädchen sei .
" Ich möchte hier herein ! " sagte Ruth bittend .
- Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im Wohnzimmer an der Terrasse , und wie immer erzählte Erik seiner Frau lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages .
Voll Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth .
Warwaras Besuch in der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig .
Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt .
" Papa ! da ist jemand , der dich sprechen will .
Ruth heißt sie .
Ich habe sie in dein Arbeitszimmer geführt . "
" Aber Jonas ! " rief seine Mutter , " wie konntest du das nur tun !
Da drin muß es ja noch schauderhaft aussehen !
Bringe sie doch herüber , Erik !
Bitte , bringe sie lieber herüber !
Wenn Gone nur abräumen möchte ! "
Erik hörte es nicht mehr .
Er war schon fort .
Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat , stand Ruth mitten darin , etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die Brust gedrückt .
Der erste Eindruck , den er empfing , war wieder der des Scheuen , Vereinsamten , wie in dem Augenblick , wo sie so still gesagt hatte :
" Mir hilft niemand ! "
Wie er sie so dastehen sah , und sie ihm mit großen , bangen Augen entgegenblickte , erinnerte sie in keinem Zuge mehr an den ausgelassenen Jungen im Schulhof .
Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon , daß man im Fall eines unerwarteten Besuches zuznächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas Freundliches sagt .
All dies Getty kam ihm wie zu einer anderen Welt gehörig vor , - jedes konventionelle Wort vergaß er dieser schüchternen , kindlichen , sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt gegenüber .
Es war , als stünde sie auf einer einsamen Insel am weiten Meeresstrande ganz allein vor ihm , - ein Kind aus dem Volke - , und ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen .
Ganz unwillkürlich aus diesem Eindruck heraus fand er nur das Wort der Freude : " Kommst du zu mir ? "
Das " Du " wirkte wie eine Erlösung auf sie .
Es schien ihr in dieser Einfachheit ein Zauberwort , das die fremde , herzbeklemmende Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte , - sie umwandelte zur traumhaften Verwirklichung dessen , was Ruth ersehnt und ersonnen hatte .
Sie machte einen Schritt auf Erik zu , ein heller Ausdruck flog über ihr ganzes Gesicht , und die Hände fester gegen die Brust pressend , deren Herzklopfen ihr den Atem benahm , sagte sie kindlich : " Danke ! "
Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte ihre Hände in den seinen zusammen .
Die Hände zitterten , und es fiel ihm auf , wie blaß und schmächtig sie aussah , wenn nicht der Ausdruck übermütiger Lebensluft , den er an ihr gesehen hatte , darüber hinwegtäuschte .
" Fürchtest du dich ? " fragte er , und sein Blick ruhte auf dem schmalen Gesichtchen .
Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe , und noch immer zitterte sie , wie ein Vogel , auf den sich eine fremde Hand legt .
" Du fürchtest dich doch nicht vor mir , zu dem du kommst ?
Sage mir , weshalb du kommst . "
Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich .
In Gedanken durchlief sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses , vom ersten Schuleindruck an , - aber die ließ sich ja , so weitläufig und verworren wie sie war , ganz gewiß nicht wiedererzählen .
Sie versuchte , die Hauptsache herauszuholen .
Aber nun vergaß sie alles .
Es war rein unmöglich .
Und plötzlich brach Ruth in Tränen aus .
" Mein liebes Kind ! " sagte er sanft und strich ihr das lose lockige Haar aus der Stirn , das über das gesenkte Gesicht gefallen war .
Dann nahm er ihre Hände wieder in die seinen .
" Hast du Vertrauen zu mir ? " fragte er .
" Ja ! " sagte sie leise .
" Unbedingtes ? "
" Ja ! " sagte sie wieder .
" Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten .
Versuche jetzt einmal ganz fest , es zu bezwingen .
Ganz fest , hörst du ?
Es wird schon gehen . "
Sie machte eine Anstrengung , das nervöse Beben , das durch ihren Körper ging , zu unterdrücken .
Er wartete ruhig einige Augenblicke , bis es ihr gelungen war .
Dann beharrte er auf seiner ersten Frage :
" So .
Und nun sage mir , weshalb du gekommen bist .
Sage es , so gut du kannst .
Versuch es nur .
Ich werde dir helfen . "
Sie seufzte und begann unsicher :
" Ich komme nun bald nicht mehr in die Schule - "
" Nein .
Ich weiß .
Und - ? "
" Und da mußt ich hierher . "
Sie brach ab , wie um ihre Gedanken zu ordnen , dann fügte sie schüchtern hinzu , mit einem rührenden Ausdruck :
" Ich bin ja allein ! "
Erik wurde es warm bis ins innerste Herz .
Noch nie meinte er eine so tiefe , so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben wie diesem Kinde gegenüber .
Der Wunsch , sich ihr zu widmen , die Hand auf sie zu legen , wie auf etwas , was ihm zugehörte , wurde plötzlich so stark in ihm , daß er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten ließ .
" Möchtest du hierher gehören , Ruth ? " fragte er .
" Ach ja ! " rief sie lebhaft , und dann sagte sie mit Inbrunst : " Immer ! "
Ihr Gesicht hatte sich verändert , die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus und lachten aus den nassen Wimpern .
Sie hätte so gern wieder gesagt :
" Danke ! "
Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem Worte ausgesprochen .
Aber sie scheute sich , es zu wiederholen .
Erik sah ernsthaft vor sich nieder , als erwäge er nachdenklich einen Plan .
" Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei Unterricht erhalten , " bemerkte er , sie zur Wirklichkeit zurückfürhend , " wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert .
Möchtest du ihn bei mir nehmen ? "
Sie nickte eifrig .
" Gut .
Wir würden also miteinander arbeiten , " - und in leichtem Tone setzte er hinzu : " sehr viel arbeiten , Ruth !
Wirst du das auch wollen ?
In dem Aufsatz da , - der hat uns ja zueinander geführt , nicht wahr ? - nun , da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen .
Einen so ungeordneten kleinen Kopf mit so krausen , wilden , unfertigen Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen .
Glaubst du das wohl ? "
Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an , als ob sie dächte :
" Du wirst es schon ordnen und entwirren ! "
Er blickte schweigend auf sie hin , und wieder erschien sie ihm wie ein scheuer mattgeflogener kleiner Vogel , der sich hilflos flattert hat und sich mit einemmal in einem weichen Neste findet .
Draußen zögerte die Maisonne am Himmel , und durch den seinen Nebel hindurch , der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg , fielen ihre Strahlen beinahe rot wie flüssiger Purpur .
Die beiden noch vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hinteregarten hinaus .
Ein herber frischer Duft nach Birkenknofpen wehte mit dem lauen Abendwind ins Zimmer , und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der Nachtigallen .
Während Erik auf Ruth schaute , kam ihm eine störende Erinnerung .
" Erzähle mir doch , " sagte er unerwartet , " was denn das für ein Mann war , den du auf der Straße grüßtest ? "
Sie errötete etwas und wurde verlegen , aber um ihre Mundwinkel zuckte es dabei , wie von verhaltenem Mutwillen .
Auf den Wangen erschienen verräterisch zwei Schelmengrübchen .
" Ich - - - ach der !
Den kenne ich ja gar nicht . "
" Aber er sah dich doch so an , als ob ihr euch recht gut kenntet .
Wie kam denn das ? "
" Ja , das kam so , " begann sie mit einem Seufzer und überlegte , "- es ist wirklich nicht leicht zu erzählen .
Ich habe ihn mir ausgesucht , aber er weiß ja nichts davon . "
" Ausgesucht ?
Aber , liebes Kind , das kann doch kein Mensch verstehen , " sagte er ungeduldig , " nimm dich besser zusammen , Ruth ! sprich deutlicher .
- Nun ? "
" Ich will ja ! " rief sie eingeschüchtert , " es ist bloß so schwer !
Es war eine bloße Geschichte , - die wir untereinander spielten - im Schulhof in der Frühstückspause , - und da mußte jemand vorkommen , der ungefähr so aussah .
Und da - habe ich mir diesen ausgesucht , weil es schöner geht , wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt . "
" Aber was sollt er denn davon denken ?
Zum Beispiel schon davon , daß du ihn zuerst grüßtest ? "
" Das mußt ich ja tun !
Wie sollt er sonst wissen , was er zu tun hatte ?
Ob er grüßen durfte ? "
" Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte ?
Hast du denn das nicht überlegt ? "
Sie sah erstaunt auf .
" Das durfte er ja gar nicht .
Das hätte gar nicht in sie Rolle gepaßt .
Er mußte edel und unglücklich sein . "
Erik einfuhr ein kurzer Laut .
Seine Augen blickten ernst , fast besorgt auf sie .
" In eurem kindischen Spiel - ja .
Aber in der Wirklichkeit ? " fragte er langsam .
" Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen ?
Kannst du das nicht auseinanderhalten ?
Das mußt du können , Ruth !
Und nun sage mir , was du getan hättest , wenn er aus der eingebildeten Rolle gefallen wäre ? "
Sie dachte nach .
" Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen . "
" Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden , daß tue die Augen zugemacht hättest ? "
" Ich ?
Nein ! aber er doch .
Denn dann hätte ich ja einen anderen suchen müssen . "
" Einen anderen ?! "
Sie nickte .
" Es gibt ihrer viele ! " versicherte sie treuherzig .
" Und das hättest du wirklich getan ?
Besinne dich Mal !
Wäre es dir wirklich auch dann noch nicht klar geworden , wie kindisch und dreist dein Benehmen war ? "
Ruth sah unglücklich aus .
Offenbar machte er ihr einen Vorwurf .
Sie dachte nach , was er nur damit meinen könnte ?
Sie konnte nicht begreifen , was sie dieser fremde Mann außerhalb seiner Rolle kümmern sollte ?
" Ich brauchte ihn , und da nahm ich ihn mir ! " rief sie mit kläglichem Gesicht .
Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer .
Dann blieb er vor Ruth stehen , die sich auf die Kannte seines Stuhles gesetzt hatte .
" Sage mir , gibt es mehr solcher fremden Menschen , die du auf der Straße grüßest ? "
" Ja , Alle Straßen sind voll davon . "
"- Männer ? " fragte er zögernd .
" Auch Männer .
Ich brauche immer frische für die Schule .
Auch Frauen , Kinder , alte Leute . "
" Was meinst du damit , daß du Männer , für die Schule brauchst ? "
" In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen .
Am liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart .
Aber ich habe auch andere Geschichten , - viel , viel schönere , - wunderschöne , " fügte sie lebhaft hinzu , - " und die mit Kindern sind mir die liebsten . "
" Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Sie finden sie nicht schön ! ' sagte Ruth traurig .
Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel , der am Fenster stand , und neigte sich ein wenig vor .
" Willst du sie künftig mir erzählen ? " fragte er ernst , " aber alle , ohne eine Ausnahme .
Und ohne einen Winkel , in den ich nicht hineinsehen könnte .
Ich muß alles wissen und hören , was durch diesen phantastischen , unnützen Kopf geht .
Wir wollen einen ordentlichen Vertrag machen :
du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen .
Nur mir .
Immer , mit allem hierher kommen .
Du wolltest ja hierher gehören .
- Wirst du es bedingungslos und Gehorsam tun ? "
Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet ; er konnte es an ihrem Gesicht sehen , wie die Gedanken in ihr vergebens nach Ausdruck rangen , aber er hatte dennoch keine Ahnung davon , mit welch einem inneren Jubel ein neues Glück ihr aufging .
Sie wollte es ihm so gern sagen , aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt dessen gänzlich , und plötzlich , als müßte sie sich anstatt des Wortes wenigstens durch die Gebärde helfen , glitt sie nieder vom Stuhl und kniete bei Erik hin , - wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz , erwartungsvoll , mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten .
Sie fühlte sich so glücklich .
Zu Hause .
Geborgen .
Von hier aus mußte alles Gute kommen .
Er strich ihr leise über das Haar .
" Also höre unseren Vertrag zu Ende , " sagte er in dem ruhigen Ton , unter dem sie ganz still wurde und lauschte , " wenn du mir deine Geschichten schenkst , dann schenke ich dir auch etwas .
Du sollst , soweit es an mir liegt , nicht in deiner eigenen Phantasie stecken bleiben , sondern mit klarem Blick so weit schweifen lernen , wie das Leben - das wirkliche , herrliche Leben - reicht .
Und wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte , meinst du nicht , daß ich dich damit etwas Schöneres lehren werde , als du dir bisher geträumt und zusammengedichtet hast ? "
" Ach ja ! " rief sie sehnsüchtig , als strecke sie verlangend beide Hände nach etwas Erwartetem aus , - " das ist sie ja : von allen die allerschönste Märchengeschichte ! "
Ihm fiel der Ausdruck auf , weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen gegenüber gebraucht hatte .
" Grade das sagtest du ja , als du heute morgen den Mädchen erklärtest , daß du etwas Neues vorhättest .
Was war es denn ? "
Zu seine .. :
Erstaunen fuhr Ruth zusammen und senkte den Kopf .
Erik sah betroffen aus .
" Was war es ? " fragte er streng .
" Ich kann es nicht sagen , " versicherte sie scheu , " bitte , bitte nicht . "
Er faßte ihre Hand hart im Gelenk , so daß es sie schmerzte .
" Wenn es etwas ist , was dir so schwer fällt , auszusprechen , dann ist es um so notwendiger , daß du es sagst .
Ich muß es wissen - jetzt gleich , Ruth . "
Sie versuchte , die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen , und als es ihr nicht gelang , senkte sie das Gesicht noch tiefer , so daß es sich an seinem Rockärmel fast versteckte .
Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht .
Es war über und über in Glut getaucht .
" Es hilft nichts , sich zu verstecken , " sagte er unerwartet sanft , " du wirst mir immer nachgeben müssen , mein Kind .
Mache es kurz ! "
Ihre Hände schlangen sich nervös auf sienen Knien ineinander , dann hob sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf .
" Es war nur - ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt ; alles stockte auf einmal , - nichts mochte ich mir weiter ausdenken .
So schön ich mir es auch ausdachte , mit so vielen Menschen drin ich mir es auch ausdachte , - ich blieb immer allein .
Die Menschen grüßten und gingen vorüber .
Und da - da kam eine solche Sehnsucht , - seit vier Tagen solche Sehnsucht .
Ich konnte nicht mehr spielen .
Nie mehr . "
" Sehnsucht - wohin ? " fragte er halblaut .
" Hierher ! " sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg .
Er ließ ihn frei , ließ zu , daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel versteckte .
Beide Arme hatte er um sie geschlungen .
Kapitel Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon , hielt Hut und Handschuhe auf den Knien und blickte nachdenklich darauf nieder , während er dem Gespräch der beiden zuhörte .
" Ich finde , mit deiner Reise stimmt es gut zusammen , Mathilde , " sagte der Onkel jetzt , " denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist , ist Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier .
Ich weiß ohnedies nicht , was die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll , da in diesem Jahr die meisten Bekannten nicht aufs Land , sondern ins Ausland gehen . "
Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde stark durch sie beeinflußt .
Der Onkel mit seinem aschblonden , schon etwas graugemischten Haar und Bart , mit den schmächtigen Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und den frauenhaft feinen Händen gefiel ihm recht gut .
In Ton und Haltung erinnerte er ein wenig an Ruth .
Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine ausgesprochene Antipathie .
" Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären auch jetzt durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth , " bemerkte er aufblickend ; " sie muß zu tun haben , - wirkliche Arbeit und Anstrengung muß sie haben .
Selbst körperliche oder geistige Überanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung .
In diesen Jahren braucht man starke Nahrung , und Ruth braucht sie am meisten . "
" Siehst du ; was sage ich immer ? " fiel die Tante ein , und nickte ihrem Mann bedeutsam zu ; " ich sage immer : man läßt sie viel zu viel gewähren .
Aber du hast das immer am bequemsten gefunden . "
" Lieber Gott ! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen Frauenzimmer anfangen , " versetzte der Onkel begütigend , " man konnte sie doch nicht etwa anstellen , Stuben zu scheuern ? "
" Nein , weißt du , lieber Louis ! das brauchst du nur wirklich nicht vorzuhalten , - es ist ja gerade , als ob ich Ruth Dinge verrichten ließe , die sich nur für den niedrigsten Dienstboten schicken ! " sagte seine Frau , die scherzende Übertreibung unerbittlich ernst nehmend , " aber sich ein wenig im Häuslichen umsehen , - das hätte Ruth ganz wohl können .
Liuba wird ja auch dazu angehalten .
Es ist doch nun einmal der Beruf der Frau . "
Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große , stattliche Erscheinung der Tante , für deren ganzes Wesen ihm charakteristisch erschien , daß die gewohnten guten Formen des äußeren Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht zu verdecken vermochten .
" Was das anbetrifft , " unterbrach er sie ungeduldig , " so brauchen Sie sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen .
In einem so von allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte , häusliche Hilfe ' , bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen , im besten Fall eine gleichgültige Spielerei , - im schlimmeren Fall weckt sie die Einblidung , man habe etwas geleistet .
Dagegen hätte ich gegen das Stubenscheuern nicht viel einzuwenden . "
Der Onkel lachte erfreut auf .
" Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau gründlich verdorben ! " drohte er scherzend , " aber ich muß bekennen , daß ich gar nicht begreife , warum Sie alle beide so versessen drauf sind , Ruth ins Joch zu spannen .
Natürlich habe ich nicht das geringste gegen den Unterricht , den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen , - im Gegenteil , es freut mich für die Kleine .
Aber ich möchte Sie doch bitten , das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch auszuführen .
Nicht ins Geistige zu übertragen .
Machen Sie es nur nicht zu ernsthaft .
Ruth ist es so gewohnt , umherzulaufen und in ihrer Faulheit vergnügt zu sein . "
" Ich glaube , Sie täuschen sich , " entgegnete Erik in bestimmtem Ton .
" Ruth ist weder faul noch vergnügt .
Sie ist es gewohnt , sich in einem selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen .
Sie ist dadurch zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt , zum Teil aber auch hinter ihrem Alter zurückgeblieben .
Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung gesehen .
Wenn sie nicht rechtzeitig aufgehalten wird , so läuft Ruth Gefahr , an ihrer Phantasie geistig zu erkranken . "
Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf .
" Das ist doch kurios , " sagte er , " ich habe Ruth stets für ein höchst praktisches kleines Frauenzimmer gehalten .
Von Phantasie war doch nie eine Spur an ihr zu bemerken .
Alles was sie sagt , ist ja so direkt und nüchtern .
Und am liebsten sagt sie gar nichts .
Sie sollten nur wissen , wie nüchtern sie in allem ist , wo die jungen Mädchen sonst ihre Phantasie sitzen haben !
Das hat mir stets so gut gefallen .
Da kann Liuba gar nicht mitkommen . "
Seine Frau sah ihn verletzt an .
" Glücklicherweise nicht ! " bestätigte sie etwas erregt .
" Liuba würde nicht umhergehn wie in einen grauen Sack gekleidet , bloß weil es so am bequemsten ist .
Und überhaupt - denken Sie nur , neulich höre ich , wie meine Tochter zu Ruth sagt : , paß nur auf , wenn du ein Jahr älter bist , dann wirst du schon wissen , was schön und häßlich ist , und wirst vorm Spiegel fragen :
Wie gefalle ich ihm ? ' - - Mein Gott , Sie wissen ja , wie junge Mädchen so untereinander reden !
Aber was antwortet Ruth orauf ?
Sie lacht nur , und dann fragt sie erstaunt : , Warum nicht lieber : wie gefällt er mir ? ' "
In diesem Augenblick ging die Tür auf , und Ruth trat ein .
Sie kam aus ihrem Zimmer , ohne eine Ahnung , daß sie Besuch vorfinden würde .
Als sie so unerwartet Erik erblickte , fuhr sie zurück und wurde glühend rot .
Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der Ihrigen , die ihr so fern standen , - die unerwünschte Vermischung eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung , die sie mied und floh , machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie .
Etwa so , wie wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben niedersteigt , um ein banales Gespräch zu führen ; - etwa so , wie wenn man das Intimste , was nicht einmal Worte besitzt , in die Sprache des Pövels übersetzt findet .
Daß Erik herkommen , daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten auseinandersetzen mußte , das fiel ihr nicht im geringsten ein .
Er hätte das schon so einrichten müssen , daß es eine Angelegenheit aus einer anderen Welt - aus ihrer Welt blieb .
Sonst wäre sie lieber noch des Nachts heimlich und auf bloßen Füßen zu ihm gelaufen .
Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus , wie sie sich da , verlegen und mit scheuem Gesicht , in die Türspalte drückte .
Aber nicht Verlegenheit empfand sie , sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham , - Scham darüber , daß etwas Zartes , ihr Zugehöriges vor fremden Augen herumgezeigt und besprochen wurde .
" Nun , Ruth , benimmt man sich so ? " bemerkte die Tante verweisend , " kannst du nicht näher kommen ? "
Da tat sie etwas Wunderliches .
Sie hob beide Hände seitlich vor die Augen , und so , mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht , ging sie , wie ein Kind , das sich vor fremden Gästen fürchtet , durch das Zimmer bis vor den geschnitzten runden Sofatisch , um den sie saßen .
Der Onkel lachte , seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte strafend :
" Ein so großes Mädchen ! "
Erik , der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte , blickte sie schweigend und aufmerksam an .
Als sie dicht neben ihm stand , hob er die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort .
" Warum willst du mich heute nicht ansehen , Ruth ? " fragte er sie .
Sie antwortete nicht .
Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu Boden gesenkt .
Dieses " Du " , das er zu ihr sagte , und das sie gestern so dankbar hingerissen hatte , verletzte sie heute beinahe .
Es klang ganz anders - hier , an dieser Stelle , - es klang wie die Anrede , die man einem Kinde gegenüber wählt , das unter lauter Erwachsenen dasteht .
Ja , sie stand ihm und den anderen gegenüber , und sie verhandelten da über sie , als wäre sie verraten und verkauft , - als handelte sich es gar nicht um ihre - ihre eigene , eigenste Angelegenheit .
Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft .
" Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen , " meinte der Onkel , noch immer lächelnd , " aber sie ist nicht so schlimm , wie es aussieht .
Was ist dir nur in die Krone gefahren , Kleine ?
Verlegen habe ich dich noch nie gesehen . "
Erik , der sie unverwandt ansah , suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken .
" Wir wollen schon miteinander zurechtkommen , " sagte er mit warmer Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und Stunde des geplanten Unterrichts .
Ruth stand teilnahmlos daneben , ohne die Wechselreden der anderen zu beachten .
Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz .
Sie blickte nicht auf , sondern studierte eingehend das glänzende Muster des Parkettfußbodens .
Da , als Erik schon Miene machte , sich zu verabschieden , hörte sie ihren Onkel sagen : " Wenn es Ihnen also wirklich kein zu großes Opfer ist , so erwarten wir Sie hier nachmittags nach Ihren Schulstunden ! "
" Nein ! " warf Ruth plötzlich laut dazwischen .
Es war , als ob sie aufwachte .
Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum anderen .
" Hierher ? das ist ja ein Irrtum .
Ich werde hinaus kommen . "
Alle sahen sie verwundert an , als sie das so kategorisch , ohne eine Spur von Befangenheit erklärte .
Erik aber erhob sich rasch .
" Das ist am Ende wirklich das Bessere , " stimmte er ihr unwillkürlich bei , " und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns verbringen will , so wäre es in der Tat während dieser Sommertage vorzuziehen . "
Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen , überlegenen Sicherheit wie vorhin , sondern etwas hastig .
Ein schwacher Reflex von dem , was Ruth so peinigend und störend an der Situation berührt hatte , schien jetzt auch auf ihn überzugehn , als ahne oder begreife er plötzlich ihre zornige Scheu .
Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen , fast strengen Blick auf sich gerichtet sah , da kam es ihm selbst mit einemmal sonderbar vor , daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen als in seinem eigenen , stillen Zimmer , - dort , wo sie zu ihm gekommen war .
Beinahe hätte der Zufall es so gefügt .
Aber sie ließ keinen Zufall zu .
Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen , was sie sich ersehnt und erträumt hatte .
Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ , und die Tante hinausging , blieb Ruth regungslos stehen , die Hände auf dem Rücken , den Kopf gebückt , wie immer , wenn etwas sie sehr beschäftigte .
Im Flur hörte sie die Haustür gehen , dann einen raschen Schritt auf der steinernen Treppe .
Darauf wurde es ganz still .
Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier , überschüttet von blendendem Sonnenlicht , das durch die hohen Blattgewächse und Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte , die schon einen dünnen Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten .
Ruth ging langsam auf den Stuhl zu , worauf Erik vorher gesessen hatte .
Sie setzte sich hin , legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf darauf .
Und dann fing sie an , bitterlich zu weinen .
- Bei Tisch , zu Mittag , beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich .
Es hatte ihm so sehr imponiert , daß Erik alles zu ergründen schien , was in ihr vorging .
Da saß sie nun so schweigsam .
Freilich konnte man nicht wissen , woran sie dachte .
Aber das konnte dieser Lehrer doch auch nicht .
Er war doch kein Hellseher .
" Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag ? " fragte Onkel Louis plötzlich ärgerlich .
" Ich ?
An gar nichts ! " versicherte sie mit einem verwunderten Blick .
" Aber an irgend etwas mußt du doch denken .
Das tut ja jeder Mensch .
Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben ? "
" Jetzt eben dachte ich an Großpapa , " sagte Ruth .
Darüber freute sich der Onkel und sah sie freundlich an .
Er hatte seinen Vater unendlich lieb gehabt .
" Du warst erst fünf Jahr alt , als deine Eltern starben und du hierher kamst , erinnerst du dich denn seiner noch ? "
Sie nickte , und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf : eine Generalsuniform , ein schneeweißer großer Schnurrbart , und darüber zwei gütige blaue Augen - Kinderaugen eigentlich .
" Einmal habe er mich aus dem Bett , - er sah so schön aus , mit Bändern und Sternen , und blitzte über und über , - und da kam seine brennende Zigarette an meine bloßen Arm .
Ich schrie sehr .
Und da kamen ihm Tränen in die Augen , - aber wirkliche , große Tränen , so daß die Augen ganz voll davon standen .
Und dann drückte er mich an sich und küßte mich - auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den ganzen Körper . -
So war Großpapa . -
Jetzt würde ich mir gern den Arm abbrennen lassen , wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte ! " fügte sie wild hinzu .
Man sah , wie es in ihr gärte .
Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie vergessen können .
" Hast du Bilder und Andenken von ihm ? " fragte der Onkel und dachte darüber nach , was er ihr schenken könnte .
Sie schüttelte den Kopf .
" Keine Bilder .
Nur ein Knallbonbon .
Das brachte er mir einmal vom Kaiser mit .
Von einem Galadiner .
Ich glaubte so bestimmt , es müßten goldene Kleider drin sein .
Aber Großpapa meinte , es wären nur Kleider von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold .
Da habe ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen .
Ich habe es noch . - .
Und so sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin . "
Dem Onkel kam ein Lächeln .
Erik imponierte ihm lange nicht mehr so sehr .
Großpapas Küsse , Knallbonbons , goldene Kleider und Kleider aus Seidenpapier , - das waren doch sicherlich normale und harmlose Phantasien eines Kinderkopfes . -
Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde fortging , zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr zu :
" Du ! wenn du ihm weglaufen solltest , so nehme ich dich in Schutz ! " -
Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand , kam ihr nicht , wie neulich , der Gedanke an Weglaufen .
Sie zauderte auch nicht mehr so lange , einzutreten , sondern stieß die Pforte auf und ging geradeaus , - nicht hinten die Terrasse hinauf und ins Haus , sondern weiter , in die Tiefe des Gartens , der sie das erste Mal so gelockt hatte .
Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen , emsig beschäftigt , Raupen zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen .
Eigentlich waren noch gar keine Raupen da .
Aber er konnte es nicht erwarten , sie abzulesen .
Als er Ruth herankommen sah , riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf und machte ein verlegenes Gesicht , denn der Sonnenwärme wegen hatte er die Jacke abgeworfen .
" Papa ist im Hause ! " bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach seiner Jacke , die auf dem Rasen lag .
" Ja ! Er stand am Fenster , " bestätigte Ruth , und lehnte sich gegen den dicken Stamm einer alten Ulme .
Darauf wußte er nichts zu entgegnen , und so schwiegen sie beide einige Augenblicke .
" Wie wunderschön ! " sagte Ruth dann , ganz in ihren Frühling versunken , und breitete beide Arme nach den mächtigen , leise schwankenden Ästen empor , die über ihr rauschten .
Jonas sah angestrengt in die Höhe , gewahrte aber nichts .
" Wo ist das Schöne ? " fragte er verwundert .
" Diese drolligen kleinen Ulmenblätter !
Die anderen Bäume haben schon viel größere Blätter .
Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den Knospen , - und alle miteinander an den Zweigspitzen , - als getrauten sie sich nicht .
Oder als guckten sie frierend nach den klebrigen braunen Hülsen , die sie schon heruntergeworfen haben .
Sieht es nicht aus , als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut ?
Es sieht aus , als wären sie ihm nur so angeflogen .
Und als könnten sie wieder wegfliegen . "
" Die fliegen aber nicht weg , " versicherte Jonas und wandte sich wieder seinen vermeintlichen Raupen zu .
" Nein .
Nur diese hier tun es , " bemerkte Ruth und streckte ihre Hand gegen den Kirschbaum aus , von dem unter Jonas ' unvorsichtiger Berührung die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten .
" Dies hier sind gute Kirschen .
Hoffentlich von den roten durchsichtigen , " meinte Jonas , " denn die es ich am liebsten .
Sonst habe wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen . "
" Die sehen ebenso schön aus , " entgegnete Ruth ; " wenn man am Gitter steht , sieht es aus wie ein Märchen .
Aber später werden sie so grün und natürlich wie die anderen Bäume .
Nur kleiner . "
" Das muß so sein , " erklärte Jonas gleichmütig , " sonst würde der Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen .
Und der ist das Beste vom Sommer .
Denn gerade hier am Springbrunnen unter den Obstbäumen liegt meine Mutter im Ruhestuhl .
Und sie kann die viele Sonne nicht vertragen . "
Ruth sah ihn mit Interesse an .
Es kam ihr als etwas Besonderes vor , daß er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten freute und die grünen Blätter besser fand als all die wunderschönen weißen Blüten .
Die Schulmädchen , die sie kannte , besaßen zwar meistenteils auch Mütter , aber die pflegten gesund zu sein , und nie hatte sie gehört , daß sie sich Deernwegen auf den Sommer freuten , sondern immer nur wegen der Ferien .
Und dann waren es Mädchen .
Dies hier aber war ein Junge .
Sie betrachtete Jonas genauer , und er gefiel ihr sehr gut .
Und auch er sah jeden Augenblick zu ihr hinüber , und auch sie gefiel ihm über die Maßen .
" Ist sie sehr krank ? " fragte sie nach einer Weile zaghaft .
" Nicht sehr .
Sie kann nur nicht aufstehen , - schon viele Jahre nicht , " belehrte er sie ; " wenn sie das tun will , dann nimmt Papa sie in die Arme und trägt sie .
Das kann er so prachtvoll .
Machmal hat sie auch Schmerzen , und weint .
Und dann muß Papa immer bei ihr sein , und das hilft ihr . "
Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu , wo die kranke Frau lag und wo er war , der sie trug und ihr half , wenn sie Schmerzen hatte .
" Hinter diesem Fenster , " sagte Jonas und wies mit der Hand über die Terrasse nach dem Wohnzimmer ; " da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen hereingetragen worden . "
Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu sehen , der ihnen den Rücken zukehrte .
Und nun wandte er sich langsam um .
Ruth löste sich ein wenig hastig von dem Stamm , woran sie lehnte .
" Jetzt will ich hineingehen , " sagte sie .
Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten sehen , war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt , wo sie mit Jonas stand und plauderte .
Klare-Bel lag neben dem Fenster , mit einer mühsamen und kunstvollen Handarbeit beschäftigt , die darin bestand , an einer schadhaft gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen .
Man nannte diese Arbeit in Holland " Matzen " .
Und wer es ernst damit nahm , der wollte das " Matzen " bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt wissen .
" Kommt Ruth noch immer nicht herein ? " fragte sie nach einer langen Pause .
Er zog die Uhr .
" Nein .
Noch fehlen einige Minuten an der Zeit , " bemerkte er einsilbig .
" Das ist doch eigentlich kein Grund , nicht hereinzukommen , wenn sie einmal da ist .
Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und plaudert mit Jonas , als daß sie im Zimmer sitzt und lernt , Erik .
Das ist am Ende auch ganz natürlich . "
Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre Handarbeit nieder .
Er konnte das " Matzen " nicht leiden und bahauptete , es verdürbe die Augen , und sogar den Charakter .
" Bitte , höre jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf , " sagte er und nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand , " ich weiß nicht , - das Zeug macht nervös . "
Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr .
Ihm war die Ahnung gekommen , daß es doch nicht so ganz von selbst gelingen werde , bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen , wie er sich es an jenem wundersamen Maiabend gedacht hatte .
Sie wollte durch keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung von seiner Seite in ihrem selbständigen Traumleben gestört werden , und erhob sie ihn auch zum Helden ihrer " allerschönsten Märchengeschichte " , so mußte er sich dabei doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen , - sonst entglitt sie ihm leise wieder , so leise und traumhaft , wie sie in sein Leben gekommen war .
Das durfte nicht sein ; der Erzieher in ihm litt es nicht , daß ihm mißlinge , was er sich mit Ruth vorgenommen hatte .
Er wußte :
er würde nicht eher ruhen , als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte .
Aber welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben !
Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige Freude .
Freude über den Kampf , der ihm mit Ruth bevorstand .
Erik , der andere weit besser zu erforschen verstand als sich selbst , ahnte gar nicht , wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein jugendliches , herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte .
Er wandte sich dem Garten zu .
" Jetzt kommt sie ! " sagte er , und wirklich , es klang wie ein Seufzer der Erleichterung .
Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf .
" Nun , viel Erfolg , Erik !
Vergiß nur nicht , daß wir um neun Uhr den Tee nehmen .
Du wirst sie hungrig und durstig machen , denke ich mir . "
Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen und öffnete schon von innen die Tür , als Ruth kam und anklopfen wollte .
" Endlich ! " bemerkte er , während sie eintrat , " weißt du , Ruth , was meine Frau soeben meinte ?
Sie meinte , du seiest gewiß viel lieber mit Jonas draußen im Garten als bei mir hier in der Stube .
Was sagst du dazu ? "
Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in den Ledersessel , der am Fenster stand .
Dann erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen :
" Ich bin doch gekommen , weil ich wollte , - nur weil ich es wollte .
Das Jonas auch hier ist , wusste ich doch gar nicht .
Das ist ja nur Zufall .
Den fand ich hier . "
Er wußte nicht gleich , was ihn an der Antwort , die keine war , überraschte .
Sie betonte ausschließlich , daß sie ganz aus freien Stücken hier sei .
Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar nicht ein .
" Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt , mein liebes Kind , " sagte er , indem er an seinen Schreibtisch trat und einige Hefte und Bücher zurecht legte , " denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehn wirst du ja in der Folge nur , wenn du , willst ' , das heißt , wenn dir Stimmung und Laune zufällig danach stehen .
Hier hingegen , wo du freiwillig hergekommen bist , kann es doch nicht ganz so bleiben .
Hier wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten , was vom Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist .
Also auch etwas , wovon du manchmal denken wirst : , ganz so möchte ich es nicht , - ganz so meint ich es nicht , - dies da soll anders sein , - das da soll heute nicht da seine .
Ist es nicht so ? "
Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes Gesicht .
Es war ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen , was er da sagte .
Aber daß er das wissen konnte , kam ihr sehr unangenehm vor .
Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze , die sie aufbehalten hatte , vom Haar .
" Nun Ruth , gestern hast du mich nicht ansehen wollen , und heute willst du mich nicht anreden .
Hältst du so unseren Vertrag ?
Und ich hoffte bestimmt , daß du mir viel erzählen würdest .
Viel - alles .
Alle deine schönsten Geschichten . "
" Nein , " erklärte Ruth , " nie und nimmer .
Ich will nichts erzählen .
Ich will alles für mich allein bahalten . "
" Du Geizhals ! " sagte er und lachte , " das ist sehr schlimm .
Ist es nicht schlimm , wenn man einen zu Gaste geladen hat , und dann die Haustür vor ihm zuschlägt ?
Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr , Ruth .
Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt ?
Hast du das vergessen ?
Nun sind sie mein Eigentum .
Ich kann damit machen , was ich will .
Ich kann sie dir aus Kopf herausnehmen und für mich ganz allein behalten . "
" Ach nein ! " fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach ihrem Kopf , " das geht ja gar nicht .
Es geht nicht , wenn ich nicht will . "
" Du sprichst so viel von deinem Willen , Ruth .
Und daß du nur hier bist , weil du gerade willst .
Aber weißt du denn eigentlich auch , wozu du es willst ? "
Sie stutzte und blickte auf .
Als sie nicht gleich eine Antwort fand , fügte er hinzu : " Ich weiß es für dich :
du wolltest eben diesen Willen klären und erziehen lassen von jemand , der dich lieb genug dazu hat .
Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu . "
Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels , und ihr Gesicht wurde noch ablehnender .
" Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte ! " dachte Erik , sie betrachtend .
Aber hinter diesem Visier arbeitete eine steigende Erregung in ihr .
Die passive Stimmung , in der sie heute hergekommen war , hielt unter Eriks Andrängen nicht stand , aber noch weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten Abends wiederzuerhaschen .
Sie verschloß und verbarg sich daher instinkitv vor ihm , wie vor einer Macht , die man sich erst genau ansehen muß , ehe man sich mit ihr einläßt .
" Alles ist heute anders ! " murmelte sie .
" Es wird immer anders sein , als du dir_es willkürlich ausmalst , " entgegnete er in ruhigem Ton , " und das soll es auch , Ruth !
Es soll zu ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie .
Siehst du , auch ich habe mir etwas Schönes ersonnen und geträumt , was ich in dir verwirklicht sehen möchte .
Ich versprach dir doch : für die Geschichten , die du mir erzählen wolltest , solltest du eine durch mich erleben .
Die Allerschönste , - sagtest du nicht so ?
Mit dem Erzählen mußt du es nun halten , wie du willst , aber mit dem Erleben wirst du_es halten , wie ich will .
Es war mein Geschenk für dich .
Und wenn du heute auch nichts davon wissen willst , so wirst du es doch annehmen müssen . "
Ruth wurde unruhig .
Sie kannte nur zwei Sorten Menschen , und daß sie Erik in keiner von beiden unterbringen konnte , ängstigte sie .
Die eine Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung , die ihr meistens störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt ; die andere bestand aus den fremden Menschen , die sie , wie Schattenbilder , aus der Ferne betrachtete und denen sie die äußere Anregung zu ihren Phantastereien entnahm .
Zu diesen konnte Erik nicht gehören , denn die taten nur , was sie wollte , - sie waren ja nur , was sie wollte .
Er hingegen war eine Wirklichkeit , die auf sie eindrang .
Sie konnte ihn aber auch nicht abwehren , wie sie die Ihrigen von sich abwehrte , denn es war etwas da , was sie mächtiger reizte und anregte , als es alle Schattenbilder zusammen getan hatten .
Sie sah ihn scheu an .
" Ich will lieber ein anderes Mal kommen , " bat sie leise , " ich kann heute nicht lernen .
Ich kann es nicht . "
" Doch , doch ! " entgegnete er beschwichtigend , " du kannst es .
Und im Grunde willst du es auch .
Aber wir können nicht in jedem Augenblick den Kampf darum von neuem aufnehmen .
Der muß ein für allemal entschieden werden .
Du oder ich , Ruth !
Einer von uns beiden muß gehorchen . "
Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich :
" Dann kann ich auch fortbleiben . "
Es war ihr ganz spontan , wider alle Überlegung , entfahren .
Aber nun half es nichts .
Nun war es heraus .
Erik sah , daß sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand , und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn .
Ihm kam es vor , als habe er sie mißhandelt , und sein Blick wurde sehr weich .
Aber er dachte nicht daran , dieser weichen Regung nachzugeben .
Er wünschte , die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag zu bringen .
Am Gelingen zweifelte er nicht .
Und voll Freude fühlte er : war es erst überstanden , so konnte er alle Strenge in die Rumpelkammer werfen .
Dann war er Ruths für alle - alle Zeit sicher .
" Gewiß kannst du fortbleiben , " bestätigte er ruhig , " wenn sich es für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat als um einen solchen Zeitvertreib , wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt .
Weißt du noch , was du von dem Fremden gesagt hast , den ihr in euer kindisches Spiel hereinzogt ?
, Wenn er mir nicht gepaßt hätte , wenn er aus der Rolle gefallen wäre , die ich ihm zugewiesen habe , dann hätte ich mir einfach einen anderen suchen müssen , - ich hätte die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen . ' Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so - - dann Lauf nur fort . "
Während er sprach , fühlte er beständig das große Mitleid .
Sie sah nur ein einziges Mal auf , und wie sie seinem weichen Blick begegnete , da war es , als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über , - als suche sie nach einer Waffe , nach irgend etwas , was sie von ihrem Leiden befreien , ihm weh tun und ihr Macht geben könne .
Ihm fielen die Worte ein , die sie vom Fremden gebraucht hatte :
" Ich brauchte ihn eben , und da nahm ich ihn mir ! "
Ruth langte nach ihrer Wollmütze , die auf dem Schreibtisch lag , und drückte sie zwecklos in den Händen zusammen .
" Ich will nach Hause gehen ! " wiederholte sie und zitterte am ganzen Leibe .
" Wie du willst . "
" Also adieu , " sagte sie und ging langsam , wie gelähmt , der Tür zu .
" Adieu , mein Kind . "
Sie hatte Mühe , den Türgriff zu finden und niederzudrücken , ihre Hände waren kalt und gehorchten ihr nicht .
Als aber die Tür offen war und sie in den Flur hinaustrat , da blickte sie beim Schließen der Tür mit brennenden Augen ins Zimmer zurück .
Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster .
Er hatte den rechten Arm auf die Lehne gestützt und die Hand über die Augen gelegt .
Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein : daß all sein Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienwollen sei .
Plötzlich überfiel es sie : daß er eben jetzt leide , - um sie leide , die ihn verletzt hatte .
Es traf sie mit einem Schmerzgefühl , aber dies Gefühl war seltsam und berauschend : es lag Triumph darin .
Es war ein Schmerz , der sich wie ein Glück anfühlte .
Noch immer zitterte sie am ganzen Körper , aber nicht mehr in der Angst der Flucht .
Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht , sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen .
Wer Ruth über den Flur gehen sah , der konnte meinen , sie sei trunken .
Um neun Uhr , - Gone hatte bereits den Tee und die gerösteten Brotschnittchen auf den Tisch gebracht , - kam Erik endlich ins Wohnzimmer herüber .
" Es ist doch nichts vorgefallen ? " fragte seine Frau mit einem Blick in seine Gesicht .
" Ruth ist ja schon so bald fortgegangen .
Und ich dachte doch , daß sie mit uns bleiben sollte ? "
" Für heute war es besser so , " versetzte er , und Klare-Bel fragte nicht weiter .
Aber Jonas tat es statt ihrer .
" Ruth habe ich ganz ungeheuer gern , " versicherte er , " kommt sie bald wieder her , Papa ? "
" Bald ! " sagte dieser .
" Denke dir nur , sie wollte mir es nicht sagen , " plauderte Jonas weiter , " ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen , wie sie fortging .
Da sah sie so kurios aus , Papa , ihre Augen waren so groß und glänzten so , - sie sah aus , als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte .
" Was geschenkt ? " wiederholte Erik und setzte das Teeglas , das er zum Munde führen wollte , hart auf den Tisch nieder .
" Ja , ganz gewiß , gerade so sah sie aus .
Aber sie antwortete mir nicht , und dann , am Gitter , da bat sie mich um ein Glas Wasser . "
" Ihr ist doch nicht unwohl geworden ? " fragte Klare-Bel besorgt .
" Nein , aber sie zitterte ordentlich .
Das Wasser habe ich ihr vom Brunnen geholt .
Und dann ist sie fortgegangen . -
Ich habe ihr aber noch lange nachgesehen , " fügte Jonas hinzu .
" Gewiß warst du zu streng mit ihr , Erik , " sagte Klare-Bel , " ich konnte es dir schon ansehen , wie du hinübergingst . "
" Zu streng ?
Aber , Bel , dann sieht man doch nicht aus , als ob man etwas geschenkt bekommen hätte . "
Er sprach in leichtem Ton , doch beschäftigte ihn , was Jonas erzählt hatte .
Es war etwas Neues , Unerwartetes , worin er sich nicht gleich zurechtfinden konnte .
Daß sie trotzte , und selbst daß sie weglief , begriff er ganz gut und rechnete damit .
Aber dies hier begriff er nicht .
War es denn möglich , daß sie gern - mit Freude fortging ? - -
Und daß sie nicht wiederkam ? - - Während sie noch beim Tee saßen , zog draußen ein schweres Gewitter herauf .
Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fentser , durch das man die dunkle , schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah .
Ein Sturmwind fuhr durch die Baumkronen , schüttelte und beugte sie ; der Tagesschein , den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte , verschwand unvermittelt .
Und gleich darauf prasselte unter grellzuckenden Blitzen und gewaltigen Donnerschlägen ein heftiger Platzregen nieder .
" Bitte , laßt doch die Fenster schließen !
Bitte , Jonas , esse nicht mehr !
Ach Erik , der Donner ! " sagte Klare-Bel , die vor jedem Blitz die Augen schloß .
Erik stand auf , blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in den Aufruhr hinaus , dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück .
Die Gewitterangst war etwas , was sie überkommen hatte , seitdem sie hilflos daliegen mußte .
Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht , und Erik würde es auch wohl nicht an ihr geduldet haben .
Jetzt hatte er Geduld damit .
" Wenn man eine Lampe anzünden könnte !
Es ist so dunkel geworden auf einmal .
Und dann ist der Blitz so furchtbar hell , Erik ! "
" Gone braucht keine Lampe hereinzubringen , " erwiderte er lächelnd und legte seine Hand über ihre Augen ; " bist du nun nicht geborgen , Bel ? "
Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände .
Es war ein arges Gewitter .
Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag .
Auf Augenblicke sah der Garten aus wie von bengalischen Flammen beleuchtet , und im bläulichen Schein konnte man die vom Sturm losgerissenen Blätter und Blüten in tollem Wirbel Durcheinanderfliegen sehen .
Wenn der Donner besonders gellendes krachte , fuhr Klare-Bel jedesmal zusammen .
" Ob Ruth wohl schon zu Hause war , ehe es losging ? " fragte sie .
" Längst .
Sie muß zu Hause gewesen sein , ehe wir uns zu Tisch setzten , " beruhigte er sie , " und der Diener wird sich freuen , daß er sie bei diesem Unwetter nicht zu holen braucht . "
Es währte noch eine ganze Weile , ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig nachließen und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach niedertrommelte .
" Nun , Bel , jetzt wird es besser , " sagte Erik und nahm seine Hand von ihrem Gesicht .
Er öffnete wieder das Fenster , durch das die abgekühlte Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte .
Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und blickte , über die Brüstung gebeugt , in den verwüsteten Garten hinaus .
Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt , die Obstblüte hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen .
" Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen , alle mit einemmal , die weißen Blüten , " rief Jonas bedauernd , " so , wie Ruth es gesagt hat !
Wie leid wird es ihr tun .
Sie fand sie so schön .
Aber dort oben wird es schon wieder blau , Papa . "
" Gott sei Dank ! " meinte Klare-Bel .
" Solche Aufregung und Verwirrung draußen ist schrecklich .
Man wird förmlich mit hineingerissen . "
" Ja , das ist nichts mehr für dich , meine Arme , " sagte Erik , " es gab aber Zeiten , wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des Meeres aushalten mußtest , ohne daß ich bei dir war . "
" Das war auch entsetzlich , Erik , ganz entsetzlich war es , " versicherte sie zusammenschaudernd , " damals , als du mit Leuten hinausfuhrst , wenn ein Schiff in Gefahr war .
Und das eine Mal , weißt du , wo du es ganz allein warst , der den Niels und die anderen dazu beredete .
Denn die hatten ja auch Frau und Kind .
Aber das hast du immer so gut gekonnt : die Leute bereden .
, Es wird gehen ! ' sagtest du zu ihnen , und da glaubten sie dir . "
" Du glaubtest mir ja auch , Bel , wenn du allein zurückbleiben mußtest , und wenn es dir schien , als ginge das nicht . "
" Ja , Erik .
Manchmal dachte ich , der Schreck würde mich töten .
Aber dann sagtest du so zuversichtlich :
, Wenn ich nach Hause komme , naß und müde , Bel , dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen , und beide vergnügt und gesund . ' Nun , und da mußte es wohl so sein . "
Er schwieg .
Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht , wo er , aus wirklicher Lebensgefahr heimkehrend , seine Frau gefunden hatte , wie sie , das Kind neben sich , mitten in der kleinen Stube auf den Knien lag und laut betete .
Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen geblieben , denn noch nie hatte er sie beten sehen .
Als sie heirateten , waren ihm unter ihren Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände gefallen , und wie sie ihn darin blättern sah , fragte sie ihn : " Glaubst du an das , was darin steht ? "
Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt und geantwortet :
" Nein , Bel. " Seitdem war dieser Gegenstand nur noch ein einziges Mal , nach Jahren , im Gespräche wieder berührt worden , und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen , daß seine Frau , ohne es auch nur selbst recht zu merken , ihren Glauben gar nicht mehr besaß .
Auf seine Frage , wie denn das geschehen sei , hatte sie mit ihrem freundlichen Gleichmut verwundert erwidert : " Ja , Erik , wenn es doch gar nicht so ist , - was kann es dann noch nützen , daran zu glauben ? "
Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln und seinem nassen Wollwams hereintrat , da hörte sie auf zu beten und streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen .
Er hob sie von den Knien auf und küßte sie .
" Tust du das , Bel , wenn ich nicht bei dir bin ? " fragte er sie leise .
" Wenn du nicht bei mir bist , Erik ! " sagte sie weinend , " denn dann , scheint mir immer , muß ich es tun ! "
Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde .
Kurz darauf tat sie den Geofährlichen Sturz , der ihr die Gesundheit kostete , und das Kindchen wurde tot geboren .
Als Gone mit einer brennenden Lampe hereinkam , fuhr Erik aus seinen Gedanken auf .
" Ich möchte jetzt zu mir hinübergehn , " bemerkte er und küßte seine Frau auf die Stirn , " ich habe noch Schularbeiten für morgen .
Sobald du müde bist , mußt du mich rufen lassen . "
Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel .
Nur von ein paar rosenroten Wölkchen , die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden hatten und nun mit heiterem Leuchten selbständig auf einem breiten Stück Himmelsblau umherschwammen , fiel ein schwacher Schein durch die Fenster .
Man konnte in ihm den Schreibtisch , den Bücherschrank , das alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen .
Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen .
Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt , daß auf dem Ledersessel am Fenster Ruth säße .
An Halluzinationen konnte er doch nicht leiden .
Mit einem Gefühl des Ärgers über sich selbst schloß er hinter sich die Tür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter , um Licht zu machen .
Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin .
Auf dem Sessel saß wirklich jemand .
" Ich bin es ! " sagte eine klägliche Stimme .
" Ruth ! " rief er laut .
Sie war es .
Durchnäßt bis auf die Haut , in Kleidern , von denen das Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte und die an einer Seite zerrissen niederhingen .
Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander .
Erik hatte sie in sie Arme gerissen und betastete sie besorgt und erregt mit liebkosenden Händen , - Brust und Arme und das verworrene Haar , das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte .
" Wann - wann , - von wo bist du gekommen ?
Warst du denn nicht zu Hause ? "
" Ich war nicht zu Hause , " sagte sie zaghaft und schmiegte sich frostbebend an ihn ; " ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren .
Und hergelaufen .
Grade als es losging .
Ich will nicht nach Hause , " fügte sie flehend hinzu , " mich friert so ! "
" Mein Liebling , du sollst nicht nach Hause !
Du sollst hier bleiben !
Aber wie lange mußt du hier schon sitzen ?
Wie konntest du das nur tun ?
Und es hat dich doch niemand an der Tür auf der Terrasse läuten hören ? "
" Ich habe nicht geläutet .
Ich schämte mich .
Ich bin hier durchs Fenster geklettert .
Aber es ging schwer , " gestand sie , und Mund und Augen lachten übermütig zu ihm auf .
" Und dann ?
Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingekommen wäre ? "
" Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen ! " erklärte sie schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene Katze .
Und dann sagte sie ganz leise :
" Denn vor den anderen konnte ich es nicht sagen .
Und doch musste ich es sagen .
Deshalb kam ich ja zurück !
Ich mußte sage :
Ich will alles tun , was ich soll . "
Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof unterwegs , um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben , daß sie draußen übernachten müsse .
Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt , das Gone eilig für sie hergerichtet hatte .
Dann bekam sie heißen Tee zu trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer .
Jonas fühlte sich sehr stolz , als er bei seiner Rückkehr hörte , daß er Ruth das wichtigste Möbel , das der Mensch besitzt , sein Bett , abgetreten habe .
Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus , dessen Polsterwerk an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünshcen übrig ließ .
Auch war Jonas zu aufgeregt , um bald einzuschlafen , und alle Augenblicke guckte er durch die Türritze , und fragte , was denn Ruth jetzt wohl mache .
Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr durcheinander .
" Der Sandkuchen , " hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen , " er drückt mich so .
Er ist immer größer und größer geworden .
Ich fürchte mich .
Er verschlingt mich .
Und anfangs war er so weich und klein und so wunderschön zum Kneten ! "
Erik wachte bei ihr , bis der Morgen aufstieg .
Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher , und immer wieder sprach sie mit sich selbst in abgerissenen Sätzen .
Aber wie ihm schien , waren es keine eigentlichen Fieberphantasien , sondern sie enthielten einen deutlichen Zusammenhäng .
Es kam ihm der Gedanke , daß sie vielleicht oft so mit sich selbst spräche , ohne daß es ein Mensch hörte , und daß jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe , es unbewußt vor Menschenohren zu tun .
Er konnte ihren Worten entnehmen , daß sie sich fortwährend noch mit dem Gewittergang beschäftigte .
Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise , als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht , sondern als sei sie gegen ihren Willen des Weges geschoben worden , - mit Gewalt hinausgetrieben in Sturm und Blitz und Donnerschläge .
Sie sah sich auf dem einsamen , dunklen Weg dahingehen , während ihr Hagel und Wind entgegentosten und ihre Füße im tiefen durchweichten Lehmboden stecken blieben .
Und damit vermischte sich dann ein anderes Fieberbild : der Versuch , vor etwas fortzulaufen , ohne es zu können , wie es wohl im Traume geschieht .
" Ich laufe und laufe , und komme nicht vom Fleck ! " klagte sie unruhig , und das Fieber nahm zu , wenn sie daran dachte .
Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei .
Als Erik , für seinen Schulgang fertig angekleidet , zu ihr eintrat , saß sie aufrecht im Bett , in einem Nachtjäckchen von Klare-Bel , das ihr zu kurz und zu weit war , und blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen .
Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut , die Jonas in aller Frühe hereingeschickt hatte .
Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von seinem Kirschbaum waren dabei .
Er hatte sie mit Todesverachtung abgerissen .
" Muß ich nun nach Hause ? " fragte Ruth ängstlich .
" Nein , mein Liebling .
Du sollst hier doch nicht nur krank liegen , sondern auch gesund umherspringen .
Meine Stube wartet ja noch auf dich .
Wollten wir nicht zusammen arbeiten ? "
" Ja ! " sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung , wie um aufzustehn , so daß die Blumen von der Decke glitten .
" Aber , mein liebes Kind , doch nicht jetzt im Augenblick .
Später ! "
" Später ! " wiederholte sie Gehorsam , indem sie sich zurücklehnte und die Augen schloß .
Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls .
" Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme , " bemerkte er dazwischen , " dann finde ' ich dich im Garten , im Sonnenschein , und ganz gesund .
Nicht wahr ? "
" Ja , " sagte sie folgsam , ohne die Augen zu öffnen .
Aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Leiden oder Kummer , der ihn beunruhigte .
Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn .
" Aber nicht nur gesund , Ruth , " fügte er hinzu , " sondern auch froh !
Nicht diesen in sich gekehrten , verschlossenen Ausdruck !
Du darfst dich nicht wieder so scheu vor mir zuschließen , mein Kind .
Bist du denn nicht mehr gern bei mir ?
Tut es dir nicht wohl , hierher zu gehören ? "
Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an .
" Es ist , als ob ich ins Meer gestürzt wäre , " sagte sie . -
Erik ging früher als sonst fort , um noch vor Beginn seiner Schulstunden bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können .
Er traf sie beim ersten Frühstück .
Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch , etwas zaudernd , in den Speisesaal eintreten , wo sich die Tante , im Morgenhäubchen , noch hinter dem Samowar befand .
Sie zeigte sich ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch .
Der Onkel , schon im Begreif , wie an jedem Morgen ins Ministerium hinunterzugehn , saß in Miliarbeinkleidern und eleganter geschlossener Toppe beim letzten Glase Tee .
Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften , besorgten Fragen nach Ruth entgegen .
Erik erzählte , daß sie auf dem Heimweg umgekehrt , ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei .
" Das kleine Ding ! " äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton ; er warf sich im stillen vor , daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe , " wegzulaufen " .
" Wie schlimm muß das für sie gewesen sein !
Schon wenn Ruth einmal unerwartet aus dem Warmen ins Kalte gerät , da schaudert ihr die ganze Haut , und sie zittert .
Und dann kann sie sich auch so ganz entsetzlich fürchten . "
Liuba kam herein , begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten Augen Tee ein ; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben .
" Ja , Courage hat Ruth Mal nicht , " bestätigte sie , " als wir ihr einmal eine Raupe auf den Hals setzten , fiel sie in Krämpfe . "
Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf .
" Hat sie dazu Anlage gezeigt ? " fragte er langsam .
" Aber nein , sonst niemals ! " erwiderte der Onkel ärgerlich , " es ist schon Jahre her .
Dreizehn Jahre war sie wohl alt .
Es war irgendwo in der Schwiez .
Ruth trug ein dünnes Sommerkleid , mit bloßem Halse .
Es war sehr schlecht von euch , sie so zu erschrecken , Liuba .
Du solltest lieber davon still sein . "
" Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht , " sagte Liuba , " warum saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum , so ganz wie ein Stein , der weder sieht noch hört .
Es störte das Spiel der anderen .
Und da , wie nichts sie aufwecken wollte , setzten wir eine Ligusterraupe auf ihre Halskrause .
Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein .
Ruth schrie nicht einmal auf .
Sie fiel um . "
" Die Hauptsache habt ihr vergessen , " bemerkte die Tante , - " das , was die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt .
Ruth war nämlich als Kind fest davon überzeugt , daß in den Raupen , Schlangen und allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze .
Sie steckte überhaupt immer voll von gottlosen Ammengeschichten .
Weiß Gott , wo sie die auflas .
In solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen und auch geblieben .
Sie hat noch heute unvermindert dasselbe Grauen . "
" Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden , was sie daran erinnern könnte , " sagte der Onkel zu Erik .
" Das hätte es nicht dürfen , " entgegnete dieser bestimmt , aber sein Gesicht war sehr nachdenklich geworden .
" Man kann mit Ruth nicht behutsam genug , aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen , wenn man ihr nützen will . "
Er erhob sich , um Abschied zu nehmen .
Der Onkel schwieg einen Augenblick , zerdrückte stehend seinen Zigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich zu Erik :
" Wissen Sie , - ich bin froh , ordentlich froh bin ich , daß die Ruth bei Ihnen ist . "
" Ich wünsche nichts lieber , als daß sie mir bleibt ! " entgegnete Erik einfach .
" Ja , sehen Sie , " fuhr der Onkel fort , indem er dicht an ihn herantrat , " ich glaube , gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor die rechte Schmiede gekommen .
Nach all ihren Irrfahrten .
Und vor die rechte Schmiede , das heißt fast so viel wie : nach Hause . "
" Aber ich bitte dich , " fiel die Tante , unangenehm berührt , ein , " nach deinen Worten muß jeder denken , Ruth sei hier mißhandelt worden . "
" Ach , wieso denn mißhandelt , " sagte er verdrießlich , " nein , gut behandelt , natürlich , wie sollt es auch anders sein ?
Aber wozu sollen wir es leugnen : Sie wissen sich besser um sie zu kümmern , als wir es verstehen .
Schon neulich fühlte ich_es , heute weiß ich es ganz deutlich .
Ich freue mich ja auch an ihr , - ja , das tue ich , weiß Gott , - aber im übrigen : das Kind hat nichts davon .
Das ist es nur , was ich meine . "
" Nun ja , " lenkte die Tante ein , " sicherlich müssen wir Ihnen dankbar sein .
Aber sprich nur nicht so sündhaft .
Es klingt ja geradezu so , als ob du Ruth los sein wolltest .
Grüßen Sie das liebe Kind von mir .
Und wenn sie erkranken sollte , komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege sie . "
Erik versprach , das " liebe Kind " zu grüßen , das er ihr am liebsten nie wiedergegeben hätte .
Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan , wofür er ihn zu gewinnen hoffte .
Sie waren beinahe Freunde geworden .
- Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand , sah sie Klare-Bels langen Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt .
Ein Stück gestreiftes Segeltuch , das man zwischen den Obstbäumen angebracht hatte , schützte sie vor der Morgensonne .
Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber entfaltet zu haben .
Der Garten stand ordentlich grün da , und die letzten Blätter drängten sich aus der Knofpe .
Ruth ging langsam durch den Garten hin , und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die frische , sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau , die inmitten davon ruhte .
" Guten Morgen , Ruth ! " rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte liebreich die Hand nach ihr aus , " willkommen , mein liebes Kind !
Du weißt wohl , wer ich bin ?
Ich konnte nicht zu dir kommen , als du die Nacht krank dalagst .
Ich bin froh , daß du wieder gesund bist , und daß du nun zu mir kommen kannst . "
Ruth ergriff die kleine , weiche Hand , der man es ansah , wie rund und rosig , mit Grübchen über den Knöcheln , sie gewesen war .
Und einem raschen Gefühle folgend , beugte sie sich nieder und küßte die Hand .
Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an , wie den kostbarsten Gegenstand dort im Hause .
" Erik und Jonas sind in der Stadt , " sagte Klare-Bel , " ich liege jetzt ganz allein hier .
Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten , Ruth ? "
Ruth nickte , noch immer ohne zu sprechen ; sie war wie berauscht vom Frühling und von dem starken , frischen Duft , den alles um sie herum ausströmte .
Am liebsten hätte sie aufgejauchzt .
" Ich werde hier sitzen bleiben , " erklärte sie und kauerte sich mit emporgezogenen Knien auf den bemoosten Steinrand des Spingsbrunnens , aus dessen geborstener Wasserurne über ihr sich ein langes , dünnes Schlinggewächs schlangengleich herunterrankte ; " denn hier ist es am allerschönsten in der ganzen Welt ! "
" Sie übertreibt alles ! " dachte Klare-Bel , sie heimlich betrachtend , fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt .
" Am Meer ist es jetzt noch viel schöner , Ruth , " sagte sie , " da , wo wir früher gewohnt haben , - auf der kleinen Insel weit draußen .
Bist du schon einmal am Meere gewesen ? "
" Ja , mehrmals , " versetzte Ruth , " aber viel lieber wäre ich gerade da gewesen , wo Sie gewohnt haben , - auf der kleinen Insel .
Aber ich wußte damals nichts davon .
Nein , ich wußte es nicht . "
Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor , daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte .
Klare-Bel fand , sie spräche ganz wie ein Kind : etwas so Selbsverständliches mit einem so ernsten und bewegten Gesicht .
" Und Sie wissen alles darüber ! " setzte Ruth mit demselben Ausdruck hinzu , " alles , ganz so , wie es war .
War es wunderschön ? "
Klare-Bel war nicht redseliger Natur ; sie sprach ebenso wenig , wie Erik viel sprach .
Aber sie bekam große Lust , sich mit Ruth zu unterhalten .
" Soll ich dir davon erzählen ? " fragte sie und sah sie lächelnd an .
" Ja ! " sagte Ruth dringend , und ein Gefühl , mächtiger als nur Neugier , trat in ihren Blick , " aber alles !
wie die Menschen waren , und das Leben , und das Haus , und das Meer , und auch die Schulkinder . "
Klare-Bel fand , daß man mit dem Hause anfangen müsse .
Und nachdem sie beschrieben hatte , wie dörflich-klein , und doch wie wunderbehaglich es gewesen sei trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen Fensterscheiben , die immer von der Salzluft beschlagen waren , - kam sie auf die Menschen zu sprechen , die dort aus und ein gingen .
Vielen Menschen waren das , - ein ganzes Volk schien es Ruth , - und immer scharte Klare-Bel Erzählung sie um den einen , den sie in den Mittelpunkt stellte , um den einen , der mit ihnen alles teilte und alles tat , und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen Lächeln grüßten .
Ruths Augen blitzten .
Was Klare-Bel erzählte , das glaubte sie wahrzunehmen , zu schauen , mitzuerleben ; sie ergänzte unbewußt das Bild bis zur greifbarsten Deutlichkeit , indem sie es mit den Goldfarben übermalte , die ihr Klare-Bel selbst auf die Palette rieb .
Und um dieses ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und schäumen .
Sie roch die Salzluft und fühlte den seinen Meersand unter den Füßen knirschen ; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie den Andeutungen der Frau , die gar nicht wußte , wie liebevoll sie idealisierte , was sie Ruth beschrieb .
Als Klare-Bel geendet hatte , atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten Wangen .
" O wie herrlich Sie erzählen , " rief sie dankbar , " ich möchte nichts anderes tun , als Ihnen den ganzen Tag zuhören .
Den ganzen Tag .
Ach , das möchte ich auch erleben !
Wie schön muß es gewesen sein ! "
" Das war es auch , " bestätatigte Klare-Bel zufrieden , der es selbst noch nie so schön erschienen war , wie heute während ihrer eigenen Erzählung .
Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen , nur von Erik .
Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau , die sich ihr Glück liebend verdient hat , hinzu : " Schön und auch schwer , Ruth .
Denn es ist schwer , mit so Vielen teilen zu müssen , die Alle von Demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in Anspruch nehmen , - ihn immer fortnehmen .
Es ist nicht leicht , man muß bescheiden werden .
Das würdest du erst lernen müssen . "
" Das ? " sagte Ruth verdutzt , " nein , das möchte ich lieber nicht .
Das hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt .
Aber so unter den Menschen stehen und alles können , als ob man ein Hexenmeister wäre , - das muß herrlich sein .
Es muß sein , als ob man plötzlich viele Menschen auf einmal wäre - und dann auch noch mehr , als sie alle zusammen . "
Klare-Bel schwieg betroffen .
Sie fühlte recht wohl die enthusiastische Bewunderung in Ruths Ton heraus , aber sie konnte nicht befreifen , wie sich dieser Enthusiasmus , weit davon entfernt , dem Bewunderten dienen zu wollen , einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte .
Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild , das sie sich ausgemalt hatte .
Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an :
" Und das war doch nur ein Dorf .
Eine ganz gewöhnliche Insel .
Ringsherum Wasser , so daß da alles aufhörte .
Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können , nicht wahr ?
Vielleicht mit noch viel mehr Menschen drauf .
Ich weiß nicht recht , wie .
Aber ich denke mir :
so stark sein , - und dann etwas Gewaltiges tun dürfen .
Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben . "
Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich .
Sie dachte im stillen , das sei es vielleicht so ungefähr gewesen , war ihr Mann einst gewünscht und erhofft habe .
Damals , als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung war .
" Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben , " meinte sie und sah Ruth an , " daran waren nur die Verhältnisse schuld .
Er hatte früher so große Pläne .
Ach , was hatte er alles für Pläne !
Aber dann kam das Unglück , daß ich liegen mußte .
Und es kamen die Ärzte , die Reisen , die Operationen .
Zuletzt kamen die Schuten .
Da war es mit den Plänen aus .
Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet , Ruth .
Und ganz umsonst . "
Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau , die das so ruhig sagen konnte .
" Ich könnte_es nicht überleben ! " stieß sie entsetzt , wider Willen , hervor .
" Ach , mein liebes Kind !
Das denkt man , wenn man noch so jung ist wie du .
Dann aber lernt man , sich in das Schicksal und seinen Willen fügen .
Sogar in das Schwerste : stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen für das Behagen derer sorgen zu dürfen , die man liebt .
Denn das ist das Allerschwerste , Ruth . "
Es klang so sanft und liebevoll , wie sie das auf Ruths unbesonnenes Wort sagte .
Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst .
Sie beklagte es nur , den anderen nicht mehr dienen zu können .
Aber Ruth fand , es sei beinahe gleichgültig , ob man in einem solchen Fall den anderen noch dienen könne .
Was sie so entsetzte , war die Vorstellung , durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden , daß ein anderer , Starker , Gesunder aufhören mußte , seiner Sache zu dienen .
Es verwirrte sie ganz , daß ihr die sanfte kranke Frau gar nicht leid tat .
Sie hatte das Gefühl :
diese würde ihr schon leid tun , wenn sie nur erst Zeit hätte , an sie zu denken .
Aber sie mußte immer an Erik denken .
Und sie empfand Mitleid mit ihm , stürmisches Mitleid bis zum Meinen .
Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen Augen in den klaren blauen Himmel hinauf .
Sie dachte an das Glück , wie sie es hätte behalten mögen , - so klar und blau und ruhig , wie der .
" Das wünschte ich dir , " sagte sie zu Ruth , die ganz verstummt war , " einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen , den du lieb hast .
Dazu gesund zu sein , und schön und gut und klug obendrein !
Gleichviel ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt , - daran liegt es nicht !
Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere .
Namentlich für uns Frauen .
Es ist viel schöner , als der zu sein , dem es gilt .
Das brauchen wir nicht zu beneiden . "
" Ach nein ! " rief Ruth lebhaft , " es kann ja gar nicht möglich sein , daß es das Schönere ist .
Der , dem es gilt , hat es besser .
Sonst hätte es ja Gott schlechter als die Menschen ! "
Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu , - einen tadelnden Blick . -
Aber sie wußte nicht , was sie darauf erwidern sollte .
Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth .
Klare-Bel fühlte sich nur sicher , solange Ruth zuhörte .
Sie hörte so hübsch zu .
Aber sobald sie sprach , mußte man sich verwundern und eigentlich auch ärgern .
Die war sicher mehr für Erik geschaffen als für sie .
Er würde wohl aus ihr klug werden .
Denn das war ja seine Spezialität .
Inzwischen war Jonas , lustig pfeifend , von der Straßenseite her in den Garten getreten , und zwischen den Bäumen sah man ihn , den Schulranzen auf dem Rücken , im Hause verschwinden .
Als er wieder zum Vorschein kam , war der Ranzen abgeworfen , und in der Hand hielt er ein mächtiges Butterbrot , in das er hineinbiß .
Er lief auf seine Mutter zu , küßte sie , streckte Ruth die Hand hin und sagte : " Du - Sie - haben - " stockte und wurde rot .
" Du ! " entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn .
" Ja , nicht wahr ? " meinte er fröhlich und nahm neben ihr auf dem Rande des Springbrunnens Platz , " denn jetzt sind wir ja Hausgenossen .
Eigentlich Geschwister .
Nicht wahr , Mama ?
Und Altersgenossen auch .
Wie alt bist du denn ? "
" In elf Monaten siebzehn , " sagte Ruth .
" Ich bin erst sechzehn , " gestand er betreten , aber dann klärte sich sein Gesicht auf , - " das heißt jetzt .
Aber in elf Monaten längst nicht mehr .
Sogar schon eher .
Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir essen , denn es ist noch eine gute Stunde , bis wir Mittag bekommen , " fügte er hinzu und brach sein Brot , im lebhaften Drang , es mit ihr zu teilen , in zwei Hälften .
" Ich mag nicht essen , " sagte Ruth und lachte über seinen Eifer .
" Dann bist du gewiß noch krank ! " behauptete er .
" Aber das war auch ein rechtes Glück , weißt du , denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns geblieben .
Es war eine gute Idee von dir , so im Gewitter herumzulaufen .
Denke nur !
wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben können . "
" Ja .
Wenn ich sitzen geblieben wäre , wäre ich auch fortgegangen , " bemerkte Ruth tiefsinnig .
Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen , und so sagte er schnell : " Komme mit mir in das Gehölz , Ruth .
Du kennst es noch gar nicht .
Da sind so viele Nester .
Und mittendurch fließt ein kleiner Bach nach dem Wiesengrund zu .
Wir können leicht hinüberklettern , der Zaun ist ganz niedrig . "
" Nein , " erwiderte sie , " gehe nur in das Gehölz .
Ich muß jetzt hier bleiben . "
" Was willst du denn hier tun ? "
" Ich muß nachdenken . "
" Nachdenken ? "
Jonas sah sie etwas verdutzt an ; es schien ihm jedoch eine Beschäftigung zu sein , die Respekt verlangte .
So stand er seufzend auf und trollte sich ins Haus , denn er wußte nicht recht , wie er sich dran beteiligen könnte .
Ruth merkte nicht , daß er ging .
Sie blieb mit emporgezogenen Knien sitzen , die Arme auf die Knie und das runde Kinn auf die geballten Hände gestützt , wie auf zwei Säulen .
So blickte sie angestrengt vor sich hin auf einen einzigen Fleck im Grase , wo eine weiße Gänseblume stand , und dachte mit Hingebung nach , gleich einem indischen Derwisch .
Sie wußte ganz genau , wo sie stehen geblieben war , als Jonas kam und sie aufhören mußte .
Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen .
Die Mittagssonne strahlte warm über den Bäumen , kein Lüftchen bewegte das duftende Laub .
Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die Frühlingsbeete , und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig ihr Lied .
Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum .
Wie in goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt , die Klare-Bels Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten .
Ein unklares Verlangen , halb Demut , halb Forderung , bemächtigte sich ihrer , diese Gestalt so lichtvoll , so schattenlos als möglich zu sehen , - in einem warmen Glanze , der sie unter allen anderen Wesen hervorhob .
Warum ? das wußte Ruth nicht .
Aber das wußte sie :
in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen , die sie kannte , noch viel störender und sinnloser aus als bisher , - fast als ob sie bloße Leiber wären , in denen so gut wie nichts drinsteckte .
Und die phantastischen Schattenbilder , die sie sich nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf , wie sie wollte , und wieder wegwischte , wann sie wollte , - die sahen viel schattenhafter aus als bisher , ordentlich dünn waren sie geworden und so durchsichtig , daß man meinen konnte , es seien nur Irrwische von Gedanken .
Ruth durchwanderte die ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage , fand aber nur das Chaos wieder .
Und mitten drin den einzigen , wenn er wollte , alles beseelenden Menschen , den zu gestalten Phantasie und Wirklichkeit zusammenschmolzen .
Es war , als stünde er ihr ganz allein gegenüber in dieser einsamen , phantastischen Welt ihrer Träume , - der erste Mensch am sechsten Schöpfungstage , unerkannt noch , und ein Wunder .
Mit Staunen stand sie vor ihm still , als müsse sie fragen :
" Wer bist du ?
Wie kommst du hierher ?
Wie darfst du hier herrschen ? "
Er beschäftigte ihre Gedanken so stark , er setzte sie so stark in Erstaunen , daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken verlor und ihn anschaute .
Es schien ihr notwendig , daß er etwas Besonderes , Merkwürdiges , ganz außer allem Vergleich Stehendes sei , wenn sie ihn da dulden sollte .
Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr , Glanz auf Glanz , Licht auf Licht auf ihn zu häufen .
Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte , richtete sie sich aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die Gartenpforte .
Die Arme über dem Zaun verschränkt , schaute sie die Straße hinab , die Erik entlang kommen mußte .
Er kam bald .
Sein erster Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf haften .
Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht , aber der leidende Ausdruck vom Morgen war völlig aus ihren Kinderzügen verschwunden .
Ein neuer Ausdruck , offen und verlangend , der Erik wohlgefiel , lag in ihren Augen .
Er nickte ihr mit einem Lächeln zu .
Sie sprachen nicht miteinander , nur Ruths Hand schlich sich leise in die seine .
Hand in Hand sah Klare-Bel sie auf sich zukommen .
" Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen , meine Arme ! " sagte er zu seiner Frau , " nun sollst du auch keinen Augenblick länger daliegen . "
Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse , hob sie heraus und nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme , wie man ein Kind an der Brust bettet .
" Du allzu leicht Last ! " scherzte er und sah heiter und belebt aus .
Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen .
Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die Stufen hinauf .
Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst Zubehör nachgetragen , um dasselbe zu tun , was Erik tat .
Das Mitleid , das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte , war in nichts verflogen , - und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen .
Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor , daß sich die kranke Frau nicht als Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte , sondern daß sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang .
Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm , vergaß sie ganz , daß es zum ersten Male geschah , und sie erst den Abend vorher hatte weglaufen wollen .
Sie fühlte sich als ein längst dorthin gehöriger Hausgenosse , - zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen .
" Von deinem Onkel bringe ich dir was mit , " sagte Erik , der sie bei Tisch neben sich gesetzt hatte , " nämlich die Erlaubnis , so lange hier zu bleiben , wie du willst .
Ich denke , wir antworten ihm vorläufig : den ganzen Sommer .
Was meinst du ? "
Sie nickte nur und sah glücklich aus .
Wenn er aber nicht unablässig auf sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte , so würde sie lieber keinen Bissen gegessen haben .
Als sie beim Kaffee waren und die Kinder hinausliefen , blickte Erik seine Frau an und fragte :
" Und nun , Bel , wie gefällt sie dir ? "
" O Erik ! mir gefällt sie gut für dich .
Denn sie hat etwas so Unverständliches , finde ich .
Das ist gerade was für dich .
Was zum Raten . "
" Sie ist ein scheuer Vogel , " sagte er mit einem Lächeln , " und es ist noch nicht gewiß , ob ich sie eingefangen habe .
Eine falsche Bewegung , - und sie fliegt mir fort . "
" Ja , Erik , das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend .
Es macht doch unsicher .
Förmlich schwindlig würde es mich machen .
Wie ein konfuses Stickmuster .
" Unsicher ? Nein , Bel , im Gegenteil .
Man wird sich dessen wieder bewußt , was man vermag , - ob man_es vermag .
Man sammelt die Kraft , - die vergessene , eingerostete .
Und so kommt man endlich wieder zur großen Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst . "
" Ja ja , Erik .
Wenn nur alles gut geht . "
Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern :
" Sorgenmütterchen ! nur ein einziges Mal : laß die Sorgen , die grauen !
Mir ist froh !
Du sollst es noch sehen :
an dem Mädel wächst mir mein Meisterstück ! "
Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht .
Daß er Ruth zu sich nahm , das war ungefähr so , wie wenn ein Gelehrter irgendwo eine recht unentzifferbare Handschrift ausgräbt , - meinte sie ; an der liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch .
Es war nun einmal nicht anderes :
da steckte sein Talent und sein Beruf .
Erik ging fort , er wollte noch nach dem Bahnhof , um Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herüberschaffen zu lassen ; der Onkel hatte sie bereits herausgeschickt .
Klare-Bel lag und dachte nach .
Sie zwang sich dazu , an die Zeit zu denken , die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob .
Es war doch schön , daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von sanguinischen Hoffnungen .
Das war doch besser und natürlicher für ihn , als diese langen , langen Leidensjahre , wo ihn nur der eine Gedanke erfüllte : wie seine Frau wieder gesund zu machen sei .
Ein einziger jahrelanger Kampf , - ein schmerzensreicher , gräßlicher .
Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner Hoffnungszähigkeit Willen , die nicht nachließ , nichts unversucht ließ , die noch ans Unmögliche anrannte und mit unermüdlichem Trotz den alten Kampf immer wieder aufnahm .
Es war nicht leicht , denn bei Klare-Bel durfte Narkose wegen einer geringen Herzschwäche nicht angewendet werden .
Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis , neuer Qual zu überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen .
Er war in diesem Kampfe zum Arzt geworden ; was er früher aus Lust und natürlicher Begabung nebenher betrieben hatte , wurde ihm Beruf .
Seine ganze , ungeteilte Kraft warf er hinein :
er wollte es nicht glauben , nicht dulden , daß ein einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten könne .
Und nun , da er_es glauben und dulden mußte , war es doch hart , alles das vergebens geopfert zu haben , woran seine Hoffnungen sonst noch gehangen hatten .
Und wenn ihm Ruth nur eine davon zurückgab , wollte Klare-Bel sie lieben .
Es war ja nicht mehr als eine kleine , späte und unscheinbare Blume für einen ganzen Strauß , den ihm das Leben schuldig geblieben war .
Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden , wie heute , seit dem Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten .
Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts .
Er griff nach einem Bund Garn , das Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte , und hielt es ihr auf den Fingern .
" Wird Ruth nun bei uns bleiben , Mama ? " fragte er .
" Jawohl .
Du hörtest es doch .
Freut es dich nicht ? "
" Über alles freut es mich .
Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst anstrengen . "
" Wie meinst du das , mein Kind ? "
" Ich meine :
Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich .
Ganz gewiß .
Sie ist klug , - meinst du nicht ? "
" Das kann ich unmöglich wissen .
Aber was ist das für ein Unsinn , Jonas .
Weil dich Papa lieb hat , will er ja , daß du dich mehr anstrengst und besser vorwärts kommst . "
" Ach , Mama , ich strenge mich schon an , so sehr ich kann .
Ich komme ja auch vorwärts .
Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen .
Er ist der strengste Lehrer bei uns .
Sie fürchten ihn alle .
Aber ich am meisten .
Von mir verlangt er am meisten . "
" Darüber solltest du froh sein . -
Mache nur jetzt keine Eifersüchteleien , Jonas , hörst du ? "
Da lachte er über das ganze Gesicht , scheinbar völlig unmotiviert , so daß er wirklich einfältig aussah .
" Nein , Mama , das tu ich gewiß nicht .
Wenigstens nicht so , wie du_es meinst .
Aber wenn es Ruth einfallen sollte , - Papa lieber zu haben als mich - - "
" Aber Jonas - !! "
Er ließ das Garn vom Finger gleiten , so daß es fast in Verwirrung geriet .
" Verzeih , Mama .
Ich bringe es gleich wieder in Ordnung .
- Weißt du , du hattest eben ganz recht , als du sagtest , ich sollte nur froh sein , daß Papa so viel verlangt .
Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer , als es ist .
Sie wird das noch merken .
Und ich werde nie etwas Unangenahmes von ihr verlangen . ' " Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge ! " sagte Klare-Bel ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an .
Er machte ein ganz treuherziges Gesicht .
Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen verkrochen .
" Wenn Papa so was hörte !
Und da wunderst du dich noch , wenn dir Papa Ruth vorziehen sollte . "
" Ich wundre mich ja gar nicht , Mama .
Das kann ich ihm doch nie im Leben übelnehmen .
Wie sollte ihm Ruth auch nicht besser gefallen als ich ? "
" Wo steckt Ruth nur eigentlich ? "
" Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen , wo Gone noch herumwirtschaftet .
Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten , sagt sie . "
Als Erik vom Bahnhof zurückkam und Ruths Kopf oben aus dem offenen Fenster herausschaute , stieg er zu ihr hinauf .
Das kleine , nach hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung .
Außer dem heute beschafften Bett und einer großen Holzkiste , die durch zierlich gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer wirklichen Waschtoilette bekommen hatte , gab es jedoch noch nicht viel zu sehen .
Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem Olanstrich machte sich bemerkbar .
Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett , zu dessen Seiten schon kleine weiße Gardinen niederhingen ; die Leiter lehnte noch daneben .
Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der Terrasse , so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast Ruths Gesicht berührten .
Man sah von hier oben nur in die Wipfel der Bäume , und das , fand Ruth , sah lustig aus : wie ein grünes rauschendes Gewoge , wovon man sich einbilden konnte , es schwebe in der Luft , ohne Stamm und Wurzel .
Wie viele Vögel mochten im Sommer drin nisten !
Und unter dem vorspringenden Dach , gleich über dem Fenster , klebten zwei vorjährige Schwalbennester .
Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers bemerkte , fing er an zu lachen .
" Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer , wie gemacht für böse Kinder , die eine Strafe abbüßen sollen , " sagte er und blieb im Rahmen der Tür stehen , " oder für Durchgänger , die man mit Gewalt einsperren muß .
Meinst du nicht , Ruth ? "
" Nein .
Es ist sehr schön ! " versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast übel , daß er ihre Wohnung verspotten konnte ; " es ist nur noch nicht fertig , und das ist das Schönste .
Wenn ich drin bin , wird es von selbst fertig .
Es ist sehr schön .
Ganz so , wie ich es haben will . "
" Das ist freilich die Hauptsache , meine kleine Königin , " gab er lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster .
" Als wir zuerst aus dem Auslande angereist kamen , da sahen die Stuben in unserer Stadtwohnung auch nicht viel besser aus .
Und es gefiel mir auch ganz gut .
Man konnte so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen . "
Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an .
" Ach ja ! " sagte sie , " aber außerdem muß es doch schrecklich schwer gewesen sein , - da von der kleinen Insel weg - und hierher , weg vom Meer und von all den vielen Leuten ? "
Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu , denn es machte ihm heimlich Sorge , daß sie sich so gern vornüberneigten .
" Warum schwer ? " fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme , " hier gibt es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten , - schlimme kleine Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen , wie du weißt . "
" Ach die ! " sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den Achseln , " die sind_es nicht wert . "
" Auch du nicht ? " fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an .
" Nein , auch ich nicht , " meinte sie treuherzig .
" Du bist ja ungeheuer demütig heute , " bemerkte er , " allzu demütig , Ruth .
Das ist nicht gut . "
" Warum ist nun auch das wieder nicht gut ? " fragte sie zerstreut .
" Weil es nicht aus dir selbst herauskommt , Mädel .
Nicht aus deiner Natur .
Es ist , wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte , für die er sich verrenken muß .
Das sollst du nicht tun . "
Sie erwiderte nichts drauf , vielleicht hörte sie kaum hin .
Ihre Gedanken waren auf etwas anderes gerichtet , was sie nicht anzubringen wußte .
Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser :
" Sie sehen so froh aus .
In den Augen - und überhaupt .
Warum ? "
" Weil ich dich wieder habe , mein Kind , " entgegnete er ernst .
" Mich ! aber all die anderen ? "
" Wen denn , Ruth ? "
Nun hielt sie es nicht länger aus .
" Ich meine : bloß Buben und Mädchen zu unterrichten , die es gar nicht wert sind , und sonst nichts !
Anstatt etwas ganz anderes tun zu dürfen , etwas viel , viel Größeres , - so groß wie ein Meer mit allen Schiffen drauf , " versuchte sie auseinanderzusetzen und nestelte dabei , ohne es zu merken , erregt an seiner Uhrkette .
Er sah erstaunt auf sie nieder .
" Phantasierst du , Kind ?
Du sollst dem nicht so nachgeben , " sagte er eindringlich , " was hast du eigentlich zusammengedichtet ?
Du mußt es klar sagen können .
Nun ? "
" Es ist ja etwas Wirkliches ! " rief sie schüchtern , " es ist gar keine Phantasie .
Wir sprachen im Garten darüber - am Vormittag . "
" Mit meiner Frau ? "
Ruth nickte .
" Sie hat mir erzählt .
Von früher und von jetzt .
Sie erzählt so wunderschön !
Ganz wunderschön erzählt sie . "
" So .
Tut sie das ?
Aber was hat sie dir denn erzählt ? " fragte er , und sein Blick war forschend und gespannt .
" Alles .
Und da , - ja , da schien mir es so ganz entsetzlich , - so ganz unmöglich schien mir_es , daß nichts draus geworden ist , " sagte sie leidenschaftlich , und ihre Finger umklammerten die Uhrkette , als müßte sie irgend etwas zerbrechen , " nichts als eine Schulstube .
Und daß es immer so bleiben soll .
Es kann ja nicht so bleiben . "
Sie sprach beinahe zornig , und in ihren Augen standen große Tränen .
Erik antwortete nicht gleich .
Seine Hand hob sich und strich sanft hin über ihr loses weiches Haar , und als Ruth aufblicken wollte , da glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen .
Er schaute über sie weg , hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel , und kämpfte eine Erregung nieder .
Ihm war seltsam zumute .
Er wußte , daß das , was Ruth empfand , nicht von seiner Frau kam , weder die leidenschaftliche Auffassung , noch die phantastische Unklarheit des Bedauerten war seiner Frau möglich .
Noch nie , seit er verheiratet war , hatte er zu einem Menschen , hatte ein Mensch zu ihm von den Enttäuschungen seines Lebens gesprochen .
Und da stand sie nun , die ihn seit vier Tagen kannte , in Zorn und Gram und Tränen und härmte sich um diese Enttäuschungen , als wären es ihre eigenen .
Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen , bückte Ruth den Kopf tiefer , und ihre Hand glitt von seiner Uhrkette .
" Ich will_es gewiß nie wieder sagen ! " sagte sie leise , abbittend .
Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen .
" Du sollst mir immer alles sagen , alles , was dich beschäftigt , " versetzte er ruhig , aber seine Stimme klang verändert und gedämpft , " niemals sollst du Gedanken , die dich aufregen , vor mir verbergen , - und nun gar Kümmernisse , mein Kind , - solche kindische und phantastische Kümmernisse . "
Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett , vom Licht abgekehrt , das Gesicht im Schatten .
" Ich will dir eine Geschichte erzählen , Ruth ; soll ich ? "
Sie nickte Gehorsam , ohne den gesenkten Kopf zu heben ; man konnte sehen , daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag , und daß sie sich als Kind behandelt fühlte .
" Es war einmal ein Mann , " begann er , " den gelüstete es sehr , ein großes , weites Feld zu bebauen , - ein Feld , wohl so groß wie das Meer .
Denn er wußte , der Boden war gut , und nur der Arbeiter gab es noch wenige , - viel zu wenige .
Aber es kam anders , als er sich_es gewünscht hatte , und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht mitarbeiten .
Nur ganz fern , im äußersten Winkel , wies man ihm ein kleines Stückchen Erde an , wo er Kohl pflanzen konnte und Kartoffeln .
Nur eben genug , um zu leben . "
Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm aufgeschlagen .
Groß , ungeduldig hingen sie an seinen Lippen .
Ihre ganze Seele war in diesen Augen .
" Und da - ? " fragte sie atemlos .
" Und da , " fuhr er fort , " fand er eines Tages unter seinen Kohl- und Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze .
Irgendwoher mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein .
Es war nur ein unscheinbarer , zarter Trieb , dem man noch nicht ansehen konnte , was drin steckte .
Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen auswachsen .
Und wenn das gelang , - wenn ein guter Gärtner an diesem Bäumchen unablässig seine Dienste tat , und sich das Bäumchen willig behandeln und biegen , pfropfen und beschneiden ließ , - dann - ja , dann konnte es am Ende seltenere Früchte tragen als irgend etwas , was sonst auf dem Feldwinkel wuchs . "
" Bin ich das Bäumchen ? " fragte sie naiv und glitt leise vom Fensterbrett .
Er antwortete nicht , aber zog sie näher an sich , so daß ihr Haar seine Schulter berührte .
Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck , der kein Lächeln war und kein Ernst , und doch wie ein gesteigerter Abglanz von beiden , der einer Ekstase glich .
Er erinnerte Erik plötzlich an jenen Aufsatz mit der Überschrift :
" Seligkeit ! "
Zum erstenmal erinnerte ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft .
" Möchtest du solch ein Bäumchen für den Gärtner werden , Ruth ? " fragte er sie mit halblauter Stimmte .
Sie atmete tief auf .
" Noch lieber möchte ich der Gärtner werden , " sagte sie unerwartet , " aber es ist vielleicht fast dasselbe . "
Kapitel Jeden Morgen , ganz früh , noch ehe das Haus wach war , fanden sich Erik und Ruth im Studierzimmer zusammen .
Sie standen beide ein paar Stunden zeitiger auf als sonst , um es zu können , und jeden Morgen nahm er mit ihr ihre Arbeit für den Tag durch , der er sie dann allein überließ .
Es war immer dasselbe Bild : Ruth war immer schon da und stand , ihn erwartend , ins offene Fenster gelehnt .
Sie horchte auf die kleinen Buchfinken draußen und zugleich , ob sein Schritt nicht über den Flur käme .
Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus , denn so übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte , - als Lehrer fürchtete sie ihn .
Und auch jetzt noch , wenn sie seinen Schritt im Flur vernahm , überfiel sie , wie am Esten Abend , das Herzklopfen und die alte Schüchternheit .
Es war immer dasselbe : ohne daß sie sich nach ihm umwandte , trat Erik dicht an sie heran , bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war , dann schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen , so daß sie wie eingefangen war zwischen seinen Armen .
Es lag für sie darin nicht nur eine Liebkosung , sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und Zwingendes , unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte .
Und dann , ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche , nahm er sie sofort nüchtern und Ersthaft vor .
So ging der Morgengruß unmerklich in die Morgenarbeit über .
Als Erik eines Morgens die Tür zu seinem Zimmer öffnete , blieb er einen Augenblick überrascht stehen .
Vor den Fenster waren die weißlackierten Innenläden geschlossen worden , so daß die graue Regenluft draußen nur durch die Ritzen hereinschauen konnte ; ein einzelnes Licht brannte mit trüben Schein auf dem Schreibtisch .
Davor saß Ruth , von Heften und Büchern umgeben , und schrieb , ohne auch nur aufzublicken .
Erik sagte nichts .
Er schlug einen Laden zurück und öffnete das Fenster , so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen , dann kam er an den Schreibtisch und blies das Licht aus , während Ruth verwirrt emporfuhr .
Er beugte sich zu ihr nieder , nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und blickte sie aufmerksam an .
" Du hast geweint .
Worüber ? "
Sie errötete und zauderte einen Augenblick .
" Ich mag nicht dumm sein ! " reif sie dann außer sich mit sprühenden Augen .
Er lachte .
" Du bist nicht dumm . Hab ich das gesagt ?
Wenigstens nicht hoffnungslos .
Solange ich dich nicht aufgebe , brauchst auch du es nicht zu tun . "
Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand .
" Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten .
Nie ohne mein Wissen .
Das ist Unfug .
Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen habe , dann sollst du aufhören . "
" Die Sonne hörte auch nicht auf , " sagte Ruth , " sie schien hell fast die ganze Nacht durch .
Im Gehölz schrie ein Kuckuck , die Drosseln vor meinem Fenster unterhielten sich .
Da kam ich leise her . "
Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft , worin sie geschrieben hatte , aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest .
Man konnte ihre ansehen , daß sie in ihrer Erregung beinahe litt .
" Ruhig ! " sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft .
Schweigend las er eine Zeitlang darin , während Ruth mit gefurchter Stirn dasaß , die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß .
Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin .
" Das hast du gut gemacht , " bemerkte er , " hat es dir Mühe und Überwindung gekostet ? "
" Ja , " gestand sie ehrlich , ohne ihre Haltung zu verändern , " aber es schadet nichts . "
" Nein .
Es schadet nichts .
Siehst du das nun selbst ein ?
Es konnte nichts helfen , mit dir zu treiben , was dir lieb und leicht ist ; durch das , was deinem kleinen phantastischen Kopf am härtesten ankommt , durch das , was ihm am schwersten fällt , gerade da muß er hindurch . "
Er löste die im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den seinen .
" Ich weiß , daß es manchmal ein harter Zwang war , " sagte er , " und du dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest ; es tat weh , nicht wahr ?
Aber es mußte sein .
Und nun - nun bekomme ich dich allmählich gerade so , wie ich dich haben will , Mädel .
Ist es nicht schön ? "
" Wunderschön ist es ! " rief sie , sich mit leuchtenden Augen nach ihm zurückwendend , " das denke ich ja immer dabei , wenn mir_es schwer fällt !
Ich such zu vergessen und denke mich nur hinein : wie wunderschön muß es sein , jemand , der ganz anders ist , gerade so zurecht zu kriegen , wie man ihn haben will ! "
Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen .
" Nur daran denkst du dabei , Ruth ?
Und ich glaubte , dich selbst sollte es glücklich machen . "
" Das tut es ja eben ! " erklärte sie erstaunt und stand auf .
" Was willst du nun heute morgen tun ?
Wir wollen in den Garten gehen .
Es regnet nicht mehr .
Oder meinst du , daß du schlafen könntest ? "
Sie schüttelte lachend den Kopf .
" Ich möchte nicht , daß du später allein bleibst , ohne Beschäftigung und Morgenfrische , " sagte Erik , " arbeiten sollst du nicht .
Vielleicht solltest du mit mir zur Schule kommen .
Noch immer warten die Mädchen auf deinen versprochenen Besuch .
Und in ein paar Tagen ist Klassenschluß .
Es wird dich ablenken . und zerstreuen .
Und wenn es dich ermüdet , desto besser . "
- Gone hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt , und Klare-Bel lag schon in ihrem Stuhl daneben , als Erik , Ruth und Jonas , erst auf wiederholte Rufe , aus dem Garten herankamen .
Jonas sah ganz erhitzt aus , und der Strohhut saß ihm im Nacken ; in seiner rechten Hand trug er einen hohen Eimer , den er von Gone erbeutet hatte und jetzt auf die Stufen , die zur Terrasse führten , niedersetzte .
Eine wohl zwei Fuß lange stahlfarbene , bläulich glänzende Schlange wand sich darin .
" O pfui , Jonas ! " rief Klare-Bel entsetzt , " wie magst du nur ein so greuliches Tier herbringen !
Kann sie uns nicht alle totbeißen , Erik ? "
" Das kann sie nicht .
Es ist eine Ringelnatter , " versetzte er lächelnd .
" Aber eine prachtvolle , Mama !
Ich fand sie hinterm Gehölz , da , wo sich der kleine Bach im Wiesengrund verläuft , " sagte Jonas voll Stolz und Bewunderung ; daß er einen solchen Fund getan hatte , war für ihn ein ganz unerwartetes Landvergnügen , er hatte eigentlich nur auf Raupen gerechnet und höchstens auf eine Blindschleiche .
Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange , die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern , während sie Kaffee tranken .
Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet waren , verhielt sich Ruth ganz still .
Sie hatte heimlich gehofft , Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren , aber die erkundigte sich ja nur danach , ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte .
Und das war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste , fand Ruth .
Jetzt gelang es der Ringelnatter , sich nach mehreren vergeblichen Versuchen auf dem Boden des Eimers aufzurichten , sie wiegte rhythmisch ihren Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die Anwesenden an .
Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth , deren Glieder ein Zittern durchlief und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte .
" Wirf das Untier fort , aber schnell , Jonas , " sagte seine Mutter rasch , " siehst du denn nicht , das sich Ruth ängstigt ? "
" Nein , laß sie nur da , " fiel Erik ruhig ein , der Ruth die ganze Zeit über beobachtet hatte , " darauf soll keinerlei Rücksicht genommen werden . "
Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie : " Liuba hat mir erzählt , daß du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist .
Strafe sie Lügen . "
" Hat Liuba gesagt : wegen einer Kleinigkeit ? " fragte Ruth erstaunt .
" Es war keine Kleinigkeit .
Es war etwas Fürchterliches , - kalt und grausig , - was so gewaltsam von außen kam , - so , wie wenn man einen umbringt . "
" Um Gottes Willen ! " bemerkte Klare-Bel , " was kann denn das nur gewesen sein ? "
" Eine kleine Raupe ! " entgegnete Erik spottend .
Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern :
" Eine große Raupe , " aber sicherer erschien es ihr , nicht noch ausdrücklich zu bestätigen , daß es nur eine Raupe gewesen war .
" Paß Mal auf , " rief Jonas , " ich werde das Prachttier zähmen , Ringelnattern sind zutraulich und verständig , man kann sie gern um den Hals winden .
Dann spielen wir , Schlangenbändiger ' .
Hast du je schon etwas so Schönes gehört ?
Ich bin der Schlangenbändiger .
Da brauchst du dich gar nicht zu fürchten .
Du siehst nur zu und - und bewunderst mich . "
Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar .
" Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund , " warnte er , " denn schon ist die Zeit ganz nah , wo sich Ruth nicht mehr mit der Zuschauerrolle begnügen wird .
Wo sie selbst freiwillig , aus eigenem Antriebe , an die Schlange herantritt , sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper hinaufkriechen läßt . "
Ruth hatte vergeblich versucht , ihn zu unterbrechen .
" Ich !
Wann wird das sein ? " fragte sie , ganz außer sich vor Erstaunen .
" Wann ? vermutlich schon bald . "
" Nein !
Nie ! " versicherte Ruth , noch ganz fassungslos über seinen Irrtum , " ich würde mich ja immer fürchten . "
" Das würdest du wohl .
Aber das ist noch kein Gegengrund .
Es kommt vor , daß man stärker ist als die eigene Furcht , und daß man sie totschlägt . "
" Nun , Erik , das ist ein starkes Stück , " sagte Klare-Bel halblaut .
Jonas sah verdutzt aus , daß sein Vater so etwas im voraus wissen konnte , was doch Ruth selbst noch nicht wußte .
Aber er begriff , daß ihr Erik etwas Unangenehmes geweissagt hatte , denn sie schauderte unwillkürlich zusammen .
" Weißt du was ? " schrie Jonas ihr plötzlich zu , und der rettende Einfall verklärte förmlich sein Gesicht .
" Ich weiß einen Ausweg , - tu es eben nicht !
Einfach ! denke nur :
du brauchst es ja einfach nicht zu tun ! "
Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen , und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu .
Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer .
Wie gebannt mußte sie den länglichen , schilderbedeckten , züngelnden Kopf ansehen , der sich dort herüberreckte .
Es war , als grüße er sie .
Es war , als schaue er gerade sie an .
Nur sie ganz allein .
Als sei sie ganz allein mit der Schlange .
Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu erweitern , wie ein grausiger Höllenabgrund , wo alles Unheimliche sein Spiel trieb .
Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig .
Es war ganz gewiß : die Schlange lauerte schon auf sie .
Sie sah doch wirklich so aus , daß man das Schlimmste von ihr denken konnte .
Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken .
Ruth errötete langsam , immer dunkler , ohne ein Wort zu sprechen .
Da , als sich Erik vom Frühstückstisch erhob , und Jonas wieder in den Garten laufen wollte , sprang Ruth hastig auf und sagte wild : " Dann lieber gleich ! "
Die anderen verstanden sie nicht recht , nur Erik , der sie unausgesetzt im Auge behalten hatte , entschlüpfte ein Laut der Überraschung .
" Jetzt gleich ? " wiederholte er , " nein , mein Kind , das ist weder gut noch notwendig .
Es wäre eine ebensolche Übertreibung wie das mit dem Nachtarbeiten .
Und nach dieser Nacht bist du mir nicht fest genug dazu . "
" Ich bin fest ! " versicherte sie fast flehend , " aber warten kann ich nicht auf etwas so Grausiges !
Ich kann es nicht so heranschleichen sehen -
Tag für Tag - immer näher - immer gewisser ; - mit einer Schlange zusammenwohnen , vor der ich mich fürchte , - und die mit der ganzen Familie immer intimer wird , - - und nur auf mich lauert , - nein , das kann ich wirklich nicht ! "
Erik lachte , sah aber dabei besorgt aus .
Dies kam ihm ganz unerwünscht .
" Aber Ruth ! " sagte er , " hat dich denn deine Phantasie mit Haut und Haaren aufgefressen ?
Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten in allmählicher Gewöhnung ab .
Mir ist es lieber , wenn es allmählich geschieht .
Überleg es dir !
Denn wenn du darauf bestehst , gibt es kein Zurückweichen mehr !
Dann kein Spielen und Versuchen !
Das würde ich nicht dulden .
Deiner selbst mußt du sicher sein . "
" Ja ! " behauptete Ruth , und die Stirn wurde ihr feucht .
" Willst du es trotzdem ?
Gut .
Dann komme her . "
Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich von hinten an sie heran , damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen mußte , wenn sie etwa " umfiel " .
Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes , beinahe finsteres Gesicht .
Als er aber nach dem Eimer langte , und sie , dicht vor sich , die Schlange sich in seiner Hand winden sah , überfiel sie ein Schwindel .
Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände , denen sie befahl , sich nach dem glatten Wurm auszustrecken ; sie machte zuckend die Augen zu , und es fing an , ihr vor den Ohren zu sausen .
Da hörte sie Eriks ruhige Stimme :
" Fürchtest du dich sehr ? "
Sie nickte fast unmerklich .
" Dann wollen wir es lassen , mein Kind . "
Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen .
" Für immer ? " fragte sie schnell .
Er mußte lächeln .
" Nein .
Nicht für immer , " sagte er ruhig und freundlich , " aber es eilt nicht . "
Sie nahm sich zusammen .
" Dann jetzt gleich ! " murmelte sie .
Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand .
Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie ein elektrischer Schlag , sie warf den Kopf zurück und drängte sich hilfesuchend enger an Erik .
Aber ihre Finger hielten dabei den langen glatten Schlangenleib fest umspannt , und ohne einen Laut über die erblaßten Lippen zu bringen , sah sie mit weitgeöffneten Augen zu , wie sich die Ringelnatter an ihrem Arm hochstreckte , sich um ihn herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur Seite niederhängen ließ .
Der Arm blieb ausgestreckt , als wäre es erstarrt .
Und Ruth machte ein Gesicht dazu , als ob sie hingerichtet würde .
" Bravo ! " sagte Erik , der seine Hände schützend und ermutigend um sie gelegt hatte , " auch das hast du gut gemacht , Mädel . "
Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in den Eimer schüttelte , da taumelte Ruth .
" Nein , nein ! " rief er heiter , " du mußt nicht denken , daß du jetzt noch , umfallen ' darfst .
Damit ist es nun nichts mehr . "
Und er schob ihr einen Stuhl hin .
Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht , sondern ging , ohne aufzusehen , mit unsicheren Schritten an Erik vorbei und quer über die Terrasse in den Flur hinein .
Dort , so weit von ihm entfernt wie möglich , setzte sie sich in eine Ecke , hinter den Mantelständer , versteckte ihr Gesicht in den Mänteln , die dort hingen , und fing an zu weinen .
Erik sah ihr verwundert zu .
" Aber Ruth , du Narr ! " rief er , und mußte doch lachen , " nun solltest du froh sein und sogar stolz .
Was kann es nützen , hinterdrein zu weinen ? "
Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll an .
" Ich tue mir so leid ! " sagte sie und weinte weiter .
Jonas , der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden , aber auf einen Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten hatte , sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll an .
Er lief in den Flur , um Ruth zu trösten .
Eine Stunde später fuhr Ruth aber doch mit ihm und Erik zur Stadt .
Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch .
Es interessierte sie außerordentlich , daß Ruth jetzt bei Erik im Hause lebte , und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei Erik .
Sie fanden , alles sei plötzlich so nüchtern geworden .
Nur eine kleine Partei , freilich die beste , vermißte Ruth nicht .
Das waren die Musterschülerinnen , die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt wurden .
Aber die Stimmung blieb flau , und als es nun , so kurz vor den Ferien , zu regnen anfing , da verdüsterten sich die Gesichter auch der Fleißigsten .
So gab es denn eine gewaltige Freude , als Ruth in der Freistunde wieder auf dem Schulhof erschien , mit einem großen Regenschirm , unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute .
Alle umringten sie , und der Lärm wurde so schlimm , daß im Hinterhause die Leute aus den Fenstern herabschauten , um zu sehen , was es gäbe und warum die Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst .
Ruth war von ihnen die einzige Stille .
Als sie so mitten unter ihnen stand , von allen bedrängt , da kam es ihr vor , wie wenn sie aus einer Weltenferne zu ihnen zurückgekehrt sei , und sie wurde fast schüchtern .
All das Viele , was sie zu erzählen hatte , all das Viele , worauf jene begierig waren , schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen , und es blieb nichts als auf ihrem Gischt der Ausdruck von Kinderglück , der an ihrer Stadt erzählte .
Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander , wo sie das überragende Dach vor dem schwachen Sommerregen schützte , und wie damals , als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte , fand Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß .
Sie erschien den Mädchen verändert , ohne daß diese sagen konnten , wodurch .
Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter ihnen aus , und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen .
Daß sie nicht sprach , entging ihnen vollständig , der in ihnen selbst aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen , und anstatt dessen , was sie von ihr erfahren wollten , erfuhr Ruth in wenigen Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen , von damals bis zu jenem Tage , nebst dem ganzen Gang der " öffentlichen " Angelegenheiten .
Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor .
Das war eine Braut .
Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse .
Ein großes blondes Mädchen von frauenhafter Gestalt , mit ruhigen , freundlichen Gesichtszügen .
Als Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine Inschrift triumphierend vorgezeigt , - der glatte goldene Traureif fiel Ruth in den Schoß .
Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen , so als Gemeingut behandelt zu werden .
Sie war mit ihren Gedanken begreiflicherweise längst aus der Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das unendliche Interesse verbunden , das ihr , ihrem Liebsten und ihrem Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde .
Denn mit ihr betrachtete sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann gebracht .
" Er ist dunkelhaarig ! " erklärte das kleine blonde Gretchen , die besonders zärtlich an Ruth hing , " ach Ruth , ein solcher wirklicher Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste .
Denke dir nur , was man als Braut alles zu erzählen hat !
Wenn wir so zusammensitzen , und sie spricht von ihm und dem Leben und der Ehe und der Zukunft , dann meint man , daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren mit ihrem Kram . "
" Wieso ? " sagte Ruth , " sie weiß ja selbst noch nichts davon . "
Gretchen schweige etwas betroffen .
" Nun , du bist auch nicht wenig prosaisch geworden ! " fiel eine andere ein und lachte , " sie lieben sich ja doch !
Findest du denn das nicht herrlich ? "
" Doch ! " sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif in ihrer Hand ; " vielleicht ist es herrlich . "
Dann gab sie ihn der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu :
" Aber das Herrliche daran läßt sich ja doch nicht erzählen .
Nicht wahr ? "
Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an .
Sie fühlte sich zum ersten Male zu dem beglückwünscht , was sie ganz für sich allein besaß , als Braut , - was sie mit den anderen nicht gemein haben konnte .
" Es wäre eigentlich schöner gewesen , nicht so viel und so ausführlich mit allen darüber zu sprechen , " dachte sie plötzlich mit Scham und Stolz .
Und während sie den Ring wieder ansteckte und Ruth anblickte , konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren :
" Diese hier ist gewiß die nächste Braut . "
" Ja , Ruth , du hast recht : zum Erleben mag es schmecken , zum Erzählen ist es fade ! " rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen , die schon immer zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das Übergewicht der " Brautschaft " in der Klasse sträubte ; " was hattest du immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager !
Und jetzt : der reine Hausfrauenzettel !
Ich bin einzige , die noch dem , Edlen , Unglücklichen ' nachsteigt . "
" Ist der noch da ? " fragte Ruth .
" Ja , stelle dir nur vor , " klatschte eine an Ruths Ohr , " sie macht förmliche Straßenbekanntschaften .
Es hat schon einen Verweis gegeben . "
" Laß dir nichts in die Ohren blasen , Ruth , " unterbrach die Geschmähte sie , " es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis !
Warum bist du auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten ? "
Ruth hatte den Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in den verregneten Hof .
Grade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein , dessen Rauchsäulen jahraus , jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß auf den Schulhof niederstäubten .
Gegenüber sperrte die mächtige gelbe Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab .
Die Luft war schwül ; sie hatte es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt .
" Wie ein Gefängnis ! " dachte Ruth und sagte laut : " Das mit den Geschichten war ja nur ein Notbehelf .
Phantastereien . "
" Wieso ein Notbehelft " " Würdest du uns keine mehr erzählen ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Nein .
Keine Phantasiegeschichten mehr .
Nie mehr .
Aber wenn man vor einer großen Mauer sitzt , dann malt man sich natürlich aus , was es hinter der Mauer gibt .
Und wir wußten nichts , als daß es dahinter Mannet gibt .
Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus .
Ihr wolltet es ja so . "
" Nun , und was ?
Was gibt es sonst noch dahinter ? "
" Weißt du jetzt etwas davon , was es da gibt ? "
" Oh ! " sagte Ruth nur , aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten alle an , wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse , " dahinter gibt es das Leben . "
In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes , die Neugier und das Verlangen Aufreizendes , daß in diesem Augenblick den meisten selbst der " Bräutigam " schon etwas schal und abgestanden erschien .
In den Gesichtern prägte sich es deutlich aus , daß sich ein neuer Hunger geltend machte .
" Wie kommt man denn über die Mauer ? " fragte die unternehmende Wjera .
Ruth lachte .
" Man klettert eben hinüber , " sagte sie und lachte noch immer , " und dann geht man geradeaus , und nach rechts und nach links , ringsherum und nach allen Seiten .
Bis man alt ist . "
" Nehmt euch in auch ! " rief eine von den Musterschülerinnen warnend , " seht ihr denn nicht , daß sie euch foppt ?
So machte sie es immer mit euch .
Sie spielt und phantasiert , und dann lacht sie uns aus , weil wir_es ernstlich nehmen . "
" Nehmt_es nur für Ernst ! " sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe , den Schalk zu zügeln , der ihr im Nacken saß .
" Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten , uns auch über die Mauer zu helfen ? "
" Das könnt ihr ja tun . "
" Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu ! "
" Zeit hat er gewiß , " versicherte Ruth , " und Lust hat er auch .
Er hat alles , außer den Menschen , die dazu gehören . "
Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an .
Und dann auf Ruth , die gleichmütig dasaß , wie das verkörperte Behagen .
Die Spannung wuchs .
Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu sein .
" Sage Mal : ist es auch gewiß , daß es dahinter angenehm ist ?
Hast du da auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden ? " fragte eine von ihnen vorsichtig .
" Nie ! " behauptete Ruth , und es blitzte über ihr Gesicht , als ihr beiläufig einfiel , daß ihre Augen seit dem Tage vorher noch nicht trocken geworden waren .
Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln , und die Mädchen verließen den Platz am Brunnen .
" Du könntest Herrn Matthieux ja Mal für uns fragen , " meinte die hübsche Wjera , " das kostet nichts . "
" Warum ? " entgegnete Ruth , " es ist eure Sache .
Laßt es euch nur was kosten . "
In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu .
Darüber blieb es unbeachtet , daß ihnen Ruth nicht folgte .
Über der Spannung , die sie hervorgerufen hatte , war sie selbst vergessen worden .
Als sich die Mädchen dann nach ihr umsahen , um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden , war Ruth verschwunden .
Das letzte , was sie noch von ihr vernahmen , war ein Gelächter .
Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben wie sonst , denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht .
So kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf , wo ihn Ruth erwarten sollte .
Noch war nichts von ihr zu erblicken .
Erik erledigte , was es hier noch zu tun gab , und kleidete sich um , froh , der heißen Uniform zu entrinnen .
Als sich dann Ruth immer noch nicht melden wollte , öffnete er etwas beunruhigt die Tür zum Wohnzimmer und schaute hinein .
Da lag sie und schlief .
Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl gestellt .
Dann hatte sie sich , mit emporgezogenen Füßen , auf dem weißen Leinwandschutzbezug des Sofas zusammengekauert .
Den Kopf gegen das Seitenpolster gedrückt , schlummerte sie mit ernstem Gesicht und schlafgeröteten Wangen fest und eifrig , wie ein Kind .
Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben .
Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die Niedergelassenen Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel , worin der Staub in breiten Wellen flimmerte und zitterte , und huschten über Ruths Gesicht .
Ein leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen darüber hin und blieb auf den Lippen stehen , wie im Traum .
Dann , als die Sonne zudringlicher wurde , zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus , und endlich mußte sie heftig niesen .
Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht .
Lachend wachte sie auf und hörte Erik lachen .
" Ist es Morgen ? " fragte sie verwundert und setzte sich auf .
" Nein .
Es ist Mittag .
Warum bist du denn den Mädchen so rasch weggelaufen ?
Sie fragten noch nach dir , " sagte er .
Ruth rieb sich die Augen .
" Ach so , die Mädchen .
Jetzt weiß ich schon , " versicherte sie , " ja , mit den Mädchen ist es nichts .
Glaube es nicht .
Aber mir ist eingefallen :
wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann , - dann gäbe es am Ende auch noch ein anderes Mittel . "
" Mädel ! Schüttle den Schlaf ab .
Träumst du denn noch ? "
" Nein , nein .
Kein Traum , " sagte sie eifrig , glitt mit den Füßen vom Sofa herunter , stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und drückte das Kinn auf die geballten Hände ; " ich habe es mir nämlich so gedacht : wenn man zu den Menschen sprechen will , - in sie hineinwirken , - an ihnen was Großes schaffen , - und man findet nicht recht die richtigen Menshcen , die gut dazu passen würden , dann muß man es so machen :
man muß sich etwas ausdenken , was man ihnen vor Augen stellt , - so recht überzeugend und gewaltig vor Augen , bis sie Lust kriegen .
Kann man das nicht ?
Warum nicht ?
Zu den Menschen vom Allerschönsten reden und nicht müde werden , - bis sie Lust kriegen . "
Sie sprach rasch und belebt , mit wachen , glänzenden Augen , sichtlich bemüht , ihm etwas deutlich zu machen , was sie da , wie einen Traum , mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien .
" Wer soll das tun ? " fragte er langsam , von ihrem Gesichtsausdruck wie gebannt , und trat an den Tisch .
" Sie sollen es ? " rief sie hell , " wer denn sonst ?
Sie haben mir immer gesagt : mit den Phantastereien ist es nichts , aber das Leben ist schön und weit .
Ich glaube es ja !
Aber nun weiß ich , wozu die Phantasiegeschichten gut sind , - denn zu etwas sind die auch gut .
Dazu , daß man sich ausdenken kann , was noch am Leben fehlt , und es hinzutun .
Am Leben und an den Menschen .
Nicht wahr ? "
Während sie sprach , ging Erik im Zimmer auf und ab .
Ihm schien , als lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen , was er nur künstlich in sich selbst zurückgedrängt hatte .
Es kam wieder und redete mit Kinderstimme zu ihm .
Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch den Kopf .
Alte und neue durcheinander .
Sie hatten immer nach Gestaltung verlangt .
Und er , enttäuscht durch die Verhältnisse , hatte versucht , sie von sich abzuschieben , - zu vergessen .
Im vergangenen Winter hatte er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt , um sie zu vergessen .
Ruth saß und folgte ihm mit den Augen .
" Jetzt denkt er sich gewiß was aus ! " dachte sie .
Mehrere Minuten vergingnen in Schweigen .
Beide merkten nichts davon , daß die Luft im Zimmer dick und staubig war und ungezählte Mücken umherschwirrten .
Dann blieb Erik stehen , nickte zu ihr hinüber und sagte heiter :
" Danke dir , Mädel .
Erinnerst du dich , daß du mir etwas schenken wolltest , was ich eigentlich nie bekommen habe ?
Nun hast du mir aus deinen Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt .
Zur guten Stunde . "
Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm .
" Ja , " sagte sie froh , " Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen und alle für sich behalten .
In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges hinein .
Sie sagten damals :
, Nun sind alle deine Geschichten mein Eigentum , und ich kann damit machen , was ich will . ' Und nun werden Sie etwas Schöneres damit machen , als ich_es gekonnt habe . "
Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und Erwartung und fügte dann bittend hinzu :
" Aber ich muß zuhören dürfen , wenn Sie sich was ausdenken !
Darf ich zuhören ?
Werden Sie mir_es erzählen ? "
Erik blickte auf sie nieder .
So kindlich kam sie ihm vor , als sie so in Strümpfen neben ihm stand .
Da reichte sie ihm noch nicht bis zur Schulter .
Wie am Morgen vor dem Schreibtisch beugte er sich zu ihr , nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende , glückliche , bittende Kinderaugen .
" Wir werden es uns zusammen ausdenken ! " sagte er ,- Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt .
Als Erik und Ruth nach Hause kamen , stand eine Equipage vor der Gartenpforte .
Der Kutscher wendete den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich langsam im Schritt abkühlen .
Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem behaglichen Gemach neben der Wohnstube .
Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen Landhause , das etwa eine Stunde entfernt lag , herübergekommen .
Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche , die sie der kranken Frau machte .
Sie kam gern , wie sie auch gern empfangen wurde .
Sie empfand es wohltnend an Klare-Bel , daß man deutlich fühlte : hier lag eine , der es wirkliches Vergnügen machte , einmal im Plauderton wieder etwas von der Welt draußen , von den Menschen und der Gesellschaft zu hören .
Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben zurückgelangen , so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den ersten , beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig im Glanze dieser Zeit .
Und da war es nun eigentümlich : wenn man zu so einer sprach , dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu Hause .
Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel .
Aber Warwara wußte , daß es auch anderen Bekannten gegenüber nicht geschah .
Sie wußte : dies hier war wirklich eine Frau , die mit niemand intim zu sein vermochte als mit ihrem Mann .
Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr , fesselte sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe .
Als aber nun Ruth ins Zimmer trat , war sie enttäuscht .
Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet .
Vielleicht einen wilden , interessanten Jungen in Mädchenkostüm , vielleicht auch umgekehrt ein rührendes , liebliches Kind , das sich schüchtern zurückzog , - jedenfalls etwas ganz Eigenartiges .
Nicht ein blasses , wohlerzogenes Ding , das sich für Warwaras im Salon geübten Blick von anderen so jungen Mädchen durch nichts unterschied , als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene , Formsichere und Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber .
Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig :
sie nahm diese ganz als eine von vielen und gab auch sich selbst so wie eine unter den vielen woraus die Gesellschaft besteht .
Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte , wo sie erzogen worden sei .
" Ich war an verschiedenen Orten , " sagte Ruth , " aber erzogen bin ich noch nicht . "
Man wußte nicht , war es bescheiden , oder übermütig gemeint ?
" Wenn die nicht durchtrieben ist ? " dachte Warwara bei sich und musterte sie schärfer .
Bald trat Erik dazu und brachte eine heitere Unterhaltung in Gang .
Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung , deren Anzeige erst vor kurzem eingetroffen war .
Ein sensationeller Rückgang , denn die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in einen anderen veliebt .
Erik , der es nicht über sich vermochte , die humoristische Seite dieser Tatsache unbeachtet zu lassen , lachte laut .
Warwara sah sich nach Ruth um .
Diese war hinausgegangen .
" Zufällig ? oder ein Kunstgriff , um bei diesem Gespräch nicht hinausgeschickt zu werden ? " fragte sie sich , " oder ist sie wirklich so kindlich , daß sie das gar nicht interessiert ? "
Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst geworden war , sagte er : " Ja , die armen Frauen !
Wenn sie sich binden , haben sie allen Grund zu beten : Lieber Gott , hilf , daß ich eine gute Frau werde .
Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in der Tat im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe , - in der eigentlichen Gefühlstreue .
Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge festhalten , aber das ist dann ein verkümmertes Leben . "
" Sie meinen , der Mann bedürfe keines solchen Gebetes , " bemerkte Warwara , ohne ihre Ironie zu verbergen .
Er sah sie ganz unbefangen an .
" Nein , " sagte er , " ich glaube , der Mann ist in diesem Punkt , wie in so vielen anderen auch , durch seine Naur besser geschützt .
Nicht gegen die Untreue der Sinne .
Nicht gegen den Wechsel des Liebesgefühls .
Aber gegen das bewußte innere Loslassen desjenigen Wesens , an das er sich gebunden , - nein : das er an sich gebunden hat .
Das ist_es ! "
" Das ist originell .
Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des Pflichtbewußtseins , einen Edelmut des Mitleids , den wir , - die Frauen , - nicht - "
" Ach nein , empören Sie sich nur nicht .
Kein Pflichtbewußtsein , nur ein Glücksbewußtsein mehr , als ihr es habt .
Keinen mitleidigen Edelmut , nur einen begehrlichen Hochmut , den ihr nicht besitzt .
Der Mann , der für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt , genießt neben dem Liebesglück noch ein anderes , spezifisch männliches Glück :
er legt seine Hand bewußt auf dies ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu :
, Meine .
Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei : lieben mögen , - verantworten wollen , - herrschen dürfen . "
Warwara schüttelte sich .
" Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz ! " sagte sie , " mir jedoch ist wahrlich die Vorstellung lieber , wonach die Frau des Mannes Königin ist . "
" Sie sehen , - - ich sage noch mehr : sein Königreich , " versetzte er lächelnd , " daher gibt sie ihn eher preis , als er sie .
Für sie gibt es eben ihm gegenüber Aufstand , Empörung , Revolution , - was alles ganz heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann .
Für den Mann hingegen wäre das untreue Preisgeben seines eigensten Reiches etwas , was ihm wider die Scham ginge . "
Warwara lachte ihm ins Gesicht .
" Und das sind Sie , der für alle möglichen modernen Entwicklungskämpfe , und auch für die der Frauen so gern eintritt , " rief sie , " es ist eine schauderhafte Inkonsequenz , und ein Selbstbetrug oben drein !
Denn wenn Sie nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten , die nicht mehr so mittelalterlich denkt , und Sie sie nicht unterkriegten ? "
" Das würde ich doch ! " sagte Erik .
" Sonst würde ich mich vielleicht für sie begeistern , sie bewundern , fördern , als meinen Kampfgenossen achten , - aber lieben , - wie sollt ich das ?
So wenig , wie wenn ich ein Weib , oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre .
Ich kann mir vorstellen , daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer Sache Willen , die er über sich stellt .
In der Liebe - nie !
Und ein Weib , das diesem Instinkt nicht entgegenkommt - wirkt nicht als Weib . "
" Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen ?
Nein , nur in eurem jahrhundertlang großgenährten Dünkel , " versetzte Warwara entrüstet und wandte sich zu Klare- Bel : " Was sagen Sie nur zu einem solchen Mann ?
Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen , wenn wir lieben ? "
Klare-Bel antwortete etwas unsicher :
" Ich glaube , das tun wir , nicht weil wir unter ihm stehen , sondern weil wir glücklich sein wollen . "
Alle drei fingen an zu lachen .
Warwara erhob sich , um nach Hause zu fahren .
" Nun sollt ich hiervon eigentlich genug haben , " bemerkte sie gut gelaunt zu Erik , " aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule erfuhr ich , daß Sie diesmal beim feierlichen Schulschluß die übliche große Rede halten werden .
Da komme ich hin .
Damit Sie doch wissen :
Eine sitzt da und verspottet Sie .
Und hübsch klingen wird es sicher .
Ich habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt . "
Erik mußte lachen .
" Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern , daß unsere schönsten Reden für Toaste genommen werden , " versetzte er , " und daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer , die wir außer den Schulkindern auftreiben können , die gelangweilten schönen Frauen unserer oberflächlichen Gesellschaft sind . "
" Liebste , jetzt sind Sie Zeugin , daß ich mich zu rächen habe , " sagte Warwara gekränkt zu Klare-Bel , " ich möchte nur wissen , ob_es ihm nicht weh täte , wenn die schönen Frauen alle wegblieben .
Ich glaube , dann würde dieser Barbar Sie auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft unter seine Schulkinder setzten , die ihn alle fürchten wie das Feuer . "
" Das wird wohl nie geschehen , " meinte Klare-Bel etwas betrübt .
" Doch doch !
Kein Mensch kann in die Zukunft sehen .
Wir werden jetzt auf Grund einer Konsultation mit dem Professor eine Behandlung meiner Frau durchfürhen , die Wunder verspricht , " sagte Erik zu Warwara und geleitete sie an ihren Wagen .
Jonas war später nach Hause gekommen als Erik mit Ruth und kam seltsamerweise erst zum Vorschein , als der Besuch fortgefahren war und man sich schon zu Tisch setzte .
Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den tropfenden Bäumen verbracht im Kampf mit einem großen Entschluß .
Seine Ringelnatter war mit ihm , sie hing ihm melancholisch um den Hals , als wisse sie schon , daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe .
Noch einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen , sie gestreichelt und zärtlich an sich gedrückt , noch einmal in ihrem kostbaren Besitze geschwelgt .
Dann hatte er sie totgeschlagen .
Um es zu tun , mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten .
Er mußte sich vorstellen , daß er wie ein neuer Herkules sei , der die Hesione von einem Meerungeheuer erlöst , oder noch lieber wie Perseus , der sich seine Andromeda erobert .
Aber diese Vorstellung verfing nicht recht .
Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer , Ruth verkannte sie nur .
Das Tier blickte ihn mit den schwarzen Äuglein so beweglich an , und er hatte es so lieb .
Da ging ihm tröstend ein altes Märchen durch den Sinn , von einer Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf ; wer die totschlug , dem verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin .
Er wußte nicht mehr , ob sich es genau so verhielt , aber es gefiel ihm .
Und seine Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf .
Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte , wandte er sich mit rotem Gesicht ins Haus .
Es war ein ganz ungeheures Opfer , fand er , das sie da beide Ruth gebracht hatten , er und die Ringelnatter .
Denn die Schlange blieb nun tot , und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut wie über ein Reitpferd .
Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen , die er nicht leiden konnte .
Es ärgerte ihn , daß sie heute in die Freistunde gelaufen war , denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen Spielgefährten , und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß .
Noch saßen sie beim Mittag , als ein Eilbote kam und für Erik ein Telegramm überbrachte .
Dieser erbrach es und überflog den Inhalt , dann schob er seinen Teller zurück und trat mit dem Papier ans Fenster .
Man sah ihm an , daß es eine freudige und ihn bewegende Nachricht war , die er erhalten hatte .
" Fast ein ganzer Brief !
An der Grenze aufgegeben , " sagte er , " denke dir , Bel , mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs .
Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen .
Oder noch länger ?
Damals waren wir beide noch Studenten !
Erinnerst du dich seiner noch ? "
" O ja , Erik !
Wie sollte ich den vergessen !
Denn mit ihm war es ja , daß du immer noch so große Zukunftspläne machtest .
Ihr wolltet alles am liebsten auf den Kopf stellen .
Ja , so jung wart ihr damals .
Was ist denn Römer eigentlich geworden ? "
" Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität .
Schrieb mir noch manchmal in früheren Jahren . "
Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber .
Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es Ruth , als stiege plötzlich eine ganz fremde und ferne Vergangenheit zwischen ihnen auf .
Eine Vergangenheit , wobei sie nicht zugegen gewesen war .
Überhaupt noch nicht auf der Welt !
Er schien ihr ganz unmöglich .
" Wird er hier herauskommen ? " fragte sie leise .
" Das wird er leider nicht .
Er reist nur durch .
Sein Ziel ist Moskau .
Dort ist irgend eine Ärzteversammlung .
Morgen früh am Bahnhof werde ich Näheres erfahren .
Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat ? "
" Zu einer Ärzteversammlung ? " bezweifelte Klare-Bel .
" Warum nicht ?
Ich glaube , sie sind in ihrem geistigen Leben eng verwachsen .
Römer heiratete sehr jung , die Frau machte seine ganze Sturm- und Drang- periode noch mit durch .
Das gab ihrer ganzen Ehe den Charakter . "
" Haben Sie keine Kinder ? " fragte Klare-Bel , die dieser Punkt besonders zu interessieren pflegte .
" Ich glaube nicht . "
" Keiner Kinder ! " wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns .
Nichts war ihr an ihrem Leiden so hart erschienen , wie der Umstand , daß sie nicht wieder Mutter werden konnte .
" Das ist doch eine traurige Ehe , so zu zwei . "
" Soviel ich mich erinnere , haben sie nicht immer zu zwei gelebt .
Sie haben wiederholt junge Mädchen , die an der Universität studierten , bei sich aufgenommen . "
" An der Universität studierten ?
Können junge Mädchen das dort ? " erkundigte sich Ruth erstaunt .
Erik blickte sie mit einem Lächeln an .
" Jawohl .
Solche junge Mädchen wie du , " sagte er ; " es steht dem ja nichts im Wege , daß du eins der nächsten Hauskinder bei Römers wirst .
Hast du Lust dazu ? "
Er sagte es scherzend , aber der Blick , womit sie ihm antwortete , war so ernst , daß er ihm im Gedächtnis blieb .
Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von alten Zeiten .
Jonas fand , nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen , aber sie blieb sitzen und hörte zu .
Draußen hatte es angefangen , stärker zu regnen ; Jonas lehnte in der Haustür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus .
Als Ruth endlich vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat , bemerkte er :
" Wenn wir doch wenigstens bei Regenwetter , Mann und Frau ' spielen wollten .
Das paßt so gut fürs Haus .
Denn wenn die Sonne scheint , tust du es doch nicht .
Und dann ist es auch etwas , was du bei deinen albernen Mädchen nun einmal nicht haben kannst . "
" O doch ! " versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der schmalen Holztreppe , die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte , " das haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt . "
" Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein ohne einen wirklichen Jungen ! " meite Jonas verächtlich .
" Und ich möchte doch so viel lieber dein Mann sein als der Mann in all den Räubergeschichten , wobei ich mich immer so anstrengen muß . "
" Aber ich möchte nicht deine Frau sein , " sagte sie kaltherzig und saß und schlenkerte mit den Füßen , " und dann wäre das auch noch viel anstrengender für dich .
Sei doch froh , daß du jedesmal bei allem die Hauptperson und der Held bist . "
" Nein , das bist du eben immer ! " warf er ihr mißmutig vor .
" Nein , Jonas , das ist bestimmt nicht wahr .
Du bist es ganz allein .
Warst du nicht erst gestern der Egmont ?
Und neulich - "
" Ja , im Anfang ! " unterbrach er sie gereizt , " aber wenn du mir alles immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst , dann bin ich es ja gar nicht in Wirklichkeit , sondern nur du . "
" Ich kann doch nichts dafür , wenn du dumm bist . "
Jonas schwieg gekränkt .
Wenn sie wüßte , wem sie das sagte ; -
wenn sie wüßte , daß er freiwillig darauf verzichtet hatte , ihr seine Überlegenheit zu zeigen , sie in Furcht zu versetzen , sie zum Bitten und Schmeicheln zu bewegen !
Denn hätten sie " Schlangenbändiger " gespielt , da wäre er doch wohl der Herr gewesen .
Und sie war so dumm , ihm zu glauben , die Schlange sei wirklich entschlüpft .
Jonas brannte die Zunge , Ruth von seinem Opfer zu erzählen .
Aber er fand , das verbiete ihm sein Mannesstolz .
Lieber noch wollte er sich die Zunge abbeißen , wenn die Schwatzlust zu groß wurde .
" War ich Egmont , so hättest du mein Klärchen sein müssen , " sagte er ; " warst du es etwa ? "
" Nein , natürlich nicht .
Dazu kam ich ja gar nicht .
Denn allein hättest du ihn doch nie herausgebracht .
Und er ist doch das Wichtigste , wie du dir denken kannst .
Das Klärchen kann man streichen . "
" Ich habe aber keine Lust , mich zu deinem Hampelmann herzugeben !
Sei meine Frau ! " schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf .
Ruth war vom Geländer herabgeglitten .
Sie stellte sich an das niedrige Flurfenster , an dem der Regen herunterrieselte , und drückte ihr Gesicht platt gegen die Scheibe , so daß es sich satirhaft verzog .
Wenn Jonas wütend wurde , dann überschlug sich jedesmal seine Stimme :
sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief .
Das brachte Ruth immer zum Lachen .
Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus .
" Lauf nur zu deinen albernen Mädchen ! " rief er grimmig , " ich bin ein Junge ! "
Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau , wie er sie brauchte .
Andromeda hatte sich bereit erklärt , ihrem Erretter als Sklavin durch alle Länder zu folgen .
Ruth würde so etwas nie tun , es würde ihr gar nicht einfallen , - davon war er fest überzeugt .
Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster des Wohnzimmers und fragte , ob er noch bis zum Abende einen Kameraden aufsuchen dürfe .
Klare-Bel , die neben dem abgeräumten Tisch lag und in van Lenneps Novellen las , blickte bei seinen Worten auf .
" Es ist nur gut , daß er noch an so was denkt , " bemerkte sie , als sein Kopf vom Fenster verschwunden war , " denn jetzt denkt er Tag und Nacht nur noch an das Mädchen , Erik . "
" Strohfeuer ! " versetzte dieser .
Er stand und schaute verträumt hinaus .
Seine Gedanken weilten noch in der Vergangenheit .
Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine willkommene Zerstreuung und freute sich darüber für ihn .
Ihm war es mehr als das .
" Findest du , es schadet nichts ? " fragte Klare-Bel besorgt .
" Aber du meintest doch selbst , Jonas sei beim Lernen flüchtig und zerstreut geworden . "
" Das ist er wohl ein wenig .
Aber was ihm dadurch vielleicht an Schulweisheit abgeht , erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung , die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt .
Das ersetzt ihm keine Schule . "
" Er ist freilich noch wie ein Kind .
Aber Jonas ist anhänglich .
Wenn er nun sein Herz so ganz an sie hängt - ? "
" Dann laß ihm die Erinnerung , Ruth begegnet zu sein .
Er kann es an nichts Besseres hängen , Bel. "
Sie schwieg darauf .
Das holländische Novellenbuch entglitt ihren Händen .
Sie faltete sie im Schoß .
" Wie hoch er sie stellt ! " dachte sie im geheimen erschrocken .
Es war ein stiller Tag , der nächste .
Weil Erik nicht nach Hause kam .
Wie ausgestorben schien das Haus , weil man dort seinen Schritt und seine Stimme nicht hörte .
Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen , meinte Bel .
Nachts ließe er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein .
Jonas schlich übler Laune im Hause umher .
Nach dem gestrigen Streit fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst darauf folgendem unzertrennlichem Beisammensein .
Aber dafür war Ruth heute nicht zu haben .
Den Streit hatte sie rein vergessen .
Und auf alle seine Vorschläge , etwas Gemeinsames zu unternehmen , entgegnete sie nur ihr wohlbekanntes stereotypes :
" Ich muß nachdenken . "
Und Jonas wußte schon , daß sie dann für ihn so gut wie verloren war .
Ruth dachte immerfort , unablässig über ein und dasselbe nach .
Sie folgte in Gedanken Erik in die Stadt , an den Eisenbahnzug , der ihm den Freund bringen mußte , und versuchte , sich in das Wiedersehen hineinzuversetzen .
Als ihm Klare-Bel am Morgen beim Weggehen zurief :
" Adieu , Erik , amüsiere dich gut ! " da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt .
Es kam ihr vor , als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor .
Selbst sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert .
Unter allem , hinter allem , was er in gewohnter Weise sprach oder tat , fühlte Ruth es heraus , daß eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich in ihm raunte und redete .
Keine Erinnerungen aber , die amüsieren , - sondern solche , die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit , von der die Gegenwart verdunkelt wird .
Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein .
Klare-Bels Stuhl war auf die Terrasse geschoben worden , unten konnte sie nicht bleiben , weil Erik fehlte , um sie wieder hinaufzutragen .
Ein warmer Sommerduft stieg von draußen auf ; Flieder und Goldregen waren am Verblühen , und auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen .
Baumwipfel und Büsche drängten sich jetzt so dicht ineinander , daß es fast schon zu viel Laub und Schatten ums Haus gab .
Der Sommer barg es ganz in seinem warmen Dunkel , und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie ein großer grüner Farbenklecks .
Als auf der Terrasse der Abende getrunken wurde , fiel es Klare-Bel doch auf , daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß .
" Es ist fast , als könnte sie es gar nicht mehr ertragen , daß sich Erik mit anderen Menschen beschäftigt als mit ihr ; am liebsten würde sie ihm keine Zerstreuung mehr gönnen , diese arge kleine Egoistin , " dachte sie und fragte laut :
" Aber Kind , fehlt dir etwas ?
was machst du nur für wunderliche Augen ?
Ich glaube gar , am liebsten wärst du dort zusammen mit Erik ? "
Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie schüchtern an .
" Ich versuche es , dort zu sein ! " sagte sie zum unaussprechlichen Erstaunen Klare-Bels .
Diese zog sich bald nach dem Abende in ihr kleines Gemach zurück , um sich zeitig zur Ruhe zu begeben , denn sie fühlte sich ein wenig leidend .
Vielleicht griff sie die neue Behandlung an , die Erik seit kurzem mit ihr vornahm und die eine Reihe von Monaten hindurch fortgesetzt werden sollte .
Er fing wirklich schon an , wieder neue Hoffnung zu schöpfen .
Gone entfernte sich , nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet hatte , und Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein , umgeben von all den zierlichen und sauberen Sächelchen , die sie bei sich aufzustellen liebte .
Sie lag und lächelte über sich selbst .
War es nicht seit kurzem , als ob auch sie ganz leise - leise , heimlich die neue Hoffnung hätschele ?
Ein klein wenig nur .
Die Hoffnung , doch noch einmal wieder gesund zu werden , Erik entgegengehen zu können auf zwei gesunden Füßen .
Es war ja gewiß nichts damit .
Ein bloßer Wahn .
Aber wenn er trog , dann würde Erik sie schon darüber hinwegtragen , wie über die vielen , vielen früheren Enttäuschungen .
Denn das hatte er getan , - nicht gerade mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen , aber mit seiner unaufhörlichen Gegenwart , mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie .
Und manchmal , da überkam sie ganz deutlich das Gefühl : es war gut so , denn er brauchte das ; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen Enttäuschungen .
Seine starke Beeinflussung anderer schien es zu sein , wodurch er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte .
So oft hatte sie es im täglichen Leben unter den Menschen seiner früheren Umgebung mit Verwunderung beobachtet , wie belebend es auf ihn wirkte , daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten .
Das Alleinsein vertrug Erik wirklich schlecht .
Die Zeit rückte vor , und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit offenen Augen .
Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die Luft , ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend ; in der Ferne verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter , die von nächtlicher Arbeit heimkehrten .
Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer herein .
Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken , so daß sie über sich selbst erstaunen mußte .
" Wer ist nun stark , " dachte sie , " wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf ? "
Sie war sicherlich ein schwaches Wesen , froh , wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen wollte .
Er aber , brauchte er denn nicht jemand um sich , den er führen konnte , um selber froh und des Weges sicher zu bleiben ?
Brauchte Erik sie also nicht , wie sie ihn ?
Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht , und inbrünstig streckte sich ihre Sehnsucht ihm entgegen - .
Wie sie es vorausgesehen hatte , machte sich Erik erst Stunden später auf den Heimweg .
Er hatte mit vielen anderen dem Freunde das Geleit bis zum Mokauer Bahnhof gegeben , und dann blieb man noch eine Weile zusammen , - ein ganzer Haufen von Menschen , von Fremden und Bekannten , mit denen der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde .
Erik ließ sich nicht mehr die Zeit , zu Hause vorzufahren , um sich umzukleiden , er erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus .
Der lange Gang von der Station aus tat ihm nach den verflossenen Stunden und Eindrücken wohl ; die freie Nachtluft erfrischte ihn .
Kein Lufthauch regte sich , am fast taglichen Himmel stand blaß und glanzlos der Vollmond , einzelne Wolken ballten sich aufeinander , und von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder .
Als er am Hause ankam , das unter den regungslosen Bäumen in der Nachthelle dalag , wich die noch erregte Stimmung langsam dem Gefühl ruhiger Freude , wieder daheim und bei den Seinen zu sein .
Bei den Seinen !
Auch Ruth gehörte jetzt dazu .
Gehörte ihm zu .
Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf die Giebelstube , wo sie jetzt schlief und träumte .
Da , als er fast geräuschlos die Haustür aufgeschlossen hatte , knarrte die schmale Holztreppe , die vom Flur nach oben führte , unter einem leichten Fuß .
Völlig angekleidet , nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf , erschien Ruth auf dem untersten Treppenabsatz .
" Aber Ruth , was fällt dir ein ?
Wie konntest du aufbleiben ?
Schnell ins Bett ! " sagte er .
Er schalt , doch klang es sehr herzlich .
Empfand er doch ihr liebes Gesicht wie einen Willkommgruß .
" War_es schön ? " fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen überwachen Augen an , " sollt ich denn dabei schlafen ?
Nein , das konnte ich nicht !
denn ich war auch da , - immer mit da .
War es schön ? "
Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest .
Alle Eindrücke des Tages , alle Erinnerungen , die dadurch aufgewühlt worden waren , verflogen , er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr .
Was bedeutete ihm alle Anregung , ja was aller so ersehnte Beifall oder Erflog , wonach er im Leben gegeizt und gerungen hatte , gegenüber dem zarten Lob , wie es aus Ruths kindlicher , gläubiger Hingebung an ihn redete ?
Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles , was von einer Menge ausging und sich laut äußerte .
Nur wessen Sinne zu stumpf geworden waren für so seinen Duft , der mochte nach schärferen Würzen suchen .
Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf , und darüber vergaß er zu antworten .
Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug , den weiten Mantel lose umgeworfen , regenbesprüht , und darüber das belebte Gesicht .
Wie sie so einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht , während die ganze Welt um sie her in Schlummer lag , erschienen sie beide wie gesättigt mit Leben , und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen , - verwandt über Alter und Geschlecht hinaus , - ein Lebenverlangendes , Lebenforderndes .
Es war dasselbe , was Erik so verwandt berührt und ergriffen hatte , als er Ruth im Schulhof zum erstenmal sah , mit dem Übermut in den Augen und den erhobenen Armen .
Sie standen und schwiegen , und um sie her träumte die magische Helle , in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen .
" Hätte ich nicht fortgehen sollen , Ruth ? " fragte er unwillkürlich und blickte sie mit einem Lächeln an .
" Doch !
Aber mich mitnehmen ! " entgegnete sie , und im Klang ihrer Stimme verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung worin sie den Tag über umhergegangen war .
Erik verstand sie nicht ganz , er nahm die nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher , als sie Ruth meinte , aber Blick , Ton und Haltung drückten es so deutlich aus , daß sie sich in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte , daß eine tiefe Rührung über ihn kam .
Ihm schien , Ruth sehe wie verzaubert aus , - anders , lieblicher als sonst .
Im Hause blieb es ganz still , und beide sprachen mit gesenkter Stimme .
Nur durch die offen gebliebene Haustür zog es ganz leise wie ein geheimnisvolles Raunen und Rauschen , - ein Flüstern , das draußen durch das niedrige Gebüsch ging , - die erste Ankündigung des neuen Tages .
" Es ist Zeit ! " sagte Erik aufschreckend , " lege dich schlafen .
Gute Nacht !
Guten Morgen , Liebling ! "
Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich - fest , so daß sie an seiner Brust lag , und küßte sie auf den Mund .
Als er sie ebenso rasch wieder losließ , ergriff Ruth seine Hand und drückte ihre warmen Lippen darauf .
Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf .
Erik öffnete die Mitteltür im Flur , die in das Zimmer von Jonas führte .
Er mußte hindurch gehen , um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer zu erreichen .
Dabei wachte Jonas auf .
" Na , Papa , war_es schön ? " fragte auch der und drehte sich schlaftrunken auf die andere Seite ; " hat es denn auch Champagner gegeben ? "
Damit schlief er weiter .
Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus .
Ein farbloses , blasses , gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus , und der dämmernde Morgen fing an , sie mit herber Kälte zu erfüllen .
Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am Boden hin , sondern hatte sich höher erhoben .
Es bewegte die Zweige der wilden Akazien , die dicht vor dem Fenster standen , und schwoll dann machtvoll an , bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel durchklang , die noch kurz vorher lautlos gegen den hellen Nachthimmel gestarrt hatten .
Wie ein Morgenchoral klang es , und - ganz leise , - versuchend , wie im Halbschlafe noch , fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein .
Und bald darauf , gleich einem Aufjauchzen , ein langgezogener unermüdlicher Buchfinkentriller .
Erik hatte sich zur Ruhe gelegt , aber mit wachen , lauschenden Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf , und es kam ihm vor wie eine geeignete Begleitung zu seinen Gedanken , die noch an Ruth hingen .
Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung , eine Morgentraumstimmung , so schien ihm .
Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie jetzt , daß sie ja unwiderruflich zueinander gehörten , daß sie im Grunde gleich geartet , gleichen Wesens seien .
Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen :
" Mich mitnehmen ! "
Was er war , das wollte auch sie sein , denn nur in ihm erfaßte und ahnte sie sich selbst .
Der gleiche Lebensdrang schlummerte stark und freudig in ihnen beiden .
Nur daß in ihr aus unbewußtem , unberührtem Naturgrunde hervorbrach , was in ihm bewußter Entschluß , Verstand und Wille gewesen war .
Und daß in ihr noch mit reiner Flamme brannte , was in ihm die Berührung mit dem Leben schon mit Schlacken und Asche vermengt hatte .
Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen .
Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich , und der Morgenwind schwieg still .
Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den Himmel , durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen .
In einem breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach .
Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben .
Im Sonnenschein war er eingeschlafen .
Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich wieder auf den gestrigen Tag , noch auf die Nachtstunde .
Irgend ein Traum , ein wunderbarer , von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte , hielt ihn noch fest in Bann .
Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm zwingend die seltsame Frage :
" Ist sie schön ?
Ich weiß es nicht , ich glaube eher : nein .
Aber sie sieht aus wie - Ruth .
Es ist ja Ruth . "
Und ihm schien , es könne nur eine solche geben .
Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit .
Und blitzähnlich wurde er vollständig wach .
Wie ein Schicksal , groß und schwer , stand vor ihm die Erkenntnis seiner Liebe .
Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht .
Vielleicht weil es überhaupt seiner Natur wenig entsprach , über sich nachzudenken .
Vielleicht aber auch , weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen Interesse am Menschen , nicht am Weibe entsprungen war .
Plötzlich war das alles anders geworden . -
Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch auf Erik , als er endlich zu ihnen hinaustrat .
Klare-Bel bemerkte sofort etwas Verändertes , Verschlossenes in seinem Gesicht , und sie bewies es , indem sie keine Frage an ihn richtete und von Gleichgültigem zu reden begann .
Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches von dem Zusammensein mit dem Freunde .
Die Frau war wirklich auch dabei gewesen ; sie war eine Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau .
Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen .
Heiter , gütig , praktisch , - ein kluger und reifer Mensch , sagte er von ihr .
Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohr zu .
Sie fühlte sich sonderbar beunruhigt und fand im stillen , daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung reichlich überwacht und angegriffen aussähe .
Um so frischer und heller sah Ruth aus .
" Wie angesteckt von der Morgensonne , " dachte Erik , während sie sein Seitenblick streifte .
Dabei konnte er ihr ansehen , wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber unterdrückte , daß er sich verschlafen habe .
Sie hatte sich nicht verschlafen .
Sie hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt .
Aus der gemeinsamen Arbeit wurde es nun diesmal nichts .
Hastiger als sonst stand Erik auf , um zu gehen .
Die Zeit drängte , und Jonas war schon fort .
Erik konnte es kaum erwarten , daß das Haus weit hinter ihm läge , und er wieder mit sich selbst allein bliebe .
Aber dennoch war ihm weder zum Träumen noch zum Grübeln zumute .
Nur nach einen verlangte es ihn dringend und ungeduldig , als hinge das Leben davon ab : voll und klar ins Auge zu fassen , was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor ihm stand .
Nur nach einem verlangte es ihn : davor stillzustehn und den Blick darauf ruhen zu lassen fest und forschend , wie auf einem fremden Antlitz .
Darüber entschwand alles andere , was ihn hätte beschäftigen und beunruhigen können , völlig aus seinem Gesichtsfeld .
An allem , was bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt hatte , an allen inneren und äußeren Verhältnissen , in denen er lebte , sah er vorbei , - ganz gerade , ganz unverwandt auf den einenPunkt , ohne nach rechts oder links zu schauen .
Für etwas anderes blieb kein Blick , kein Raum , es blieb nur eine dunkle , trotzige Nebenempfindung : über Hindernisse , und wären_es auch Menschen , geht_es hinweg . -
Ehe sich Erik mit Klare-Bel verlobte , hatte sie ihm einmal eine Photographie geschenkt , worauf sie sich im Kreise ihrer ganzen Familie befand .
Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen Rahmen und Glas ein Blatt Papier , in dem er eine Bels Gestalt genau entsprechende Öffnung ausgeschnitten hatte : so war er mit ihr allein .
Ihre Sippe deckte er zu , weil sie ihm nicht gefiel .
Erik war sich_es nur halb bewußt , daß er es jetzt ebenso gewalttätig machte : mit seiner eigenen Familie , mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen Umgebung , ja mit der gesamten Welt , die er in seinen Gedanken auslöschte , bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite , eine Welteneinsamkeit , wo nur Ruths Bild vor ihm stand .
Sie und er , allein miteinander , und Auge in Auge .
Aber je länger er auf sie hinschaute , desto stiller wurde sein Blick .
Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an sein Bewußtsein heranbringen konnten , das ging von dem fröhlichen Kinderbilde selbst aus .
Alles harte und leidenschaftliche Fordern in ihm wurde still .
Was liebte er denn an ihr , wenn nicht eben dieses Kindliche , worin geheimnisvoll und verheißungsvoll noch die ganze Fülle der Möglichkeiten ruhte , - dieses Keimende , Werdende , Zukünftige , was noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte , - den zarten , bildsamen Stoff , wonach sich seine Hand nur deshalb herrisch ausgestreckt hatte , weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte ?
Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein , das er Ruth einmal erzählt hatte .
Es enthielt eine Wahrheit , es enthielt seine Liebe .
Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine Gärtnerhoffnungen .
Je länger sich aber Erik in das ihm vorschwebende Bild vertiefte , um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl .
Er sprach nur noch mit geringer Ehrlichkeit zu sich selbst .
Umwiderstehlich erhob sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren .
Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer Wirklichkeitsfarbe ein , und immer höher ging der Schwung der Gedanken .
Während Erik glaubte , es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm , der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte , damit es einst Wirklichkeit werde , schwelgte und berauschte sich der Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt . -
Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht , die diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach .
Anfangs überlegte sie ein Weilchen , ob sie die Absicht hege , ganz für sich allein fleißig zu sein .
Nein , die hegte sie entschieden nicht .
Am besten hätte es ihr gepaßt , Jonas jetzt da zu haben , aber der saß in der Schule und lernte , der Ärmste .
So entschloß sie sich denn , zu Gone in die Küche hinunterzugehn .
Denn lieber noch wollte sie mit den Händen tätig sein als mit den Gedanken , meinte sie , und sich irgendwie lebhaft betätigen mußte sie durchaus .
War ihr doch froh , so vogelfroh , so gar nicht zum Stillsitzen und " Nachdenken " .
Und dann war es auch ganz unterhaltend , mit Gonnes Eimern am Brunnen zu planschen .
Gone konnte es glücklicherweise gut leiden , wenn ihr Ruth so ungebeten mitten in die Arbeit sprang .
Da sie nichts von der landesüblichen Devotion besaß , so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth , daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ .
Und Ruth nahm es auch nicht anders , und als entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer ungeschulten weichen Stimme russische Volkslieder zur Arbeit , und Gone hörte tiefernst zu .
Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und zurückgestreiften Ärmeln singend und seelenvergnügt am Brunnen .
Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste von dem , was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte ; die von seiner Phantasie verklärte Gestalt , um derentwillen er die wirkliche Ruth am tiefsten zu lieben glaubte , war wie versunken .
Eine stürmische Zärtlichkeit erfüllte ihn , ein heißes Verlangen , sie an sich zu ziehen , die schlanken Wasserüberspriten Arme unter seiner Hand zu fühlen , die lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen von der Sonne schwach gebräunten Hals .
Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen , machte Erik plötzlich halte , kehrte um und ging in sein Zimmer .
Dort lagen noch Ruths Hefte und Bücher , die am Morgen vergebens auf ihn gewartet hatte , unordentlich auf dem Schreibtisch umher .
Erik setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände .
Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen , und er drückte die Zähne gegeneinander . - - - Mußte Ruth fort ?
Er zwang sich , den Gedanken zu Ende zu denken .
Ihn überschlich eine Ermattung , eine bleischwere Müdigkeit , die alles klare Denken umschleierte .
Halb mechanisch blickte er über die Hefte ihn , die aufgeschlagen dalagen ; ohne zu lesen , folgte er den einzelnen Buchstaben , als enthielten sie eine erlösende Antwort .
Es war eine rasche , in den Grundstrichen harte Schrift , deren Züge alle fest zusammenhingen .
Noch keine ausgeschriebenen Rundungen , aber auch kein überflüssiger Schnörkel .
Ihm fiel wie von ungefähr auf :
in Ruths Handschrift lag im Grunde eine fremde Ruth .
Nichts von ihrer Phantasie , - ihrem Überstömen .
Etwas merkwürdig Logisches .
Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften .
Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth ?
Die noch nicht erwacht war , die er noch nicht kannte ?
Da lachten ihre Augen durch das Fenster .
Ruths Kopf erschien zwischen den krausen Ranken und Blättern des wilden Kopfes , der am Fensterkreuz emporkletterte .
" Soll ich arbeiten ? " fragte sie .
" Nein .
Wir wollen auch Ferien machen .
Wenigstens für heute , " sagte er und stand auf ; " weißt du , was es in der Mädchenschule für eine Überraschung gab - in der letzten Stunde vor den Ferien ?
Sie erhoben sich alle und trugen feierlich eine Bitte vor .
Was es war , ließ sich nicht leicht herausbringen .
Sie wußten selbst nicht genau .
Sie wollten dasselbe , was du gewollt hast , sagten sie .
Sie wüßten nur nicht zu bewerkstelligen . "
Von Ruth kam nur ein Gelächter .
Er hatte es schon in der Schule zu hören geglaubt .
Ganz deutlich fühlte er aus dem unerwarteten " Massenerfolg " den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus .
Aber gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit gerissen , ihn mit Wärme und Freude erfüllt .
Aus dem Bilde der ganzen Klasse , aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden Mädchenköpfe schaute ihm , wie aus einem Bexierspiel , Ruths Gesicht entgegen : mit einem Schalkslächeln um den Mund , aber auch mit unbegrenzter Hingebung in den Augen .
Ganz so , wie sie jetzt eben zwischen den Kopfenranken dastand .
" Aber nun wird Ernst damit gemacht , " bemerkte er und lehnte sich aus Fenster , " im Herbst , wenn alle wieder zusammenkommen .
Vielleicht in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause .
Vielleicht mit Beteiligung Erwachsener .
Ich weiß noch nicht , wie . "
Sie sah ihn voll Interesse an .
" Das ist gut ! " sagte sie eifrig und nickte , " je mehr , desto besser .
Aber alle werden nicht kommen dürfen , und manche werden bald wieder fortbleiben .
Daß die Braut da ist , nimmt vielen die Lust zu so etwas fort . "
" Die Braut ? "
" Ja .
Denn da denken sie nun , so schön könnten sie es jetzt bald alle kriegen .
Und dann hat ja all das andere keinen rechten Zweck mehr , meinen sie .
Denn sie finden :
Braut sein , das sei doch das Allerhöchste .
Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten . "
Erik blickte auf sie .
" So ?
Und was hast denn du dazu gemeint ?
Hast du auch gefunden , daß es das Allerhöchste sei und daß dann all das andere keinen rechten Zweck mehr habe ? "
" Ich ?
Das kann ich ja gar nicht wissen .
Wie soll ich wissen , wie es dann ist ?
Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen .
Denn ich kann niemals Braut werden , " sagte Ruth .
Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung .
Er war so betroffen , daß er nicht gleich antworten konnte .
Dann entgegnete er :
" Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken ?
Wo hast du diesen Einfall her ?
Du bist ein Kind , das nichts davon voraussehen kann , wie sich sein zukünftiges Leben gestalten mag .
Und deine Phantasie soll nicht damit spielen .
Du sollst nicht damit spielen ! " wiederholte er mit plötzlichem , unmotiviertem Zorn .
" Sage mir , wie du darauf gekommen bist . "
" Es ist von selbst gekommen , " sagte sie einfach , " ich habe nicht damit gespielt .
Es ist gekommen , weil ich wußte : um Braut zu werden , muß man einen lieb haben .
Und das kann ich ja nicht mehr .
So lieb kann ich in der ganzen Welt nie mehr jemand haben . "
" Wie lieb , Ruth ? "
Seine Stimme klang gedämpft und heiser .
Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick .
Noch nie meinte er eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick gesehen zu haben .
" So lieb wie Sie , " sagte Ruth .
Erik machte eine kurze Bewegung und , niederblickend , schob er die Hopfenranken zur Seite , die sich überall festnestelten und anklebten .
Die linke Hand , die in der Seitentasche seiner Joppe lag , ballte sich zur Faust .
Ruth betrachtete ihn unverwandt , aber sie verstand nicht den Ausduck , der über sein Gesicht ging .
Da , als Erik fast furchtsam aufschaute und die fragenden Augen vor sich sah , durchzitterte es ihn .
Ihm kam es vor , wie wenn dieser eine Blick und Augenblick über ihn entscheide .
Er beugte sich etwas vor , ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine Augen .
" Weißt du , Mädel , " sagte er halblaut , " wenn du groß bist , - denn jetzt bist du doch nur erst ein kleines Mädel , - aber wenn du längst eigene und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge und viele andere noch , - dann - dann sollst du noch einmal zu mir kommen und mir sagen können : daß du mich lieb behalten hast .
Und daß du von mir - von mir dein Bestes hast .
Dein Eigenleben und deine Entwicklung . Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der Menschen .
Wer du dann bist , Ruth , das wissen wir beide nicht ; wer ich dann bin , das weiß ich ja wohl : ein alter Mann .
Aber ein alter Mann , der dafür gelebt hat , daß du , Mädel , ihm bleiben darfst , was du ihm heute bist : sein Stolz , sein Werk , sein Kind und seine höchste Hoffnung . "
Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer .
Ruth stand noch draußen am Fenster .
Sie hatte die Arme aufgestützt und blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach .
An einem der nächsten Tage um die Mittagsstunde füllte eine bunte Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal .
Eltern und Angehörige der Kinder , eine Flut von Neugierigen aus den oberen Gesellschaftsschichten und viele , die Erik reden hören wollten , von dem die Mädchen zu Hause so viel erzählten .
Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen und ihren Kindern ; er erwähnte den Vorschlag , den ihm seine Klasse gemacht hatte , die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule hinaus zu erstrecken , und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken von der Notwendigkeit einer reicheren Weiterentwicklung für die Frau , als sie ihr die Gegenwart außerhalb der Schuljahre gewähre .
Von der Möglichkeit , eine lebensvollere , geisteskräftigere Zukunft herauszuführen , sprach er ihnen , und von der Zukunft der Frau , die , erst geahnt und nur halbenthüllt , noch vor ihr liege , wovon sie aber Besitz ergreifen könne in allem , was ihr Wesen der inneren Entfaltung und Vollendung näherbringe .
Und während er sprach , dachte er an Ruth , der er nicht erlaubt hatte , mitzukommen , denn im Grunde war sie es ja , von der er redete , zu der er redete .
Sie war es ja , die in ihm die Lust wiederweckt hatte , zu den Menschen zu reden , und die Menschen für ihn suchte , wie man für einen Armen Brot sucht , damit er seinen Hunger stille .
Und was er seinen Menschen gab , entnahm er ihr :
denn das Höchste , was er von ihr erhoffte , das Schönste , was er sich in ihr träumte , legte er seinem Zukunftsbild unter , und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen Formen .
Es war , wie wenn er von den gebannten Menschenaugen eine überlebensgroße Gestalt aufrichtete , durch deren Größe die individuellen Züge unerkennbar wurden .
Zu groß , sicherlich , für das wirkliche Leben , aber von einer Fülle und Wärme der Farben , die unwillkürlich mit fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig einprägte .
So stand denn Erik da und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe , und die tiefe Bewegung , die in ihm war , verlieh einem jeden seiner Worte eine eigentümliche Wucht .
Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara , wie sie ihm vorhergesagt hatte .
Sie blickte voll Interesse auf ihn .
Ihr schien , als sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet , was sie mit ihrem seinen Instinkt schon immer dunkel und undeutlich geahnt hatte , wenn sie mit Erik zusammen gewesen war : daß er Gewalt über Menschenseelen besaß , und daß er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte .
Es war also das , was sie zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß , - das , was sie koketter erscheinen ließ , als sie war .
Ihr fiel die Szene in seiner Stadtwohnung ein .
Ja , ein Heilige war Erik wohl sicher nicht .
Aber selbst da hatte sie mit Schrecken empfunden , wie suchend und sehnend und ungeduldig er auf das Innerste ging .
Auf das , worin sie ihn enttäuscht hätte .
Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu .
Als sie damals von seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr , hatte sich ihr fortwährend ein ganz abscheuliches Bild aufgedrängt .
Sie konnte es nicht los werden .
Immer sah sie ein Weib vor sich , das falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des Mannes , den ihre Gestalt fesselt , hüten muß .
Hatte nicht ihre Koketterie ganz ähnliche Gründe ?
Sie fürchtete die geistige und seelische Entblößung Und die Arbeit an sich selbst .
Es war wirklich ein ganz abscheuliches Bild .
Und zur größten Neugier ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag .
Nach seinem Schluß trat Warwara im Treppenhause beiseite , um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten , dort bemerkte Erik sie und kam auf sie zu .
Seine Augen leuchteten .
Warwara war blaß .
" Nun ? " fragte er lächelnd und ganz in seinem alten , leichten Ton ihr gegenüber , " fand der , Toast ' Gnade vor Ihren Augen ?
Vielleicht war es wirklich einer . "
" Wenn es einer war , so könnt ' ich wohl auf die eifersüchtig - nein , aber neidisch sein , deren Wohl Sie da ausgebracht haben , " versetzte sie , ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton , aber ihr Gesicht blieb ernst ; " unserWohl ist es nicht .
Ich begreife jetzt , daß Sie anderswohin gehören wollen , als zu uns Gesellschaftsgelichter . "
" Aber Warwara Michailowno ! " sagte er von ihrem Ausdruck frappiert , " warum nehmen Sie sich nicht aus ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Aus Selbsterkenntnis .
Ich habe Sie heute verloren , " entgegnete sie und gab ihm die Hand , " also adieu , - nicht nur für heute .
Ich verzichte auf Sie .
Ich entlasse Sie . -
Aber nun hören Sie : es ist doch der Schulrock , und nicht der Gesellschaftsrock , der Ihnen am besten steht . "
Erik sah ihr nach , wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg .
Aber als sie seinen Augen entschwunden war , vergaß er auch schon wieder , was ihm durch den Scherz hindurch heute an ihrem Wesen so aufgefallen war .
Und sein Blick glitt von ihr fort über die anderen hin , die ihr folgten , über jung und alt , und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen mit dem Interesse , das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen Menschengesichtern stets in ihm hervorrief .
Ja , nun begannen die Ferien und die langen nicht enden wollenden Sonnentage .
Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern in die Schule .
Einen anderen Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn - einen breiteren .
Er wollte auch keinen in diesem Augenblick .
Sein Ehrgeiz schwieg still .
Zu Kindern reden lernen wollte er , und die Großen zu Kindern machen , bis auch sie empfänglich würden , gleich denen , die da noch wachsen .
Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude .
Er war ungeduldig , heimzukommen : er sah eine Bank im Garten , hinten am kleinen Gehölz , unter den überhängenden Birkenzweigen , und Ruth saß darauf und lauschte , während er ihr von allem erzählte , was " er sich ausgedacht " .
Zusammen wollten sie sich es ja ausdenken , hatte er ihr versprochen .
Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen , aus denen seine unbefriedigte Tatkraft ruhelos und vergeblich in die Weite gestrebt hatte .
Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit und Aufgabe , - daheim fiel jetzt Innen und Außen , Ruhen und Wirken , Träumen und Schaffen in eins zusammen .
In Ruth war etwas , das machte sein ganzes Wesen produktiv , erregte und vertiefte alle seine Kräfte , so daß leise von ihnen abglitt , was dem äußeren Ehrgeiz Angehörte .
Als Erik die Gartenpforte öffnete , sah er auf dem Rasen , zwischen den Bäumen , ums Gehölz herum eine wilde Jagd .
Er sah Ruth , Jonas - und noch einen .
Einen mittelgroßen , etwas untersetzten Mann mit kurzem dunklem Vollbart und mit Brille .
Der jagte sich mit Ruth und haschte vergeblich nach ihr .
Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber .
Er war Bernhard Römer .
Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran .
" Auf einen Tag und eine Nacht , wenn es recht ist ! " rief er , ein wenig außer Atem , und fuhr sich miet dem Taschentuch über das kurzgeschorene dichte braune Haar ; "- und die Ruth nehme ich gleich mit fort , - das heißt , wenn ich sie hasche .
Dann soll ich sie kriegen , haben wir ausgemacht , " fügte er hinzu , während sie sich die Hände schüttelten , " das ist ja ein reizendes Ding .
Sieht aber noch aus wie ein Kind .
Vierzehnjährig . "
" Sie ist zart , " sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf .
" Zart ?
Muskulatur wie eine stählerne Feder .
- Es ist ungerecht , daß du sie hast .
Wir brauchen ein Hauskind .
Ihr habt ja den Jungen . "
" Bist du schon so schnell zurückgereist ?
Und deine Frau ? fragte Erik , ihn unterbrechend , und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel , die auf der Trerrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte .
" Ich mußte zurück .
Und meine Frau ?
Ja , die wollte noch nicht zurück .
Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig .
Sei froh , daß dir Bel nicht fortlaufen kann . -
Meine Frau , die reist also herum und besichtigt Suppenanstalten . "
" Suppenanstalten ? "
" Ja , ja .
Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana .
Für so etwas interessiert sie sich nun einmal .
Von Rechts wegen sollte ich meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer Bauer werden , der das Feld pflügt .
Aber ein so edler Mann und Ehemann bin ich nun doch nicht . "
" Ich finde : sehr , " bemerkte Klare-Bel , " da Sie Ihrer Frau alles das erlauben . "
" Erlauben ? "
Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr .
" Meine liebe gnädige Frau , ich will_es Ihnen nur gestehen :
ich habe gar nichts zu erlauben .
Wissen Sie warum ?
Ich bewundre nämlich ein wenig meine unartige Frau .
Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie Suppenanstalten eingerichtet .
Natürlich nur sehr im kleinen , - sagen wir lieber : im winzigen .
- Aber nun will ich dir was sagen , mein lieber Erik :
wir haben einst so im größten , im allergrößten , herrliche Pläne gemacht zur Vervollkommnung des Lebens und der Menschen , - aber meine Frau , die führt sie im winzigkleinen aus .
Nur sie .
Das ist die Art , wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat , nachdem ich wohlbestallter und - wohlbeengter Professor geworden bin .
Daß sie nur so wenig kann , hält sie von nichts zurück .
Das eben ist Frauenhand und Frauenarbeit - mutig .
Wir sind Stümper dagegen . "
" Deine Frau ist sehr außergewöhnlich , " bemerkte Erik , " ich bin froh , sie kennen gelernt zu haben .
Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu sehr im Hause ?
Wie lange bleibt sie noch fort ? "
" Bis zu den Ferien .
Den deutschen Universitätsferien .
Entbehren ?
Ja , - doch in der Arbeitszeit , da Behelf ich mich schon mit der Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee .
Denke mir halte dabei : es ist Arbeitszeit , Wochentag .
Aber in den Ferien - meinen Ferien , - da muß ich Sonntag haben .
Da muß ich - muß ich meine Frau um mich haben . "
Klare-Bel sah ihn erfreut an .
Sie freute sich über seine herzlichen Worte , Freute sich , ihn wiederzusehen .
Kaum konnte sie es glauben , daß er es selbst sei , der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf , - sanfter als Erik , stiller , ein schwärmerischer Utopist mit einem kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel .
Und während Erik ins Haus ging , vertieften sie sich von neuem in die alten Erinnerungen , wie sie es schon am Morgen miteinander getan hatten .
Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden beide mit uneingestandener Wehmut , daß die Jugend Vergangenheit sei .
Erik störte sie nicht .
Er stand in seinem Zimmer .
In erregter Stimmung .
Ruth mit Römer , - nicht mit ihm :
er konnte den Gedanken nicht verscheuchen .
Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen .
Ein seltenes Heim , - das seltenste : eine vollglückliche Ehe .
Neben dem Mann die gleichaltrige Frau , in der , wie ein Stückchen seiner Jugend , das nicht sterben wollte , die Frische weiterlebte , die ihn vor dem Vertrocknen in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte .
Daher seine ewigfrische Liebe zu ihr , daher für alles , was sie plante , das offene Herz und die offene Hand .
Dort würde Ruth haben , war ihr nottat : in körperlicher , geistiger , praktischer Beziehung .
Und indem sie ihnverlor , eine mütterliche Freundin gewinnen , der er sie blind anvertrauen konnte .
Irgend etwas raunte Erik zu :
" Gib sie hin .
Dort wäre die selbstlosere Liebe .
Schütze sie vor dir selbst . "
Seine Augen verfinsterten sich , und um seinen Mund erschien eine harte Linie .
Nun ja , er gestand sich es ein : daß er Ruth selbstlos dienen wollte , das war nur , um sie zu behalten .
Er hatte außer ihr nichts zu verlieren , was ihn ganz erfüllte .
Er kämpfte um das Schönste und um das Letzte , - das fühlte er .
Und um das Höchste : um sich selbst .
Man sagt oft : erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes führe manchen zur wahren menschlichen Größe , Lehre ihn erst , wahrhaftig tatkräftig den anderen zu dienen , auf andere zu wirken .
Gewiß gab es solche milde Menschen in der Welt .
Aber galt es von ihm ?
Konnte er je zu ihnen gehören ?
Laut schrie es in ihm :
Nein !
Nein !
Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen .
Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an .
Glück brauchte er , um Mensch zu bleiben .
Viel Glück , um gut zu bleiben .
Er mußte es zu sich zwingen in irgend einer Form - und um jeden Preis .
Um jeden ?
Gab es nichts , was ihn veranlassen könnte , einst selbst die Axt an die Wurzel zu legen ?
Bels Glück ?
Nein !
Aber Ruths Glück .
Er versuchte , gewaltsam den Gedanken fortzustoßen .
Er setzte sich an den Schreibtisch und versuchte , ein paar Aufzeichnungen auszuführen , die er sich unterwegs für seine Winterpläne gemacht hatte .
Er versuchte , sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen , die er an der Treppe im Vorbeigehen studiert , und worin er den Ausdruck der Freude und der Anregung gelesen hatte .
Aber die Gedanken verschwammen , und die Gesichter verblaßten .
Er sah nur noch ein Chaos fremder , gleichgültiger Physiognomien , - ohne Ausdruck , ohne Freude , ohne Blick .
Unschöne , woran sein Auge vorüberglitt , - hübsche , worauf es teilnahmslos haften blieb .
Kapitel Kurz und glühend , wie immer , war der russische Hochsommer vorübergeflogen , und früh , mitten im August , nistete sich leise der Herbst im Garten ein und erlosch mit seinen langen dunklen Abenden die Sonne .
Der Rasen sah fahl und versengt aus , und längs den Kieswegen sammelten sich die ersten dürren Blätter .
Grade da , wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes lag , konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten goldgelben Fleck hineinschauen , der täglich ein wenig zunahm .
Und von Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter , drehte sich in der Luft ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder .
Gleich daneben standen ein Tisch , roh aus ungeschälten Baumästen gezimmert , und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk von Weidenzweigen .
Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und arbeiteten .
Klare-Bel konnte nicht begreifen , wie sie das nur so ununterbrochen aushielten ; manchmal schienen ihr es allerdings nur Unterhaltungen und Gespräche zu sein , die sie führten , aber sie wußte , wie ernst sie es damit nahmen und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb , um seinen Unterricht vorzubereiten .
Gern lag sie so und lauschte darauf , nicht auf die Worte , aber auf die Stimmen .
Denn darüber täuschte sie sich nicht : nur in solchen Stunden klang Eriks Stimme noch gerade so froh wie früher .
Und da war es wirklich gut , daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer in ihrer Nähe saß , wo sie ihn hören konnte .
Oft dachte sie dann mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten Tag im Juni zurück , den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in der Stadt verbracht hatte .
Seit dem darauffolgenden Morgen war er verändert .
Und mit diesem Tage mußt es zusammenhängen .
Aber den wahren Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit , namentlich seitdem sie den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen hatte .
Denn seitdem begriff sie ganz gut , daß Erik vielleicht noch im stillen den alten Erinnerungen nachgehn mochte .
Kehrten doch sogar ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück , wohin es keine Rückkehr gibt .
Die Jugend ersteht nicht wieder auf .
Wenn es doch eine Freude gäbe , - dachte sie ganz heimlich bei sich , - eine große , gewaltige Freude , die sie einmal über Eriks Leben bringen könnte , so daß er darüber alles vergäße !
Aber sie besaß nichts , - sie hatte immer nur so dagelegen mit leeren Händen und Opfer gekostet .
Vor einigen Tagen hatte Erik ganz unerwartet den Professor herausgebracht , den er manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog .
Sie war auf ihr Bett gelegt worden , und dann hatte Erik die vor Angst und Schmerz Zitternde ganz fest in seinen Armen gehalten , bis qualvolle Minuten überstanden waren .
Er selbst war ganz blaß .
Aber der Professor wollte wiederkommen .
" Muß es sein , Erik ? " fragte sie zagend .
" Es muß sein .
Eine Änderung ist da , " antwortete er ausweichend .
Änderung ! vielleicht Genesung !
Ja , nur eine große , gewaltige Freude konnte es noch geben : wenn sie selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat auf eigenen Füßen , - da mußte er wohl wieder froh werden .
Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen Zweige , von denen sich langsam die Blätter lösten .
Und ihre Gedanken verträumten sich .
Als die Strahlen der Nachmittagsonne schräger sielen und die Schatten der Bäume anfingen , sich zu dehnen und zu strecken , verstummten die beiden am Tisch , und Ruth stand auf .
Bei diesem Unterricht erschien es Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich , daß immer Ruth seinen Schluß angab .
Erik wollte es so : nur sie selbst konnte genau wissen , wann ihre volle Frische und Empfänglichkeit nachließ .
Er seinerseits konnte nur seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen , was er ihr gab , - und das tat er .
Er sammelte alle Kräfte des Willens und Geistes und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt :
er hielt Ruth wie ein Fürstenkind , das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt .
Er blickte sie an , wie sie , sonngebräunt und mit vornübergewehtem Haar , neben ihm stand , in einer richtigen russischen Bauernbluse von grobem ungebleichtem Leinen , mit roter Stickerei auf den Achselstücken und Oberärmeln , - fast wie ein Kind aus dem Volk .
Aber sein Fürstenkind war sie doch .
Er hatte ein Heft herangezogen , ohne die Absicht , es durchzusehen ; nur mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin .
Doch Ruth blieb neben ihm stehen , und nun beugte sie sich über ihn , um hineinzublicken .
Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser .
Und plötzlich herrschte er sie wegen eines geringfügigen Versehens , das er gefunden hatte , so heftig an , daß Klare-Bel erschrocken aufsah .
Ruth zog Schultern und Augebrauen hoch und schüttelte entrüstet den Kopf .
" Es ist nicht zu glauben .
Wie kann man nur so kopflos sein , - nicht wahr ?
Geradezu verdummt muß man schon dazu sein ! " setzte sie mit unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort .
Erik war verblüfft und mußte über sie lachen .
Aber es berührte ihn wunderlich .
Noch vor ein paar Monaten hätte etwas Derartiges sie scheu gemacht , - sie verscheucht .
Jetzt weinte sie nicht mehr drüber , daß er sie ein dummes Kind nannte .
Sie lachte .
Lachte sich aus .
- Ihre Augen sahen ihn so spottend an .
Wen verspottete sie eigentlich ?
Sich selbst , - daran war kein Zweifel .
Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand , den sie nur noch von Erik aus beurteilte ; sie empfand , dachte und handelte nur noch wie aus seinem Wesen heraus .
Was war diese Selbstentrückung , dieses Übermaß von Selbstvergessen im Grunde ? war das Liebe ? war es das , worauf er , nur halbbewußt und wider seinen Willen , - wartete ?
Klare-Bel hatte mitgelacht .
" Es wird dir noch sonderbar vorkommen , " sagte sie , " wenn du im Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst .
Wenn du mit ihnen alles teilen mußt .
Wirst du dann nicht eifersüchtig sein , wenn eins von den Mädchen mehr kann als du ? "
" Warum ? " fragte Ruth , und der Schalk ging durch ihre Augen , " dann wollen wir die eine lieber haben als mich .
Wir haben Raum für viele da .
Je mehr es sind , desto besser . "
Erik blickte auf .
Am Ende würde wirklich eine Dritte im Bunde mit Begeisterung empfangen ?
Aber wenn sie so spitzbübisch aussah , konnte niemand wissen , was sie bei sich dachte .
Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu , um sie vor Sonnenuntergang hineinzutragen .
Jonas kam ihnen entgegen ; den ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen umhergetrieben , aber immer paßte er den Augenblick richtig ab , wo er Ruth in Beschlag nehmen konnte .
Als Erik wieder aus dem Hause trat , sah er Ruth mit Jonas unter den Birken auf und ab gehen .
Sie hielten sich lose umschlungen und stießen einander gegen den grasbewachsenen Wegrand , wo der Frühherbst das welke Laub angehäuft hatte .
Es machte ihnen offenbar lebhaftes Vergnügen , mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln .
Jonas hatte Ruths Hand gefaßt , die auf seiner Schulter lag , und von Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr sich mit ihrer Hand liebkosend über seine Wange .
" Jonas ! " rief Erik den Knaben laut an .
Der schrak auf bei dem Ton .
" Was soll ich ? " fragte er und kam betreten näher .
" An deine Ferienarbeiten sollst du ! " sagte Erik und schämte sich vor sich selbst .
Ruth folgte Jonas ins Haus .
Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach .
Da war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach .
Da war es wieder , - dies Kindliche , Kindische , dies Unausgewachsene und sonderbar Unreife , worüber er in Ruths Wesen nicht hinwegkam .
Es nahm nicht ab , es nahm zu , - es steckte ganz tief irgendwo , im Kerne ihrer Natur .
Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt , wie junges Laub in warmem Mairegen .
Aber es war , als ob sich nun erst auch alle kindlichen Elemente mit entwickelten und zu immer vollerer Auslebung drängten , - und daneben andere , beinahe männliche , die er in ihr bis dahin nur geahnte hatte .
So schnell gewöhnte sie sich daran , ihre Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische Richtung auf das Erkennen zu geben , als hätte sie nie in der Phantastik der Träume gelebt .
Offenbar hatte das Unentwirrbare , Unklare und Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst zusammengehangen und fiel mit ihnen von ihr ab .
Erik ging langsam ins Haus zurück , wo Jonas im Wohnzimmer mit resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien ; aber im stillen grübelte er darüber nach , wie er Ruth dem Vater am besten abspenstig machen könnte , um sie mehr für sich zu haben .
Morgen war ein Sonntag , da konnte man viel unternehmen ; in diesen Ferienmonaten wurde schon früh gegessen , und so bekam man einen reichlich langen Nachmittag und Abend heraus .
Aber Jonas fand es ungerecht , daß auf sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel und sich der Vater gerade die Wochentage genommen hatte .
Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer .
Sie mußte in ihre kleine Giebelstube hinaufgegangen sein .
Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte , ob sich oben nichts rege .
Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen Holztreppe .
Wie ein Dieb erschien er sich selbst , als er da in der Halbdämmerung auf dem untersten Treppenabsatz zögerte .
Nur langsam nahm er die ersten Stufen , dann rasch die nächsten .
Wie lange , lange war er nicht mit Ruth allein gewesen , - ganz allein . - -
Oben kopfte er kurz und laut an .
Ruth antwortete mit heller Stimme .
Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank , worin sich ihre Sachen befanden , und kramte darin .
Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht viel mehr als am ersten Tage .
Aber das Fensterbrett war mit Blumen gefüllt , mit gewöhnlichen Sommerblumen , wie sie die Straßenhändler auf einem Kopfbrett vorübertrugen , und darunter standen am Boden Töpfe mit Ablegern aus dem Garten .
Und die Tapetenwand war mit Bleistiftzeichnungen bedeckt , die als Rahmen einen breiten Tintenrand erhalten hatten .
Sie rührten alle von Jonas' Hand her und stellten alle irgend einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar .
Erik sah auf den Tisch nieder , wo Nähzeug und Papiere unordentlich durcheinander lagen .
Es fiel Ruth nicht ein , zu fragen , weshalb er heraufgekommen sei , aber in der leichten Verlegenheit , die er selbst empfand , suchte er nach einem Wort und zog eins der Papiere unter dem Nähzeug hervor .
" Schreibst du hier Verse ? " fragte er überrascht .
Sie wurde dunkelrot .
" Nicht mehr so oft , " antwortete sie fast bestürzt , " und ich will ja auch gar nicht !
Aber manchmal , wenn - - manchmal muß ich es noch tun . "
" So Verborgenes tun .
Verborgen vor mir .
Und ich habe geglaubt , daß kein Gedanke unausgesprochen , den ich nicht kenne , durch deinen Kopf geht . "
Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten .
" Nicht verborgen , " sagte sie leise , " es sind nur eben keine Gedanken .
Und aussprechen kann man sie auch nicht .
Und die kommen nun und drängen sich , und dann muß man Verse schreiben . "
Erik lachte .
" O weh , die armen Verse ! " bemerkte er .
" Also solch einen stillen Winkel hast du dir noch in deinem Kopf reserviert , während es aussieht , als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest .
Die ist wohl nur in den Staatsstuben , auf der Oberfläche .
Dahinter liegt aber eine wunderschöne unergründliche Rumpelkammer .
Was sollen wir mit der machen ? "
Sie sah ihn ganz ernsthaft an .
" Was Sie wollen , " versetzte sie treuherzig .
" Würdest du denn fraglos tun , was ich will ?
Auch im geheimsten , was du für dich treibst ?
Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer ?
Immer ? "
" Immer . "
Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände .
" Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte ?
Und wenn es zufällig gerade dein liebster Winkel wäre ? und wenn es nun , irgendwann einmal , vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre , sondern dein glückliches geistiges Zuhause ? würdest du auch dann noch ebenso antworten :
, Was Sie wollen ' ? "
" Ja ! " sagte sie einfach .
Erik machte eine Gebärde , wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte , dann aber ließ er sie frei , trat zurück und ans Fenster , neben dem ein kleiner Bücherbord an der Seitenwand hing .
Ein paar Minuten vergingen .
Ruth sah ihm zu , wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte , die in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr zu erkennen waren .
Aber Erik wußte ungefähr , was sich hier alles auf das sonderbarste einträchtig zusammengefunden hatte .
Eine lateinische Grammatik aus Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht , eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Übersetzung und ein zerrißener Band alter russischer Volkserzählungen , Überwegs " System der Logik " und die französische Übersetzung des Don Quichote mit den Illustrationen von Dore , und so fort .
" Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben ? " fragte Ruth plötzlich vom Fenster her .
" Weil ich es nie gekonnt habe .
Bücher zu schreiben verstehe ich nicht , Ruth .
Und mir schien wohl auch immer : Bücher sind tot , nur das gesprochene Wort lebt .
Und ich fürchte , du wirst es auch nie können , nie verstehen , mein armes Mädel . "
" Ich ?
Ich will auch nicht .
Ich möchte was anderes . "
" Was möchtest du denn ? "
" Ein Märchen erzählen .
Ein einziges .
Eins , worin alles drin ist .
Aber nicht mit Worten . "
" Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen , malen oder meißeln müssen , wenn du es mitteilen willst . "
" Es muß noch auf bessere Weise gehen , " meinte Ruth .
" Nicht , wenn es für alle sein soll .
Sonst kann man es auch wohl einem lieben Menschen an den Augen ablesen . "
" Das ist schon besser , " sagte sie an lehnte ihren Kopf gegen das Fensterkreuz zurück .
Kurze Zeit schwiegen beide .
Die Dämmerung sank tiefer .
Auf den Steinfliesen der Terrasse unter ihnen blinkte es hell auf , im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet .
Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse .
Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter Ruths Rücken im Zickzack hin und her .
Erik stand mit einem Male im Halbdunkel dicht neben ihr .
Er hob die Hände und strich leise über ihr Haar hin , so daß sie sich in den weichen lockigen Wellen verloren , und dann blieben sie auf ihren Schultern liegen , und er beugte sich tief über Ruth .
" Sage mir das nicht mehr , - was du vorhin sagtest : daß du immer und fraglos tun würdest , was ich will , " bemerkte er mit gesenkter Stimme , " du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen .
- Ich könnte ja auch ein Unrecht von dir wollen .
- Hast du daran nicht gedacht ? "
Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf .
Er umfaßte sie fester .
" Und wenn es doch so wäre ? " fragte er fast heftig , " was würdest du tun ? "
Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an .
Sie schien sich den Fall ernsthaft zu überlegen .
" Unrecht tun ! " sagte sie dann laut .
Erik fuhr zusammen .
Er murmelte etwas , was sie nicht verstand .
Sie aber lachte über das ganze Gesicht .
" Für mich ist immer das das Rechte , was Sie wollen , - niemals ein Unrechtes .
Besser weiß ich es nicht .
Ich brach es aber auch nicht besser zu wissen . "
" Mein armes Kind , " sagte er leise .
Sie richtete sich in seinem Arm hoch .
Ein lauschender Ausdrck kam in ihr Gesicht .
" Wer ? ich ?
Warum sagen Sie das ? " fragte sie mit veränderter Stimme und machte sich langsam frei .
" Was ist das ?
Warum sagen Sie mir das alles ?
Ich bin kein armes Kind .
Ich bin ja Ihr Kind ! "
Und als er nicht gleich antwortete , faßte sie ihn plötzlich an beiden Armen und schüttelte sie mit leidenschaftlicher Kraft .
" Bin ich_es den nicht ? " fragte sie wild .
" Warum soll ich nicht mehr tun , was Sie wollen ?
Bin ich denn nicht Ihr Kind ?
Nicht mehr ?!
Dann wäre es besser , tot zu sein . "
" Ruth ! " rief er erschüttert .
Sie suchte sich zu fassen .
Ihre Hände sanken von seinen Armen und schlangen sich ineinander .
Dann hob sie den Kopf .
" Ich will alles tun , - alles !
Recht oder Unrecht , Gutes udn Böses , - alles !
Ich will Gehorsam sein bis in den Tod .
Stellen Sie mich auf die Probe .
Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen , - Ihr Kind sein dürfen , - zu Ihnen sagen dürfen :
ich will tun , was Sie wollen .
Immer !
Immer !
Das muß ich - muß ich dürfen . - -
Darf ich ? "
Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände .
Eine Gebärde unsäglicher Demut .
Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus , und ihre Stimme klang wie Metall .
Und nur zuletzt ein ganz weicher , kindlicher Ton : "- Darf ich ? "
Erik wurde zumute , als schaue er plötzlich , erst in diesen vorüberblitzenden Sekunden , mit weitem Blick hinein in die verhüllte Tiefe , aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte .
Zum ersten Male hinein in das Geheimnis ihres Wesens , - hinein in die stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler , vieler Jahre , aus der mit rückhaltloser Gewalt die lange gehemmte , lang aufgestaute Inbrunst hervorgebrochen war , als er in ihr Leben trat .
Ihn lieben dürfen , das hieß : endlich - endlich Kind sein dürfen , gehorchen , sich hingeben , sich weggeben , - auf den Knien noch .
Es hieß sammeln und ausstürzen dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes , das noch keine Kindheit gehabt hat .
Und das doch gerade dessen - nur dessen bedurfte .
Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an .
" Bin ich noch immer arm , - ein armes Kind ? " schienen sie ihn unverwandt zu fragen .
" Du bist nicht arm , - mein Kind bist du , - und darfst gehorchen , - mir folgen , - du sollst es immer dürfen , " sagte er heiser .
Und er öffnete die Tür nach der Treppe , über der das Lampenlicht hell aus dem Flurraum heraufschien .
- An jenem Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Tee in sein Arbeitszimmer zurück .
Klare-Bel merkte recht wohl , daß er wieder die halbe Nacht aufblieb .
Obgleich doch am anderen Tag der Unterricht ausfiel .
Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch , ob Briefe in die Stadt mitzunehmen seien .
" Willst du zur Stadt fahren ? gerade heute ? am Sonntag ? " fragte seine Frau unruhig .
" Ja , Ich muß selbst zwei Briefe , die dringend sind , besorgen und einen notwendigen Besuch machen , " versetzte er .
Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen .
Der eine an Römer nach Heidelberg , der andere an dessen Frau nach Moskau .
Beide doppelt frankiert .
Sie wagte nicht , ihn zu fragen , was er denn an Frau Römer so viel zu schreiben habe ?
Er machte ein so ablehnendes , verschloßenes Gesicht .
Aber als er fortgegangen war , sann Klare-Bell den ganzen Vormittag traurig und besorgt diesem Gesicht nach .
Dies Wortkarge , Verschloßene kannte sie als ein schlimmes Zeichen .
Erik war offen und mitteilsam , wenn er froh war ; wenn er schwieg , so litt er .
Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm geteilt .
Dem Glücklichen , Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht ein wenig gedrückt , ein wenig überflüssig .
Dagegen erschienen ihr immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge zu Eriks Innerem , die wohl auch sie hätte finden müssen , - um ihm nahe zu kommen , um ihm notwendig zu werden .
Aber gerade , wenn er litt , wurde er am unzugänglichsten , - wurde er stets abweisend bis zur Schroffheit .
Nur in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr .
So war es also wohl nichts für sie : weder mit der Freude , die sie ihm so gern bringen wollte , - noch auch mit dem Kummer , den sie mit ihm getragen hätte .
Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten .
Ganz gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor , die soeben von Wiesbaden zurückgekehrt war , um nach kurzem Aufenthalt zu den Ihrigen nach Livland zu reisen , wohin sie ihr Mann begleiten sollte .
" Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim , " sagte der Onkel zu Erik , den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst nach längerem zwanglosem Gespräch zu zwei in das Empfangszimmer zu seiner Frau geführt hatte .
" Aber alles , was Sie mir da erzählt haben , eilt ja auch nicht von heute auf morgen , denke ich mir .
Wenn Sie Ihre Absicht ausführen , Ruth ins Ausland zu senden , so ließe sich dabei der Zeitpunkt unserer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen , nicht wahr ? "
" Nein ! " entgegnet Erik , " das , was ich von Ihnen erbitten wollte , war eben dies : mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen .
Und für Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten , den ich im Auge habe .
Auch wenn das ihre Abreise unberechenbar beschlennigen sollte .
Ich weiß , daß ich Ihnen damit viel zumute .
Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben , dann lassen Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden , so unbedingt wie damals , als ich sie Ihnen fortnahm . "
" Ich weiß keinen Menschen auf der weiten Welt , zu dem ich mehr Vertrauen fassen könnte als zu Ihnen , " versetzte Ruths Onkel , dem bei Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand , " und was Ruth anbetrifft , so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt , als ob selbst so nahe Verwandte wie wir Ihnen ein Recht auf die Kleine abtreten müßten .
Wenn Sie also so fest glauben , daß es gut an ihr gehandelt ist , dann handeln Sie so !
Ich meinerseits will , - wenn ich sie nicht wiedersehe , - ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen und unsere kleine Studentin in Heidelberg besuchen . "
" Aber ich bitte dich ! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim ärgsten Namen ! " fiel die Tante ein , der die Nachgiebigkeit ihres Mannes unverantwortlich vorkam .
" Ruth soll doch nicht wirklich studieren ?
Ich meine mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren , wie es hier geschieht ?
Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein undenkbar . "
" Einstweilen soll sie lernen , " antwortete Erik etwas ablehnend , " das weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen . "
Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an .
Wie konnte man so etwas der " Zeit " überlassen .
Hätte er noch gesagt " der Vorsehung " .
Wenn er für das Frauenstudium eintrat , dann war er auch ganz gewiß ein Atheist .
Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen .
" Ich sehe mit Verwunderung , daß mein Mann sehr forglos darüber denkt , " bemerkte sie , als Erik schon aufstand , um sich zu verabschieden , " aber um so mehr muß ich ein Wort hinzufügen .
Du sprichst so ruhig von Rechtabtreten , Louis !
Aber ein Recht kannst du doch nie und nimmer abtreten .
Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit .
Das mag ja eine altmodische Ansicht sein .
Aber ich möchte doch wissen , wie Herr Matthieux darüber denkt . "
Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten Augen .
Zum ersten Male gefiel sie ihm .
Eben die Kampflust gefiel ihm .
Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte , war sie doch ein besserer Wächter als er .
" Wenn ich Sie recht verstehe , " sagte er , " so fürchten Sie , daß ich mit meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber übernehmen würde .
Wenn es etwas gibt , was Sie von dieser Furcht befreien kann , so nennen Sie es mir . "
Der Onkel sah fast verlegen aus , aber sie beachtete es nicht .
Ich antworte Ihnen als gläubige Frau , " entgegnete sie , die stolz war auf baltische Überzeugungstreue , " mir bedeutet moralische Verantwortlichkeit : schuld sein wollen an einem Menschen , - schuld an dem , was an seinem inneren Menschen geschieht .
Nicht zulassen , daß er Schaden daran nimmt .
Wie sollte man das ohne Gott , ohne religiösen Glauben auf sich nehmen können ?
Wenn Sie nun Ruth fortgeben , - können Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen ? "
Über Eriks Züge ging ein Ausdruck , den sie nicht zu deuten wußte , der sie aber wider ihren Willen ergriff .
" Nun verstehen wir uns , " sagte er mit unterdrückter Bewegung , " denn eben das soll mein Recht sein :
ich will schuld sein an diesem Kinde ! "
Sie fand , es klang arroganter als je .
Es war nichts , was ihre religiösen Bedenken beruhigen konnte .
Aber ihr war dennoch , als habe er " Gott " gesagt .
Erik ging nach dem Bahnhof zu .
Fast kein Mensch außer ihm in den leeren Straßen ; auch die letzten , die den Sommer in der heißen , ungesunden Sumpfluft der Stadt zubringen mußten , entrannen ihr am Sonntag .
Nur hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Tür einer Kellerschenkte , oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über das schadhafte Holzpflaster , das stellenweise noch weit aufgerissen dalag und darauf wartete , daß seine alljährlichen Löcher in schöner Mosaikarbeit zugestopft würden .
Verlorene Glockenklänge , die letzten von einer der zahllosen Kirchen , zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin , wie Grabgeläute über einer Totenstadt .
Erik ging langsam , müden Schrittes heimwärts .
" Nicht zulassen , daß sie Schaden nimmt , " wiederholte er die eben gehörten Worte .
Ja , genau das wollte er doch .
Noch war die Umpflanzung in einen neuen Boden möglich , wenn er seinen kleinen Baum behutsam mit allen feinsten Würzelchen dort eingrub .
Nur so konnte er jetzt seine Gärtnerdienste an ihm tun , damit das Bäumchen nicht Schaden nehme an seiner Entwicklung , die noch in hart und fest geschloßenen Knospen vor sich ging , - undurchsichtig von allen Seiten .
Denn manchmal , da wachte etwas Gewalttätiges in ihm auf , - im pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben , der sich am Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte , um zu sehen , ob eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft .
Aber er fiel sich selbst in die gewalttätige Hand , er selbst riß sich Ruth aus der Hand .
Verdirbt denn ein Vater sein Kind , ein Mann kein Weib , ein Künstler sein Werk ?
Und ihm schien , seine Liebe zu Ruth sei alles dieses .
Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet ; als er kam , wurde es einsilbig eingenommen .
Klare-Bels Hoffnung , Erik werde erzählen , bei wem er den Besuch gemacht hatte , erfüllte sich nicht .
Er wußte wohl , daß er nun davon sprechen mußte .
Mit ihr und mit Ruth .
Es war ihm das Schwerste .
Das dachte er , als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers stand und wartend in den Hinteregarten hinausblickte , wo sich Ruth mit Jonas erging :
" Nur nicht sprechen , - nur nicht grübeln , - handeln !
Sie auf den Arm nehmen und forttragen .
Handeln !
Wer es wortlos dürfte ! "
Und nun ging Jonas ins Haus .
Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter .
Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz , dem Steinrand des Springbrunnens .
Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast im Grase .
Als sie ihn kommen sah , warf sie ihren Zweig fort und lief ihm entgegen .
Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch , zum verspäteten Essen , und nun schlich sich ihre Hand in die seine .
Ohne recht zu bemerken , was er tat , steckte er sie mitsamt der seinen in die Seitentasche seiner Joppe .
Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf , aber als sie den ernsten , beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah , verstummte sie ebenso plötzlich .
Sie gingen einige Schritte auf das kleine Gehölz zu .
" Heute war ich bei deinen Verwandten , Ruth , " sagte Erik , " sie waren beide da .
Ich wollte sie einmal etwas danach ausfragen , was wir in den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben .
Weißt du nicht ?
Ich meine danach , ob du nicht einmal im Auslande tüchtig weiterlernen solltest . "
Sie sah ihn erwartungsvoll an .
Dies da interessierte sie sehr , und ein wenig beunruhigte sie es auch .
Denn es handelte sich doch eigentlich erst um ein ganz allgemein gehaltenes , unbestimmtes Zukunftsbild , - nicht um etwas , was schon erwogen und besprochen werden mußte .
" Nun ? und was meinten sie dazu ? " fragte Ruth gespannt , als er schwieg .
"- Sie haben nichts dagegen einzuwenden , Ruth .
Nichts Ernstliches .
Da ist es denn Bernhard Römer gewesen , an den wir dafür gedacht haben .
Dort wüsste ich dich im richtigen Hause geborgen .
Es wäre fast so , als wenn ich selbst bei dir bleiben könnte . "
Ihre Hand , die er noch umfaßt hielt , erkaltete in der seinen .
" Ja , - aber - daß ist ja noch so lange hin ! " meinte Ruth ganz langsam , und dann immer schneller , in wachsender Unruhe :
" Es ist doch noch lange hin ?
Sehr lange ?
Ich soll doch nicht - bald fortgehen ?
Von hier - - fortgehen . "
Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu , die unter den Birkenbäumen standen .
" Komme zu mir , " sagte er sanft , " setze dich zu mir her , mein Liebling , und laß uns ruhig darüber sprechen .
Ganz ruhig , - hörst du ? "
Sie folgte ihm schweigend , aber ihre Augen hingen unverwandt mit tausend aufgestörten bangen Fragen an seinem ernsten Gesicht .
" Sieh , Kind , " fuhr Erik fort , " wenn wir hier während unserer gemeinsamen Arbeit an deine Zukunft dachten , dann schwebte sie dir wie ein erwünschtes , lockendes Bild vor .
Ich wollte , daß du dich später weiter entwickeltest , und du wolltest es auch .
Ich dachte oft bei mir , wenn ich dir zusah : manches von dem , was ich einst selbst erstrebt habe , könntest du , in anderer Form , später einmal verwirklichen .
Aber was so , als Zukunftsmöglichkeit , in der Ferne stand , wird doch näherrücken müssen , bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist .
Und ich wünsche , daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst , mein Kind . "
"- -
Wie nahe - - ist es denn ? " fragte Ruth mißtrauisch , aber kaum war es ihr entschlüpft , als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre beiden Hände flach gegen die Ohren preßte .
" Nicht ! " murmelte sie undeutlich , " ich will_es nicht wissen ! bitte , nicht ! bitte , bitte , nicht weitersprechen . "
Einen Augenblick schloß er die Augen .
Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang diese zu sich nieder .
" Es hilft nichts , mein Kind , " sagte er fest , " es hilft nichts , sich vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen .
Grade hiervon werden wir weitersprechen .
Denn je mehr du noch davor zurückscheust , desto dringender , desto eher muß es geschehen . "
Ruth war sehr blaß geworden .
Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf .
Vor etwas , was sie noch nicht fassen , nicht deutlich begreifen konnte , was aber vor ihr empordämmerte - unerwartet , unversehens , aus dem Nichts , - schattenhaft , gleich einem Riesengespenst .
" Ich kann nicht ! " stieß sie hervor .
" Es kann ja so nicht sein !
Ich will nicht , daß es so ist .
Ich kann nicht ! "
Er beugte sich über sie und suchte ihren Blick .
" Wirklich nicht ? " fragte er ruhig ; " auch nicht , wenn du weißt :
ich will es ?
Auch nicht , wenn ich es selbst bin , der dich bei der Hand nimmt , dich vor etwas hinstellt , was dir schwer fällt , damit du lernst , es herankommen zu sehen , ohne davor fortzulaufen ? "
Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter .
" Ich fürchte mich , " sagte sie , wie ein Kind im Dunklen , "- irgend etwas Schreckliches ist da , - seit gestern ist es da - und kommt heran , immer näher , - ganz dicht heran , - ganz nahe .
Wie ein Ungeheuer , das sich um mich ringelt .
- Ist es etwas Schreckliches - - ? "
" Nicht das , was du gestern fürchtetest , " sagte er leise , "- nur das , was du gestern selbst wolltest , selbst fordertest .
Weißt du nicht , was du mir versprochen hast ?
Gehorchen wolltest du - unbedingt .
Ich sollte dich auf die Probe stellen .
Wenn ich_es nun tue , Ruth , - ziehst du dein Versprechen zurück ? "
" Nein ! " entgegnete sie rasch und richtete sich auf .
Dagegen gab es keine Auflehnung .
Nur Gehorsam .
" Worin besteht die Probe ? " fragte sie entschlossen , " was soll ich tun ? "
Er antwortete nicht gleich .
Er hatte die Brauen zusammengezogen , und seine Zähne gruben sich in die Lippe , als litte er körperlichen Schmerz .
Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend beieinander .
Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ihnen ein rundliches gelbes Birkenblatt nach dem anderen in den Schoß .
Mühsam schien die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten , und aus den Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner satter Ton die Stille um sie .
Da antwortete Erik mit einer Stimmer , die fast rauh klang :
" Du sollst dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen , wie du dich einmal in einer kleinen erwiesen hast .
Du sollst tun , was du schon einmal getan hast , als dir das lange Herankommen , - Näherkommen von etwas Gefürchtetem bevorstand .
Es war damals , als uns Jonas die Schlange ins Haus brachte .
Sie flößte dir solchen Schrecken ein .
Weißt du nicht mehr , was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand ? "
" Nein ! " sagte sie stutzend und blickte auf , " was war das für ein Mittel ? "
" Du sagtest : , Dann lieber gleich ! ' " Ruth sprang jäh van der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen ihn hin , als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte .
Dann , ohne einen Laut der Erwiderung , brach sie vor ihm in die Knie , in das welke Augustlaub , das zu seinen Füßen lag .
" Ruth ! " murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie , " mein Kind ! mein Liebling ! hörst du mich nicht ? "
Aber sie hörte nicht mehr .
Ihr Kopf fiel zurück .
Sie hatte das Bewußtsein verloren .
Inzwischen war Jonas in den Garten gelaufen , der vom Fenster aus beobachtet hatte , daß der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz hineingegangen war .
Wie versteinert blieb er stehen , als er jetzt Erik zwischen den Bäumen hervortreten sah und Ruth mit geschloßenen Augen regungslos in seinen Armen .
Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt , die linke hing schlaff herunter .
" Gehe voraus ! " gebot Erik dem Knaben , " ohne Lärm .
Halt mir die Türen offen .
Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen . "
Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken ; er rannte voraus , nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzusehen , und ins Haus hinein .
Dort lief er , ohne die Mutter oder Gone zu alarmieren , die Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf .
Als Erik mit Ruth in den Armen oben ankam , stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Tür , durch die man das schmale weiße Bett mit der zurückgeschlagenen Decke sehen konnte .
Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht , er wäre so gern mit hineingegangen , um bei Ruth zu bleiben .
Aber Erik ging schweigend an ihm vorbei und zog die Tür hinter sich zu .
Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein : wie der Vater , Ruth an der Brust , so stumm an ihm vorüberschritt , während er zurückbleiben mußte .
Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches , einen starren wortlosen Ernst , - so , wie wenn Ruth schon so gut wie tot wäre .
Jonas überlief es kalt .
Er klammerte sich an den Türgriff und lauschte mit zurückgehaltenem Atem .
Anfangs unterschied er nichts .
Dann hörte er Eriks Stimme , halblaut , kurz , sehr bestimmt im Ton .
Sie wiederholte sich .
Darauf eine Pause , - und plötzlich ein Klagelaut drinnen , ein einziger Laut , aber so scmerzlich , daß den Knaben Entsetzen faßte .
Was tat man mit Ruth , mit seiner lieben Ruth ?
Was tat ihr der Vater an ?
Etwas Furchtbares mußte es sein .
Etwas Furchtbares mußte heute im kleinen Gehölz vor sich gegangen sein .
Und er durfte die Tür nicht aufstoßen , er wagte es nicht .
Aber eine rasche wilde Empfindung , wie plötzlicher Haß , loderte unverstanden in ihm auf : daß er ein Knabe war , und er Vater ein Mann !
Daß er nicht eindringen durfte mit gleichem Recht , - mit Gewalt !
Aber ebenso rasch erlosch sie wieder .
Ruth konnte nichts geschehen , wenn sie bei seinem Vater war .
Jonas schlich sich hinunter , in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben der Wohnstube .
Er konnte nicht allein sein .
Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kannte eines Stuhles und brach in Tränen aus .
" Ruth ist halbtot , Mama ! " sagte er außer sich , " ach Mama , sie stirbt !
Die Augen hat sie schon zugemacht .
Und Papa , - ich weiß nicht , was Papa tut , aber ganz bestimmt tut er ihr weh .
Sie darf aber nicht sterben !
Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch die Blätter im Garten . "
Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er selbst , und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf , ob nicht Erik bald herunterkäme .
Aber es dauerte noch geraume Zeit , bis er kam .
" Um Gottes Willen , was ist denn mit Ruth geschehen ? " rief sie ihm in großer Unruhe entgegen .
" Sei nur ruhig , es war eine Ohnmacht , " versetzte Erik und gab Jonas einen Wink , hinauszugehn .
Dann trat er an seine Frau heran und sagte : " Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen , auf die sie nicht genügend vorbereitet war .
Jetzt mußt auch du es erfahren :
Ruth geht schon in diesen Tagen fort .
Nach Heidelberg , zu Römer ins Haus . "
Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen Staunens an .
" Ist das dein Ernst ?
Du gibst Ruth aus der Hand ?
Aber was willst du denn ohne Ruth machen ?
Kannst du sie denn entbehren ? "
" Das muß ich doch können , Bel. "
Im beginnenden Zwielicht vermochte sie seine Züge nicht genau zu erforschen .
Aber sie kamen ihr vor wie aus Stein gehauen .
Und diesen Ausdruck kannte sie .
" Erik ! " sagte sie ängstlich , " tu mir nichts so gewaltsam .
Du siehst ja , daß es sie krank macht . -
Warum siehst du so hart aus , Erik ? "
" Hart ? "
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn ; " für mein Aussehen kann ich nicht .
Aber ängstige dich über nichts .
Ruth wird morgen gesund sein und auch gefaßt .
Für ihre Haltung stehe ich ein .
Aber sei gut und freundlich zu ihr .
Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen . "
" Verreisen ?
Du reist fort , Erik ?
Wohin ? "
" Nach Moskau . "
" Zu Frau Römer ? " fragte sie lebhaft .
" Ja .
Ihr soll sich Ruth anschließen .
Und sie wird sich hier wahrscheinlich nicht mehr aufhalten .
Ich muß daher alles mit ihr verabreden und besprechen .
Mündlich . "
Klare-Bel schwieg .
Es wurde dämmerig im Zimmer , und draußen im Flurraum hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen .
Da , ganz leise , fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt .
" Erik ! " flüsterte sie , "- laß mich dich bitten : laß sie noch ein Weilchen bei uns . - - - Auch ich werde sie ja vermissen , Erik ! "
" Du - - - Bel ? "
" Ja .
Denn sie hat dich so glücklich gemacht . "
Er zog ihre Hand an sich und an den Mund und küßte sie voll Scham und Ehrfurcht .
" Ich danke dir für diese Bitte .
Ich danke dir , Bel .
Aber es kann nicht sein . "
Er zog sich zurück , um Ruths Onkel die definitive Entscheidung mitzuteilen .
Dann packte er eine Handtasche , und eine Stunde später war er fort .
Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau .
In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik .
Sie hatte bestimmt geglaubt , Ruth würde bis zum Spätherbst bei ihnen im Haus und dann , auch im Hause ihres Onkels , nach wie vor in engster Verbindung mit ihnen bleiben .
Wie oft hatten sie darüber gescherzt , ob sie nicht später zusammen mit Jonas auf die Universität gehen solle ?
Erik hatte kein Wort davon gesagt , daß seine Absichten wohl von Anfang an andere waren .
Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus .
Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein , Kritik an dieser Handlungsweise zu üben .
Da er es so wollte , mußt es wohl gut sein .
Gut für Ruth .
Er liebte sie so sehr , er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben .
Auch dabei , daß es so unerwartet über sie kam .
Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hätte sie liebkost und getröstet .
Sie nahm sich vor , es den nächsten Tag zu tun .
Zum ersten Male fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für Ruth , - nicht nur das indirekte Interesse , das durch Erik hindurchging und alles auf ihn bezog . -
Der Morgen war herbstlich und grau , die Terrasse noch feucht von den kalten Nebeln der Nacht .
Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer einnehmen .
Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein ; sie war blaß und ernst , aber gesund , wie es Erik gesagt hatte , und ganz gefaßt und still .
Als sie , noch vor Jonas , hereinkam , streckte ihr Klare-Bel die Arme entgegen : " Komme zu mir , " sagte sie liebevoll , " sei nicht traurig , denke nicht an die Abreise .
Noch bist du hier ! "
Ruth sah auf , ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht verändert hätte , und schüttelte den Kopf .
" Ich bin schon fort ! " entgegnete sie .
Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr .
Ihr schien , es liege etwas Schmerzlicheres darin als in Klagen und Tränen , - etwas , was schon die bloße Ankündigung der Trennung mit ganzer Wucht als Trennung empfinde und nicht mehr davon los könne .
Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen .
Und jetzt kam ihr Erik doch hart vor .
Wie konnte er nur wollen , daß Ruth so von Haus zu Haus , von Hand zu Hand ginge .
Unwillkürlich suchte sie nach Worten , die wahrhaft trösten könnten .
Gab es keine solchen ?
In ihrer Ratlosigkeit griff sie nach dem Höchsten , was sie gekannt hatte .
" Wir wissen alle nicht , wo wir bleiben , und was mit uns geschieht , " sagte sie zögernd , " wir wissen es nie .
Es steht in Gottes Hand .
Aber wir sind auch nie allein , wo wir auch hingehen .
Gott ist allgegenwärtig . "
Ruth lächelte flüchtig .
" Ja , " versetzte sie traurig , " was kann es helfen , daß Gott allgegenwärtig ist , wenn es die Menschen doch nicht sind ? die Menschen , von denen wir fortgehen . "
Klare-Bel schwieg peinlich berührt .
Sie gab es auf , Ruth trösten zu wollen .
Wenn diese so etwas sagte , klang es kindisch und vermessen zugleich .
Wer mochte darauf antworten ?
Über Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort ; obgleich er ihr nicht davon gesprochen hatte , wunderte sie sich doch nicht drüber , ihn nicht zu sehen .
Es mußte wohl so sein : war doch alles in Auflösung begriffen .
Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung .
Niemand teilte es ihm mit .
Er hörte nur , daß Ruth wieder gesund sei , aber das glaubte er nicht .
Wie konnte sie gesund sein , wenn sie doch so ganz verwandelt war seit gestern .
Und nicht nur Ruth , alles schien ihm wie verwandelt .
Gern hätte er sie gebeten , ihm zu sagen , was gestern geschehen sei , aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem fremdem Blick an ihm vorbei , daß er es nicht herausbrachte .
So begnügte er sich damit , so oft er nur konnte , neben ihr zu sitzen , den Arm um ihre Stuhllehne gelegt , und dann von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu streicheln .
Manchmal bückte er sich auch und küßte ihre Hand , ohne daß es Ruth beachtete .
Daß Erik nicht zu Hause war , verstärkte in Jonas noch die Empfindung , daß er über Ruth zu wachen habe , wie ein getreuer Wächter .
Am liebsten hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt und aus Todesgefahr errettet , - wenn er nur gewußt hätte , wovor und vor wem .
Spät am Abend , als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war , patronillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf und ab , und es tat ihm leid , daß so absolut nichts passieren wollte .
Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett , aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder .
Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf einem hellen Lichtfleck abgezeichnet : bei ihr mußte jetzt , gegen Morgengrauen , noch Licht brennen .
War sie krank ? unglücklich ?
Er hielt es im Bett nicht aus .
Im Nun war er in seinen Kleidern und stieg geräuschlos aus dem Fenster .
Vor der Terrasse stand die alte Ulme ; sie bildete einen bequemen Sattel , dort , wo sie sich in zwei mächtige Äste gabelte .
Wie eine Katze kletterte Jonas an dem bemoosten , von dem starken Niederschlag während der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf .
Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein , der aus der Giebelstube fiel .
Ruth saß auf dem Bett .
Vollständig angekleidet , so wie sie hinaufgegangen war , saß sie noch da ; die Arme vor sich hingestreckt , die Hände auf den Knien gefaltet , kehrte sie Jonas fast voll ihr Gesicht zu .
Den Kopf ein wenig erhoben , schaute sie weit hinweg über die dunklen Wipfel des Gartens .
Sie blickte so geheimnisvoll , wie in eine unendliche , verklärte Ferne .
Und um die festgeschloßenen Lippen lag ein stiller Ausdruck , - lag Ergebung .
Jonas starrte mit weitgeöffneten Augen auf sie hin .
Er war so im Bann des einen Bildes , daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm , was das flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete .
Er sah nicht , daß der Tisch selbst abgeräumt war , die Stühle zusammengeschoben , - nicht , daß auf ihnen ein offener , halbgefüllter Koffer stand und daß die Wände ohne den Schmuck seiner Bleistiftskizzen kahl und leer auf Ruth niederblickten .
Er sah sie nur , seine lustige Ruth , wie in dem Bilde einer betenden Heiligen , und alles , was in dem Erlebnis des vorigen Tages seine schwerfällige Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte , gewann erneute Gewalt über ihn .
Ruth selbst wurde etwas Geheimnisvollem und Leidendem für ihn , aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen , das seine Schwärmerei wachrief .
In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut vom Tage vorher , er sah sie auf dem Bett daliegen , den Vater über sie gebeugt , - und sein Herz schlug beklommen .
Er vermochte nicht die Augen vom Fenster abzuwenden .
Die Nacht war kalt , vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf .
Schmal und blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel , und aus dem Gehölz klang ein verschlafenes Rabenkrächzen .
Jonas fror , er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und drückte sich dichter gegen die breiten Äste , deren Feuchtigkeit ihn allmählich durchdrang .
Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffel klatschend auf die Terrasse nieder .
Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich , ob er hinuntersteigen solle , den verlorenen Schuh zu holen .
Da bewegte sich Ruth .
Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit geweckt .
Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern .
Ein Arm hob sich heraus und , unter dem von keinem Schnürleib bedeckten Hemde , die zarte Wölbung der Brust .
Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still .
Dann hob sie die entblößten Arme hoch über sich , stürzte vor ihrem Bett auf die Knie und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin , den Oberkörper langgestreckt , in den Kissen vergraben .
So blieb sie regungslos liegen .
Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an .
Er hatte den Schuh , er hatte die Kälte vergessen .
Vor seinen Augen flimmerte es .
Weit vorgebeugt , die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige , um nicht zu fallen , starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett .
Über ihm glomm langsam der Morgen herauf .
- Als Gone am frühen Morgen beim Fegen der Terrasse den Pantoffel auflas , war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt , halb bewußtlos vor Kälte und Erregung .
Er gab sich den nächsten Tag große Mühe , ein starkes Unwohlsein zu verbergen , konnte aber vor Heiserkeit kaum sprechen , und seine Augen glänzten im Fieber .
Auf Klare-Bel besorgtes Drängen und Fragen bekannte er , die Nacht im Garten gesessen zu haben .
Nach dem Essen warf er angekleidet auf sein Bett .
Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück .
Klare-Bel erwartete ihn erst mit Einbruch der Nacht .
Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug benutzt .
Ruth stand in seinem Arbeitszimmer , bemüht , ihre Papiere und Hefte unter den seinen herauszusuchen , um sie einzupacken .
Was war nun seines , - was ihres ?
Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften von seiner Hand , - der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den Winter , seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben , niedergeschrieben von ihrer Hand .
Da vernahm sie im Flur unerwartet einen raschen , festen Schritt .
Die Tür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf , und Ruth an seine Brust .
Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht .
Von der einen Gewißheit hypnotisiert , daß sie fort mußte , nahm sie alles passiv hin .
Um so mächtiger wirkte jedoch jetzt der plötzliche Anblick Eriks auf sie .
In diesem einen Augenblick vergaß sie alles , - in diesem einen Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer , der bevorstand , - leugnete ihn , vernichtete ihn , - in diesem Augenblick wurde alles - alles gut .
Sie vermochte nichts zu denken , als daß er da sei .
Und daß sie bei ihm war .
Fest , - fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken , fest barg sich an seiner Schulter ihr Gesicht .
So stehen bleiben , - für immer so stehen bleiben , festgewurzelt für immer an dieser Stelle , hineingeschmiegt in die weiten , weichen Falten des geöffneten Reisemantels , - nichts fühlen , nichts vernehmen , als den starken dumpfen Herzschlag , der ihr entgegenpochte , - für das ganze Leben nichts - nichts mehr .
Sie wechselten kein Wort .
Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten ; stumm hielt er Ruth an der Brust , schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr Haar .
Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern , um ihre Hüften und umschlossen sie mit so gewalttätigem Griff , daß es wie Schmerz und Ersticken über sie kam , - als müsse er sie nun zerbrechen .
Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust , - sterben , - nicht fortgehen , - dachte sie , und es überflutete sie mit einem jauchzenden Glücksgefühl , wie sie es nie gekannt hatte .
Erik sah sie lächeln .
Er verlor die Besinnung .
" Wahnsinn ! " schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf , " Wahnsinn ! Wahnsinn , sich zu lassen , wenn man sich liebt . "
Eine Sekunde lang , - dann ließ er sie so jäh los , daß sie zurücktaumelte - Und : " Erik ! " rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer , " Erik , bist du wieder da ? "
Er hängte den Mantel an den Ständer , dann öffnete er die Tür zur Wohnstube , wo sie lag .
" Denke nur , Erik , Jonas ist inzwischen krank geworden , - so schwer erkältet , - hoffentlich ist es nicht so schlimm .
Er hat - - , aber was ist dir ? "
Er stand da wie ein Betäubter , das Blut in den Augen .
" Nichts .
Ein Schwindel , " murmelte er , setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf auf die Handflächen .
" Das ist diese übertriebene Eile ! " klagte sie besorgt , "- daß es mit solcher Windeseile vor sich gehen soll .
Wann ist es denn nun , daß sie reist , Erik ? "
" Morgen , - um Mittag , " sagte er leise .
" Mein Gott , so schnell ist es aber doch rein unmöglich !
Denke doch nur , was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt .
Ruth braucht doch gewiß noch manches , was für sie beschafft werden muß . "
" Es kann alles in Heidelberg beschafft werden . "
" Nun ja , Erik .
Aber wenn du wüßtest , wie tief es ihr geht .
Wie blaß und elend sie ausgesehen hat , gestern und heute .
Sie ist doch nur zart . "
" Höre auf ! " sagte er zwischen den Zähnen .
" Ach , Erik , ich widersprechen dir ja nicht !
Das tu ich ja niemals !
Sie tut mir nur so leid .
So allein ist sie , und so liebebedürftig .
Und nun : von Haus zu Haus , von Hand zu Hand .
Und wenn sie nun erkrankt - "
" Höre auf ! " unterbrach er sie außer sich und sprang auf , und warf den Stuhl zurück , daß er zu Boden schmetterte , " höre auf , Bel !
Es ist genug !
Ich will es so ! "
Damit verließ es das Zimmer .
Mit erschrocken Augen sah sie ihm nach .
Erik war fast immer sanft gegen sie , obschon - oder vielleicht weil - ihr Wille gegen den seinen nie recht in Betracht kam .
In einem so heftigen Ausbruch hatte sie ihn lange nicht mehr gesehen , - wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr .
Kranke sind gute Lehrmeister !
Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe .
Da war ihm der rasche Zorn noch nicht verraucht , da wurde er leicht heftig , wenn seine Frau nicht ganz dem entsprach , was er erwartet , was er mit ihr gewollt hatte .
Seltsam : damals erschreckte sie es nicht , - nein , mehr noch , so wunderlich es auch sein mochte :
sie liebte diesen Zorn .
So deutlich fühlte sie , daß Eriks Liebe damit verknüpft war .
Gegen einen ihm gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden .
Mit dem Interesse an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen , ihn zu formen , zu gestalten , nach seinem Willen umzuprägen .
Liebe und Härte fielen zusammen .
Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen , da befanden sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen : die eine , im roten Sarafan , auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel dreinschlug , lachte über das ganze Gesicht ; die zweite , im blauen Sarafan , saß daneben am Weg auf einem Stein , sah neidisch zu und weinte sich die Augen aus , indes ihr Liebster mit einer anderen spazieren ging .
Das war gewiß eine dumme Geschichte .
Aber diese beiden Bauersfrauen konnte Klare- Bel gut verstehen .
Niemals sollte sie sein Zorn schrecken : nur , daß er mit seinem Zorn seiner Liebe vergäße .
- Der Tag schlich langsam zu Ende .
Es war so still im Hause , als ob dort niemand anwesend sei .
Erik hatte lange bei Jonas gesessen , ihn genau angesehen , alles Notwendige veranlaßt und den heftig Widerstrebenden gezwungen , sich ganz zu Bett zu legen .
Es handelte sich um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber .
Ruth stand auf dem Flur , gegen das Treppengeländer gelehnt .
Sie wußte selbst nicht , warum sie dort stand .
Wahrscheinlich weil sich alle Türen in den Flur öffneten .
Und aus einer der Türen mußte doch endlich Erik kommen .
Und wenn er kam , mußt er doch zu ihr treten .
Sich nach ihr umwenden .
Er mußte doch einsehen , daß es unmöglich sei , so fremd aneinander vorüberzugehn , wie er es heute abend tat .
Sie wollte so wenig : nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte sie , - nur seine Hand fühlen einen Augenblick lang .
Seitdem Erik sie an sich gerissen und dann von sich gestoßen hatte , war über sie eine ratlose Verzweiflung gekommen .
Die äußere Trennung , die nahm sie ja hin , wie etwas Furchtbares , aber Unabwendbares , weil er es so forderte .
Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von sich losriß , das konnte sie nicht ertragen .
Ihn den Blick absichtlich fortwenden zu sehen - ohne ein Wort der Liebe für sie , ihn wie einen Fremden dastehen zu sehen , - das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen .
Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus .
Als er Ruth an der Treppe bemerkte , sagte er ihr gute Nacht .
Sie machte eine Bewegung auf ihn zu , ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf .
Aber er sah ihr nicht in die Augen .
Er gab ihr nur flüchtig die Hand .
Dann ging er an ihr vorüber zu Jonas hinein .
Bald darauf siegte die Übermüdung über ihn ; wider Erwarten fiel er in einen schweren Schlummer .
Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten seinen Schlaf , furchtbare Träume , die seinen Körper mit kaltem Schweiß bedeckten .
Er sah Ruth vor sich , gealtert , verwelkt , mit gefurchten Zügen und gekniffenen Lippen , mit Lippen , wie sie eine leere , liebeleere Jugend gibt ; er sah sie in einem lächerlichen Bilde , wie in einer Theaterposse als tugendsame hysterische alte Jungfer , mit der unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick .
Und da , als er in der Angst des Traumes seine Augen gewaltsam von der Fratze wandte , - fort , einem anderen Ruthbilde zu , - da wandelte es sich von ihm - zu nackter , entblößter Schönheit .
Nacht sah er Ruth - und schamlos , fremden Männern preisgegeben , - einen weißen Körper , der nicht der ihre war , ein lachendes Antlitz , das nicht das ihre war , - und doch wußte er : es sei Ruth .
Er erwachte mit einem stöhnenden Laut .
Und noch aus dem Traume heraus hörte er küssen und lachen .
Aber das leise Stöhnen wiederholte sich , als habe es ein Echo an den Wänden des Zimmers gefunden , und ein unterdrücktes Weinen schlug an Eriks Ohr .
Er richtete sich auf und lauschte .
Das Weinen kam aus Jonas' Bett , das neben der offenen Verbindungstür beider Stuben stand .
Man konnte deutlich hören , daß er es in den Kissen zu ersticken suchte .
Erik ermunterte sich völlig .
Er machte Licht und näherte sich Jonas' Bett .
Als ihn dieser kommen hörte , verkroch er sich nur noch tiefer in seine Decken .
" Hast du Schmerzen ? " hörte er den Vater fragen , " bist du kränker geworden ? "
" Ich bin nicht krank ! " murmelte Jonas , " es ist unnütz , mich mit Gewalt im Bette zu halten .
Ich weiß doch alles !
Ich weiß jetzt alles !
Es hat nichts genützt , es vor mir zu verheimlichen !
Und was ich noch nicht wußte , das habe ich gehört !
Ich habe gehorcht und habe es gehört ! "
Erik schwieg einen Augenblick betroffen .
" Du sprichst im Fieber , " sagte er dann ; " was weißt du denn , was hast du gehört ? "
" Daß sie fortgeht !
Daß sie morgen fortgeht ! "
Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen .
Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm besorgt die Hand auf die trocken brennende Stirn .
Aber Jonas stieß die Hand zurück .
" Nein , " sagte er fast keuchend , - " du willst es ja , - du bist ja - schuld , daß sie fortgeht .
Vor dir schützen muß ich Ruth , - schützen , denn was weißt du , - wie ihr zumute ist .
Du weißt nicht , hast nicht gesehen , - wie sie daliegt die Nächte - halb ausgekleidet an ihrem Bett , - wie gestern . "
Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen , so daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß , um den Schmerz zu beherrschen .
" Was hast du - gestern - gesehen ? " fragte Erik mit heiserer Stimme .
Jonas setzte sich auf .
" Sie kniete vor ihrem Bett , " sagte er traurig , " vielleicht weinte sie , - oder betete , - so geheimnisvolle Augen hatte sie , - und ich habe mit ihr gewacht - die ganze Nacht , heimlich , oben in der alten Ulme vor der Terrasse .
Erik sprach kein Wort .
Aber nach einer langen Pause hob er die Hand , und leise strich er Jonas über Stirn und Harr .
Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen .
Die sanfte , liebkosende Bewegung des Vaters , der ihn so selten liebkoste , empfand Jonas als ein wortloses Verstehn und Mitfühlen , das ihn um die letzte Fassung brachte .
Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters .
Und wie ein unaufhaltsamer Strom , fieberheiß , halb unverständlich brachen die Worte aus ihm hervor , überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln :
" Papa , lieber Papa , hilf mir !
Ich kann es nicht aushalten , daß sie fortgehen !
Ich war böse auf dich , - nimm_es nicht übel , - hilf mir ! halte sie !
Papa ! sie bleibt da , wenn du_es nur willst .
Früher war ich Mal eifersüchtig auf Ruth , ich glaubte , daß du sie mehr liebtest als mich .
Aber es schadet nichts , wie sehr du sie auch liebst , Papa !
Denn ich liebe sie ja auch viel mehr als dich !
Mehr als dich !
Mehr als alles auf der Welt ! "
Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest .
" Nimm dich zusammen ! " sagte er halblaut , aber mit der eindringlichen Stimme , der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war , " du darfst hier nicht liegen und dich so haltlos gehen lassen .
Selbst nicht im Fieber .
Nimm dich zusammen . "
Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen .
Er atmete mühsam .
Erik hatte sich auf die Kannte des Bettes gesetzt , ohne seine Hände loszulassen .
" Lege dich nieder .
Ganz ruhig .
Unterdrücke die Unruhe .
Komme , mein Junge ! strammer !
Und nun höre mich :
ich will dir helfen , wenn du mir folgst , aber anders , als du denkst .
Von Ruth mußt du dich jetzt trennen .
Wir alle Müssens .
Denn morgen schon reist sie fort , und bis dahin wirst du nicht aufstehen dürfen . "
Jonas fuhr empor .
" Papa !
das muß ich !
ich springe aus dem Bett !
Ihr haltet mich nicht !
Ich muß Ruth küssen , - ich muß sie küssen , - wenn sie geht ! "
" Mit einem kranken , entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht küssen wollen , hoffe ich , " unterbrach ihn Erik in einem Ton , der jede Widerrede abschnitt , " und du wirst es nicht nur unterlassen , sondern auch alles tun , was ich von dir verlange . Dich vollkommen beherrschen , wenn sie von dir Abschied nimmt .
Mit keinem Wort , keiner Heftigkeit , keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren .
Alle Aufregung mit festem Willen niederzwingen .
Das alles wirst du tun .
Ich muß mich unbedingt auf dich verlassen können , wenn ich sie zu dir hereinführen soll .
- Kann ich es ? "
" Ja ! " stieß Jonas hervor , während ihm die Lippen noch zitterten .
Er konnte nicht an gegen diesen Willen , der den seinen in Bann hielt .
" Gut .
Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen ersten großen Schmerz , " sagte Erik mit so weicher Stimme , daß es Jonas war , als spräche er mit den Lauten der Mutter zu ihm .
" Wenn Ruth von dir gegangen ist , blicke nicht zurück auf sie , sondern vorwärts in dein Leben ; Sorge dafür , daß du dich tüchtig entwickelst , arbeite daran , daß du bald ein ganzer Mann wirst , - damit du ihr einst ein ganzer Freund sein kannst , wenn sie deiner bedarf .
So kommst du in allem , was du tust , zu ihr zurück , - ihr nahe .
Dulde es nicht , daß sie dich so ganz überflügelt und dich einst weit - weit hinter sich zurückläßt !
Jetzt kannst du zeigen , was du wert bist , - und ob du es wert warst , Ruth gehabt zu haben . "
Jonas lag ganz still und lauschte .
" Ja ! " sagte er begeistert , " das will ich ! ach Papa , das will ich ! "
Und er hob den Kopf und küßte den Vater .
Erik hielt seinen Kopf einen Augenblick lang an sich .
" Wir werden nie mehr hiervon miteinander sprechen , " sagte er leise , - " nie mehr .
Aber vergiß es nicht .
Zwinge deine Gedanken auf die Arbeit , auf da , was vor dir liegt .
Suche dich mit mehr Festigkeit zu beherrschen .
Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen .
Streng mit dir sein , meine Junge .
Mache es mir nicht zu schwer . "
" Papa , " versetzte Jonas so zutraulich , wie er sonst nur mit Klare-Bel zu sprechen verstand , " ich will mich nie wieder vor dir fürchten .
Sei so streng du willst gegen mich .
Du hilfst mir ja damit , nicht wahr ?
Tüchtig zu werden .
So fest und tüchtig wie kein anderer .
Ausstechen muß ich jeden anderen !
Hilf mir schnell , ein ganzer Mann zu werden !
- Ein Mann für - für - ich meine : ein Freund für Ruth . "
Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert ; Erik mußte ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen .
Nun schwieg er und lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft .
Erik war außerstande , sich wieder schlafen zu legen ; er kleidete sich vollständig an .
Er fühlte sich frei , wie erfrischt von einem langen , gesunden Schlaf , wie gekühlt und gestählt durch ein erquickendes Bad .
Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend , die noch auf seinen Träumen gelastet hatte , war verflogen .
In der Einwirkung auf einen anderen , dessen Unruhe er bezwang , dessen innerste , widerstrebende Gedanken er bestimmte , - in dem kurzen Kapmf mit dem Knaben , der sich gegen ihn auflehnte und zugleich ihm vertraute , hatte er sich selbst zurückgefunden .
Seine Kraft geweckt und gesammelt .
Er wußte recht wohl , wie es damit stand :
wenn er sich am schwächsten fühlte , dann erstarkte er an der Kunst , andere in überlegener Behandlung zur Stärke zu veranlassen ; an der gehobenen und mutigen Stimmung , die er von ihnen forderte und in ihnen hervorrief , - an seinen eigenen überzeugten , überredenden Worten , kletterte er selbst zu neuem Mute , zu neuer Zuversicht empor , wie auf einer langen Leiter , die sich mitten aus seiner eigenen Verzagtheit erhob , aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien , - bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen .
Viele tausend solcher Leitern , festgehalten von den Händen einer Menschenmenge , die ihn umdrängte , an ihn glaubte , auf ihn angewiesen war , - und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen .
Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen !
denn Stützen waren es , - wie sehr auch er selbst dabei als der Stützende erschien .
Niemand ist absolut stark .
Erik wußte recht wohl , wo seine Gefahr lag , wo auch in ihm der Schwächling steckte : da , wo er sich allein überlassen blieb .
Draußen herrschte noch dunkle Nacht .
Es schlug drei Uhr .
Ihn litt es nicht im engen , warmen Zimmer .
Er öffnete leise die Haustür und trat hinaus .
Die Finsternis war so dicht , daß er nur langsam der Tiefe des Gartens zugehn konnte .
Er empfand den aufsteigenden Nebel , ohne ihn zu sehen .
Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des kleinen Gehölzes .
Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein verlorener Stern .
Das letzte Mondviertel , der schmale blasse Vorläufer der Morgenröte , war noch nicht sichtbar .
Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen .
Er vernahm absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter .
Aber er fühlte , daß er nicht allein sei .
" Ruth ! " murmelte er unwillkürlich .
" Ja ! was soll ich ? " fragte sie schüchtern .
Mit einem Schritt stand er neben der Bank , er tastete nach ihr .
" Was du sollst ?!
Im Bett sein ! "
Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um .
" Was tust du hier mitten in der Nacht ?
Weißt du nicht , daß sich Jonas in dieser gefährlichen kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat ? "
" Ja , ich weiß es .
Aber mir schadet das nichts , " versetzte sie zaghaft , " das Fieber tut so gut , ich kenne es gut : da liegt man im Traum und hört auf zu denken .
Und da dachte ich , ich könnt es auch so gut haben . "
Jetzt fühlte sie seine Hand , die sich fest um ihr Handgelenk legte .
" Was sagst du da ? " fragte er ganz langsam , " du suchtest das Fieber ? "
" Nein , nein ! " rief sie flehentlich , " ich wollt es ja nur ein wenig , - ein ganz klein wenig nur , - nicht so , daß es die Abreise hindern sollte !
Ganz gewiß nicht ! "
Ein Laut brach von seinen Lippen , wie wenn er verwundet würde .
Sie konnte hören , daß seine Zähne leise übereinanderknirschten .
Er beugte sich über sie .
" Und das - das glaubtest du zu dürfen , " sagte er matt .
" Ja , ich durfte es , denn ich will ja tun , was ich versprochen habe .
Bin nicht ungehorsam .
Nur so ganz allein bin ich .
Niemand , der mir ein bißchen hilft .
Da sollte mir das Fieber helfen .
Ich darf tun , was ich will , - wenn es nichts aufschiebt , " versetzte sie finster .
" So .
Und wenn du nur rechtzeitig fortkommst , dann meinst du , - könntest du tun , was du willst ?
Auch dich vielleicht irgendwo hinsetzen und krank werden , wenn dir das , hilft ' ?
Du irrst dich , mein Kind .
Ich lasse dich nicht los , indem ich dich fortlasse .
Und aus der Ferne sollst du mir doppelt gehorchen .
Dein Versprechen geht auf dein ganzes Leben .
Du bist mein . -
Bist du_es ? "
" Ja ! " rief sie inbrünstig .
" Stehe auf und gehe hinauf . "
" Ich kann_es nicht so , - ich muß erst wissen , - wann reise ich ? "
" Ich werde dir_es morgen sagen .
Heute Nacht nicht .
Du sollst dich hinlegen und zu schlafen versuchen An nichts denken als daran , daß du schlafen sollst .
Wirst du das ? "
Sie war schon aufgestanden .
" Ja ! " murmelte sie , " morgen !
Ich muß morgen fragen , was ich will . "
" Das sollst du . "
Er gab ihr die Hand .
" Gehe voraus .
Gehe nur .
Ich folge schon .
Warte nicht im Hause auf mich . "
" Gute Nacht ! " sagte sie Gehorsam und ging .
" Mein Liebling ! gute Nacht ! " rief er ihr nach .
Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen , wonach sie den ganzen Tag , die ganze Nacht gehungert hatte .
" Verzeih mir !
Liebling , " sagte er reuig vor sich hin , während er ihr langsam folgte .
Allein gelassen hatte er sie , allein stehen lassen in dem Augenblick , wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer bedurfte .
Weil er sich selbst nicht traute , nicht vertraute - aus Furcht vor seinen Sinnen - und vor diesem unwissenden Kindersinn , der ihm mit einem Lächeln entgegenkam .
Das war feige gewesen .
Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in letzter Stunde seine Hand zurückziehen , nach der sie sehnsüchtig und gläubig griff , als nach der Hand des einzigen Menschen , den für sie die Erde trug .
Nicht überlegen , nicht geizen , nicht einschränken das , was er ihr gab , und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte , - mit einer Zärtlichkeit , wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame , das nie geliebkoste Kind kennt .
Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie umhüllen , sie umgeben , weich und schützend wie Mutterliebe , - aus einer so reichen , so Kraftsichern Fülle heraus , daß er sich aller Bedenken entschlagen konnte , - daß er sein Liebstes nur noch wie auf starken Armen hob und trug , - es einem schlummernden Kinde gleich in einem letzten Traum hinübertrug in die fremde , die kältere Welt .
- Der Hausflur war schwach erhellt durch das Licht , das an der offenen Tür zu Eriks Zimmer stand .
Ruth hängte seine Joppe über den Türgriff , und ohne sich nach Erik umzusehen , stieg sie hinauf .
Er löschte das im Luftzuge flackernde , tropfende Licht und warf sich ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer , froh des Dunkels und der Einsamkeit .
Seit der Stunde seiner Rückkehr gestern verlangte ihn unbewußt nach dieser Stille und Einsamkeit .
In dem Augenblick , wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau hineintrat , in dem Augenblick , wo Ruth an seiner Brust lag und ihn Bels Stimme rief , war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen .
Sie rief : " Erik , bist du Weider da ? " -
Aber ihn durchgällte es wie :
" Erik , gehst du fort von mir ? "
Und als er sie wiedersah , sie daliegen sah in dem Zimmer , das er so gut kannte , genau so wie zwei Tage vorher , da kam es ihm vor , als läge eine lange , lange - jahrelange Reise dazwischen , während der er seine Frau nicht gesehen , nicht mit sich genommen , - ja vergessen hatte .
Es war fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen .
Und die Erregung , in der alle seine Nerven noch zitterten , ließ keine Selbstbesinnung zu .
Aber jetzt - jetzt stellte er sich wieder dahin , auf dieselbe Stelle , Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme , und jetzt antwortete er ihr :
" Es ist eine lange , lange Reise gewesen .
Ich habe dich nicht wiedergesehen all diese Zeit hindurch , - dahin nicht mehr gesehen , wo du bist : dich vergessen .
Nicht zufällig , nicht unabsichtlich , nicht im Rausch des Augenblicks .
Nein , bewußt und gewollt .
Mit allen Sinnen und Gedanken wollt ich nur einen Punkt vor Augen haben , ihn durchschauen , durchdringen , - in eine verhüllte Zukunft schauen und dringen .
Unbeirrt von allem , was hindert und bindet .
Frei , wie einer , der alles hinter sich geworfen hat und dasteht wie ein Bettler oder ein König , wollt ich meine Hände aufheben zu meinem Glück .
Dann - einst - ist es an der Zeit , zurückzukehren zu den Fragen und Forderungen , den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens , aber nur um sich mit ihnen auseinanderzusetzen .
Zu dir zurückzukehren , aber nur zum Kampf .
Zum Kampf um mein Glück . "
Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt :
" Kampf - - - Glück . "
Er öffnete , wie erwachend , die Augen .
Es war hell um ihn .
Die Nacht vorbei .
Glutrot stand der Himmel , wie in Flammen .
Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf .
Purpurn , strahlenlos wie ein ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel .
Und purpurner Glanz auf den Fenstern , auf dem Fußboden .
Noch war im Hause niemand zu hören .
Nur die Schwarzdrosseln schwatzten vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber , ob ihnen Gone wohl bald , beim Zubereiten des ersten Frühstücks , ein paar Krumen zuwerfen werde ?
Erik stand auf , stand still angesichts der Morgenherrlichkeit .
Er hatte Bel geliebt , - so sehr , wie , nach seiner Meinung bisher , der Mann überhaupt das Weib lieben konnte : nicht nur mit der Habgier der Sinne , nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis , das zufällig " Ehe " hieß , sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis , das kein Staat , kein Priester , das nur der eigene , bewußte Wille besiegelt .
Es war so gewesen , wie er damals , in dem scherzenden Gespräch über die Ehe , zu Warwara gesagt hatte : kein Pflichtbewußtsein nur , sondern das dauernde Glücksbewußtsein , seinem Weibe , auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe , alles in allem zu sein .
Daran hatten weder Krankenlager noch Altern , weder Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu ändern vermocht .
Wenn er ihr je untreu gewesen war in einer heißen Aufwallung des begehrlichen Blutes - oder auch in einem bitteren Rückblick auf die zerstörten , für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend , dann lehnte er sich mit Kraft und Härte gegen sich selbst auf .
Niemals hätte er es zugegeben , daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne als sein Wille , seine Bürgschaft .
Und nun , wenn er alles sammelte was er an Scham und Selbstvertrauen , an Stolz und Herzensgüte besaß , - wenn er das alles sammelte und zusammenraffte , war es nicht genug , um Bel , die Wehrlose , gegen einen Kampf mit ihm zu schützen ?
Oder wenn es denn in der Zukunft zu einem solchen Kampfe kam , gab es in seinem vergangenen Leben nichts , was stark genug , heilig genug , barmherzig genug war , um für Bel einzutreten und gegen ihn selbst zu siegen ?
Erik schaute geradeaus , hinein in das rote Flammenmeer am Himmel .
Er wollte , - er mußte ehrlich sein .
Und er sagte sich : " Nein. " - - - ---------- Auf der Terrasse wurde der Morgentlisch gedeckt .
Eriks Platz am Tisch blieb aber heute leer .
Ganz früh hatte er sich Tee auf sein Zimmer bestellt , dann war er zu Jonas hineingegangen , um nach ihm zu sehen .
Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten .
Als sie kam , streckte er die Hand nach ihr aus .
" Du schlechtes Mädel .
Bist du gesund geblieben ?
Laß mich sehen . "
Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster .
Aufmerksam betrachtete er sie .
Ihre Augen waren dunkel umschattet .
Aber sie blickten sicher , - fest .
Es fiel ihm auf .
Sie blickten beinahe kalt .
Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück .
" Weißt du auch noch , daß hier dein alter Platz ist ?
Hier am Stuhl .
Wo du zuerst herkamst .
Wir haben ihn wohl fast vergessen , draußen im Garten und - bei den anderen .
Monatelang .
Aber der heutige Morgen gehört uns allein . Uns beiden .
Und den wolltest du krank zubringen . "
Sie antwortete nicht .
Ganz leise nur beugte sie den Kopf gegen ihn vor , so daß seine Hand durch die Haarwellen hindurchglitt , und schwieg still .
" Du bist ein dummes Kind , " sagte er , " sonst hättest du gewußt :
wenn ich etwas von dir verlange , so sollst du es klar und still tun .
Niemals in einem Fieberrausch .
In keinem Sinn .
Ich weiß , es ist tausendmal schwerer .
Aber niemals sollst du dir_es erleichtern .
Durch nichts .
Nur war ich selbst diesmal nicht ohne Schuld , Ruth .
Ich selbst war wie krank , - nicht wie ich sein sollte .
Siehst du , nun beig ich dir es auch . - - - Ist es nun gut ? "
Sie blickte ihn unverwandt an .
Dann schüttelte sie den Kopf .
" Eins fehlt noch , " sagte sie .
Ihm kam ein Lächeln .
" Noch etwas ?
Was denn , mein anspruchsvoller Kindskopf ? "
" Darf ich nicht anspruchsvoll sein ? "
" Das darfst du .
Halt deine Hände offen , Liebling , und laß dich beschenken . "
Da glitt sie am Sessel nieder , auf ihren alten Platz zu seinen Knien , und hob ihr Gesicht auf zu ihm , - Trotz in den Augen .
" Ich meine kein Geschenk .
Ein Recht . "
Erik stutzte .
Er schaute forschend in ihre Augen mit dem fest auf ihn gerichteten rätselhaften Blick .
" Nimm dir dein Recht , Ruth , " sagte er einfach .
Sie flüsterte kaum hörbar :
" Daß ich erfahre , warum .
Das plötzliche Fortmüssen , - - - warum ? "
Er legte ihr die Hand über die Augen .
Eine lange Pause entstand .
" Du hattest vorhin ganz recht : eins fehlt noch , " antwortete er dann , " zwischen uns fehlt eins .
Weißt du , was es ist ?
Daß zwischen dir und mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt , - daß wir im Alter so weit voneinander entfernt sind .
Denke nur : du und noch einmal du , das gibt immer noch nicht : ich .
Auf eine so große Entfernung hin ist es bisweilen schwer , manches miteinander zu teilen , - mitzuteilen .
Aber nun sieh das Wunder : dieser Mangel , diese Lücke und Leere zwischen dir und mir , - sie eint uns gerade .
Nur sie macht , daß ich dich leiten und dir befehlen kann .
Sie macht , daß du da so vertrauensvoll knien kannst , wie eben jetzt , und mit deinen trotzigen Augen zu mir aufschauen .
Sie macht , daß ich den Weg besser kenne als du .
Denn ich habe den halben Weg schon zurückgelegt .
- Oder könntest du das missen ? möchtest du lieber , ich stünde neben dir , von gleichem Wuchs wie du ? noch suchend , irrend , eines Wegweisers bedürftig , wie du ? "
" Nein ! " sagte sie lebhaft , " das wäre wie zwei Kinder im Walde . "
" Dann nimm es hin , daß ich dir nicht antworte . "
Sie erwiderte nichts , aber er fühlte , daß ihr Herz wild zu schlagen begann .
Sie gab nicht passiv nach , wie bis gestern noch .
- Sie war gestern irre geworden . -
Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft , - sich eingeredet haben , ihm gegenüber noch Kraft zu besetzten : Selbständigkeit .
Im arglosen Schlummer erschüttert , mochten ihre Gefühle in Gärung gekommen sein , - mochte eine Welt von unverstandenen Empfindungen in ihr ringen .
Die feine , ruhige , gerade Linie , in der sie sich vor Eriks Augen so kindlich weiterentwickelt hatte , wurde ihm undeutlich , wurde unruhig , - sie schien sich zu biegen , - eine Wendung zu machen : eine Wendung zu ihm hin - oder von ihm fort .
Über Erik kam eine Spannung , die alle seine seelischen Fähigkeiten aufs äußerste schärfte , sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte und jede sinnliche Erregung vollkommen niederhielt .
Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück .
Ihre Lippen zitterten .
" Sieh mir in die Augen , du Trotzkopf ! " sagte er , " was hat sich da in dir geregt ?
Brich den letzten Trotz , - denn es war einer .
Laß mich ihn brechen .
Es schadet nichts , wenn es einen Augenblick schmerzt .
Gib nach , laß es geschehen .
Wirf dein Recht von dir , mache dich rechtlos .
Um Kinderrecht zu haben : um folgen zu dürfen , ohne zu fragen .
Um zu gehen , ohne ein Warum . "
" Wann - gehen ? " fragte sie undeutlich .
Er drückte ihren Kopf an sich .
" Heute , " sagte er mit bedeckter Stimme , " jetzt .
Jetzt gleich .
Nein , nicht zusammenschrecken .
Sei mein mutiges Kind .
Wir haben nur noch diese Stunde , Ruth .
Dann bringe ich dich in die Stadt .
Zum Zuge , der ins Ausland fährt .
Frau Römer wartet auf uns . "
Sie hatte sich in seine Arme geworfen .
Sie umfaßte ihn so fest , als solle nichts sie von da wegreißen .
Doch wußte er :
sie widerstrebte nicht länger .
Sie gab nach , willenlos .
Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes .
Der Schreck davor , der sie überfiel .
Gestern war sie doch an ihm irre geworden , - und morgen ? - - da besaß er keine Macht mehr über sie .
Wußte nicht mehr , was in ihr vorging .
Er sagte sehr sanft :
" Du gehst nicht fort , weil ich dir weh tun will , sondern weil ich dich lieb habe .
So lieb , daß ich dir weh tun kann .
Gib dir dieser Liebe , Ruth , - ohne Rückhalt , ohne Zweifel , - gib dich ihr ganz .
Danke täglich , daß ich zu dir sage - des Morgens mit deinem Erwachen , des Abends mit deinem Einschlummern :
, Ich habe dich lieb . ' "
Sie sah auf , ohne von ihm zu lassen , - mit grenzenlosem Dank in den Augen sah sie auf .
Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund , - ein wenig zaghaft noch .
" Da gehe ich ja nicht fort , - da nehme ich Sie ja mit , " sagte sie , fast schelmisch .
Das Glück brach aus ihren Augen , - ja , der Schalk .
Es berauschte ihn .
Aber anders als gestern .
Wohl hielt er sie im Arm , wohl kniete sie an seiner Brust , aber nicht seine Sinne wurden berauscht .
Etwas unendlich viel Feineres , eine Wollust so fein , wie sie sich durch keine Sinne vermittelt , erfüllte ihn mit kraftvollem Genügen .
Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen , sich nicht stärker aneignen , als in diesem Augenblick , wo er sie von sich löste , wo sie auf sein Geheiß von ihm ging , weil sie ihm lieb war .
Einigung und Trennung , selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges Eingreifen , Schützen und Vergewaltigen , Dienen und Herrschen verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten , in einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens .
" Ist es nun nicht gut , daß du mir gehorchen und vertrauen mußt ? daß wir nicht sind wie , zwei Kinder im Walde , die sich verlaufen ?
Für die es schlimm wäre , wollte eines das andere aus den Augen verlieren , - verlassen .
Mir kommst du aus den Augen , und doch nie von der Hand .
Ich bin mit dir wie jemand , den du nicht neben dir stehen siehst , und doch um dich weißt , - über dir walten , wo du auch gehst und stehst .
Wie jemand , den du nicht fragen kannst , und der zu manchem schweigt , - der aber doch alles weiß , was dir Not tut und gut tut wie - "
" Wie Gott , " sagte Ruth keck .
Das Wort lies wie ein Schauder über ihn hin .
Aus Gespensterfurcht ?
Nein .
Aber wohl , weil er ahnte , was mit diesem Wort in ihr selbst aufwachen mochte an unbewußtem , Ungeheuerem Fordern und Bewundern und Erwarten .
Sie sagte es gar nicht in Ekstase .
Wie etwas Selbstverständliches .
Wie ein Kind einen Kuß gibt .
Aber er ahnte : nie , noch nie war sie der Liebe , der vollen Liebe , so nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis , - dem vermessensten .
Nein , keine Gespensterfurcht ! vor nichts .
Und er küßte sie aufs Haar .
" Nicht wie Gott , Ruth .
Und doch sei es für dich : wie dein Gott . "
Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt , Ruths Koffer zu schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen .
Gone half , das Letzte zu ordnen und zu besorgen .
Am Gartengitter draußen stand ein leichtes Fuhrwerk , eine ländliche " Karfaschka " , die das Gepäck aufnehmen sollte .
Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen .
Als das Gepäck aufgeladen wurde , kam er mit ihr aus seinem Arbeitszimmer heraus .
Klare-Bel blickte fast ungläubig auf .
Weder er noch Ruth machten ein trauriges Gesicht .
Und doch wußte sie : erst jetzt hatte er es Ruth dort im Zimmer mitgeteilt .
" Wie er das nur zustande gebracht hat ?
Er kann doch alles , was er will ! " dachte sie bewundernd .
Das kleine Fuhrwerk rasselte davon , auf dem holperigen Landweg in beständiger Gefahr , eines seiner wackelnden Räder zu verlieren .
Erik scherzte darüber , und Ruth hatte ihre Schelmengrübchen in den Wangen .
Es war eine Heiterkeit , wie wenn an einem großen stummen , dunklen Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden Perlen überblitzt .
Nur Gone stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen , verschämten Gesicht .
Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen .
Dann trat sie reisefertig , die graue Wollmütze auf dem Kopf , heraus .
Jonas horchte angestrengt .
Er hörte sie über den Flur gehen , - den letzten grüßenden Zuruf seiner Mutter , - die Türen gingen , - - dann eine Minute Pause , - - und nun fiel mit einem schwachen Knarren die Gartenpforte ins Schloß . - - Langsam , totenstill schlichen die Stunden hin , eine um die andere .
Am frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück .
Aber es blieb so still wie zuvor .
Jonas hielt es nicht länger im Bett aus , er stand auf , und seinen nassen Umschlag um den Hals , einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden , stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters .
Der Vater war nicht da .
Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch .
Er mußte machen , daß er fertig wurde , ehe ihn der Vater hier überraschte .
Und seine Feder kratzte über das Papier .
Er schrieb an Ruth :
" Süße , liebe Ruth !
Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch , an dem Du arbeitetest .
So ungeheuer gern wäre ich zum Bahnhof mitgegangen !
Weinen wollte ich aber nicht , ich bis ins Kissen .
Als aber in der Ferne der Zug lospfiff ( vielleicht war es gar nicht Dein Zug ) , da habe ich trotzdem ein bißchen geweint .
Ich dachte : nun fährt sie fort .
Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben .
Ich will Dir noch nicht sagen , was für einen .
Ich will ihn lieber erst befolgen .
Und solange ich ihn befolgen muß , was ziemlich lange dauern kann , werde ich Dir nicht schreiben .
Aber dann schreibe ich Dir , daß Du meine Frau werden mußt .
Im Spiel hast Du es niemals sein wollen , und das hat mich manchmal so schwer gekränkt .
Aber das war dumm von mir .
Denn erst muß ich ein ganzer Mann für Dich geworden sein .
Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt .
Jetzt muß ich schließen .
Aber ich mußte es Dir gleich schreiben , damit Du es weißt .
Vergiß mich nur nicht , wenn Du dort einen anderen Jungen findest .
Am Ende sogar einen fertigen Studenten ?
Dann würde ich mich ja hier so ganz umsonst anstrengen .
Aber vielleicht findest Du keinen .
Ich küsse Dich mit tausend Küssen .
Dein Freund ( Dein zukünftiger Mann ) Jonas. Pst. Scr. :
Ich weiß nicht , wo Papa jetzt ist , ich bin heimlich auf .
Sonst würde er Dich sicher grüßen lassen . "
Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube .
Er stand am Fenster und weinte .
Kapitel Unflüggem Vöglein gleich , dem bangt , Wo es flatternd eine Zuflucht fände , So bin ich , flüchtend nur , gelangt , Ein armes Kind , in deine Hände. Kam scheinbar wohl in trotzigem Sinn , - Doch nur von Einsamkeit getrieben , Und kniete schweigend bei dir hin Und wollte nichts , als Etwas lieben .
Und wollte nichts , als kurze Zeit Gleich einem Kind mich wieder wissen , Nichts , als ein wenig Zärtlichkeit Ganz scheu , von ferne , mitgenießen .
Nichts , als von kindlich tiefer Qual Auf einen Augenblick nur Resten , Nichts , als die Kindesbrust einmal In heißer Hingebung entlasten .
Wie wurde mir wohl , da ich dich fand , Als müßte jeder Wunsch sich stillen , Seitdem du mich mit sanfter Hand Geborgen ganz in deinen Willen .
Als würde plötzlich alles klar , Als müßten alle Wirren weichen , Seit über das verwehte Haar Mir deine lieben Hände streichen .
Bis daß ein jeder Schmerz hinfort Versank vor zaubermächtigem Troste , Seit mit dem ersten Liebeswort Dein Blick mich zwang und mich liebkoste ; Bis ganz die Welt um uns versank - Und nichts von allem mehr geblieben , Als nur ein grenzenloser Dank - Und nur ein grenzenloses Lieben .
Ruth hatte das nicht gedichtet .
Erik hatte es gedichtet .
Aber Ruth hatte es gestammelt .
Umgezähltemal .
Vielleicht auch in ungezählten Versen .
Er wußte es nicht .
Aber oben in der Giebelstube , unter fortgeworfenen Papieren und verwelkten Blumen , hatte das durchgerissene Blatt mit den gestammelten Versen gelegen .
Und seitdem dichtete er diese Verse , er sah vor sich hin und dichtete an ihnen .
Ruth hatte sie nicht gedichtet .
Erik hatte es gatan .
Aber so , - so würde sie sie in jedem Worte gedichtet haben - ein wenig später - im Rückblick .
---------- Sie saßen alle zusammen .
Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube in einem großen , bequemen Lehnstuhl .
Jonas am Eßtisch ; er hatte die Lampe dicht herangerückt , um besser sehen zu können , was er in sein Schulheft schrieb .
Erik am Kamin , worin mächtige Holzkloben brannten ; von Zeit zu Zeit bückte er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter , der mit Tannenzapfen erfüllt war , ein paar von den braunen harzigen Zapfen in die Glut .
Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen .
An Stelle der leichten Sommergardinen schwere schützende Fenstervorhänge , am Kamin zwei Sessel aus der Stadtwohnung , unter denen ein mächtiger Bär seine Tatzen vorstreckte .
Schon im Anfang des russischen März , noch ehe der Winter zu Ende ging , war dieses Jahr die Übersiedlung vor sich gegangen .
Klare-Bels wegen .
Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres , der sie langsam zur Genesung führte .
In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen .
An diesen Stöcken mußte sie täglich einige Schritte tun .
" Laufen lernen , " wie Jonas lachend sagte , der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte .
Und diese Schritte sollte sie in frischer Luft tun .
Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen .
Klare-Bel saß in halbliegender Stellung und sann vor sich hin ; die Handarbeit , die sie vorgehabt hatte , entglitt ihren Händen .
Sie fühlte sich müde von ihren wenigen Schritten .
Jonas , der war wie verrannt in seine Arbeit .
Mit den schmalen Schultern , lang aufgeschossen , ein wenig weichen blonden Flaum an Kinn und Lippe , beugte er sich über die Bücher .
Der Sicherheit halber hatte er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt .
Das war unnötig .
Und Erik blickte in die Glut - - " Bis ganz die Welt um uns versank - "
Es war Gone , die endlich die Stille unterbrach .
Sie brachte den Abende herein .
Klare- Bel ließ sich hinter den Samowar rücken :
ihre täglich neu genoßene Freude , wenigstens in solchen kleinen Dingen wieder Hausfrau zu sein .
" Heute warst du gewiß froh , Erik , ein so langer Brief von Ruth , " bemerkte sie dabei , " man muß sagen :
sie schreibt treulich , - regelmäßig .
Aber manchmal einen Zettel , manchmal ein Buch ! "
" Ich möchte wissen , warum du ihr noch nie geschrieben hast , Jonas ? " fragte der Vater .
" Sie will oft von dir wissen . "
Jonas wurde sehr rot .
" Wovon soll man sich denn schreiben ?
Ich habe genug zu tun , " murmelte er über seinem Teeglas .
" Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts , " meinte Klare-Bel , " Ruth ist doch nicht unbegabt , nicht wahr ?
Und sind ihre Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern , Erik ? "
" Nun ja .
Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat . "
" Beschreiben ? was denn ? wie ein Berg aussieht , oder was für Wetter es ist , - ein Schneetreiben im Winter , kann sie das nicht seitenlang erzählen ?
Aber ich finde , dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst . "
Erik schwieg .
Er fand es auch .
Dies Entzücken an der Schilderung selbst des Geringsten , die Hingebung in der Wiedergabe dessen , was sie umgab und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde , - das alles lag neben einer spröden Wortkargheit , wo es ihre Gefühle betraf .
Es war nicht Verschlossenheit , - es war Haß gegen das Wort , das ungenügende .
Schlechte Verse kritzeln , singen , stammeln , die Augen aufheben , - ehe er das nicht wiedergesehen , nicht wiedergehört hatte , war Ruth für ihn wie begraben .
Und wieder schwiegen sie .
Der Thetisch wurde abgeräumt .
Nur eine Schale mit Äpfeln blieb darauf stehen .
Jonas machte Miene , seine Bücher und Hefte wieder auszubreiten .
Erik hinderte ihn dran .
" Genug ! " sagte er , " es ist ganz unmöglich , daß du mit deinen Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest . "
" Ich bin es ja auch , Papa .
Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch treiben .
Einer von den Jungen hilft mir dabei in der Freistunde . "
" Ich sehe nicht ein , zu welchem Zweck ?
Schon im Herbst gehst du ins Ausland .
Du wirst ja nicht hier studieren .
Wozu also ? "
" Es ist sehr nützlich , Papa .
In Deutschland kann man jetzt mit russischen Stunden Geld verdienen . "
Erik war unangenehm berührt .
" Geld ?
Mit Stundengeben ?
Überlaße mir das doch . "
" Erlaube mir_es , bitte .
Tu ich nicht genug für die Schule ? "
" Ja , aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden , Jonas !
Bleibst mir zu schmalbrüstig , mein Junge .
Flaum am Kinn , aber kein Kraft in den Knochen .
Nicht genug . "
" Gesundheit ist der Güter höchstes nicht , " behauptete Jonas mit einem Ernst , der ihm drollig genug stand .
" Aber der Übel größtes ist die Schuld , sie verscherzt zu haben , " ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf ; " wenn du öfters mit solchen Zitaten kommst , dann werde ich dich noch ganz von den leidigen Büchern fortnehmen .
Zu einem Bauern in die Lehre geben . "
Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer .
Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit .
Auch allerlei anderes , was drängte .
Ihn drängte es nicht .
Er schob es zurück .
Darunter lagen Ruths alte Hefte , auch neue Arbeiten , sie schickte sie ihm alle .
Ihren Studiengang leitete er vollkommen .
Aber alles das war immer noch nicht " Ruth " .
Er nahm eine Mappe von Schreibtisch , in der sämtliche Briefe aus Heidelberg lagen vom vorigen August bis zum heutigen April .
Anfangs lauter Briefe von Frau Römer .
Ruth konnte nicht schreiben , sie lag im Fieber .
Ein schleichendes Fieber , fürchteten sie .
Erik war zur Abreise vollständig fertig gewesen , er depeschierte bereits seine Ankunft .
Da traf ein Telegramm ein , das ihn zurückhielt .
Drei Tage später ein kurzer Brief von Frau Römer :
" Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht .
Die Trennung würde dasselbe noch einmal ergeben .
Ruth muß es lernen , ohne Sie zu leben .
Daher dürfen Sie unter keinen Umständen herkommen .
Mein Mann meint es als Arzt , ich meine es aber auch - als Frau .
Ich habe Ruth lieb wie mein Kind ; wollen Sie mir helfen , wie eine Mutter über ihr zu wachen , so halten Sie auf immer aus Ihren Briefen alles fern , - auch das Geringste , - was Sehnsucht wecken könnte . "
Nach einer Woche schrieb Frau Römer :
" Mit unserer Ruth geht es besser .
Aber gestern hat sie uns sehr erschreckt .
In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel , mit braunem Leder bezogen ; sie wollte ihn durchaus haben , als sie ihn bei mir sah , und sagte dabei bedauernd :
, Wie schade , daß er nicht grün ist ! ' Diesen Sessel hatte sie gestern Nacht mitten ins Zimmer ihrem Bett gegenüber gerückt .
Als mein Mann noch einmal leise hineintrat , um nach ihr zu sehen , sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht im Bett , - den Oberkörper weit vorgebeugt , die Augen starr auf den Sessel geheftet , das Gesicht verzückt .
Als sie Mienen Mann sah , fiel sie in die Kissen zurück .
, Ach , - nun ist er fort ! ' sagte sie traurig .
Sie war in einer halben Ohnmacht , am ganzen Körper kalt .
Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen .
Mit den anderen Stühlen , geht es nicht , versichert sie .
In aufrichtiger Freundschaft Irene Römer . "
Bald darauf kam der erste , noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte Zettel von Ruth selbst .
Wenige Zeilen nur , darunter ein Postskriptum :
" Ich glaube , daß die Menschen zaubern könnten , wenn sie wollten . "
In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von Eriks Hand , - ein vollständiges Briefkonzept , das anfing :
" Mein Herzenskind !
Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes , speziell für Dich :
, Du sollst nicht zaubern . ' In uralten Zeiten nahmen die Menschen , wenn ihre Götter die Wünsche einzelner nicht erfüllten , mitunter ihre Zuflucht zu allerhand bösen Geistern , die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln noch beschwören ließen .
Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen getan haben : aus Kleinmut oder aus Hochmut , aus dem mangelnden Glauben , daß im Willen ihrer Götter auch wirklich eine weise , gute Macht über ihnen walte , - oder aus dem Trotz , der es müde geworden ist , zu gehorchen und zu vertrauen .
Du machst es doch nicht ebenso , - gleichviel aus welchem dieser beiden Gründe ?
Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus eigener Machtvollkommenheit , was Dir vorenthalten bleiben soll ?
Rufst doch nicht , wie damals , in der letzten Nacht , einen fremden , bösen Geist , das Fieber , um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu entführen , die keine ist ?
Du sollst nicht zaubern .
Sollst Dich der Wirklichkeit hingeben , die um Dich ist , - ganz , voll Glauben und voll Vertrauen , daß Du in ihr zu Hause bist - "
Hier brach das Briefkonzept ab , die nächsten Zeilen waren ausgestrichen , - wiederholt , und wieder ausgestrichen .
Sie waren ihm sichtlich schwer von der Hand gegangen .
Aber die Konzepte mehrten sich , hinter jedem Briefe Ruths folgte eines ; Erik blätterte sie ungeduldig beiseite : daß sie da lagen , das besagte genug .
Sein Blick verweilte nur länger , wenn er wieder auf die feine , charakteristische Handschrift Frau Römers traf .
Er konnte nie das Gefühl ganz los werden , als ob er mit ihr - oder sie mit ihm ? - in einem geheimen , unbewußten Kampf stünde , und doch erquickten ihn diese Briefe .
Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war , so war_es ein herrlicher .
Einer , wie man ihn sich wünschen soll , um sich mit ihm zu messen .
Um diese Frau wehte es wie helle , reine Luft , - man mußte sich wohl darin fühlen .
Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen , was sie warm empfand .
Während man las , glaubte man ihre Stimme zu vernehmen , eine heitere , entschlossene Stimme .
Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren früheren Platz legen , als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel .
Vor vielen Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigeren Inhaltes als die übrigen , - auch , gleich den übrigen , ohne Anrede und ohne anderen Abschluß als , " Ruth " .
Aber auf der letzten Seite , da hatte sie sich verschrieben :
da stand auf einmal " Du " , anstatt " Sie " .
Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm beigefügte Zeitwort umkonjugiert .
Aber am Rande der Seite war es treuherzig bekannt :
" Ich habe , Du gesagt , ich wollte aber , Sie sagen . "
Erik schaute nie in die Mappe hinein , ohne an dieser Stelle hängen zu bleiben , - und er schaute oft hinein .
Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn .
Mündlich würde sie sich schwerlich je versprochen haben .
Sie bedurfte dessen nicht .
Sie hatte " Du " zu ihm gesagt an jedem Tage , in jeder Stunde fast mit Blick und Ton und Miene .
Jetzt erst wurde es zum verständlichen Wortlaut , unwiderstehlich : ein Ersatz für alle wortlose Nähe .
Erik schob die Briefe von sich , er wollte arbeiten .
Arbeiten , - nur nicht dieses unnatürliche , vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen und Gedanken , - dieses unsichere Tasten ins Blaue , in die Ferne , mit dem Verzicht darauf , zu handeln .
Wie leicht war dagegen selbst die Zeit von der Trennung für ihn gewesen : innerste , angespannteste Aktivität bis zur letzten Sekunde , aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft : für Ruth .
Nun der Rückschlag .
Nachlassen , - gehen lassen .
Es macht ihn fast krank .
Und er arbeitete Stunde um Stunde , bis eines der blauen Schulhefte nach dem anderen mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war .
Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück .
Und wieder las er , mit immer neuen Kommentierungen , an der einzigen Silbe " Du " . -
Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung .
Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen .
Noch zog sich am Rande der Kieswege , schmal und vergraut , eine durchlöcherte Schneekruste hin , aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die saftgrünen Hälmchen , und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen , geduldig wartend , längliche braune Knofpenzipfel .
Der Wiesengrund hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel und Sonne wider , vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin umher .
Erik hatte , wie jetzt fast immer , den ganzen Tag in der Stadt zu tun , neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten , den er , mit sich daran anschließenden Vorträgen , in diesem Winter durchführte , teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener , teils in einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule .
Wer sich hier einfand , gehörte ebenfalls nicht mehr der Schule an , oder doch fast nicht mehr .
Man konnte es den Gesprächen entnehmen , womit ihn seine Zuhörer meistens erwarteten .
Es wurde nicht mehr von Phantasieereignissen gesprochen , sondern von Bällen und Gesellschaften und von Anbetern , die wohl nicht mehr in der bloßen Einbildung vorhanden waren .
Von Schulangelegenheiten niemals , wenn nicht etwas ganz Sensationelles vorfiel , wie heute morgen , wo ein kleines Mädchen während des Frühgebets im großen Schulsaal umgefallen und liegen geblieben war , - ein Fall von Epilepsie .
Es hieß , das bloße Ansehen wirke ansteckend , nichtsdestoweniger hatten die meisten , wie gebannt , auf die Zuckende hingestarrt , die , Schaum auf den Lippen , vor ihnen lag .
Mitten in das Gespräch darüber kam , als die Späteste , und mit einem unterdrückten Gähnen , die hübsche Wjera mit den kecken dunklen Augen .
Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden .
" Bist du auch wieder da ? " rief Eriks fleißigste Schülerin sie an .
" Ich möchte wissen , wozu ?
Ob dir es wohl angenehm ist , daß er immer nur Spott für dich hat ? "
" Und Lob für dich ; da zieh ' ich Miene Teil vor , " erwiderte sie mit Überzeugung .
" Laß ihn nur spotten , das tut ihm gut , er ist bei schlechter Laune .
Glaubst du , daß ihn dein Fleiß beglückt , mein geliebtes Gänschen ? "
" Mehr als fleißig sein kann niemand , " bemerkte eine , die in Erwartung des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte .
Wjera lachte boshaft :
" Nun , er könnte noch allerlei anderes schmerzlich vermissen , - zum Beispiel Verstand . - -
Lieber Gott , was kann es nützen , sich so anzustrengen ? "
" Warum bleibst du denn nicht weg ?
Du wolltest ja haben , was Ruth hatte , - du am meisten . "
Wjera saß nachlässig hingegossen , die Arme längs der Banklehne ausgestreckt , und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel , den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte , und der immer umstanden war .
" Ich glaube nicht dran , daß er mit uns so ist wie mit Ruth , " murmelte sie , " es wäre der reine Betrug .
Entweder hat uns Ruth gefoppt , - oder wir sind - dumm .
Glaubt ihr etwa , Ruth meinte das , als sie so außer sich vor Entzücken sagte : , O - - dahinter gibt es das ganze Leben ? ' Wir stehen noch vor der Mauer , - wie eine Hammelherde . "
" Na , so gehe doch hinüber . "
" Ich werde ' auch , " versetzte Wjera kurz , - " noch heute .
Wollt ihr ?
Mit einem Satz !
Aber daß ihr nicht schreit !
Ihr könnt ja nachspringen . "
Im Nun drängten sie sich um sie , brennend vor Neugier .
" Was wirst du tun ?! "
Sie erwiderte nichts .
Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und spitzte den Mund ein wenig .
" Ein Kuß ?! "
Sie schrien jetzt schon .
Da trat Erik herein .
Er bemerkte , daß sie zerstreut waren , beachtete es aber nicht .
Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen : " Wie eine Hammelherde . "
Er vermißte Ruth unter ihnen , nicht weil er sie liebte , er vermißte sie , weil sie ihn fortwährend angeeifert , fortwährend seine Geistesgegenwart verlangt hatte .
Für sie mußte er auf der Höhe seiner selbst stehen , um niemals fehlzugreifen .
Das war hier unnütz .
Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging , ein Blatt Papier in der Hand , auf Erik zu .
" Sollt ' es möglich sein ? " fragte er sarkastisch , indem er annahm , sie wolle ihm eine Arbeit vorlegen .
" Es wäre das erste Mal . "
Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich über ihn - so tief , daß er aufsah .
Bei dieser Bewegung seines Kopfes berührten sich fast die beiden Gesichter .
Da durchgällte ein Schrei die Klasse , einstimmig .
Sie hatten_es nicht aushalten können .
Aber gleich darauf folgte ein zweiter , ganz anders im Ton : Wjera war , kaum daß der Schrei erscholl , hintenübergestürzt .
Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander , ob der erste Schrei vorhergegangen , ob er gefolgt war , - ob sie sich niedergebeugt hatte , weil sie im Stürzen war . -
Er hatte auch von dem Fall im Schulsaal gehört , und jetzt ergriff die Mädchen die Erinnerung daran mit kopflosem Entsetzen .
Die meisten sprangen auf , einige sprangen im plötzlichen Schreck auf die Bänke , - auf das Fensterbrett .
Erik brach sich Bahn .
Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme gehoben und trug sie hinaus .
Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer zuging , kam Leben in sie .
Der ganze weiche , geschmeidige Körper bewegte sich , als strebe er , erzitternd , sich an ihn zu schmiegen ; ihr Atem flog , wie um sich zu halten , schlang sie den Arm um seinen Nacken , und jetzt - jetzt fühlte sie deutlich , wie es ihn heiß überlief .
Blitzschnell , ehe er es nur gewahr wurde , hatte sie ihren Mund auf seine Lippen gedrückt .
Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt - hart , so plötzlich , daß sie fast zusammengestürzt wäre .
Eine sinnlose Wut überfiel ihn .
Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick , wo er Ruth , wie ein lebloses Kind , in sienen Armen auf ihr Bett getragen hatte .
Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügeltür , die den Hallengang nach dem Treppenhaus zu abschloß .
Er stieß die Tür auf .
" Hinaus !
Ohne Wiederkehr ! " sagte er kurz .
Sie errötete und erblaßte .
Sie ging nur langsam hinunter , Stufe für Stufe , und hielt sich am Geländer .
Was würden die anderen in der Klasse wohl denken , wenn sie gar nicht wieder kam ?
Daß er ihr über die Mauer geholfen habe ?
Ja , gründlich .
Mit einem Satz .
Und das Schlimmste ; sie hatte eine gehörige Beule weg , gerade vorn an der Stirn . -
Erik gab sich bei der Rückkehr in seine Klasse Mühe , der Stimmung Herr zu werden , die ihn peinigte und niederschlug .
Er hatte sich jedesmal gewundert , den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen und dennoch fest entschlossen , nichts zu lernen .
Er hatte sich auch ein wenig gefreut .
Weil sie ein kluges Ding war , voll Mutterwitz und Phantasie .
Er wußte jetzt , von was für einer Art von Phantasie .
Aber lag es nicht an ihm ?
War es nicht an ihm , allen diesen jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben ?
Auswüchse auszuschneiden , Fehlendes zu ergänzen , Schlummerndes zu wecken ?
Er hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben , aber nicht mit seinem Herzen .
Und kein noch so guter Wille vermochte sein mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen : das war die Frische und Fülle der Stimmung , deren immer bereites Interesse sich auch noch in das Geringste eingrub , suchend , lockend , verständnistief .
Und er bedurfte dessen ganz besonders .
Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen als Lehrer bestanden darin , daß er seine Persönlichkeit und seinen Unterricht nicht zu trennen wußte ; gelang es ihm nicht , sich selbst zu geben , so mißlang ihm alles . -
Am Torweg des Schulgebendes wartete Jonas auf den Vater .
Sie fuhren zusammen nach Hause aufs Land .
Im Eisenbahnwagen sagte Jonas :
" Mama spricht jetzt immer davon , daß sie bald verreisen muß .
Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad reisen ? "
" Ich weiß noch nicht .
Vielleicht wird es wünschenswert sein .
In Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr .
Dagegen spricht nur , daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann .
Das müßtest du dann tun , Jonas .
Und sie würde Gone mitnehmen . "
" Wenn ich erst Medizin studiere , " bemerkte Jonas nach einer Pause , " dann wird mir es immer vor Augen stehen , das Wunderbare , daß es mit Mama besser geworden ist .
Ich denke mir :
Arzt sein , und ein einziger solcher Fall , - das muß für alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen machen . "
" Du bist ein guter Kerl , Jonas .
- Ich hätte übrigens nicht gedacht , daß du speziell , Medizin ' wählen würdest .
Ich dachte Naturwissenschaften . "
" Ja , ich selbst auch , - früher .
Am liebsten Zoologie .
Aber es ist eine so ungewisse Zukunft damit .
Ein Arzt findet überall sein Brot . "
" Das ist richtig .
Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht sein .
Es kam immer noch auf die Stärke der besonderen Neigung und Befähigung an .
Wenigstens für dich .
Das andere war dann meine Sache . "
" Ich möchte aber so früh , als es geht , unabhängig werden , Papa. Selbständig . "
" Ist es dir so unangenehm , dich von mir abhängig zu wissen , mein Junge ?
Es ist nur dein gutes Recht .
Noch lange .
Ich will nicht , daß dir deine Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden . "
Den Rest der Fahrt schwiegen sie .
Jeder blickte , in seine eigenen Gedanken vertieft , zu einem anderen Fenster hinaus .
Zu Hause , über dem Garten , dunkelte es schon .
Aus dem Wohnzimmer blinkte Licht .
Der späte Mittag , der jetzt in den Abend fiel , wartete auf sie .
Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf den Tisch .
Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht .
" Aber Erik ! " sagte Klare-Bel vorwurfsvoll , während sie doch vor Freude errötete , " etwas so Kostbares und Überflüssiges !
Im russischen April ! "
" Überflüssig ? "
Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem geschliffenen Kelchglas .
" Der Frühling ist doch nicht überflüssig .
Und ich meinte :
in einem Landhause müßt er wenigstens drinnen sein , wenn er schon nicht draußen ist . "
Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen , sie schlug nieder , damit er es nicht sähe .
Der Frühling war ja drinnen eingekehrt , ihr Frühling , worauf sie gewartet hatte , wie auf eine Lebensneuerung gerade für Erik .
Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig geblieben .
Nein , das war ungerecht .
Ungerecht gegen ihn , dem sie ihre Genesung dankte : abbittend blickte sie Erik verstohlen an .
Aber das mußte sie ja sehen : er ertrug kaum die Trennung , - die Trennung von Ruth .
Solange ihn Bel glücklich gesehen hatte , war sie arglos und sorglos geblieben .
Jetzt aber lag es auf ihr bei Tag und bei Nacht .
" Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet ? " fragte sie nach einer Pause .
" Ja .
Aber noch nicht ganz , " erwiderte er .
Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den Dustenden Dolden .
" Da war doch , - ist der junge Russe noch immer da , den sie so gern haben ? "
" Jurii ?
Ja .
In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar , glaube ich , eine kurze Zeit bei ihnen wohnen - draußen am Schloßberg .
Sie wollten allerlei zusammen unternehmen .
Römer hält viel von ihm . "
Eine kleine Pause entstand .
" Wie alt ist er eigentlich , Erik ? "
" Ungefähr zweiundzwanzig , glaube ich . "
" Und gänzlich unabhängig , nicht wahr ?
Es handelt sich für ihn nicht um ein Brotstudium ? "
" Nein . "
Erik blickte auf , ein flüchtiges Lächeln um den Mund .
Auf den jungen Russen eifersüchtig , - nein , das war er unter keinen Umständen .
" Eine echt weibliche Kombination , Bel. Du dachtest schon an Brautkranz und Schleier , nicht wahr ?
Aber dafür , daß Ruth rasch mit ihm vertraut geworden ist , liegt ein anderer Grund vor : er ist ihr nicht fremd .
Er kennt ihren Onkel hier .
Hat früher einmal mit seinen Eltern dort verkehrt , - mit ihr gespielt , als sie acht und er dreizehn Jahr alt war . "
Sie lehnte den Kopf zurück .
" Es ist nichts , " dachte sie , " es kann nicht sein .
Sonst müßte - müßte er eifersüchtig sein .
Trotz seines starken Selbstvertrauens .
Jugend sucht Jugend . "
Nach einiger Zeit sagte sie bittend : " Erik !
Du mußt nicht böse sein .
Ich habe einen so großen Wunsch . "
" Einen so schlimmen , Bel ?
Nun , heraus damit . "
" Ich wünsche so sehnlich , - ich möchte so sehr gern , nur ein einziges Mal - lesen , was du an Ruth schreibst . "
Er antwortete nicht .
Er stand auf und ging aus dem Zimmer .
Gleich darauf kehrte er zurück , den fast beendeten Brief in der Hand .
" Du kannst es jedesmal lesen , Bel , wenn du willst . "
Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an , daß er den Blick nicht aushielt .
Er sah hinweg .
Es war ihm eine Pein , sie dasitzen zu sehen , - sie lesen zu sehen .
Am liebsten wäre er hinaus gegangen .
Er trat aus Fenster und schaute in die Dunkelheit .
Aber das Fensterglas höhnte ihn .
Was er wiedergab , war noch einmal das Zimmer mit der Lampe und den zarten Fliederwein auf dem Tisch und der lesenden Frau im Lehnstuhl .
Klare-Bel ließ den Brief sinken .
Sie sah betroffen aus .
" Wie seltsam , Erik , " sagte sie , " - ich kann mir gar nicht vorstellen , daß du so an Ruth schreibst . "
" Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben , als ich zu ihr gesprochen habe , " entgegnete er .
" Es mag ja sein .
Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu , was nur im Mündlichen liegt .
Dein ganzes Wesen kam hinzu .
Du bist ja so jung und frisch im Wesen , Erik . "
" Nun - und ? "
Er wandte sich um .
Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso " entsetzlich nüchtern " , wie er die ihren .
Nur aus einem anderen Grunde :
sie konnte nicht ihr Inneres aussprechen , - und er durfte nicht .
" Ja , - nun , - ich weiß nicht , wie ich_es beschreiben soll , Erik .
Aber in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann mit langem weißem Bart und Haar , - ungefähr so , wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen . "
Es durchzuckte ihn .
Er mußte an Ruths Wort denken :
" Wie Gott . "
Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf .
Was für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte , - im lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm , - das mochten wohl zwei ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein .
Für ihn war_es ein Abzug am Vollen , Menschlichen ihrer Persönlichkeit , ihres innersten Wesens , das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen vermochte .
Für sie war_es vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen Persönlichkeit , eine Verklärung dieser :
er hatte ihr ja auch mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen , und gerade das idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten , - " ungefähr so , wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen . "
Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen , sie könne an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben , wie er an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben , wie er an den ihren .
Denn er hatte gefühlt :
in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging daran vertrauensvoll ihren Weg .
Gehorsam , - froh .
Denn sie litt doch nicht ?
Nein , das tat sie gewiß nicht .
Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben , das sie unausgesetzt anregen , bereichern , entwickeln mußte , - sie beglücken und sie erfüllen .
Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten in diesem Leben , - wie mit weit ausgebreiteten Armen .
Nein , sie - sie litt nicht .
Auch Klare-Bel war verstummt .
Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken nach , und wieder wurde es ein schweigsames Abendessen .
Wie sie da zu drei beieinander saßen , eng zusammen , in herzlicher Neigung verbunden , blieben sie doch einander so weltenfern entrückt , daß keiner von ihnen Teil hatte an der stummen Welt des anderen .
Als Erik nach dem Essen sein Zimmer nicht wieder verließ , setzte sich Jonas , ohne Schularbeiten , zur Mutter .
" Wenn Papa nicht da ist , muß ich ihn ersetzen , " versicherte er , " kann ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa ?
Einen guten Kopf größer als du bin ich doch schon , meine kleine Mama . "
Sie sah ihn mit einem tiefen , stillen Blick an , den er nicht verstand .
Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin .
" Mein lieber Junge .
Ja , mir kannst du bald - viel sein .
Wirst du es auch nicht vergessen , später , über all dem Studieren ?
Du mußt mir viel , viel Freude machen , Jonas . "
" Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen , Mama , " erklärte er treuherzig , " das werde ich ganz bestimmt .
Denn ich werde etwas ganz Ausgezeichnetes werden .
Das muß ich . "
" Freust du dich sehr auf das ungebundene neue Leben draußen ? "
" Auf draußen - ja .
Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar nicht so schön .
Ich finde es viel schöner so , wie es Papa gehabt hat . "
" Wie denn , mein Kind ? "
" Nun , doch so ganz gebunden , Mama .
Mit dir zusammen .
Das kann ich mir nämlich so wunderschön ausmalen .
Fast als ob - .
Eine Studentenstube , - ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein , und an den Wänden Bücher , und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen .
In der Ecke ein schönes Skelett , und am Fenster viele Blumen .
Da sitzt die Frau mit dem Nähzeug .
Und bei den Büchern , da sitze ich , - ich meine : sitzt Papa . "
" Ganz so war es wohl nicht .
Nicht so eng .
Für Blumen und Kochmaschinen und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr .
Und wenn er bei den Büchern war , dann mußt er in seinem Zimmer allein sein .
Da warst nur du bei mir .
In einer kleinen Wiege . "
" Eine kleine Wiege ? "
Jonas wurde ziemlich rot .
An dies Stück der Zimmereinrichtung hatte er noch gar nicht gedacht .
Er sagte etwas befangen :
" Nun ja .
Aber wenn du auch nur nebenan gesessen hast , so war es doch das , was ihn fleißig machte .
Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren , wenn man es für jemand tut , den man so über alles lieb hat . "
" Das sage du Papa lieber nicht .
Das würde ihm vielleicht mißfallen .
So hat er_es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint .
Er war so ganz anders , als du bist , Jonas .
Aber unendlich gut und klug war er .
Und als er anfangen mußte , sich ums Brot zu plagen , und es mich grämte , da lachte er mich so herzlich aus und sagte : , Laß gut sein , Bel , ich habe ein Mittel , ein Zaubermittel , um frisch zu bleiben , - mag es noch so viel Plage geben , - frisch für meine Ziele : das Mittel bist du , Bel
Ja , so sagte er . "
Jonas schwieg .
Er wollte den Vater nicht vor der Mutter herabsetzen , aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen .
" Man kann noch tausendmal mehr lieben ! " dachte er im stillen .
Klare-Bels Gedanken aber träumten sich , schmerzlich und beglückt , in die Zeit ihrer Studentenehe zurück .
Sie sah alles vor sich , als habe sie es eben erst verlassen , und durchwanderte jeden Winkel , der ihr Glück beherbergt hatte .
Sie sah auch die Stube , wo er über seinen Arbeiten saß und sie ihn leise - ganz leise mußt es sein - umsorgte .
Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr , wurde undeutlich wie vor Tränen .
An Eriks Stelle saß ein anderer , - saß Jonas ; - und immer wieder , mit einem dumpfen Zukunftsgrauen , erblickte sie sich allein , - allein mit dem Sohn .
Die Nacht lag Klare-Bel wach , und als sie gegen Morgen einschlummern wollte , schreckte sie der Gedanke auf , sie müsse über irgend etwas angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln .
Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus , irgend einer der zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert .
Erik setzte sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer , wo in der Nähe des Kaminfeuers ein Schreibtisch für ihn improvisiert worden war .
Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar finsteren Wolken , hinter deren blauschwarzem Rande die Aprilsonne neckend bereits wieder hervorlachte .
Hell und dunkel glitt es über das Zimmer hin .
Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden .
Heute morgen wollte sie ihn fragen .
Sie hielt es nicht länger aus .
Wie hatte sie nur denken können , seine Briefe würden ihn verraten ?
Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen .
Zu ihr konnte er nicht offen sprechen .
Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton .
Vor ihr verbarg er sich - befangen und mühsam .
" Wo steckt eigentlich Jonas ? " fragte Erik , über seine Ausarbeitungen gebeugt .
" Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren .
Er wollte so gern seinen Freund besuchen . "
" Hoffentlich doch nicht , um wieder zu arbeiten - mit dem Freunde ? "
" Vielleicht .
Laß ihn , Erik .
Ist er nicht ausgezeichnet geworden ? "
" Ja , Höchstens zu ausgezeichnet .
Er hat viel vor sich gebracht , das muß man dem Jungen lassen .
Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine Ausdauer betrifft , hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit übertroffen . "
" Nicht nur das .
Er ist dabei so verständig geworden .
Ihm steckt kein Unsinn im Kopf .
Keine Kindereien . "
" Ja .
Grade das mißfällt mir .
Dafür ist er zu jung .
Wenn er nur nicht eng wird .
Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein . "
" Ach Erik , wenn er nur brav wird . "
" Das kann er immer noch .
Zunächst soll sein Temperament heraus !
Heidelberg wird ihm gut tun , denke ich , und Römers Einfluß .
Man muß dafür sorgen , daß er sich frei bewegen kann .
Weder Zeit noch Geld darf ihm zu knapp zugemessen werden . "
" Wie gut er ist ! " dachte Klare-Bel .
" Ja , in solchen Dingen ist er immer unendlich gut gewesen .
Würde sich plagen für den Jungen , damit der lernen kann , zu genießen . "
Mehrere Minuten vergingen in Schweigen .
Eriks Gedanken liefen voraus , dem Herbst entgegen , wo Jonas nach Heidelberg abgehen würde .
Allerspätestens dann mußte er Ruth wiedersehen , sie sprechen .
Vielleicht aber schon früher .
Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste , daß er sie am Beginn der Sommerferien aus Deutschlang abholen konnte .
" Erik ! " sagte eine Stimme neben ihm .
Er sah zerstreut auf .
Seine Frau stand am Schreibtisch - ohne ihre stützenden beiden Stöcke .
Sie hatte sich ohne Hilfe erhoben und war durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen - allein .
Sie hatte es heimlich geübt , mehrere Tage .
Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen .
Er blickte sie nur fragend an , ohne zu beachten , was ihn überraschen sollte .
Er bemerkte es nicht .
Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln .
" Ich wollte dir nur zeigen , was ich kann , " sagte sie , mit einer gewaltsamen Anstrengung , es unbefangen zu sagen .
Aber es mißlang .
Sie erblaßte .
Und plötzlich schwankte sie und glitt dem erschrocken Aufspringenden in den Arm .
Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl , besorgt , über sie gebeugt .
Jetzt war er ganz bei ihr .
" Ist dir besser ? " fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen Polstersessel vom Kamin heran , " die Selbständigkeit bekommt dir schlecht , meine arme Bel . "
Sie sah den Scherzenden mit einem langen , stillen Blick an .
" Ich muß sie doch lernen , Erik ! " entgegnete sie doppelsinnig .
Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen .
Und so , mit geschloßenen Augen , während er ihre Hand festhielt und leise streichelte , sagte sie :
" Siehst du , - ach Erik , es war ja gewiß recht kindisch .
Aber siehst du , - hierauf habe ich mich ja schon so lange gefreut .
Auf deine Freude , - wenn ich einmal so zu dir käme - ohne Stütze , auf eigenen Füßen .
Es war so kindisch .
Aber nun ist mir aller Mut abhanden gekommen , dich zu fragen , Erik . "
" Wonach wolltest du mich fragen , Bel ? "
Er sprach mit gepreßter Stimme , gedämpft , wie immer , wenn er eine Erregung niederhielt .
" Ja , Erik , ich dachte :
wenn du dich nun so freutest und mich in deine Arme schlössest , - nicht wie jetzt , weil ich fiel , sondern weil ich stand , aufrecht neben dir stand , - dann wollt ich dich fragen , - ganz leise wollt ich dich fragen , - ach Erik ! ich kann es nicht mehr ! "
Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend , mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den festgeschloßenen Augen .
Sein Herz schlug hart gegen die Brust .
" Ich will dir es sagen , Bel ! " erwiderte er fest , ohne den Blick von ihr zu lassen .
" Wenn es dich gequält hat , dann muß es sein .
Hast du den Mut , es zu hören ?
Willst du_es ? "
Sie schlug die Augen auf , - hilflos , tränengeblendet , - hilflos wie ein gestelltes Wild vor dem Schuß .
" Erik ! stieß sie flüsternd heraus , und das Entsetzen vor seiner Antwort vergrößerte ihre Augen , "-Erik , liebst du sie ? "
Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände .
" Ja , Bel , " sagte er laut .
In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom das ganze Zimmer , daß sich Klare-Bels Lider unwillkürlich davor schlossen in einem abergläubischen Erschrecken , wie wenn der Himmel selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe .
Blau lachte es herab , und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch zerronnenen Schneefederchen über dem Garten .
So warm spielten die hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin , als sei er draußen vom Strauch geschnitten .
" Dunkel , " bat Klare-Bel leise , "- ich möchte auf mein Bett , - mache_es dunkel . "
Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem aufstoßenden kleinen Gemach auf ihr Bett , hinter dem er die Fenstervorhänge aus den Klammern löste und zuzog .
Sie suchte nach seiner Hand .
" Die Briefe , Erik , - wie du ihr geschrieben hast , - war es lauter Verstellung ?
Oder hast du ihr , - hast du nicht auch anders geschrieben ?
Niemals ? "
" Ich habe ihr auch anders geschrieben , Bel. Ganz anders .
Jedes einzige Mal , wo ein solcher Brief an sie abging .
Aber es war nur für mich allein .
Sie hat es nie gelesen . "
" Du hast es nicht abgeschickt ? -
Hast du diese Briefe noch , Erik ? "
" Nein .
Ich habe sie jedesmal , sobald sie geschrieben waren , vernichtet . "
" Wozu hast du es dann nur getan , Erik ? "
" Es half mir . "
Fast hätte er hinzugefügt :
" Ich liebe sie ja , Bel !
Ich liebe sie !
Ich mußte zu ihr sprechen . "
Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise : " Und ich hatte keine Ahnung , - nein , keine Ahnung hatte ich , daß du sie um deswillen von dir gabst .
Nun erst weiß ich_es . "
Er richtete sich betroffen auf .
Mißverstand sie ihn jetzt nicht ?
Meinte sie nicht , er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen ? um Herr zu werden seiner Liebe ?
Mußte er ihr die letzte , die tödlichste Kränkung zufügen :
" Nicht an dich habe ich dabei gedacht . "
Ja , einmal mußte auch das sein .
Aber mußte es heute sein ?
Alles heute ?
Litt sie nicht genug , - maßlos ?
Er vermochte es nicht .
Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach , trat er von ihrem Bett zurück an die offene Tür des Wohnzimmers .
Gräßlich war es , einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust .
Das Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht , - mit einem nie gekannten wehen , elenden Gefühl umkrallte es ihn .
Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen ; der Himmel hatte sich längst wieder verfinstert .
Von neuem stäubte ein seiner Schneeschauer um das Fenster , - dasselbe Aprilspiel wie zuvor .
Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut , und ein schwacher Duft , den er liebte wie keinen anderen , - ein Duft nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube .
Unwillkürlich dachte man sich den kahlen , kalten Garten im Winterfrost und einen geputzten Christbaum in der Zimmerecke .
Weihnachten , - - - auch in diesem Winter hatten sie den Baum geschmückt und sich um ihn geschart , aber zum ersten Male hatten sie sich wie drei arme Erwachsene gefühlte , die am Fest der Kinder leer ausgehen .
Erik , der zu beschenken wußte wie nur ein Knecht Ruprecht , und sich zu freuen wie nur ein Kind , war karg , - war wortkarg geblieben .
Es kam ihm selbst sonderbar vor , daß sich sein Mitleid an lauter solche kleine , kleinliche Rückerinnerungen heftete .
Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen .
Nicht daß sie jetzt dalag und litt , - aber daß sie so lange , - lange umsonst auf seine Freude gewartet , in seinen Zügen nach Freude gespäht hatte all diese Monate hindurch , - das erschütterte ihn so tief .
Genesen war sie , - wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde , lichterblitzend , mit tausend neuen kleinen Freuden geschmückt .
Und sie hatten sich nicht wie frohe Kinder darum geschart - - . Klare-Bel lag noch immer und schwieg .
Er mochte nicht zu ihr hineingehen , er mochte nicht fortgehen .
Noch immer ging er auf und ab wie ein Verurteilter .
Endlich kam Jonas .
Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch .
Beim Eintreten in das Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch .
" Wo ist denn Mama ?
Mehr war nicht im Briefkasten in der Stadtwohnung .
Zwei an dich . "
" Mama ist nicht ganz wohl .
Sie liegt auf ihrem Bett . "
Während Jonas auf den Fußspitzen leise ans Bett trat , griff Erik nach den Briefen .
Der eine von Frau Römer , der andere von Warwara .
Ohne zu wissen , warum , erbrach er zuerst Warwaras kurzes Billett : die Bitte , den nächsten Tag bei ihr zu speisen , sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges Befinden und wünsche auch , ihm eine Mitteilung zu machen , etwa in einer Woche verreise sie bereits ins Ausland .
Erik setzte sich ans Fenster und öffnete Frau Römers Brief .
Ein längerer als sonst .
Acht Seiten .
" Lieber Freund !
Heute schreibe ich in einer besonderen Angelegenheit , die unsere Ruth betrifft .
Aber erschrecken Sie nicht , denn erstens ist es nichts zum Erschrecken , und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit , sondern vorläufig nur eine Möglichkeit .
Sie erraten wohl , daß sich_es um Jurii handelt .
Ich wußte wohl von seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth , ohne sie besonders zu beachten .
Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen Menschen .
Jetzt aber glaube ich , daß er Ruth ernsthaft liebt und im Begriff steht , um sie zu werben .
Dies ist nun von geringem Interesse für Sie , es sei denn , daß ihn Ruth wiederliebt .
Dafür habe ich keinerlei stichhaltige Beweise .
Aber das Wunderliche ist , daß man nie ganz ergründen kann , was in Ruth vorgeht , und wie sie in ihrem innersten Herzen denkt .
Nie sah ich einen Menschen , der offener , nie einen , der verborgener gewesen wäre als sie .
Offen : bewußt ; verschlossen : unbewußt .
Es ist , als führe sie noch hinter allem anderen , was sichtbar wird , ein geheimes Eigenleben für sich , wovon sie selbst nicht recht weiß , woraus aber bei ihr dennoch alle entscheidenden Gefühle und Gedanken kommen .
So könnte sie recht gut einmal sich selbst zur Überraschung handeln , - ihrer ganzen klaren , frischen , heiteren Unbefangenheit zur Überraschung , - und gerade damit ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen .
- Aber nun zu Jurii .
Ich kann über ihn nur Gutes ja Vortreffliches mitteilen .
Ich kann es nur in die Worte fassen : hätte ich eine Tochter , - mir sollt es recht sein .
Er ist brav , sympathisch , sehr begabt , ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen .
Gänzlich unverdorben .
Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge .
Das ist viel auf einmal .
Über Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das Beste bekannt .
Seine große Jugend ist kein Fehler , da ihn Ruth mit ihm teilt und ihn die Zeit so gründlich heilt .
Aber glauben Sie , bitte , trotzdem nicht , daß meine Wünsche Ruth vorauslaufen , - auf Kupplerfüßen laufen .
Ich wünschte nur , Sie rechtzeitig vorzubereiten , damit Sie überlegen , wie Sie sich zur Sache stellen wollen .
Denn gegen Ihren Willen , - nein , auch nur ohne Ihren vollen Willen , - würde ja wohl Ruth nie etwas tun - "
Erik las nicht weiter .
Er überflog die nächsten Seiten :
sie handelten nicht mehr hiervon .
Ruths Schweigsamkeit , - war sie doch gewollt , bewußt ?
Abkehr von ihm , eine stille Wandlung ?
Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht .
Aber sie kamen wieder .
Hell und dunkel , Licht und Schatten glitt es über seine Gedanken hin , wie draußen .
" Aprilwetter - in mir ! um einen Knaben ! " murmelte er im Zorn über sich , " in Angst um eine Aprillaune , - in Angst , in den April geschickt worden zu sein ! "
Er war so zornig , so ungerecht als möglich gegen sie , gegen sich selbst .
Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen .
Und Klare-Bel wollte ruhen , wollte allein sein .
So schlich er sich in seine Stube .
Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam , bemerkte Gone gegen ihn , die Frau habe sich zur Ruhe begeben , sie sei krank .
Er ging zu ihr .
Sie saß aufrecht im Bett ; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher .
Im Nachtjäckchen , ihre kleine Haube auf dem wie zur Nacht glatt zurückgestrichenen blonden Haar , sah sie ihm verwirrt und angstvoll entgegen .
Als fürchte sie sich vor ihm .
Als schäme sie sich vor ihm .
Er ertrug es nicht .
Er beugte sich über sie , das Gesicht auf ihren Händen , und küßte diese .
" Bel , - Bel , - verzeih mir . "
Sie gab sich Mühe , zu lächeln , es war ein merkwürdiges , schwaches , kleines Lächeln , das dabei herauskam .
Und nun wurde sie dunkelrot .
" Ach Erik , - nicht so .
Es ist mir zu - es ist mir so ungewohnt .
Schrecklich ist mir_es .
Sprich nicht so zu mir . "
Er setzte sich neben sie , auf den Stuhl an ihrem Bett .
" Lasest du , Bel ? " fragte er zerstreut , gepeinigt .
" Ja , Erik .
Du mußt nicht böse drüber sein .
Es sind so alte Bücher , - die alten , weißt du ?
Aber neulich fand ich einmal etwas , und das machte mich so glücklich .
Das suchte ich mir heute auf .
Es ist so schön zu lesen , Erik . "
Sie sprach rasch , befangen , wie ein verlegenes Mädchen .
Er blickte nieder auf die Bücher .
Ein goldenes Kreuz auf dem einen .
Und das andere : P.A. de Genestets " Laiengedichte " , - diese echt holländischen Lieder , worin sich Trotz und Glaube , Trost und Zweifel seltsam genug mischen .
" Ich hatte sie so völlig vergessen , alle beide .
Weiß selbst nicht , wie nur . -
Wie gut , daß so etwas dableibt , ob man es auch vergißt .
Sie waren so verkramt , und ganz staubig , als ich sie neulich fand .
- Willst du mir die , Laiengedichte ' herreichen , Erik ?
Ein Lesezeichen liegt drin . "
Er schlug das Buch auf und reichte es ihr .
Das Lesezeichen fiel dabei heraus .
" Höre nur , - Erik , - nur einige Verse , magst du ?
Auch du mußt es schön finden .
Es heißt , Peinzensmoede ' .
Es sollte wohl heißen :
, Ich glaube , Herr , hilf meinem Unglauben ' . "
Und sie las mit ihrer sanften Stimme :
" Wo - wo sind die Priester , Die dich erklärten ?
In Rätseln wandelt Der Mensch auf Erden .
Geheimnis - das Leben , Geheimnis - der Tod , Die Schöpfung , sie Predigt Keinen liebreichen Gott .
Natur nur umgibt dich , Die nicht auf dich hört , Gleichviel , ob sie wohltut , Oder ob sie zerstört .
Und doch , - nisten Zweifel Mir auch in der Brust , - An dich , meinen Vater , Glaub ich unbewußt .
Nicht weil deine Schöpfung Dein Lieben enthüllt , - Nein ! nein !
nur trotz allem , Dem Zweifel entquillt !
Trotz jeglichem Rätsel , Trotz jeglicher Not , Trotz Angst und Verderben , Trotz Schmerzen und Tod !
Ich schmachte , vom Schicksal Zu Tode getroffen , Meine Hoffnung ist Wehmut , Meine Wehmut ist Hoffen .
Ich will es - will es glauben , Daß ich deine Hand Im Leben wohl spürte , Nur sie nicht erkannt ; - Will es glauben , was Kirche Und Priester mich lehrten :
Daß niemand umsonst dich Gesucht hat auf Erden . " ««Frei nach dem Holländischen .»» Sie saß da und las , den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig gesenkt , die Hände auf der Bettdecke gefaltet .
Die Röte der Befangenheit , der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht , rührend und vertrauensvoll sah sie aus , wie ein Kind , das seiner Mutter ein Gebet nachspricht .
Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele , in all ihrer Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung , vor ihn hin - ohne jeden falschen Stolz .
Sie kannte es nicht anders .
Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es geistesabwesend .
Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein verirrt : ein nackter Amor mit einem großen Rosenbukett .
Während er aber stumm darauf hinschaute , sprach er in Gedanken mit Klare-Bel , unterbrach sie im Lesen , nahm ihr das Buch aus der Hand .
Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch :
" Dieser Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel , Bel ; , Peinzensmoede ' bedeutet ja : des Sinnens , des Grübelns müde .
Wann hättest du das gekannt ?
Ein vom Zufall der Erziehung dir lässig übergeworfenes Kleid , - ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von dir abgeglittenes Kleid : das war in deinem Leben der Glaube . "
Und in Gedanken hörte er Klare-Bel : " Woran soll ich denn aber noch glauben , Erik ?
An dich ?
Doch nicht an dich ?
Woher einen Halt nehmen ?
Du warfst mein Halt !
Ach , der hält nicht !
Er biegt sich unter meiner Hand hinweg und läßt mich stürzen .
Soll ich mir selbst ein Leid antun ? Dich ermorden ?
Sie vergiften ?
Ich bin keiner von den Menschen , über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen .
Bin ich dadurch nicht nur hilfloser ?
Meine tiefste Verzweiflung heißt Hilflosigkeit , - das Tasten nach einer Stütze :
mein letzter klarer Gedanke .
Warum verwehrst du es mir ? "
" Weil ich diese Stütze hasse , - diesen Halt , der mich ersetzen soll .
Nein , weil ich mich dessen schäme , - daß er mich ersetzen muß .
Weil ich mit dir kein Mitleid mehr habe , - nur noch Zorn und Haß und Scham vor mir selbst . " - - - - - - - - - Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf , unsicher gemacht durch sein Schweigen .
" Ist es nun nicht schön , Erik ? " fragte sie leise , beinahe bittend , "- mich macht es glücklich . "
" Dann ist es schön , Bel ! " sagte er sanft . -
Aber seine Stimmung war nicht sanft .
Den ganzen Abend schlug er sich mit einer ihm fremden Pein herum .
Schon am Vormittag , - als er seine Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte , sondern sich edler nehmen ließ , als er war , - und jetzt wieder , wo seine Lippen anders redeten als seine beschämten , zornigen Gedanken , - hatte er gegen seine innerste Natur gehandelt , sich passiv verhalten , die Dinge gehen lassen .
Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids , - aus gerechter Überzeugung : ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war , durfte nicht in Betracht kommen gegenüber dem , was Klare-Bel durch ihm erleiden mußte .
Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht , gegen seine eigenste Natur handeln zu müssen .
Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung , um seine Gedanken von allem loszureißen , was ihn quälte , und auf seine Arbeit zu richten .
Bald sah er Bel als Betschwester vor sich , bald Ruth als Braut ; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn .
In beiden Fällen war er der entthronte König .
" Einen neuen Gott die eine , - einen neuen Mann die andere , - es ist fast dasselbe ! " dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit seiner Gedanken .
In einer Pause zwischen seinen Schulstunden , während der er in der Stadtwohnung vorsprach , zog er Frau Römers Brief aus seinem Taschenbuch .
Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen , - nur durchflogen , - und jetzt kam ihm das Gefühl : es müsse wohl tun , diese Frau reden zu hören , bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen , was in einem Menschen aufgewühlt werden kann .
Und er las weiter : " Es ist ja nicht notwendig , daß sich Ruth schon so jung bindet .
Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten , - vielleicht nie .
Nun sehen Sie , dies wäre nicht wünschenswert .
Ich weiß nicht , wie Sie darüber denken .
Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für die Ehe .
Aber ich habe gut reden : ohne meinen Mann wäre ich wohl ein nichtsnutziges Ding geblieben , - mit etwas Interesse für Tand und einer großen Leere im Herzen .
Ich glaube , Sie legen einen Hauptwert auf Ruths geistige Entwicklung .
Ich auch .
Aber dazu verhält sich ein frühes glückliches Liebesleben nicht als Gegensatz , sondern als die einzige gesunde , natürliche Grundlage auch für das Geistesstreben im Weibe .
Nicht nur damit sie die Gehilfin des Mannes sei .
Häufig langt es ja gar nicht zu mehr .
Wo es aber langt , - desto besser .
Von meinem Mann glaube ich bestimmt , daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes unterstützt hätte , zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden gewesen wäre .
Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich .
Liebe ist nicht selbstlos .
Wohl aber um den ganzen frischen Duft , die ganze Fülle und Freude um sich zu haben , die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung ausstrahlt , der voll erblüht .
Und daß zwei Blüten beieinander stehen wollen :
das bedeutet ja wohl , Ehe ' - . "
Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch .
Etwas ganz anderes , als er gesucht , hatte er darin gefunden , - etwas ganz Unerwartetes : einen unbewußten Vorwurf .
Seine Ehe mit Bel , das waren keine zwei selbständigen Blüten , die zusammenstanden : das war eine Blüte , die einen Tautropfen aufgesogen hatte , der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war .
So würde es wohl Frau Römer ausdrücken .
Römers standen eben von vornherein anders zueinander .
Sie bewunderten sich gegenseitig , - eigentlich war es rührend .
Man konnte nicht recht darüber lächeln :
man mußte diese beiden Menschen achten .
Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden .
Als er sie fand , ein Jahr älter als er selbst , sinnbetörend schön , bereits fertig mit ihrer kurzen Entwicklung , - ein in gewisser Weise viel fettigerer Mensch als er , - was hätte er da wohl anders tun können , als dürstend in sich aufzusaugen , was sich , nach Selbstuntergang sehnsüchtig , ihm darbot ?
Aber wenn man einen schwächeren Menschen so absolut in Besitz nimmt , so fühlt man die furchtbare Verpflichtung , ihn nicht wieder von sich zu lösen .
Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf hinein zwischen Scham und Mitleid bei jedem leisesten Versuch , sich dieser Verpflichtung zu entziehen .
Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein . -
Auch - Ruths Meinung ?
Ruth grübelte nicht über solche Fragen .
Aber was täglich , stündlich auf sie wirkte , sie mächtiger beeinflussen mußte als alle Worte , alle Grübeleien , - das war Frau Römers Ehe .
Eine heilig gehaltene , glückliche Ehe .
Sobald ihn sein Unterricht freiließ , ging Erik zu Warwara .
Mehr als er sich es selbst gestehen wollte , war es ihm recht , jetzt noch nicht nach Hause zu fahren .
Als Erik gemeldet wurde , entfernte sich eine lange hagere Engländerin , Warwaras Gesellschafterin , aus dem Zimmer .
" Sie sehen ganz besonders ernst aus , " bemerkte er bei der Begrüßung zu Warwara , " es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert ? ' Sie mußte hellauf lachen .
" Etwas passiert , - ja .
Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen . "
"- Verlobt ?! - war das die Mitteilung ?! -
Mit wem ? "
Sie setzte sich in ihre Plauderecke .
" Gleichviel mit wem .
Ein Ihnen ganz Fremder .
Im Auslande .
Sie werden es auf einer schön gestochenen Verlobungskarte lesen . "
" Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen , Warwara ? "
" Wie meinen Sie das ? "
" Ich meine natürlich , ob Sie das Geringste für den Mann fühlen , den sie heiraten wollen . "
" Daran zweifeln Sie . "
Er schweige .
" Ich will_es Ihnen sagen .
Dazu rief ich Sie ja her .
Ich habe ihn gern .
Sehr gern .
Aber mir wird nicht heiß und kalt , wenn ich an ihn denke . "
" Und das scheint Ihnen zu genügen .
Es genügt nicht , Warwara . "
" So will ich Ihnen noch mehr eingestehen .
Was ich in der Ehe suche , - das Glück , das ich suche , - ist nicht der Mann . "
" Sondern ? "
Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch , mit dessen Pflanzen sie sich zu schaffen machte .
" Das Kind . "
Erik schwieg überrascht .
Nach einer kurzen Pause sagte sie :
" Es ist ein sehr vertrautes Geständnis .
Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut , - mehr , als Sie wissen . Hab Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat gefragt .
Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt .
Wir hätten öfter , als wir getan haben , ernst Dinge miteinander teilen sollen . "
" Das hätte mich sehr froh gemacht , Warwara .
Schon das , was Sie da sagen , macht mich froh .
Ich bedurfte gerade dessen . "
" Nun , sehen Sie , das ist gut .
So will ich es auch ruhig bekennen .
Daß ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin , voll von allerlei Tand und Plunder .
Und daß ich gern mehr sein möchte .
Vielleicht dank Ihnen , - dank den stillen Unterhaltungen , die ich da mitunter mit Ihnen geführt habe .
Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und Meister ersehnen und erwünschen , der aus mir noch das Beste machen kann , - das Beste , was in mir ist . "
" Das alles erwarten Sie von einem Kinde ? "
" Von der Mutterschaft , - ja .
Von der Mutterliebe .
Dem Mutterglück .
Der Mutterpflicht .
- Und dann , " sie wandte sich lebhaft zu ihm , " irgendwann einmal , wenn ich wirklich so glücklich sein soll , dann gebe ich mein Kind in Ihre Hand , damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen heranziehen helfen , sie Menschenlehrer . "
" Hätten Sie das Vertrauen zu mir ?
Ein so festes ?
Einen ganz festen Glauben an mich ?
Ich danke Ihnen , Warwara . "
" Ja .
Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu .
Unter der einen Bedingung : daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben . "
" Mit anderen Worten : keine Kraft zur Pflichttreue . "
" Das weiß ich nicht .
Ich glaube nur trotz allem , daß Sie im Grunde Gemütsmensch sind .
Und das heißt doch nur : sehr lieben können - Menschen oder Ideen , - und da wo man sehr liebt , sich rückhaltlos verschenken können .
Hingegen all das andere , was Sie bisweilen mit solchem Selbsvertrauen zu behaupten pflegen , - all die Sicherheit und Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle , - nein , - daran glaube ich auch für Sie nicht . "
" Sie sind eine große Philosophin geworden , " bemerkte er halblaut .
" Wie ?
Sie geben mir es zu ? " fragte sie überrascht .
" Welch ein fremder guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen ?
Aber es ist wahr , warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen , wie abhängig wir alle vom Glück sind , - wir armen Weltkinder alle ?
Von dem fruchtbaren Erdfleckchen , worauf auch für uns noch ein ganzes Glück , eine ganze Liebe und - dadurch allein ! -
auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit wachsen kann . "
" Und wenn wir dies Erdfleckchen , gerade dies , nicht bebauen dürfen ? "
" Dann verdorren wir , - oder wir verschleudern uns .
Wenigstens ich .
Und Sie auch . "
Ein Diener erschien in der Portierentür und bat zur Tafel .
Warwara stand auf .
" Geben Sie mir den Arm .
So ernst ?
Ich habe Sie doch nicht verletzt ? "
" Nein .
Sie haben ganz recht .
Hatten recht , als Sie einmal vor langer - sehr langer Zeit zu mir sagten :
, Wir haben eine gemeinsame Versuchung . ' Es erkennen , heißt hart werden - gegen alles , was uns hindert , uns fruchtbar auszuleben . "
- Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch .
Jonas fand : einander gegenüber , das sei zu feierlich .
Es macht ihm Spaß , dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen , von allem das Beste .
Er war bemüht , sie zu unterhalten .
Klare-Bel hörte nicht recht hin , ihre Blicke hingen an einem Brief , den Jonas mitgebracht hatte .
Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der Stadtwohnung dort eingelaufen .
Von Ruth .
Ganz außer der Zeit .
Klare-Bel konnte eine schwache , törichte Hoffnung nicht unterdrücken , die mitten in Jonas ' harmloses Geplauder hineinredete .
Als Erik bald nach dem Abende zu Hause eintraf , bemerkte er sofort den Brief , der für ihn bereit lag .
Sein Blick streifte Jonas , - flüchtig nur , - aber Jonas stand sofort auf , um hinauszugehn .
Der Vater wußte doch ganz gut , wie schwer ihm das fiel , - aber er sollte ihm nicht noch einmal , wie in jener Nacht vor Ruths Abreise , Mangel an Selbstbeherrschung vorwerfen .
Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind , - auf den Wink ; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer :
er führte ihn ja doch den Weg zu Ruth .
Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik , während er den Brief erbrach .
Eine einzige Sekunde , - die Seite umgerissen , - eine zweite , blitzschnell , - und er ballte das Papier in der Hand .
Er war grau im Gesicht .
" Erik ! was ist es ? -
etwas Schlimmes , - für dich Schlimmes , -
Erik ! "
Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen .
Er entfaltete das Papier wieder , nur die Hand ballte er .
Vor seinen Gedanken schwirrten vier Worte :
" Ich habe ihn lieb , " und am Schluß etwas wie " den Kuß gab ich ihm , " - mehr hatte er nicht gelesen .
Er bis die Zähne aufeinander .
Das zu lesen , jetzt , vor den Augen seiner Frau - Er las es , aufrecht stehend , hell beleuchtet , vor der Lampe .
" Am Schloßberg .
Dienstag .
Ich soll Ihnen von Jurii schreiben , sagt Frau Römer .
Ob ich ihn lieb habe .
Ich habe ihn lieb .
Und ich soll alles so erzählen , wie es gewesen ist .
Es ist so gewesen :
Um den Schloßberg stürmte und regnete es .
Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen , weil ich mit Husten zu Bett gelegen hatte .
Ich ging aber doch hin , um mir ein Buch für meine Arbeit zu holen .
Unten fand ich Jurii , und er brachte mich nach Hause .
Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken .
Es war aber sehr glatt , und Jurii mußte immer nur achtgeben , daß ich nicht mit den Galoschen ins Rutschen kam .
Da sagte Jurii zu mir :
, Ich liebe Sie .
Ich liebe Sie so sehr .
Werden Sie , bitte , meine Frau . ' Das sagte er aber russisch , und darüber fing ich an zu lachen , denn wir sprechen ja immer deutlich .
Da sagte er noch :
, Ich weiß jetzt , daß Sie mich nicht wiederlieben .
Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt .
Sterben möchte ich . ' Darüber daß er sterben wollte , wurde ich ganz traurig , und er wurde es auch .
Wir achteten nicht mehr auf den Schirm und auf die Galoschen , ich verlor einen , und der Regen lief uns in den Rücken .
Frau Römer schalt sehr , als wir pudelnaß ankamen , steckte mich ins Bett ung kochte heißen Tee .
Ich lag und weinte , denn ich wußte nicht , wie ich es anfangen sollte , damit wir wieder vergnügt sein könnten .
An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan , und da lag jemand und tat dasselbe .
Frau Römer kam herein und horchte , ob nebenan auch jemand weinte , und lächelte etwas und sagte , wir wären rechte Kinder .
Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein Haar zurück ( das tut sie gerade so wie Sie ) und fragte : ob ich Jurii denn nicht ein wenig lieb hätte .
Ich sagte : , Ja ' .
Da sagte sie :
, Ich meine es anders .
Denke einmal nach , was dir das Schönste auf der ganzen Welt ist ? gehört Jurii dazu ? ' ich dachte nach und sagte , das Schönste auf der ganzen Welt sei ja , daß ichIhr Kind sei .
Darauf sagte sie :
, Vielleicht jetzt noch .
Aber kannst du dir denn nicht denken , daß es später noch viel , viel schöner wäre , einem anderen zuliebe Braut zu sein ? ' Das konnte ich mir nicht denken .
Da fragte sie nichts mehr .
Sie küßte mich und ging fort .
Heute ist Jurii fortgereist .
Er will nicht mehr hier studieren .
Ich stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchen öpfchen , die ich im Febrauar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe .
Ich schnitt die aufgeblühten ab für Frau Römers Glas , damit sie wieder gut sein sollte .
Da kam Jurii in mein Zimmer .
Er wollte die Blumen haben und einen Kuß .
Er sah so blaß und verweint aus .
Ich gab ihm die Blumen .
Und den Kuß gab ich ihm auch .
So ist es gewesen .
Ruth . "
Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewandt .
Sein Gesicht verriet alles , was im Brief stand .
Allzu deutlich verriet es , daß sein Schreck grundlos gewesen war .
Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem , was Ruth tat oder unterließ , - das war gräßlich .
Das wollte sie nicht sehen .
Sie hatte gemeint , das Schwerste sei gestern über sie gekommen .
Aber nicht , es zu wissen , war das Schwerste , - nein , es mit wissenden Augen zu beobachten , täglich , stündlich , es bestätigt zu finden in solchen kleinen Vorgängen .
Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen , - das war schwerer .
Nicht nur schwerer , - unmöglich war es .
Und dann , - wenn Ruth einen anderen abwies , - dann liebte wohl auch sie Erik .
Und wenn sie ihn liebte , - dann erst war er für Bel verloren .
Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten - für bel , auf Ruths Glück nie .
Nicht , wenn er sie wirklich liebte .
Wo die stärkere Liebe blüht , da wächst auch das stärkere Pflichtgefühlt :
da sorgt man nur noch um das Glück des anderen .
So empfand Klare-Bel .
Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück .
Gone hatte es ihr auf ihr Zimmer bringen müssen .
Erik suchte sie sofort auf .
Er war schon in aller Frühe aufgestanden und hatte , nach mehreren vergeblichen Versuchen , Ruth geschrieben .
Aber diesmal gelang es ihm schlecht , - ein gequälter Ton klang durch .
Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl , eine Felldecke über den Knien .
Sie sah nicht krank aus .
Vielmehr klar und gesammelt .
" Du bist doch nicht leidend ? " fragte er dennoch , mit ehrlicher Sorge .
" Ich bin nicht leidend , Erik .
Aber ich mußte dich bei mir haben .
Allein , - ganz allein , - ohne Jonas . "
Und sie umfaßte sein Hand mit ihren beiden Händen .
" Um dich zu bitten : laß mich jetzt abreisen !
Jetzt schon .
Es sollte ja doch bald sein .
Laß es jetzt sein ! "
Er schwieg einen Augenblick .
Diese Bitte war beredt .
" Wenn du es durchaus willst , Bel .
Dann soll es beeilt werden .
Ich will jede Sorge dafür tragen .
Ich bin jetzt gebunden .
Aber Jonas soll dich hinbringen . "
" Ach nein , Erik !
Laß mich allein hin .
Nicht mit Jonas .
Gone genügt .
Ich bitte dich so sehr darum .
Mit Jonas bin ich nicht allein .
Er hat so feine Augen .
Vor ihm will ich nicht - "
Sie brach ab , aber der einzige Stolz , den sie besaß , ihr Mutterstolz , schrie in ihr :
" Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen , in meinem Elend ! "
" Nun gut .
Auch das .
Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen .
Darauf bestehe ich , Bel. "
" Ich danke dir .
Und nun muß ich dir noch das andere sagen , Erik . "
" Was denn ? "
Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans Finster .
Sie sprach so klar und so ruhig bewußt .
Er kannte seine Bel vollkommen , - jede leiseste Regung in ihr kannte er , - und beeinflußte er .
Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes , ihm Entrücktes aus , - etwas Fremdes .
Er fühlte es , ohne sich es noch erklären zu können , wie einen Druck auf die Nerven .
Ein ganz seltsames Gefühl : als sei noch ein Dritter im Zimmer .
" Ich will es nur lieber schnell heraussagen , Erik .
Das andere ist , daß auch du verreisen sollst , - so bald als möglich .
Nicht erst zum Sommer , um mich abzuholen .
Bald , - eher , - in den Ostertagen .
Wo du zwei Wochen Zeit hast .
Um sie wiederzusehen .
Um dich zu überzeugen , ob wohl auch sie - - . Ganz gewiß , das mußt du tun .
Denn sonst bist du zeitlebens unglücklich , Erik .
Und das , - siehst du , - das könnt ich ja nicht aushalten . "
Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen .
Dunkelrot bis über die Stirn .
Er warf den Kopf zurück gegen die Fensterscheibe .
Das war es : eine neue Stütze besaß sie , die sie selbständig gehen und handeln lehrte !
Einen neuen Herrn : schon handelte sie auf sein Geheiß !
Wie hatte er nur an Kampf denken können - mit Bel !
Kampf ?
Nein , ausrauben , ausplündern wollte er sie !
Aber sie ließ es nicht zu :
sie beschenkte ihren Räuber , - freiwillig , überreich beschenkte sie ihn :
" Nimm , du Armer , vom Glück Abhängiger , - ich kann_es entbehren , bin die Stärkere , - ich kann entsagen , - du - nicht . "
Und glühend brannte in ihm die Scham empor , - glühende Scham , - und Auflehnung als einzige Antwort :
" Tausendmal lieber ein Räuber als ein Beschenkter ! "
Klare-Bel sah den Schweigenden , Wortlosen nicht an .
So ganz ergriffen und benommen war sie von dem Schweren , was sie vorhatte , daß ihn ihre Blicke nicht suchten , nicht befragten , wie sonst wohl .
" Heute Nacht lag ich immer und dachte :
wenn es anders möglich wäre !
Aber das ist es ja : es ist nicht möglich .
Du kannst nicht aufhören , an sie zu denken , und ich , - wie sollte ich - wie sollte ich nicht anfangen , sie zu hassen ?
Und so versündigen wir uns aneinander , Erik .
Das soll nicht sein .
Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns .
Es kann traurig werden , - sterbenstraurig .
Aber nicht häßlich .
Das soll es nicht .
Ich ertrüg es nicht . "
Ein halber Laut entfuhr ihm .
Sie , - was wußte sie wohl von " Haß " .
Von Häßlichem .
Nein , nichts !
Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen Staunen : in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich , nicht bitter und ungerecht , im Kampf und Zweifel , im Aufruhr und Schwanken der Seele .
Sie dachte nichts Häßliches .
" Und nund habe ich auch verstanden , - heute Nacht , - warum ich gesund geworden bin , " sagte Bel leiser , als er noch immer schwieg , " und warum wir doch dessen nicht froh werden konnten .
Nicht froh , obgleich ich auf meinen Füßen stehen und gehen konnte .
Gott sprach darin zu mir : , Gehe ! ' "
" Bel ! " stieß er gequält heraus .
Diese religiöse Exaltation war ihm entsetzlich .
Aber Klare-Bel sagte ruhig , beinahe freundlich : " Ja , Erik .
Und ich gehe .
Gott selbst wollte es so .
Er wollte es .
Aber Jonas mußt du mir später lassen .
Bei mir lassen .
Jonas gehört mir mehr als dir . "
Höchstes und Alltägliches ging durcheinandern .
Erik fand : nun redete sie von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug ; " dies ist mehr mein , - dies mehr dein . "
Er trat an ihr Bett .
" Höre mich jetzt an , Bel. Du fassest keinen Entschluß - über nichts , - ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe .
Offen .
Offener als bisher .
Denn du weißt nicht alles . "
" Ach Erik , - sage nichts !
Es ist schrekclich , es zu hören ! - Nichts , - nein !
Nur eins - hätte ich von dir erbeten ! "
Er ergriff die Hände , die sie gegen ihn vorstreckte , und hielt sie sanft fest .
" Es muß sein , Bel. Du muß mich hören . "
" Warte noch .
Bitte , nicht !
Erik , - sage mir nur erst : - hast du - ihr schon geschrieben ? "
" Ja , " versetzte er erstaunt .
" Ich meine - den anderen Brief ? "
" Ja , - auch den anderen . "
" Und du hast ihn vernichtet .
Nicht wahr , - das hast du doch ? "
In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht .
Unwillkürlich griff er an die Tasche seiner Joppe .
Er knisterte leise unter seinen Fingern .
" Erik ! -
das ist das einzige , - was ich von dir erbitten wollte . "
Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne zerknitterte Papier , - wieder stieg ihm eine Blutwelle ins Gesicht , - wieder die Röte der Scham , einer feinen , empfindlichen Scham .
Nein , - nur das nicht !
Das konnte er nicht !
Vor Bels Augen das Innerste , Geheimste bloßlegen , - sein Heiligstes und sein Unheiligstes , - den Aufruhr der wildesten Stunde , - die Andacht der stillsten - .
Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so .
Sie hatte recht , - tausendmal hatte sie ein Recht darauf !
Und was sie daraus erfuhr , war , was sie erfahren mußte , - sich zu erfahren scheute .
Und wenn es mehr war , als sein Bekenntnis hätte aussprechen können , - wenn er selbst es war mit allem , was in ihm tobte , gärte , schluchzte , kämpfte , - mit allem Häßlichen auch , und dem Aufschrei nach Glück , - dann war es gut so .
Vor seinen Worten scheute sie sich , - vor der endgültigen Klarheit : und in dieses Dunkel griff sie verlangend , - vermessen .
Wer ergründet wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier !
Er reicht ihr das zerdrückte Blatt , - zusammengeballt war es zu einer Kugel .
" Du hast es gewollt . "
Dann verließ er sie .
Nebenan in Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt .
Jonas hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen .
Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere .
" Nicht entsagen ! " war sein einziger deutlicher Gedanke .
" Nicht entsagen ! nicht in der Versuchung des Mitleides , - nicht in der schlimmeren : der Versuchung der Scham . "
Ihm war , als handle sich es gar nicht um einen einzelnen Menschen , noch weniger um ein Weib , - nein , um alles , was Mensch hieß , was ihm Mensch sein konnte , - um alles , was er noch berühren konnte , schaffend , wirkend , liebend , - - um sein eigenes Menschsein .
Es konzentrierte sich jetzt in diesen zwei kindlichen , gläubigen Augen , die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten .
Entsagen hieß in die Wüste gehen - nicht nur mit seiner Liebe , - auch mit seiner Tatkraft , - mit seiner Kraft überhaupt , - ins Unfruchtbare , in die tote Einsamkeit .
Gab es eine Kraft auch für die Wüste ?
Die in solcher Einsamkeit standhielt ?
Ja in ihr vielleicht erst erstand ?
Die nicht mehr eines anderen bedurfte , um startk und schön zu bleiben , - keiner Augen , die da glaubten und warteten und an sie appellierten ?
Ja , vielleicht ! für Reflexionsmenschen , die sich selber über die Schulter gucken , sich in sich selbst bespieglen - spottend oder genießend !
Oder für Gefühlsmenschen , die in ihren eigenen Erregungen sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen , - auch sie ihr eigenes Publikum !
Kapitel Aber nicht für solche , die in sich selber unteilbar eins sind und daher auch hilflos in sich selber , - wenn sie sich nicht dadurch helfen können , daß sie handeln , aus sich heraus wirken - und sich selbst erkennen , widergespiegelt im Auge eines anderen .
Aber Bel ?
Warum konnte sie entsagen ? sie , die weder in Reflexionen noch in Gefühlen schwelgte , sie , die vielmehr naiv und nüchtern war und keineswegs ihr eigenes Publikum ?
Aber so ging es auch : mit dem großen suggerierten Zuschauer , - mit dem da oben , der sah alles .
Auch sie hatte ihren Spiegel , für den sie sich schön erhalten mußte , - das Gottesauge , den blauen Himmelspiegel !
Ein schwacher Laut , wie ein Stammeln oder Stöhnen , drang aus Klare-Bels kleinem Nebengemach .
Es war , als wollte sie Erik in seinen bitteren Gedanken unterbrechen - widerlegen .
Er trat zur offenen Tür .
Bel hatte den Brief von sich geworfen , weit fort , auf den unteren Rand der Felldecke .
Sie lag da , das Antlitz glutrot in den Händen vergraben .
" Lieber Gott ! " betete sie , " großer , harmherziger Gott , der du im Himmel bist und in die Herzen der Menschen hineinsiehst : nimm mir meine Liebe aus mienem Herzen ! "
- ---------- Warwara war sehr überrascht , als sie am nächsten Tage Erik auf der Straße traf und von der unmittelbar bevorstehenden Abreise seiner Frau hörte .
Sie redete auf das lebhafteste zu , noch jene einzige Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu lassen .
Aber es fruchtete nichts .
Schon den folgenden Morgen konnte sie der Fortfahrenden , der sie baldigen Besuch im Bade versprach , einen mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken .
Warwara war außer Erik die einzige , die Mutter und Sohn das Geleit gab , und sie fand , daß sich die Gatten nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten .
Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete sich Erik nur kurz und hastig von ihr .
Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause .
Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen .
Sie glaubte ihn eigentlich als Mann in seinem eigenen Heim befriedigt , aber als Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt .
Und wenn sie , scherzend oder ernst , von " Versuchungen " für ihn sprach , so meinte sie damit gelegentliche Versuche , die hungernde Tatkraft durch Naschereien und Tändeleien zu betäuben .
War jetzt so etwas im Spiel ?
Jetzt , wo Erik so völlig zurückgezogen lebte - schon seit einem Jahr ?
Wo er ganz aus der glänzenden , leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war , die ihn einst fesselte und die er gefesselt hatte ?
War eine Frau im Spiel ? -
Einige Tage später , an einem Sonntagvormittag , wollte Warwara eine notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen , um bei Erik vorzusprechen und zu erfahren , ob Jonas mit guten Nachrichten von der Grenze heimgekommen sei .
Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte sie darüber , sich nicht allein zu finden .
In der Ecke ihr gegenüber saß eine ganz junge Dame und blickte mit großen erwartungsvollen Augen zum Fenster hinaus .
Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse .
Wie immer , fielen ihr zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Äußerlichkeiten auf .
Ein zarter , schmächtiger Wuchs ; das eng anliegende dunkelblaue Tuchkleid mit offenem Jackenteil , auf tiefrotem englischem Flanell abgefüttert , zeigte nur hoch am Half einen kleinen weißen Linnenstreifen .
Ein schmaler Fuß guckte in ungeduldiger Bewegung unter dem Rock hervor .
Aschblondes Haar , von einer starken Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten , drängte sich um Stirn und Schläfen etwas kraus aus einem weichen Barett von dunkelblauem Samt hervor .
In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf , sie wußte nicht , an wen .
Eine junge Engländerin ?
So eindringlich blickte sie auf ihr Gegenüber , daß sich dieses ein wenig befremdet nach ihr umwandte .
Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend ihren Blick .
Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln .
Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur .
" Ruth ! " entfuhr es ihr .
Sie verbesserte sich sofort , lachend .
" Verzeihen Sie nur .
Die Zudringlichkeit erst und jetzt .
Aber ich suchte und suchte , und was ich fand , war , was mir im Gedächtnis geblieben ist .
Ihr Vorname . "
" Er genügt ja vollkommen , " sagte Ruth .
" Ich nehme an , wir haben einen Weg ? "
" Nein ! " versetzte Warwara mit raschem Takt , denn sie wollte nicht stören , " ich fahre nur zu einer Besichtigung meines reparaturbedürftigen Landhauses hinaus .
Aber unsere Freunde erwarten Sie ? "
Ruth errötete und schüttelte den Kopf .
" Nein , ich bin sehr - ganz unerwartet von Heidelberg abgereist , " entgegnete sie mit auffallender Befangenheit .
Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht .
" Das ist sie , - die , Versuchung ' , " dachte sie , " sehr jung , aber ich argwöhnte schon damals hinter ihren geübten Formen : sehr durchtrieben . "
" Da wird es Ihnen leid tun , eine Lücke zu finden , " bemerkte sie laut , " denn Sie wissen wohl noch gar nicht , daß Sie Klare-Bel nicht treffen ?
Sie ist schon abgereist . "
" Nein ! " rief Ruth betroffen , " das konnte ich ja noch nicht wissen !
Es hat doch keinen schlimmen Grund ?
Ja , das tut mir leid ! "
Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen , daß sich Warwara schämte .
" Sie wußte wirklich nichts davon , es war nicht verabredet , was bin ich für ein häßlicher Mensch ! " sagte sie zu sich und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth .
" Nein , kein schlimmer Grund .
Klare-Bel ist so gesund , wie man es nie hätte erwarten dürfen , und nun geht es stetig bergauf .
Im Anfang des Winters hat sie freilich noch viel aushalten müssen .
Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz :
, Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen , gesund werden zu wollen . ' Der Mann hat Eisen im Blut .
Aber es hat ihn gehörig geschüttelt .
Ich habe ihn ein paarmal gesehen : blaß wie ein Tuch . "
Ruth lauschte stumm , ihre Hände feschlangen sich in ihrem Schoß , die Lippen öffneten sich halb , die Augen sagten immer nur :
" Mehr ! "
Als Warwara schwieg , atmete sie tief auf .
" Er kann alles , was er will !
Und das wollte er so aus voller Seele , daß sie wieder gesund und glücklich sein sollte .
Er hat dafür gelebt .
Wie grenzenlos froh müssen sie jetzt sein !
Nun , wo er alles zum Guten geleitet hat !
Nun , wo es ist , wie er will : wo sie glücklich ist . "
Sie sprach hingerissen , ihre Augen blitzten .
Warwara betrachtete sie nachdenklich .
Sie kam ihr gar nicht mehr , wie damals , so formell abgeschliffen und gewandt vor , sondern im Gegenteil wie ein Wesen , an dem alles Innenleben , und nichts mehr Form ist .
Eine Seele , bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit , - - und Liebe ?
Dann könnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und Freude sprechen .
Keine Liebe ?
Dann könnte sie nicht mit diesem Blick und diesem Ton sprechen .
Der Zug hielt .
Sie stiegen aus .
Warwara bequemte sich dazu , eins der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu benutzen , die am Stationsgebäude bereit standen und deren Kutscher sie sofort umschrien .
Ruth hatte einen anderen Weg .
So trennten sie sich .
Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um .
" Es ist da etwas , was nicht ins Leben gehört , - Poesie .
Poesie im Konflikt mit dem Leben , - was ergibt das wohl ? " dachte sie ; - " es ist , wie wenn man die erste Seite eins Romans aufgeschlagen hätte , - o pfui , nein ! -
oder : die letzte eines Märchens . "
Ruth ging langsam hin zwischen den kahlen Birken am Wegrande , nicht in Hast , ein paar Minuten früher anzukommen .
Mit einem lauschenden Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein , als ob er in tausend Blüten um sie stünde .
Noch war er nicht da , man sah ihn nicht , - und doch war er da , in der Luft , in alles erfüllender unsichtbarer Gegenwart .
Man hörte ihn : in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang er von den blattlosen Zweigen .
Der Himmel hatte sich schwach bedeckt , die Sonne schien nur in verhaltenem Glanze nieder , -
Ton , Licht , Farbe wirkten gedämpft , verhüllt und wie eine Verheißung .
Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte .
Sie öffnete , durchschritt den Garten und stieg zaudernd , leise ein paar Stufen zur Terrasse hinauf .
Vorsichtig nach vorn gebeugt spähte sie von der Seite her in das breite Fenster des Wohnzimmers , ob jemand darin anwesend sei .
Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt , hinter den Tellern mit kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar .
Jonas saß allein am Kamin .
Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand , an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte , und ließ es an der roten Holzglut rösten .
Wie er so dasaß , einen Arm nachlässig um die Stuhllehne geschlungen , in wartender Haltung , den Kopf mit den etwas zu fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt , erinnerte er stark an Erik .
Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen , es glitt plötzlich von der Gabel und fiel hinein .
Jonas sah verdutzt aus .
Er wandte sich um und spießte ein neues auf ; diesmal gelang es besser .
Dann spülte er ein Teetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und machte einen Aufguß .
Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter den geöffneten Hahn des Samowars , und ein siedender Strahl verbrühte ihm die Hand .
Jonas machte den Mund weit auf und fing an , auf einem Bein im Zimmer zu tanzen .
Vom Fenster erklang helles Gelächter .
Er blieb stehen , wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm niedergefahren wäre .
Mit einem ungläubigen Ausdruck richteten sich seine Augen , als trauten sie sich selbst nicht , nach dem Fenster .
Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschloßenen Scheibe , das ihn auslachte und das wie Ruth aussah ; er wußte nicht , ob er Ruth träumte oder Ruth sah .
Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen , so daß es dabei fast in Splitter zersprungen wäre , und heraus streckten sich die Hände nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest .
" Aber Jonas ! laß mich nur erst zur Tür hineinkommen ! "
" Nein , - nicht ! " murmelte er , als könnte sie ihm doch noch wieder wie ein Traumbild plötzlich entschwinden , " nicht abwenden , ich lass dich nicht !
Zum Fenster herein !
Es muß gehen .
Setze den Fuß auf die Rampe , - ganz fest , - hörst du ?
Ich hebe dich . "
Sie sah ihn an : das da sagte er nun ganz so wie Erik .
Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt .
Mit einem Satz stand sie im Zimmer .
Er ließ sie los .
Er trat zurück .
Nun , wo sie vor ihm stand , nicht mehr hinter einer geschlossenen Scheibe , sanken ihm die Arme .
Eine grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich .
" Wie ist es nur möglich , daß du da bist , - von wo bist du nur gekommen ? "
Er starrte sie an , als wäre er überzeugt , daß sie vom Himmel gefallen sei .
" Mit dem Blitzzug .
Gestern abend . -
Und - dein Papa ? "
" Er müßte hier sein .
Aber jetzt vergißt er die Zeit .
Stundenlange Gänge macht er , allein , - seit Mamas Abreise . "
" O Jonas , - daß Mama gesund geworden ist , - nicht wahr ?
Ist es nicht wie ein Wunder , - immer noch ? "
" Ja .
Und jetzt werde ich auch Arzt .
Weißt du_es ?
Für den Fall , daß du später einmal krank wirst . "
Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen , übermütigen Augen .
" Hoffentlich werde ich später einmal krank . - -
Wie ist dir_es nur ergangen , Jonas ?
Du schriebst nie . "
Er sah rot und verwirrt aus .
" Nie ? Mir ?
Ja , ich mußte doch , - ich dachte ja , - - Du ! willst du nicht eine Tasse Tee haben ? "
" Nein , danke , " sagte sie lachend , " aber die Hauptsache ist : bald kommst du nach Heidelberg , nicht wahr ?
Wie herrlich , Jonas !
Da studieren wir zusammen . "
" Ja , " versetzte er tief aufatmend , "- endlich ! - bald ! endlich ! endlich zusammen !
Ja , - siehst du : lang wäre es so nicht mehr gegangen .
- - Hab gelebt wie im Grabe , " fuhr er mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit fort , "- muß in deiner Nähe sein , Ruth . -
Bei dir .
Ja , - du ! -
ich liebe ja nur dich .
Nur dich liebe ich , - - nimm mir es nicht übel , - aber ich liebe dich wirklich .
Kann ja nichts , habe nichts , bin nichts , - muß mich eben erst durchbeißen , - aber bei dir sein will ich wenigstens , - jedem die Faust zeigen , der es auch will , - der dir nahe kommen will !
Jedem !
Hüten soll er sich !
Niederschlagen jeden - - "
" Jonas !
Du rasest ! "
Sie war aufgesprungen , blaß vor Schreck .
Er kam zu sich , versuchte zu lächeln , einzulenken , - und plötzlich stürzte er vor ihr in die Knie , das Gesicht in den Falten ihres Kleides .
" Ach Ruth ! sei nicht böse !
Du weißt nicht , - es war ja so schrecklich für mich - all die Zeit , - so stumm in mich hineingewürgt alles .
Sieh mich an , sei nicht böse !
Nie wieder , - es kommt nie wieder , bis - .
Ich weiß , - ich darf noch nicht .
Aber einmal , - einmal mußt ich , - ich wäre erstickt sonst .
Ach , liebe Ruth !
Ich bin ja so grenzenlos unglücklich , bis - bis du mein - mein - geworden bist ! "
" Jonas ! " flüsterte sie , "- Jonas , ich bitte dich , - stehe auf , - laß mich los , - du bist wahnsinnig , Jonas !
Das kann ja nicht - "
Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest , den sie aus seinen Fingern lösen wollte , - er umklammerte ihre Hand , ihre Hüfte .
" Es kann nicht ?! " schrie er fast drohend , und als sie sich mit einer unerwarteten Bewegung freiwand , vergrub er wie besinnungslos seine Zähne in ihren Handrücken .
Dunkel drang das Blut hervor .
Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg .
Er stand langsam auf , zur Besinnung gekommen .
Er küßte ihre Hand .
" Verzeih mir ! " sagte er leise und brach hilflos in Tränen aus .
" Ruth ! -
hast du mich denn gar nicht lieb ?
Nicht ein kleines bißchen ?
Was - was sind wir uns denn ? was - in Zukunft ? "
Sie faßte ihn an beiden Schultern - angstvoll und liebevoll sah sie ihm ins verstörte Gesicht .
" Jonas !
Jetzt - und in Zukunft - und immer - Geschwister ! "
Er nahm ihre Hände von seinen Schultern , ging langsam die wenigen Schritte bis zur Tür , öffnete sie - und stürzte hinaus , über die Terrasse , die Stufen hinab , und verschwand im Garten .
Totenstill wurde es plötzlich im Hause .
Nur die Funken knisterten und lohten hell auf im Kamin .
Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer Hand .
Langsam errötete sie , immer tiefer , bis ihr das ganze Gesicht in Flammen stand .
Was tat sie hier - allein - im Hause , - ein Eindringling , - der Jonas hinausgetrieben hatte ?
Die Tür war weit offengeblieben .
Als sagte sie : " Gehe wieder ! "
Ruth sah sich um .
Nein , niemand sagte es .
Auch Klare-Bel nicht .
Nur ihr großer Stuhl stand da , mit einem hohen Schemel davor , - leer . - - - Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete , saß in der Tiefe des Gartens , den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen , Ruth auf der Bank unter den überhängenden Birken .
Erik blieb stehen , blickte schärfer hin und kam langsam näher .
Sie bewegte sich nicht .
Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht in den grauen Frühling hinein , so saß sie da , - in unsicheren Umrissen , - dann immer lebenswärmer , - immer beseelter vor seinen Augen , kein blasses Gedankenbild mehr .
Wirklichkeit .
Weich hob sich der blonde Kopf ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter , das die Sonne matt durchdrang in einem Schattenspiel von rosigvioletten Farben .
Ruth überfiel es lähmend wie eine Schwäche , je näher ihr Erik kam , je näher die Wirklichkeit sie umfing , die unsäglich ersehnte .
" Zu Hause ! jetzt erst : zu Hause ! " dachte sie wie im Traum , und ihre Hände hoben sich ihm entgegen .
Dies seltsam Stille , dies Unfähige zu jedem Ausbruch , jeder lauten Bewegung , hielt auch Erik davon zurück , - als fürchte er zu verscheuchen , was er endlich wieder so beredt , so wortlos beredt und überzeugend vor sich sah : Blick , Ausdruck , Gebärde .
Über Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen , schaukelte sich auf schwankendem Zweig und sang hell .
Als Erik vor der Bank stand , flatterte es erschrocken auf und flog davon .
Er hatte Ruths Hände ergriffen , er hielt sie fest in den seinen , er zog ihre Hände fest an sich .
" Liebe - Liebling ! " murmelte er , den Blick auf ihrem Gesicht .
" Ich - - der Brief , - er machte mir Angst , " sagte sie matt , " etwas Fremdes , - Zweifel war darin .
Ich mußte fort . "
Er hörte nur ihre Stimme , er mußte sie wieder hören .
" Mit dem Rotkehlchen - hergeflogen ? " fragte er .
Sie sah ihn an - etwas zaghaft , etwas übermütig .
" Durchgebrannt ,' sagte sie .
Er setzte sich neben sie , ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen .
" Von Römers ?! "
" Ich mußte .
Sie ließen mich nicht .
Römer half mir .
Aber sie - sie blieb unerbittlich .
Wie entsetzt war sie .
, Nur jetzt nicht ! ' sagte sie immer .
Da brannte ich durch .
Noch bei Nacht , - heimlich .
Telegraphierte unterwegs .
Ich mußte kommen .
- Durfte ich ? "
Sie fragte er schüchtern , um seine nachträgliche Erlaubnis bange , wie ein Kind .
Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knien gelegen , - aber das sagte sie nicht .
Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem Gesicht zurück .
Ganz wiedersehen mußte er sie .
" Ob du durftest ? - Heimkommen , - ja !
Bei Tag und bei Nacht , heimlich und offen .
Es war Zeit .
Zwei Wochen später wäre ich gekommen - zu dir .
Vergiß den Brief , - alle Briefe , - das Fremde , den Zweifel , - vergiß alles - alles .
Sei nur bei mir . "
Ja , da war es : das Gefühl der Geborgenheit , süß , zwingend , Heimatsgefühl , - nein , mehr als nur das , noch etwas anderes , - dies Unbedingte und Ausschließliche , was ihr keine Macht im Himmel und auf Erden gab : nur er ganz allein .
" Was hast du an der Hand ? verletzt ? laß es mich sehen , " bemerkte er und wollte das Taschentuch lösen .
Sie zuckte zurück .
" Tut es os weh ? "
" Nein .
Nichts .
Bitte nicht , " sagte sie hastig , und ein Schatten glitt über ihr Glück .
Erik stand auf .
" Komme hinein .
Komme , Liebling .
Zu Hause bist du erst in meinem Zimmer , - im alten Ledersessel , - nicht wahr ?
Und hier ist es noch zu kalt für dich , zu windig . "
Während sie auf das Haus zugingen , sagte Ruth :
" Unterwegs erfuhr ich durch einen Zufall von der beschleunigten Badereise .
Ist es nicht schlimm , daß sie noch in die Schulzeit fiel ? nicht in die Ferien ?
Mir tut es so leid , daß ich nicht mehr rechtzeitig - "
" Laß das , " unterbrach er sie halblaut , " - ich werde dir später alles erzählen , - später . "
Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm .
Etwas , was sie fremd berührte , klang aus seinem Ton .
Es war nur ein einzelner durchklingender Ton , aber er gehörte nicht zu Erik .
Er selbst kam ihr in diesem Augenblick fremd vor .
Er sah unverändert aus , - ganz so wie vorher , - bis auf den Blick .
Der Blick war verändert , unsicher .
Erik ließ sie unvermerkt einen Schritt vorausgehen .
Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg , folgten seine Augen aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt .
Sie war ziemlich stark gewachsen , gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper schon weiblicher entwickelt .
Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen , schmächtigen Formen ab .
Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug , störte ihn .
" Der Knoten nimmt dich mir fort , - den dulde ich nicht , " sagte er beim Eintreten in den Flur , und ehe sie es gewahr wurde , hatte er mit geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen .
In dichten lockigen Wellen fiel es über die Schultern , wie einst . "
" Ach nein , - nicht , - wo haben Sie die Nadel ? " fragte sie verdutzt und griff nach dem Rücken .
" In meiner Joppentasche . -
Aber wiederhole das noch einmal .
Nun ?
, Sie ? ' oder , Du ? ' Im Brief stand einmal , Du .
Nur einmal ?
Oder eigentlich - immer ? " fragte er leise .
Sie errötete verwirrt .
" Sie - - du - - ich - "
Die Hand noch in ihrem Haar , bog er sanft , unwiderstehlich , ihren Kopf zurück , so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm aufheben mußte .
Sie schloß unwillkürlich , erschauernd , die Augen und gab seiner Hand nach .
Leidenschaftlich , tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen .
" Mein - - - " flüsterte er .
Und er beugte sich , und sine Lippen küßten ihren bebenden Mund .
Ruth zuckte unmerklich .
Er gab sie sofort frei und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer .
" Hier wartet dein alter Platz auf dich , " sagte er und ging nach dem Fenster zu .
Aber sie war nicht gefolgt .
Dem Fenster gegenüber , am Ofen , blieb sie stehen , den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln gelehnt , die Hände auf dem Rücken verschränkt .
Ganz versonnen sah sie hinauf zur Zimmerdecke , mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht .
" Was ist dir ? " fragte er unruhig , "- Ruth ! -
was ist dir ? "
Es drängte ihn , sie in die Arme zu schließen , - sie wachzuküssen .
" Du liebst mich , - du liebst mich ja !
Du weißt es noch nicht , aber ich weiß es für dich !
Weiß es gewiß , - fühle es , sehe es , daß sie da ist , - daß deine Liebe , die Liebe des Weibes , da ist ! "
Aber er schwieg .
Ja , sie war da , - und doch konnte er nicht so handeln , nicht so sprechen , ohne sie zu verscheuchen .
Sie war da , - wie das Rotkehlchen auf dem schaukelnden Zweig , das aufflog bei seinem Nahen .
Sie war da , - aber greifen konnte er sie nicht .
Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus , dann setzte er sich in den alten Ledersessel am Fentser .
" Du bist also doch nicht heimgekommen , Ruth , " sagte er , " nicht ganz zurückgekommen zu mir .
Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir , - will mich nicht einlassen .
Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner Seele .
Nicht in alles .
Ich bin dir fremd geworden . "
Da löste sie sich vom Ofen und kam zu ihm , sie glitt nieder zu seinen Knien - ganz blaß .
" Ja , " sagte sie außer sich , "- fremd , - etwas , Fremdes , - ich kann es nicht verstehen , und es quält mich . "
" Was ist es ?
Sage mir es . "
" Ich kann nicht , " murmelte sie .
" Doch doch !
Du kannst .
Mußt es wieder lernen , - zu sprechen , oder auch nur zu stammeln , aus dem Innersten heraus , - noch aus dem Unklarsten , Unverstandensten - .
Es ist nur Scheu .
Überwinde sie . "
" Es ist , - im Kuß war es , " sagte sie leise .
" Hat es dich verletzt , - daß ich dich geküßt habe ? "
" Mich ?! verletzt ? mich ?! nein ! -
was liegt an mir ? "
"- Für mich - alles , Ruth . -
Aber warum quält dich es dann ? "
Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen .
"- Weil - es ist dasselbe , was im Brief war , nur in diesem einen , - als ob er gar nicht von Ihnen käme , - und dann : wie ich von Ihrer Frau sprach im Garten , - und dann : im Kuß , - da fühlte ich es ganz deutlich , das Fremde darin , und daß es - - "
" Daß es - ? "
" Daß es nicht sein soll , " flüsterte Ruth , " weil es ist , als ob nicht Sie es sind .
Ein Fremder .
Ein Schlechterer . "
Er antwortete nicht .
Als sie aufblickte , schüchtern , fragend , da hatte er die Augen geschlossen .
Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme :
" Du täuschest dich .
Es ist nichts Fremdes , - nichts Schlechtes .
Ich bin es selbst , - und in dir selbst ist es , - du erkennst es nur nicht - mit deinen Kinderaugen . "
Er strich ihr über das Haar hin und sah hinweg über sie , die den Kopf unter seiner Hand gebeugt hielt .
" Weißt du noch , - als du das erste Mal hier warst , - was wir da an dieser Stelle miteinander sprachen und was ich dir versprach ?
Ich wollte dich aus der Welt der Phantasie , wo du träumtest , in die Welt des wirklichen Lebens führen .
Daß ist damals geschehen , Ruth , und du bist das Kind nicht mehr , das träumt , sondern ein voll erwachender Mensch , der lebt , - lebt mit allen seinen jungen Kräften .
Aber weißt du , wodurch das gelang ? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe bestimmen und entwickeln können ?
Nur weil es einen einzigen Punkt gab , wohin sich alle vertriebenen Traumgeister , alle verstummten Märchen , alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten .
Dieser Punkt war dein Verhältnis zu mir .
Da ging dein Blick noch nicht auf die Wirklichkeit , sondern über jede Wirklichkeit weit hinaus auf alles , was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist .
Da lebtest und gehorchtest du nicht einem Menschen , sondern einem in deinem Inneren über alle Menschen emporgehobenen Bilde .
Aber diese ganze Traumschönheit , Ruth , worin dein Verhältnis zu mir noch steht , - sie ist doch nur eine glänzende , strahlende Form , eine kindliche Umhüllung , - nicht das Wesentliche daran .
In ihr schläft , wie in einem Märchen , die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet drauf , daß sie erwachen darf .
Erwachen aus dem Traum zum Leben , wie dein ganzes übriges Wesen . "
Er brach ab .
Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf , bemüht , seinen Worten genau zu folgen .
" Deine schönen Märchengeschichten , " fuhr er nach einer kurzen Pause fort , " habe ' ich dir zerschlagen müssen , wiel sie diene volles Leben aufhielten .
Das schmerzte nicht sehr , denn die saßen ja nur in deinem Kopf .
Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß , die mit deinem ganzen Herzen verwachsen ist , - und dir damit Schmerz zufüge , - wirst du dein Vertrauen behalten , Ruth , - deine Liebe - zu mir ? "
Sie versuchte aufzustehn , ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich .
Er hielt sie zurück .
" Höre mich , Ruth .
Wenn ich dir nun sagen würde : der Brief , daß der dir fremd klang , war , weil ich selbst in Zweifel und Zweispalt und Angst war ; - daß ich dich küßte , war , weil ich nach Glück durstig war und mein Glück nicht länger entbehren kann ; - daß ich es nicht ertrug , dich von meiner Frau sprechen zu hören , war , weil - ich keine Frau mehr habe , - weil sie sich von mir trennen wird . "
" Nein ! " sagte Ruth atemlos , " das würde ich nicht glauben .
Nicht glauben , auch wenn Sie es mir - - . Nie und nimmer kann das sein .
Kann nicht .
Denn sie - sie war ja so glücklich - bei Ihnen . "
" Sie !? " antwortete er schwer , "- ja , Ruth , - sie war es wohl - früher .
Nicht ihretwegen muß es sein .
Meinetwegen .
Deinetwegen . "
Ruth hatte sich langsam erhoben .
Auf ihrem Gesicht prägte sich ein grenzenloses Befremden aus , - Zweifel , Unglaube , ja Entsetzen prägten sich darauf aus .
Ihr war , als müsse sie nach einem Entfernten , - nach Erik rufen , - ihn zu ihrer Hilfe rufen gegen einen Unverstandenen , Unbekannten .
Aber er - er war es ja gerade , der da vor ihr stand- .
Erik sah den Wechsel in ihren Zügen , die Selbstbeherrschung veließ ihn .
Er fühlte nur noch Angst , - die Angst , sie zu verlieren .
" Ruth ! " rief er , " verzeih , daß du vor mir gekniet hast .
Ich will es tun vor dir .
Nur sei mein !
Nicht nur mein Kind mehr , - du bist kein Kind mehr , - ein Weib , - mein Weib ! "
In diesem Augenblick wurde die Tür vom Flur aus aufgerissen .
Jonas erschien auf der Schwelle .
Er trat nicht ein .
Er warf die Tür wieder ins Schloß .
Man hörte ihn sich entfernen .
" Jonas ! " murmelte Ruth halb bewußtlos , "- wir müssen , - er hat gehört , - wir müssen nach Jonas sehen . "
Während sie es sagte , ertönte ein dumpfer Fall .
Erik sprang auf .
Ruth war schon bei der Tür .
Sie öffnete sie .
Im Flur lag Jonas am Boden , - lang hingestreckt .
Mit dem Kopf war er im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen .
Über seine linke Schläfe träufelte Blut .
Ruth stieß die Mitteltür auf .
Sie half Erik , ihn in das anstoßende Zimmer auf sein Bett zu bringen .
In den nächsten Minuten sprachen sie kein Wort .
Sie waren stumm um ihn beschäftigt .
" Die Wunde ist gering , " sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut , - und dann , über ihn gebeugt .
" Er kommt zu sich . "
Ruth fuhr zusammen .
Sie trat vom Bett zurück , ihre Augen richteten sich auf Jonas mit einem Ausdruck von Grauen , daß er sie erkennen , - daß er sie sehen könnte .
Sie machte Erik ein stummes Zeichen und ging leise in sein Arbeitszimmer zurück .
Dort blieb sie verwirrt stehen .
Hier ?
Hier konnte sie noch weniger bleiben .
Wo denn ?
Nirgends konnte sie bleiben , - nirgends .
Im ganzen Hause nicht .
Sie mußte also fort .
Fort , ehe ' Erik kam .
Fort , ehe Jonas kam .
Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Tür zu , durch die sie soeben aus den Schlafzimmern eingetreten war .
Nein , - wohin ?
Dorthin durfte sie nicht !
Abschiednehmen ? von wem ?
Ohne Abschied mußte sie fort .
Heimlich .
Unbemerkt . -
Für immer ?
Sie trat in den Flur hinaus , - wie hinausgetrieben von ihren eigenen verwirrten Gedanken .
Dort blieb sie von neuem zaudernd stehen .
Auf dem Boden , wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war , sah man ein paar kleine hellrote Fleck .
Darüber , am Ständer , hing Eriks Mantel .
Der weite dunkle Reisemantel , den er damals trug , - als sie fort sollte - und er heimkehrte - und sie ihm an die Brust fiel - - Ruth stand und starrte den Mantel an .
Mit klopfendem Herzen und verhaltenem Atem .
Und plötzlich , da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit sich fort - wild , glühend , unerträglich , - das Trennungsweh .
Mit den Händen faßte sie in den Mantel , sie vergrub ihr Gesicht in seinen losen weichen Falten , mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen Duft in sich ein , der sie an Erik erinnerte , mit bebenden Lippen küßte sie den Saum .
Damals - wenn er ihr befohlen hätte , ihm zu folgen , wohin es sei , wozu es sei , - bis in den Tod , bis in das Verbrechen hinein , - hätte sie es nicht blind getan ?
Sie drückte die Zähne zusammen ; sie stöhnte , und ihr war , als müßte sie gleich laut schreien .
O Gott , auch jetzt , - wenn er ihr befohlen hätte , ihm zu folgen , wohin es sei , wozu es sei , - sie hätte es blind getan !
Blind gehorchend , - gegen allen Augenschein , gegen alles eigene Wissen und Verstehn !
Mit ihr durfte er tun , was er wollte .
Was ihr auch durch ihn geschehen mochte , - was lag an ihr ?
Er aber mußte für sie da oben bleiben , wo sie ihn gesehen hatte , - sein Leben und sein Haus mußten bleiben , was sie gewesen waren , - an ihm lag alles !
War es sonst noch Erik ?
Sie sah ihn vor sich wie in weiter Ferne , wie er im vergangenen Mai im Mittagssonnenschein dastand , lichtüberstrahlt , die kranke Frau in seinen starken Armen .
So hatte ihn Ruth zuerst mit ihr gesehen , - so ihn geliebt und angebetet , daß selbst das Mitleid darüber verflog .
" Du allzu leichte Last ! " scherzte er , und Klare-Bel lachte dazu und schlang vertrauend die Hände um seinen Nacken .
Aber nun - nun riß er ihr die Hände vom Nacken , und das glückliche vertrauende Lachen verstummte , - und sie , die sich an ihm festgehalten hatte , ließ er fallen , - er öffnete die Arme und ließ sie , die Hilflose , zu Boden fallen , - denn eine Last war sie , eine allzu schwere Last für seine Kraft .
Frei haben mußte er die Arme , die sich ausbreiteten nach Ruth . ---------- Ruth richtete sich auf , sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube .
Auf dem Schreibtisch lag ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter .
Sie beugte sich darüber und fing an zu schreiben .
" Ich muß fortgehen ! " schrie es in ihr .
Aber Eriks Bleistift formte die Buchstaben ganz anders .
So kam heraus :
" Ich gehe nicht fort .
Ich gehe und bleibe Ihr Kind . "
Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine fremde Schrift .
Das wollte sie also tun ?
Ja , das wollte sie .
Er hatte ja heute gesagt , das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen , in ihrer Einbildung , daß sie sich als sein Kind gefühlt habe , - so ganz als sein Kind .
Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden .
Wenn sie selbst es verwirklichte .
Es in ihrem ganzen künftigen Leben verwirklichte .
Wenn sie ganz das wurde , was er sie gelehrt , was er mit ihr gewollt hatte , als er sie zu sich nahm .
Ein Stück von ihm , ein Werk von ihm .
Sie hatte ja alles von ihm , - nur von ihm allein .
Sie kannte alle seine Gedanken , alle seine besten .
Die sollten lebendig werden , nicht nur geträumt : gelebt .
Von ihr für ihn .
Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl .
Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zumute , sondern elend und hilflos .
Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen : sich auf den Boden zu werfen und zu weinen .
Erik herbeizuweinen .
Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme , - seinen eindringlichen , kurz überredenden Ton : " Den eigenen Willen festhalten !
Haltung !
Sich selbst gehorchen , - hörst du ? "
Das war doch sonderbar .
Klarer , sicherer , wesenhafter denn je stand er bei ihr :
Erik gegen Erik .
Leise schlich sie sich aus dem Hause .
Unten erst , an der Gartenpforte , blieb sie stehen und blickte zurück .
Nein , dafür konnte er nichts , - Erik konnte nichts dafür , daß er anders war , und das Leben anders war , als sie es sich ausgedacht hatte .
Im wirklichen Leben gab es nun einmal gar nicht ihre Phantasiegeschichten .
Die mußte man erst hinzutun .
Und hatte sie alles das nicht nur geträumt , - das ganze verflossene Jahr ?
Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelgesang , da mochte es ihr wohl scheinen , als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai , wo sie bange und allein , arm und einsam , hier an der Pforte lehnte un dein den Garten sah .
Damals meinte sie : von hier ginge der Frühling aus , der ganze wurderschöne , der draußen blühte .
Und da träumte sie sich ein Märchen , das " allerschönste von allen " .
Ja , das allerschönste von allen .
So schön , daß sie es nie wieder vergessen konnte .
Nein , niemals .
So schön , daß sie es nie hergeben konnte für etwas anderes , was ihr das Leben bot .
Niemals .
So schön , daß es nichts mehr geben konnte , - im ganzen Leben nichts , - was sie nicht immer daran messen , immer damit vergleichen , - und zu gering befinden würde .
---------- Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus .
Ohne es selbst zu wissen , hob sie ihre Hand und strich leise , liebkosend über die kahlen harten Fliederzweige hin , die den Zaun in dichtem Buschwerk umwuchsen .
Dann ging sie , ohne sich noch einmal umzuwenden , mit gesenktem Kopf den Landweg zwischen den Birken zur Station zurück , und ihr langes loses Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde .
Erik stand noch bei Jonas am Bett .
Jonas hatte die Augen aufgeschlagen , den Vater neben sich erblickt , war zusammengezuckt und hatte von neuem die Augen geschlossen .
Kein Wort fiel zwischen ihnen .
Erik begriff nun den ganzen Zusammenhäng , begriff vieles , wofür ihm wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen , wenn er dafür Gedanken übrig gehabt hätte .
Der atemlose Fleiß von Jonas , seine Begierde nach Selbständigkeit , sei es auch im engsten Leben , - dieser Anstrich von Philistrosität , diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und Torheit wurden Erik jetzt verständlich .
Nicht Mangel an Temperament , an Jugendfeuer , war das gewesen , - sondern eiserne Ausdauer , Selbstbeherrschung .
Kinderei oder nicht , - es lag Kraft darin .
Er achtete seinen Jungen .
Aber der - - achtete ihn nicht .
Jetzt , in dieser Stunde , nicht .
Ein ganz neues Verhältnis zu seinem Sohn , ein ganz neuer Kampf erwartete jetzt Erik , und er mußte von nun an seine volle Kraft zusammennehmen , um darin zu siegen .
Ein leises Knarren der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken .
Bei dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck .
Er öffnete die Tür zu sienem Arbeitszimmer .
Ruth war nicht darin .
Er ging über den Flur ins Wohnzimmer .
Ruth war nicht da .
Erik stieg in den Garten hinunter .
Eine furchtbare Beklemmung drückte ihn die Brust zusammen .
" Ruth ! " reif er laut und erkannte seine eigene Stimme nicht .
Alles blieb still .
Es blieb still , wie weit er auch hineinging , bis an die Bank vor dem Gehölz .
Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang .
Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken : ganz regungslos saß es da , mit erhobenem Köpfchen , ganz selbstvergessen , - und sang und sang in den grauen Frühling hinein .
- Rechtsinhaber*in
- Bildungsroman Projekt
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Korpus. Ruth. Ruth. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0s9.0