Marie Anton Renard hatte es auf mehreren musikalischen Instrumenten zu einer seltenen Fertigkeit gebracht , und sich in verschiedenen Gegenden Deutschlands Ruhm erworben .
Er war mit großen Ansprüchen in die Welt getreten ; seine Talente schienen ihn dazu zu berechtigen ; aber ein feindseliges Geschick lastete auf ihm , wies seine Ansprüche zurück , und zerknickte seine schönsten Hoffnungen .
Mit seiner Jugend schwand sein Mut , im Kampf mit seinem Schicksal als Sieger da zu stehen ; sein einziges Ziel war Ruhe , und mit den Trümmern eines kleinen Vermögens , flüchtete er in die Dunkelheit eines Dörfchens , wo ein kleiner Maierhof ihm Unterhalt und Beschäftigung gab .
Bald dünkte es ihm als sei diese Lage ganz eigen für ihn gemacht ; er kannte keine andere Sorge , wie die Beschäftigung des Tags , keinen anderen Wechsel , als den der Jahreszeiten , den er mit der ganzen Natur zugleich empfand , keine andere Freude , als , die Früchte seiner Arbeit zu enden .
Seine Instrumente hatte er in einen öden Winkel seines Hauses verwiesen , wo er sie nur zuweilen , mit mitleidigem Lächeln , als die Monumente seiner ehemaligen Träume und großen Erwartungen betrachtete .
Die Briefe , die er in der ersten Zeit , noch von wenigen Bekannten erhalten , hatte er alle unbeantwortet gelassen ; und außer einigen wenigen Lieblingsbüchern alle Lektüre ganz aus seinem Leben verbannt .
" Was hilft das Lesen ? " sagte er zu seinem Nachbar und Freund , dem Prediger des Dorfs , dem einzigen aus höheren Ständen , mit dem er umzugehen pflegte , " eine einzige selbst gemachte Erfahrung wiegt ganze Bände von gedruckter auf , und eine beschriebene Empfindung kommt mir immer wie ein gemaltes Feuer vor .
Es ist eine sonderbare Eigenheit unseres Zeitalters , daß wir unsere Empfindungen so bald als möglich dem Verstand übergeben , sie , indem wir sie aufschreiben , gleichsam von unserem Wesen trennen , und nun auf dem Papier als fremdartige Erzeugnisse wieder genießen wollen .
Aber es ist gewiß , daß dadurch die Wärme , die uns im wirklichen tätigen Leben beseelt , und beseelen soll , viel dabei leidet , und daß wir selbst unserem Herzen seine Nahrung entziehen , um damit in einer fremden Form unseren Verstand oder unsere Eitelkeit zu beköstigen . "
- So hatte er sich selbst von der ganzen übrigen Welt geschieden ; er lebte bloß für die Gegenwart , und nur die Sorge für ein einziges Kind entlockte ihm zuweilen einen ängstlichen flüchtigen Gedanken an Welt und Zukunft .
Marie , seine Tochter , entfaltete sich lieblich im Schatten der Einsamkeit .
Das einzige Bestreben ihres Vaters ging dahin , ihre Körper- und Geistes-Kräfte im Gleichgewicht zu erhalten , ihr in allen Fällen des Lebens eine kühle schnelle Besonnenheit zu verschaffen , ihr Gemüt für ein tätiges , aber einfaches Leben zu stimmen , und wo möglich alles Blendwerk der Phantasie und des Gefühls auf ewig von ihr zu entfernen .
So verbarg er , als sie älter wurde , selbst seine Instrumente , die er jedoch , wie ein verlassener Liebhaber das Bild der Geliebten , immer aufbewahrte , und in dem besten Zustande erhielt , mit noch größerer Sorgfalt wie bisher , damit nicht vielleicht durch sie , irgend ein schlummernder Trieb in ihrem Herzen geweckt werden möchte .
" Talente " , sagte er , " geben Ansprüche an die Welt , und mit diesen ist man fast immer unglücklich . "
Indessen bemerkte er , der nur durch allzu lebhafte , eigene Gefühle so misstrauisch gegen fremde Empfindungen war , und die Erfahrungen anderer nicht achtete , weil er die seinigen allzu teuer erkauft hatte , Anton bemerkte es nicht , daß er Marie denken lehrte , indem er ihr bewies , daß denken schädlich sei , und daß sie fühlen lernte , indem er sie gefühlvoll vor den Gefahren eines fühlbaren Herzens warnte .
Doch günstige Umstände übernahmen , was er wohl schwerlich ausgeführt hätte .
Gesunde Luft , freie Bewegung , schöne Natur , und innerer und äußerer Friede , bildeten an Marie , und erzogen sie zu einem heiteren mit sich selbst harmonischen Geschöpf .
Ihr Leben war ein klarer Bach , über den sich säuselnd , wie blühende Zweige , die sanften Ahnungen der Jugend herüber bogen , und sich darinnen spiegelten .
Bäume , Blumen , Vögel und Lüfte waren die Gespielen ihrer Freude , und vertraten die Stelle der Lektüre , des Unterrichts , des geselligen Umgangs .
Ihre Phantasie , durch Einsamkeit und Natur geweckt , umflatterte mit leisen Schwingen die Wirklichkeit ; jugendlich froh , und leicht wie sie war , strebte sie , diese immer mehr zu verschönern , und natürlich , daß durch dies Bestreben auch das Gleichgültigste um sie her , ein heiteres idyllisches Ansehen gewann .
Doch kamen auch Stunden , wo sie nicht ganz glücklich war .
Marie hatte von der Natur jene Zartheit des Gefühls empfangen , die sich gern und leicht zu einer höheren Bildung empor hebt ; und daß kein günstiger Hauch der Umstände diese Blüte entfalten wollte , war der einzige Schmerz , den sie , ohne seinen Grund zu kennen , in gewissen Momenten empfand .
Wenn sie auf ihren einsamen Spaziergängen nach der Ferne hinsah , wo ein blaues Gewölk die Welt verschloß , war ihr oft , als rief ein geheimer Zug sie dahin .
Das Spiel des Lebens und des Herzens rauschte wie eine ferne Musik vor ihrer Seele vorüber , und eine dunkle Ahnung vor den Entwicklungen und Äußerungen der Gefühle , die sie jetzt noch ungeübt und unzerteilt in sich verschloß , ergriff ihr innerstes Wesen .
Marie war siebzehn Jahr alt geworden , und alle Einwohner des Dorfs bekannten einmütig : Sie sei die Krone aller schönen Mädchen ihres Orts - für sie die Welt .
An einem lauen Abend ging sie mit ihrem Vater durch die wogenden Kornfelder , wo sie nach vollbrachter Arbeit den Lohn ihres Fleißes in froher Ansicht des reifenden Segens genossen , und heiter der nächtlichen Ruhe entgegen träumten , als ein ängstliches Rufen ihre Aufmerksamkeit erregte , und sie bald darauf ein paar scheu gewordene Pferde , mit dem Vorderteil eines Wagens quer durch das Feld laufen sahen .
Sie eilten nach der Stelle hin , woher sie sie hatten kommen sehen , und fanden nicht weit davon mit den Trümmern eines Wagens einen jungen Mann um ein Frauenzimmer ängstlich beschäftigt .
Mitleidig traten sie näher und boten teilnehmend ihre Hilfe an , die auch mit Freuden angenommen wurde .
Die Dame hatte sich beim Umwerfen den Arm stark beschädigt , auch einige leichte Wunden am Kopf , und schien viel zu leiden .
Sie brachten sie so sanft als möglich , nach Antons Haus , wo die heilsamen Umschläge , die er anordnete , und Maries sorgsame Pflege ihre Schmerzen bald linderten .
Antonie von Lauben , so nannte sich die Fremde , reiste aus der Stadt nach einem noch ziemlich fern gelegenen Landgute hin , das eine ihr bekannte Familie bewohnte .
Sie wäre gern so bald als möglich weiter gereist , da aber ihr Wagen nicht so geschwind wieder hergestellt werden konnte , und ihr Bedienter noch stärker als sie beschädigt worden war , so sah sie sich genötigt , noch einige Tage bei ihren freundlichen Wirten zu verweilen .
Antonie zeigte in ihrem Ansehen , ihrer Kleidung und ihrem Betragen alle Reize der höheren Stände ; eine schöne hohe Gestalt , ein liebliches Kolorit und ein leichtes gebildetes Wesen machten sie in hohem Grade liebenswürdig .
- Ihre Erscheinung versetzte Marie ganz außer sich selbst ; sie konnte sich an Antonien nicht satt sehen , ihre Gestalt , ihr Ton , ihr Betragen erweckten ganz neue Bilder in ihr ; es war das erste gebildete Wesen , das sich auf ihrem Wege fand , und sie zweifelte nicht , daß es das vollkommenste sei , was sich denken ließ .
Antonie begegnete ihr mit bezaubernder Huld ; Maries Unerfahrenheit , ihre Offenheit , ihre Wünsche verbreiteten ein freundliches Licht auf ihre eigenen Vorzüge , und das angenehme Gefühl von Überlegenheit trug nicht wenig dazu bei , sie recht herzlich für Marie einzunehmen .
Marie hing an jedem ihrer Blicke ; die Kenntnisse , welche Antonie im Gespräch zeigte , die Gemälde aus der Welt , womit sie sie unterhielt , die Sicherheit , mit der sie von Vielem sprach , was sie selbst kaum verworren zu denken wagte , alles schien ihr unerreichbar , und doch so leicht !
Ganz andere Eindrücke , ganz andere Rührungen bewegten indes das Herz des alten Renards .
Ein längeres Beisammensein hatte auch die Verhältnisse des jungen Mannes näher enthüllt ; und er stellte sich als ein junger Virtuose dar , der als ein älterer Bekannter des Fräuleins , teils zu ihrer Bedeckung mitgereist war , teils um durch seine Kunst die adlige Familie , wohin sie reisten , zu unterhalten .
Brandem , so nannte er sich , hatte ein bedeutendes , scharfgezeichnetes Gesicht ; er war mehr interessant , als liebenswürdig , mehr für das Herz als für die Phantasie ; er zeigte Künstlerwärme , und Künstlerstolz in seinem etwas düsterem Blick , und Begeisterung und drückende Kälte in seinem Gespräch , je nachdem eine der verwandten Saiten in seiner Brust , die eben nicht allzu flach lagen , berührt worden war .
Menschen dieser Art wirken durch die ersten Eindrücke mehr auf die Menschenkenner , als auf junge bewegliche Herzen , die den schönen Schein mehr achten , als alles andere , und erst durch Spiele zu einer würdigeren Beschäftigung geweiht sein wollen .
Auch hatte er Maries Aufmerksamkeit im geringsten nicht erregt , so sehr sie dagegen die seinige gespannt hatte .
Ihre Jugend , ihre Anmut , ihre gänzliche Unbefangenheit erquickten ihn , wie der Anblick eines schönen , ganz rein gestimmten Instruments , worauf der Künstler die süßesten Harmonien seiner eigenen Seele verschönert wieder zu vernehmen hofft .
Anton fühlte sein Herz , das seit langer Zeit gegen alle fremde Eindrücke verschlossen geblieben war , auf eine wunderbare Weise , eröffnet und erwärmt .
Das Bild seiner eigenen Jugend mit allen ihren fröhlichen Hoffnungen und Ansichten , trat wie ein Rosengewölk vor seine Seele , und zog ihn mit süßer Gewalt an die Brust des jungen Künstlers hin .
Bald waren die Berührungspunkte gefunden , die verwandten Ideen begegneten sich , und der Strom der Sympathie wallte frei durch die geöffneten Herzen .
Anton , der bis jetzt , vielleicht nur aus Mangel der Gelegenheit , sein Mißtrauen so hartnäckig behauptet hatte , glaubte in dem bestimmten , düstern Blick , dem ernsten , gesetzten Wesen seines jungen Geistes hinlängliche Rechtfertigung für seine Offenheit zu finden ; und als dieser bei dem gehabten Unfall nichts so sehr beklagte , als den Verlust einer schönen Viole d' Amour , die durch das Umwerfen des Wagens zerbrochen war , konnte er sich in der Freude seines Herzens nicht enthalten , nach einigen kleinen Bedenklichkeiten , zu der geheimnisvollen Kiste zu gehen , und aus seinem versteckten Schatze ein ähnliches Instrument hervor zu holen .
Brandem war entzückt , und spielte schöner , als je , so daß er beinahe seinen eigenen Beifall errang , das seltenste und liebste , was ihm begegnen konnte .
Als er geendigt hatte , fragte er Antonien , ob sie ein Duett mit ihm singen wollte ?
Sie willigte ein , und beide sangen mit schönen biegsamen Stimmen und reinem , gefälligen Ausdrucke mehrere Duetts von Mozart und anderen vortrefflichen Meistern . -
Marie war in eine andere Welt versetzt .
Diese ersten harmonievollen Töne durchschauderten ihre Seele mit wunderbaren , nie gefühlten Anklängen , und die ersten Strahlen der Kunst weckten mit süßer Gewalt ihren schlummernden Bildungstrieb .
Sie war noch nie so unruhig , und nie so glücklich gewesen , als jetzt , und selbst Antoniens Gestalt ging mit allem ihrem bewunderten Liebreiz in diesen allmächtigen Taumel von neuen , großen Gefühlen und Ahnungen unter .
Indessen waren bei Antonien alle Hindernisse ihre Reise fortzusetzen , gehoben ; und Marie mußte sich von ihrer neuen Bekanntschaft , unter Strömen von Tränen verlassen sehen .
Antonie glaubte , die ihr erwiesenen Gefälligkeiten nicht besser belohnen zu können , als wenn sie mit der ihr eigenen Anmut , den alten Renard ersuchte , ihr , wenn sie in die Stadt zurückgekehrt sein würde , seine Tochter auf einige Zeit zu überlassen .
Anton versprach es , weil er unnötige Erklärungen haßte , aber es fiel ihm nicht ein , es halten zu wollen .
Der junge Künstler sagte ihm ein bedeutendes und zärtliches Lebewohl , und begnügte sich Marie durch ein paar ausdrucksvolle Blicke , deren Sinn sie nicht verstand , seine Gefühle zu gestehen .
- Marie fühlte sich nach dieser Trennung in den sonderbarsten Zustand versetzt .
Sie war so beschäftigt , und doch so leer .
Alles um sie her war Gesang und Melodie , aber nur schwermütige Töne , wie die Stimmung ihres Herzens sie angab , atmeten durch die Natur .
Das Bild der großen Welt war in ihrer Phantasie mit der gehörten Musik wunderbar verschmolzen und verknüpft .
Auf ihren einsamen Spaziergängen im Buchenwäldchen und durch die Saatfelder schwebte jetzt ihr bildender Sinn nicht mehr mit zahmem Flug um die einförmigen Szenen der Gegenwart ; wie ein dem Käfig entflohener Vogel war er unaufhaltbar in die Ferne geflogen , und suchte sich mit unermüdeter Emsigkeit die Nahrung , die sein Instinkt ihm anzuweisen schien .
Ihre gewohnten Beschäftigungen befriedigten sie nicht mehr , und leicht hätte sie sich damals einem Unmut hingeben können , der über ihr ganzes künftiges Leben vielleicht ein trübes Kolorit gehaucht haben würde , wenn nicht die Hoffnung , der Jugend holde Begleiterin , sich ihrer angenommen , und in dem Nebel des Künftigen fröhliche Gestalten hingezeichnet hätte .
Ihre liebste Aussicht war freilich , daß ihr Vater Antoniens Verlangen wohl noch nachgeben und die erwünschte Reise bewilligen möchte , aber außer dieser hatte sie auch noch eine andere nähere , die sie bei dem ersten günstigen Augenblick zu benutzen gedachte .
Anton hatte damals , als er seinem jungen Freund das Instrument geholt , in der freudigen Verwirrung seines Herzens nicht daran gedacht , das Dasein dieser verborgenen Schätze vor den Augen seiner Tochter so sorgfältig , wie bisher zu verbergen .
Marie hatte alles gesehen , sich alles genau gemerkt , und als ihr Vater ihr nachher keine befriedigende Auskunft darüber geben wollte , bei sich beschlossen , sich eigenmächtig in den Besitz dieses Geheimnisses zu setzen .
Der erste Tag , wo Anton durch seine Geschäfte vom Haus entfernt gehalten wurde , wurde dazu benutzt .
Alles glückte , und Marie flüchtete mit einer da gefundenen Laute in ein dichtes nicht fern gelegenes Gehölz , wo sie ahnungsvoll unbekannte selige Genüsse zu finden hoffte .
Hier suchte sie sich eine der romantischsten , einsamsten Stellen der Gegend aus .
An dem hohen etwas steilen Ufer eines lebendigen , klaren Gewässers streckte sich sanft ein kleiner bemooster Hügel hin , den eine Gruppe von dunklen Bäumen umgab , und vor neugierigen Blicken wie vor Sonnenstrahlen verbarg .
Ein dichtes Gebüsch , begrenzte an der einen Seite den schnell gewandten Fluß , und eine weite Aussicht auf der anderen verstattete der Einbildungskraft das freiste Spiel .
Der Fluß strömte heiter , als eilte er den Umarmungen einer Geliebten entgegen , dem Ufer zu , aber spröde , gefühllose Klippen stießen ihn zurück , und zürnend mit sanftem Geräusch wallte er seitwärts .
- Hier war es , wo sich Marie verbarg , wo ihre Finger zum erstenmal die Saiten durchirrten , und mit ungewißen Versuchen jene geliebten , ihr stets gegenwärtigen Töne nachzubilden strebten .
Nach einiger Bemühung gelang es ihr , eine unvollkommene Ähnlichkeit hervorzubringen , und sie vermählte bald die ungewißen Akzente ihrer biegsamen Stimme mit den Tönen der Laute .
Welche Wollust , welcher nie beschriebene Genuß lag in diesen Momenten ! - das erwachte , zum erstenmal sich übende Talent ahndete mit süßem Schauer sein eigenes Dasein ; seine kindliche Unerfahrenheit verbarg ihm die Grenzen der Kunst , und es betrat mit kühnem Schritt den Weg ins Unendliche ! -
Marie war nun glücklicher , obgleich nicht so zufrieden mehr , wie vormals .
Eine neue Welt blühte um sie her auf , aber eine Welt voll Erinnerung , Sehnsucht , Verlangen und Wehmut .
Alle ihre einsamen Stunden widmete sie nun den Versuchen , die sie immer mehr und mehr in das Feenland der Harmonie und der Gefühle hinein zauberten , bis endlich , da ihre Fortschritte merklicher wurden , sie ihre glücklichen Gefühle nicht mehr allein zu genießen vermochte .
Sie beschloß ihrem Vater ihre Schuld und ihre Freuden mitzuteilen , und stellte sich , als er an einem schönen Herbstabend , von seiner Arbeit ruhend , in der noch dicht belaubten Buchenlaube seines Gärtchens saß , in einiger Entfernung hinter dieselbe , wo sie mit bebender Hand , und lieblicher , aber bewegter Stimme ihre gelungenste Melodie vorzutragen begann .
- Antons Überraschung übersteigt allen Ausdruck , er eilte , sich durch seine Augen zu belehren , ob sein Gehör ihn täusche , oder nicht ; und als er Marie mit schüchternem aber sanft berauschtem Blick und milder Errötung , in ihrem Arm die Laute , sah , überflogen ihn seltsame Regungen .
Er wollte zürnen - aber wie hätte ihn der Anblick seines einzigen , geliebten Kindes , von dessen süßen Lippen , Töne in seine Brust geströmt waren , die die schönsten Bilder derselben lösten , nicht besänftigen - nicht entzücken sollen ? -
Nein ! es war vergebens ! - der unwiderstehliche Zauber der Harmonie und der Erinnerung zerbrach die Rinde , die sein Herz umschloß ; ihr Talent war unverkennbar , und wie hätte er dem Göttlichen , das sich unter seinen Schutz begab , nicht freien Aufwuchs verstatten sollen ? -
Er selbst lehrte nun Marie ihre natürlich harmonische Stimme in reineren Akzenten zu ergießen , und mit ihren Melodien die Forderungen der Kunst zu befriedigen .
Mit welcher Leichtigkeit , mit welcher Lust betrat Marie die angewiesene Bahn !
wie süß kürzten sich ihrem Vater nun die arbeitslosen , der Ruhe geweihten Stunden ! in welcher lieblichen Gestalt sah er seine erste Jugend mit ihren Ahnungen in dem geliebten Kinde ihm wieder erscheinen !
Eine freundliche Sonne war aus dem trüben Gewölk seines Lebens hervorgebrochen , und bestreute mit himmlischen Farben den Abendhimmel seiner Tage .
Was er bisher so sorgfältig geflohen , wurde ihm Quell der schönsten Genüsse .
So war der Winter beinahe vorüber , und Marie glaubte , die geliebte Hoffnung zu Antonien zu reisen , ganz aus ihrem Herzen verweisen zu müssen , als an einem Morgen , da sie allein eine Unterweisung ihres Vaters wiederholte , Brandem zu ihr hereintrat .
Der Gedanke , welche Nachricht ihr sein Anblick verkündigte , flog pfeilschnell durch ihr Herz , und durchglühte sie mit freudigem Erschrecken .
Brandem hatte sie nie so reizend gesehen ; er bemerkte mit Erstaunen die Laute in ihrem Arm , und bat sie nach einer kurzen Erläuterung , ihn eine Probe ihrer Geschicklichkeit hören zu lassen .
Sie tat es mit anspruchloser Gefälligkeit , und Brandem fühlte , wie der Entschluß , mit dem er gekommen war , mit jedem Augenblicke an Lebhaftigkeit und Stärke zunahm .
- Anton war nun herbei gekommen , und freute sich des willkommenen Besuchs , über dessen Endzweck sich übrigens Marie nicht betrogen hatte .
Der junge Künstler hatte von Antonien , bei welcher er Maries Andenken auf mancherlei Art immer lebendig zu erhalten gewußt hatte , wirklich den Auftrag , Marie zu ihr in die Stadt zu begleiten , und ein artiger Brief von ihr erinnerte Anton an seine dazu gegebene Einwilligung .
Anton lächelte , als er dies las , und trug kein Bedenken , da Marie eben einige häusliche Geschäfte entfernt hielten , Brandem seine vollkommenste Abneigung gegen diesen Vorschlag zu erklären , und wie er entschlossen sei , seine Tochter , fern von dem Geräusche der Welt an die stille Sphäre eines einfachen , unbekannten Lebens zu gewöhnen , und fest zu halten ; Brandems Blick erheiterte sich , und mit schöner Rührung sagte er :
" Ich habe nichts , teurer Mann , was meinen Worten Beglaubigung und Nachdruck geben kann , als den Glauben an mich selbst und das Vertrauen auf Ihre Menschenkenntnis .
Aber beides ist so stark , daß ich fest hoffe , Sie betrachten mich schon jetzt als einen Menschen , der nach vierjährigem Umgang eben so bleibt , wie er sich von dem ersten Augenblick an gab .
Ihre Tochter hat einen unauslöschlich tiefen Eindruck auf mich gemacht .
Maries natürliche Güte , ihre hohe Unverdorbenheit bei so viel Anmut und Reizen war mir eine Erscheinung , die in der Wirklichkeit zu finden , ich kaum zu hoffen wagte , und die ich außer ihr gewiß nicht finden werde .
Wäre es möglich , daß Marie ewig in ihrer Einsamkeit , und von aller Bekanntschaft mit der Welt entfernt bleiben , und daß ihr tätiges Gemüt und ihre Talente dennoch die Wirksamkeit und die Ausbildung erhalten könnten , die sie fordern , so würde Ihr Plan untadelhaft sein ; aber wie ist dies möglich , und wie können Sie auf der anderen Seite dafür stehen , daß nicht ungünstige äußere Umstände Ihr Kind einst unvorbereitet in die Welt werfen ? -
Machen Sie jetzt von der Gelegenheit , die Marie mit Menschen mancherlei Art in Verhältnisse bringen wird , Gebrauch , und vertrauen Sie mir die Sorge für ihr Schicksal .
Wie ihr schützender Genius will ich sie umgeben , und mit sorgsamer Liebe über sie wachen . -
Ich habe nicht Eitelkeit genug , um zu glauben , daß sie jetzt günstig für mich fühlt , und wage es kaum , die schöne Hoffnung ihrer Liebe , die mich ganz glücklich machen würde , in mir zu nähren .
Es wäre ungerecht und grausam , die freie Entwicklung dieses schönen Gemüts im geringsten beschränken zu wollen .
Mögen ihre Gefühle alle sich in ihrer vollen Freiheit entfalten , und die schöne Blüte ihres heiteren , phantasievollen Geistes nie unter der Bedrückung einer fremden Vernunft untergehen ! -
ihr zarter Sinn wird sie immer auf der Bahn des wahren Schicklichen festhalten , und wie auch ihr Herz entscheidet , so wird die Sorge für den inneren und äußeren Frieden ihres Lebens ewig meine liebste Sorge bleiben .
- Der Moment wird nie kommen , der meine innigste , uneigennützigste Liebe von diesem holden Geschöpfe losreißen wird . "
- Die schöne Röte der Wahrheit überflog bei diesem Worte Brandems ernste Züge , indes das Feuer seiner Gefühle und seine immer steigende Rührung sich sympathetisch dem Vaterherzen mitgeteilt hatten .
" Nun wohl " , sagte Anton mit herzlichem Ausdruck , und sanft bewegtem Blick , " ich vertraue Ihnen mein Kind an ; aber bedenken Sie , daß es das einzige Glück eines zärtlichen Vaters , die letzte Freude eines verlassenen Herzens ist . "
Noch mancherlei Bedenklichkeiten kamen zur Sprache , aber das Resultat des Gesprächs blieb , daß Marie die Reise zu Antonien unternehmen sollte .
Kaum erfuhr sie , was über sie beschlossen war , als ein Schauer von ganz anderer Art , als bei Brandems Eintritt , ihr Innerstes durchrann .
Jetzt da sie ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt sah , da ihre verlangende Phantasie sich durch die nahe Befriedigung zum Schweigen gebracht fühlte , war es natürlich , daß die Vorstellung ihren Vater und ihr Dörfchen zu verlassen lebhafter und beunruhigender hervortrat .
Manches drängte sich jetzt vor ihre Einbildungskraft , worüber sie bisher leichtsinnig hinweggesehen hatte .
Manches heimliche , romantische Plätzchen , manche stille , zufriedene Stunde , mancher einfache ruhige Genuß erhielt jetzt ein Gewicht auf der Waage des Gefühls , das sie nicht geahnt hatte .
Von Gefahren , die ihrer Ruhe drohen , Kränkungen , die ihrer Eigenliebe widerfahren , Eindrücken , die ihr Herz verletzen könnten , hatte sie keine deutliche Vorstellung , und wenn ja die Erinnerung an manches , was sie durch Antonien oder ihren Vater vom Leben in der Welt erfahren , ihr eine dunkle Ahnung davon gaben , so dünkte es ihr etwas leichtes , sie zu vermeiden , oder ihnen mit Kaltsinn zu begegnen .
Der zur Abreise bestimmte Morgen erschien .
Anton sagte dem geliebten Kinde wenig , aber bedeutungsvolle Worte , die das Bild des scheidenden Vaters auf ewig mit stiller Glorie in ihrer Seele feststellten .
Je weniger er von ihr forderte , desto mehr versprach ihr Herz , ihm zu halten .
Ein banges , beklommenes Gefühl , das sein festes Vertrauen auf Brandem , und sein einmal gefaßter Entschluß nicht zerstreuen konnten , lag wie ein dunkles Gewölk auf Antons Seele , und umzog auch Maries heiteres Gemüt .
Ängstlich und stumm hing sie am Hals ihres Vaters ; zögernd stieg sie in den Wagen , der flüchtig mit ihr dahin rollte .
Aber indem das bekannte Dörfchen mit seinem Düsternen Kirchturm und ruhigen Hütten vor ihren blicken verschwand , und eine neue Welt allenthalben wie aus Nichts hervorsprang , da zerteilten sich die Wolken , die Träne versiegte auf der erheiterten Wange , der freundliche Gedanke des Wiedersehens erheiterte den Blick des scheidenden Vaters , und die Vorstellung dessen , was dazwischen lag , durchschauerte ihr Herz mit freudiger Erwartung .
Je weiter sie kamen , je mehr erheiterte sich ihr Sinn .
Es war ein heller , freundlicher Wintertag .
Ein sanfter Silberglanz schwebte über der Gegend , und wie mit dem reinsten Kristall übergossen , schimmerten Bäume und Pflanzen aus dem zarten Nebelduft hervor .
Marie hatte die Welt noch nie so schön , und sich selbst noch nie so gern in dieser schönen Welt gesehen , als jetzt .
Ein heiteres Licht goß sich aus ihrem Herzen über alle Gegenstände hin , und mit der liebenswürdigsten Zuversicht , die Unerfahrenheit und glückliches Naturell nur verleihen können , ging sie der Welt entgegen , die in jeder Rücksicht neu für sie war .
Ihr Begleiter bot alles auf , um die Unterhaltung für sie so angenehm und nützlich als möglich zu machen .
Er unterhielt sie mit der Schilderung verschiedener der Personen , die sie kennen lernen sollte , und fing schon hier an , ganz neue Ansichten und Begriffe in ihr zu entwickeln .
Marie schenkte ihm eine ungeteilte Aufmerksamkeit .
Durch das sichtbare seltene Zutrauen ihres Vaters , und durch die Art , wie er sich immer über ihr geäußert hatte , war schon längst eine tiefe Achtung und eine große Meinung von seinem Werte in ihr entstanden , und dieser Tag begründete das schönste Gefühl eines kindlichen festen Vertrauens zu Brandem in ihr .
Als sie ihm diese Stimmung mit der rührendsten Unbefangenheit und fröhlicher Wahrheit darstellte , da durchwallte ein seliges Gefühl seine Brust , und schon schwebte ein glühendes Bekenntnis seiner eigenen Empfindungen auf seinen Lippen .
Aber , seinen Grundsätzen getreu , hielt er sich zurück , und sagte so wenig gespannt , als ihm möglich war :
" Betrachten Sie mich immer , als ihren wärmsten Freund , teure Marie !
Gewähren Sie mir die süße Genugtuung , daß Ihr Herz in allen Fällen diese schöne Offenheit gegen mich erhält , die es im Umgang mit der Welt so oft verleugnen wird , und muß .
Dies einzige versprechen Sie mir , und ich bin glücklich ! " -
Marie gab ihm freundlich ihre Hand , und heftete einen so hellen , sicheren , wohlwollenden Blick auf ihn , daß er fest überzeugt war , in dieser Seele könne nie Verstellung gegen ihn wohnen .
Er küßte die geliebte Hand , und hauchte sanft einen glücklichen , glühenden Seufzer über sie hin .
Es war ziemlich spät , als sie in **** ankamen .
Die erleuchteten , hohen Häuser , das Getümmel auf den Strassen , alles setzte Marie in Erstaunen .
Die muntere Musik eines Tambourins zog durch die Strassen , und hielt bald vor diesem , bald vor jenem Hause still .
Die Töne hüpften in ihr Herz .
Es war ihr , als täte sie mit einmal einen Blick in das bunte Gewühl der Welt hinein - und alles war so golden , so begehrungswert ! -
sie war voll Unruhe , und wußte nicht warum ?
Bald gelangten sie an Antoniens Haus , die sie mit vieler Huld empfing , und in einige erleuchtete , zierliche Zimmer hineinführte .
Freundliche Gespräche und Scherze erfüllten die ersten Momente des Wiedersehens .
- Maries Bild würde vielleicht schon längst in Antoniens Andenken erloschen sein , wenn es nicht mit so unauslöschlichen Zügen vor Brandems Seele gestanden hätte .
Dieser hatte Gelegenheit gehabt , dem Fräulein , der er Unterricht im Singen gab , wichtige Dienste zu leisten , er war im Besitz eines sie unmittelbar angehenden Geheimnisses , und Antonie bemerkte kaum seine Neigung für Marie , als sie mit Freuden diese Gelegenheit ergriff , ihn auf eine feine Art zu verbinden .
Auf der anderen Seite sehnte sie sich schon längst ein gefälliges Wesen um sich zu haben , das sie zu erheitern , und ihr ihren eigenen Wert fühlbarer zu machen verstünde , wenn fehlgeschlagene Hoffnung und gekränkte Eigenliebe sie hier und da verstimmt hatten - und beides glaubte sie von Marie mit Sicherheit erwarten zu können .
Ihr Empfang mußte daher so zärtlich sein , als diese beiden Rücksichten nur immer bewirken konnten . -
Marie hatte kaum ein wenig ausgeruht , als Antonie ihr vorschlug , noch diesen Abend den Maskenball zu besuchen ; sie versprach sich von dem Eindruck , den dies glänzende , abenteuerliche Spiel auf Marie machen würde , zu viel Vergnügen , als daß sie es auf ein andermal hätte aufschieben können .
Mit gefälliger Zudringlichkeit nötigte sie ihre verwirrte Freundin , sich einen von ihren Anzügen zu wählen , und Bescheidenheit leitete diese in der Wahl desselben .
Ein weiter , schwarzer Schleier bedeckte einen Teil ihrer starken blonden Locken , und ihre helle , freundliche Stirn glänzte daraus , wie der Vollmond aus einem dunklen Gewölk hervor .
Ein einfaches Gewand von derselben Farbe , umfloß in leichten Falten ihre schlanke Gestalt , und erhob ihr reines , zartes Kolorit .
Sie war sehr reizend , ohne auffallend zu sein .
Ihre dunklen Augen , ihre Wangen glühten vor Erwartung und unbekannter Sehnsucht .
Das alles schien ihr ein Traum , aber der Traum war so süß , und sie wünschte , daß er nie , nie enden möchte ! -
Auch Antonie hatte diesmal einen einfachen Anzug gewählt , weil sie unerkannt bleiben wollte .
Jetzt banden sie ihre Masken vor , und fuhren hin .
Brandem , der gegen sie bedauert hatte , daß er heute nicht den Maskenball besuchen könne , folgte ihnen bald , in ganz unkenntlicher Tracht .
In welche seltsame , unbeschreibliche Verwirrung geriet das junge Herz beim Eintritt in den gefüllten Saal ! -
Ihre Phantasie umgaukelte das bunte Gewühl mit den wunderlichsten Spielen , und unfähig , hier Trug von Wahrheit zu unterscheiden , legte sie eine Bedeutung hinein , die nur der Unerfahrenheit verziehen werden kann .
- Sie bemerkte bloß ; daß auch sie bemerkt werden könnte , fiel ihr mit keinem Gedanken ein .
Auch war ihre Kleidung zu einfach , als daß sie unter den vielen glänzenden schönen Gestalten hätte auffallen können .
Ihre Eitelkeit blieb ungeweckt , doch ihr Gefühl sollte desto stärker erwachen .
Antonie war einige Stunden lang Arm in Arm mit ihr im Saal herumgestrichen , und fing allmählich an , das Inkognito , welches ihr anfänglich sehr lustig vorgekommen war , herzlich langweilig zu finden .
Sie gab sich daher einigen von ihren Bekannten zu erkennen , und da sie Lust bekam , einen Reihen mitzutanzen , empfahl sie Marie indes der Sorgfalt eines jungen Mannes , der sich eben in ihrer Nähe befand .
Sie flüsterte diesem noch ein paar Worte ins Ohr , nannte Marie den Namen Seeberg , und verließ beide so schnell , als sie oft ihren Einfällen zu folgen pflegte .
Der junge Mann vollzog seinen Auftrag mit einem leichten und angenehmen Wesen , und setzte sich mit Marie in eine Ecke des Saals , wo sie die bunte , lebendige Maße freier und ungestörter beobachten konnten .
Es wurde ihm nicht schwer , mit Marie ein leichtes , munteres Gespräch anzuknüpfen , und die kleine Verwirrung , worin sie sich anfangs befand , zu zerstreuen .
Er wußte ihr Gelegenheit zu geben , manchen guten Einfall mit der ihr eigenen reizenden Naivetät vorzutragen , und mit der angenehmsten Schüchternheit , die einen natürlich hellen aber wenig geübten Verstand nur immer begleiten mag , manches treffende Urteil zu fällen .
Seeberg hörte ihrer kunstlos wohltönenden Sprache mit einem Gefühle zu , der sanften Rührung ähnlich , womit uns in der Jugend eine zum erstenmal gelesene Idylle von Gesner erfüllt .
Von Jugend , Freude und Musik gespannt , gewann Maries liebliche Gestalt vor seinen Augen immer mehr an stiller Glorie und schmückte sich mit allen den Reizen , die er sich oft , vereint , als sein Ideal weiblicher Liebenswürdigkeit geträumt hatte .
So viel tiefe Herzlichkeit der Empfindung , so viel jugendliche Regsamkeit der Phantasie , so viel Scharfsinn bei dem kindlichsten Zutrauen durch einen so reizenden Mund , ein paar so ungewöhnlich schöne geistvolle Augen , ohne die mindeste Anmassung ausgedrückt zu sehen - wie hätte ihn diese Erscheinung nicht befremden und anziehen sollen ? -
Auf der anderen Seite hatte Marie nie ein größeres Vergnügen empfunden , als in diesen Augenblicken .
Der feine , gebildete Ton ihres Gesellschafters , sein schönes einnehmendes Äußere , der romantische Duft , womit er seine Empfindungen - selbst empfunden oder nicht - zu überhauchen wußte , erweckte in ihrem Herzen eine nie gefühlte unendlich süße Rührung , die bald in ihrem ganzen Wesen sichtbarward , ohne daß sie daran dachte , sie zeigen oder verbergen zu wollen .
Unvermerkt hatte sich ihr Gespräch von manchen interessanten Gegenständen , auch auf Liebe gelenkt , und Marie wurde unruhiger .
- " Liebe ! " sagte sie mit schüchternem , aber unendlich süßem Blick und Ton - " ich weiß nicht , warum ich erschrecke , wenn ich das Wort von Ihren Lippen höre " - Seeberg , der das schmeichelnde dieser Äußerung fühlte , küßte ihr mit Zärtlichkeit die Hand , und Marie von Neuheit , Lust und der Gewalt der jungen Neigung ergriffen und berauscht , tat in diesem trunkenen Moment , was ihr Herz ihr eingab , und drückte dem jungen liebenswürdigen Schwärmer , als er sich aufrichtete , einen leichten ätherischen Kuß auf seine Lippen .
Seeberg sah sie befremdet an , und seine Weltkenntnis rief auf Momente einige Zweifel in sein Herz .
Aber die Unschuld , die er in ihrem Auge fand , die holde Verwirrung über das , was sie getan , und nicht zu bereuen vermochte , die Planlosigkeit ihres ganzen Wesens - alles dies widerlegte sie , und erfüllte sein Herz mit Entzücken .
Seine frühen Jugendträume , seine geliebtesten , gespanntesten Bilder kehrten auf den Flügeln der Einbildungskraft zu ihm zurück .
" Wäre es möglich ? " rief er mit verklärtem Blick und unbeschreiblicher Innigkeit , " führt die Liebe mir jetzt das Ideal entgegen , wonach mein Herz längst mit unendlicher Sehnsucht verlangte ? " -
Marie glaubte nie etwas lieblicheres gehört zu haben ; eine neue süße Bewegung lockte zärtliche Tränen in ihre Augen , und sie erstaunte bei sich selbst , über etwas weinen zu müssen , was sie doch mit so unendlichem Entzücken erfüllte .
Beide fühlten einige Momente lang die schönen , nie beschriebenen Regungen einer jungen , wechselseitigen Neigung , als Antonie auf einmal vor ihnen stand , und sie mit einer leichten Entschuldigung über ihr langes Wegbleiben wieder in die Wirklichkeit herabzog .
Sie dankte dem jungen Manne mit einem vertraulichen Wesen für seine Sorgfalt , und bat Marie , weil sie herzlich müde sei , sogleich mit ihr wegzufahren .
Sie taten es , Antonie war übellaunig , schlummerte im Fahren , und ging in ihr Zimmer , sobald sie ausgestiegen waren .
Marie blieb allein , und überließ sich ganz den lieblichen Träumen der ersten Liebe , und des erwachten Herzens , ohne über ihren Zustand , mit dem sie noch ganz Eins war , weiter nachzudenken .
Sie erwachte mit dem geliebten Bild , und kannte kein größeres Glück , und keinen anderen Wunsch , als ihn wiederzusehen .
Da sie indes zur Erfüllung desselben durchaus nichts beitragen konnte , so zogen auch andere Gegenstände bald ihre Aufmerksamkeit auf sich .
Sie schaute verwundrungsvoll die langen Straßen hinab , und so sehr sie das für sie neue Schauspiel der städtischen Tätigkeit unterhielt , so vermißte sie doch die gewohnte reine Winterluft , die hier in dumpfen Nebeln erstickte .
Als sie endlich , dieser Unterhaltung müde , mit Gesang und Spiel die Stunden zu kürzen begann , öffnete sich die Türe ihres Zimmers , und die holde Erscheinung von gestern trat an Antoniens Hand jugendlich schön zu ihr herein .
Aber wie seltsam gemischt war ihre Lage , als ihr Antonie mit heiterem , scherzendem Ton , den Herrn von Seeberg als ihren künftigen Gemahl vorstellte !
- Sie warf einen unruhigen , fragenden Blick auf Seeberg , der sich ihr mit einer angenehmen Leichtigkeit näherte , und sich zu ihrer Bekanntschaft Glück wünschte .
Seine gleichmütige Fassung gab ihr einen großen Teil ihrer Unbefangenheit zurück , aber dennoch blieb in ihrer Brust etwas ihr selbst unerklärliches zurück , das auf ein Mißverhältnis zwischen ihren inneren und äußeren Verhältnissen hinzudeuten schien .
Ihr sehnlichster Wunsch war jetzt mit Brandem hierüber zu sprechen , und mit der größten Ungeduld sah sie der Stunde , wo er zu kommen versprochen hatte , entgegen .
Er kam zur bestimmten Zeit , Marie blieb mit ihm allein , und ihre ganze Seele ergoß sich nun in vertrautem Gespräch .
Mit der größten Genauigkeit schilderte sie ihm alles , was seit gestern in ihr vorgegangen ; alles was sie gehört , gesehen , getan hatte .
Brandem , der in seiner Verhüllung sie keinen Augenblick verlassen , sie aufs schärfste beobachtet hatte , war von diesem ersten Beweis ihres unbegrenzten Vertrauens , so schmerzlich es ihm auch in anderer Hinsicht war , angenehm gerührt .
Er konnte sich über die Natur ihrer Empfindungen nicht täuschen ; aber da er die Welt kannte , glaubte er , seinen übrigen Erfahrungen gemäß , eine so schnell gefaßte , flüchtige Neigung werde bald wieder endigen , und hatte Seelenstärke genug , seiner Geliebten dies erste , freie Spiel der Empfindung großmütig zu gönnen , und ihrem Glück seine Ruhe , wenigstens für die Gegenwart aufzuopfern .
Er begnügte sich also , ihr über Seebergs Charakter einige , der Wahrheit gemäße Bemerkungen zu machen , bestätigte , daß er mit Antonien so gut wie verlobt sei , daß beider Familien diese Heirat billigten und wünschten , und überließ nun ihrer eigenen Vernunft die Entscheidung , wie sie sich hierbei zu benehmen habe .
Seeberg war ein schön gebildeter junger Mann , der mit einem leichten gefälligen Äußeren viel Reizbarkeit des Gefühls , Kenntnisse mancherlei Art , und einen fein gebildeten Geschmack vereinte .
Verschiedene Eindrücke , die er in den früheren Jahren seines Lebens empfangen , hatten seinen Ideen von Liebe , Glück und Verhältnissen einen romantischen Anstrich gegeben , die mit seinen nachherigen Erfahrungen , und der Sphäre der großen Welt , worin er lebte , oft einen seltsamen Kontrast bildeten .
Er war noch in dem Alter , wo es nicht unmöglich scheint , so manchen süßen Jugendtraum in Erfüllung gehen zu sehen , und einmal gestimmt , in Allem Bedeutung zu suchen , trug er seine gespannte Empfindungsweise nicht selten in die kalten Kreise der Gesellschaft über , wo manches Unbedeutende oft dadurch eine seltsame Wichtigkeit erhielt .
Er war nicht glücklich .
geteilt zwischen Schwärmerei und Wirklichkeit , machte er sich oft Plane , sein Leben auf eine ungewöhnliche Art zu genießen , und ließ sich dann von Kleinigkeiten bestimmen , bei der gewohnten Lebensweise zu bleiben .
Er wünschte einen entscheidenden Schritt zu tun , und scheute gleichwohl das Aufsehen , welches dieser unter seinen Bekannten machen würde .
So hatte er , von gesellschaftlichen Verhältnissen umstrickt und bestimmt , ein rauschendes Leben ergriffen , ohne Geschmack dafür zu haben , und lebte mit aller Sehnsucht nach gefühlvoller , interessanter Unterhaltung in einer immerwährenden leeren Zerstreuung .
Ein ewiger Sklave von fremder Meinung und eigenem Gefühl ergriff er jedes Luftbild der Phantasie mit der Hoffnung , sein Glück und seine Freiheit darin zu finden .
Indessen gab ihm eben dies unruhige , unbestimmte seines Gemüts , verbunden mit schönen Anlagen , mit Bildung und einer schönen Gestalt für zärtliche unbefangene Herzen einen bezaubernden unwiderstehlichen Reiz .
Antoniens Schönheit und Talente hatten zuerst Seebergs Aufmerksamkeit erregt , und ihre Feinheit , die nicht Feinheit schien , mit der sie seinen Lieblingsideen zu schmeicheln wußte , vollendete den Eindruck , den jene angefangen hatten .
Antonie war das einzige Kind eines mehr glänzenden als reichen Hauses , und die größte Hoffnung desselben .
Sie war eine von jenen feinen , weiblichen Wesen , die ewig nur nach leichten , angenehmen Eindrücken haschen , und die entschiedenste Selbstsucht unter einer gefälligen , liebenswürdigen Aussenseite zu verbergen wissen .
Da sie den Plan hatte , nach dem gemeinen Sinn , ihr Glück zu machen , so war ihre Wahl auf Seeberg gefallen ; der für eine der glänzendsten Partien galt , und leicht zu beherrschen schien .
Alles gelang ihr ; ihre Familie war über diese Heirat entzückt , und Seebergs Verwandte glaubten sein Glück durch den Besitz einer so vortrefflichen Gattin auf immer gesichert . -
Aber welch ein gänzlicher Mangel von Harmonie , den nur Klugheit , jugendlicher Leichtsinn und gemeinschaftlicher Hang zum Vergnügen eine Zeit lang bedecken konnte , war zwischen diesen beiden ! -
Beide liebten die munteren Freuden des Lebens , aber wenn Seeberg überall Gefühl und Bedeutung hinein zu legen strebte , suchte Antonie diese gerade hinweg zu drängen .
Wenn Antonie sich durch das Leben einen bequemen und sicheren Weg zu bahnen suchte , voll ewigen Sonnenscheins , wo keine Vertiefungen , keine Krümmungen sie in ihrem ruhigen Sinnengenuß störten , wo nur die am Wege stehenden mit Verwunderung auf sie sahen , und ihr Blumen zuwarfen , so liebte Seeberg den romantischen Pfad , voll weiter , idealischer Aussichten und stiller , heimlicher Stellen , wo Schatten und Licht wechselte , und alles die Seele ergriff und rührte ; und wenn seine Fehler selbst sich ein ungewöhnliches , romantisches Ansehen zu geben wußten , so waren Antoniens Fehler gerade von der Art , daß sie eben diesen Geschmack auf das schmerzlichste beleidigten .
Seeberg war durch die Art seiner Bekanntschaft mit Marie auf das lebhafteste gerührt worden , und der erste , schwärmerische Eindruck verlor nichts von seiner Stärke , da er sie bei dem freundlichen Tageslicht , und in dem sanften Morgenanzug noch unendlich reizender wieder gefunden hatte .
Aber die durch den Umgang mit Menschen erlangte Gewalt , in den meisten Fällen über den Ausbruch seiner Gefühle zu gebieten , half ihm , sich bald in die neuen Verhältnisse zu finden , und einen leichten , zwanglosen Ton unter ihnen festzusetzen .
Jener bedeutende Abend wurde vor jetzt nicht weiter erwähnt , und schien bald wie ein lieblicher Traum nur halb verworren , ihnen vorzuschweben .
Er hatte von Antonien , Maries nähere Verhältnisse erfahren ; er wußte , daß er sie täglich sehen , täglich ungezwungen mit ihr umgehen konnte , und diese nahe reizende Aussicht verbannte auch lange Zeit jeden Gedanken an die Folgen , welche ein näherer Umgang für ihn und Marie haben konnte .
Die schöne Natur seiner Geliebten , die stille Notwendigkeit ihres Werts erfüllten ihn mit schwärmerischer Achtung , und ihr frischer , unentkräfteter Sinn für alle Freuden des Lebens fesselte jede jugendliche Neigung unwiderstehlich an sie .
Mit jedem Tage konnte er sie mit neuen Gegenständen bekannt machen , ihr einen angenehmen Genuß gewähren , und er genoß das höchste Glück der Erde , die , die er liebte , ganz glücklich zu machen .
Seit ihrer Unterredung mit Brandem hatte sich Marie , weil Mitteilung vieles erleichtert , um vieles zufriedener gefühlt .
In ihrer Unbefangenheit schien es ihr am sichersten , sich gerade an Antonien selbst zu wenden , und diese zu fragen , ob sie Seeberg gut sein dürfe ? - Antonie , welche diesen gegenseitigen Geschmack gerade damals aus besonderen Gründen vollkommen am rechten Orte fand , hatte ihr gesagt :
was sie fühle , sei nur ein sehr gerechtes Wohlwollen ; und es stünde überhaupt nicht in unserer Macht , unseren Empfindungen zu gebieten .
Marie beruhigte sich immer mehr .
" Soll ich mein Auge und mein Gefühl den göttlichen Eindrücken des Schönen und Vorzüglichen verschließen ? " dachte sie .
" Da ich nichts wünsche , als ihn zu sehen , ihn uneigennützig zu lieben , was kann Antoniens Verhältnis dabei leiden ? "
- Regten sich hierüber ja noch Zweifel , so wußte sie die Liebe , die , wie wir wissen , ihre eigene Philosophie hat , alle befriedigend aufzulösen , und - so überließ sie sich sorgenlos einer Neigung , die sie glücklich machte .
- Sie betrug sich gegen Seeberg mit aller der lieblichen Wahrheit , und Innigkeit des Gefühls , die stets die freundlichen Begleiterinnen der ersten Liebe sind .
Mit stillem Vergnügen bemerkte sie an ihrem feingebildeten Freund diese höhere Kultur , deren Mangel sie an sich nur allzu wohl fühlte , und ihr Umgang gewann durch diese Verschiedenheit einen neuen Reiz .
Marie lernte die Welt gerade in dem Alter kennen , wo sie uns am goldensten erscheint , und wo Entfernung von ihr die Phantasie oft schmerzhaft spannt , die Sehnsucht reizt , und die holden Tage der Jugend trübt .
Wo andere kaum noch den Schatten der Freude festhielten , und von tausend Rücksichten um ihr Vergnügen betrogen wurden , genoß sie mit einer Herzlichkeit , die alles um sie her entzückte .
Spazierfahrten , Schauspiel , Gesellschaft , Alles hatte für sie einen wunderbaren , süßen Reiz , denn überall fand sie den Geliebten , und überall genoß sie Alles durch ihn und mit ihm .
Liebe , Neuheit , Jugend und Sorglosigkeit vereinten sich , ihr diese Zeit zum Himmel umzuschaffen .
Ein harmonisches Licht umfloß vor ihrem Auge die Welt , alle Gegenstände kleideten sich in die Farbe der Liebe , und das Gemeinste , Gleichgültigste erhielt durch sie eine geheime süße Bedeutung .
Der treue Brandem sah indessen dieser dauernden Neigung mit bitterer Resignation und schmerzlicher , täglich wachsender Besorgnis zu , aber er sah auch auf der anderen Seite , wie Maries Gemüt , mitten unter diesen gefährlichen Verhältnissen und den feinen Verführungen des Beispiels an seiner ursprünglichen Reinheit und Wahrheit festhielt , und , wenn er Seebergs Glück beneidete , so tröstete ihn der Gedanke , allein der Vertraute dieser unverdorbenen Seele zu sein .
Zuweilen , wenn er an sein ihrem Vater gegebenes Versprechen gedachte , überfiel ihn wohl ein Grauen , aber wenn ihn dann Marie mit immer gleicher Herzlichkeit und Freude empfing , wenn sie alle ihr Glück , ihre Erfahrungen , und ihre Zweifel bei ihm niederlegte , und überall der Natur getreu blieb , dann faßte er wieder neue Hoffnung , neuen Mut .
Indessen wandte er alles an , ihr von dieser Zeit so viel Gewinn als möglich zu verschaffen .
Ihr Talent für Gesang und Spiel bildete sich unter seiner Leitung zu einer seltenen Vortrefflichkeit , ihr Verstand gewann täglich mehr an Reife , und noch manche Anlage entwickelte sich durch seine Sorgfalt leicht und schön bei ihr .
Jetzt aber zwang ihn eine Reise , die er zum Besten seiner Familie tun mußte , zu einer Entfernung , die mehrere Wochen lang dauern konnte .
Der Gedanke , Marie in ihren Verhältnissen allein zu lassen , dünkte ihm mit Recht unerträglich , gleichwohl hielt er diese Regung zuweilen für eine Wirkung von Eifersucht , der er durchaus nicht unterliegen wollte .
So schwankte er eine Zeit lang , bis er endlich beschloß , dem alten Anton zu schreiben , daß er seine Tochter auf einige Zeit zu sich holen möchte .
Indessen war die Zeit verflossen ; die Antwort blieb aus , und Brandem sah sich gezwungen , ohne sie erwarten zu können , mit düstern Ahnungen abzureisen .
Bald nach seiner Abreise erhielt Marie einen lang gewünschten Brief .
Seit einiger Zeit hatte sie den Nachrichten von ihrem Vater , die sie immer mit inniger Freude empfing , und beantwortete , vergeblich entgegen gesehen .
Der Brief war von ihrem alten Freunde , dem Prediger , und enthielt den Wunsch , daß sie so schnell als möglich zurückkommen möchte , weil ihr Vater gefährlich krank sei .
Marie erwachte endlich aus ihrem langen süßen Traum , und sah zum erstenmal den goldenen Schimmer des Lebens verbleichen .
Gegenwart und Zukunft lagen schwer auf ihr .
Mit möglichster Eile bereitete sie sich zur Reise , sagte Seeberg und Antonien ein beklommenes , inniges Lebewohl , und verließ in tiefer Betäubung den Ort , wo sie so viel Freuden genossen hatte .
Welch eine Reise war dies für Marie !
Eine Menge verworrener , düsterer Bilder umgaben , peinigten sie , und es war ihr unmöglich , zu einer klaren Vorstellung ihres Zustandes zu gelangen .
Je näher sie dem Dörfchen kam , desto lebhafter wurde das Bild ihres Vaters , ach ! ihres , vielleicht sterbenden Vaters .
Als sie an ihre Wohnung kam , war alles still und tot .
Die herbstlichen Abendwinde säuselten schauerlich durch die Buchenlaube des Gärtchens .
Beim Eingang empfing sie der Prediger mit stummer Trauer .
Sein Brief war liegen geblieben ; Anton war nicht mehr ; den Lebensmüden deckte schon seit einigen Tagen die mütterliche Erde .
Marie war zerstört , zu Boden gedrückt .
Der Prediger unterhielt sie die ganze Nacht durch mit sanften Tröstungen milder Teilnahme , mit den Lehren , dem letzten Willen ihres abgeschiedenen Vaters .
Am anderen Morgen besuchte sie sein Grab .
Der Tag war hell , ohne heiter zu sein .
Eine kalte , bestimmte Beleuchtung , wie das Licht der Vernunft , wenn der holde Zauber der Jugend verweht ist , und kein lieblicher Wahn die Wirklichkeit mehr vergoldet , bezeichnete die fernsten Gegenstände deutlich , und klar .
Schwarz und in Trauer stand der dunkle Wald .
Kein wankender Strahl bekränzte sein Haupt , kein lieblicher Duft wallte an den Bergen empor .
Alles schwieg , und einsam ertönte nur zuweilen das Lied des herbstlichen Vogels über das Feld .
Antons Grabhügel streckte sich einsam dahin , nur einzelne melancholische Tannen streuten sparsame Schatten über den Boden ; ein einsamer schwarzer Vogel flog schüchtern auf .
Maries Herz war kalt , und schlug nicht mehr .
Die Schauer des Todes gingen vor ihrer Seele vorüber .
Wie ein aufgerolltes Gemälde lag das Leben ihres Vaters vor ihr da , und auf der öden Rückseite stand mit schwarzen Zügen das Grab .
Ihr Herz hatte alles verlassen , allem entsagt .
" O was ist es , was ist es " , rief sie schmerzhaft aus , " daß wir mit so unendlicher Sehnsucht unseren Lieben in das andere Leben nachblicken ? "
- So vergingen mehrere Tage ; die Natur fand ihr Herz zum erstenmal der Freude verschloßen , und eine schwermütige Sehnsucht verlängerte die Stunden , die ehemals unter jugendlichen Hoffnungen und verworrenen Phantasien oft so schnell verschwunden waren .
- Indessen frischte die Zeit die Bilder der letzt vergangenen Tage gar bald wieder auf , und sie traten um so lebhafter hervor , je stärker sie gegen das Einsame und Traurige der gegenwärtigen abstachen .
Wie das Auge , was ihm zu nahe liegt , nur undeutlich und ungewiß wahrnimmt , so faßt das Herz in einer glücklichen Gegenwart sich kaum .
Erst in einiger Entfernung tritt das süße Bild deutlicher hervor , und der Zauberduft der Vergangenheit wirft einen idealischen Schein auf die holden Szenen , die sich in der Gegenwart verworren um uns her drängten .
Dann bestimmt erst Entfernung die Stärke der empfangenen Eindrücke .
Manche , die uns in der Gegenwart zu beschäftigen schienen , verwehen beim Hauch der Entfernung , wie nasse Farben sind sie weggewischt ; andere sind tief in die Seele eingewurzelt , wir denken an sie ohne daran zu denken , die leiseste Ähnlichkeit malt sie uns aufs lebendigste wieder hin , sie stehen mit uns auf , und verflechten sich in unsere Träume . -
Jetzt erst begriff Marie , wie teuer ihr Seeberg sei .
Einsamkeit und Entfernung erhoben ihr Andenken an ihn zur Schwärmerei , ihre Neigung zur Leidenschaft , sein Bild zum Gotte .
Einst hatte sie sich zu ihren Träumereien eine der romantischsten Stellen der Gegend ausgesucht .
Jenes Plätzchen war es , wo einst ihre Seele , mit voller schneller Entfaltung die ersten Versuche zur Tonkunst gewagt hatte .
Die Erinnerung jener Stunde drang mit süßer Gewalt in ihr Herz , und ein schnelles , aber noch unentwickeltes Gefühl schien ihr den Einfluß und die Beziehung derselben auf ihr ganzes Leben dunkel , aber freudig anzudeuten .
Dem Bilde weiter nachsinnend , sah sie in die Flut , und das ewig fliehende und ewig bleibende Spiel der Wellen hatte sie in stille Vergessenheit gewiegt , als auf einmal die Zweige hinter ihr rauschten , und sie bei schneller Wendung den Kommenden mit süßem Schrecken für Seeberg erkannte .
Wie feurig war ihr Wiedersehen .
- Hier in voller , ungestörter Freiheit , wo das romantische der Gegend , der rührende Reiz des Ländlichen , das Feierliche der Einsamkeit , alle Empfindungen erhöhte und spannte , dachten sie nicht daran , einander ihre Gefühle verhehlen zu wollen .
Mit kindlicher Genauigkeit schilderten sie sich alle Nuancen derselben , gestanden , daß dies Liebe sei - und mit diesem Worte schienen alle Schranken der Verhältnisse vor ihnen niederzufallen , und eine heilige Notwendigkeit ihre Neigung zu rechtfertigen .
Seeberg hatte die Trennung von Marie ganz unerträglich gefunden , und Antonie , die sich seit einiger Zeit mehr gegen ihn vernachlässigt , weil ein anderer Plan sie beschäftigte , und ihm tausendfachen Stoff zu Klagen gab , der sich gleichwohl mehr fühlen , als sagen ließ , wurde seinem Herzen immer fremder , und ließ ihn den Mangel an Einklang immer merklicher fühlen .
Indessen war ihre Verbindung schon zu weit gediehen , beide Häuser , und mit ihnen der ganze Kreis ihrer Bekanntschaft hielten sie für entschieden , und er glaubte , erwarten zu müssen , daß die Zeit seinen Entschluß , mit Antonien zu brechen , durch irgend einen günstigen Umstand erleichtern würde .
Er ersann unterdessen ein milderes Mittel , seinen liebsten Traum , mit Marie zu leben , in Erfüllung zu setzen , und war jetzt zu ihr geeilt , um seinen Plan ihr mitzuteilen .
Er schlug ihr vor , nach einem seiner fern gelegenen unbewohnten Güter zu reisen , und dort in Freiheit der Liebe und dem Glück zu leben .
Marie war überrascht .
Mit einer neuen , sonderbaren Bewegung fühlte sie zum erstenmal die Notwendigkeit , einen entscheidenden Entschluß zu fassen , und auf der Bühne des Lebens selbst eine von den Rollen zu übernehmen , die sie bisher nur in wahren oder erdichteten Darstellungen mit angenehmer Teilnahme von Anderen hatte spielen sehen .
Manches drängte sich jetzt vor ihre Einbildungskraft , worüber sie sonst leicht hinweg gesehen hatte .
Welch eine Beruhigung war es ihr gewesen , jetzt mit Brandem nur eine Viertelstunde lang zu sprechen ?
Aber dieser treue Freund war fern , und sie wußte nicht einmal seinen jetzigen Aufenthalt .
Mit dem Tod ihres Vaters waren alle Bänder , die sie an die menschliche Gesellschaft banden , zerrissen ; ihre Handlungen hatten auf keinen Dritten Bezug , und wer auf der ganzen Welt konnte wohl ihr näher sein als der Geliebte , der ihr jetzt zu einer schönen Existenz die Hand bot ? -
Dennoch war sie zweifelhaft , und Seeberg machte ihr zärtliche Vorwürfe über ihre Bedenklichkeit .
" Wenn zwei verwandte , fühlende Seelen sich finden " , sagte er zu ihr , " im bunten Gewühl des Lebens , wo tausende gleichgültig an einander vorübergehen , sollen sie sich nicht lieben ? sollen sie ihr Glück , das höchste , was die Natur gewährt , dem leeren Spiel der Umstände , den kalten Verhältnissen ihres Zeitalters aufopfern ? "
- Es ist leicht zu bestimmen , auf welche Seite sich die Waage neigte .
Die Gewalt der jungen zum erstenmal empfundenen Neigung , und die Lust am raschen tätigen Genuß des Lebens unterstützten Seebergs Gründe zu lebhaft in Maries Herzen , als daß sie hätte lang widerstehen können .
Ihr Entschluß war gefaßt .
" Nun wohl denn " , sagte sie mit dem lieblichsten Ausdruck , den die vollkommenste innere Harmonie nur über ein Gesicht ausgießen kann , " es ist ja mein einziges Glück , deine Geliebte zu sein .
Ich bin , was ich sein will , und bin zufrieden . "
Sie reisten ab .
Marie fühlte sich wieder ganz glücklich ; sie fühlte , daß die schönste Zeit ihres Lebens noch nicht vorüber sei .
In der lachenden Gestalt der Neuheit fand sie alle ihre frühere Jugendempfindungen wieder .
- Mit dem Geliebten in froher Ungebundenheit der freien Welt zu genießen , jede Kleinigkeit durch seine Nähe ein höheres Interesse gewinnen zu sehen , jede Unannehmlichkeit nur halb , und jede Freude doppelt zu empfinden - was hätte ihrem Glücke noch fehlen können ? -
Sie kamen in das Dörfchen , das in einer einsamen , düstern Gegend lag .
Ein altes , lange unbewohnt gebliebenes Wohnhaus , wo sie mit lachendem Mute keine Bequemlichkeit fanden , und keine vermißten , nahm sie auf .
Sparsam gaukelten jetzt die bunten Freuden des Lebens um Maries Stunden , und manche Sorge erfüllte die leere Stelle ; aber ihr waren es geliebte Sorgen , und die höheren Freuden harmonischer Seelen schienen ihr an Stärke zu gewinnen .
Sie gewöhnte sich mit Lust an ein stilles , tätiges Leben .
Oft kürzte Musik die Stunden , und die süße Trunkenheit der ersten Liebe drang auf den zarten Schwingen des Gesangs mächtiger in der Liebenden Herzen .
- Auch Seeberg genoß , was er nur selten in seinem Leben gefühlt hatte , eines heiteren , ruhigen Glücks .
Seine stillen , einfachen Freuden kontrastierten lang zu ihrem Vorteil mit seinen ehemaligen Genüssen , und das Selbstgefällige der freien , eigenen Wahl erhielt ihn in froher , gespannter Stimmung .
An einem Nachmittage sahen sie einen wohlgebildeten , jungen Mann , von einem Bedienten begleitet , in ihr Tor herein reiten .
Ihre Neugierde , wer der unbekannte Gast sein möchte , war bald gestillt , denn er eilte rasch die Treppe herauf , und trat ins Zimmer ; es war Antonie ! -
Eine reizende Erscheinung , trat sie herein , mit freiem , gebildeten Anstand , und nach einer kurzen Unterhaltung erklärte sie sich über den Grund ihres Besuchs .
" Seeberg " , sagte sie mit bedeutendem , sicheren Akzente , " ich liebte dich , wie ich vielleicht keinen Mann je lieben werde .
Schien ich einst kälter , so tat ich mir Gewalt an , und es geschah einzig in der Absicht , dich deiner neuen Liebe frei und ungestört genießen zu lassen .
Aber immer schmeichelte mir die Hoffnung , dein Herz werde einst zu mir zurückkehren .
Jetzt entsage ich dieser Betrügerin , mein einziger Wunsch ist , dich ganz zufrieden zu sehen , mein einziger Schmerz , so lange ein Hindernis deines Glücks gewesen zu sein .
Ich klage nicht über dich ; war es deine Schuld , daß ich deine Liebe nicht zu erhalten wußte ? - der einzige Grund , der mich hierher geführt , ist , mit dir die Mittel zu verabreden , wie unsere Verbindung am leichtesten zu trennen ist , und dich zu versichern , daß ich , selbst vor der Welt , gern zuerst die Hand dazu bieten will , wenn deine Zufriedenheit es erfordert . "
- Seeberg befand sich in einer sonderbaren Verwirrung .
Sein treuloser Hang zum Sonderbaren legte in diese , seiner Eigenliebe so schmeichelhafte Erklärung einen geheimen Zauber , und Antoniens Bild gewann in seinem Herzen bald seine vorigen Rechte wieder .
Er konnte und wollte sich über nichts erklären , und Antonie , die ihren Zweck erreicht sah , verließ ihn mit der Versicherung , daß sie nun eigenmächtig für ihn handeln werde .
Antonie hatte in Seeberg freilich nur das Mittel , ihren Ehrgeiz zu befriedigen , und sich einer bequemen , angenehmen Lage zu versichern , geliebt , und folglich den Verlust seines Herzens mit großer Ruhe ertragen können .
Ihr waren die geheimen Seligkeiten und Qualen zartfühlender Seelen , die nach etwas höheren streben , und durch Irrtümer selbst sich bilden , ewig fremd ; sie besaß dagegen jene bequeme Klugheit , die in der Welt so vortreffliche Dienste leistet , und verstand mit schneller Besonnenheit , bei allem , was geschah , ihren Vorteil wahrzunehmen .
Als sie Seebergs Neigung für Marie zuerst bemerkte , war eben damals ein junger Prinz in ihren Zirkel getreten , der , wie ein neu aufgegangener Stern , alle Aufmerksamkeit auf sich zog . - Antonien , die in ihm bald einen Bewunderer fand , und dadurch eine weitere Sphäre für ihre Wünsche eröffnet sah , war es höchst willkommen , daß sie auf diese Art Zeit gewann , ihre Plane mit dem jungen feurigen Fürstensohne im stillen zu verfolgen , ohne deshalb Seeberg ganz aufgeben zu müssen .
Indessen verschwand mit der Abreise des Prinzen diese schöne Hoffnung gänzlich ; die Erinnerung an Seeberg und ihre vorigen Ideen kehrten lebhafter zurück , und wenn es auch nicht Liebe war , die ihr sein Bild zurückrief , so war doch auch ein leichtes , mehr durch Gewohnheit , als Neigung entstandenes Interesse dabei im Spiel , welches durch Entfernung und Hindernisse größeren Reiz erhielt .
Scharfsinnig hatte sie Seebergs Charakter durchschaut ; nach diesem ihre Aufführung entworfen , und der Erfolg bewies , daß sie eine feine Menschenkennerin war .
Das Glück der beiden Liebenden war nach diesem Tage nicht das vorige mehr .
Der gewaltige Zauber des Romantischen verwischte sich vor Seebergs Augen immer mehr und mehr , und mit Betrübnis glaubte er sein schwärmerisches Glück zu dem ruhigen Genuß eines gewöhnlichen Lebens herabsinken zu sehen .
Seine Empfindungen , die nicht durch Grundsätze erhalten , und befestiget worden , ermatteten zuletzt unter den angenehmsten Bildern .
Auch fühlte er , daß er sich von den Zirkeln , die er verlassen , keineswegs ganz getrennt habe , und ihre Meinungen , ihre Urteile machten noch tiefen Eindruck auf ihn .
Noch vieles flog in seinem Inneren verworren durch einander , und es schien unentschieden , ob aus dem Saitenspiel seines inneren Lebens , so viel schöne Töne es auch enthielt , eine reizende Harmonie oder ein öder Missklang hervorgehen werde .
Verfeinerung und Schwärmerei , Gefühl und Klugheit hatten wechselsweise an seinem Charakter gebildet ; und es mußte sich noch vieles in ihm ordnen , er mußte noch mancherlei erfahren , vieles gegen einander abwägen , und von einander scheiden lernen , ehe er die ruhige , bestimmte Handlungsweise eines sich selbst verstehenden , harmonischen Menschen zu erhalten hoffen durfte . -
Es konnte Marie nicht entgehen , wie sehr nach diesem Besuche das Gemüt ihres Freundes zerstört war .
Zwar begegnete er ihr mit aller der Feinheit , die in seiner Gewalt war ; er sagte ihr , wie glücklich sie ihn mache , aber er sagte es oft , und schön , daß sie daran zu zweifeln anfing .
Wie verschieden war es von jener Zeit , wo sie zuweilen törichterweise gewünscht hatte , er möchte ihr sagen , daß er sie liebe , wo er es selbst nicht wußte , wie sehr er sie liebte .
Jene rührenden Verrätereien des Herzens , wo kein wägender Verstand sich darein mischte , waren dahin .
Jetzt in mancher trüben einsamen Stunde wachte in ihrem Herzen das Andenken ihrer vorigen Lage wieder auf , und eine schwermütige Erinnerung hauchte ein liebliches Kolorit über die Szenen ihrer stillen Jugendzeit .
Jetzt glaubte sie die dunkle Ahnung zu verstehen , die sie so oft ergriffen hatte , wenn sie auf ihren einsamen Spaziergängen unruhig und ohne Worte in die blaue , verschwindende Ferne dahin gesehen .
Aber ihr heiterer , tätiger Geist verlor auch hier , wo das schwerste , was sie bedrücken konnte , des Geliebten Kaltsinn , auf ihr lastete , seine Lebenskraft nicht , und selbst bei der Betrachtung jener harmlosen , ruhigen Tage , so reizend sie sich auch im Schleier der Vergangenheit zu zeigen wußten , war eine innere Zufriedenheit , nicht ewig in diesem untätigen Zustande geblieben zu sein , ihre letzte Empfindung .
Sie nahm sich vor , ihren Freund mit kühler Besonnenheit schärfer als bisher zu beobachten , und alles , was in ihrer Macht stünde , zur Hebung seines Übels , wenn sie nur erst die Quellen desselben kannte , beizutragen .
Von neuem freute sie sich dann , den Geist an den Szenen des wirklichen Lebens üben zu können , von neuem beschloß sie , das selbstgewählte Los mit freier Genügsamkeit zu ertragen .
Nicht lange , so erhielt sie den gewünschten Aufschluß .
Ein offener unbewachter Augenblick ließ sie tief in Seebergs Seele schauen , und sie säumte nicht , ihren Entschluß danach zu fassen .
" Ist es nur das , nur das ? " sagte sie zu sich selbst mit einigem Schmerz .
Vieles ging vor ihrem Geist vorüber , Verwunderung , Unwillen , Stolz und zärtliche Schwärmerei ; aber es ordnete sich , und die lebhafte Spannung , worin sie sich befand , erleichterte ihr die Ausführung .
Er soll auch jetzt durch mich von neuem glücklich werden , dachte sie .
Ich folgte ihm , weil ich ihn liebte , und weil ich ihn liebe , verlaß ich ihn .
Eine kleine Abwesenheit von Seeberg begünstigte ihren Plan .
Still und bescheiden , sorgte sie für ihre dringendsten Bedürfnisse , machte im Hause mit gewissenhafter Genauigkeit die nötigen Anordnungen , und verließ nicht ohne Unruhe , aber auch nicht ohne Selbstvertrauen , Seebergs Haus , ohne sich nur einem Einzigen anvertraut zu haben .
Ein Brief sagte ihm ihr Lebewohl .
" Glaube nicht " , schrieb sie ihm , " daß ich dich weniger liebe , weil ich dich verlaße .
Ich weiß , es würde dir weh tun , diese Stelle in meinem Herzen verloren zu haben , und wenn auch dein äußeres Leben nichts mit mir verliert , so würde doch dein inneres Leben viel , sehr viel verlieren , wenn ich ganz daraus scheiden wollte .
Nein , mein Freund , - was auch noch meiner wartet - das Andenken unserer Liebe wird wie das Lied der Nachtigall in dem Sturm , durch die zerstreuten Szenen meines Lebens zu mir herüber hallen . Dir dank ' ich es , zu dem lebendigen Spiel der Empfindungen erwacht zu sein , dir danke ich meine schönsten Stunden .
Du erscheinst mir immer liebenswürdig , und der trübe Schleier , den einige an sich selbst liebenswürdige Schwächen über deine Vorzüge werfen , verbirgt mir dich nicht .
Doch jetzt in der Stunde des Scheidens beschwöre ich dich , lerne dem Wahn entsagen , der dich bei deinen Handlungen oft fremder Meinung zu unterwürfig macht , lerne mehr auf dich selbst vertrauen .
- Dein gefühlvolles Herz , dein gebildeter Verstand , dein zarter Sinn für alles Schöne in Kunst und Natur - geben sie dir nicht Vorrechte vor so vielen unbedeutenden Menschen , deren Urteil dir jedoch so viel gilt ? -
Mit Freuden verließest du einst jene glänzende Welt , die du oft leer und unbefriedigend nanntest um meinetwillen , oder vielmehr um deiner Liebe Willen .
Diese Liebe ist nicht mehr , ich bin noch , die ich war , aber deine treulose Phantasie hat dich verlassen . -
Rufe jene Stimmung zurück - wenn auch das Saitenspiel unserer Liebe in deinem Herzen zerbrochen ist , o !
es gibt noch Töne genug in der Welt , bei denen dein Gefühl in entzückenden Einklang überströmen wird ! -
Suche sie - ach Seeberg !
mich wirst du wieder lieben , ich weiß es ! -
Mein Dasein wird in der Entfernung alles verlieren , was dich in der Gegenwart drückte , und die Illusion wird es dir lieblicher wieder geben , wenn es aus der Wirklichkeit gewichen ist .
Unsere Gedanken werden sich froher begegnen , als unsere Blicke .
Du wirst mich wieder lieben - und meine Wünsche sind erfüllt ! "
Seeberg las diesen Brief , den er nach der Beendigung seiner kleinen Reise erhielt , mit der innigsten Bewegung .
Die zarte Schonung , mit der Marie ihm ihre Trennung darstellte , das Wohlwollen , welches den Brief durchatmete , die Feinheit , mit der sie Antonien unerwähnt ließ , obwohl er wußte , daß ihr der Einfluß , welchen ihre Erscheinung auf seinen schwankenden Sinn gehabt hatte , nicht entgangen war , - Alles dies lehrte ihn seinen Verlust tausendfach fühlen .
Seine Versuche , Maries Aufenthalt zu entdecken , schlugen fehl , und ihr Dasein drohte völlig aus seinem Leben zu verschwinden .
Wie öde war ihm jetzt sein Haus , sein Garten , die Gegend ! wie kalt , leer , und abgestorben sein eigenes Herz ! - bei Allem vermißte er Maries innige Teilnahme , und lernte es fühlen , daß Gewohnheit ein stärkeres Band als Neuheit ist , und wie selten das Herz im Leben Befriedigung seiner Bedürfnisse zu hoffen hat .
Das meiste von dem , was wir wünschen , geschieht , aber fast nie zu der Zeit , da wir es wünschen .
Was den jungen Schwärmer ein Jahr früher , ach ! so glücklich gemacht hätte , was er damals so sehnlich wünschte , ein Brief von Antonien , worin sie ihm meldete , daß es ihr nun gelungen sei , die Aufhebung ihres Bundes beiden Familien völlig annehmlich und begreiflich zu machen , und wie es sie freue , sich endlich nicht mehr als ein Hindernis seines Glücks ansehen zu dürfen , erschien jetzt , und war - wie niederschlagend in jeder Hinsicht für ihn ! -
Antoniens Lage hatte in kurzer Zeit eine andere Ansicht bekommen .
Sie sah sich mit Vergnügen von einem neuen Geliebten gesucht , zu dem sie Neigung , Eigennutz und Ehrgeiz weit stärker , als zu Seeberg hinzog , und sie führte das nun wirklich aus , wovon sie erst nur den Schein erkünstelt hatte .
- Seeberg erfuhr durch einige seiner vorigen Freunde bald den wahren Zusammenhäng , und verglich Antoniens Feinheit mit jener natürlich zarten Empfindung einer schönen Seele .
Seine Sehnsucht nach Marie kehrte quälender zurück ; seine Wünsche flogen oft in die Vergangenheit , und hingen mit Wehmut an den lieblichen Szenen , die er im Stillen mit Marie verlebt .
Aber zugleich erwachten auch andere Bedürfnisse , die in seiner besseren Natur gegründet waren , lebhafter und bestimmter in ihm .
Der Trieb , nützlich zu sein , und an der Bildung seines edleren Selbsts zu arbeiten , sprach deutlicher , und mahnte ihn unabweislich , der Wirklichkeit seinen Tribut zu entrichten .
Er kehrte mehr in sich selbst zurück , und suchte nun auch über die Eindrücke zu herrschen , die so lange über ihn geherrscht hatten .
Er reiste , beobachtete , bildete seinen Sinn für Geschmack und Kunst , knüpfte manches Band , und zerriß es wieder , und Maries Andenken wurde unvermerkt immer schwächer in ihm .
Doch bewunderte er oft , je mehr er in der Welt lebte , ihren Scharfsinn , womit sie , bei weniger Erfahrung , oft wie durch eine höhere Eingebung , über so viele Verhältnisse des Lebens richtig geurteilt , ihm so manches richtig voraus gesagt hatte . -
Vieles wurde ihm jetzt hell , und viel , sehr viel verlor seinen glänzenden Schimmer , der es in der Ferne umgeben hatte .
Die Betrügereien des Scheins wurden ihm deutlicher ; die Meinung der Menschen , dies veränderliche , seltsame Etwas gleichgültiger , und seine eigenen Phantasien mußten nur dienen , ihm die Gegenwart so viel als möglich zu verschönern .
Er wählte endlich zu seinem beständigen Aufenthalt ein Landgut , das nicht weit von einer mittelmässig großen Stadt lag , und suchte hier , ohne Rang und Titel den Menschen so viel zu nützen , als er konnte .
Ein günstiges Schicksal hatte indessen über Marie gewaltet .
Als sie das Dörfchen und Seebergs Nähe auf immer verlassen , war ihr Plan sogleich auf eine Stadt hingerichtet , die sich , wie sie wußte , durch ein wohleingerichtetes Theater empfahl .
Ohne weiteren Unfall , zwar von mancherlei traurigen Bildern beunruhigt , aber auf der anderen Seite von einem tröstenden Selbstgefühl wieder erheitert , gelangte sie hier an , und ihre erste Sorge war , als Schauspielerin aufgenommen zu werden .
Es gelang ihr ; ihr großes Talent für Gesang erwarb ihr bald allgemeinen Beifall , auch als Schauspielerin bildete sich manche Anlage schön bei ihr aus , und sie sah sich bald in einer unabhängigen und sicheren Lage .
In dieser selbsterworbenen freien Existenz fühlte sie sich , wenn auch nicht beglückter , doch ruhiger , als je . -
Fast jeder Mensch träumt sich in der Jugend eine Lage , worin er am liebsten leben möchte .
Gönnt ihm diese sein freundliches Schicksal , so hat er dann wohl noch Wünsche , noch trübe Stunden , aber eine geheime Zufriedenheit zeigt doch immer auf die Erfüllung seines Lieblingswunsches zurück .
Marie befand sich in diesem Zustande .
Der einfache Gang ihres früheren Lebens hatte ihr Zeit gelassen , über sich selbst nachzudenken , und ihre Wünsche an etwas Bestimmtes zu fesseln .
Ihr natürlich heller Verstand war durch den Umgang mit der Welt erleuchtet , aber nicht geblendet , ihre Phantasie war beschäftigt , aber nicht verwirrt , ihr Gefühl verfeinert , aber nicht vernichtet worden .
In der darauf erfolgten Einsamkeit hatte sie über vieles reiflicher nachdenken , vieles vergleichen , sich von vielem unabhängig erhalten lernen , und einen , für ihr Alter seltenen Grad von Tätigkeit und praktischer Weisheit erworben .
Sie war jetzt das ganz , was sie sein wollte .
- Das Leben war ihr ein angenehmes , freundliches Geschenk , das sie am liebsten durch Wort und Tat , ohne welche alle Gesinnungen doch ewig unfruchtbar bleiben , und alle Kraft des Gedankens verschwindet , genießen wollte .
Die Erinnerung an Seebergs Liebe schwebte noch wie ein süßer Traum vor ihrer Seele , aber lebhafter kehrte das Bild des treuen Brandem in ihr Herz zurück .
Jetzt erst fühlte sie bestimmt , was er für sie getan , wie wesentlich er für ihr Glück gesorgt , und die Sehnsucht etwas von seinem Schicksal zu erfahren , regte sich täglich bestimmter , und stärker in ihr .
Viel , ach ! viel hatte diese edle , still , aber stark fühlende Seele unterdessen gelitten .
Familienangelegenheiten , und seine gewissenhafte Besorgnis derselben , hatten ihn weit länger , als er geglaubt , von Marie entfernt gehalten , und seine Gegenwart an mehreren Orten notwendig gemacht .
Kaum hatte er bei seiner Zurückkehre Maries Abreise und ihres Vaters Tod erfahren , so eilte er , von mancherlei Ahnungen betrügt , nach dem Dörfchen hin .
Aber was er fühlte , als er Marie nicht mehr fand , als er von dem Prediger nichts weiter , als die Nachricht erfuhr : ein junger , vornehmer Herr sei mit ihr , bald nach ihres Vaters Tode weggereist , wahrscheinlich zu dem vornehmen Fräulein in die Stadt - das beschreibt sich nicht .
Brandem , der wohl wußte , daß sie dort nicht war , und Seebergs Abwesenheit erfahren hatte , begriff nun alles , und sah mit einmal alle seine Hoffnungen zu Boden geschlagen .
Sein Unmut wurde bitterer Schmerz und Unwillen gegen sich selbst .
" O ! ich Tor , ich rasender Tor ! " rief er aus - " daß ich mir Allwissenheit zutraute , bei so viel Kurzsicht ! - warum gestand ich ihr nicht anfänglich meine Liebe ? warum handelte ich planmäßig , verdeckt gegen sie , die so offen war ? -
Die Ruhe dieser schönen Seele ist vielleicht auf immer verloren , und wie habe ich dem zärtlichen Vater mein Versprechen gehalten , der vielleicht mit Unruhe und Trauer die Welt verlassen hat ? "
So quälte er sich mit Vorwürfen , und klagte sich selbst wegen dessen an , was nur Schuld des Erfolgs , der nie in unserer Macht steht , war .
Sein natürlicher Hang zur Schwermut vermehrte sich ; er haßte die Menschen , ohne daß er aufhörte , ihnen gutes zu tun , und bezog mit schmerzlich süßem Gefühl den kleinen Maierhof , wo er Marie zuerst gesehen hatte .
Hier lebte er ein abgeschiedenes düsteres Leben , und oft hörten die Dörfer des Nachts , mit geheimem Schauer , eine klagende Musik auf Antons Hügel .
Indessen richtete sich sein Geist , durch Einsamkeit gestärkt , an der Hand reiner , selbsterworbener Grundsätze , unvermerkt wieder auf .
Er schaute wieder frei in das Leben hin , und fand , daß er zu viel empfand , zu wenig handelte .
Er fühlte neuen Drang zur Wirksamkeit in sich , und das Dörfchen , das nur aus wenig Häusern bestand , deren zufriedene Bewohner mit neuen Kenntnissen und neuem Genuß nur ihre glückliche Gleichmütigkeit verloren haben würden , genügte ihm nicht mehr .
Vor allem beschloß er , Maries Aufenthalt zu erforschen .
Der Gedanke an diese unverdorbene , reine Seele erquickte ihn von neuem , und die goldenen Tage , die er im Genuß ihres uneingeschränkten Vertrauens verlebt , ragten wie ein Licht aus dem Dunkel seines Lebens hervor , und verstreuten ihren erfreulichen Schimmer rund umher auf Vergangenheit , Gegenwart und Zukunft .
Er war jetzt weit entfernt , wegen einiger traurigen Tage , die ohnehin im Leben kommen , die glücklichen missen zu wollen , und das zu bereuen , was ihn einst so selig machte .
Sein Verhältnis zu Marie als Freund , konnte ja durch keine äußere Veränderung leiden , und vielleicht war er ihr jetzt nötiger , als je .
Von neuem in die Sphäre des Lebens und der Hoffnung zurückgetreten , reiste er zu Antonien , um von dieser , wo möglich , etwas näheres von Maries Schicksal zu erfahren ; aber sie war abwesend , und Niemand konnte ihm hierüber befriedigende Auskunft geben .
Die Stadt , wo er bisher gelebt hatte , war ihm durch mancherlei Verhältnisse zuwider geworden ; er verfolgte jetzt mit Freuden eine Aussicht , die sich ihm an dem Hofe eines benachbarten Fürsten zeigte , und reiste , dem erhaltenen Rufe gemäß bald dahin ab .
Am Abend seiner Ankunft war Schauspiel ; und als er hörte , daß man den Sturm geben würde , eilte er dahin .
Miranda trat auf , und sein Herz stockte .
Ihre Unerfahrenheit , die liebliche Verwirrung der ersten Liebe , alles erinnerte ihn , ergriff ihn mit süßer Gewalt .
Er lebte in einer reißend schnellen Verzückung jene schönen Stunden , wo er Marie in ihrer holden Unschuld gesehen , gehört , beobachtet hatte , noch einmal .
Es war nicht die Künstlerin , die durch ihr gedachtes schönes Spiel dem Verstand Genüge leistete , es war dies lebende , entzückende Geschöpf der göttlichen Einbildungskraft , es war Miranda selbst , die sein Gefühl in Flammen setzte .
Nach und nach verschwand auch diese , und Marie trat an ihre Stelle .
Mit jedem Augenblicke wurde es ihm lebendiger , mit jeder Bewegung wurde sie es mehr - und sie war es wirklich !
In welcher süßen Betäubung erwartete er das Ende des Spiels ! -
Der Zauber der Kunst und das Überraschende des Wiedersehens hoben seine Gefühle zu einer schwärmerischen Höhe empor .
Sobald das Spiel geendet war , eilte er zu ihr .
Marie , die seine Ankunft schon vorher erfahren , die sein edles , fein und wahr fühlendes Gemüt , je mehr sie in der Welt gelebt , als eine seltene , schöne Erscheinung immer lieber gewonnen hatte , und sich mit den rührendsten Banden der Achtung und des Zutrauens an ihn gebunden fühlte , empfing ihn mit der lieblichsten Wahrheit und kindlichem Entzücken . -
Welch eine Wollust , welch ein Genuß , für ihr Herz , ihm mit der innigsten Offenheit alle , seit ihrer Trennung vorgegangenen Szenen aufs lebendigste darzustellen , ihm alle ihre Empfindungen treu und unbefangen zu entwerfen , mit ihm die neu aufgefaßten Bilder und Erfahrungen teilen und berichtigen zu können !
- Sie lebten nun an einem Orte ; und Brandem beobachtete Marie , deren Geist nun vollkommen erwacht war , und mit sanfter Selbstständigkeit ihren hellen Vorstellungen folgte , immer mehr .
Er sah wie sie in allen Fällen des Lebens , ein heiteres , reines , offenes Gemüt zeigte , wie sie nun mit milder Stetigkeit an gewissen Grundsätzen festhielt , wie ihr Gefühl gegen ihn immer dasselbe blieb , und seine Billigung in ihrem Herzen den Beifall eines glänzenden Zirkels , welchen Jugend und Liebenswürdigkeit um sie versammelte , weit überwog .
Ein milder , harmonischer Geist berührte mit zarter Hand die süßesten Akkorde ihrer Seelen , und ein dauerndes Band von Achtung , Vertrauen und Freundschaft hielt den himmlischen Einklang fest .
CC-BY

Rechtsinhaber*in
Bildungsroman Projekt

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Korpus. Marie. Marie. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0q1.0