Erstes Buch Die schwüle Luft eines Spätsommertages lag auf der Stadt .
Kein Windzug entführte den Rauch , welcher aus ungezählten Essen emporstieg und zu einem Schleier von totem Grau verdichtet über dem ganzen Weichbilde stand .
Der Fluß führte wenig Wasser unter den breitspannenden Brückenbogen talwärts , und das bißchen Kühle , das er auf seinen gelben Wellen mit sich gebracht , verflog schnell , aufgesogen von der Sonne , die , schon seit Wochen unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel herniedersengend , den Blättern der Alleebäume längst die Farbe des Tabaks gegeben und das Erdreich in morschen Zunder verwandelt hatte .
Jeder Windzug entführte davon Teile , die sich in inniger Verquickung mit dem Straßenstaub , dem Ruß der Fabrikessen und der Schornstein auf Menschen , Tiere , Pflanzen legten und den Lungen eines jeden Lebewesens das Atmen erschwerten .
Wem in dieser Jahreszeit Beschäftigung oder Kasse nicht erlaubt hatten , ins Hochgebirge oder an die See zu entfliehen , der suchte in den Feierstunden wenigstens aus den Mauern hinauszugelangen in die luftig gebauten Villenvororte , in die Obstgärten und Weinberge unterhalb der Stadt , vielleicht auch in die ausgedehnten Waldungen im Norden .
Die Menschenwogen , welche sich aus dem rauchigen Zentrum in die Naturfrische ergossen , hatten jenen herdenartigen Charakter angenommen , den die Menge zeigt , sobald ein Naturereignis , ein gemeinsames Erleben , oder auch nur verwandtes Bedürfnis sie nach einer bestimmten Richtung treibt .
Das Gefühl unerträglicher Schwüle hatte in diesen Tausenden den nämlichen Drang erzeugt : hinaus unter freien Himmel .
Eine Gruppe von drei Menschen trennte sich ab von dem allgemeinen Schwarme : zwei Männer , ein Mädchen .
Während die meisten anderen der ausgestreckten Hand eines Wegweisers folgten , der in fünf Minuten die schönste Aussicht , Kegelbahn , Bier , Kaffee und andere Herrlichkeiten verhieß , schlugen diese drei einen sandigen Fußsteig ein , der in den Wald hineinführte .
Einem Mädchen wie diesem begegnet man gern .
Frische Wangen , schönes Haar , guter Wuchs .
In den Bewegungen die Leichtigkeit und anmutige Weichheit , die nur das junge Weib hat .
Helle , freundlich blickende Augen , welche man sich mit Tränen gefüllt sehr rührend vorstellen konnte , Augen , die nicht kokett blickten , aber aus denen unbewußt die rührende Mädchenbitte sprach : finde mich hübsch !
Nichts Rätselhaftes , nichts Dämonisches , nichts Mystisches , aber umsomehr gesunde Sinnlichkeit .
So mancher Mann wendete unwillkürlich den Kopf nach dieser Erscheinung , und " ein bildhübsches Mädchen " , das war eine häufige Bemerkung , die Alma Lux hinter sich geflüstert hören konnte .
Wahrscheinlich war das gestreifte Sommerkleidchen , das sie gut kleidete , ihr eigenes Machwerk .
Aus ihrem Hut mit allzuviel künstlichen Blumen und dem grellfarbigen Sonnenschirm , den sie nicht recht zu handhaben verstand , sprach das harmlose Bestreben des Kindes aus dem Volk , für eine Dame gehalten zu werden .
Von den beiden Männern trug der ältere seinen einfachen , braunen Lodenanzug mit einem gewissen großartigen Selbstbewußtsein zur Schau , als wolle er sagen : wenn ich mich gut anzöge , würde meine Häßlichkeit nur noch grotesker wirken .
Und in der Tat , aus diesen abfallenden Schultern , eckigen Hüften und dünnen Beinen , hätte die größte Schneiderkunst nichts Anmutiges zu gestalten vermocht .
Die Gesichtszüge dieses Mannes , der im Anfang der dreißig stehen mochte , machten freilich manches wieder gut , was der Körper an ästhetischen Sünden beging .
Es war das Gesicht eines intelligenten Pudels .
Schmale , hohe Stirn , in die rotblondes Haar in lockigen Büscheln fiel .
Lebhafte , glänzende , kluge und zugleich gute Augen .
Brauen , die sich von der gleichmäßig roten Farbe des ganzen Gesichts nur wenig abhoben .
Eine spitze Nase mit weiten , beweglichen Nüstern .
Das Untergesicht vorspringend .
Oberlippe und Mundwinkel ganz vom blonden Schnauzbart versteckt .
Von ganz anderem Schrot und Korn war der Jüngere .
Die lässige Haltung , die Art , wie er seinen ehemals gut gemachten , jetzt abgenutzten Anzug trug , sprachen von dem stolzen Gehenlassen eines Menschen , dem der Stempel guter Herkunft von Natur aufgedrückt ist .
Die Haut zart , die Glieder schlank und gut proportioniert , die Züge eigentümlich kapriziös gemischt .
Die edle Stirn , das ausdrucksvolle Auge schienen einen Anlauf zu energischer Männlichkeit nehmen zu wollen , doch waren Kinn und Lippen die eines Weibes .
Niemand konnte es dem jungen Menschen verargen , daß er das Haar im Nacken lang trug , denn es hatte einen ungewöhnlichen , an matte Seide erinnernden Glanz .
Der ältere der beiden schien des Weges kundig zu sein .
Zwar war Doktor Lehmfink kein Autochthone .
Seine Wiege hatte in einem schwäbischen Gebirgsstädtchen , nahe der Schweizer Grenze gestanden .
Sein Leben war eine Wanderung nach Wissen und nach Brot .
Ein eigentliches Heim hatte er auch hier nicht ; man müßte denn eine Chambre garnie und einen Schemel vor einem Redaktionspult so nennen . -
Seit zwei Jahren lebte er in dieser Stadt .
Er schätzte den Platz , wie man eine Schutzhütte zu schätzen weiß im Gebirge , die einem eine Zeit lang notdürftige Unterkunft gewährt .
Und auch sein um etwa fünf Jahre jüngerer Begleiter war ein moderner Nomade .
Das holperige Pflaster des nordhannoverschen Nestes , dem er entstammte , hatte Fritz Bärtig seit Jahren nicht mehr betreten .
Er war mit seiner Familie zerfallen , galt den Verwandten als ein verlorener Sohn .
Trotz seiner Jugend hatte er seine Füße schon an den verschiedensten Herdfeuern gewärmt .
Sie kannten einander von Berlin her , wo sie sich in literarischen Kreisen getroffen hatten .
Lehmfink besaß eine hohe Meinung von Bertings Begabung .
Er liebte den Jüngling mit einer Art schmerzlichen Bewunderung , wie es selbstlose Menschen tun , die in einem jüngeren Genossen jene glücklichen Anlagen finden , die sie in sich selbst zu erziehen einstmals heiß bemüht gewesen sind .
Auch nach seinem Wegzug von Berlin hatte Doktor Lehmfink den jungen Bärtig nicht aus dem Auge verloren .
Vor einiger Zeit erfuhr er durch die Zeitungen , daß ein Drama des jungen Dichters bei seiner Erstaufführung in Berlin in aufsehenerregender Weise durchgefallen war .
Er schrieb an den Autor einen Beileidsbrief .
Daraufhin war Fritz Bärtig eines Tages bei ihm erschienen , mit wenig Gepäck , ohne Geld und in Begleitung eines weiblichen Wesens .
Lehmfinks Auffassung von Liebe war nicht eng .
Das Leben hatte ihn gelehrt , daß man in allem , was die Beziehungen der Geschlechter betrifft , nicht weitherzig genug urteilen kann .
Aber er wußte auch , daß es keine gefährlichere Klippe gibt für den Menschen , der noch keine gefestigte Stellung hat , als ein ernsthaftes Liebesverhältnis .
Er nahm scheinbar Almas Gegenwart als etwas Selbstverständliches hin , stellte keine neugierigen Fragen , forschte nicht , wie die beiden einander gefunden hätten und was ihre Zukunftspläne seien .
Lehmfink sah es für Freundespflicht an , zunächst für Fritzens äußeres Unterkommen zu sorgen .
Er half eine möblierte Wohnung suchen für die beiden , dann wußte er einen Verleger , der gerade auf Ausschau war nach verheißungsvollen Talenten , zu interessieren für den jungen Dichter .
Auf Doktor Lehmfinks Empfehlung hin gab der sonst äußerst vorsichtige Geschäftsmann für einen Roman , den Bärtig noch nicht einmal zu schreiben begonnen hatte , einen Vorschuß von etlichen hundert Mark .
Fritz Bärtig hatte die nächsten Wochen dazu gebraucht , sich in der fremden Stadt umzuschauen .
Man mußte doch erst in Stimmung kommen , ehe man sich niedersetzte zum Schreiben .
Der Verleger hatte nichts wieder von ihm gesehen , seit dem Tage , wo er so unvorsichtig gewesen war , seine guten Scheine in Fritzens Hand zu legen , in der Hoffnung , sie in Gestalt von beschriebenem Papier zurückzubekommen .
Dem Freunde gegenüber hatte Bärtig die Entschuldigung , daß man bei der herrschenden Hitze von keinem Menschen Gedanken und Einfälle verlangen dürfe .
Lehmfink hätte erwidern können , daß er bei jeder Temperatur Tag ein Tag aus sein Pensum abarbeiten müsse ; aber er unterdrückte die Bemerkung , denn es kam ihm nicht bei , seine Tätigkeit mit der Bertings zu vergleichen .
So streifte Fritz denn in der Stadt umher , betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern , studierte Physiognomie und Wesen der Einwohner , amüsierte sich über ihre Aussprache , die eine Karikatur war des Hochdeutsch , saß in Restaurationen und Kaffees , schlürfte einen Eiskaffee nach dem anderen , las Zeitungen , und ging abends ins Gartenkonzert .
Alma saß derweil in der gemieteten Wohnung allein .
Anfangs hatte sie die Zeit damit zugebracht , seine und ihre Garderobe in besseren Zustand zu bringen .
Als sie damit schnell fertig geworden war , dachte sie daran , sich nach Arbeit umzusehen .
Das nächstliegendste für sie wäre gewesen , wieder in einem Konfektionsgeschäft Stellung zu suchen , als Probierfräulein oder dergleichen .
Zwar war tote Saison , aber mit ihrer Figur konnte sie schon den Versuch wagen .
Fritz jedoch wollte davon nichts wissen , er fand diese Art Broterwerb ihrer durchaus unwürdig .
Da entsann sich Alma , daß sie in der Zeit , ehe sie in die Konfektion gekommen , Krawatten genäht hatte .
Ganz verlernt würde sie das inzwischen auch nicht haben .
Sie fragte in verschiedenen Geschäften nach Arbeit und erhielt schließlich einen Posten zugeschnittener Ware überwiesen .
Gern hätte sie sich eine Nähmaschine gekauft oder geliehen .
Aber Fritz legte dagegen ein entschiedenes Veto ein .
Bei der Engigkeit ihres Logis würde ihn das impertinente Geräusch der Nähmaschine stören .
Alma , die gewohnt war , sich in allen Stücken seinen Wünschen zu fügen , mußte daher die Arbeit mit der Hand verrichten .
Heute hatte Doktor Lehmfink die beiden abgeholt , um ihnen etwas von der Umgebung der schön gelegenen Stadt , von der sie so gut wie noch nichts gesehen hatten , zu zeigen .
Die Unterhaltung war nicht gerade lebhaft ; Lehmfink trug ihre Kosten so ziemlich allein .
Fritz Bärtig war schon seit einigen Tagen schlechter Laune .
Machte das die andauernde Hitze , oder eine ungünstige Besprechung , die neulich in einer angesehenen Zeitschrift über seine Gedichte gestanden hatte , oder endlich die Entdeckung , daß die von dem Verleger vorgeschossene Summe wie der abnehmende Mond unaufhaltsam kleiner wurde ; oder waren es diese unangenehmen Dinge vereinigt ?
Kurzum , Fritz sah die Welt durch eine rauchgeschwärzte Brille und nahm sich nicht die Mühe , diesen Seelenzustand vor seiner Umgebung zu verbergen .
Doktor Lehmfink sprach wie gewöhnlich von Literatur .
Er hatte in früheren Jahren nach dem Dichterlorbeer gestrebt , ohne es weiter zu bringen als zum Literaten .
Eine von Lehmfinks Liebhabereien war , die Literaturgeschichte nach vergessenen oder bei Lebzeiten irgendwie zu kurz gekommenen Autoren zu durchstöbern , um diese Verkannten nachträglich zu Ehren zu bringen .
Schon verschiedene solcher Verschollenen hatte er in Anthologien und billigen Ausgaben populär zu machen versucht .
Er setzte bei solchem Bemühen nur Geld zu und Zeit .
Von der Not getrieben , war er schließlich zum Journalismus übergegangen .
Bei dem Feuilleton einer politischen Tageszeitung fand er Unterschlupf .
Hier mußte er so ziemlich über alles schreiben : Theater , Bücherbesprechungen , Wissenschaftliches .
Seine gründliche Bildung kam ihm dabei zu statten , während der hohe künstlerische Maßstab , den er an literarische Erzeugnisse anzulegen für Pflicht hielt , ihn oft genug in Kollision brachte mit den banalen Forderungen des Publikums , das vor allem Lesefutter will und Sensationelles .
Fritz Bärtig , hörte nur mit halbem Ohr hin .
Mehr Interesse legte Alma Lux an den Tag .
Sie besaß die Bildung der Volksschule , schrieb unorthographisch und kam in ihren literarischen Interessen nicht über den Kolportageroman hinaus .
Aber auf sie wirkte , wie auf die meisten Frauen , viel weniger das Thema , als die Persönlichkeit des Sprechenden .
Doktor Lehmfink war ihr interessant .
Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen gesehen , der ihm ähnlich gewesen wäre .
Die großen Augen , das strubbelige Haar und die rötliche Hautfarbe seines Gesichts , dazu seine Storchbeine reizten sie beständig zum Lachen .
Sie konnte sich gar nicht in die Existenzbedingungen eines solchen Wesens hineindenken , betrachtete diesen Menschen als etwas Neues , Fremdes , Erstaunliches , wie eine Art Schauspiel , das zu ihrem besonderen Vergnügen aufgeführt wurde .
Auch wenn sie seine Worte gar nicht verstand , bereitete es ihr doch Genuß , ihnen zu folgen und dabei zu denken , wie freundlich es von diesem hochgelehrten Herrn sei , sich überhaupt mit ihr abzugeben .
Und was ihr Vertrauen zu Doktor Lehmfink unendlich vertiefte , war das instinktive Gefühl , daß er ein anständiger Mann sei , der nichts Unrechtes von ihr wolle .
Sie hatte trotz ihrer neunzehn Jahre die Erfahrung gemacht , daß das bei Männern etwas äußerst Seltenes ist .
Die Drei hatten ein schmales , mit dünnem Wald bestandenes Tal durchschritten , in dessen Grunde ein seichtes Wässerlein hie und da aufblitzte .
Nun stiegen sie durch tiefen Sand zu einer unbedeutenden Erhöhung empor .
Der Gipfel war gelichtet und gestattete freien Ausblick .
Da unten über Baumwipfel hinweg sah man die Stadt liegen .
Sie füllte das breite Flußtal mit ihren Häusermassen bis zu den jenseitigen Hügelreihen .
Im Osten standen , gleich blauen Würfeln , eine Anzahl Berge gegen den milchweißen Himmel , deren Gipfel wie mit dem Messer abgeschnitten schienen .
Der Fluß , von zahlreichen Brücken überspannt , trat in gefälliger Kurve aus der Stadt heraus , nur für ein kurzes Stück durch freies Land fließend , dann verdeckten ihn schon wieder Gebäudemassen , Häuserzeilen , Fabriken .
Das ganze , weite , muldenartige Tal besetzt von menschlichen Anwesen .
Selbst die niederen Höhenzüge , die nach beiden Seiten zurücktretend breiten Bänken fruchtbaren Vorlandes Platz machten , waren besät mit Dörfern , Einzelgehöften , Schlösschen und Landhäusern , die inmitten von Obstgärten und eingehegten Parks lagen .
Wo nach Süden das Gelände offen im Anprall der Sonne sich breitete , hatte der Weinbau seinen Platz gefunden .
Nach Norden hin aber dehnte sich auf rauhem Hochplateau dunkler Kiefernwald , sandige Heideflächen , sumpfiges Wiesenland .
Und in diesen breiten , prächtigen Rahmen eingebettet , lag die Stadt , halb in ihrem eigenen Dunst und Rauch verhüllt , mit ihren unzähligen Dächern , Essen , Schornsteinen , Giebeln , aus denen hie und da ein schlanker Turm , eine majestätische Kuppel , das Glasdach eines Bahnhofs , der viereckige Kasten einer Kaserne als Ruhepunkt im Wechsel kleinerer Formen auftauchten .
Lehmfink machte den Erklärer .
Er benannte die einzelnen Stadtteile , die öffentlichen Gebäude , die Kirchen , die Paläste , die gewerblichen Anlagen , die großen Straßenzüge .
Es war der günstigste Augenblick .
Die Sonne , im Sinken von intensiver Farbenkraft , vergoldete die Kirchturmspitzen und die Kuppeln , spiegelte sich in tausend großen und kleinen Scheiben , ließ einzelne Gebäude selbstleuchtend hervortreten , verlieh sogar den Fabrikessen , den großen Steinkästen , den kahlen Brandmauern , einen wärmeren Ton und durchleuchtete die Wolke von Dunst und Staub , die über dem Ganzen lag .
Fritz Bärtig ließ die blasierte Miene fallen ; seine Züge belebten sich bei dem Anblick dieses Bildes voll Mannigfaltigkeit .
Er war überrascht .
Er hatte da unten gesteckt in einer heißen , engen , wenig sauberen Vorstadtwohnung .
Hatte unter Kohlenstaub und Straßenlärm gelitten und schon manch liebes Mal den ganzen Ort verwünscht .
" Nicht wahr , das hättest du nicht vermutet ? " fragte ihn Lehmfink .
" Ja , was denn !
Das ist ja wirklich eine schöne Stadt ! " rief Fritz .
" Wenn man so mitten drin steckt , Bärtig , merkt man zu viel von den Details und zu wenig von der Physiognomie .
Hier aus der Vogelschau sieht man , daß das Ding einen Anfang hat und ein Ende , eine Umgebung , und eine Lage .
Und man versteht nun auch den Sinn , nicht wahr ? - begreift , daß eine Stadt gerade hier hat entstehen müssen . "
" Und da man als Deutscher , mein lieber Lehmfink , ja natürlich nicht Ruhe hat , bis nicht Zweck und Ursache eines Dinges endgiltig festgestellt sind , erkenne ich diesem Orte jetzt erst Existenzberechtigung zu , erkläre mich mit seinem Dasein ausgesöhnt und einverstanden . "
Fritz lächelte ein wenig spöttisch , dann verlor er sich wieder ganz in Gedanken .
Lehmfink wollte in seinen Erläuterungen fortfahren , aber Fritz unterbrach ihn .
" Verschone mich mit Namen , Lehmfink , oder gar mit Geschichte !
Wenn mir jemand eine Landschaft erklärt , streift er für meine Augen unfehlbar allen Reiz davon ab .
- Ist das da unten nicht wie ein persönliches Wesen ?
So müßte man von irgend einem Punkte aus auf unseren Maulwurfshaufen von Erde herabblicken können !
Dann würde man vielleicht die richtige Würdigung haben des Lebens .
Distanz ist alles !
Das ist ja mein Traum ; den höchsten Standpunkt zu finden , von dem aus man mit überlegenem und alles umfassendem Blick ein Bild geben könnte , zwingend durch Wahrheit , erdrückend durch Natürlichkeit .
Das müßte ein wunderbares Kunstwerk geben , wenn man das ganze große Leben von solcher Warte aus belauschen könnte . "
" Schreibe dieses Buch ! " rief Lehmfink lebhaft .
" Schreibe uns dieses Buch ! "
" Die Stadt müßte man erweitern zu einem Symbol des gesamten Volkes , der ganzen Menschheit .
Ach !
Man müßte die Dächer da unten aufdecken können , und den Leuten in ihre Stuben blicken und Kammern .
Wie sie essen , wie sie schlafen , müßte man wissen , wie sie sich gebärden , wenn sie sich ganz unbeobachtet glauben .
Hüllenlos sie sehen bei jeder Betätigung , in ihren primitiven Leidenschaften sie belauschen , wenn sie lieben und hassen , wenn sie hungrig sind , wenn sie sich voll gegessen haben und getrunken .
Wie Neid , Eifersucht und Liebe abwechselnd sie gegeneinander und aufeinander treiben , wie sie sich bald umarmen , bald einander belügen und betrügen und sich den Tod an den Hals wünschen .
Durch all die heuchlerischen Hüllen müßte man hindurchblicken können , die sie Geselligkeit , Familie , Gesetz , Sitte zu nennen belieben .
Wem das gelänge , die Menschen so im Allerheiligsten der Alltagsprosa zu fassen !
Die Tiere , ja die kann man belauschen .
Aber der Mensch ist Schauspieler .
Es ist so schwierig , menschliche Dokumente , wirklich echte Dokumente zu sammeln ! "
Fritz seufzte .
" Und was hättest du schließlich davon , wenn du auch ein paar Dutzend solcher Dokumente glücklich in deine Scheuern gesammelt hättest ? " meinte Lehmfink .
" Den großen Schatz ewiger Wahrheit hättest du damit nicht bereichert .
Überlasse doch das Sammeln solch kleiner Augenblickswahrheiten der Wissenschaft .
Warum willst du in einem Kehrichthaufen wühlen , lieber Bärtig , wo dir als Künstler das ganze Weltall zum Tummelplatz frei steht .
Früher schrieb man Gedichte über Helden und Götter , über Menschen nur , wenn sie außerordentliche Dinge wollten ; jetzt wird nicht mehr das Erhabene geschildert , sondern das Zwergenhafte .
Ja , man verläßt das Gebiet des Geistigen und Seelischen vollständig , stellt in den Mittelpunkt einen toten Mechanismus als Symbol : ein Warenhaus , eine Straße , ein Bergwerk und schreibt darüber Dithyramben . "
" Schließlich bedarf die Seele doch des Leibes , " warf Bärtig ein , " und der Leib wieder des Kleides und der Behausung .
Wir sind Sklaven der Sachen , in denen wir leben .
Wie die Menschen essen , trinken , schlafen , davon hängt ab , wie sie denken , fühlen und handeln .
Diese Grundlage des menschlichen Daseins muß auch die Kunst anerkennen , sie kann nicht , wie sie es bisher getan hat , nur in den Wolken schweben wollen .
Auf die nüchternste Unterlage des Alltäglichen soll sie ihre glänzenden Muster sticken .
Gefühl , Stimmung , Phantasie haben wir ; aber das genügt noch lange nicht , um den großen Experimental-Roman zu schreiben , so wie ihn das Ausland hat , wie wir ihn überhaupt noch nicht ahnen .
Die Wissenschaft , die Technik , die Soziologie , die ganze Natur , die Welt , alles , was es gibt , müßte man beherrschen , im Detail sowohl wie im Ganzen .
Wir haben ein modernes Leben , ein großes , gewaltiges .
Überall drängt es sich uns in die Sinne , aber es ist gewissermaßen nur äußerlich da , seine Eindrücke bleiben auf der Netzhaut .
Wir sind so von ihm befangen , so von seiner Neuheit betäubt , daß noch niemand dazu gekommen ist , es zu verarbeiten .
Und es ist so riesenhaft in seinen Dimensionen , daß die Arbeit fast hoffnungslos scheint , es jemals künstlerisch zu durchdringen .
Ja , wenn man den Optimismus hätte und die Arbeitskraft eines Zola ! "
" Ich begreife deine Hoffnungslosigkeit nicht , " sagte Lehmfink nach einigem Überlegen .
" Daß eine Fülle von Stoff vorhanden ist , der der Verarbeitung harrt , kann man doch für den Künstler unmöglich als Unglück betrachten .
Es kommt eben darauf an , den Geist zu erfassen , den höheren Sinn der tausend verwirrenden Einzelheiten um uns her .
Wenn der Gelehrte vor dieser Aufgabe erschrickt , so kann ich das begreifen , denn er muß Kleinarbeit leisten und wird sich möglicherweise darin aufreiben .
Der Dichter aber faßt zusammen , schenkt uns einen Blick von hoher Warte aus , der uns plötzlich die dunklen Täler der Empirie aufhellt .
Der Künstler kann seinen Standpunkt gar nicht erhaben genug wählen .
Ängstliches Forschen , Sezieren , pedantische Wiedergabe der Wirklichkeit überlasse er den Forschern .
Ihm ist Freiheit gegeben und Intuition , er soll uns die Harmonie hören lassen aus allen Disakkorden des Lebens , die nur seinem Ohr vernehmbar ist .
Muß ich dir das sagen , Bärtig ! "
" Klingt ganz gut , Lehmfink .
Du vergißt nur eins : wir Modernen sind an die Wirklichkeit gebunden mit ehernen Klammern .
Unsere Vorfahren hatten es leicht ; sie entfalteten einfach die Phantasieschwingen ; je höher sie flogen , je mehr wurden sie bewundert .
Aber inzwischen ist die Menschheit älter geworden .
Die Naturwissenschaft hat sie aus ihren Träumen zum hellen Bewußtsein aufgeweckt .
Die Sinne wollen zu ihrem Rechte kommen .
Alles schreit nach Tatsachen .
Die vorige Dichtergeneration hat sich Mühe gegeben , dem Publikum den Wirklichkeitssinn auszutreiben , alles mußte verhüllt , vergoldet , idealisiert werden .
Wir lachen über diese Gestalten , die eine unmögliche Sprache sprechen , von Heroismus triefen und von bürgerlicher Tugendhaftigkeit .
Dazu ein Milieu , das kein Milieu ist .
Mit einem Worte : Unnatur , Mangel an Mut , Kräfte Originalität .
Diesen ganzen falschen Idealismus wollen wir ausfegen .
Das moderne Leben ist längst über ihn hinweggeschritten .
In der Politik , im Erwerbe , in der Technik herrscht der Realismus .
Nur in der Literatur sind wir um ein halbes Jahrhundert zurück .
Das Ausland belächelt uns .
Wir , die wir uns mit unzähligen Siegen brüsten , die wir uns anschicken , der ganzen Welt ein wissenschaftliches Gravelotte und ein industrielles Sedan zu bereiten , müssen uns einfach verkriechen , wenn man uns nach unseren künstlerischen Taten fragt .
Mennige , innige Butzenscheibenlieder , gedrechselte Professorenromane mit wissenschaftlichen Fußnoten , tönende Jambendramen , falsch nach Schiller empfunden .
- Was soll ich noch weiter unser ganzes Elend aufzählen !
- Du weißt doch , Lehmfink , wofür wir Jungen kämpfen , daß wir herauswollen aus der Misere .
Wenn je eine Revolution berechtigt , notwendig , ja heilig ist , dann diese ! " -
Fritz Bärtig ließ seinen Blick über die Stadt gleiten , über das ganze weite von Leben und Arbeit erfüllte Tal .
Doktor Lehmfink hätte noch manches zu erwidern gehabt , aber er verschluckte es .
Er wollte den Freund nicht aus seinem Träumen reißen .
Er sah , daß in jenem ein Entschluß arbeite ; und das schien ihm gut zu sein .
Fritz Bärtig sprach ein paar Worte , wie zu sich selbst :
" Den großen , deutschen , naturalistischen Roman , wer den schriebe !
Ein freies , rücksichtsloses Buch !
Größer als Stendhal , Flaubert , Balzac und die Goncourts , als Zola und Dostojewskij .
Wem das gelänge ! " -
Alma blickte ihn mit scheuer Miene von der Seite an .
Wenn Fritz so ernst dreinschaute , dann begriff sie den Abstand zwischen sich und ihm .
Und das Bewußtsein dieses Abstandes machte sie traurig .
Bärtig umfaßte das ganze Rund noch einmal mit den Augen , dann nickte er befriedigt . * * * Sobald man das Weichbild der Stadt wieder erreicht hatte , trennte sich Doktor Lehmfink von seinen Freunden .
Er hatte in der Redaktion seines Blattes zu tun , wo heute Abend Konferenz der Redakteure stattfand .
Alma hatte sich bei Fritz eingehängt .
Sie war doch ein wenig müde geworden von dem ungewohnten Marschieren .
Langsam schlenderten die beiden die Straße hinab ; es kam ja wenig darauf an , ob sie eine halbe Stunde früher oder später in ihrem Quartier ankamen .
Was wartete ihrer dort , als ein unerträglich heißes Zimmer , ein schmales Abendbrot , das man appetitlos genoß , und später ein Lager , auf dem man sich ruhelos wälzen würde , bis einen in den Morgenstunden bleierner Schlaf ohne Erquickung umfing .
Nicht immer gestattete es Fritz , daß sie sich so bei ihm einhängte .
Er liebte die " Vertraulichkeiten auf offener Straße " , wie er das nannte , im allgemeinen nicht .
Alma aber wünschte , wie die meisten Mädchen in ihrer Lage , alle Welt solle wissen , daß sie einander zugehörten , daß er ihr Schatz sei .
Sie war unendlich stolz auf ihn .
Oft genug , während sie so schritten , streifte ihn ihr Blick heimlich bewundernd von der Seite .
Er hing seinen eigenen Gedanken nach , vor denen sie großen Respekt hatte .
Das Mädchen war schon zufrieden , wenn er nur duldete , daß sie ab und zu seinen Arm ein wenig drückte , um ihm ein verstohlenes Zeichen ihrer Anwesenheit zu geben .
An einer Mauer , auf die ihr Weg sie gerade zuführte , war unter anderen ein großes , rotes Plakat angebracht , auf dem ein Gastwirt sein Gartenetablissement anpries .
Heute Abend sollte dort bei " feenhafter Beleuchtung " ein " Monstrakonzert " von zwei Militärkapellen ausgeführt werden .
Alma hatte Halt gemacht und schickte sich an , das Plakat von Anfang bis zu Ende durchzulesen .
Fritz zog sie davon weg .
" Schauderhaft ! " meinte er .
Mit einem bedauernden Blick nach dem roten Zettel folgte ihm Alma .
In ihrer Phantasie hatte das Gelesene eine starke Wirkung hervorgebracht .
Sie glaubte wörtlich an die feenhafte Beleuchtung , an das Monstrakonzert , und malte sich das Ganze aus als ein Paradies von Schönheit und vornehmem Genuß .
Aber sie sagte nichts , obgleich sie sich lebhaft sehnte , nach der Langeweile der letzten Wochen gerade heute ein Vergnügen zu haben .
Fritz kam unerwarteter Weise selbst auf den Gedanken , daß man den Abend dort zubringen könne .
" Die Musik wird zwar peinigend sein , " sagte er .
" Mißverstandener Wagner und ungarische Rhapsodie im Stile eines Defiliermarsches vorgetragen .
Auch auf die Beleuchtung würde ich gern verzichten , ein paar chinesische Lampions in den Bäumen und Fettnäpfchen an den Rasenplätzen .
Aber wenigstens werden wir gute Luft haben .
Ich bekomme die ewige Cervelatwurst , die uns Frau Klippel jeden Abend besorgt , nachgerade auch satt .
Wir können uns schon Mal eine Ausschweifung gönnen . "
Alma jubelte .
Man beschloß trotzdem erst nach Haus zu gehen , denn es war gegen sieben Uhr , und das Konzert sollte in der neunten Stunde beginnen .
Der Weg führte durch Straßenzüge , die im freien Felde endigten , an Lattenzäunen vorbei , über liederliches Bauland , auf dem Schutt und Kehricht abgeladen worden war .
Dann ein freier Platz , dessen Hintergrund die weitläufige Anlage einer Fabrik bildete .
Und wieder kamen Straßen mit häßlichen , graugelben Häuserfronten und hohen , kahlen Brandmauern .
In den Gassen dieses Viertels herrschte freies , ungeniertes Leben .
Männer in Hemdsärmeln , Zigarre im Munde und Frauen in lockeren Flanellblusen lehnten zum Fenster hinaus .
Ganze Familien hatten sich es auf der Straße gemütlich gemacht , wo sie in voller Öffentlichkeit ihr Abendbrot verzehrten .
Kinder balgten sich und trieben mit viel Geschrei wilde Spiele auf dem Bürgersteig .
Ein Leierkastenmann drehte sein Instrument und veranlaßte die Hunde der Umgegend zu kläglichem Heulen .
Mädchen , modisch aufgeputzt , mit schlecht gepflegtem Haar und unsauberen Händen hatten mit einander zu tuscheln , liefen kichernd über die Straße und schielten gelegentlich nach einer Gruppe junger Burschen , die Hände in den Taschen und Hut im Genick , an einer Straßenecke standen , und vorläufig auf die Koketterie dieser Schönen nicht zu achten vorgaben .
Gerüche aller Art strömten aus den offenen Haustüren und Kellerlöchern .
Die Schaufenster schienen hauptsächlich für die Fliegen da zu sein ; Fliegen schwammen in Glocken und klebten schwarzen Rosinen ähnlich am Leim der Tüten und Bänder , die man ihnen als heimtückische Fallen aufgestellt hatte .
Was sonst an Auslagen vorhanden war hinter den schmutzigen Glasscheiben , konnte eher abschrecken als zum Kaufen anlocken .
Unter gewöhnlichen Umständen würde Fritz Bärtig sich beeilt haben , möglichst schnell solchen Eindrücken zu entkommen .
Heute verweilte er dabei mit einem gewissen liebevollen Interesse .
Es war , als hätten diese schlampigen Weiber , diese groben Männer , die aufgeputzten Mädel , die schmutzigen Kindergesichter , als hätten die häßlichen Häuser , die ganze Straße , ihm irgendwelche wichtigen Geheimnisse zu erzählen .
Der Hauch von Armseligkeit und Vernachlässigung aber , der über allem lag , seinen verwöhnten Nerven sonst ein Greuel , gab ihm heute nur den Eindruck einer intim charakteristischen Stimmung .
Alma wußte nicht recht , warum er jetzt in einem fort Halt machte und mit interessierter Miene die gleichgiltigsten Dinge betrachtete .
Aber sie hütete sich wohl , ihn darüber auszufragen .
So lieb er häufig sein konnte , so empfindlich und unberechenbar war er zu anderen Zeiten .
Dann brachte ihn eine Frage , eine Bemerkung , ein Lachen , ganz außer sich .
Alma fürchtete sich vor Szenen .
Nicht aus gewöhnlicher Feigheit .
Sie ahnte dunkel , daß mit jedem Streit , den sie miteinander hatten , ein Teil des Liebeskapitals unwiederbringlich dahinschwinde , des gemeinsamen Kapitals , zu dem sie sowieso den größeren Teil beisteuerte .
An der nächsten Straßenecke gab es einen großen Menschenauflauf .
Ein Mann und ein junges Weib zankten sich .
Es war schwer zu erkennen , um was es sich eigentlich handelte , denn die halbe Straße hatte sich im Nun versammelt .
Weiber nahmen Partei , Männer lachten und feuerten an , Kinder lärmten dazwischen .
Aus allen Fenstern blickten neugierig Köpfe .
Das junge Weib in anderen Umständen , nur leicht bekleidet mit Rock und Nachtjacke , das Haar zerzaust , warf ihrem Manne , einem großen , ungeschlachten Burschen , Untreue vor .
Er stand trotzig da , kam nicht zu Worte unter der Flut von Beschuldigungen , die sich über ihn ergoß .
Die Frau plauderte alles aus , enthüllte das ganze traurige Familienleben , gab es der Schadenfreude der Zuhörer preis .
Er ballte die Fäuste , bedrohte sie .
Da trat sie dicht vor ihn hin , forderte ihn heraus , sie zu schlagen , sie ins Gesicht zu schlagen , vor der ganzen Straße sie zu schlagen , wie er es , wenn sie allein seien , so oft tue .
Der große Kerl knirschte mit den Zähnen vor Wut , rollte die Augen und wagte es doch nicht , sie anzurühren .
Fritz Bärtig betrachtete den Vorgang mit atemloser Spannung .
Alles nahm er in sich auf , jede kleinste Veränderung der Züge , die wechselnden , blitzartigen Bewegungen , jede Nuance der Stimmen .
Das armselige Weib , wie sie unter der Wucht ihrer Gefühle und im Bewußtsein ihres Rechtes über sich selbst hinaus gesteigert wurde .
Wie sie Worte fand von Kraft und Größe , die ihr im gewöhnlichen Leben sicherlich niemals zu Gebote gestanden hätten .
Während bei dem brutalen Manne vor diesem unerwarteten Ausbruch großer Leidenschaft die feige Hundsnatur zum Durchbruch kam . - Nichts entging Fritz .
Er sah die Physiognomien der Zuschauer , ihre Lüsternheit ; wie sie danach lechzten , daß jener zuschlagen möge , wie sie ein blutiges Schauspiel herbeisehnten .
Alles das nahm der Dichter in sich auf , mit einer gewissen kühlen Befriedigung den Schatz von Dokumenten bereichernd , den er , wo er ging und stand , zu vermehren bemüht war .
Als sich die Streitenden schließlich bei der Annäherung eines Polizisten ins Haus zurückzogen , verließen auch Fritz und Alma den Platz .
» Wahrhaftig ! « dachte Fritz Bärtig bei sich , » man braucht doch nur die Nasenspitze eines Gesichtes zu sehen , um den ganzen Menschen mit Leichtigkeit daraus zu rekonstruieren .
Ich kenne die ganze Vorgeschichte , die intimsten Erlebnisse dieser beiden Menschen .
Und nicht bloß sie , ihre Sippe , die Klasse , die ganze Straße , die Atmosphäre , das Milieu , in dem sie leben .
Es steht klar und deutlich vor mir , als lebte ich seit Jahren mit ihnen zusammen , teilte ihre Genüsse , ihr Elend .
Über ihre Gedanken , ihre Regungen , ihre Bedürfnisse könnte ich Rede stehen , bis ins Kleinste . «
Bei Alma hatte das Erlebte ganz andere Gefühle ausgelöst .
Sie kannte solche Szenen , wie die eben gesehene , nur zu gut .
Mit geheimem Grauen erfüllte sie dergleichen .
Erinnerte es sie doch an ihre traurige Kindheit .
In ähnlicher Umgebung war sie aufgewachsen .
Armut und Elend tragen überall in der Welt das gleiche Gewand .
Schamlosigkeit , Zügellosigkeit , Mangel an Würde blickten durch die Löcher ihres zerfetzten Kleides .
Wie genau kannte sie diese Auftritte auf offener Gasse , die rohen Männer , die keifenden Weiber , die gaffende , schadenfrohe Menge , wenn der Jammer der Häuslichkeit herausgeschafft wird wie Kehricht , in dem dann jedermann nach alten Knochen und dergleichen zu wühlen sich für berechtigt hält .
Fritz Bärtig spann das Erlebnis mit Behagen weiter aus .
Ihm hatte es einen noch weit intensiveren Genuß bereitet , als der Anblick der schönen Stadt zu seinen Füßen im Abendsonnenschein .
Als die beiden von dem Ausfluge in ihre Wohnung zurückkehrten , sagte Frau Klippel , die Quartierwirtin , es wäre ein Herr dagewesen , der nach Herrn Bärtig gefragt hätte und etwas Geschriebenes zurückgelassen habe ; außerdem sei auch ein Brief mit der Post gekommen .
Fritz ging ins Wohnzimmer .
Er griff zunächst nach dem Brief .
Der Umschlag zeigte ihm die Hand seiner Schwester .
Schrieb Konstanze auch einmal wieder !
- Was darin stehen würde , glaubte er im voraus zu wissen .
Ihre Briefe waren sich ja alle ziemlich gleich .
Sie enthielten Berichte darüber , was ihr Mann , den sie über alles bewunderte , gesagt und getan habe , und ermahnende Worte für Fritz , der , seit er sich der Literatur zugewendet hatte , von der Familie als verlorener Sohn betrachtet wurde .
Fritz hätte die Lektüre des schwesterlichen Briefes , der ihm schwerlich Neues bringen würde , auf später aufgeschoben , wenn nicht der Poststempel Berlin gewesen wäre , der ihn stutzen machte .
Sein Schwager Wedner war in einer östlichen Provinzialhauptstadt Regierungsbeamter .
Wie kam es , daß Konstanze ihm aus der Reichshauptstadt schrieb ? -
Der Brief gab ihm hierüber sofort Aufklärung .
Die Schwester vermeldete , daß sie nach Berlin versetzt seien .
Wedners brennender Wunsch , ins Kultusministerium zu kommen , sei damit erfüllt .
Sonach wäre ihr Mann nun endlich in der Stellung angelangt , in die er seinen religiösen Interessen und seiner ernsten Gesinnung nach gehöre .
Daß die Versetzung außerdem auch eine Rangerhöhung und eine nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung bedeute , ließ die Schreiberin mit einfließen .
Eines sei ihr nur wehmütig , daß jetzt , wo sie nach Berlin gekommen , Fritz gerade die Stadt verlassen hätte .
Dann kamen Fragen , wie es ihm gehe , und die Bitte , ihr doch zu schreiben .
Die Verstimmung , die leider zwischen ihm und Wedner bestehe , dürfe nimmermehr auch auf sie übergreifen .
Sie wollten doch ja nicht vergessen , daß sie beide einzig noch übrig seien von den Geschwistern .
Ganz nebenbei erwähnte die Schwester , daß Fräulein Mariechen Pauli noch immer unverlobt sei .
Fritz mußte lächeln , als er an diese Stelle kam .
Konstanze blieb doch immer dieselbe : stets bereit , den Bruder für die Ehe einzufangen , um ihn damit der soliden Bürgerlichkeit wieder zuzuführen .
Eines fehlte Fritz noch zur Vollständigkeit des schwesterlichen Briefes : die Ermahnungen .
Sie kamen auch und in unerwarteter Form .
Neulich , so schrieb Konstanze , habe Wedner in einem Blatte , noch dazu in einem anerkannt schlecht gesinnten , eine Erzählung von Fritz gefunden .
Wedner , der sonst niemals solche Sachen lese , habe hier einmal eine Ausnahme gemacht , um zu sehen , was sein Schwager eigentlich jetzt schreibe .
Er sei entsetzt gewesen , habe Fritzens Arbeit eine " Verhöhnung " genannt , " alles dessen , was uns heilig ist " .
Sie selbst habe das Blatt gar nicht in die Hand nehmen dürfen , könne nur aus Wedners Entrüstung ihre Schlüsse ziehen .
Warum denn Fritz so etwas tue ?
Ob er denn gar nicht daran denke , daß er aus guter Familie stamme ?
Wenn der Vater das erlebt hätte , der so auf den Namen Bärtig gehalten habe .
- Hier hielt Fritz inne .
Er war gegen Konstanzens Vorwürfe ziemlich abgebrüht und machte sich im allgemeinen aus ihren mütterlichen Winken nicht viel ; wußte er doch , daß die Gute nur ein Echo war ihres Gatten .
Von dem Schwager Wedner aber Verständnis oder gar Billigung seiner Kunst zu erwarten , hätte geheißen , vom Maulwurf Sinn für Astronomie verlangen .
Fritz wunderte sich über Mißdeutung seines Schaffens von der Seite nicht .
Wenn aber die Schwester ihm sagen wollte , was er seinem Namen schuldig sei , brachte sie sein Blut in Wallung .
Über den letzten Teil des Briefes hingegen konnte Fritz nur lachen .
Die Schwester erkundigte sich , ob er denn immer noch mit " dieser Person " in Beziehung stünde , mit der er in Berlin gesehen worden sei .
Sie könne ihm nicht verschweigen , was Wedner über diesen Punkt gesagt habe : daß , solange Fritz seinen Wandel nicht ändere und nicht ernsthafte Zeichen von Besserung an den Tag lege , an eine Aussöhnung nicht zu denken sei .
Außerdem , so fügte die Schwester charakteristischer Weise hinzu , müsse ihm ein solches Leben doch sehr teuer kommen .
Wie es denn mit Fritzens Geldverhältnissen stünde ?
Sie könne doch unmöglich glauben , was in der Verwandtschaft erzählt werde , daß Fritz das Seine schon völlig vertan habe .
Er solle nur nicht denken , daß die Familie für ihn eintreten würde ; dazu seien sie einmal nicht in der Lage und außerdem habe Wedner gesagt , müsse man es Gott überlassen , Fritz auf den rechten Weg zurückzuführen .
Mit der abermaligen Bitte , recht bald zu antworten , schloß der Brief der Schwester .
Fritz faltete das Schreiben zusammen und legte es in ein besonderes Fach , zu dem er den Schlüssel stets bei sich in der Tasche trug .
Er traute der Quartierswirtin nicht , und auch Alma brauchte diesen Brief nicht zu lesen .
Dann summte er sich einen Gassenhauer , suchte die lästigen Gedanken , die ihm Konstanzens Geschreibsel erweckt hatte , loszuwerden .
Auf dem Tisch lag auch noch der Zettel von jenem Herrn , der in seiner Abwesenheit dagewesen war .
Fritz nahm ihn zur Hand und trat damit ans Fenster .
Er entzifferte aus der ziemlich unleserlichen Handschrift , daß ein gewisser Karol ihn ersuche , heute abend in ein Bierlokal der inneren Stadt zu kommen ; der Tisch , an dem Herr Karol sitzen würde , war genau bezeichnet .
Er kenne Herrn Bärtig aus seinen Veröffentlichungen , schrieb Karol , und fühle den lebhaften Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft .
Auch er sei ein Mann der Feder .
Er glaube verwandte Ziele zu haben mit Bärtig und darum würde es ihm eine Genugtuung bedeuten , sich einmal unter vier Augen mit ihm auszusprechen .
Karol , Karol !- - Fritz strengte sein Gedächtnis an .
Er glaubte sich zu entsinnen , den Namen beim Durchblättern sozialistischer Blätter einigemal unter Feuilletons gesehen zu haben .
Er hatte die Artikel nicht gelesen , weil er im allgemeinen nicht viel von einer Verquickung der Kunst mit Parteipolitik hielt .
Aber ein Gedicht war ihm in Erinnerung geblieben , das auch die Unterschrift " Karol " trug .
Es hatte angefangen : " Laßt eure Federn Dolche sein ! " und war , wie Fritz bei flüchtigem Durchlesen erschien , stark an Herwegh angelehnt .
Und dieser Mann schrieb ihm jetzt , daß er die persönliche Bekanntschaft des Dichters Bärtig herbeisehne .
- Fritz mußte unwillkürlich lächeln .
Er seinerseits sehnte sich nicht nach Begegnung mit diesem Kollegen .
Es war zehn gegen eins zu wetten , daß es eine Enttäuschung geben werde .
Von dem Spaziergang etwas ermüdet , hatte er sich auf dem Sofa niedergelassen .
Er überlegte , sollte er der Aufforderung Folge leisten ?
Es war doch eigentlich Arroganz , jemanden , den man gar nicht kannte , einfach zum Rendezvous aufzufordern mit der Behauptung , daß man " gemeinsame Ziele " habe .
Aber gerade das Selbstbewußtsein , das sich in den Zeilen ausdrückte , reizte auch wieder die Neugier , den Schreiber kennen zu lernen .
Vielleicht war Herr Karol doch nicht ganz ohne literarischen Einfluß .
Man konnte nicht wissen , ob man sich nicht eine Chance verdarb , wenn man den Mann einfach an seinem Tische vergeblich warten ließ .
Eben war er mit sich ins reine gekommen , daß er den Abend diesem Karol opfern wolle , als aus dem Schlafzimmer Alma eintrat .
Sie hatte sich umgezogen , ihr bestes Kleid angelegt .
" Soll ich den Samthut aufsetzen ? " fragte sie , " oder den mit den Mohnblumen ? "
Da fiel ihm ein , was er ihr vorhin zugesagt hatte .
" Ach richtig , dein Monstrakonzert ! - Entschuldige , Liebling , daraus kann heute nichts werden .
Ich muß mich mit einem Herrn treffen , der mir geschrieben hat . "
Das eben noch strahlende Gesicht des Mädchens verdüsterte sich .
Die Tränen kamen ihr sofort .
Sie schluckte an irgend einem unausgesprochenen Wort und trat ans Fenster .
Fritz setzte ihr vom Sofa her auseinander , daß die Sache von größter Bedeutung für ihn sei .
Er erklärte , daß er durch diesen Herrn Karol mit einem angesehenen Blatte in Verbindung kommen werde .
Alma glaubte ihm nicht .
Sie lebte lange genug mit Fritz zusammen , um sofort zu fühlen , wenn er es nicht ganz aufrichtig meinte .
Ihr Ohr war das der Eifersüchtigen .
Alma war eifersüchtig auf jedes Ding , jeden Menschen , mochte es Mann sein oder Weib .
Sie war in diesem Falle auch gekränkt .
Da schrieb ein beliebiger , wildfremder Herr an ihn und sofort hatte Fritz darüber vergessen , was er ihr versprochen .
Wie hatte sie sich auf dieses Konzert gefreut !
Gar_nicht so sehr der Musik wegen , oder der Beleuchtung , wie er wohl annahm ; sondern darauf , mit ihm dorthin gehen zu dürfen , an seinem Arme , überhaupt ihn einmal wieder für sich zu haben einen ganzen Abend lang .
Das war nun alles zu Wasser geworden , und seine schönsten Erklärungen änderten daran nichts .
Was bedeuteten Vernunftgründe für Alma .
Sie hörte nur das eine aus seinen Worten , daß die Kunst , oder um was es sich sonst handeln mochte , ihm mehr bedeute als sie .
Sie schwieg beharrlich .
Das hübsche Gesicht , das man nur immer heiter und aufgeräumt zu sehen gewohnt war , glich auf einmal einem festlichen Zimmer , in dem alle Kerzen ausgelöscht sind .
" Übermorgen ist Sonntag ! " sagte Fritz .
" Ich wollte längst einmal Lehmfink einladen .
Dann gehen wir zusammen aus , Liebchen .
Ich will sogar Sekt spendieren .
Den haben wir lange nicht getrunken .
Denke Mal : Sekt ! "
So ließ Alma sich nicht beschwichtigen .
Sie hatte eine jener Enttäuschungen erlebt , die Frauen nicht leicht vergessen .
Fritz kannte sie schlecht , wenn er glaubte , sie mit einem in Aussicht gestellten Sektdiner zu versöhnen .
Er begriff überhaupt nicht , um was es sich für sie handelte .
Wenn er ihr in diesem Augenblicke gesagt hätte :
Ich werde dem fremden Herrn abschreiben , gib du dein Konzert auf , wir wollen den Abend ganz still hier verbringen - jubelnd würde sie diesem Vorschlage zugestimmt haben .
Mit ihm zusammen sein , am liebsten allein !
Fühlen , daß man einander zugehöre , die Stunde genießen , die so nicht wieder kam .
Übermorgen !
- Was war Übermorgen ?
Er hätte ihr ebensogut versprechen können , daß er sie morgen heiraten wolle , das würde sie nicht getröstet haben über das verlorene Glück , das sie für heute geträumt hatte .
Er trat zu ihr , streichelte ihr die Wange und raunte ihr ins Ohr :
" Nicht maulen , Liebchen !
Wir können noch oft gehen .
Konzerte gibt es viele . "
Aber die Stirn blieb kraus und die Augen voll Tränen .
Es war so bitter zu denken , daß er ihr das antun konnte , gerade ihr !
Daß sie ihm so wenig bedeutete , nach allem , was sie gemeinsam durchlebt . * * * Fritz Bärtig und Alma Lux hatten einander in Berlin kennen gelernt , etwa vor fünf Vierteljahren .
Sie war damals noch nicht lange in der Reichshauptstadt gewesen , in die ein Zufall sie aus ihrer schlesischen Heimat verschlagen hatte .
Ihr Vater war als Aufseher in einer großen Spinnerei angestellt .
Sie selbst hatte von der Konfirmation ab der Mutter in der Haushaltung geholfen .
Die Familie war stark , das Auskommen schmal und die Frau nicht sonderlich wirtschaftlich .
Alma lernte alle Sorgen eines ärmlichen Hausstandes in früher Jugend kennen .
Dann starb der Vater nach kurzer Krankheit .
Die Mutter heiratete bald darauf einen jüngeren Mann , der früher Schlafbursche im Hause gewesen war .
Alma , empört über das , was ihr wie Treulosigkeit vorkam , verließ die Mutter und trat als Verkäuferin in ein Geschäft ein .
Dort sah sie ein berliner Geschäftsreisender .
Er redete dem jungen , bildhübschen Mädchen zu , nach Berlin zu kommen , in der Hauptstadt wolle er ihr eine bessere Stellung verschaffen .
Alma wäre vielleicht nicht auf die Lockungen des redegewandten Mannes eingegangen , wären nicht die unerquicklichen Verhältnisse in der Familie gewesen .
In Berlin erwiesen sich die Versprechungen des Reisenden als blauer Dunst .
Alma besaß jedoch Besonnenheit genug , sich seinen kupplerischen Plänen zu entziehen .
Auf eigene Faust suchte sie sich Beschäftigung .
In einem großen Geschäftshause für Damenkonfektion fand sie feste Stellung .
Aber auch hier wurde ihr das Leben schwer gemacht .
Ein jugendlicher Kommis wollte sie durchaus heiraten , und einer der Chefs näherte sich ihr mit minder ehrenvollen Anträgen .
Sie wechselte die Stelle , ohne daß es ihr an dem neuen Platze in dieser Beziehung besser ergangen wäre .
Die Kolleginnen verlachten sie wegen ihrer Sprödigkeit , und die abgewiesenen Männer waren nicht gut auf sie zu sprechen .
Aber sie ließ sich nicht irre machen .
Was sie daheim in ihrer nächsten Umgebung als junges Ding gesehen , hatte dem Mädchen einen tiefen Abscheu beigebracht vor Leichtsinn in Liebesdingen .
Lieben wollte sie , aber nur , wenn der Rechte käme und nur diesen einen .
Heute diesem , morgen jenem ohne Liebe sich hingeben , wie sie es bei so manchem Mädchen erlebte , das schien ihr ekelhaft und ein großes Unrecht .
Eines Tages lernte sie Fritz Bärtig kennen bei einem öffentlichen Balle , den zu besuchen sie sich durch eine Freundin hatte bereden lassen .
Er brachte sie abends bis vor die Haustür und bat um Erlaubnis , sie wiedersehen zu dürfen .
Sie sagte nicht nein , und man traf sich von da ab häufig .
Zwar begriff Alma sehr bald , daß es sich bei Fritzens Liebeswerbung auch nicht um Heirat handle ; aber es fiel ihr darum nicht ein , ihn mit den Männern , die sich ihr bisher genähert hatten , auf eine Stufe zu stellen .
Ihr hatte sich mit seinem Erscheinen ein Traum erfüllt .
Der Rechte war gekommen .
Fritz Bärtig verlangte von Alma , daß sie ihre Stellung als Ladenfräulein aufgebe , er werde für sie sorgen .
Sie zogen nicht zusammen .
Er besaß damals noch eigenes Vermögen und konnte sich den Luxus gestatten , zwei Wohnungen zu bezahlen .
Alma wurde von ihm reichlich mit Kleidern ausgestattet ; er wünschte , daß sie wie eine Dame auftreten solle .
Auch verlangte er , daß sie ihre Hände schone , damit ihre Fingernägel in " anständigen Zustand " kämen .
Sie tat ihm den Gefallen , enthielt sich jeder groben Arbeit , obgleich das langweilig genug war ; das Nichtstun lag gar nicht in ihrem Wesen .
Aber dieses Mädchen hätte schließlich noch ganz andere Opfer gebracht für den Mann , den sie liebte .
Was Fritz Bärtig eigentlich sei , womit er den Lebensunterhalt verdiene , hätte Alma damals kaum anzugeben vermocht .
Sie kümmerte sich darum auch nicht im ersten Liebesglück .
Dann als sie in aller Unbefangenheit über einen Menschen spottete , der aussehe " wie ein Dichter " , sagte er ihr :
auch er sei ein solcher , und er kenne keinen höheren Titel .
Sie war belustigt über seine Bemerkung , die sie für Spaß hielt , bis sie ein Buch fand , das seinen Namen als Verfasser trug .
Neugierig begann sie darin zu blättern .
Es waren Verse .
Er nahm ihr das Buch weg ; davon verstehe sie nichts .
Sie erklärte stolz , daß sie auf der Schule manches Gedicht auswendig gelernt hätte .
Zum Beweise begann sie zu deklamieren .
Aber er hielt sich entsetzt die Ohren zu und rief : mit Uhland könne man ihn umbringen .
Mit der Zeit lernte Alma auch verschiedene seiner Bekannten näher kennen .
Das waren die wunderlichsten Leute der Welt .
In ihren Reden und Angewohnheiten konnte man sich gar nicht zurecht finden .
Ernsthafte Dinge behandelten sie leicht und leichte äußerst ernsthaft .
Die Männer waren noch nicht das erstaunlichste ; aber die Damen dieses Kreises !
Wie sie sich kleideten und über was für Dinge sie sprachen ! -
Der kleinen Alma blieb oft der Mund offen stehen .
Zu schreiben schienen sie mehr oder weniger alle , Männlein wie Weiblein .
Und die , die nicht schrieben , malten , traten öffentlich auf , hielten Vorträge vor hunderten und tausenden von Zuhörern .
Alma versuchte gelegentlich zu den Gesprächen auch ein Wort zu sagen ; aber da sah man sie erstaunt an , als rede sie in fremder Zunge .
Oder man belustigte sich über ihre Aussprache , zog sie wohl gar auf .
Fritz saß mit verdrossener Miene dabei , und machte ihr , wenn sie allein waren , Vorwürfe .
Sie hielt ihm vor , daß sie doch nichts dafür könne , wenn sie wenig gelernt habe .
Er meinte : auf Bildung komme es in diesem Falle gar nicht an , sondern auf Geschmack .
Bildung könne sie sich noch jetzt zur Not erwerben , aber Geschmack sei eine Sache der Kultur und des Taktes ; die habe man oder man habe sie nicht .
Das verstand sie nun wieder nicht ; aber das Demütigende fühlte sie wohl heraus .
Am meisten aber grämte sie sich , daß Fritz sich ihrer vor seinen Freunden zu schämen schien .
Sie verhielt sich fortan ganz stille in Gesellschaft , gab nur noch verschüchtert Antwort , wenn sie direkt gefragt wurde .
So war Alma , obgleich sie mitten drin stand in einem Kreise interessanter , ungewöhnlicher Menschen , doch eigentlich einsam .
Sie fühlte sich herausgerissen aus allem , was sie bisher gehabt .
Freilich hatte sie ihren Fritz .
Er konnte sehr lieb sein und gütig in den glücklichen Augenblicken ihres Zusammenlebens .
Manchmal aber war er schroff und kalt , ja geradezu feindlich gegen sie .
Das machte , er hatte Sorgen .
Sie merkte es sehr bald , obgleich er ihr nicht Einblick gewährte in seine Verhältnisse .
Wie gern hätte sie geholfen !
Warum war er nur so stolz ?
Warum verdiente er sich nichts ?
Sie stellte ihn einmal darüber zur Rede .
Er antwortete ihr : in Deutschland habe alles seinen Marktpreis , nur nicht Verse .
Als sie darauf sagte : dann möge er das Versemachen doch lassen und etwas schreiben , das Geld einbrächte , da lachte er bitter auf und nannte sie " Eva " .
Fritz Bärtig war jetzt ganz in Anspruch genommen von etwas Neuem .
Er hatte sich entschlossen , sein Drama " Leiser Schlaf " , das alle Bühnen bisher abgelehnt hatten , auf eigene Kosten zur Aufführung zu bringen .
Er nannte es : einen " letzten Wurf " .
Wenn das ein Mißerfolg sei , dann könne er sich eine Kugel vor den Kopf schießen .
Ohne alles zu verstehen , was er sagte , begriff Alma doch , daß es sich für ihn um Großes , Entscheidendes handle .
Sie klagte nicht , wenn er fortan durch Proben , Besuche bei Schauspielern und Kritikern und andere Vorbereitungen für den " Tag der Schlacht " ihr immer mehr entzogen wurde .
Fritz Bärtig hatte auf diese Aufführung , wie auf eine letzte Karte , den Rest seines kleinen Vermögens gesetzt .
Mit seiner Familie war er zerfallen .
Der Vater , dem Korrektheit über alles ging , hatte ihm niemals verziehen , daß er die begonnene juristische Karriere aufgegeben und zur Boheme übergelaufen war , daß er anstößige Gedichte schrieb und Dramen , die alles andere waren als hofbühnenfähig .
Die Kunst hatte für ihn einen goldenen Boden noch nicht gehabt .
Seine Gedichtsammlungen waren in preziösester Ausstattung erschienen und brachten ihm , obgleich sie im Kreise der Kenner nicht unbeachtet geblieben waren , die Herstellungskosten keineswegs zurück .
Dramen zu schreiben , hatte er sehr früh angefangen .
Lessing , Schiller , Körner , Laube standen bei seinen Erstlingen Pate .
Dann hatte er fünfaktige Römerdramen verfaßt , und die große von der Geschichte selbst geschriebene Hohnstaufentragödie in schlechten Jamben ballhornisiert .
Durch Zufall kam ihm Grabbe in die Hände , und nun wimmelten seine Entwürfe von grausamen Lüstlingen und Bluthunden , die sich mit dem Mantel philosophischen Weltschmerzes zu drapieren verstanden .
In der Zeit , wo der junge Dichter mit der lebendigen Bühne in erste Berührung kam , beherrschte das französische Sittenstück und seine Nachahmungen das Repertoire .
Von da ab ließ er seine Stücke nur noch im Salon spielen .
Natürlich handelte es sich um Ehekonflikte .
Die Gestalt des allwissenden , die Absicht des Dichters interpretierenden , witzigen Raisonneurs , fehlte auch in Fritz Bertings Komödien nicht .
Diese Einflüsse verblaßten vor einem Gestirn von unerhörter Form und Strahlenbrechung , das damals am Himmel der deutschen Literatur aufstieg : Ibsen .
Er wirkte wie die Entdeckung eines neuen Erdteiles .
Alles war an diesem Dramatiker ungewöhnlich : die Technik , die Sprache , die Probleme , auch seine Persönlichkeit , sein Werdegang .
Als eine fertige , gereifte , in sich geschlossene Erscheinung stand er mit einem Male da , auftauchend aus dem Unbekannten .
Er war weit mehr als ein Theaterdichter .
Wenn auch nur für seine kleine Heimat geschrieben , meinten seine Dichtungen doch die ganze Welt .
Er war der Dichter der Epoche , weil er die Sehnsucht nach einer neuen Ethik zu erfüllen schien .
Denn bei ihm gab es keine Staatsaktionen , keine Intrigen und Verwicklungen im Sinne des alten Theaters , das Interesse war konzentriert auf das Seelische , die Handlung verlegt in das Gewissen der Menschen .
Moralisch waren seine Stücke , aber im Sinne einer neuen , subtileren , freieren Moral als die alte , nach himmlischer Belohnung schielende .
Eine Moral , die auf gesundem Egoismus und kühner Selbstverantwortung ruhte .
Die moderne , selbstherrliche , dem Gängelbande von Staat und Kirche entwachsene Menschheit wurde gezeigt , nach welchen Grundsätzen sie in Wahrheit lebt , welche Triebe , Bedürfnisse und Ziele sie in Wirklichkeit regieren .
In die tiefsten Schichten der sozialen Heuchelei bohrte dieser Dichter hinab , an alles morsche Gestein klopfte er .
Ein revolutionärer Dichter , der alte Götzen von ihren Piedestalen warf und an das Heiligste und Verehrteste kühl den Maßstab unerbittlicher Wahrhaftigkeit legte , eine neue Welt mit neuen Gesetzen für Gut und Böse , Schön und Unschön , Gesund und Krank schuf .
Fritz Bärtig stand zunächst vor dem Phänomen Ibsen wie überwältigt .
Dann sah er keine andere Rettung , sich von dem unerhörten Ereignis zu befreien , als es sich von der Seele zu schreiben .
Das Drama , das er in dieser Verfassung schrieb , hieß : " Leiser Schlaf " .
Er wollte damit zeigen , wie für das empfindliche Bewußtsein des Modernen nicht die groben Übertretungen der landläufigen Moral es sind , die den Menschen zum Schuft machen , sondern die viel feineren Verstöße , die kein Staatsanwalt verfolgt , die moralische Feigheit , die Unterlassung mutiger Taten .
Diese Dinge haben einen leisen Schlaf .
Das Drama hatte wenig äußere Handlung , war aber , wie der Autor glaubte , wirksam durch ungewöhnliche Wandlungen und Enthüllungen im Seelenleben .
Leider konnte er jedoch keinen Theaterdirektor zu der eigenen günstigen Meinung bekehren , so verzweifelt er sich auch nach dieser Richtung bemühte .
Schließlich kam er zu dem Entschluß , das Stück in einem gemieteten Saale von selbst engagierten Schauspielern aufführen zu lassen .
Von vornherein stand ein Unglücksstern über Leisem Schlaf .
Einer der wichtigsten Darsteller sprang noch während des Einstudierens ab , weil ihn ein berühmter Mime auf seine Gastspieltouren ins Ausland mitnahm .
Bis ein Ersatz gefunden war , vergingen Wochen .
Darüber rückte der Frühling heran , für das Theater die tote Saison .
Schließlich kam es aber doch zur Aufführung .
Das Haus war zwar in Anbetracht der Jahreszeit immer noch leidlich besucht , aber das Publikum trug keine verheißungsvolle Physiognomie , für den , der sich auf das rätselvolle Ding , Premierenschicksal , einigermaßen verstand .
Die wenigen Kritiker , die ihren Beruf höher auffassen als den eines Theater-Reporters , waren ausgeblieben .
Die Zeitungen hatten ihre grünsten Jungen entsandt , weil sie der Sache nicht viel Wert beilegten .
Die für Literatur und Theater interessierten Laien , auf die der Dichter so sehr gehofft hatte , waren schwach vertreten .
Was gekommen , war eine von Neugier und allerhand unsachlichem Interesse angezogene , oder auch durch ziemlich wahllos verteilte Freibillets herbeigelockte Maße von zweifelhafter Verständnisfähigkeit .
Es kamen noch einige nicht vorauszusehende Mißgeschicke hinzu , welche das Publikum von vornherein in eine dem Erfolge gefährliche Stimmung versetzten .
Der Schauspieler , den Fritz Bärtig an Stelle jenes anderen , untreu gewordenen , herangezogen hatte , war um eines Hauptes Länge kleiner als seine Partnerin , die überhaupt aus dem zusammengewürfelten Ensemble körperlich wie geistig stärker hervorragte , als für eine einheitliche Wirkung gut war .
Und dazu ein Publikum , das nicht wußte , was es mit dem Dargebotenen anfangen sollte !
Der Dialog zündete nicht , die Situationen ließen kalt , die Pointen fielen unter den Tisch .
Es wollte nicht jene Verbindung eintreten , nicht jene Leitung feiner Fäden des Einverständnisses sich anspinnen zwischen Zuschauer , über den Darsteller hinweg , mit dem Dichter im Hintergrunde , die so notwendig ist für den Erfolg eines Abends .
Als der Vorhang zum ersten Male niederging , erscholl einiger Applaus .
Aber die paar Leute , die durch ihre Freibillets , oder weil sie persönliche Freunde des Autors waren , sich verpflichtet fühlten , zu klatschen , wurden , als sie es gar zu eifrig trieben , schließlich durch Zischen zur Ruhe verwiesen .
Im zweiten Akte schlug die Stimmung des Publikums um .
Bisher hatte man sich anständig gelangweilt , jetzt aber entstand Husten , unruhiges Hin- und Herrücken und Flüstern ; ein böses Omen für den Ausgang der Sache .
Und nun der Höhepunkt des Dramas .
Ein Dialog zwischen Held und Heldin , wo die Gegensätze der Naturen in einer leidenschaftlichen Szene aufeinanderplatzten .
Es war einer jener Momente , die bei Premieren nicht selten sind .
Die Stimmung ist dann wie bei einem Gewitter , schwer , geladen , tragisch , voll höchster Spannung .
Dann spricht das Unbedeutendste mit .
Ein einziger falscher Ton kann alles verderben .
In solchen Momenten hat selbst die grobe Maße ein instinktives Künstlerurteil .
Sie weiß es , daß in ihre Hand das Schicksal der Dichtung , ja vielleicht des Dichters gelegt ist .
Dieses Bewußtsein von der eigenen Bedeutung macht jedes Ohr feiner hören , jedes Auge schärfer erkennen .
Unter Gelächter fiel der Vorhang über dem zweiten Akte .
Als er sich zum dritten und letzten Male hob , zeigte es sich , daß die Schlacht verloren sei .
Die Leute , die am Ulke Freude haben , hatten nun die Oberhand gewonnen .
Die Schauspieler selbst aber gaben das Spielen auf , sagten nur noch ihre Rollen zu Ende .
Der Dichter hatte einige Tage vorher , als er noch des Gelingens seiner Sache sicher gewesen , die Darsteller und eine Anzahl Freunde zur Zusammenkunft in einer Weinstube eingeladen .
Das Fest wurde trotz der Niederlage schließlich noch abgehalten , das einmal bestellte Diener verzehrt und dem kalt gestellten Sekt tüchtig zugesprochen .
Es herrschte Galgenhumor .
Maximilian Nackede , Fritzens ehemaliger Studienfreund und jetziger Dichtergenosse , tröstete den Autor in einer launigen Ansprache damit , daß eben vor manchen Stücken das Publikum rettungslos durchfallen müsse .
Er feierte den Abend als einen heiligen Taufakt : die Aufnahme eines neuen Mitglieds in den Orden der Verkannten .
Die Mehrzahl der Erschienenen , Herren wie Damen , bezechten sich .
Der Dichter selbst wurde , seiner Sinne nicht mächtig , von einigen ebenfalls stark schwankenden Freunden in früher Morgenstunde nach seinem Quartier geschafft .
Als er dort im Laufe des Vormittags erwachte , fand er an seinem Lager Alma , die das Gelage nicht mitgemacht hatte .
Sie wich nicht mehr von Fritz .
Ohne daß er sie eingeladen hätte , quartierte sie sich bei ihm ein .
Er legte ihr nichts in den Weg .
Fritz ließ alles gehen , wie es gehen wollte .
Gleichgültigkeit hatte ihn befallen , als natürlicher Rückschlag gegen die fieberhafte Aufregung der letzten Wochen .
Den Gnadenstoß gaben ihm die Besprechungen , die über sein Stück in den Zeitungen erschienen .
Den Jünglingen von der Kritik war sein Durchfall eine gefundene Gelegenheit , ihren Witz an Dichter und Dichtung auszulassen .
Hatten doch diese Herren sämtlich mindestens ein unaufgeführtes Drama im Schubfach liegen , das wie eine feurige Kohle glimmend allen ihren Theaterkritiken zugrunde lag .
Es bleibt immer eine Freude , konstatieren zu können , daß ein Rivale zu Falle gekommen ist .
Und nun gar hier , wo einer versucht hatte , mit eigenem Gelde seinem überall abgewiesenen Stücke auf die Bretter zu helfen .
Wie kam ein Dichter überhaupt zu Geld ? -
Das war gegen alle Traditionen des Standes .
Der " gesunde Instinkt " der Zuhörerschaft wurde belobt , der sich gegen ein solches Experiment aufgelehnt hatte .
Bärtig lernte die Kollegen von eigentümlicher Seite kennen .
Solange er als Lyriker ein verhältnismäßig harmloses , weil wenig einträgliches Gebiet bestellt hatte , ließ man ihn gewähren , hatte ihm sogar gelegentlich ein Wort der Aufmunterung gegönnt .
Sobald er aber als Dramatiker nach einem Kranz zu greifen wagte , den jeder im stillen ersehnte , weil er mit dem größeren Ruhme auch die größeren Einnahmen verhieß , wurde er verdächtig ; man warf ihm Knüppel zwischen die Beine .
Die mißlichen Geldverhältnisse vermehrten die Bitterkeit seiner Lage .
Fritz hatte niemals ein Budget gemacht ; seitdem er in den Besitz des väterlichen Erbteils gekommen , immer nur aus dem Vollen gelebt .
Jetzt war das Kapital verbraucht .
Um so zahlreicher liefen die Rechnungen ein , an deren Bezahlung er niemals gedacht hatte .
Er wechselte die Wohnung , um den allzu aufdringlichen Mahnern entrückt zu sein .
Eine Sendung von einigen hundert Mark , die anonym ankam , half ihm fürs erste sich über Wasser halten .
Er ahnte , von wem das Geld komme .
Sein Freund Nackede , der zwar selbst kein Krösus war , aber einige wohlhabende Gönner seiner leichtgeschürzten Muse in Berlin W besaß , steckte unverkennbar dahinter .
Die lustigen Verse in verstellter Handschrift , welche die Sendung begleiteten , trugen ganz den Stempel Nackedeschen Witzes .
Schwer genug fiel es , solches Geschenk anzunehmen für einen , der sich noch nicht an das Leben auf anderer Leute Kosten gewöhnt hatte .
Aber wenigstens hatte ihm Nackede durch seine graziöse Brücke das Betreten des ungewohnten Weges etwas erleichtert .
Ein Gedanke kam Fritz , an seinen Freund , Michael Baron Chubsky , zu schreiben .
Der hatte ihm vor gar nicht langer Zeit von Paris aus geschrieben - mit einem mitleidigen Seitenblick auf die barbarischen Litteratur- und Kunstverhältnisse in Deutschland , denen er glücklich entronnen sei - Paris sei die einzige Stadt , in der ein Mensch von Geist und Geschmack atmen könne .
Chubsky , der in drei Sprachen , polnisch , deutsch und französisch dichtete , hatte Fritz - allerdings im Absinthrausche - früher einmal gestanden , daß er , wäre er überhaupt der Freundschaft fähig , wahrscheinlich am ersten noch Fritz Bärtig mit diesem Gefühl beehrt haben würde .
An den Baron Chubsky also schrieb Fritz , teilte ihm mit , wie kläglich es ihm ergangen sei , daß er sich Berlins gründlich müde fühle , und daß er daran gedacht habe , nach Paris überzusiedeln .
Chubsky antwortete mit einer Pünktlichkeit , die man sonst nicht an ihm kannte :
er rate dringend ab , nach Paris zu kommen , dort sei gar kein Boden für einen deutschen Autor .
Und er , Michael Chubsky , reise eben für einige Monate an die englische Küste , könne also gar nichts in der Sache tun .
Zwischen den Zeilen war nur zu deutlich die Besorgnis zu lesen , daß der Freund ihm über den Hals kommen könne .
In dieser trüben Zeit , wo alle Quellen zu versiegen schienen , erfuhr Fritz Bärtig , was er an Alma besaß .
Sie sorgte und dachte für ihn wie eine Mutter .
Er hatte ihr wohl früher in schlechter Laune vorgeworfen , sie erschlage ihn geistig mit ihrem Banausengeschwätz .
Und nun wurde es für ihn zur Erquickung , sich von ihr vorerzählen zu lassen .
Er fand heraus , daß sie sehr nett zu plaudern verstehe , ja er mußte gestehen , daß sie viel natürliche Beobachtungsgabe und Mutterwitz besitze .
Dabei strebte sie nicht an , geistreich gefunden zu werden .
Sie redete , wie ihr der Schnabel gewachsen war .
Die Anklänge an den Dialekt ihrer schlesischen Heimat , die das berliner Leben noch nicht ganz verwischt hatte , gaben ihrer Sprechweise etwas anheimelnd Schlichtes .
Sein Unglück war für sie zum Glück ausgeschlagen .
Das Schicksal hatte ihn hilfsbedürftig gemacht .
Nun konnte sie zeigen , wie sie ihn liebte .
Nun durfte sie ihm dienen und im Dienen herrschen , was im Grunde die Sehnsucht jedes liebenden Weibes ist .
Denn sie wollte seine ganze Liebe haben .
Seine Zärtlichkeit bedeutete ihrer Leidenschaft nur ein magerer Brocken .
Sie wollte die Seele des Geliebten .
Die schnell aufflackernden und schneller verflogenen Regungen der Sinne waren ihr immer nur Abschlagszahlungen auf Höheres .
Auch er solle mit der Zeit von denselben starken Gefühlen erfaßt werden , die sie beseelten , das hoffte sie zu erreichen , indem sie sich ihm unentbehrlich machte , ihn der sanften Gewohnheit des Geliebtseins unterjochte .
Auch noch von anderer Seite wurde in dieser Zeit für Fritz eine Art Hilfsaktion ins Leben gesetzt .
Seine Familie , die nach verschiedenen Todesfällen jetzt nur noch aus der Schwester , deren Mann , dem Gatten der verstorbenen Schwester und den noch jungen Kindern aus beiden Ehen bestand , rührte sich , nachdem man längere Zeit sich um den verloren Gegebenen nicht gekümmert hatte .
Sie hatten durch die Blätter von seiner Niederlage als Dramatiker gehört .
Der Augenblick schien günstig , den , wie sie annahmen , kleinlaut Gestimmten , der Boheme zu entreißen , ihn dem bürgerlichen Leben wiederzugewinnen .
Sein Schwager Regierungsrat Wedner besuchte ihn in Berlin .
Er bezeichnete sich , als Bevollmächtigter der Familie , bereit , mit ihm zu unterhandeln .
Die Vorschläge , die man zu machen hatte , waren folgende :
Fritz solle das Schreiben lassen , das seinen Namen nur diskreditiere und nicht einmal Geld einbringe ; ferner müsse er das Frauenzimmer von sich tun , mit dem er zusammen lebe .
Auszahlung , falls solche nötig , wollte der Schwager in die Hand nehmen .
Und als letzten Punkt :
Fritz sollte zurückkehren zur juristischen Karriere , die er sinnloser Weise verlassen .
Zu dem " Rettungsversuch " , wie der Schwager Regierungsrat das nannte , gehörte auch der Wink , daß man für Fritz eine junge Dame in Aussicht habe , aus achtbarer Familie , nicht ohne Vermögen , die bereit sein würde , über sein Vorleben wegzusehen und es mit ihm zu versuchen .
Dieses in allem Ernst gestellte Ansinnen seiner Anverwandten wirkte auf Fritz empfindlicher als ein Peitschenschlag auf nackte Haut .
Das jagte ihn auf aus der Lethargie , die ihn nach seinem Mißerfolge befallen hatte .
Nun war es Ehrensache , jenen zu zeigen , daß er ihrer nicht bedürfe , daß er sie mitsamt ihrem traurigen Rettungsversuche verachte .
Die nächste Folge der sehr erregt endenden Unterredung war ein unheilbarer Bruch mit seinem Schwager Wedner .
Die Indignation über das Erlebte glühte noch in ihm , während er eine Anzahl Skizzen abfaßte , in denen er die faule Moral , die Heuchelei , die Unnatur des modernen Familienlebens der höheren Stände rücksichtslos geißelte .
Und siehe da , diese Federzeichnungen , welche in verschiedenen Blättern sofort Abdruck fanden , verschafften ihm in wenigen Wochen mehr Popularität , als er mit seiner gesamten bisherigen Produktion gewonnen .
Noch einen anderen Erfolg hatte die mißglückte Einmischung der Anverwandten in seine Verhältnisse :
Fritz Bärtig war sich seiner Liebe zu Alma erst recht bewußt geworden .
In tiefer Empörung stellte er sich auf Seite der Verunglimpften .
An sie war er nun mit verstärkten Ketten gebunden . * * * Am zweiten Tische links vom Eingang der Bierstube , in die er Fritz Bärtig gebeten hatte , saß der Dichter Karol .
Da er die sämtlichen Zeitungen des Lokales bereits durchgelesen hatte , war er jetzt unbeschäftigt und überdachte noch einmal die Worte , die er an den Kollegen von der Feder richten wollte .
Er lächelte selbstzufrieden , schon im voraus des günstigen Eindruckes gewiß ; denn so rechnete Karol : welcher Mensch und zumal welcher Schriftsteller würde widerstehen können , wenn man ihm seine Dichtungen ins Gesicht lobte .
Er hatte nicht immer seinen jetzigen Namen getragen , eigentlich hieß er Silber .
Aber dieser Name paßte nach Ansicht des Trägers nicht recht zu einem deutschen Dichter .
In Silber lag ein harter , verdächtiger Metallklang , der sich mit dem Idealismus , den man hierzulande bei dem Sänger voraussetzte , nicht gut zu vertragen schien .
Sein Vater war von Russisch-Polen ins Reich eingewandert , hatte in einer jener rapid aufblühenden Industriestädte des oberschlesischen Kohlenreviers sich niedergelassen .
Er handelte mit fertiger Herrengarderobe .
Der alte Silber nahm aber auch jeden anderen Verdienst gern mit .
Eine Spezialität von ihm war , bei Umzügen , Todesfällen oder auch Konkursen Sachen aufzukaufen , mit denen die Leute augenblicklich nicht wußten , wohin , um sie später mit Profit wieder an den Mann zu bringen .
Der älteste Sohn Siegfried besuchte die Realschule .
Der Vater hatte ihn zum Kaufmann bestimmt .
Der kleine Siegfried trat schon frühzeitig in ein Verhältnis zur Weltliteratur ; und zwar geschah dies auf nicht ganz alltägliche Weise .
Unter dem Trödelkram , den der Vater allmählich in den Hintereräumen seines Geschäftes aufstapelte , befanden sich auch allerlei Bücher .
Da gab es ganze Romanbibliotheken , Lexika , Enzyklopädien , Bände von deutschen Magazinen und französischen Revuen , illustrierte Zeitungen , Witz- und Modeblätter .
In diese Bücherei höchst gemischter Natur versenkte sich der Jüngling , dem Frühreife und die Wißbegier seines Stammes in hohem Grade eigen war .
In der Schule bekam Siegfried zu hören , daß wir Deutschen eine Literatur besäßen , die man in eine althochdeutsche Zeit , eine mittelhochdeutsche Zeit und eine neudeutsche Zeit einteile , und daß die großen Dichter der klassischen Periode , Klopstock , Lessing , Wieland , Herder , Schiller , Goethe seien .
Siegfried Silber dachte darüber anders .
Für ihn gab es nur einen Dichter , der hieß : Heinrich Heine .
Er war auf die vollständige Ausgabe von Heines Werken gestoßen .
Sein geistvoller Stammesgenosse stellte ihm alles in den Schatten , was je in deutscher Sprache gesungen und geschrieben worden war .
Heine zu erreichen , vielleicht zu übertreffen , wurde der ehrgeizige Traum des jetzt Sechzehnjährigen , der als Kommis hinter dem Ladentische seines Vaters mit Bergarbeitern , Dienstboten und schmierigen Polacken um den Preis von Hosen , Stiefeln und Mützen hin und her feilschen mußte .
Neben seinem Ideal , Heine , gab es für ihn auch Götter niederen Ranges .
Da waren Gutzkow , Laube , Herwegh , Freiligrath .
Die Autoren des jungen Deutschland mit ihrer Schwärmerei für Humanität , Weltbürgertum und Tyrannensturz entsprachen seinem jugendlich freigeistigen Oppositionsdrang .
Es blieb nicht beim Lesen allein .
Siegfried Silber fing an , sich mit der Feder zu versuchen .
Die literarischen Sporen wurden im Feuilleton eines heimatlichen Winkelblattes verdient .
Dann fiel dem jungen Menschen von ungefähr eine Broschüre Lassalles in die Hände , die auf sein leicht erregbares Gemüt wirkte wie ein Funken , der in eine Pulvermine fällt .
Von dem temperamentvoll genialen Erwecker des vierten Standes war die Brücke schnell geschlagen zu dem nüchterneren Karl Marx , und Siegfried Silber damit gewonnen für die rote Internationale .
Der alte Silber war durchaus nicht einverstanden mit der politischen Entwicklung des Sohnes .
Er war ein Israelit vom alten Schlage , orthodox und konservativ , der es für die beste Politik hielt , die Leute streiten zu lassen und es mit denen , die im Regimente saßen , nicht zu verderben .
Er mißbilligte auch die Beschäftigung des Sohnes mit Literatur , die er für ein brotloses Gewerbe ansah .
Siegfried aber fühlte , daß er zu größeren Dingen berufen sei als zum Kleiderhandel .
Er quittierte den Dienst beim Vater und wandte sich zunächst nach Breslau .
Der angehende Literat erkannte jedoch schnell , daß es in der Provinzialhauptstadt seinesgleichen genug gebe und setzte seinen Stab noch ein Stück weiter westwärts .
Ohne Geld , ohne Verbindungen war er in eine ihm gänzlich fremde Stadt eingezogen .
Kühn tat er auch den Sprung in das Wagnis einer auf die Feder allein gegründeten Existenz .
Zunächst nahm er den indifferent klingenden nom de Blume " Karol " an .
Er war fürs erste durchaus nicht auf Rosen gebettet .
Sein Vater gewährte ihm keine Unterstützung , weil der Sohn gegen seinen Willen gehandelt hatte .
Mit der Begründung eines literarischen Rufes aber ging es nicht so schnell , wie Siegfried Silber sich das gedacht hatte .
Die Blätter radikaler Richtung nahmen zwar seine Gedichte auf , deren revolutionäre Tendenz ihnen zusagte , bezahlten dafür aber kein Honorar .
Die sogenannte gutgesinnte Presse aber wies die Feuilletons des kleinen , unbekannten Schnorrers hochmütig ab .
Ebenso ging es ihm bei den Bücherverlegern , denen er seine Arbeiten anbot .
Die Partei nützte seinen Eifer aus und seine Intelligenz .
In den Debattierklubs und im Arbeiterbildungsverein war er ein gern gehörter Redner .
Aber alles das brachte kein Geld .
Siegfried Silber lernte das Hungern gründlich kennen .
Schließlich half er sich mit dem Abfassen von Zeitungsromanen , die er miserabel bezahlt bekam ; mit Übersetzen verdiente er sich auch ein paar Groschen , außerdem schrieb er den Text zu einer Operette .
Jeden Auftrag nahm er an .
Sogar Gelegenheitsgedichte und Couplets für Tingeltangelsänger entflossen der Feder , die Heinrich Heine hatte übertreffen wollen .
Aber während er so um das tägliche Brot sich abmühte , in einer ganz elenden Wohnung existierte , ließ er den Mut nicht sinken .
Vor dem Verzweifeln schützte ihn der zähe Optimismus seiner Rasse .
Er war nach wie vor entschlossen , die Welt mit der Feder zu erobern .
Er , der in gar keinem Verhältnis stand zur Gesellschaft , der völlige Outsider , kritisierte , ja verachtete sie im Grunde .
Die Menschheit betrachtete er als Material für seine hochfliegenden Pläne .
Dabei besaß er nur seine Belesenheit und die Geschäftskenntnisse , die er sich hinter dem Ladentische des Vaters erworben hatte .
Seine Bildung war durchaus lückenhaft , er sah die Welt aus der Perspektive des Kaffeehauses .
Aber was ihm hier fehlte , ersetzte er reichlich durch Kombinationsgabe , Spürsinn und Findigkeit .
Er gehörte zu der Art , denen die Zeitung Surrogat ist für die Eigenanschauung ; Menschen , scheinbar ohne Erlebnisse , ohne Erfahrungen , die doch mit Hilfe der argusäugigen Presse von allem erfahren , an allem teilnehmen und über alles zu räsonnieren verstehen .
Um die Stadt , in der er lebte , kümmerte er sich ebenso wenig , um ihre Schönheiten , Kunstwerke , Altertümer , Umgebung .
Für dergleichen hatte er keinen Sinn .
Er war durch und durch Nomade , ohne Heimatgefühl , und darum auch ohne Gefühl für Kulturwerte .
Hingegen sagte ihm sein Scharfsinn , daß gerade hier das rechte Terrain sei zum Ausbau seiner Pläne .
Es kam nur darauf an , sich eine Weile über Wasser [ zu ] halten , auf dem Posten zu sein und seine Augen überall zu haben .
Dann mußte auch seine große Zeit kommen .
Vor allem hieß es Anschluß gewinnen an literarische Kreise , sich Freunde machen unter seinesgleichen , womöglich eine Clique bilden , in der , soviel wußte er , das Regiment ganz von selbst auf ihn übergehen würde .
Ähnliche Briefe , wie den an Fritz Bärtig , hatte er schon einige geschrieben .
Bisher mit negativem Erfolge .
Die Leute waren einfach nicht gekommen .
Siegfried Silber fing an unruhig zu werden .
Sollte er heute wieder der Geäffte sein ?
Er sah nach der Uhr ; die zum Rendezvous vorgeschlagene Stunde war überschritten .
Endlich trat ein hochgewachsener , blonder junger Mensch durch die gegenüberliegende Tür und sah sich suchend im Lokale um .
Siegfried Silber erhob sich eiligst .
" Sie sind Herr Bärtig , ich bin Karol ! "
Man verbeugte sich gegenseitig und nahm dann an dem Tische einander gegenüber Platz .
Fritz Bärtig ließ das Auge etwas erstaunt auf der Erscheinung des Jünglings ruhen , der ihn hierher zitiert hatte .
Es war ihm nicht in den Sinn gekommen , daß der Träger des Namens Karol Jude sein könne .
Nun sah er es auf den ersten Blick .
In Berlin hatten Juden zu seinem vertrautesten Umgang gehört ; Fritz war an sie und ihre Art gewöhnt .
Trotzdem frappierte ihn diese Physiognomie , die , offenbar durch keine Kreuzung verdorben , den Stempel echten Semitentums trug .
Die Nase stark gebogen , das Gesicht bei breitem Schädel schmal .
Stirn und Kinnpartie fliehend , die Ohren spitz und zurückliegend .
Dunkel blitzten die mandelförmigen Augen aus dem weißgelben Gesicht hervor , wie aus einer Maske , hatten ein Leben ganz für sich .
Der Bart um die roten vollen Lippen , das Haupthaar , das über der Stirn schon dünn wurde , seidenschimmernd lockig .
Eigentlich war das Gesicht nicht häßlich ; wie ein Individuum , das den Ausdruck wirklicher Rasse trägt , überhaupt nicht unschön sein kann .
Die schwächliche , schon in der Jugend gekrümmte Figur , und die ausgemergelten Gliedmaßen verrieten die Zugehörigkeit zu einem Volke , das Jahrhunderte der Knechtschaft nicht gebrochen , nur äußerlich gebeugt haben .
Fritz fiel zweierlei sofort stark an dieser fremdartigen Physiognomie auf : der scharf beobachtende Blick , dem doch die Stetigkeit fehlte , und ein spöttisches Lächeln .
Dem stand zur Korrektur gewissermaßen die große Höflichkeit und bescheidene Zuvorkommenheit gegenüber , deren sich der Besitzer der aufdringlich funkelnden Augen und des ironisch zuckenden Mundes befliss .
" Was will der eigentlich von dir ? " war der Gedanke , den Fritz Bärtig nicht los werden konnte , diesen forschenden , lächelnden , in steter nervöser Erregung begriffenen Zügen gegenüber .
" Ich hatte mir schon längst gewünscht , den Dichter von » Leiser Schlaf « kennen zu lernen , " begann Siegfried Silber , als sie einander an dem kleinen Tische gegenüber saßen , und der Kellner das Bier für Fritz gebracht hatte .
" Nun fügt es der Zufall - - oder vielmehr , es ist nicht Zufall !
In seelischer Beziehung gibt es keinen Zufall .
- Es ist etwas Magisches dabei ; man kann es eine höhere Art der Anziehungskraft auf immateriellem Gebiete nennen .
Wenn ich mich im übrigen auch von allen Vorurteilen frei gemacht habe und mir das Metaphysische eigentlich quantite neligeable ist , so huldige ich auf einem Gebiete doch mit vollem Bewußtsein frommem Glauben .
Ich glaube fest , daß es heimliche Beziehungen gibt der Geister , elektrische Ströme vielleicht , welche auf mystische Weise die Sympathie von Mensch zu Mensch vermitteln .
Denken Sie doch nur , es ist geradezu wunderbar , ich beschäftige mich im Geiste viel mit Ihnen , habe Ihre Werke gelesen ; der Dichter Bärtig ist mir längst ein geistiger Bruder .
Ich sehne mich im stillen danach , ihn kennen zu lernen , unterlasse es aber , an ihn zu schreiben , weil der Brief ein so armseliger Vermittler von Gefühlen ist , vielleicht auch aus Scheu , aus Angst , aufdringlich zu erscheinen .
Und da auf einmal erfahre ich , daß Sie in denselben Mauern weilen , wie ich .
Auch Sie haben sich geflüchtet vor der Verständnislosigkeit der Banausen .
Ich will nicht unzart eingreifen in Ihre persönliche Erlebnisse , Herr Bärtig .
Ich glaube zudem , alles zu wissen .
Die Überzeugung , daß zwischen uns eine Art Verwandtschaft nicht bloß in der Auffassung des Dichterberufs , nein auch in den Schicksalen besteht , ist stark in mir .
Ich hoffe , daß Sie mir das nicht als Unbescheidenheit auslegen werden , Herr Bärtig !
Ich bin eine impulsive Natur , und Sie haben mich warm gemacht durch Ihre Dichtungen . "
So ging es weiter .
Silber erzählte seine ganze Leidensgeschichte mit ungeheurem Wortreichtum und Zungenfertigkeit .
Bei Fritz überwog die Belustigung über diesen sonderbaren Kauz , der ihm nach einer eben erst geschlossenen Bekanntschaft bereits alle " Heiligtümer " und " geheimen Blutungen " seines Inneren aufdeckte .
Der Dichter Karol trug zunächst die Kosten der Unterhaltung allein .
Seine Rede floß dahin , wie Wasser , das in einer Rinne eilig plätschernd bergab schießt .
Es ist kein Ende abzusehen , und stauen , daß es eine Tiefe bilde , kann man es auch nicht .
Fritz wußte schließlich kein anderes Mittel , um diesen stetig murmelnden Redestrom zu unterbrechen , als nach der Uhr sehend , zu bemerken , daß er heute abend noch etwas vorhabe .
Sofort zeigte Siegfried Silber eine gänzlich veränderte Miene .
Er rückte näher an Fritz heran und sprach auf einmal in nüchtern sachlichem Tone .
Es war , als ob ein zweiter Mensch , der Geschäftsmann , urplötzlich aus irgend einer Versenkung seines Wesens emporgestiegen wäre .
Soviel er wisse , sagte Siegfried Silber , sei Bärtig fremd in dieser Stadt .
Fragen , wie es mit seiner pekuniären Lage beschaffen sei , wolle er aus Gründen der Diskretion nicht .
Aber , daß er mit Gedichtsammlungen und einem durchgefallenen Stücke keine Schätze erworben habe , liege wohl klar auf der Hand .
Die einzige Möglichkeit für den Literaten , bekannt zu werden und Geld zu verdienen , sei heutzutage nun einmal die Zeitung .
Falls Herr Bärtig , wie er , Karol , annehme , den Wunsch hege , mit der lokalen Presse in Verbindung zu treten , so gestatte er sich hierdurch seine Vermittlung anzubieten .
Fritz erwiderte darauf , daß , falls er mit der Presse hätte in Verbindung treten wollen , ihm dies durch seinen Freude Doktor Lehmfink ein leichtes gewesen wäre .
Mit absichtlicher Kühle dankte er für die freundliche Absicht .
Er konnte nicht umhin , das Anerbieten und die Art , wie es gemacht wurde , etwas aufdringlich zu finden .
Bei Nennung des Namens Lehmfink zeigte Siegfried Silber eine überraschte , wenig erfreute Miene .
Auch er habe die Ehre , Herrn Doktor Heinrich Lehmfink zu kennen .
Er wollte wohl noch etwas Ungünstiges hinzufügen , dem spöttischen Zucken des Mundes nach zu schließen ; als aber Fritz betonte , Lehmfink sei sein intimster Freund , meinte er einlenkend :
" Ein ausgezeichneter Mann , der Herr Lehmfink .
Als Charakter sehr ehrenwert , gewiß !
Aber ich meine doch , daß er ein wenig altmodisch ist .
Seine politischen Ansichten sowohl wie sein literarisches Urteil sind , gelinde gesagt , rückständig .
Sollte Ihnen das entgangen sein , Herr Bärtig ?
Das kann ich mir bei einem Beobachter , wie Sie sind , kaum denken . "
Fritz ließ das auf sich beruhen .
Silber lächelte und machte eine Bewegung , als wolle er sagen : gehen wir über solche Kleinigkeiten hinweg .
Abermals rückte er näher an Fritz heran , und nachdem er sich umgesehen hatte , als fürchte er Lauscher , suchte er mit einem großen Aufwande eindringlicher Beredsamkeit Bärtig zur Mitarbeiterschaft für ein bestimmtes Blatt zu gewinnen .
Sie brauchten eine " erste Kraft " für das Feuilleton , und Bärtig sei gerade der rechte Mann dafür .
Er schreibe , wie man aus seinen letzten Skizzen ersehen habe , einen gepfefferten Stil und gehe rücksichtslos vor in der Kritik der höheren Stände .
Fritz war sich längst darüber klar , welcher Partei sich Silber verschrieben habe .
Er erwiderte , daß er nicht die geringste Lust und Anlage in sich verspüre , für ein politisches Blatt zu arbeiten .
Er würde sich gelähmt fühlen in seinem Schaffen , wenn er beständig nach einem Chefredakteur oder gar nach der allmächtigen Partei im Hintergrund blicken müsse .
Ihm sei im Grunde alle Politik furchtbar langweilig , und er begreife nicht , wie Leute von Geist und Geschmack damit ihre Zeit vergeuden mochten .
Auch habe er gefunden , daß Menschen , die sich einer Partei verschrieben , mit der Zeit unrettbar versimpelten .
Jede Frage werde dann in das Prokrustesbett des Parteiprogramms gezwängt , wo sie verstümmelt wieder herauskomme .
So hätte er es an Leuten verschiedenster Richtungen beobachtet .
Am langweiligsten aber sei ihm von allen politischen Phrasen die erschienen , wonach die Massen regieren sollten .
Und um vom künstlerischen Schaffen zu reden : er meine , daß politische Tendenz jedes Kunstwerk in seinen Grundbedingungen aufhebe ; denn Freiheit sei der Urgrund aller Kunst . -
Auf das Wort " Freiheit " fuhr Silber , der Fritzens Rede mit nervös zuckenden Mienen begleitet hatte , wie ein Stoßvogel los .
" Freiheit ! " rief er und erhob theatralisch die Arme , " Freiheit gibt es ja im modernen Deutschland nicht ! " . . . .
Und nun öffneten sich die Schleusen seiner Beredsamkeit von neuem .
" Wir leben in Zuständen , wie ein mündiges Volk sie krasser niemals gesehen hat .
Große Dinge sind äußerlich erreicht , jawohl !
Aber ich frage Sie , Herr Bärtig , was haben wir , die Intellektuellen , durch die Reichsgründung gewonnen ? -
Das Vaterland ist größer geworden , reicher , mächtiger ; was nützt uns das , den Menschen mit geistigen Bedürfnissen !
Ich will nicht davon reden , daß man uns nicht heranläßt an die Staatskrippe ; ich verlange nichts von den Regierenden als das eine :
Geht uns ein wenig aus der Sonne !
Freie Bahn dem Talent !
Gleiches Recht für den Adel auch des Geistes !
Gleichheit vor dem Gesetz steht nur auf dem Papier !
Es herrscht im neuen Deutschland schlimmere Stickluft als im dunkelsten Europa !
Da ist das Philistertum , das jeden Fortschritt verbarrikadiert wie ein unbewegliches , glotzäugiges Mammut .
Da ist die Streberei , die kein höheres Ziel kennt , als Regierungsrat zu sein , oder wenigstens den Leutnant der Reserve auf seine Karte setzen zu dürfen .
Überall knien wir vor dem Erfolge .
Wenn man uns nach geistigen Taten fragte antworten wir : im Jahre 1870 haben wir die Franzosen geschlagen .
Oder : wir haben Bismarck .
Jawohl , Bismarck !
Sein schwindelerregendes Glück in allen Ehren ; aber ist er für uns Junge ein Glück ?
Lastet er nicht auf uns allen wie ein eherner Alp ?
Was kann im Schatten eines solchen Kolosses gedeihen ?
Ahnt er etwas von unseren Schmerzen ?
Was sind wir vor ihm ? -
Dieser Alte ist unser Fluch .
Eine Generation von Greisen hat das Heft in Händen .
Sie lassen uns nicht aufkommen .
Es ist in der Kunst genau wie in der Politik und im wirtschaftlichen Leben .
Eine kleine Kaste von Junkern , Offizieren , Beamten , Priestern gibt den Ton an .
Wir sind in ihren Augen Hunde .
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen , Herr Bärtig , damit Sie nicht denken , ich übertreibe .
Ich hatte einen Freund , der als Freiwilliger diente .
Mit Begeisterung war er an die Dienstzeit herangegangen , denn er liebte die Armee , nannte sie das Größte und Glänzendste , was wir besäßen , glaubte an die Phrase , daß die allgemeine Dienstpflicht eine Schule sei für das ganze Volk .
Dem armen Kerl sind diese Illusionen bald genug ausgetrieben worden .
Ich muß einschalten :
mein Freund war von Beruf Journalist , er hatte schon verschiedene aufsehenerregende Sachen veröffentlicht , ehe er eintrat .
Der Leutnant , der die Freiwilligen ausbildete , machte sich unausgesetzt lächerlich über den Beruf meines Freundes , sprach von " Federvieh " , von " verfluchter Tintenkleckserei " , von " roten Literaten " und so weiter .
Das ist charakteristisch !
Die Intellektuellen werden bei uns verfolgt mit Haß und Verachtung von der hochmütigen brutalen Herrscherkaste .
Wir sind ihnen das , was in alter Zeit das fahrende Volk den Schnapphähnen war .
Deutschland steckt noch tief , tief im Mittelalter .
Ich habe vergessen zu erzählen , daß mein Freund jetzt Sozialdemokrat ist von Überzeugung , und mit der Zeit sicher in unserer Partei eine Rolle spielen wird .
Ist es dann ein Wunder , wenn wir , die gebildete Jugend , uns denen zuwenden , die gleich uns geknechtet sind , die wie wir Hunger fühlen , den doppelten Hunger nach Brot und nach Licht .
Das Brot können wir ihnen nicht geben , denn wir haben selbst keins ; aber Licht wenigstens können wir ihnen von dem unsrigen leihen .
Die Herren oben werden es eines Tages bitter bereuen , daß sie die Intelligenz vor den Kopf gestoßen haben .
Sie werden es bereuen , sage ich ! "
Fritz Bärtig sah mit Staunen in Siegfried Silber , wie er das sprach , wieder einen ganz neuen Menschen vor sich .
Die dunklen Augen glühten in leidenschaftlichem Haß , sein schwächlicher Leib zitterte vor Erregung .
So gefiel er Fritz eigentlich besser .
Denn diese Anwandlung war echt und ohne Pose .
Es war die Empörung eines verbitterten Menschen , der empor will und überall zurückgewiesen wird .
Wieviel furchtbare Erfahrungen mochten hinter solchem Hasse liegen ?
Fritz konnte ihm das nachfühlen ; man brauchte nicht Jude zu sein , um den dumpfen Druck zu empfinden , der durch das ganze Land auf den Gemütern der Aufstrebenden lag .
Ein korpulenter Herr im eleganten Sommeranzug , der aus einem Hinterzimmer des Restaurants kam , trat an den Tisch , an welchem die beiden saßen .
Es war der Verleger Weißbleicher .
Sein ungesundes Gesicht mit der dicken Nase und den Hängebacken erinnerte an die Physiognomie eines fetten Bibers .
Auf der Nase balancierte in höchst unbequemer Lage , weil er nirgends Halt fand , ein goldener Klemmer .
Als der Mann den Hut lüftete , sah man , daß er nur noch wenig Haar auf dem runden Schädel hatte .
Weißbleicher fragte , ob es erlaubt sei , sich für einen Augenblick bei den Herren niederzulassen .
Doch wurde die Frage nur pro forma getan , denn er hatte dabei schon den Stuhl in der Hand und warf den Hut in die Mitte des Tisches , um von vornherein zu zeigen , daß er mit den beiden jungen Literaten keine großen Umstände zu machen beabsichtige .
Fritz war wenig angenehm berührt , mit diesem Manne hier zusammenzutreffen .
Er hatte Weißbleicher gegenüber kein ganz reines Gewissen .
Als Lehmfink vor Wochen mit ihm bei dem allmächtigen Verleger gewesen war , wurde besprochen , daß Fritz Bärtig sofort mit seinem Roman beginnen solle .
Nur unter der Voraussetzung , daß er bald etwas von dem Autor in Händen halten würde , hatte sich der sonst vorsichtige und zähe Geschäftsmann dazu bewegen lassen , Geld auf Vorschuß zu geben .
In dem peinlichen Bewußtsein , noch keine Zeile an dem Buche geschrieben zu haben , war Fritz seinem Gläubiger bisher wohlweislich aus dem Wege gegangen .
Nun hatte ihn die Nemesis doch ereilt ; hier gab es kein Ausweichen .
Breit und protzig saß Weißbleicher da und erzählte über die Badereise , von der er kürzlich zurückgekehrt war .
Er habe vorgehabt , Herrn Bärtig in diesen Tagen aufzusuchen ; das heutige Zusammentreffen erspare ihm den Weg .
Wie Fritz erwartet hatte , erkundigte sich der Verleger sehr bald nach den Fortschritten " unseres Romans " .
Der Dichter murmelte etwas von großer Hitze , und daß er schlecht disponiert gewesen sei , darum habe das Werk nicht den Fortschritt gemacht , den er selbst gewünscht .
Weißbleicher sah ihn von der Seite an und meinte :
" Ihr Freund Doktor Lehmfink sagte mir damals : Sie produzierten leicht . "
Fritz hätte gern darauf erwidert : daß leichtes Produzieren nicht immer das beste sei , bedachte dann aber noch rechtzeitig seine Schulden , und versicherte , er werde künftighin um so fleißiger sein .
Der Verleger gab ihm den Rat , das ja wahr zu machen ; denn wenn er mit seinem Buche Geschäfte machen wolle , müsse es zum Weihnachtsmarkte fertig ausliegen .
" Ich will versuchen , Sie zu lancieren .
Wollen Mal sehen , ob wir einem von euch Jungen nicht Bahn brechen können .
Ich thu's , weil ich wirkliches Interesse habe an der Bewegung .
Verdienen wird man dabei nichts , wahrscheinlich sogar nur zusetzen .
Aber , wie gesagt , ich habe nun Mal die Liebhaberei für Neues und Originelles und bin von jeher Optimist gewesen . "
Fritz Bärtig wußte ganz genau , was er von der Glaubwürdigkeit solcher Worte im Munde seines Verlegers zu halten hatte .
Lehmfink hatte den Mann ein " notwendiges Übel " genannt .
Die listigen Äuglein in dem fetten Gesicht , die der goldene Klemmer nicht ganz verdeckte , verrieten ihn .
Seine plumpe Nase war doch fein genug , um unfehlbar herauszuwittern , was auf dem Wege war , Mode zu werden .
War es jetzt noch nicht Mode , um so besser !
Dann konnte man es billig erwerben .
Er sicherte sich die jungen Autoren , von denen er glaubte , daß sie Zukunft hätten .
Er tat es um der Sache Willen , weil er Optimist war , wie er sagte .
Diese Begeisterung , entlockte ihm wohl einmal ein paar hundert Mark , wie hier .
Nachdem er Fritz Bärtig noch einmal gnädig aufmunternd zugenickt hatte , erhob sich Weißbleicher .
Schon halb im gehen wandte er sich und sagte :
" À propos , Herr Karol ! so nennen Sie sich ja wohl , junger Mann ? "
Siegfried Silber beeilte sich , zu versichern , daß so sein Dichtername sei .
" Mir fällt da eben ein , daß sich von Ihnen noch ein Manuskript bei uns herumtreibt .
Ich habe neulich hereingeguckt ; aber es ist nichts für meinen Verlag .
Sie haben sich da ein sehr wenig erfreuliches Thema gewählt .
Der Gegensatz zwischen orthodoxen Juden und Reformjudentum .
Es mag ganz gut beobachtet sein ; aber , wie gesagt , es wirkt peinlich .
Das Publikum will nun Mal solche unsympathischen Stoffe nicht !
Lassen Sie das Manuskript abholen , Herr Karol , ich kann es nicht gebrauchen . "
- Fritz sah , wie Siegfried Silbers bleiches Gesicht noch um eine Nuance bleicher wurde .
Ein Blick flammenden Hasses aus den Augen des jüngeren Semiten folgte dem Stammesgenossen , der sich entfernte , ohne den kleinen Boche auch nur des Lebewohls zu würdigen .
Silber faßte sich jedoch schnell , seine Gefühle verbergend .
" Sie haben Glück gehabt , bei Weißbleicher anzukommen , " sagte er nervös lächelnd zu Fritz .
" Er hat Renommee und Geld , und gilt für einen smarten Geschäftsmann . " * * * Fritz Bärtig war in jener Nacht gar nicht zu Bett gegangen .
Nachdem er sich von Siegfried Silber getrennt hatte unter dem Vorwande , müde zu sein , unternahm er einen Gang durch die Stadt , die sich in dieser schwülen Sommernacht belebter zeigte als am Tage .
Vor den hell erleuchteten Gartenlokalen saßen Gäste , Kopf an Kopf .
In den breiten , baumbepflanzten Avenuen erging sich das Volk : Arbeiter , Dienstboten , alle jene , die am Tage nicht Zeit hatten , der Stadt zu entfliehen .
Dazwischen schlenderte junges Volk einher , Ladenjünglinge , Schüler mit Zigarren und Spazierstöcken , die den Eindruck wirklicher Herren hervorzurufen suchten , was ihnen hin und wieder mit Hilfe des Dämmerlichtes auch gelang .
Auf allen Banken , besonders aber auf denen , die weit weg waren von den Gaslaternen , Liebespaare , deren Zärtlichkeit im umgekehrten Verhältnis stand zu der Stärke der Beleuchtung .
Von einem Vergnügungsetablissement , das am jenseitigen Ufer des Stromes lag , wurden hie und da Walzermelodien herübergetragen und brachten Stimmung in die Herzen und Lebendigkeit in die Füße der Mädchen .
Fritz Bärtig schritt durch dieses Treiben ohne Plan .
Es zog ihn heute Nacht nicht nach Haus , obgleich er wußte , daß Alma seiner wartete .
Sie konnte ihm in dieser Stimmung nichts sein .
Das was in ihm entstehen wollte , was nach Ausdruck rang , gestattete keine Rivalität , bedurfte einer stillen , von allen fremden Tönen befreiten Stunde .
Er selbst kannte es ja noch nicht einmal genau , das Neue , das sich unklar und verworren in der letzten Zeit und seitdem immer deutlicher gemeldet hatte , Leben heischend , Gestaltung fordernd in seinem Inneren .
Zwiesprache wollte es mit ihm halten ; und dazu mußten sie ganz allein sein , er und dieses unfertige junge Gebilde .
Er zitterte davor , wie eine Jungfrau zittern mag vor der Berührung des Mannes , scheu , voll Bangigkeit und voll wonniger Erwartung zugleich .
Er suchte einsamere Orte auf , als jene breiten , belebten Alleen waren .
Bald hallte sein Schritt auf dem Trottoir langer , wenig belebter Straßenzüge .
Vor ihm leuchteten in endloser Linie , allmählich zu winzigen Punkten verschwindend , die Straßenlaternen .
Er schritt über einen weiten Platz , als gerade die Glocke vom Turme der alten Kirche Mitternacht verkündete .
Darauf geriet er in das Gewirr kleiner , dunkler Gassen und Gäßchen .
Der Polizist , der hier auf Wache stand , musterte ihn mit scharfem Blick ; in solcher Gegend erweckt ein gutgekleidetes Individuum Verdacht .
Ein weibliches Wesen , dessen Züge er im Dunklen nicht erkennen konnte , flüsterte ihm hastig ein Wort zu , dessen Sinn zu dieser Stunde nicht mißzuverstehen war .
Als die enge , von widerlichen Gerüchen erfüllte Gasse plötzlich endete , empfing ihn ein frischer Luftzug .
Es war der Strom , der von weither aus den Gebirgsgründen , Wiesen und Wäldern , in denen sich seine Wässer sammelten , diesen erquickenden Hauch in die städtische Schwüle brachte .
Nun wußte Fritz auf einmal ein Ziel für seine Wanderung .
Hinaus aus dieser Enge , immer hinwandern am Laufe des Flusses , der ihm vorkam wie ein trauter , gleich ihm nach Einsamkeit dürstender Freund .
Unterhalb der Stadt , wo er zwischen flachen Ufern dahinströmte , war eine Stelle , die Fritz liebte .
Durch Zufall war er neulich in die Gegend gekommen bei einem Abendspaziergange mit Alma .
Dorthin lenkte er seine Schritte .
Die Dunkelheit verhüllte die Häßlichkeit der Schuppen , Kohlenhaufen , Fabriken , Dampfessen , die hier überall die Häuserreihen unterbrachen .
Endlich war er außerhalb des Bereichs der Gebäude und schritt auf einem langen Steindamm hin .
Wie viel schöner das alles noch war bei Nacht !
Im Wasser spiegelte sich der Mond .
Ein leichter Nebel lag über dem jenseitigen Ufer .
Es herrschte in der Stille doch ein heimliches Leben und Weben .
Die Natur schlummert nicht in den Sommernächten .
Aus dem Weidengestrüpp längs des Dammes ertönte der verschlafene Ruf von Wasservögeln .
Insekten zirpten im Grase , Nachtfalter umsurrten ihn .
Bald hatte er auf der einen Seite freies Feld .
Aber hinter ihm der leuchtende Ausschnitt der Himmelsglocke zeigte die Stelle an , wo die Stadt lag , von der sich der nächtliche Wanderer schnell entfernte .
Er atmete auf .
Einsamkeit !
Das war es was ihm gefehlt hatte in der letzten Zeit .
Nicht die Hitze hatte ihn am Schaffen gehindert , wie er dem Verleger gegenüber behauptet ; nein !
Die Anforderungen , die das Leben an einen stellte , die Zerstreuungen , zu denen es einen stetig verführen wollte ; ja selbst Liebe und Zärtlichkeit der Freundin , alles , alles waren ebensoviel Hindernisse .
Fritz Bärtig gehörte zu den Künstlern , die nicht produzieren können , wenn Menschen um sie sind ; deren Erfindungskraft wie gelähmt ist , wenn ein fremdes Auge auf ihnen ruht .
Die bloße Anwesenheit eines anderen im Zimmer verursachte ihm peinigendes Schamgefühl , erstickte jeden Gedanken im Keime .
Selbst Alma störte ihn , auch wenn sie gar_nicht sprach , wenn sie nur mit ihrer Näherei dabei saß .
Das Mädchen kannte diese Eigenheit , verhielt sich so still wie möglich .
Aber dann war es wieder ihr Schweigen , was ihn verdroß .
Er lauerte gewissermaßen auf den Moment , wo sie ihn stören würde .
Und geschah es , dann warf er ihr vor , durch ihr Verschulden sei ihm wieder einmal der Faden abgerissen .
Das gab dann einen wundervollen Grund , an einem solchen Tage die Arbeit ganz und gar ruhen zu lassen .
Von dieser unfruchtbaren Stimmung , die ihn schon seit Wochen in ihrem Banne gehalten hatte , fühlte er sich heute Nacht endgiltig befreit .
Schon am Nachmittage hatte er es empfunden , beim Anblick der schönen Stadt , die Lehmfink ihnen gezeigt hatte , daß sich etwas rege , sich melde in ihm , zum Leben befreit sein wolle von ihm .
Ein unruhiges , banges , süßes Gefühl , wie es den Menschen befällt , der eine große Idee empfangen hat .
Dazwischen hatte er an allerhand andere Dinge gedacht , sich mit verschiedenen Leuten unterhalten , neue Eindrücke aufgenommen .
Aber er hatte bei alledem gewußt : das ist nicht das Wesentliche .
Viel viel wichtiger war das , was in ihm vorging .
Mit Namen konnte er es noch nicht nennen ; aber doch war es da und wuchs , ohne sein Dazutun .
Er ging und ging .
Das Plätschern der Wellen wurde ihm zur rhythmischen Begleitung seiner Gedanken .
Nichts Anregenderes und Vertraulicheres als das strömende Wasser .
Solch ein Fluß ist ein lebendiges Ding , ein Wesen , von eigenem Willen beseelt , und doch ein stiller unaufdringlicher Geselle , ohne Verlangen und Neugier , nur mit sich und seinem Rinnen beschäftigt .
Beständigkeit und Wechsel in einem , jung und uralt zugleich .
Ein Bild des unaufhaltsamen , rätselhaften , unberechenbaren Lebens .
Die Gedanken eilten , als würden sie von den glitzernden Wellen leicht davongetragen , in unermeßliche Fernen .
Rückwärts und vorwärts schaute der Dichter .
War sein Dasein nicht wie dieser Strom ?
Das kleine Stück , welches sich dem Auge darbot , die Gegenwart , hell erleuchtet , dann eine Biegung des Laufes - über das Heute sah niemand hinaus .
Und die Vergangenheit , aus den Träumen der Kindheit verschleiert auftauchend , wie ein dünnes , blitzendes Band aus Nebeln .
Der Sinn des Ganzen ein Rätsel !
Einiges , wo ein Lichtstreif hinfiel , sah man , dahinter Strecken , die grau waren .
Bis sich die letzte Spur verlor , in dem Dunkel der Herkunft .
Wo kam er her ?
Wo ging er hin ?
Wer war er ? -
Wenn Fritz Bärtig in Augenblicken der Selbstbetrachtung überschlug , was wohl an den sechsundzwanzig Jahren seines Lebens das Außerordentlichste sei , das Wertvollste , dasjenige , was ihm Lust und Verlangen gab , dieses Leben weiterzuführen , so war es das Bewußtsein , ein Dichter zu sein .
Seine Entwicklung war nicht auf ebener Bahn hingegangen .
Zum Dichter hatte er sich gebildet im scharfen Gegensatz zu seiner Umgebung .
Die Kindheitseindrücke hafteten nicht tief , verliehen seinem Denken und Dichten nicht das Lokalkolorit eines bestimmten Gaus , einer bestimmten Landschaft .
Sie konnten es nicht ; denn Fritzens Vater gehörte jener Klasse moderner Nomaden an , den Beamten , die heute hierhin , morgen dahin beordert werden durch den Dienst , ihre Zelte abbrechen und aufstellen müssen , nicht wie und wo es ihnen gefällt , sondern nach Bestimmungen , die irgend ein Mensch in irgend einem Ressort weit weg in der Hauptstadt trifft .
Geheimrat Bärtig war ein Mann von Ehrgeiz ; ein Mann , den die Regierung seiner Gewandtheit und Schneidigkeit wegen gern auf schwierige Posten stellte .
Von Geburt Hannoveraner , war er nach dem Jahre sechsundsechzig mit fliegenden Fahnen zum Sieger übergegangen .
Man hatte ihn zunächst nahe der östlichen Grenze angestellt , in jenen Provinzen , wo Preußen auch im Frieden beständig unter Waffen steht gegen die Polen .
Dann war Bärtig plötzlich zur Schlichtung schwieriger Arbeiterverhältnisse in das westfälische Kohlenbecken versetzt worden .
Schließlich langte er wieder in seiner Heimat im Hannoverschen an .
Fritz , der als Kind und als halbwüchsiger Mensch diese Versetzungen mitgemacht hatte , empfing von der wechselnden Szenerie keinerlei starke Impulse .
Die Atmosphäre im Vaterhause blieb auch in den verschiedensten Städten immer die nämliche .
Wie die Möbel und der Hausrat , die man von einem Ende Deutschlands zum anderen mit sich herumschleppte , ungemütlich , steif und langweilig , so waren auch Sitte und Gewohnheit des Hauses ohne Frische , Natürlichkeit und Farbe .
Es herrschte in der Geheimratsfamilie der auf die Häuslichkeit übertragene Ton des Büros , korrekt , pedantisch , frostig , der Entwicklung einer Individualität , nun gar einer künstlerischen , direkt feindlich .
Später verwunderte sich Fritz oft selbst , woher er eigentlich die " Lust am Fabulieren " habe .
Vom Vater gewiß nicht .
Das mütterliche Angesicht verschwamm ihm undeutlich in der Erinnerung ; ihr Wesen hatte keinen festumrissenen Eindruck hinterlassen .
Für das Kind war ihre Persönlichkeit ausgelöscht , als sie früh starb .
Aber in späteren Jahren hatte Fritz manchmal die undeutliche Empfindung , daß er der Frau , die ihn die ersten Kinderlieder gelehrt und ihm später schöne Märchen erzählt hatte - soweit der Gatte solche Allotria gestattete - doch mehr für seine Entwicklung verdanke , als sich zahlenmäßig nachweisen ließ .
Zu seinen beiden älteren Schwestern stand Fritz auch nur bestenfalls im Verhältnis der Gleichgiltigkeit .
Er versäumte dadurch jenen glücklichen Zustand harmloser und intimster Neigung vom Knaben zum Mädchen , der eben nur zwischen Bruder und Schwester möglich ist ; eine Erfahrung , die für den werdenden Mann von größtem Segen werden mag .
Fritzens Schwestern waren daran schuld , daß ihm dieses Glück nicht zuteil wurde .
Die jungen Damen betrachteten den jüngeren Bruder mehr oder weniger als höchst unnötigen Ballast für die Familie und als ein Hindernis vor allem für ihren Plan , sich möglichst schnell und möglichst gut zu verheiraten .
Beide erreichten diesen Lebenszweck in mehr oder minder vollkommener Weise , und verließen leichten Herzens das Vaterhaus , in dem jetzt nur der alternde Geheimrat und der minderjährige Fritz zurückblieben .
Innerhalb der einzelnen Schulen , die Fritz in den verschiedenen Städten der väterlichen Residenz aufsuchte , bestanden große Unterschiede der Schülerschaft , des Lehrkörpers , der Einrichtungen .
Zweierlei nur schien sich an allen Stätten humanistischer Bildung gleich zu bleiben : der pedantische Eifer , mit dem man bestrebt war , den jungen Leuten die Sprachen des Altertums einzupauken , und als Gegensatz dazu : die Vernachlässigung der Muttersprache .
In der Provinzialhauptstadt , in deren höchstem Regierungskollegium der alte Bärtig schließlich einen Ruheposten erhielt , gab es ein gutes Theater .
Fritz , der sich daheim in der steifen Gesellschaft des ältlichen Herrn , der viel an dem Sohne herumzunörgeln fand , nichts weniger als wohl fühlte , wurde zu einem eifrigen Theaterbesucher .
Er sah staunend die Dichter , welche ihm die Trockenheit des Literaturunterrichts nahezu verekelt hatte , hier in jugendlicher Kraft und Frische auferstehen .
Er machte die Bekanntschaft jener Welt von unvergänglicher Gedankenfülle , die den schlichten Namen trägt : Shakespeare .
Er lernte nun auch die Dichter unseres silbernen Zeitalters kennen , die das Gymnasium ihm unterschlagen hatte .
Dazwischen hinein sah er direkt aus Paris Importiertes oder doch nach Pariser Modell Gearbeitetes .
Das Talmi vom Edelmetall zu unterscheiden , war er noch zu jung .
Er nahm mit gierigem Appetit alles , was geboten wurde , kritiklos in sich auf .
Die drastische Kraft des lebendigen Theaters übte auf die leicht erregbare Phantasie des jungen Menschen faszinierende Wirkung .
Er stand gerade in dem kritischen Alter , wo im Jüngling sich der Mann schüchtern zu regen beginnt .
Wo der Körper sich reckt und streckt , der Bart sprießt , die Stimme wechselt .
Jene komisch rührende Zeit des männlichen Backfischtums , in der alle Gesetze regelmäßiger Entwicklung plötzlich aufgehoben erscheinen , wo der Junge ängstlich staunt über das , was sich in ihm und an ihm vollzieht wie die Wirkung einer fremden Macht .
Eine Periode der scheuen Träume und Wünsche , lächerlicher Einbildungen und dreister Eroberungspläne .
Nichts ist da im Gleichgewicht ; die Gliedmaßen scheinen einander zu bekämpfen , kein Ebenmaß , weder im Körper noch in den Funktionen ; und auch in der Seele herrscht derselbe Anarchismus .
In dieser Zeit meldet sich tief beunruhigend der Trieb zum anderen Geschlecht .
Die Liebessehnsucht tritt mit jener elementaren Kraft auf des Naturereignisses , die Hüllen der Schüchternheit und Scham sprengend , rücksichtslos wie alle Lebensprozesse .
Das weibliche Wesen , das Fritzens erste Liebe entzündete , war die Heroine des Theaters .
Eine Person von reifen Formen mit ausdrucksvollen Zügen , eine echte , weithin wirkende Bühnenerscheinung .
Sie war ungefähr doppelt so alt wie Fritz , verheiratet und hatte Kinder .
Was bedeutet das einem verliebten Jüngling ! -
Er sah in Frau Korsewska überhaupt nicht ein irdisches Weib , für ihn war sie ein Wesen aus einer anderen Welt .
Es kann solcher Leidenschaft , über die zu lachen oder entrüstet den Kopf zu schütteln leicht ist , etwas eigen sein wie religiöse Hingebung , eine Inbrunst die nur die junge , unentweihte Seele in solcher Kraft zu empfinden vermag .
Die Briefe des Primaners an diese Dame fanden keine Beantwortung ; aber einen dem liebeglühenden Fritz völlig unerwarteten Erfolg hatten sie : der Gatte der Schauspielerin , ein pensionierter Offizier , suchte Fritzens Vater auf und bat ihn , seinem Filius zu raten , nicht soviel Porto anzulegen für Briefe , welche der Adressatin anfangs äußerst belustigend gewesen , auf die Dauer aber doch lästig würden .
Das war einer jener Schläge , die das jugendlich unbewehrte Gemüt treffen , wie Ruten einen entblößten Rücken .
Frühe Liebe wurde hier mit roher Hand ausgemerzt gleich einem Verbrechen , statt behandelt zu werden als verzeihliche Verirrung .
Fritz hatte das Unglück , in dieser Krisis an seinem Vater nicht einen Freund zu haben , sondern einen korrekt pedantischen Aufseher .
Geheimrat Bärtig fand dem Fehltritte seines Sohnes gegenüber kein anderes Gefühl als das moralischer Entrüstung .
Auf den Gedanken , daß Fritz Schmerzen leide , daß er weniger der Strafe als des Zuspruchs bedürftig sei , kam er nicht .
Damit war für den Vater endgültig die Gelegenheit versäumt , das Vertrauen des Sohnes zu gewinnen .
Es wuchs Gras über diese Angelegenheit , die Wunde vernarbte äußerlich ; denn in jenem Alter bietet die Natur wunderbare Heilkräfte .
Aber bei Fritz blieb , ohne daß er es selbst wußte , etwas verkapselt zurück , ein dumpfes Mißtrauen gegen den Vater , eine allgemeine Verbitterung und frühreife Weltverachtung .
Das Erlebnis bewirkte bei dem Gymnasiasten nicht etwa " Zerknirschung und innere Einkehr " , die der Vater verlangte , sondern höhnischen Zynismus als Reaktion seiner Verzweifelung .
Der Besuch des Theaters war ihm streng untersagt ; aber er wußte sich anderwärts schadlos zu halten .
An Stelle jener ersten idealen Liebe trat ein durchaus realer Liebeshandel .
Bei einer drallen Kellnerin fand der junge Mensch Erhörung seiner Wünsche .
Schulden beim Wirt , Händel mit einem eifersüchtigen Freunde der Schönen , Anzeige beim Vater , waren die unausbleiblichen Folgen dieses frühen Liebesverhältnisses .
Geheimrat Bärtig fragte sich in tiefer Bekümmernis , wie gerade er zu einem so ungeratenen Jungen komme .
Daß er vielleicht selbst Schuld habe an den Ausschreitungen des Sprößlings , sagte sich der alte Mann nicht .
Das Maturitätsexamen wurde trotzdem zum Staunen aller Beteiligten bestanden .
Hierauf hieß es : sein Jahr abdienen .
Fritz trat in Berlin ein , wo er gleichzeitig an der Universität für die juristische Fakultät immatrikuliert war .
Er fühlte nicht den geringsten Trieb in sich zum Studium der Rechte ; aber sein Vater , von dem er vorläufig noch wirtschaftlich abhängig war , verlangte von ihm , daß er diese Karriere ergreife .
Der alte Geheimrat würde das Ansinnen toll gefunden haben , sich mit dem grünen Jungen über die Wahl eines Lebensberufes zu verständigen .
Als Freiwilliger lernte Fritz alle die Vergnügungen bedenklichster Natur kennen , welche Berlin für einen jungen Menschen von ungestümer Sinnlichkeit zu Tages- und Nachtzeiten feilbietet .
Der alte Herr fand zwar , daß der Militärdienst etwas teuer zu stehen komme ; aber er bezahlte , wenn auch murrend , was von ihm verlangt wurde .
Fritz hatte in diesem anstrengenden Jahre , das ausgefüllt war vom Dienst und den fast noch größeren Strapazen eines ausgelassenen Lebens , weder Zeit für sein Fachstudium noch für irgend welche anderen geistigen Interessen gefunden .
Nur zur Musik gewann er ein neues Verhältnis .
Durch einen seiner Kameraden wurde er in die Wunderwelt eingeführt , die Richard Wagner heißt .
Dichterische und musikalische Kompositionen , denen dieser große Verführer aller Sinne Leben gegeben , stürmten mit überwältigender Kraft auf den Jüngling ein und betäubten ihn eine Zeit lang allen anderen Stimmen gegenüber .
Und Hand in Hand mit dem Komponisten des Tristan kam ein anderer Magier über seine vom Pessimismus schon ergriffene Seele : Schopenhauer .
Der eine führte ihn ein in die Schrankenlosigkeit mystischer Urgefühle , der andere lehrte ihn die bewußte Verachtung der Welt und die Flucht ins " Nirwana " .
Von dem Verfasser " der Welt als Wille und Vorstellung " war die Brücke schnell geschlagen zu Hartmann , zu Vogt , Moleschott und Büchner .
Und nachdem der junge Mensch Blut geleckt hatte beim philosophischen Materialismus , suchte er folgerichtig die Ergänzung solchen Weltbildes in der Naturwissenschaft .
Abermals ging ihm eine neue Welt auf mit Darwin und der Evolutionstheorie .
Daß ein Mensch , der so schwere Bissen zu verdauen hatte , nicht Zeit finden konnte , sich auf das Staatsexamen vorzubereiten , lag auf der Hand .
Fritz hatte wohl die Unterschriften der Herren Professoren über all die Kollegien , die er nicht gehört hatte , in seinem Heft stehen - denn das kontrollierte der Vater - aber sein Kopf blieb völlig unberührt von Pandektenlehre , Civilprozeß und anderen Materien der Rechtsgelahrtheit .
Der Geheimrat aber drängte zum Examen ; denn er war für den Sohn womöglich noch ehrgeiziger , als er es seinerzeit für sich selbst gewesen .
Fritz wurde sich immer klarer , daß ihn von der Welt des Vaters etwas Unüberbrückbares trenne , das hieß : moderne Weltanschauung .
Der Alte stand auf der Seite , die ihm seine siebzig Jahre anwiesen ; der Sohn war auf weiter Fahrt begriffen , deren Ende niemand absehen konnte .
Fritz hatte keinerlei Fühlung mit den studentischen Verbindungen , den Couleuren , oder den freien Vereinen .
Alles Kommentwesen war ihm zuwider .
Dafür verkehrte er in einem Klub , der sich aus Menschen der verschiedensten Berufe und Klassen zwanglos zusammen gefunden hatte .
An zwei Abenden der Woche traf man sich , um zu disputieren , Vorträge zu halten und anzuhören , die neuesten Ereignisse des öffentlichen Lebens , der Literatur und Wissenschaft beim Glase Bier und der Zigarre durchzuhecheln .
Da waren Künstler aller Schattierungen , Menschen der verschiedensten religiösen Bekenntnisse ; doch wogen die vor , welche gar keine Religion hatten .
Die politische Gesinnung der meisten war radikal .
Sozialdemokraten gab es da und Juden - viele waren beides - auch vereinzelte dem Anarchismus nahe stehende Persönlichkeiten .
Geistiges Proletariat , ewige Studenten , gescheiterte Journalisten , Menschen , welche alten , abgetragenen Kleidern glichen , deren Farbe und Stoff überhaupt nicht mehr zu ergründen ist , deren Beruf , wenn eine Definition dafür gefunden werden muß , höchstens der war : Zeitgenosse zu sein .
Die Vorträge , welche im verräucherten Hinterzimmer eines obskuren Lokales einer wenig bekannten Gegend des östlichen Berlins abgehalten wurden , die Debatten , die sich daran knüpften , waren , entsprechend der buntscheckigen Gesellschaft , kraus und ungleichwertig genug .
Das Panier , das diese Corona zusammenhielt , war jedoch im Grunde kein unedles .
Sie hatten eine Hoffnung , einen Glauben , ein Ideal , eine Richtung in die Zukunft .
Sie wollten etwas , wenn auch in verworrener Weise , sie träumten von großen Taten der Kunst und Wissenschaft , ersehnten eine Wandlung der Verhältnisse auf allen Gebieten .
So verschieden sie sein mochten nach Herkunft und Lebensgang , eines war ihnen gemeinsam , daß sie die Gegenwart verdammten , und daß sie von der Zukunft Großes erwarteten .
Befreiung wollten sie aus den Fesseln des Dogmas , der Schablone , der Konvention , von denen sie sich überall bedrückt und gehemmt fühlten .
Ein Durst erfüllte sie nach Freiheit , ein Heißhunger nach Wahrheit und Schönheit .
Sie machten von dem Rechte der Jugend reichlich Gebrauch , das Bestehende niederzureißen und groteske Luftschlösser an seine Stelle zu setzen .
Sie schlugen Schlachten mit Worten , verdammten allmächtige Staatsleute in Grund und Boden , vernichteten Modekünstler durch ihre Kritik , entthronten wissenschaftliche Theorien und Systeme , die Jahrhunderte lang gegolten hatten , an einem Abende .
Sie gründeten Zeitungen , die es niemals auch nur zum Erscheinen brachten , und beschlossen Theateraufführungen , zu denen außer den stets vorhandenen aufführungsbedürftigen Dramatikern nichts weiter da war .
Aber alles das nicht zum Spaß , sondern in jenem bitteren , fanatischen Ernst der ohnmächtig Einflußlosen , denen nicht gestattet ist , ihren Hoffnungen zu leben .
Es war der uralte Kampf , der von Anbeginn durch die ganze Welt tobt ; die Revolution der Jugend , die Empörung neuer Generationen gegen das Althergebrachte , Eingerostete , der knirschende Haß der Aufstrebenden gegen die , welche , auf ihren Erfolgen ausruhend , das Heft in Händen halten .
Weil man an das wirkliche Leben nicht heran konnte , weil man jenseits der Barriere stand , welche von der Praxis die Theorie trennt , ergriff man das einzige Mittel , das zur Verbreitung seiner Ideen übrig blieb : das Wort , das gesprochene wie das geschriebene .
Die einen drückten ihren Schmerz in lyrischen Gedichten aus , die anderen reformierten die Welt durch Leitartikel .
Eine Anzahl von ihnen und nicht die wenigsten , legten ihren Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung in Dramenform nieder .
Fritz Bärtig bildete in dieser Gesellschaft eine auffällige Erscheinung .
Er stammte aus geordneteren Verhältnissen , als die meisten Mitglieder dieses Klubs .
Das was ihn zu jenen Bohemiens hinzog , die in Kleidung , Sprache , Manieren seinen von der heimischen Kinderstube her verwöhnten Ansprüchen durchaus nicht genügten , war eben jenes verwandte Bedürfnis nach Befreiung und Selbständigkeit , nach Ausleben und Sich-bethätigen-dürfen .
Das Verhältnis des Sohnes zum Vater wurde immer unerträglicher , je fester der alte Herr auf seinem Willen bestand , daß Fritz die Staatskarriere einschlage , und je deutlicher der junge Mann erkannte , daß die Erfüllung des väterlichen Wunsches gleichbedeutend für ihn sei mit Lebendig-begraben- sein .
Gerade weil Fritz aus einer höheren Schicht der Gesellschaft stammte als seine Genossen , lernte er die Engigkeit der Konvention und die Unduldsamkeit des Vorurteils viel bitterer verspüren , als jene , die , von Anfang an niederer Herkunft , überhaupt nicht deklassiert werden konnten .
Als seine erste Gedichtsammlung erschien , erlebte er einen Sturm der Entrüstung in der ganzen Verwandtschaft und Freundschaft .
Alte Schulkameraden von ihm , jetzt Offiziere oder Korpsstudenten , ließen ihn , wenn er gelegentlich mit ihnen zusammentraf , durch ihre Zurückhaltung deutlich merken , daß man ihn als einen Verdächtigen betrachte .
Er schien in den Augen dieser Leute abgefallen von den Traditionen des Standes , indem er " unter die Literaten " gegangen war .
Es mußte früher oder später zu einem Bruche kommen zwischen Vater und Sohn .
Als Fritz , sobald er mündig geworden , das mütterliche Erbteil für sich verlangte , erhielt er das Geld , welches ihm ja nicht vorenthalten werden konnte , zwar ausgezahlt , aber der Vater machte ihn gleichzeitig darauf aufmerksam , daß , wenn Fritz statt einen soliden bürgerlichen Beruf zu ergreifen , weiterhin in anrüchiger Gesellschaft verkehre und " lascive Bücher " schreibe , er ihn enterben werde .
Fritz antwortete einige Zeit nach Ergehen dieser väterlichen Drohung mit der Veröffentlichung einer zweiten Gedichtsammlung , die alles , was der alte Herr an der ersten verwerflich gefunden hatte , in verstärktem Maße aufwies .
Von da ab war das Tafeltuch zwischen ihm und der Familie zerschnitten .
Als der Geheimrat ein Jahr darauf starb , fand es sich , daß Fritz im Testament auf das Pflichtteil gesetzt war .
Nun folgten jene Jahre in Berlin , während deren Fritz Bärtig mit seinen Dramen vergeblich bei den Bühnenleitern , Dramaturgen und Theateragenturen antichambrierte .
Der Disputierklub ging ohne Sang und Klang auseinander .
Einige wenige von den jungen Leuten rangen sich durch , kamen unter das Notdach einer Redaktion oder ergriffen den ersten besten Beruf als Rettungsplanke .
Viele tauchten unter auf Nimmerwiedersehen in der dunklen Woge des berliner Lebens .
Fritz machte neue Bekanntschaften .
Sein Geld halfen ihm Freunde und noch schneller Freundinnen durchbringen .
Er fragte sich manchmal , wenn er seine Lage bedachte , seine Mittellosigkeit , den geringen Erfolg seiner Dichtungen , ob es nicht doch weiser gewesen wäre , wenn er dem Wünsche seines Vaters folgend , die juristische Laufbahn eingeschlagen hätte .
Dann säße er jetzt als wohlbestallter Herr Referendar mit Aussicht auf Beförderung , könnte Leutnant der Reserve auf seine Karte schreiben , wäre Mitglied der guten Gesellschaft und eine geschätzte Stütze von Thron und Altar .
Er mußte zugeben , daß sein Dasein dann ein glänzenderes und bequemeres gewesen sein würde .
Und dennoch konnte er nicht bereuen , das andere Teil erwählt zu haben .
Es kam ihm vor , als ob - wenn an seinem Leben überhaupt etwas gut und der Achtung wert war - es jener Entschluß sei , mit dem er , vor die Wahl zwischen Philistertum und Künstlerlaufbahn gestellt , sich entschieden hatte für das , was ihm der edelste Beruf dünkte auf Erden : der des Dichters . * * * Schon lange glitzerte das Mondlicht nicht mehr über den Wellen .
Weißlicher Nebel zog herauf aus unsichtbaren Verstecken , wo er im Verborgenen gelauert hatte , und verhüllte allmählich das ganze weite Flußtal .
Zugleich lichtete sich der Himmel im Osten .
Kälte in der Luft und Feuchtigkeit am Boden kündeten das Ende der lauen Sommernacht .
Fritz kehrte um .
Da er nicht wußte , wo er sich befand , hielt er es für das beste , genau auf dem Wege , den er gekommen , nach der Stadt zurückzukehren .
Ihn fröstelte in der Morgenluft und er fühlte den Nachtmarsch in seinen Gliedern .
Aber er war glücklich .
Das was er in dieser Nacht ersonnen hatte , konnte ihm nicht wieder genommen werden .
Es war etwas da , etwas , das mehr bedeutete als Gefühl und Stimmung .
Vor seinem inneren Auge stand es .
Nur die Hand brauchte er auszustrecken , und er hielt es fest .
Er wußte jetzt , was der leitende Gedanke seiner Dichtung sein würde .
Die Kette gleichsam , in die er den bunten Einschlag verweben wollte seiner Empfindungen , der Grundakkord , der durch alles zittern sollte , das Thema , das zu variieren war .
Wenn es überhaupt einen Namen gab , der umfassend genug war für eine so große , so bedeutsame Sache , so lautete er : das Geschlecht .
Wohl wußte Fritz Bärtig , daß es kühn sei , ein Buch aufbauen zu wollen auf einem einzigen Begriffe ; wohl ahnte er die verborgenen Abgründe , die in einem Thema so heikler Natur lauerten .
Aber in diesem Augenblicke entzückten Erschauens war er wie der Wanderer , der lange in enger Schlucht einhergeschritten ist und auf einmal vor eine herrliche Fernsicht gestellt wird .
Er denkt nicht an die Mühseligkeiten , nüchternen Wegstunden und Gefahren , die ihn von jenen Fernen trennen .
Als wäre seine Sehkraft gesteigert , sieht er die fernsten Gipfel und Zacken in herrlichster Beleuchtung vor sich liegen , zum Greifen nahe .
Und es erscheint so leicht , das , was man klar erkennt , sich zu eigen zu machen .
Das Geschlecht !
War es nicht das größte , fruchtbarste , interessanteste Thema , das man sich wählen konnte ? -
Lag darin nicht alles eingeschlossen , das Körperliche sowohl wie das Geistige ?
War es nicht der Punkt , wo der Mensch am engsten und nachdrücklichsten zusammenhing mit der Natur ?
Seine Abstammung vom Tiere wie seine Verwandtschaft mit Gott , seine Achillesferse , wie seine Apotheose , aus diesem einen Punkte wurden sie verständlich .
Es war Kraft und Schwäche , Tragik wie Glück und Erfolg , Liebe , Haß , Kampf , Streben und Untergehen , höchstes Heldentum , tiefste Entartung , Aufblühen und Verwelken des Einzelnen , wie ganzer Familien , Klassen , Völker zu erklären aus ihrem Verhalten als Geschlechtswesen .
Fritz hatte einmal von einem seiner medizinischen Freunde gehört , daß bedeutende Psychiater , ehe sie eine Diagnose stellen , sich zunächst über das Geschlechtsleben des Patienten , als die wichtigste Frage , klar zu werden trachten .
War hier nicht ein Fingerzeig für den Dichter ? -
Was hatte die Naturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu so erstaunlichen Erfolgen geführt ?
Was hatte sie triumphieren machen über alle Betätigungen des menschlichen Geistes ?
Die Schärfe der Beobachtung .
Man hatte das , was man mit Augen gesehen , mit Ohren gehört , was man betastet , gerochen , geschmeckt , mit einem Worte , was man sinnlich wahrgenommen , zunächst einmal nüchternen Sinnes konstatiert , und das also untrüglich Festgelegte in Atome zergliedert und es in seinen feinsten Regungen analysiert .
Mit Hilfe scheinbar so einfacher Mittel war man zu tiefen Wahrheiten , zu epochemachenden Entdeckungen , ja zur Aufstellung universeller Systeme gelangt .
Wenn nun schon der Gelehrte , der in dem groben Material empirischen Wissens arbeitete , zu so gesteigerten Resultaten gekommen war , mit Hilfe dieser Methode , wie würde da erst dichterische Phantasie und Intuition Hand in Hand mit exakter Beobachtung und Analyse zu neuen Horizonten führen und herrliche , unerhörte Gebilde zu Tage fördern .
- Vielleicht war man hier auf dem Wege zur neuen Kunst .
Vielleicht würde die Dichtung , gestützt auf diese Methode , emporsteigen zu ungekannter Höhe .
Warum sollte ihr versagt sein , was die Wissenschaft erreicht hatte , während eines halben Jahrhunderts im Sturmschritt Zeiträume zu durcheilen , zu deren Bewältigung früheren Generationen Jahrtausende nicht genügt hätten .
Es kam darauf an , von der Wissenschaft zu lernen , die wertvollen Vorarbeiten , welche die Forschung geliefert hatte , zu verwerten , ihre Methode sich anzueignen .
Genau wie der Gelehrte , hieß es , nüchtern sein , sich nicht durch Aberglauben vergangener Epochen das Auge trüben lassen .
Vor allem hieß es auch , die sentimentale Empfindsamkeit abstreifen , die uns im Blute lag .
Und weiter galt es , sich freimachen von altmodischem Vorurteil , von alledem , was uns unter dem Namen Moral und Religion Fremdes , Unnatürliches und Erkünsteltes anerzogen worden war .
Der Naturwissenschaftler und der Philosoph hatten das längst zum alten Eisen geworfen , auch der Dichter konnte damit nicht mehr wirtschaften , wenn anders er an der Spitze moderner Weltanschauung marschieren wollte .
Dabei konnte er sehr gut ein Seher bleiben und ein Prophet .
Sein Auge sollte , geschärft durch wissenschaftliches Sehen , in alle Abgründe und Tiefen der Wirklichkeit tauchen , statt wie es früher gewesen , verzückt Ausschau zu halten nach dem , was man jenseits der Wolken vermutete .
Rücksichtslos mußte der Moderne sein , auf die Gefahr hin , von prüden Seelen schamlos genannt zu werden .
Er durfte sich nicht fürchten , vor dem Armeleutegeruch , jenen Dünsten , die auffliegen von Armut und Krankheit , welche die Moralisten als Schmutz und Laster zu bezeichnen beliebten .
Er durfte sich nicht schämen , die Seziersäle , die Gefängnisse , die Irrenhäuser zu betreten ; denn alle diese Erscheinungen waren wichtige Bestandteile des Lebens , bildeten menschliche Dokumente , eröffneten große Perspektiven , gaben Gelegenheit , die Welt zu zeigen wie sie war , nicht wie Idealisten träumen mochten , daß sie sei .
Freilich , zimperlich durfte man da nicht sein und auf Zimperlichkeit anderer durfte man auch nicht achten .
Den Mut mußte man besitzen , sich ganz auszukleiden , nackt hinzutreten vor die Menge .
Dann allein durfte man hoffen , durch Wahrheit wie die Natur selbst zu wirken .
Was aber waren die stärksten , echtesten Gefühle des Mannes ?
Was beherrschte von dem Augenblicke an , wo unter bangen Wehen aus dem Knaben der Jüngling geboren wird , das Denken , Dichten , Schaffen , Wünschen , kurz , das ganze Sein des normalen , männlichen Individuums ? -
Von Schopenhauer konnte es lernen , wer es nicht aus eigener Erfahrung wußte : der Geschlechtstrieb .
Der gewaltige , autokratische Herrscher , der allmächtige , launenhafte Störenfried , der große Künstler , unter dessen unsichtbarem Finger alles Farbe bekommt und Form , der ewig wache Regulator des Leibes wie der Seele .
Diesen Trieb in den Mittelpunkt setzen einer Dichtung , hieß daher nur konform handeln den ewigen Gesetzen des Kosmos .
Im Geschlecht war die Stelle , wo man an die menschliche Natur herankonnte .
In allem anderen wußten die Menschen einen schwer zu durchdringenden Panzer von Konvention , Satzung , von erheuchelter Sittenstrenge um sich zu legen .
Hier hatte das Gewand eine Lücke , durch die man ein Stück lebendig nackter Menschenhaut durchschimmern sah .
Und nun für das Leben des Einzelnen wie für das große Ganze diesen roten Faden nachzuweisen , der sich oft verborgen der alltäglichen Einsicht , doch für feinere Augen überall sichtbar hindurchzog , die natürliche Unterlage dieser das Dasein bedingenden Gefühle durchleuchten zu lassen durch alles , wie Gold durch ein feines Gewebe ; jenseits aller Moral , sachlich wahr und gerecht das Geschlechtsleben zum Zünglein zu machen der Waage , war das nicht eine Aufgabe , würdig des modernen Dichters , der nicht Sänger sein wollte allein und Fabulist , sondern auch Forscher zugleich , Richter und Gesetzgeber im Geistigen wie im Sinnlichen .
Der das ganze Leben mit seinem Auge umspannte und sich das Recht herausnahm , jeder Erscheinung gegenüber seine Ansicht zu äußeren , und jedem Stoff , mochte er noch so spröde erscheinen , seinen Schöpferodem einzuhauchen .
Die Erkenntnis dieses Naturgesetzes in Fleisch und Blut des Kunstwerkes umzusetzen , darauf kam es jetzt an .
Daß ihm das gelingen würde , bezweifelte er im Augenblicke der Empfängnis nicht .
Auf Zehn schlich er sich in das Quartier .
Es gelang ihm ins Bett zu kommen , ohne Alma zu wecken .
Er schlief sofort ein , und als er spät im Vormittage erwachte , fühlte er sich stark , frisch und zum Schaffen lustig . * * * Sofort ließ er eine Änderung vornehmen in dem Quartier .
Sie hatten nur zwei Zimmer zu ihrer Verfügung .
Alma pflegte mit ihrer Nähterei im Wohnzimmer zu sitzen , dort stand auch Fritzens Schreibtisch .
Da er aber die Angewohnheit hatte , während des Schreibens gelegentlich aufzuspringen und im Zimmer umherzulaufen , so wäre man in dem ohnehin beschränkten Raume allzusehr beengt gewesen .
Er traf also ein Abkommen mit Frau Klippel , wonach Alma gestattet sein sollte , in dem Wohnzimmer der Wirtin jenseits des Ganges zu sitzen und zu nähen .
Zugleich ließ er nun die von Alma längst sehnlichst gewünschte Nähmaschine anschaffen .
Von da drüben her störte ihn das Geräusch ja doch nicht .
Das Mädchen war glücklich über die Nähmaschine und noch mehr über die gute Laune , die plötzlich , sie wußte nicht woher , über ihren Fritz gekommen war .
In den nächsten Tagen und Wochen saß Fritz Bärtig an dem kleinen , wackeligen Schreibtisch aus Nußbaumholz .
Er ging nur ganz wenig aus , und Alma hatte Mühe , ihn zum Innehalten der Mahlzeiten zu bewegen , so versessen war er auf die Arbeit .
Freier und leichter seien ihm die Gedanken noch niemals zugeströmt , dünkte ihm .
Seine Einbildungskraft schien unerschöpflich .
Ein guter Einfall zog den anderen nach sich , Szene reihte sich an Szene .
Die Figuren sprangen wie geharnischte Ritter gewappnet aus der Phantasie hervor .
Er schuf wie im Fieber und auch wieder jeden Augenblick der Verantwortung seines Tuns sich voll bewußt , eingedenk des großen Amtes , das der Dichter ausübt .
Vater und Freund seiner Geschöpfe , hingerissen , erschüttert , mit ihnen bangend , hoffend und liebend , doch über ihnen stehend , kühl ihre Geschicke abwägend , ein Richter über Gut und Böse , über Wahr und Unwahr , über Schön und Häßlich .
Fritz Bärtig war ein Neuling im großen Roman .
Bisher war er mehr Lyriker gewesen als irgend etwas anderes .
Selbst seinen Dramen wurde von Kennern der Vorwurf gemacht , daß sie erfüllt seien von lyrischer Stimmung , daß ihnen der große , herbe , geschlossene Gang der Tragödie abgehe .
Seine Prosaskizzen hatte er selbst nur als Vorarbeiten betrachtet .
Nun stand er endlich vor der Aufgabe , die ihm seit Jahren vorgeschwebt : dem großen naturalistischen Romane .
Das war freilich ein ander Ding als das leichte Abpflücken einer Stimmung , das Austönanlassen einer Sehnsucht , das Weiterspinnen eines melancholischen Traumes .
Hier mußte schwere Arbeit getan werden .
Material galt es heranschaffen aus dem Gedächtnis und der Erfahrung .
Da mußte gesichtet , geprüft , eingeordnet werden .
Auf dem Fundament positiven Wissens sollte das Ganze ruhen , damit es vor dem Wirklichkeitssinn standhalte .
Wollte man den Leser zwingen , an die Welt lustiger Ideen zu glauben , die man aufbaute , so mußte man gestalten mit grobem , haltbarem Stoff , ebenso wie ein Architekt , um einen konstruktiven Gedanken auszuführen , Stein und Eisen , Sand und Kalk braucht .
Das Schwierige war , die Materialien so zu verbinden , daß sie nicht den Grundgedanken verdeckten , erdrückten oder ertöteten , sondern im Gegenteil in sinngemäßer Anordnung ihn laut und deutlich zum Ausdruck brachten .
Bei einem so groß gedachten Werke waren dem Autor nicht alle Teile gleichmäßig aufgegangen .
Oft kamen ihm während des Schreibens Erwägungen , die ihn nötigten , das schon Geschaffene zu ändern und neues einzubauen .
Stockungen traten ein .
Auf einmal , nachdem eine Zeit lang das Schaffen glatt von statten gegangen war , wie das Abspinnen eines Fadens , gab es einen Knoten .
Von seinen Gestalten hätte der Dichter in jedem Augenblicke genau angeben können , wie sie dachten , fühlten , was sie wollten und hofften , planten ; aber die Erfindung stockte , und die Phantasie hatte schwereres Arbeiten , wenn es hieß , die äußeren Verhältnisse zu schildern , in denen diese Menschen Tag ein Tag aus lebten .
Als Milieu der Handlung hatte er sich eine große Stadt gedacht .
Aber da eine solche doch ein mehr oder weniger umfaßbares Wesen ist , das sich in seinem Umfang der künstlerischen Gestaltung entzieht , hatte er sich innerhalb der Stadt wiederum ein Viertel , und in diesem eine Straße ausgewählt .
Und zwar hatte er den Hauptplatz der Handlung in einen Vorort verlegt , ähnlich dem , in dem er augenblicklich lebte .
Hier waren die Verhältnisse einfach , ja beinahe primitiv und darum übersichtlich .
Die städtische Bevölkerung mit ländlichen Elementen durchsetzt , minder raffiniert , in ihren Äußerungen harmloser und natürlicher , als der Großstadtmensch sich zu geben pflegt .
Interessante Gegensätze dazu von reich und arm , von gebildet und ungebildet , von Arbeitgeber und Arbeitnehmer .
Hier war gleichsam ein Filter für das Land , das nach der Stadt hereinströmte und zunächst die gröbsten Bestandteile absetzte .
Andererseits war hier aber auch der Kehrichthaufen , auf welchen die Stadt all ihr Verkommenes und Verbrauchtes hinausschaffte , all den Müll , der vom Haushalte eines großen Gemeinwesens abfällt .
Dazwischen Familien besseren Ursprungs , die der größeren Billigkeit wegen im Vororte wohnten .
Fabrikanlagen , die auf dem wohlfeileren Terrain wie die Pilze aufschossen , deren Besitzer oder Direktoren in prunkvollen Vielen logierten , während die Arbeiter und Arbeiterinnen die langen grauen Zeilen der Mietskasernen bewohnten .
Damit es dem Straßenbilde aber nicht an Buntheit fehle , verkehrten in dieser Gegend besonders gegen Abend Soldaten aller Truppengattungen aus den unweit gelegenen Kasernen ; diese Gäste wurden von den Mädchen ebenso gern gesehen wie von den Gastwirten .
In den zahlreichen Vergnügungslokalen fand dann zur Nachtzeit eine oftmals recht innige Verquickung dieser verschiedenartigen Elemente statt .
Welch herrlich charakteristischer Hintergrund , wie gemacht für das Thema , das Fritz sich gestellt hatte !
Der Stoff lag hier geradezu auf der Straße .
Er brauchte nur das Fenster zu öffnen , und es wurden ihm Geräusche zugetragen , die ihn leicht in Stimmung versetzten : der langgezogene Ton der Fabrikpfeife , das Lärmen unbeaufsichtigter Kinder , die sich ungeniert tummelten wie Sperlingsschwärme , das Geschwätz der Weiber von der Gasse , Leierkastenmusik , welche die Mädchen elektrisierte und die Hunde des ganzen Quartiers zu elegischem Geheul veranlaßte .
Vieles ging hier in ländlicher Unbefangenheit auf der Straße , unter dem Türstock , bei offenen Fenstern vor sich , was man sonst bei verschlossenen Türen und bei herabgelassenen Gardinen vornimmt .
Alles redete seine Sprache zu Fritz von dem Augenblicke ab , wo er sich die Mühe nahm , darauf zu achten ; selbst die Gerüche , die nicht immer angenehm aus Kellern , Budiken , Gruben und Gossen aufstiegen .
Auch sie verrieten ihm die Geheimnisse der Häuser , die Gewohnheiten ihrer Bewohner .
Es gab nichts in seiner Umgebung , das stumm gewesen wäre .
Und selbst das Quartier , das er bewohnte , wurde zur Fundgrube von Dokumenten .
Da war die Wirtin , Frau Klippel , eine Person , der man trotz ihres jetzigen vernachlässigten Aufzuges die Spuren ehemaliger Stattlichkeit noch immer ansehen konnte .
Der Mann war Eisenbahnschaffner und hielt sich im Dienste den größten Teil des Tages , oft auch der Nacht , außerhalb des Hauses auf .
Frau Klippel lief von früh bis Abend in loser Bluse , die ihre entwickelten Formen kaum verdeckte , mit ungemachtem Haar , in Filzschuhen einher .
Richtige Mahlzeiten zu kochen , war sie zu träge .
Das tägliche Brot der Familie bestand größtenteils aus Buttersemmeln , Kuchen und sehr viel Kaffee .
Das Quartier war stets schmutzig , obgleich die Frau unter dem Vorwande aufzuwischen , zu jeder Zeit auch in die Zimmer der Mieter eindrang .
Fritz hatte Alma anfangs verboten , sich in intimeren Verkehr einzulassen mit Frau Klippel , denn er wußte wohl , daß sie beide , in ihrem vor dem Gesetz nicht legitimen Verhältnis , sich vor Indiskretion ganz besonders zu hüten hatten .
Aber seitdem Almas Nähmaschine in der Wohnstube der Familie Klippel stand , war der Verkehr mit den Leuten nicht zu vermeiden .
Die Wirtin brachte oft Stunden damit zu , eines ihrer beliebten Aufwischtücher in der Hand , bei der fleißigen Alma zu stehen , ihr Rat zu erteilen für die Arbeit .
Diese Frau ersparte einem wirklich das Abonnement eines spannenden Romans beim Kolporteur .
Sie war wie ein großes Lexikon des Klatsches für das ganze Stadtquartier , das über heikle Familienangelegenheiten die erstaunlichsten Aufschlüsse zu geben vermochte .
Fritz verschmähte es nicht , sich nun doch mit dieser chronique scandaleuse näher zu befassen .
Kaum hatte Frau Klippel gemerkt , daß sie bei Herrn Bärtig mit ihren Berichten Anklang finde , so ließ sie alle Minen springen , gab für ihren Mieter gleichsam Extravorstellungen .
Fritz staunte geradezu .
Die Kraft der Einbildung , die diesem Weibe eigen war , ließ die stärkste dichterische Phantasie hinter sich .
Aber auch ihre Beobachtungsgabe , das Vermögen zu kombinieren , aus Kleinigkeiten überraschende Schlüsse zu ziehen und kühne Vermutungen aufzubauen , war beneidenswert .
Sie goß ein wahres Füllhorn des Skandals aus .
Ihm war , als würde der Kehricht des ganzen Stadtteils vor ihm ausgebreitet .
Frau Klippel sprach den unverfälschten Dialekt ihrer Heimat , der an sich schon geeignet ist , alles ins Ordinäre zu verwandeln .
Überhaupt gaben sich in ihrem Charakter die schlechten Eigenschaften ihrer Landsleute ein Stelldichein .
Sie war durchaus nicht dumm , im Gegenteil von einer gewissen pfiffigen Intelligenz .
Bar jeder Würde und Haltung , genußsüchtig dabei , ohne Energie und Temperament , eifrig im Verdächtigen anderer und in hämischer Spottsucht .
Ins Gesicht freundlich und stets bereit , sich wegzuwerfen .
Farblos und nachgiebig wie Brei , der auf jeden Druck nach allen Seiten hin nachgibt .
Glücklich war diese Person nur , wenn sie hinter der Kaffeetasse saß und wenn sie ein Opfer fand für ihre Redseligkeit .
Ihre Erzählungen hatten etwas vom Puppentheater an sich .
Sie führte ihre Personen meist redend ein .
Niemals hatten ihre Geschichten ein Ende , aus jeder entwickelte sich wieder ein halbes Dutzend neue .
Alles hing da unentwirrbar zusammen , wie ein großer Rattenkönig .
Die Erzählerin aber fand sich in diesem Labyrinth immer zurecht .
Für gewisse Erscheinungen des Liebeslebens hatte der auf alles Skandalöse besonders erpichte Sinn dieser Frau überraschend einfache Erklärungen .
Und gerade für das , was Fritzens Thema bildete , das Sexuelle , war sie mit einer Art unfehlbaren Witterung ausgestattet .
In allen ihren Erzählungen bildete das Verhältnis der Geschlechter gleichsam das A und das O , das Leitmotiv für unzählige Variationen , der natürliche Untergrund , aus dem jede Erscheinung sich ganz selbstverständlich entwickelte und erklärte .
Nicht , daß Fritz Bärtig den Rohstoff , welchen die redselige Person in reicher Fülle vor ihm ausbreitete , hätte direkt in seinen Roman aufnehmen können ; aber er verschmähte die geheime Mitarbeiterschaft Frau Klippelse an seinem Buche nicht .
Denn Fritz erkannte mehr und mehr , daß , wenn er sein Ziel erreichen wollte :
ein nahturalisches Kunstwerk zu schaffen , er sich nicht scheuen dürfe , sein Auge an jede der unscheinbaren und äußerst seltenen Klinzen zu legen , durch welche uns hie und da gestattet ist , die Natur in ihren intimsten Heimlichkeiten zu belauschen .
Er sprach jetzt manchmal mit Alma über den Plan seines Buches , ja las ihr einzelne Stellen vor und suchte ihre Ansicht darüber zu erforschen .
Er wußte zwar , daß Almas Geschmack durchaus ungebildet sei , aber ihm lag auch gar_nichts an ihrer Kritik ; etwas ganz anderes wollte er von ihr erfahren .
Verschiedene Physiologen , mit deren Werken er sich beschäftigt hatte , behaupteten : das Weib sei das Geschlechtswesen katexochen .
Im weiblichen Organismus habe alles Beziehung zu dieser wichtigen Funktion , für die sie recht eigentlich von Natur bestimmt seien .
Alles am Weibe , das Alltägliche wie das mystische Rätselhafte könne aus diesem einen Punkte erklärt werden ; im Geschlecht liege ihre ganze Inferiorität , aber auch ihre Größe und Genialität .
Fritz vermutete , daß diese Theorie viel Wahres enthalte .
Bei wem anders aber mochte man sich darüber vergewissern , als eben beim Weibe selbst !
Es ging ihm jedoch eigenartig mit Alma ; sie mochte von diesen Dingen nicht sprechen .
Wenn er sie ausforschte über ihre Gefühle , ihre Regungen und Triebe errötete sie , wich ängstlich aus , suchte das Gespräch auf anderes zu lenken .
Lachte er sie dann aus wegen ihrer Zimperlichkeit , drang er in sie , Dinge , die zwischen Liebesleuten so natürlich seien , nicht zu verschweigen , dann war sie imstande zu weinen .
Einmal nachts unter dem Schutze der Dunkelheit machte sie einen Versuch , ihm alles zu erklären ; aber es kam nur ein verwirrtes Stottern heraus , das sie jäh abbrach , um ihr heißes Gesicht bei ihm zu verbergen .
Sie müsse sich zu Tode schämen , behauptete sie .
Fritz staunte .
Was für ein starkes , ursprüngliches Gefühl doch beim Weibe die Scham war !
Alma , die so feurig liebte , deren Lebenselement die Zärtlichkeit war , die sich ihm hundertmal rückhaltlos hingegeben hatte , Alma zog sich scheu zurück , wenn er das , was das alltägliche Brot ihres Verhältnisses war , zu analysieren versuchte .
Es schien das mehr als bloß kindische Einbildung .
Er mußte da doch wohl auf ein Naturgesetz gestoßen sein .
Und schließlich hatte ihm Alma durch ihr Verhalten mehr verraten von den verstecktesten Geheimnissen des Weibes , als sie durch noch soviel beschreibende Worte vermocht hätte . * * * Die einzige Zerstreuung , die Fritz Bärtig sich in dieser Zeit angestrengtesten Schaffens gönnte , war der Verkehr mit seinem Freunde Doktor Lehmfink .
Man traf sich des Nachmittags im Café , oder auch abends im Bierhaus .
Da wurde über Politik , Tagesereignisse , am meisten aber über Literatur geschwatzt .
Abends pflegte Fritz zu diesen Zusammenkünften Alma mitzubringen .
Er wußte , daß Lehmfink gegen ihre Gesellschaft nichts einzuwenden habe .
Da mußte das Mädchen oft stundenlang den Gesprächen der Freunde zuhören und hatte Mühe , das Gähnen zurückzuhalten , das Fritz nicht leiden mochte .
Lehmfink , der ihren Augen die Müdigkeit ansah , hob dann wohl die Sitzung auf unter dem Vorwande , selbst müde zu sein , und verschaffte der Ärmsten so die ersehnte Bettruhe .
Selten kam es vor , daß Fritz Bärtig und Heinrich Lehmfink derselben Ansicht gewesen wären .
Was sie einigte , war eigentlich nur das starke Interesse , das beide für Literatur hegten , obgleich sie auch hier fast immer im Gegensatz der Ansichten standen .
Aber gerade diese Verschiedenheit machte den Verkehr anregend , ließ die Unterhaltung niemals in die seichte Bucht der Fachsimpelei geraten .
Gewisse , wie Fritz dünkte , etwas stark rückständige Moralansichten des Freundes schrieb er auf das Conto der kleinen Verhältnisse , aus denen Heinrich Lehmfink stammte .
In der altmodischen Art sich zu kleiden , in einer gewissen würdevollen Steifheit der Haltung , in der hypersoliden Lebensführung , hatte jener den deutschen Spießbürger nicht völlig abgestreift , bei aller Weite seines geistigen Horizonts .
Und wie in der grotesken äußeren Erscheinung , so erschienen auch in seinem Charakter komische Züge mit Größe und Freiheit des Wesens merkwürdig vermischt .
Fritz konnte nicht anders , als diesen wunderlichen Kauz , der ihn durch seine Pedanterie gelegentlich ärgerte , dessen weltfremdes , altfränkisches Wesen ihn oftmals zum Widerspruche reizte , im geheimen doch zu bewundern .
Fritz wußte , daß sein Freund ein Märtyrer war seiner Ehrlichkeit .
Ein Mann von dem gründlichen Wissen Lehmfinks , von seiner Belesenheit , seinem Fleiß , würde , wenn er nur verstanden hätte , sich ein wenig anzuschmiegen , fünf gelegentlich gerade sein zu lassen , den Mantel nach dem Winde der öffentlichen Meinung zu hängen , eine ganz andere Stellung im Journalismus wie in der Literatur haben einnehmen können .
So aber war Heinrich Lehmfink einer von jenen wenig beneidenswerten Sklaven der Feder , der für den Tagesbedarf des Publikums seine guten Kräfte anstrengen mußte .
Nebenher arbeitete er wissenschaftlich , schrieb Kommentare , gab kritische Ausgaben heraus .
Aber auch hier stand der Erfolg nicht im Verhältnis zur aufgewendeten Kraft .
Fritz wußte , daß sein Freund von seinen Honoraren Mutter und Schwester , die von der Witwenpension eines Stadtschreibers leben mußten , unterstützte .
Nun fing Lehmfink neuerdings auch noch an , ganz ungebeten von einer alten Schuld abzutragen , die er in Berlin bei Fritz kontrahiert hatte .
Es war das erste Mal in seinem Leben , daß Fritz Bärtig Geld , welches er verborgt hatte , zurückerhielt .
Eigentlich mußte man sich ja scheuen , das von einem Manne anzunehmen , dem es so wenig glänzend erging , wie Heinrich Lehmfink ; aber eine Weigerung würde den leicht Empfindlichen sicherlich schwer gekränkt haben .
Und in gewisser Beziehung kam dieses Geld wie vom Himmel gesandt für Fritz , der gerade auf dem Grunde seines Beutels angelangt war , als ihm der Freund die ersten hundert Mark von den tausend ehemals erborgten zurückerstattete .
Doktor Lehmfink war in einem schwäbischen Bergstädtchen geboren , das die Einwohnerzahl fünftausend nicht ganz erreichte .
Das Städtchen hatte ein Amtsgericht , eine evangelische und eine katholische Kirche und brüstete sich mit seiner Lateinschule .
Sein Bürgermeister kam mit einem Ratsschreiber aus .
Ratsschreiber Lehmfink war dem Gehalte entsprechend , das er bezog , ein bescheidener Mann , dem es wie frevelhafter Leichtsinn erschienen wäre , mehr als dreimal in der Woche auf seinem Tische Fleisch zu sehen , oder sich einen zweiten Frack anzuschaffen , ehe sein alter , dessen abgeschabte Stellen von der Frau Ratsschreiber mit Tinte aufgefärbt wurden , ehe dieses kostbare Kleidungsstück nicht so morsch geworden war , daß kein Stich mehr darin hielt .
Dieser Mann , den man also nicht gut einen Verschwender und eitlen Gecken nennen konnte , besaß jedoch einen Ehrgeiz , der , wenn man seine Revenuen kannte , immerhin tollkühn genannt werden mußte :
er ging nämlich mit dem Gedanken um , seinen Sohn Heinrich studieren zu lassen .
Der Junge war nach drei Mädeln zur Welt gekommen .
Vielleicht erklärt die Überraschung über das Faktum , daß , nachdem man hintereinander drei Nieten gezogen , nun doch noch ein Erbe und Stammhalter geboren worden war , vielleicht erklärt der Freudentaumel , der in solchen Fällen jeden Erzeuger zu befallen pflegt , die Wagehalsigkeit dieser Zukunftspläne .
Von dem Augenblicke ab , wo der kleine Heinrich da war , der , wenn alles gut ging , in achtzehn Jahren an den Brüsten der alma mater sich erlaben sollte - stand der Haushalt des Stadtschreibers Lehmfink noch mehr als bislang unter dem Zeichen des Sparens .
Vier Kinder durchbringen bei vierhundert Talern jährlichem Fixum und davon den vierten Teil zurücklegen wollen für den zukünftigen Studiosus , es war ein Rechenexempel , das , trotz seiner scheinbaren Einfachheit , doch immer und immer wieder , ja fast täglich und stündlich , von Vater und Mutter durchgerechnet und äußerst schwer lösbar gefunden wurde .
Dann starben die beiden ältesten Mädchen , zu einer Zeit , da die Diphtherie furchtbare Opfer von dem Kinderbestande des Städtchens forderte .
Die Kleinen wurden aufrichtig betrauert von den Eltern ; aber nachdem der Trennungsschmerz überwunden war , empfand man , ohne es sich einzugestehen , doch eine Art Entlastung .
Das Rechenexempel wurde wesentlich leichter lösbar , seit man statt vier hungriger Münder deren nur noch zwei zu stopfen hatte .
Stadtschreiber Lehmfink hegte vor studierten Leuten eine unbegrenzte Hochachtung .
Das Abgangszeugnis von einer Universität erschien ihm als die Eingangspforte zu allen höchsten Stellen der Welt .
Was der kleine Subalternbeamte niemals besessen hatte , das sollte sein Sohn wenigstens einmal erreichen :
Ehren und Einfluß .
Der väterliche Ehrgeiz schien nicht verschwendet zu sein .
Klein-Heinrich erledigte die verschiedenen Stadien des Lesens , Schreibens und Einmaleins-Lernens mit anerkennenswerter Schnelligkeit .
Und von dem Augenblicke an , wo er durch die Pforten der Lateinschule in den Tempel klassischer Bildung eingetreten war , bewegte er sich in der oberen Hälfte der Klasse , bis er schließlich aus dem Wettrennen unter zwei Dutzend Klassengenossen als unbestrittener Primus hervorging .
Philologie sollte der Junge studieren , so schlugen die Lehrer dem Vater vor ; Heinrich , der mit sechzehn Jahren das Lateinisch in zweierlei Färbung , der archaischen und der Ciceronianischen sprechen und schreiben konnte , werde einmal seiner Vaterstadt unsterblichen Ruhm erwerben .
Der Vater Stadtschreiber war natürlich nicht wenig stolz auf seinen Jungen , der in der Klasse über soundsovielen Honoratiorensöhnen saß .
Dem jungen Menschen jedoch genügte die ziemlich reichliche Ration von Wissensstoff , die ihm auf der Schule verabreicht wurde , nicht einmal .
Es war ein Drang in ihm , sich über den Stundenplan hinweg bekannt zu machen mit dem , was es sonst etwa noch außerhalb der Philologie in der Welt geben mochte .
Er ahnte dunkel , daß ihm die Schule da mancherlei unterschlage .
Die deutsche Literatur wurde auch hier stiefmütterlich behandelt .
Bücher gab es im väterlichen Hause nicht .
Dafür existierte in dem Städtchen ein Buchladen , in dem zwar nur selten ein Buch gekauft , dessen Bibliothek aber um so eifriger benutzt wurde .
Vor dem Schunde , der hier den harmlosen Schildbürgern als das Neueste und Beste der Weltliteratur in abgegriffenen , fettklebenden Deckeln verabreicht wurde , bewahrte den jungen Heinrich der schmale Geldbeutel seines Vaters .
Für das Lesebedürfnis des Sohnes war in dem Budget des Stadtschreibers ein Posten nicht vorgesehen .
Aber es gab im Rathause ein Zimmer , das den Namen : " Die Bibliothek " führte .
Da standen an tausend Bände in schönen , soliden Ledereinbänden .
Ein Privatgelehrter , der hier am Orte seine letzten Lebensjahre zugebracht , hatte sie letztwillig der Bürgerschaft vermacht .
Die Stadtväter hatten die Stiftung nicht gut abweisen können , obgleich es manchem der braven Pfahlbürger als Unfug und unverantwortliche Verschwendung erscheinen mochte , daß für so unnütze Dinge wie Bücher ein ganzer , schöner , großer Raum des Stadthauses hergegeben werden sollte .
Und der wunderliche Mann , von dem die Bücher gesammelt worden waren , hatte mit ihnen auch noch ein kleines Kapital vermacht , von dem ein Bibliothekar die Zinsen erhalten sollte für die Mühewaltung des Ausleihens .
Diesen Posten hatte man dem Stadtschreiber Lehmfink gegeben .
Er war leicht auszufüllen , denn es gab in dem Städtchen eigentlich niemanden , der von der Gelegenheit , sich gediegene Literaturkenntnisse anzueignen , Gebrauch zu machen , die kühne Absicht gehegt hätte .
Zwar wurden die schönen Bände von Zeit zu Zeit herausgenommen , aber nur um abgestaubt zu werden ; im übrigen schliefen sie auf ihren Regalen so ruhig und ungestört , wie die Gebeine derer , die sie verfaßt hatten .
Bis einer kam , der Sohn des Stadtschreibers und Bibliothekars , der junge Heinrich Lehmfink , der die lichten Geister , die hier unter Staub und Spinngewebe schliefen , befreite und sich zur Gesellschaft aus ihren Gräbern zitierte .
Hier lernte der Knabe den wunderlichen großen Wolfram von Eschenbach kennen .
Der freie , ritterliche Walther von der Vogelweide wurde ihm vertraut wie ein Freund .
Hans Sachsens Vielseitigkeit tat sich ihm auf .
Mit dem witzigen Fischart machte er gute Bekanntschaft .
Vom Simplizissimus empfing er starken Eindruck .
Klopstock zu lesen , versuchte er , brachte es aber ebensowenig fertig , wie irgend ein anderer moderner Mensch , der nicht gezwungen ist , diesem verzückten Pateticker durch die Dunkelgänge seiner Gesänge zu folgen .
Klarer und freier wurde ihm bei Lessings Verständigkeit zu Mute .
In Wielands liebenswürdiger Gesellschaft fühlte er sich eine Zeit lang wohl .
Herder regte ihn an , Schiller begeisterte ihn , bis er in Goethe endlich den Born der Schönheit fand , der unausschöpflich ist .
Kant allerdings erwies sich seiner Jugend als eine allzu harte Nuß , dafür nahm ihn Jean Paul mit seinen wunderlichen , traurig lustigen Träumereien ganz und gar gefangen .
Schließlich ging er mit den Romantikern aus , die blaue Blume zu suchen .
Als geborenem Schwaben traten ihm seine Landsleute : Uhland , Mörike und Hauff besonders nahe .
Mit Heinrich von Kleist , Körner , Schenkendorf und Arndt fühlte er Deutschlands Schmach und entbrannte für Befreiung von dem Joche der Fremdherrschaft .
Durch die Gebrüder Grimm wurde er in die Wunder der deutschen Märchenwelt eingeführt .
Germanischen Witz und Tiefsinn lernte er durch Till Eulenspiegel , Reinecke Fuchs , Münchhausen und andere Volksbücher kennen .
Die Bibliothek schnitt an einer bestimmten Stelle unserer Literatur ab .
Vielleicht war der Stifter in seiner Sammelarbeit durch den Tod unterbrochen worden ; vielleicht auch hatte er die späteren Dichter nicht geliebt .
Heine gab es da nicht , und auch das " junge Deutschland " fehlte .
Dafür waren die großen englischen Epiker von Walter Scott bis Dickens in guter Übersetzung vertreten .
In dieser erlauchten Gesellschaft ein paar Jahre zuzubringen , hätte sich auch für einen anspruchsvolleren Menschen , als dieser Jüngling war , verlohnt .
Heinrich Lehmfink befriedigte mehr den ersten Heißhunger der Jugend nach Wissen , als daß er schon jetzt literarischer Feinschmecker geworden wäre .
Er nahm alles an , was vor ihm in der Krippe lag .
Sein besonderes Glück war es , daß seiner Empfänglichkeit nur auserlesene Kost geboten wurde .
Die Lehrer , eingerostete Philologen alten Schlages , sahen es nicht gern , daß der hoffnungsvolle Schüler sich so eifrig mit " außerwissenschaftlichen Materien " abgab , wie sie die deutsche Dichtung nannten .
Zu ihrem Erstaunen mußten sie erleben , daß diese Liebhaberei den Knaben nicht nur nicht schädigte , sondern , wie es schien , in seiner geistigen Entwicklung förderte .
Er bestand eine gute Abgangsprüfung .
Nun ging_es auf die Universität .
Vom Militär kam der junge Mensch frei , seiner schwachen Augen wegen .
Die hatte er sich in mancher , bei schlechter Öllampe durchstudierten Nacht fürs ganze Leben verdorben .
Vater Lehmfink war geneigt , das für ein Glück anzusehen ; jedenfalls grämte er sich keinen Augenblick , daß der Junge die kostspieligen Freiwilligenschnüre nicht auf den schmalen Schultern tragen würde .
Der Ehrgeiz des Stadtschreibers ging mehr dahin , ihn möglichst bald in Amt und Würden zu sehen , während Mutter und Tochter in diesem einen Punkt anders dachten ; sie hätten ein wenig buntes Tuch ganz gern in der Familie gesehen .
Ein paar Semester lang lag nun der junge Student ganz brav dem Studium der alten Sprachen ob , ohne irgendwelche leichtsinnigen Seitensprünge auf andere Wissensgebiete zu unternehmen .
Bis er eines Tages durch Zufall in die Vorlesung seines großen Landsmanns Vischer geriet .
Der Autor von " Auch einer " tat es dem Jüngling an .
Plötzlich wurden alle jene Geister der heimischen Rathausbibliothek wieder wach .
Der Student alter Sprachen erfuhr durch einen Lehrer , der bis in die Fingerspitzen hinein ästhetische Persönlichkeit war , daß sich klassische Bildung , moderne Weltanschauung und germanisches Empfinden sehr gut vereinigen lassen .
Und wie es geschieht , wenn ein Jüngling das Glück hat , in seinem Lehrer einen genialen Anreger zu finden :
es gehen dann der jungen Seele ebensoviel neue Horizonte auf , wie ihr von den erstaunten Augen Schleier des Vorurteils genommen werden .
Das Altertum war nicht die ganze Welt ; die Philologie nicht die Wissenschaft ; mit der Moderne verglichen , schrumpfte die Antike zu einer Vorbereitungsstufe zusammen .
Aber der Meister , der bei dem jungen Manne das ästhetische Schauen geweckt , das Erkennen des Schönen und Großen vertieft hatte , senkte ihm zugleich auch einen beunruhigenden Stachel in die Seele : den Trieb , nicht bloß zu wissen und zu erkennen , sondern auch zu erleben .
Heinrich , der sich daheim nur als Kind der Vaterstadt und besten Falles als Schwabe gefühlt hatte , während das Reich etwas Fremdes , ein geographischer Begriff für ihn geblieben war , begann , angeregt durch das Vorbild Fischers , der Stammeseigenart und Deutschtum großen Stiles in seiner überlegenen Persönlichkeit wunderbar harmonisch vereinigte , sich als Bürger eines weiteren Vaterlandes zu fühlen .
Und wie dem Studenten sein Brotstudium nun beschränkt vorkam , so erkannte er auf einmal auch die Winzigkeit des engeren Vaterlandes .
Neugier erfaßte ihn nach den weiten Landen , die jenseits der Grenzsteine seiner bisherigen Welt sich dehnten .
Und diese Sehnsucht kam schließlich in dem Wünsche zum Ausdruck : das Reich , Preußen , Berlin zu sehen .
Nach Ansicht des Vater Stadtschreibers ein ganz toller Gedanke .
Preußen , Berlin !
- Das war für diesen Stockschwaben so gut wie Feindesland .
Und dazu die Kosten der Reise und des Aufenthalts in einer so großen Stadt ! -
Aber Heinrich , der die unwiderstehliche Kraft entwickelte des jungen Tieres , das aus dem Neste will , des Pflanzenkeimes , wenn er die Hülle sprengt , setzte seinen Willen durch gegen das ängstliche Abraten des ganzen kleinstädtischen Basen- und Gevatternkreises .
Berlin machte zunächst einen abstoßenden Eindruck auf den jungen Mann .
Heinrich Lehmfink ließ sich durch die ungewohnten Dimensionen , den lauten Trara der Millionenstadt nicht die Fähigkeit der Kritik nehmen .
Den Mittelpunkt deutschen Lebens hatte er sich doch etwas anders vorgestellt .
Ihm konnten die Gardeleutnants , die in gebückter Haltung , Monokel im Auge , den Säbel schleppend , die Linden herabschleiften , ebensowenig imponieren , wie die dunkeläugige , schnodderig dreiste jeunesse doree von » Berlin W « und die geputzten Frauenzimmer des Café National mit ihren gemalten Wangen , die den Provinzialen , wenn er sich des Nachts in die Gegend der Friedrichstraße verirrte , lachend zum Mitkommen aufforderten , erfüllten ihn mit Ekel vor den unheimlichen Abgründen des glänzenden Großstadttreibens .
Ganz andere Dinge waren es , die ihn in ihren Bann schlugen .
Das alte Schloß , das Zeughaus , das Kammergericht redeten für den , der hören wollte , eine beredte Sprache .
Die Denkmäler des großen Kurfürsten und Friedrichs blieben nicht stumm .
Dazu Sanssouci und Charlottenburg !
Heinrich Lehmfink fing an , zu begreifen , daß diese lärmige , unsolide , brutale , künstlich aufgebauschte Stadt doch einen unvergänglichen Kern von historischer Größe und Schönheit besitze .
Er sah auch das milde Angesicht des greisen Kaisers ; und für ihn , wie für jeden , der den alten , vornehmen Mann erblickt , wie er sich hinter seinem Fenster vor der grüßenden Menge , pflichtgetreu selbst in der Höflichkeit , unermüdlich verneigte , blieb dieser Anblick unvergeßlich .
Aber erhaben über alles , was groß und neu , gab es noch eines in dieser Stadt , einen Menschen , der wie ein Naturereignis , wie ein Stück personifizierte Weltgeschichte erschien , einen Mann , den man entweder hassen mußte , oder lieben : Bismarck .
Was hatten sie Heinrich Lehmfink daheim in dem schwäbischen Neste von diesem Bismarck erzählt !
Er war für das Kind ein Popanz , für den heranwachsenden Jüngling eine unheimliche , unfaßliche Persönlichkeit gewesen .
Der Mann von Blut und Eisen , der preußische Junker , der Erzreaktionär , der Feind aller Freiheit , aller Schönheit , aller geistigen Kultur .
Aber sehen wollte er ihn , dieses Phänomen , das wie ein weitragender , alter Baum in der deutschen Erde stand , seinen Schatten werfend , bis in das Leben und Denken eines jeden .
Und er sah ihn .
Nachdem er manche liebe Stunde umsonst vor dem Reichskanzlerpalais auf und abgeschritten war , lief er eines Tages auf einsamer Promenade im Tiergarten dem Fürsten gerade in den Weg .
Lehmfink erkannte ihn erst , als er ihm beinahe gegenüberstand .
Ein fliegender Blick aus den großen , blitzenden , dunkelblauen Augen traf den jungen , verblüfft dreinschauenden Menschen .
Ein belustigtes Zucken um das granitene Kinn , die schmalen , vieles verbergenden Lippen .
Heinrich Lehmfink erholte sich nur langsam von dem Erlebnis .
Dann kehrte er um , lief eiligst dem Fürsten nach .
Er holte ihn ein und kam gerade zurecht , Bismarck ein Paar Damen begrüßen zu sehen .
Der junge Mensch schritt an der Gruppe vorbei , und er empfing einen neuen Eindruck .
Nie hatte er einen Mann sich ritterlicher vor Frauen verneigen gesehen , wie den gewaltigen Greis .
Jetzt sah er erst , daß nicht wilde , ungebändigte Kraft das Charakteristische war an dieser Erscheinung , sondern Leichtigkeit , geistige wie körperliche Freiheit .
Die Haut zart wie die einer Frau , das Auge berückend im Ausdruck , die Bewegungen graziös , das Lächeln unendlich fein .
Lehmfink trug ein unauslöschliches Bewußtsein davon ; etwas Schöneres würden seine Augen nie wieder erblicken , meinte er .
Und er sollte doch noch etwas sehen , das diesem Erlebnis an Schönheit gleichkam und es an erschütternder Wucht übertraf .
Die Hochschulen Deutschlands rüsteten sich , den siebzigsten Geburtstag des ersten Reichskanzlers zu begehen .
Auch Heinrich Lehmfink ließ sich in den Fackelzug einstellen , den die Studenten ihrem großen Kommilitonen brachten .
Als die Spitze des Zuges das Reichskanzlerpalais erreichte , voran die schwarz-weiß-roten Farben , denen er Sinn verliehen hatte , stand dort am geöffneten Parterrefenster , vom Fackellichte grell beleuchtet , die reckenhafte Gestalt eines Alten im Kürassierrock .
Das Haar schlohweiß ; denn er hatte , da er die Jugend erblickte , das Haupt entblößt .
Und als nun die frische Schar vorübermarschierte , Hurra rufend und die Schläger schwingend , da lehnte sich der Greis weit über die Brüstung , streckte beide Arme aus , als wolle er der Zukunft Deutschlands die Hände segnend aufs Haupt legen .
Der Mann , den Europa den Eisernen nannte , schmolz in diesem Augenblicke dahin in unendlichem Glück und unsagbarem Weh .
Meister der Diplomatie , Künstler im Abwägen und Zurückhalten , vermochte er seine Züge nicht zu beherrschen , weinte wie ein Kind .
Von diesem Augenblick ab war der Schwabe Heinrich Lehmfink gewonnen für das größere Vaterland .
Er war erst bismarckisch gewesen , nun wurde er deutsch .
In seine Heimat wollte er jetzt gar_nicht zurückkehren . Seinem Vater zuliebe machte er den Doktor , blieb aber weiter in Berlin , angeblich , um sich auch in den neueren Sprachen zu vervollkommnen .
In Wahrheit schwebte ihm ein Plan vor , den er nur in Berlin vollenden zu können glaubte : ein Heldenepos beabsichtigte er zu schreiben , in dessen Mittelpunkt er den Mann stellen wollte , der sich ihm in seiner menschlichen Liebenswürdigkeit durch ein Paar einfache Züge , ein Lächeln , eine Träne verraten hatte .
Er plante ein Gedicht in vielen Gesängen .
Die Entstehung des neuen Deutschland von Anfang an würde es besingen , als roter Faden gleichsam sollte sich die Entwicklung seines Helden hindurchziehen , bis sich beide schließlich in der Reichsgründung trafen .
Es bedurfte eines Jahres voll mühevollen , verzweifelten Schaffens und sich Abquälens , voll mutlosen Fallenlassens und sich immer wieder Anspornens und Aufraffens zur vorgenommenen Arbeit , um Lehmfink zu belehren , daß man mit noch soviel Begeisterung und Liebe aus dem herrlichsten Stoffe doch niemals ein Kunstwerk schaffen wird , wenn man kein Dichter ist .
Ein Geständnis , das zu machen sauer fiel ; aber seine Ehrlichkeit rang es sich schließlich doch ab .
Ein ganzes Jahr an eine Aufgabe verschwendet , die man schließlich doch nicht hatte lösen können ! -
Wenn er sich der ursprünglichen Reinheit und Größe seiner Absichten nicht bewußt gewesen wäre , er hätte verzweifeln können .
Sein Scheitern hatte auch eine äußerst ernste materielle Seite .
Bisher war Heinrich von seinem Vater unterstützt worden ; aber der konnte ihm nichts mehr geben , seitdem das kleine Kapital , das er für die Studien seines Sohnes zurückgelegt , aufgezehrt war .
Der junge Mann mußte sich fortan den Lebensunterhalt selbst verdienen .
Er tat dies , indem er zurückgebliebenen Gymnasiasten Nachhilfsunterricht erteilte .
Damals starb sein Vater .
Heinrich eilte nach Haus , kam noch zum Begräbnis zurecht und blieb eine Zeit lang bei Mutter und Schwester .
Es hätte nahe für ihn gelegen , nachdem er draußen in der Welt Schiffbruch erlitten hatte , sich nunmehr in der Heimat eingeschränkter , aber sicherer anzubauen .
Lehmfink machte auch wirklich einen solchen Versuch , ließ sich als Hilfslehrer anstellen .
Aber lange hielt er das nicht aus .
Weniger die Kleinheit der Verhältnisse war es , als die Engigkeit der Anschauungen , die Verbohrtheit und Querköpfigkeit , die ganze muffige Atmosphäre des Kleinstadt-Philisteriums , die ihn elend machte .
Er hatte da draußen freiere Luft geatmet , hatte große Menschen gesehen , hatte vom Wasser lebendiger , stark fließender Entwicklung getrunken .
Es zog ihn mit aller Macht dahin zurück , wo wirkliches Leben pulsierte .
In Berlin , wohin er nach einjähriger Abwesenheit zurückgekehrt war , sah er sich nach journalistischer Tätigkeit um .
Wenig vertraut mit dem Zeitungswesen , glaubte er , daß es nur der Gediegenheit des Wissens , gefestigter Ansichten und guten Deutschs bedürfe , um im Journalismus vorwärts zu kommen .
Der Brave ahnte nicht , daß solche Eigenschaften bei der Durchschnitts-Tageszeitung eher Hindernis als Empfehlung sind .
Nun war er also gezwungen , von Redaktion zu Redaktion zu gehen und seine Dienste anzubieten .
Hier und da bekam er ein Stück Arbeit hingeworfen , das er annehmen mußte , mochte der Auftrag ihm liegen oder nicht .
Dabei warf er einen Blick hinter die Kulissen nicht nur der Presse , sondern auch der ganzen großstädtischen Literatur .
Er fiel aus einer Enttäuschung in die andere .
Dieses Berlin , dem die glücklichen Errungenschaften einer ganzen Nation mühelos in den Schoß gefallen waren , das ein blühendes Zentrum geworden war für Handel und Wandel , das in der Politik den Ton angab für Europa , dieses Berlin war eine literarisch armselige Stadt .
Was es an Literatur hervorbrachte , was es auf seinen Theatern darstellte , war entweder direkt herübergeholt von dem Volke , das besiegt zu haben man sich brüstete , oder es wurde von geschickten Machern nach allerhand pikanten Rezepten zusammengebraut .
Heinrich Lehmfink gedachte der Manen großer deutscher Denker und Dichter , die doch schließlich alle unsichtbar an dem Reiche mitgebaut hatten , das jetzt äußerlich größer und mächtiger dastand , als jene es in ihren bescheidenen Träumen erschaut haben mochten .
Was war Macht ohne Kultur ? was Fülle der Kraft ohne Geist ?
Was nützte Breite des Unterbaues , wenn dem Ganzen als edelste Krönung die echte , zu den Wolken aufstrebende Kunst fehlte ? -
Dabei war die Presse voll des Lobes und der Bewunderung für die herrschende Kunst .
Kein Wunder !
Aus den Feuilletons sproßte diese Afterpoesie ja so üppig hervor ; die Kritik düngte den eigenen Boden mit ihrer Zustimmung .
Man war Poet , Rezensent , Kaufmann in einer Person .
Alles stand zu einander in Fühlung , die Theaterbüreaux , die Feuilletonredaktionen , die sogenannten Dichter .
Ihre Interessen waren enger mit einander verflochten als die Schwänze eines Rattenkönigs .
Der , welcher nicht Zulaße hatte zu ihrem Klüngel , konnte draußen stehen und die Fäuste ballen .
Aber die Opposition war bereits da .
Sie mehrte sich mit jedem neuen Mißbrauch der Machthaber , wartete nur auf ein Stichwort , ein Zeichen , einen Führer .
Junge Leute , die aus den verschiedensten Lagern stammend nur darin einig waren : Neues an Stelle des Alten setzen zu wollen .
In dieser Gemeinschaft war es , wo Heinrich Lehmfink und Fritz Bärtig einander kennen lernten .
Es sollte eine Zeitung gegründet werden ; denn man wollte zunächst einmal seine Prinzipien niederlegen , Panier entrollen , ein weithin sichtbares Zeichen für alle Gesinnungsverwandten aufstellen , um dann Sturm zu laufen mit starker Mannschaft .
Dieses jugendliche Projekt wäre wie ungezählte seinesgleichen sicherlich ein schöner Gedanke geblieben , wenn sich nicht zwei Leute gefunden hätten , einer , der das Geld dazu hergab : Bärtig , und ein anderer , der die Arbeit der Redaktion zu leisten ernsthaft gesonnen war : Lehmfink .
Ungefähr zehn Nummern erschienen , dann ging das Blatt ohne Sang und Klang ein .
Das große Publikum hatte sich um das neue Unternehmen nicht gekümmert , weil es von Natur indifferent ist gegenüber allem , was mit Ernst auftritt .
Und ernst , bitter ernst war es diesen Jünglingen um ihr reformatorisches Werk .
Die wenigen Abonnenten aber , die der Prospekt gewonnen hatte , wußten nicht , was sie mit einem Blatte anfangen sollten , das sich auf der einen Seite sozialistisch-kommunistisch , auf der anderen aristokratisch-individualistisch gebärdete , das für Bismarck und das Germanentum schwärmte und gleichzeitig vaterlandslosen Anarchismus predigte .
Ein Blatt , in dem die vierte Dimension spukte , das Übermenschentum , die freie Liebe und der Buddhismus sich ein Stelldichein gaben .
Lehmfink hatte nicht geahnt , daß er mit dieser Gründung nur einen Tummelplatz mehr geschaffen habe für unausgegorene Ideen .
Das Blatt war ein Monstrum und seine Wirkung einem Schlage ins Wasser gleich .
Diejenigen , gegen die seine Spitze gerichtet sein sollte , lachten , und das Publikum , soweit es überhaupt Notiz davon genommen , wandte sich , noch verwirrter als zuvor , kopfschüttelnd ab .
Niemand härmte sich groß um das Verschwinden dieses Organes .
Fritz Bärtig , der damals eben in die väterliche Erbschaft eingetreten war , verschmerzte das hineingesteckte Geld schnell .
Nur Lehmfink nahm die Sache tragischer ; ihm war wirklich eine Hoffnung zu Grabe getragen worden .
Mit Hilfe Bertings löste er sich aus einer pekuniären Verpflichtung , die ihm anhing und setzte seinen Wanderstab weiter .
Nach Haus wollte er auch jetzt nicht zurückgehen .
In dem kleinen Neste kannten einen zu viele Menschen von Jugend auf und würden es einem nur zu bereitwillig unter die Nase reiben , daß man es trotz großer Erwartungen , die man ehemals erregt , doch zu nichts gebracht habe .
Er verließ also Berlin ; unter welches Notdach er nun kriechen werde , war ihm in seiner damaligen Stimmung beinahe gleichgültig .
Mit wehmutsvoller Freude begrüßte er seinen Kumpanen Fritz Bärtig , der nach Verlauf von zwei Jahren desselben Weges verschlagen wurde .
Oft hatte er sich in Gedanken mit dem jungen , hoffnungsvollen Menschen beschäftigt .
Es waren gemischte Gefühle , mit denen Heinrich Lehmfink auf den um einige Jahre jüngeren Freund blickte .
Zweierlei hatte Fritz Bärtig vor ihm voraus , zweierlei , das neidlos einem anderen zuzugestehen - und wäre es der liebste Freund - wohl das Schwerste ist , was dem Manne zugemutet werden kann .
Fritz war begabt auf einem Gebiete , das zu erobern auch er einmal geträumt hatte , Fritz war Dichter ; Lehmfink wußte jetzt , daß er es niemals gewesen sei und niemals werden würde .
Und noch ein anderes Patengeschenk war dem jüngeren Manne von einer generösen Fee mitgegeben worden : das Glück bei Frauen .
Nicht ohne Bitterkeit fragte sich Heinrich Lehmfink manchmal , wenn er Alma und Fritz zusammensah , was dieser Mensch eigentlich vor ihm voraushabe , geliebt zu werden , wie er geliebt wurde .
Lehmfink erblickte im Weibe die Krone des Lebens .
Er hatte sich im Innersten keusch erhalten ; darum war ihm ein ungetrübter Blick für die Weiblichkeit bewahrt geblieben .
Man hätte von ihm sagen können , daß er das Weib kenne , weil er die Weiber nicht kannte .
Für Lehmfink war Alma ein echtes Weib , gemacht , den Mann zu beglücken , also das Köstlichste , was die Natur hervorbringt .
Und er sah mit geheimem Unwillen , daß Fritz Bärtig diesen Diamantstein nicht nach seinem wahren Werte schätzte und behandelte .
Was bedeutete es in Lehmfinks Augen , daß Alma von niederer Herkunft war !
Sagte ihm doch seine Menschenkenntnis , daß dieses ungebildete Geschöpf das Herz auf dem rechten Fleck habe , und daß in ihrem Wesen die mütterliche Güte des echten Weibes schlummere .
Daß Fritz in wilder Ehe lebte mit dem Mädchen , fand Lehmfink weniger bedenklich , als die Tatsache , daß der junge Mensch sich der Verantwortung , der großen Verantwortung , nicht bewußt war , welche mit einem solchen Verhältnis der Mann auf sich nimmt .
Er wollte dem Freunde ja das leicht erworbene Glück gern vergönnen , aber ihm graute manchmal in Fritzens Seele .
Gewiß , es hieß dem Künstler seiner höchsten Gabe berauben , wollte man ihm die Sinnenfreude nehmen .
Phantasie , Empfänglichkeit , Schönheitssinn , trieben ihn zum anderen Geschlecht ; aber dieselben Eigenschaften machten ihm auch das Geschlechtsleben zur furchtbaren Gefahr .
Es war das heikle Dilemma im Leben des Schaffenden :
er braucht das Weib wie das tägliche Brot .
Seele und Leib schreien nach Ergänzung im anderen Geschlecht .
Und doch mußte ein Verhältnis , das in der Sinnlichkeit allein seine Nahrung fand , mit der Zeit der Versumpfung anheimfallen .
Es war Heinrich Lehmfinks innerste Überzeugung , daß ein Künstler , der hier Raubbau treibt , früher oder später an seinem Schaffen schweren Schaden leiden muß .
Denn obgleich er sich selbst nicht für einen Künstler hielt , wußte Heinrich Lehmfink doch , daß Liebe und Kunst aus der nämlichen Quelle stammen , daß Schöpfergabe nur verdichtete Kraft ist des Liebens .
Zweites Buch Fritzens Roman wuchs inzwischen zu einem Umfange heran , der den Autor selbst in Erstaunen setzte .
Jeder Einfall lockte neue Einfälle herbei , so daß es war , als habe er - wie er in der Jugend manchmal getan - zur Sommerszeit bei Nacht das Fenster geöffnet , und nun kamen die Motten und Schmetterlinge scharenweise herbei , vom Strahle der Kerze angelockt .
Jede Gestalt seiner Phantasie hatte noch einen Schweife von Kindern und Kindlein hinter sich , wie auf alten Bildnissen die Fürstinnen-Mütter .
Er fand es schwierig , dem Gedränge zu wehren derer , die schon da waren und derer , die Einlaß begehrend , von ihm aufgenommen sein wollten in sein Buch .
Sein Geist brütete in einem fort über diesem Werke , selbst wenn er nicht daran arbeitete .
Bei Tag und bei Nacht , beim Essen , beim Ausgehen , überall war er bei seiner Arbeit ; wie ein Vogel , der ein Nest hat , keine wichtigere Sorge kennt , als Futter herbeizuschleppen für seine Jungen .
Manchmal fuhr er aus dem Schlafe auf mit einer funkelnagelneuen Idee , die ihm im Traume irgendwoher aus der Dunkelheit des Unbewußten gekommen war .
Dann lag er stundenlang wach und sann das Erfundene zu Ende , fiebernd vor Erfinderglück , aber im stillen auch wieder qualvoll beunruhigt und bangend , wie sich das Neue einfügen würde in das schon Stehende .
Oder er sah eine menschliche Physiognomie , die ihn frappierte , wurde Zeuge eines scheinbar bedeutungslosen Vorgangs , las etwas ganz Indifferentes in der Zeitung , hörte ein Wort , das vielleicht gar_nicht für ihn berechnet war , und sofort wurde ihm ein solch harmloses Erlebnis zum Schlüssel für eine Schatzkammer voll goldener Dinge , deren Fülle ihn beängstigte .
Wo anfangen , wo enden , wenn er diese Reichtümer einheimsen wollte in seine Scheuern .
Jedes Kunstwerk hatte doch seine natürlichen Grenzen ; man mußte sich irgendwie beschränken auf das Mögliche .
Da hieß es denn streichen , kürzen , ändern , nachträglich herausnehmen und wieder einfügen , umstellen , stützen , motivieren .
Er kam sich oft vor wie einer , der in ein Riesenfaß keltern soll , und jemehr Trauben er sammelt und auspreßt , desto größer und größer wächst das Gefäß , so daß er verzweifeln muß , es jemals gefüllt zu sehen .
Der Verleger Weißbleicher drängte , er wollte das Manuskript haben .
Der Termin , zu dem der Roman ursprünglich fertig sein sollte , war längst überschritten .
Für den Weihnachtsmarkt konnte das Buch schon gar_nicht mehr in Frage kommen .
Weißbleicher war sehr ungehalten .
Er hielt Bertings Behauptung , daß ihm der Stoff unter den Händen gewachsen sei , für eine Bemäntelung von Schreibfaulheit .
Hatte es irgend welchen Sinn , an einem Roman so lange zu tüfteln und zu feilen !
Das Publikum wollte ja gar_nichts künstlerisch Vollendetes .
Etwas Neues , Überraschendes , Verblüffendes war die Hauptsache .
Auf die Feinarbeit im Einzelnen zu achten , hatte der heutige Leser nicht mehr die Geduld .
Darum erschien es Zeit- und Kraftverschwendung , wenn ein Autor lange an seinem Werke herumbosselte .
Haushälterisch sein mit den Mitteln , war ein wichtiges Handwerksgeheimnis .
Ein Gedanke genügt für ein Buch ; kam einem beim Schreiben ein neuer , so notierte man sich den für das nächste .
Auf diese Weise konnte man im Jahre ganz gut seine zwei , drei , ja vielleicht sogar vier Romane schreiben .
So wurde man populär , bekam einen Namen .
Mühelos ging das , man mußte nur fleißig sein .
Ökonomie vor allem !
Die Reklame besorgte der Verleger .
Dann verdiente man spielend einen Haufen Geld .
Das die Geschäftsprinzipien , welche der Verleger dem jungen Autor , als unbedingt zum Erfolge führend , anempfahl .
Fritz Bärtig hätte über die Ratschläge des emsigen Banausen lachend zur Tagesordnung übergehen können , wenn nicht gerade jetzt die Frage des Geldverdienens abermals brennend für ihn geworden wäre .
Rechnungen von Kaufleuten und Handwerkern liefen ein , die bezahlt sein wollten , und in der Ferne drohte schon wieder der Quartalsschluß mit der fälligen Miete .
Der Wunsch , durch seine Kunst etwas zu verdienen , wurde Fritz sehr nahe gelegt .
Wenn es nur nicht so schrecklich gewesen wäre , ums Geld zu schreiben .
Der Gedanke an den Preis lähmte , statt anzuspornen , er tötete die Fähigkeit des Hervorbringens in ihrem Urquell , der Freiheit .
Es schien wie eine Sklavenpeitsche , die über einem geschwungen wurde von unsichtbarer Hand .
Schlimmer aber zu ertragen war das , was in einem selbst bohrte und nagte : der künstlerische Ehrgeiz .
Er sehnte sich nach Anerkennung , hatte Hunger nach der süßen Speise des Erfolges .
Was war ein Künstler ohne die Resonanz der Menge !
Was bedeutete der Dichter ohne das Podium der Öffentlichkeit , von dessen Höhe allein er weithin gehört werden konnte !
Und wenn er sich nun seine künstlerische Laufbahn ansah , war sie nicht ein großer Mißerfolg ?
Wer wußte denn etwas von dem Dichter Fritz Bärtig ?
Ein paar Kenner vielleicht , die seine Gedichte gelobt hatten und ihm bestenfalls ein kleines lyrisches Talent zusprachen .
An sein verunglücktes Drama wollte er gar_nicht denken .
Gleichgültigkeit ist schlimmer als Feindschaft und Verfolgung .
Denn in der Feindschaft liegt doch wenigstens Beachtung .
Niederdrückend , vernichtend ist das Gefühl :
man will nichts von dir , du bist überflüssig , du magst sprechen oder schweigen , weinen oder lachen , niemand kümmert sich darum .
Und dazu in den Blättern lesen zu müssen von den Erfolgen anderer !
Was für Leute wurden da als große Dichter gepriesen , was für Erzeugnisse als epochemachende Werke !
Jede Woche entdeckte die berliner Kritik ein neues Genie .
Kaum wurde ein Buch veröffentlicht , ein Stück aufgeführt , so verkündeten die begeisterungsfähigen Propheten der Presse sofort den Anbruch einer neuen Kunstära .
Er kannte die meisten dieser Leute und wie sie mit einander zusammenhingen , wußte , warum der jenen lobte , warum jenes Werk von diesem Kritiker in Grund und Boden verurteilt wurde .
Er sah sie leibhaftig vor sich , die Konventikel , Cliquen , Gesellschaften für gegenseitiges Lob , die das herstellten , was dem Publikum als Kunstkritik vorgesetzt wurde , und was die Menge , wenn sie es gelesen , als ihre eigene Meinung annahm .
Fritz Bärtig sehnte sich nicht nach dem Berliner Hexenkessel zurück .
Er war ja mit versengten Flügeln geflohen aus dieser Hölle , in der so mancher seiner Freunde noch brannte .
Wenn Fritz den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen hatte , dann fühlte er sich manchmal in seine Schulzeit zurückversetzt .
Wie damals war man nun wieder an sein Pensum gebunden .
Freilich jetzt war es ein anderes Arbeiten , ein selbsterwähltes , verantwortungsvolles , klippenreiches .
Stadt der Zensur des Lehrers standen die Selbstkritik , der Zweifel am Gelingen als viel härtere Zuchtmeister im Hintergrunde .
Für den Schüler war die Arbeit Zwang , die freie Zeit Glückseligkeit gewesen .
Heute waren Arbeit und Freiheit gleichmäßig von Sorgen durchsetzt , und von jenen unsichtbaren Ketten gebunden , welche wir uns selbst , ohne es zu wissen und zu wollen , mit den Jahren schmieden .
Das Leben , das Fritz und Alma führten , war jetzt , wo die kalte Jahreszeit angebrochen , noch einförmiger als im Sommer , wo es doch hie und da ein Spaziergang oder ein Ausflug unterbrochen hatte .
Früh kaum erwacht , nachdem man eine Tasse dünnen Kaffees hinuntergestürzt hatte , ging er an den Schreibtisch , sie zu ihrer Nähmaschine .
Bis zum Mittag wurde ohne Unterbrechung gearbeitet .
Dann eine halbkalte Mahlzeit , die man aus einer nahen Speisewirtschaft holen ließ .
Darauf ging Fritz aus , um sich mit Lehmfink im Café zu treffen .
Dann wieder ein paar Stunden Arbeit ; wenn Fritz es nicht vorzog , auf dem Sofa liegend eine Zigarette an der anderen anzuzünden , über sein Buch nachzudenken oder auch Grillen zu fangen , je nachdem seine Laune war .
Des Abends in ein feineres Lokal der inneren Stadt zu gehen , wie man es früher wohl getan , verboten die Kassenverhältnisse .
Man blieb lieber in der wohlfeilen Gegend , in der man gekannt war , und wo man , wenn das Geld einmal ganz ausgegangen , Kredit erhielt .
Wer ihm das vor einigen Jahren gesagt hätte , daß seines Vaters Sohn einmal dahin kommen würde , Abend für Abend in ein Bierlokal zu gehen , wo als Stammgäste Fabrikarbeiter , Handwerksgesellen , Ladenjünglinge verkehrten , eine Gesellschaft , in der der Unteroffizier als Standesperson hervorragte !
Anfangs hatte ihn das Unästhetische dieser Atmosphäre gestört : der Geruch von Bier und Speisen , der Dunst von Fünfpfennig-Zigarren , der ordinäre Ton , der schmuddelige Anstrich des Ganzen .
Mit der Zeit aber fand er sich wohl oder übel darein .
Manchmal fühlte er sogar ein gewisses , dem Gegensatz zum Gewohnten entspringendes Gefühl des Behagens in dieser Umgebung .
Hier konnte er seine Studien ergänzen .
Dieses Völkchen ahnte nicht , daß ein beobachtendes Auge auf ihm Ruhe ; sie zeigten sich völlig ungeniert in ihren primitiven Bedürfnissen und harmlosen Belustigungen , Liebeleien , Eifersüchteleien , gedankenlos sich schlagend und vertragend , wie es einer ohne Erziehung und ohne Sittenkodex aufgewachsenen Klasse eigen ist .
Den ganzen Abend spielte hier ein soeben aufgestelltes Orchestrion allerhand Gassenhauer , oder auch Partien aus bekannten Opern .
Viele lockte das nach " Stadt Paris " .
Niemand von den Gästen schien dieses monotone Geräusch als Karikatur von Musik zu empfinden .
Und auch Fritz , der doch musikalische Kultur hatte , war bald soweit , daß ihm etwas fehlte , wenn das Instrument wegen Mangels an Gästen einmal nicht in Gang gesetzt wurde .
Fritz und Alma hatten ihren Platz für sich .
Sie sprachen mit niemandem , aber bald waren sie mit den Physignomieen der Stammgäste vertraut und hatten allerhand Eigentümlichkeiten an ihnen entdeckt , die zu beobachten harmlose Belustigung gewährte .
Da war ein Liebespärchen , dessen Verkehr darin bestand , daß er wortlos ein Gericht der Speisekarte nach dem anderen verschlang , während sie stumm dabei saß , und ohne selbst irgend etwas zu genießen , sich mit seligem Lächeln an dem Anblick seines Appetits sättigte .
Ein junger Kommis mit durchgezogenem Scheitel im pomadisierten Haar , der die Anknöpfmanschetten unter den Ärmeln hervorzuziehen pflegte und einen großen Glasdiamanten in der bunten Krawatte trug , kam des Büfettfräuleins wegen und ließ dieser fetten , sehr viel gähnenden Schönheit zuliebe namhafte Summen aufgehen .
Ein älterer Mann im Arbeitskittel war das Ärgernis von Wirt und Kellner , weil er den ganzen Abend über nur einen Schnitt Bier trank , dazu selbst mitgebrachtes trockenes Brot und Käse verzehrte , dafür aber sämtliche im Lokale ausliegende Zeitungen durchlas .
Alma war groß im Herausfinden solcher Züge .
Sie hatte den offenen Blick des Naturkindes , das alles bemerkenswert findet .
Fritz mußte sich sagen , daß er im Beobachten ein Stümper sei gegen das Mädchen .
Auch die Schlüsse , die sie aus reinen Äußerlichkeiten auf Charakter und Wesen der Menschen zog , überraschten ihn oft durch ihre Richtigkeit .
Ihre Sinne waren unblasiert , und dazu besaß sie jene durchaus weibliche Genialität , zwischen sich und der Umgebung sofort ein Verhältnis herzustellen .
Das Mädchen hatte wahrhaftig nicht viel Spaß vom Leben : den ganzen Tag über Arbeit und Plackerei , des Abends als einzige Zerstreuung stundenlanges Sitzen in einem raucherfüllten Raume .
Aber sie wußte aus der geringsten Blume noch ihren Honig zu saugen .
Wenn sie lachend ihre schönen Zähne zeigte , konnte man nicht gut griesgrämig sein .
Es lag etwas Ansteckendes in der Anspruchslosigkeit dieses sonnigen Temperaments .
Fritz nannte sie eine " kleine Lebenskünstlerin " , weil sie es so meisterhaft verstehe , sich den Verhältnissen anzupassen und den Augenblick auszukosten .
Alma und Fritz hatten sich , nachdem sie eine Zeit lang in » Stadt Paris « verkehrt , so sehr an das dort aus- und eingehende Publikum gewöhnt , daß ihnen jeder neue Gast sofort auffiel .
Und auch sie waren dort bekannte Persönlichkeiten geworden .
Daß Alma häufig bewundernd angestarrt wurde , war für Fritz nichts Neues .
Solche von Neid nicht immer freien Blicke erhöhten das Glücksgefühl sicheren Besitzes .
Nur eines Abends fand er das Benehmen eines Gastes doch etwas dreist .
Ein junger Mann , der erst an einem entfernteren Tische gesessen hatte , von wo aus er Alma unausgesetzt fixiert , erhob sich , als in ihrer Nähe ein Platz frei wurde , und ließ sich dort nieder , in der kaum mißzuverstehenden Absicht , dem Gegenstande seines Interesses näher zu sein .
Er war seiner Kleidung nach zu schließen ein Mann des besseren Arbeiterstandes .
Fritz fiel das hastig scheue Wesen des langaufgeschossenen , schmalbrüstigen Gesellen auf , der auch auf seinem neuen Platze keine rechte Ruhe fand .
Sobald man ihn ansah , blickte er in eine andere Richtung , wie auf Unrecht ertappt .
Dann wieder hob er sein dunkles , tiefliegendes Auge und ließ es glühend auf Alma haften .
Hatte man es mit einem Kranken zu tun ?
Der Mensch zeigte jene bläulich-weiße Gesichtsfarbe eines , der kürzlich aus einer Anstalt entlassen .
Das Benehmen des Burschen erregte die Aufmerksamkeit auch der anderen Gäste .
Alma hatte ähnliche Aufdringlichkeiten sonst mit Gleichmut hingenommen ; heute zeigte sie sich peinlich berührt .
Röte des Unwillens war ihr ins Gesicht gestiegen .
Fritz wollte dem Wirt ein Zeichen geben , den lästigen Gesellen zu entfernen , aber das Mädchen bat inständig , er möge doch keinen Aufstand erregen ; man wolle lieber gehen .
An keinem der nächsten Abende sah man den sonderbaren Heiligen wieder , und Fritz verlor den kleinen Zwischenfall schnell aus dem Gedächtnis . * * * Der Dichter Karol , alias Siegfried Silber , kam eines Tages zu Fritz .
Er brachte ein Paket , das er vorläufig noch in seinem Umschlage ließ .
Trotzdem er offenbar bemüht war , indifferent zu erscheinen , konnten die unruhig funkelnden Augen des kleinen Mannes das Interesse nicht gänzlich verleugnen , das er hier an allem nahm .
Fritz Bärtig war froh , Alma sicher hinter ihrer Nähmaschine jenseits des Korridors zu wissen ; ihm lag gar nichts daran , jenen eingeweiht zu sehen in seine häuslichen Verhältnisse .
Er bot dem Kollegen einen Stuhl an .
Silber behauptete zwar , es eilig zu haben und um keinen Preis stören zu wollen , er wisse aus eigener Erfahrung , wie peinigend es sei , aus der künstlerischen Stimmung gerissen zu werden , aber schließlich nahm er den Stuhl doch an und blieb sogar ziemlich lange darauf sitzen .
Er freue sich so sehr , Herrn Bärtig einmal allein sprechen zu können , sagte er .
Fritz wußte ganz gut , warum jener das " allein " so stark betonte .
Mehr als einmal nämlich war man sich in dem Café begegnet , wo Fritz Bärtig und Doktor Lehmfink einander zu treffen pflegten .
Einmal hatte sich Silber unaufgefordert an den Tisch der beiden gesetzt , aber es wurde ihm zu verstehen gegeben durch kurz angebundene Antworten und frühen Aufbruch , daß man auf seine Gesellschaft keinen Wert lege .
Fritz hatte die Behandlung , die man dem kleinen Manne damals angedeihen ließ , eigentlich ungerechtfertigt hart gefunden .
Lehmfink trug Schuld daran , dem , wie er selbst gestand , dieser Kollege im höchsten Grade widerwärtig war .
" Der kleine Siegfried Silber ist eine Reporternatur , " hatte Heinrich Lehmfink erklärt .
" Du brauchst nur seine Augen anzusehen , Bärtig !
Ohne das Taschenbuch zu ziehen , macht er sich beständig Notizen .
Zufällige Bemerkungen anderer bügelt er frisch auf , und bringt sie als eigenes Patent in den Handel .
Wenn du dich heute mit dem Menschen über ein literarisches Thema unterhältst , so kannst du es erleben , wie es mir ergangen ist , nach einiger Zeit einen schlechten Aufguß deiner Ideen in irgend einem Feuilleton wiederzufinden .
Er hat ja seine Laufbahn im Kleidermagazin des Vaters begonnen ; seine literarischen Gewohnheiten erinnern daran .
Er hätte besser getan , beim Trödlergewerbe zu bleiben ; in der Literatur kann er nur Schaden stiften .
Mit seinen emsigen Fingern versucht er sich an allem , am Größten wie am Kleinsten .
Nichts gibt es , wozu er nicht den Beruf in sich fühlte .
Er wird nie um Einfälle verlegen sein .
Ich will ihm nicht Fleiß absprechen und geistige Beweglichkeit , auch ein gewisses Geschick zum Kombinieren ist ihm eigen , ein ganz nettes Jongleurtalent , aber er soll mir den ersten originellen Gedanken nachweisen , der von ihm selbst stammt .
Dagegen hat er die feinste Witterung für das , was zeitgemäß ist und was Erfolg verspricht . "
Hier hatte Fritz dem Freunde widersprochen .
Nach Erfolg streben sei schließlich nichts Unrechtes , in seiner Weise tue es jeder .
Silber aber , dem obskuren Feuilletonisten oppositioneller Organe , die unter dem Sozialistengesetze in steter Gefahr schwebten , kassiert zu werden , könne man nicht gut den Vorwurf machen , daß er Opportunist sei .
Lehmfink hatte gelächelt und erwidert :
" Es ist richtig , mit den regierenden Gewalten kokettiert Siegfried Silber nicht ; vielmehr drapiert er sich mit dem roten Mantel .
Wie lange , wird sich zeigen !
Vielleicht tue ich ihm Unrecht ; aber ich müßte mich sehr täuschen , er kommt sich als Revolutionär bedeutend und höchst interessant vor .
Auch darin schlägt bei ihm die Rasse durch , in diesem Agieren einer freiheitlichen Rolle .
Wenn es ihm gar gelänge , eine Märtyrerkrone sich zu erwerben , so wette ich , würde er sie in Gold umzumünzen verstehen . "
Fritz Bärtig mußte an diese Worte denken , als Siegfried Silber jetzt vor ihm saß , in gesucht devoter Haltung .
Ein Mensch , dessen letzte Motive schwer zu ergründen waren .
Er kam vom Hundertsten ins Tausendste ; erzählte von seinen literarischen Absichten , seinen volkserzieherischen Plänen , sprach von dem Arbeiterbildungsverein , dessen " geistiger Mittelpunkt " er sei .
Dazwischen immer Fragen nach der Ansicht des anderen und dann jener lauernde Blick , mit dem er die Antwort gewissermaßen einsaugen zu wollen schien .
Lehmfink hatte vielleicht doch nicht so ganz Unrecht , obgleich bei dem Urteil über einen Siegfried Silber sein Antisemitismus mit in Betracht zu ziehen war .
Schließlich merkte Silber doch , daß er lange genug geblieben sei .
Er sprang auf , bat um Entschuldigung .
Es sei ein wahrer Hochgenuß , sich " mit einem Ebenbürtigen " zu unterhalten ; ein Glück , das ihm so gut wie niemals blühe .
- Dann schnürte er das Paket auf , welches er die ganze Zeit über in den mageren , unruhigen Fingern gehalten hatte , und legte ein Manuskript auf den Tisch .
Dies sei sein Roman : " Im Getto " .
Es liege ihm außerordentlich viel daran , Herrn Bertings Ansicht darüber zu hören .
Er lasse das Manuskript hier und sehe mit Spannung dem Urteil entgegen .
Fritz Bärtig war nicht gerade entzückt von der Aussicht , sich durch den umfangreichen Stoß eng beschriebenen Papiers durcharbeiten zu müssen .
Er ließ das Manuskript über eine Woche lang unberührt liegen , bis er eines Tages , als die eigene Arbeit durchaus nicht in Fluß kommen wollte , nach dem " Getto " griff , erst darin herumblätternd hie und da zur Stichprobe ein paar Zeilen lesend .
Dabei wurde sein Interesse rege .
Er begann von vorn und legte erst spät abends das dicke Manuskript weg , bis zur letzten Zeile durchgelesen .
Der Roman schilderte die Schicksale eines modernen Juden , der sich vom kleinen , ärmlichen Boche emporgearbeitet hat , aus eigener Kraft zum reichen , einflußreichen Manne .
Trotz seines Erfolges ist das Geschick des Helden ein tragisches .
Die Welt beugt sich vor seiner Überlegenheit , man fürchtet ihn , aber liebt ihn nicht , und gerade Liebe ist es , was er sucht .
Geheime Neigung treibt ihn zu dem Volke , in dessen Mitte er lebt .
Er will nicht ein Fremder bleiben , er will angesehen sein von ihnen als ihresgleichen .
Aber überall stößt er auf Verkennung , Widerwillen , Haß , Verachtung .
Ein junges Mädchen aus christlicher Familie , um dessen Hand er wirbt , weist ihn ab .
Ein Freund , in dessen Adern blaues , arisches Blut fließt , den er vom Bankrott gerettet , verleugnet ihn schnöde .
Er erstrebt ein Ehrenamt in seiner Heimatgemeinde , um die er große Verdienste hat , muß aber erfahren , daß man sein Geld zwar gern annimmt , die Ehren des Vollbürgers ihm zuzuerkennen jedoch nicht gesonnen ist .
Überall die Schranken des Gettos , die noch lange nicht beseitigt sind in unseren Tagen , und die um so drückender und erniedrigender wirken , weil sie nicht mehr als eine weithin sichtbare Mauer , sondern mehr wie eine gläserne Wand Mensch von Menschen , Rasse von Rasse scheiden .
Das Buch schließt damit , daß der Held das zu sein sich vornimmt , wozu ihn die christliche Gesellschaft gemacht hat :
ein kalter , gefühlloser Feind und Schädling , ein Vampir am fremden Blute , kurz , ein Jude , wie er vom Antisemitismus als typisch für das ganze Volk hingestellt wird .
Offenbar hatte Silber viel Selbsterlebtes in das Buch verarbeitet .
Darüber verzieh man Übertreibungen und Ungerechtigkeiten .
Fritz hatte öfters lächeln müssen über die Verzeichnungen , die dem Autor vor allem dort begegnet waren , wo er das Leben der guten Gesellschaft hatte darstellen wollen .
Silber kannte die höheren Stände jedenfalls nur vom Hörensagen .
Das vornehme Milieu war aus der Froschperspektive gesehen und mit der Feder des Pamphletisten geschildert .
Echt wirkte er nur da , wo er die Geistesverfassung des Helden schilderte , die Zerrissenheit seiner Seele , das Schwanken zwischen Haß und Zuneigung gegenüber dem Germanentum , die Liebe zum eigenem Volke als ganzem , aber auch die instinktive Abneigung gegen den einzelnen Semiten , der durch Erscheinung und Wesen den Volksgenossen an die verhaßten Sklavenketten erinnerte , die man trug .
Die tiefe Zwiespältigkeit im jüdischen Charakter war hier von einem geschildert , der sie im eigenen Gemüt erlebt hatte .
Nimmermehr hätte man Silber eine solche Leistung zugetraut .
Dies hier war wohl einer von jenen glücklichen Griffen , die dem Künstler nur selten vergönnt sind und immer nur dann , wenn der Geist voll ist von unverarbeiteten Eindrücken , die sich mit Naturkraft in einem Bekenntnisse entladen .
Daher die Übertreibungen und Unwahrscheinlichkeiten , aber auch die Unmittelbarkeit und die Kühnheit des Buches .
Das war wirklich mit Herzblut geschrieben , mochte Lehmfink den kleinen Silber zehnmal einen Plagiator nennen , hier hatte er etwas wiedergegeben , was ihm vom Geschick mit brennenden Lettern auf die Haut geschrieben worden war .
Fritz entsann sich noch deutlich der nervösen Geste , mit der Weißbleicher damals Karol aufgefordert hatte , sein Manuskript abzuholen .
Jetzt , wo er es gelesen , konnte sich Fritz schon denken , warum gerade dieses Buch peinlich auf Weißbleicher und seine Art wirken mußte .
Weil es ein Bekenntnis geheimer Leiden war , weil einer da aus der Schule schwatzte über Dinge , welche alle Eingeweihten kannten , die öffentlich ausgesprochen zu sehen aber doch genierte .
Daher des klugen Verlegers mißbilligendes Urteil :
" Das Publikum will nun Mal solch unsympathische Stoffe nicht . "
Fritz Bärtig brachte das Manuskript dem Dichter persönlich zurück .
Siegfried Silber bewohnte ein winziges Zimmer im vierten Stockmerk einer Mietskaserne .
Die Luft war schlecht , und der Raum machte nicht gerade einen sauberen Eindruck .
Fritz fand , daß seine eigene Wohnung , die ihm bisher ärmlich genug vorgekommen war , gegen dieses traurige Gelaß gehalten , elegant und komfortabel sei .
Dem Bett konnte man nur den einen Vorzug nachrühmen , daß es wenig Platz wegnehme .
Ein schmaler Tisch , der noch dazu wackelig war , mußte als Waschtisch und zugleich als Schreibsekretär dienen .
Kleider und Wäsche lagen in einer offenen Holzkiste .
Ein eisernes Öfchen war zwar da , aber Silber entschuldigte die Kälte im Zimmer damit , daß er nicht zu heizen wage , da der sogenannte Ofen an Stelle von Wärme unerträglichen Rauch verbreite .
Der kleine Mann trug über dem Nachthemd von fraglicher Sauberkeit den Winterüberzieher .
Er hatte geschrieben .
Auf dem wackeligen Tisch lagen die Manuskriptbogen , daneben stand die Theemaschine ; außerdem machten Tintenfaß , Haarbürste , einige Hemdkragen , Butterbüchse und ein angeschnittenes Brot sich den Platz auf der Tischplatte streitig .
Das einzige prächtige , was es in dem ganzen Räume gab , war ein Bücherbrett mit neuem Konversationslexikon , von dem ein Band , wohl eben benutzt , bei dem Manuskript lag .
Fritz hatte schon manche Bohemien-Wohnung gesehen ; er wunderte sich daher nicht allzusehr über das , was er hier fand .
Er legte sein Paket auf das Bett und setzte sich selbst auf den einzigen vorhandenen Stuhl .
Der Dichter des " Getto " aber war über den Besuch so in Ekstase , daß er es auf dem Bett nicht lange aushielt .
Wie er es fertig brachte , sich in dem engen Raume zu bewegen , war ein Rätsel , aber tatsächlich lief er , während Fritz seine Ansicht über den Roman aussprach , hastig auf und ab .
Als Fritz geendet , hielt ihm der Autor mit theatralischer Gebärde die Hand hin zum Einschlagen , und dankte mit Worten überschwänglicher Freude .
Nun sei es ihm ganz gleichgültig , ob sein Roman gedruckt werde oder nicht .
Was könne dem Stolze , der Genugtuung gleichkommen , daß ein " Eigentöner " ihn anerkenne .
Jetzt habe sein Werk die Weihe erhalten , und er scheue sich fast , es nun noch dem profanen Lesepöbel vorzulegen .
Fritz suchte das Gespräch auf anderes Gebiet zu lenken in der Sorge vor weiteren Liebeserklärungen .
Aber der geschmeichelte Autor ließ ein Thema , das ihm so gut mundete , nicht ohne weiteres fahren .
Immer und immer wieder fragte er : welche Partien des Buches Fritz am besten gefallen hätten , was er von der und der Stelle , von diesem und jenem Charakter halte .
Mit einer Gier , die der Komik nicht entbehrte , stürzte er sich auf jeden Brocken der Anerkennung , der ihm dargereicht wurde .
Ein Paar Tage darauf erhielt Fritz einen Brief von Siegfried Silber , in welchem dieser ihn einlud , einem Vortrage beizuwohnen , den er im Arbeiterbildungsvereine über Heinrich Heine halten wolle .
Fritz war sofort entschlossen , die Einladung abzulehnen .
Einmal wollte er den allzu beifallssüchtigen Kollegen um keinen Preis in seiner Eitelkeit bestärken , und dann behagte ihm auch das Milieu nicht , in dem der Vortrag stattfinden sollte .
Er hegte für den Verfasser des Buches der Lieder , den er in einer gewissen Periode seines Lebens vergöttert hatte , soviel Dankbarkeit und Liebe , daß er ihn nicht gern profanisiert sehen mochte .
In Berlin war er mit jenen Bestrebungen flüchtig in Berührung gekommen , welche die Devise :
" Die Kunst dem Volke " auf ihr Panier geschrieben haben .
Er hatte sich nicht davon überzeugen können , daß hierbei etwas Heilsames herauskomme .
Als Mittel zum Zweck war ihm die Kunst zu schade , sie hatte höhere Aufgaben zu erfüllen , als Schulmeisterin der Massen zu sein .
Wohl konnte man die Poesie herabdrücken von ihrem erhabenen Sockel , aber nimmermehr den Proletarier zu ihr emporziehen .
Denn aller wirklich reine Kunstgenuß setzte ästhetische Kultur voraus , und die war von Menschen nicht zu verlangen , deren Tag im Kampf um das Brot aufging .
Er schrieb etwas Ähnliches an Silber und dankte ihm für seine freundliche Einladung , von der er jedoch keinen Gebrauch machen könne .
Während dieser Briefwechsel geführt wurde , sah Fritz den Dichter Karol täglich von weitem im Café .
Man grüßte sich , aber an den Tisch von Bärtig und Lehmfink wagte er sich doch nicht ein zweites Mal heran , obgleich sein spähender Blick oft genug voll schlecht verhehltem Interesse da hinüber wanderte , wo die beiden saßen .
Eines Tages jedoch , als Lehmfink , abgehalten durch irgend einen Zufall , dem Café ferngeblieben war , kam Silber zu Fritz heran und fragte gesucht bescheiden , ob er sich heute ausnahmsweise an den Tisch setzen dürfe .
Diese Bitte konnte nicht gut abgeschlagen werden .
Es war der Tag , an dem abends der Vortrag im Arbeiterbildungsvereine stattfinden sollte .
Silber bestürmte Fritz zu kommen .
Ganz gut könne er zwar die Auffassung verstehen , wonach die Kunst Kaviar ist fürs Volk ; ja , bis zu einem gewissen Grade Teile er sie .
Denn auch er sei Künstler , habe empfindliche Nerven , und der Gedanke , die Poesie zu erniedrigen , erscheine ihm , als solle eine geliebte Person vor seinen Augen geschändet werden .
Aber eins bitte er doch zu bedenken :
es handle sich hier um eine " Menschheitsangelegenheit " .
Die soziale Frage sei nicht so sehr eine Magenfrage , als das unwiderstehliche Drängen der unteren Schichten empor zum Licht .
Der Anteil an den Glücksgütern der Welt sei den Proletariern versagt , solle ihm auch noch der Weg versperrt bleiben , der zu Schönheit führe , zur Freiheit im Geist ? -
Wenn die oberen Zehntausend dem Sehnen des Volkes nach Erlösung von jahrtausende altem Druck in frivoler Weise mit dem Sozialistengesetze geantwortet hätten , so sei es officium nobile der Intellektuellen , sich der Mißhandelten anzunehmen .
Das Höchste müsse man ihnen reichen : die Kunst .
Und wenn diese Ärmsten zunächst auch noch unfähig erscheinen sollten , die köstliche Gabe ganz zu erkennen , ihr feinstes Aroma zu genießen , so sei der Wein darum doch nicht verschüttet .
Wenn ihnen nur eine Ahnung davon aufgehe , daß es über dem Kampf ums Dasein noch ein höheres Reich gäbe ästhetischer Begeisterung , so wäre schon viel gewonnen .
Den geistig Armen ein Fenster zu öffnen nach dieser Richtung hin , das sei die Aufgabe , die er sich gestellt habe , und er glaube nicht ganz unbegabt für solche Mission zu sein .
Doch liege ihm unendlich viel daran , von einer hochgebildeten Persönlichkeit zu erfahren , ob seine Methode die richtige sei .
Kurz , es würde ihm zur höchsten Genugtuung gereichen , wenn er von Bärtig , der ihm schon über seinen Roman das wertvollste Urteil gegeben , nun auch über diese Seite seiner Tätigkeit etwas Maßgebendes zu hören bekäme . -
Der kleine Mann besaß eine Art aufdringlicher Beredsamkeit , der man sich schwer zu entziehen vermochte .
Fritz Bärtig lächelte über die Geschicklichkeit dieses Menschen und über die eigene Schwäche .
Sich so einfangen zu lassen ! -
Aber er sagte schließlich zu , schon um der Unbequemlichkeit zu entgehen , gegen den zungengewandten Silber die Gründe seines Fernbleibens noch weiterhin verteidigen zu müssen .
Er begab sich in der neunten Abendstunde nach dem Restaurant , welches ihm als Versammlungslokal des Arbeiterbildungsvereins bezeichnet worden war , ohne sich allzuviel Genuß von dem Abend zu versprechen .
In einem kleinen Saale , in dessen Mitte ein langer Tisch aufgestellt war , fand er etwa drei Dutzend Männer versammelt .
Man sah ihnen die Arbeiter durchaus nicht auf den ersten Blick an .
Nichts war da von groben Manieren , von überlauten Stimmen , nichts vom Schweiß und Staub der Arbeit zu merken , ohne die mancher Gebildete sich den Proletarier nun einmal nicht denken kann .
Im Gegenteil !
In ihrem ganzen Wesen und Auftreten hoben sie sich vorteilhaft ab von dem formlosen Sich-gehen-lassen des Mittelstandsphilisters .
Man hatte es mit Leuten zu tun , die das , was sie sich an Bildung mühsam genug erworben hatten , mit doppelter Sorgfalt wahrten .
In der Art , wie sie ihre korrekten Perioden bauten , wie sie jedes Wort mit peinlicher Genauigkeit aussprachen , verriet sich geheime Sorge vor Sprachfehlern , die sie hätten zu Ungebildeten stempeln können .
Siegfried Silber saß am unteren Ende der langen Tafel .
Nachdem der Präsident des Vereins ein paar kurze Worte der Begrüßung gesprochen , erhob sich der Vortragende und begann seine Rede .
Er sprach glatt und gewandt , in jenem leichtfließenden , unbefangenen Tone , der von vornherein dem Hörer das angenehme Gefühl der Sicherheit gibt und den Eindruck hervorruft , als schüttle der Redner alles aus dem Ärmel .
Im Fluge ließ er zur Einleitung ein paar Jahrhunderte Literaturgeschichte an den Ohren der erstaunten Hörer vorüberrauschen , nannte einige große Namen : Lessing , Goethe , Herder - die Bekanntschaft mit ihren Werken setzte er als selbstverständlich voraus .
Hier und da streifte er auch Geschichte , Wissenschaft und Philosophie .
Das alles im Handumdrehen , als operiere er mit einer Laterna magica , die einzelne grelle Bilder auf die Wand wirft , um sie ebenso schnell wieder verschwinden zu lassen .
Die Hörer folgten dem Abbrennen dieses dialektischen Feuerwerks voll Interesse .
Einzelne machten sich Notizen .
Die meisten hingen wie gebannt an den beredten Lippen des jugendlichen Vortragenden . Hin und wieder entfesselte eine besonders gepfefferte Bemerkung Gelächter oder Beifallsstürme .
Bei diesem Publikum fiel nichts unter den Tisch .
Fritz Bärtig , dem der Vortrag nicht allzuviel Neues bieten konnte , hatte Zeit , sich die Physiognomien der Hörer zu betrachten .
Es waren intelligente Gesichter darunter .
Man hatte es offenbar mit einer geistigen Elite zu tun .
Mehr aber noch als Intelligenz zierte sie der Ausdruck des Willens , der Aufmerksamkeit , des Ganz- bei- der-Sache-seins .
Da sah man keine blasierte , gelangweilte Miene der Übersättigung und auch nicht die stumpfe Gleichgültigkeit derer , die niemals Appetit empfinden .
Diese Männer fühlten gesunden Hunger , Neugier im besten Sinne .
Sie wollten sich bereichern , etwas davontragen ; nicht umsonst wollten sie ihre Feiertagskleider angelegt haben .
Siegfried Silber war ihr Mann .
Er würzte den Vortrag mit Anekdoten , Vergleichen , Pointen , verstand es , das literarische Thema dem Laien mundgerecht zu machen .
Gelegentlich ein Zitat , ein Vers , ein Stück Heinescher Prosa .
Fritz mußte im geheimen lächeln über die geschickte Art , wie der Redner den Stoff für seine Hörerschaft zurechtgestutzt hatte .
Der Heinrich Heine , den er schilderte , war mehr der Dichter des " Wintermärchens " und des " Atta Troll " als der des " Liederbuches " und der " Neuen Gedichte " .
Silber zeigte den Märtyrer Heine , der um seiner vorgeschrittenen Ideen Willen verfolgt wurde vom Haß der Fürsten , Pfaffen und Bourgeois , und im Exil endete .
Ein Schicksal , verständlich und ergreifend gerade für diese Hörer .
Die Vergleiche , die er zwischen der vormärzlichen Reaktion und dem Drucke zog , der neuerdings wieder auf Deutschland laste , schlugen ein , machten die Strafe gespannten Saiten politischer Erregung vibrieren , in der sich eine Menschenklasse befand , über welcher das Ausnahmegesetz aufgerichtet war .
Er stempelte Heinrich Heine zum Volkshelden , zum großen politischen Kopf , zum Vorläufer der modernsten Freiheitsideen .
Was wohl Lehmfink sagen würde , hätte er diesen Vortrag mit angehört , fragte sich Bärtig wiederholt .
Heinrich Heine zur größten Erscheinung gemacht des geistigen Lebens in Deutschland seit Goethes Tode ! -
Aber man hatte nicht den Eindruck , als ob jener bewußt fälsche , oder auch nur übertreibe .
Siegfried Silber glaubte an Heines Größe .
Für ihn war das , was an dieser in tausend Farben schillernden Persönlichkeit dem Germanen Lehmfink fragwürdig , verdächtig und abstoßend erschien , echt , natürlich und vertraut .
Weil selbst in Fragen des Geschmackes das Blut doch schließlich den Ausschlag gibt .
Der kleine Siegfried Silber fühlte sich dem Landsmanne verwandt .
Für ihn war Heinrich Heine der klassische Interpret seiner eigenen tiefsten Gefühle und Schmerzen .
Fritz war es noch nie so stark aufgefallen , wie durch und durch semitisch Silber eigentlich sei , als heute abend , da er ihn vor dieser Versammlung von deutschen Arbeitern sprechen hörte .
Eine fremdartige Erscheinung : scharfe , markante Züge , das Haupthaar schwarz glänzend , wie das Gefieder eines Raben ; durch den dünnen , an der Spitze geteilten Bart die gelbliche Haut hindurchschimmernd .
Rote , volle Lippen .
Das Weiß der Augen mit der dunklen Pupille doppelt glänzend in der Umrahmung dichter , schwarzer Wimpern ; oft blitzte dieses Auge wie ein Dolch , wenn sich das schwere Lid plötzlich hob .
Dazu die Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit der Züge , das Drastische der Gesten , der schlaffe Körper mit den mageren Gliedern , unschöne , nervös zappelnde Hände .
Viel Theaterpose , wenig Würde , das ganze Wesen an der Oberfläche liegend , aber darum umso kecker , lebhafter und intensiver .
Und dagegen seine Hörer , diese großköpfigen Arbeiter mit den schweren , ausgearbeiteten Gliedmaßen ; die Stirnen sorgenvoll , nachdenklich , der Blick gutmütig , träumerisch , das Wesen ernst , zurückhaltend , verinnerlicht und schwerfällig .
Fritz bedauerte in diesem Augenblicke lebhaft , kein Zeichner zu sein , daß er diesen Gegensatz hätte mit ein paar Strichen festhalten können .
Diese Hörerschaft und diesen Redner !
Das Bild hätte Bände von Rassen-Psychologie sprechen müssen .
Siegfried Silber war die wichtigste Eigenschaft seines Stammes eigentümlich : sich durchzusetzen .
Wenn man bedachte , der ganze Mensch war zweiundzwanzig Jahre alt .
Seine äußere Lage war ursprünglich auch nicht günstiger , seine Bildung nicht besser gewesen als die seines Publikums .
Und hier saßen sie nun , mancher Graukopf unter ihnen , und lauschten andächtig den Worten dieses fremden Jünglings , machten seine Weltanschauung zu der ihrigen , erkannten ihn an als ihren geistigen Führer . * * * Das entstehende Kunstwerk ist für den Künstler was für die Mutter die unter ihrem Herzen heranwachsende Frucht .
Alle Kräfte des Körpers wie der Seele werden nach dem einen Punkte gezogen , wo neues Leben sich entwickelt .
Ein natürlicher Schutztrieb lehnt das Schädliche ab , macht gleichgültig gegen alles , was nicht Bezug hat auf dieses Wichtigste , stößt sogar das sonst Geliebte und Gewohnte von sich .
Fritz Bärtig war in dieser Zeit heißesten Ringens mit dem Stoffe äußerst empfindlich geworden gegen die Vorgänge und Einwirkungen der Außenwelt .
Das geringste Geräusch , ein lautes Wort , ein unangenehmer Geruch im Quartier , ein Mißton von der Straße her , konnten ihn aus dem Konzept bringen .
Eine Frage , die ihn nötigte , seine Gedanken von der Arbeit abzuwenden , war imstande , ihn auf Stunden hinaus unfruchtbar zu machen .
Alma hatte infolge dessen keinen leichten Stand .
Von dem , was sich in ihm abspielte , ahnte sie nichts ; daß Fritz in keinem normalen Zustand sei , sah sie , merkte es täglich und stündlich .
Es verging kaum ein Tag , wo er sie nicht zu Tränen gebracht hätte durch sein schroffes , ungerechtes Wesen .
Sie konnte sich den rätselhaften Zustand nicht anders erklären , als daß er krank sei .
Gern hätte sie geholfen , wie damals in Berlin nach seiner Niederlage .
Sie wollte ihn pflegen , ihm durch ihre Liebe ersetzen , was er verloren , gut machen , was ihm Böses widerfahren war .
So verstärkte sie ihre Zärtlichkeit gegen den Geliebten , und vermehrte dadurch nur seinen Widerwillen gegen das , was auf ihn wie lästige Zudringlichkeit wirkte .
Er wußte jetzt , daß er einen großen Fehler begangen hatte , mit Alma zusammenzuziehen .
Er hatte sich dadurch selbst die Freiheit unterbunden und eine schwere Last aufgebürdet .
Ohne Ehemann zu sein , trug er doch das ganze Joch des Ehestandes .
Was hatte er früher geahnt von den Plackereien , den Ausgaben eines Hausstandes ?
Was hatte er gar von der Verantwortlichkeit gewußt für ein fremdes Wesen ?
Nun war er gebunden .
Die intimen Erlebnisse der Liebe , wenn sie auch nicht die Bedeutung eines geschriebenen Kontraktes hatten , waren doch Ketten , die den Menschen unsichtbar an den Menschen fesselten .
Selbst wenn diese Erlebnisse flüchtig waren wie die Wellen , von denen die eine verdrängt wird durch die andere , so ließen sie sich doch nicht wegwischen aus dem Gefühle und aus dem Gedächtnis .
Von dem Wesen einer Frau , mit der man verkehrte , wie er mit Alma Lux , behielt man etwas im Blute fürs Leben .
Und wenn es auch nur die Gewohnheit gewesen wäre , sie um sich zu haben , ihr Anblick , das Bewußtsein , sie jeden Augenblick herbeirufen zu können .
Dazu all die Dinge , die man von einander wußte , die Geständnisse , die sie ihm gemacht , der unvergeßliche Duft von dem , was sie ihm in der allerersten Zeit ihrer Liebe gewesen , das Opfer ihrer Jungfräulichkeit , ihm gebracht - alles das waren Fesseln !
Er konnte das Mädchen nicht auszahlen für ihre Liebe ; sie war keine Dirne .
Er konnte ihr auch nicht kündigen wie einem Dienstboten , ihr sagen : so , nun ist die Zeit abgelaufen , gehe deiner Wege !
Aber gerade , daß sie ihm so viel war und immer mehr werden mußte , beunruhigte ihn oft aufs äußerste .
Was sollte daraus werden ?
Heiraten ! -
Damit hätte er das , was ihn jetzt schon drückte , zu einer Bürde gemacht fürs ganze Leben .
Er wußte auch , daß Alma das gar nicht von ihm verlangte , nie verlangt hatte und niemals verlangen werde .
Wozu hätte er mehr tun sollen , als von ihm gefordert wurde ?
Sie durch das Band der Ehe zur Treue zu verpflichten , war nicht nötig .
Er traute ihr durchaus ; auf ihre Ehrlichkeit , Reinheit und Treue hätte er Häuser bauen wollen .
Aber es gab in diesem Verhältnisse , dem zur wirklichen Ehe nur die rechtliche Sanktion zu fehlen schien , noch andere Schwierigkeiten .
Fritz merkte es wohl , daß ihm und Alma von den Menschen keine besondere Achtung entgegengebracht wurde .
Da war gleich zu Anfang , als er sich bei der Polizei angemeldet hatte , der Beamte gewesen , der ihn nach den Papieren des " Frauenzimmers " gefragt hatte , dabei etwas von " wilder Ehe " munkelnd .
Der Herr von der Steuerkommission , der einige Wochen später auftrat , um sich nach Fritzens Vermögensverhältnissen zu erkundigen , zeigte sich zwar höflicher , schüttelte aber doch auch bedenklich den Kopf .
Schriftsteller ohne feste Einnahme , und das Fräulein , Konfektioneuse von Beruf , jetzt ohne Anstellung ! - Dieses Paar schien im höchsten Grade verdächtig .
Man sah in ihm ein Individuum , auf welches die Behörde ein Auge zu behalten für angezeigt hielt .
Das war ein deprimierendes Empfinden für einen , der wie Fritz Bärtig bisher , im Bewußtsein guter Abkunft und Erziehung , das Gefühl voller Freiheit und Unabhängigkeit genossen hatte .
Unangenehmer fast noch war die Neugier der kleinen Leute zu ertragen , der Händler , Bediensteten , Handwerker , mit denen man täglich in Berührung kam .
Bei ihnen herrschte weniger Grobheit als zudringliche Respektlosigkeit diesem interessanten Paare gegenüber .
Man lächelte sie verständnisvoll an , wo immer sie auftraten .
Auf der Straße wandten sich die Köpfe , gelegentlich wurde ihnen auch etwas nachgerufen .
Eines Tages bekam Fritz einen Brief zotigen Inhalts mit Karikaturen , die sich auf ihn und Alma bezogen , anonym zugesandt .
Das Pikante der illegalen Verbindung war es , was die Menschen zu einer mit Neid , Neugier und Lüsternheit stark durchsetzten , moralischen Entrüstung reizte .
Fritz litt darunter mehr als Alma .
Er fühlte sich getroffen in seinem gesellschaftlichen Stolze sowohl wie in seinem männlichen Ehrgefühl .
Erlebnisse wie diese zeigten ihm , daß er deklassiert sei , daß er und Alma in einem Zustande der Vogelfreiheit lebten .
Gern hätte er sich und die Geliebte verteidigt .
Aber die Pfeile der Verachtung , die sie beide trafen , wurden von unsichtbaren Schützen abgeschossen .
Er hatte es mit einem unpersönlichen Gegner : der öffentlichen Meinung , zu tun .
Alma empfand in diesen Dingen anders als ihr Geliebter .
In der Klasse , aus der sie stammte , legte man auf persönliche Ehre geringen Wert .
Sie war im Leben genug hin und her geschoben worden , um zu wissen , daß die Menschen überall gehässig , klatschsüchtig und neidisch sind und keinem sein Glück gönnen wollen .
Was bedeutete ihr die öffentliche Meinung ?
Wenn Fritz nur treu zu ihr hielt !
Ihr Stolz war , ihm treu zu sein , ihre Ehre , ihn allein zu lieben , und ihr Glück , sich von ihm geliebt zu wissen .
Das Verhältnis zur Quartierwirtin begann seine Schattenseiten zu zeigen .
Frau Klippel gehörte zu den Personen , die , wenn man ihnen den kleinen Finger reicht , unfehlbar die ganze Hand nehmen .
Fritz bereute jetzt lebhaft , sich mit ihr auf Unterhaltungsfuß gestellt zu haben .
Das Material , das sie ihm für seine Lokalkenntnis geliefert hatte , war teuer bezahlt .
Es konnte keinem Zweifel unterliegen , daß Frau Klippel , ebensogut wie sie Fritz mit der schmutzigen Wäsche des ganzen Stadtquartiers bekannt gemacht hatte , auch über ihn und Alma allerhand Ungeheuerlichkeiten verbreitete .
Vielleicht war vieles von der Mißachtung und Neugier , die sie um sich her lebendig sahen , nur Folge der Klatschsucht ihrer Wirtin .
Fritz fand es äußerst schwierig , sich die redselige Person vom Halse zu halten , nachdem er einmal geduldet , daß sie ihre Neuigkeiten bei ihm ablade .
Er konnte sich manchmal nur durch Verriegeln der Türe vor ihrer Zudringlichkeit schützen .
Schwerer aber noch rächte es sich , daß auch Alma in eine gewisse Vertraulichkeit mit der Quartierwirtin geraten war .
Es hatte sich eingebürgert , daß sie ihre Mahlzeiten mit der Familie Klippel einnahm , so oft Fritz allein auswärts essen ging ; und das war in der letzten Zeit öfters vorgekommen .
Es erschien so bequem , Alma brauchte dann nicht Toilette zu machen zum Ausgehen , und wurde weniger unterbrochen in ihrer Arbeit .
Aber der hinkende Bote kam nach in Gestalt einer Rechnung von Frau Klippel .
Darin stellte die Quartierwirtin für Almas Beköstigung unverschämte Forderungen .
Fritz bezahlte die Rechnung , hielt aber nicht hinter dem Berge mit seiner Ansicht über den Preis .
Das gab wiederum Frau Klippel Anlaß zu erklären , daß sie viel zu wenig nehme in Anbetracht der Unannehmlichkeiten , die sie von Mietern habe , über welche die Leute allerhand redeten .
Fritz verbat sich dergleichen Anzüglichkeiten .
So gab ein Wort das andere .
Bei Frau Klippel war nun einmal die Schütze gezogen , die für gewöhnlich eine Flut schmutzigen Wassers zurückstaute .
Sie wäre eine anständige Frau , betonte sie sehr stark .
Mit zwei zugleich es zu halten , sei nicht " komilfo " , das habe sie niemals getan .
Wenn der Herr etwa glaube , daß er Fräulein Lux für sich allein habe , dann täusche er sich gewaltig .
Alma , die im Nebenzimmer war , hatte die überlaut geführte Unterhaltung mit angehört .
Sie kam jetzt hereingestürzt , bleich vor Erregung , und fuhr auf die Verleumderin los .
Fritz wunderte sich , wie die Entrüstung das sanfte Mädchen verwandelt hatte .
Frau Klippel fühlte sich durch Almas Dazwischentreten auch nicht besänftigt , und so gab es denn ein richtiges Weibergezänk .
Fritz mußte die beiden schließlich mit Gewalt trennen .
Er führte Alma in sein Schreibzimmer , schloß die Tür ab und suchte das Mädchen zu beruhigen .
Ihre Erregung machte sich Luft in einem Strom von Tränen .
Fritz tröstete sie ; nicht ein Wort glaube er von Frau Klippelse törichten Anschuldigungen .
Da warf sie sich ihm um den Hals und flüsterte in sein Ohr : sie müsse ihm ein Geständnis machen .
Fritz erzitterte .
Für ihn gab es ein geheimes Schreckgespenst , das einen sehr leisen Schlaf hatte und ihn bei jedem kleinen Zufall , bei jeder noch so entfernten Anspielung in dumpfe Furcht jagte : die Möglichkeit , daß ihr Verhältnis Folgen haben könne .
Darum bedeutete das , was er jetzt zu hören bekam , geradezu eine Erleichterung für ihn .
Alma gestand ihm , sie habe in der letzten Zeit ein paar Mal mit einem alten Bekannten gesprochen .
Es sei derselbe Mensch , der sie neulich in " Stadt Paris " so auffällig angestarrt habe .
Den Tag danach hätte er sie auf der Straße angeredet , auch sei er , als Fritz gerade ausgegangen , einmal hier im Quartier gewesen zu kurzem Besuch .
Doch könne sie beschwören , daß zwischen ihr und Ludwig Glück weder jetzt noch früher irgend etwas Unrechtes vorgefallen sei .
Ängstlich blickte sie auf den Geliebten , was der zu ihrem Geständnis wohl sagen würde .
Fritz war durchaus nicht empört , in ruhigem Tone forschte er , wie lange Alma den Mann schon kenne .
Sie erzählte : Ludwig Glück habe , als sie noch zur Schule gegangen , mit ihr und den Eltern in ein und demselben Hause gewohnt .
Von Beruf sei er Stuckateur .
Ihre Freundschaft hätte anfangs darin bestanden , daß er ihr gelegentlich etwas aus Holz , Ton oder Pappe angefertigt habe .
Denn Ludwig Glück sei ein halber Künstler .
Später , als sie die Schule verlassen , habe er manchmal Andeutungen gemacht , daß er sie liebe und sie gefragt , ob sie nicht einig werden könnten .
Alles in der ehrlichsten Absicht .
Sie hätte sich jedoch nicht entschließen können , ihn zu nehmen , trotzdem ihr von den Ihren stark zugeredet worden sei , sich diese Versorgung nicht entgehen zu lassen .
Ludwig habe sich die Abweisung schwer zu Herzen genommen und sei auf Wanderschaft gegangen .
Dann waren jene Ereignisse in ihrer Familie eingetreten , die sie aus dem Hause trieben und schließlich nach Berlin führten .
Ludwig hatte sie neulich seit Jahren zum ersten Male wiedergesehen .
Es war ihm , wie er erzählte , nicht gut gegangen .
Krankheit hatte ihn ganz heruntergebracht .
Auch hier habe er Monate lang im Krankenhause gelegen , und jetzt suche er vergeblich nach Arbeit .
Fritz erkundigte sich , ob Ludwig Glück jemals Briefe an sie geschrieben habe .
Alma zögerte mit der Antwort , bejahte aber schließlich .
Er habe eine Zeit lang ziemlich regelmäßig an sie geschrieben .
Sie hätte oft lachen müssen über den närrischen Menschen , der soviel Zeit habe , lange Briefe an ein Mädel zu schreiben , das nichts von ihm wissen wolle .
Und wenn sie ihm geantwortet hätte , so sei es nur geschehen , um ihm zu sagen , er solle sich die Liebesgedanken aus dem Kopfe schlagen .
Ob sie die Briefe aufgehoben habe ?
Alma wurde verlegen .
Einen oder den anderen besitze sie wohl noch .
Aber sie bat , daß Fritz die Dinger nicht lesen möge ; sie seien so lächerlich , wie der ganze Ludwig Glück selbst .
Fritz vermutete , daß die Briefe Interessantes enthalten könnten , und bestand darauf , alle zu sehen .
Alma entschloß sich endlich , sie zusammenzusuchen und herbeizubringen .
Es waren ihrer schließlich doch ein ganzes Päckchen .
Fritzens Auge fand in den Briefen manches , was Alma nicht erkannt , oder wenn sie es erkannt , doch nicht hatte beachten wollen .
Vor allem fand er darin echte und tiefe Leidenschaft .
Das , was Alma komisch erschienen war , bedeutete nichts anderes , als die verzweifelten Gebärden und Zuckungen einer Liebe , die keine Erwiderung findet .
Alle Tonarten hatte der Unglückliche angeschlagen verliebter Sehnsucht , alle Register gezogen der Überredung .
Dabei kein falsches Pathos , keine Briefsteller-Phrasen , echte Naturlaute eines überquellenden Gefühles .
Nicht selten erhob sich die Anrede zu poetischem Schwung .
Die Liebe schien den einfachen Menschen über sich selbst hinaus gesteigert zu haben ; hatte ihn getrieben , das Stärkste und Größte , dessen seine Natur fähig war , zu Füßen des angebeteten Wesens auszuschütten .
Alma suchte den Eindruck des Gelesenen mit ängstlicher Miene aus Fritzens Zügen zu erforschen .
Fritz las mit wachsendem Interesse .
Für ihn waren diese Briefe charakteristische Proben starker , menschlicher Gefühle .
Manche Wendung darin erregte seine Künstlerfreude .
Das ganze Verhältnis der beiden Menschen lag jetzt , wo er diese Dokumente in Händen hielt , klar vor ihm .
Wenn es noch einen unaufgeklärten Punkt gab , so war es Almas Abneigung gegen einen Mann , der so heiß um sie geworben hatte .
Er legte die Briefe zusammen , steckte sie zu sich und meinte , um ihr die Angst zu nehmen , in scherzendem Tone : dieser Glück scheine ein sehr netter Mann zu sein .
Warum sie ihn denn nicht geheiratet habe ?
Stadt darauf zu antworten , begann Alma zu weinen .
Wie Fritz denken könne , daß sie sich mit einem anderen Manne eingelassen hätte , brachte sie unter Schluchzen hervor .
Sie habe Mitleid gehabt mit Ludwig Glück , das sei alles , was sie je für ihn empfunden .
" Der Mensch ist mein Unglück ! " rief sie außer sich .
" Ich wollte , daß alles aus sein sollte zwischen mir und ihm .
Von Berlin aus habe ich es ihm geschrieben , daß ich einen anderen liebte , und daß er nichts mehr zu hoffen habe , daß er mich in Ruhe lassen solle , wenn er ein ehrlicher Mensch sei .
Ich dachte , nun würde er sich zufrieden geben .
Aber da ist er wieder !
Ich weiß nicht , was er will .
Niemals habe ich ihn ermutigt .
Neulich erst habe ich_es ihm ins Gesicht gesagt , daß er mir widerwärtig ist .
Mag er sich nur ins Wasser stürzen , der abscheuliche Mensch .
Es ist mir ganz gleichgültig .
Als er mich in " Stadt Paris " so anstarrte , da wurde mir ganz Angst .
Ich habe die ganze Nacht darauf nicht schlafen können .
Ich dachte , du könntest etwas merken , Fritz !
Und wie er dann zu mir kam , ganz abgerissen , noch viel magerer als früher , war er mir wie ein Leichnam .
Ich habe immer so ein Grauen vor ihm gehabt .
Zu denken , daß ich mit so einem - und nun gar seitdem ich dich kenne .
Er ist so ganz , ganz anders als du . -
Es gibt ja keinen auf der Welt wie du ! "
Damit warf sie sich dem Geliebten um den Hals und drohte ihn zu ersticken mit leidenschaftlichen Küssen .
Nun hatte Fritz mehr erfahren , als er gefragt hatte .
Einen neuen Beleg hielt er in der Hand , wie er geliebt werde .
Auf den Stuckateur Ludwig Glück brauchte er wahrlich nicht eifersüchtig zu sein !
Das schmale , ungesund bleiche Gesicht , die tiefliegenden Augen , die glühend auf Alma gerichtet waren , wie er sie neulich abend , ohne zu ahnen , wen er vor sich habe , gesehen hatte , kamen ihm wieder ins Gedächtnis .
Und er empfand in seinem Siegesbewußtsein ein eigenartig mitleidiges Interesse für den armen Kerl . * * * Während der Wintermonate hatte Fritz Bärtig so fleißig an seinem Romane gearbeitet , daß er um die Osterzeit ein Manuskript von beträchtlichem Umfang in den Händen hielt .
Als er aber den letzten Satz des letzten Kapitels niedergeschrieben hatte und für einen Augenblick aufatmend die Feder aus der Hand legte , wußte er , daß damit die Arbeit noch nicht beendet sei .
Das Haus stand zwar in seinen Mauern und war unter Dach gebracht , die letzte Hand jedoch war noch daranzulegen .
Er las das Ganze durch , langsam , mit kritischem Blick , ließ es auf sich wirken wie das Werk eines Fremden .
Manche Überraschung wartete seiner da .
Szenen , von denen er viel gehalten hatte , die er mit Begeisterung niedergeschrieben , enttäuschten ihn in ihrer Wirkung , andere , die er schon fast vergessen , wirkten überraschend durch ihre Kraft .
Da galt es zu streichen und zu ändern , Widersprüche auszumerzen .
Vieles ließ sich durch Herausholen des Charakteristischen mehr in Wert setzen ; anderes mußte der Stimmung wegen gedämpft werden .
Endlich war es so weit , daß sein künstlerisches Gewissen ihm sagte : jetzt ist es genug !
Das Werk steht .
Hat es Fehler , so sind diese in der Natur des Ganzen begründet , gehören zur Individualität ; sie weiter austilgen , hieß vielleicht der Eigenart Abbruch tun .
Er packte also eines Tages die Bogen zusammen und trug sie zum Verleger .
Weißbleicher , der längst auf das Manuskript gewartet hatte , erklärte , sofort setzen lassen zu wollen , damit das Buch , das ja eigentlich im Winter hatte erscheinen sollen , nun wenigstens noch zur sommerlichen Bade- und Reisesaison zurecht käme .
Nachdem er sein Werk aus der Hand gegeben hatte , war es Fritz zu Mute , als habe er von einer Geliebten Abschied genommen .
Er fühlte sich zwecklos auf der Welt , das Herz wie ausgeleert .
Jetzt an eine neue Arbeit gehen , wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen .
Er hatte soviel Kräfte an die alte hergegeben , daß ihm zunächst alle Spannkraft fehlte zum Schaffen .
Es war der Wunsch in ihm , ein paar Wochen lang , ein beschauliches Dasein zu führen .
Er glaubte sich das Recht zum Ausspannen durch die vorausgegangene Anstrengung wohl erworben zu haben .
Er hatte wieder Freude am Theaterbesuch gefunden .
Früher , wo es sein Ehrgeiz gewesen , mit seinen Stücken die Bühne zu erobern , war das Theater für ihn eine unglückliche Liebe gewesen ; es wurde ihm bei dieser unnahbaren Spröden nie so recht wohl .
Nun , wo er sich das Werben um die Grausame aus dem Sinn geschlagen hatte , bedeutete ihm ein Billet fürs Parkett nichts weiter als die Aussicht , sich einige Abendstunden hindurch angenehm zerstreuen zu lassen .
Er wollte in der Stimmung , in der er sich jetzt befand , nichts Aufwühlendes , nichts Überwältigendes .
Von Berlin her war Fritz Bärtig an die Kämpfe gewöhnt , die der jüngst auf die Bühne gedrungene Naturalismus entfesselt hatte .
Davon gab es hier nichts zu spüren .
Unter einem alternden Intendanten führte das Schauspielhaus ein beschauliches , von keinem Aufbegehren der Moderne getrübtes Dasein .
Man ruhte auf Lorbeeren einer abgeschlossenen , großen Glanzperiode der Komödie aus .
Wohl hörte man , daß auswärts Schlachten geschlagen wurden , daß eine Schar jugendlicher Stürmer und Dränger auch Thaliens Tempel berannten , aber bei sich wollte man keine Aufregung haben .
Publikum , Kritik und Intendanz schienen stillschweigend einen Pakt geschlossen zu haben , die Revolution in ihrer Mitte nicht aufkommen zu lassen .
Wenn man eine Premiere brachte , so war es mit einem Stück , das auf so und so viel anderen Bühnen sich als ungefährlich ausgewiesen hatte .
Da gab es keinen Kampf , keine unberechenbaren Entscheidungen ; von vornherein stand hier der Erfolg fest .
Auf den Gedanken , daß es ein Richteramt auszuüben habe , war das Publikum überhaupt noch nicht gekommen ; kritiklos nahm es mit allem vorlieb , was man ihm zu bieten für gut befand .
Ihr Urteil über das , was sie am Abend gesehen und gehört , holten sich diese wohlerzogenen Leute dann am nächsten Morgen aus der Theaterbesprechung ihrer Zeitung .
Nach kurzer Zeit übersah Fritz den Stil von Komödie , der hier gespielt wurde .
Das Beste daran war die Tradition , von der man sich aus einer besseren Zeit gewisse Reste bewahrt hatte .
Es war ein geschlossenes Ensemble da von Schauspielern , in welchem das Mittelgut vorwog .
Fritz kannte sehr bald die einzelnen Mimen bis herab zu den Statisten , mit ihren zwei oder drei stets wiederkehrenden Gesten .
Ja , selbst die Kostüme und die Requisiten der Bühne wurden ihm alte , gute Bekannte .
Es bereitete ihm ein prickelndes Behagen , zu wissen , daß Frau Soundso , wenn sie Rührung darstellen wollte , unfehlbar den und den Augenaufschlag hatte , und daß Herr X , wenn es Leidenschaft zu markieren galt , mit dem Fuße aufstampfte und so schnell zu sprechen begann , daß niemand ihn verstand .
Auch das Publikum zu beobachten , war belustigend .
Es bestand zum großen Teil aus Damen .
Besonders in den Abonnementsvorstellungen wog das weibliche Geschlecht vor .
Fritz war von Berlin her ein kritisches , herrisches , oft sogar übermütiges Parkett gewöhnt , das dem Darsteller wie dem Autor gegenüber seine Wünsche zur Geltung zu bringen wußte .
Diese hier wollten nur Unterhaltung und Rührung ; etwas fürs Auge und womöglich auch fürs Gemüt .
Mit psychologischen Problemen , überhaupt mit allem , was das Denken herausforderte , hätten sie nichts anzufangen gewußt , und vor sozialen Stoffen lief ihnen eine Gänsehaut über den Rücken .
Nur in einer Beziehung zeigte man einen Anflug von Temperament , ja von Begeisterungsfähigkeit .
Das war in der innigen Verehrung für einzelne Darsteller .
Mit den Schauspielern wurde von den abonnierten Damen jeden Alters ein Kultus getrieben , der mit der Kunst wenig , umsomehr aber mit der äußeren Erscheinung der betreffenden Herren zu tun hatte .
Der Held , der erste Liebhaber , der Bonvivant , bis herab zu den Episodendarstellern , jeder hatte seine größere oder kleinere Clique von Anhängerinnen , die das Repertoire der Woche nicht etwa daraufhin studierten , welche Autoren zur Aufführung kämen , sondern ob Stücke gegeben würden , in denen ihre Freunde beschäftigt waren .
Die betreffenden Mimen aber nahmen die Billetts doux , Blumen , Bonbonnieren , gestickten Kissen , und was ihnen sonst von ihren Verehrerinnen ins Haus geschickt wurde , gnädigst an , und erlaubten nur zu gern , daß mit ihren Photographien ein schwunghafter Handel getrieben wurde , ja , ließen sich herab , in die ihnen von zarter Hand zugesteckten Stammbücher niedliche Verse von Baumbach oder Julius Wolff einzuschreiben .
Fritz Bärtig war durch Silber in diese Verhältnisse eingeweiht worden .
Er begriff nun das Vorwiegen des weiblichen Elements , den Erfolg der ältesten Ladenhüter , die immer und immer wieder aufgeführt werden konnten , das starke Einschlagen alles Sentimentalen und Idyllischen , den Mangel an Psychologie und Stilgefühl bei diesem Publikum .
Alles war hier auf das Persönliche zugeschnitten .
Man ging unter dem Deckmantel scheinbaren Kunstgenusses allerhand pikanten Liebhabereien nach .
Von Siegfried Silber hatte Fritz auch erfahren , daß an einer Hinterpforte des Schauspielhauses allabendlich dem Drama noch ein Satyrspiel folge .
Von Blumensträußen , Lorbeerkränzen , Händedrücken , Gewandberühren , ja von Handküssen wurde gemunkelt , die das männliche Geschlecht dort über sich ergehen lassen müsse .
Einer der stattlichsten Schauspieler des Ensembles , der besonders im Ritterstück und der Römertragödie mitwirkte , war Waldemar Heßlow .
Er besaß schöne äußere Mittel : hohen , proportionierten Wuchs , ein Gesicht , aus dem sich alles machen ließ , ein kräftiges , nie ermüdendes Organ .
Aber er war der Schrecken des Regisseurs .
Selten lernte er seine Rolle , niemals vertiefte er sich in sie .
Er hatte das ja nicht nötig .
Wenn er in enganliegendem Trikot , das die Pracht seiner herkulischen Gliedmaßen zur gewünschten Geltung kommen ließ , oder im strahlenden Brustharnisch wuchtig auf die Bühne trat , seine Stimme je nach Bedürfnis grollen , heulen oder säuseln ließ , hie und da noch ein bedeutungsvolles Stirnrunzeln , einen schmachtenden Blick , eine pathetische Geste einschob , so war er seiner Wirkung sicher .
Stimmung , Geist , Stil , Zusammenspiel waren ihm völlig gleichgültig .
Wenn Waldemar Heßlows Name auf dem Zettel stand , dann konnte der Kassierer sicher sein , eine große Zahl Vorderplätze im Parkett und den Logen an sichere Kunden loszuwerden .
Diesem Mimen galt , wenn der Vorhang fiel , der stärkste Applaus , und selbst bei offener Szene rührten sich , wenn Heßlow eine seiner Kraftstellen gehabt hatte , zarte Hände , um dem Vergötterten zu zeigen , daß seine Getreuen zur Stelle seien .
An einem Abende , wo sich dieser Beifall besonders bemerkbar gemacht hatte , begab sich Fritz Bärtig , nach Schluß der Vorstellung , zu jener Hinterpforte , wo , wie ihm gesagt worden war , diese Ovationen noch intimeren Charakter anzunehmen pflegten .
Richtig , da standen zwei dunkle Mauern vermummter Gestalten .
Eine Gasse blieb frei .
Erwartungsvoll waren die Blicke nach der kleinen Pforte gerichtet .
Erst kamen einige weibliche Wesen , die man unbeachtet durchließ .
Ein Zylinder erschien ; schon fuhren die Köpfe zusammen , alles drängte nach der Tür .
Aber es war nur der Komiker , ein älterer , korpulenter Mann .
Er grüßte höflich , aber keine Hand streckte sich ihm entgegen .
Da endlich kam der Erwartete .
Sofort war ein Ring um ihn geschlossen ; jede der stürmischen Verehrerinnen suchte ihrem Ideal so nahe wie möglich zu kommen .
Die Hinteren drängten nach vorwärts und bewirkten dadurch , daß die vorderen dem Gegenstande der allgemeinen Liebe buchstäblich auf den Leib gedrückt wurden .
Waldemar Heßlow nahm alles mit , was sich ihm bot .
Den weichen Kalabreser auf dem Lockenhaar , mit hochaufgeschlagenem Mantelkragen , rückte er langsam in der Menge vorwärts .
Auf einmal machte er Halt .
" Bitte , meine Damen , durchlassen ! "
Da diese Aufforderung keine Wirkung hatte , schob er die Nächststehende fast ein wenig rücksichtslos bei Seite , drängte sich durch den Knäuel seiner erstaunten Verehrerinnen und stand vor einer jungen Dame still , die über dem pelzverbrämten Theaterumhang einen Schal von leuchtender indischer Seide trug .
Sie stand im vollen Licht der Bogenlampe ein wenig abseits von dem übrigen Schwarm .
Heßlow zog vor ihr den Hut , reichte ihr die Hand und ließ sich in ein Gespräch mit ihr ein .
Glühende Augenpaare waren auf die Beneidenswerte gerichtet , die von dem schönen Waldemar in solch unerhörter Weise ausgezeichnet wurde .
Jetzt neigte er sich sogar zu ihr herab , huldvoll lächelnd , voll Aufmerksamkeit für das , was sie sagte .
Wie er seine Zeit vergeuden konnte an die eine , während so viele andere Herzen zitterten !
Abermals zog er vor ihr den Hut , und tat das , was ihm sonst geschah , küßte die kleine Hand , die sie ihm reichte .
O , verkehrte Welt !
Entrüstung malte sich in vielen Gesichtern .
Mit einem Kopfnicken , das sehr von oben herab kam , entließ sie den Mimen .
Wer war denn diese unausstehliche Person im rotgelben Schal ?
Es war an ihr gar_nichts Besonderes zu entdecken ! -
Fritz sah ihr Gesicht deutlich , in dem Augenblick , als sie es zu dem sehr viel größeren Heßlow erhob .
Es prägte sich seiner Erinnerung tief ein .
Nicht daß es ungewöhnlich schön gewesen wäre , aber es war beinahe mehr , nämlich : interessant .
Die Stirn , soweit man sie sah , hoch und gewölbt , die Nase schmal mit ungemein fein geschnittenen Nasenlöchern , der Mund , klein mit schmalen Lippen , klang wunderlich zusammen mit dem zarten Kinn .
Und darüber ein Augenpaar , dessen Ausdruck auf den ersten Anblick kaum festzustellen war .
Die Figur , durch den Theaterumhang nahezu verdeckt , schien graziös zu sein .
Fritz taxierte das Mädchen auf sechzehn , höchstens siebzehn Jahre .
Wie kam sie hierher ?
Was suchte eine so aparte Persönlichkeit in Waldemar Heßlows Gefolge ?
Sie sah eigentlich zu vornehm und auch zu intelligent aus für eine blinde Verehrerin des Mimen .
Dann entschwand ihm das Gesicht .
Einige derer , die noch nicht in Berührung mit ihm gekommen , drängten sich zwischen Heßlow und die gefährliche Rivalin .
Was nun mit ihm geschah , sah Fritz nicht mehr ; seine Neugier war vollauf befriedigt .
Er schritt nach dem nächsten Halteplatz der Straßenbahn .
Während er im überfüllten Wagen saß , dachte er im stillen an das eben Erlebte .
Vor allem das originelle Gesicht des jungen Dinges wollte ihm nicht aus dem Gedächtnis , wie sie so gänzlich unbefangen zu dem langgewachsenen Mimen aufgeblickt hatte .
Unwillkürlich regte sich in ihm die Eifersucht .
Wie kam gerade dieser Waldemar Heßlow dazu , solches Glück zu machen ! -
Während er noch über Liebeslaune und Frauengeschmack nachsann , fiel sein Blick von ungefähr auf ein Gesicht in der Reihe von Fahrgästen ihm gegenüber .
Da war der rotgelbe , indische Schal wieder und das feine Näschen darunter , Waldemar Heßlows Favoritin .
Neben ihr saß eine einfacher gekleidete Person , mit der sie sich unterhielt ; offenbar das Dienstmädchen , das sie nach Haus begleitete .
Fritz konnte das Gesicht nun genauer betrachten .
Sie hatte den Schal gelüftet , er sah die Form des Schädels , die , wie er vermutet hatte , edel war .
Das mattblonde Haar schien nicht allzu reich .
Die Gesichtsfarbe war gleichmäßig bleich , an der Schläfe schimmerte blaues Geäder durch die zarte Haut .
Er erkannte jetzt das , was ihn auf den ersten Anblick an diesem jugendlichen Kopfe so stark angezogen hatte : er besaß Rasse .
Es war nicht das erste Mal , daß ein Gesicht ihm einen plötzlichen , starken , unvergeßlichen Eindruck machte .
Die menschlichen Züge blieben nun einmal das interessanteste Gebilde der Erscheinungswelt .
Die meisten Gesichter erzählten ja wie aufgeschlagene Chroniken Eigenschaften , Herkunft und Geschichte ihrer Träger , für den , der Augen hatte zu lesen .
Aber bei manchen Menschen war es doch etwas anderes ; ihre Gesichtszüge verbargen mehr als sie offenbarten .
Sie glichen wertvollen Inschriften in einer Sprache , zu der man den Schlüssel nicht hat .
Und gerade dieses Sphinxartige macht sie so anziehend , sehnsuchtweckend und verwirrend .
Auch hier fühlte er sich in dem seltsamen Banne eines menschlichen Antlitzes , dessen Geheimnis ihn tief beunruhigte .
Wenn sie nur ein einziges Mal das Auge voll aufschlagen wollte , wie vorhin , als sie den Schauspieler angeblickt hatte !
Aber sie war ganz in Unterhaltung vertieft mit ihrer Nachbarin .
Und den Klang der Stimme , den er so gern vernommen hätte , verschlang das Geräusch des Wagens .
Da blickte sie nach seiner Richtung .
Fritz sah ein Paar nicht allzu große , zunächst verschleierte Augen , die , als ihr Blick dem fremden begegnete , plötzlich einen scharfen , bohrenden Ausdruck annahmen , daß er den Eindruck hatte , als komme er mit Stahl in Berührung .
Dazu vibrierten die feinen Nasenlöcher , und um die schmalen Lippen legte sich ein spöttischer Zug .
Sie sah ihn eine Weile ruhig an , sein Anstarren mit Gleichmut aushaltend , wobei der Zug von Spott sich zur Herbheit verstärkte .
Bei der nächsten Haltestelle erhob sie sich und verließ mit ihrer Begleiterin den Wagen .
Fritz Bärtig stand gleichfalls auf , obgleich er noch nicht an seinem Ziele angekommen war .
Die Art und Weise , wie dieses junge Ding seinen Blick erwidert hatte , reizte ihn , festzustellen , was hinter soviel Sicherheit eigentlich stecke .
Sie hatte es nicht weit von der Haltestelle zur Wohnung .
Vor einem villenartigen , im Garten zurückgelegen Hause machte sie Halt .
Während die Begleiterin mit dem Aufschließen des Gartentores beschäftigt war , schritt Fritz dicht an dem jungen Mädchen vorbei , ihr ins Gesicht blickend .
Es war , als rufe ihm ihr Blick zu , stehen zu bleiben ; etwas Vieldeutiges lag darin .
Aber sofort war auch das spöttische Lächeln wieder da , das zu sagen schien :
Mich anzureden wagst du ja doch nicht !
Nach einiger Zeit kehrte er um , schritt noch einmal an dem Hause vorbei , und sah gerade noch , wie im Parterre ein paar Fenster hell wurden .
Fritz war unzufrieden .
Es kam ihm vor , als habe er sich hier ein wenig blamiert .
In früheren Zeiten , ehe er mit Alma zusammenlebte , war er ja manchmal einem Mädchen " nachgestiegen " .
Aber daß er sich nicht hatte entschließen können , im entscheidenden Augenblick die Betreffende anzureden , war ihm noch nicht begegnet .
Er traf die junge Dame fortan häufig im Theater .
Wahrscheinlich war man schon mehrfach gleichzeitig dort gewesen , ohne daß er sie früher bemerkt hätte .
Sie hatte Abend für Abend einen bestimmten Platz inne in einer Parkettloge , wo sie ziemlich versteckt saß .
Fritz hätte gar zu gern herausbekommen , ob sie des Schauspielers Heßlow wegen ins Theater gehe .
Aber er kam zu keiner klaren Erkenntnis darüber .
Das Fräulein saß auf dem Platz , gleichviel ob der schöne Waldemar mitwirkte oder nicht .
Sie applaudierte niemals .
Überhaupt benahm sie sich so unauffällig wie nur möglich .
Vielleicht war es wirkliches Kunstinteresse , was sie in die Vorstellungen trieb .
Wer weiß , sie war am Ende eine Theaterschülerin !
Man tat ihr wohl Unrecht , wenn man sie mit den Verehrerinnen Heßlows in einen Topf warf .
Aber warum war sie dann neulich an der Triumphpforte des Mimen gewesen ?
Das Rätselhafte , was sie von Anfang an für ihn gehabt , umschwebte auch fernerhin ihre Erscheinung . * * * Weißbleicher teilte alle Romane in familienblattfähige , die von dem jungen Mann im Buchhandel den Eltern als Weihnachtsgeschenk für ihre erwachsenen Töchter empfohlen zu werden pflegten , ferner in bahnhofsfähige , jene nicht allzu umfangreichen , handlichen Bücher , die , ohne langweilig zu sein , doch nicht gerade unanständig waren , und schließlich in literarische Leckerbissen , die vom Bücherstand des Bahnhofshändlers schon aus Sorge vor der Zensur ausgeschlossen waren , Bücher , die man auch nicht der höheren Tochter in die Hand gab , welche aber nichtsdestoweniger sicher waren , ihre Liebhaber zu finden .
Der kundige Verleger schmunzelte zufrieden über das ganze fette Gesicht , als er das Manuskript aus der Hand legte .
Jetzt handelte es sich vor allem darum , dem Kinde den richtigen Namen zu geben .
Der Titel , den der Autor für den Roman wollte , war nach Ansicht des Verlegers unmöglich .
Fritz Bärtig wollte zwar auf seiner Überschrift bestehen , aber Weißbleicher konnte ihm nachweisen , daß sie bereits verwendet sei ; es galt also , einen neuen Titel zu finden .
Und da hatte denn der Verleger einen Gedanken , der Roman müsse heißen :
" Das Geschlecht " .
Fritz machte Bedenken geltend .
Der Titel verrate zu viel , schmecke nach Tendenz , sei prahlerisch .
Weißbleicher lächelte über so viel Sachunkenntnis .
Das sei ja gerade Zweck des Titels , ins Auge zu fallen , die Neugier zu erregen .
" Ein richtiger Titel muß magnetische Kraft haben , " sagte der geschäftskluge Mann .
" Pikanter Titel ist bereits ein Drittteil Erfolg . "
Das zweite Drittteil des Erfolges mußte seiner Ansicht nach die Ausstattung und der Waschzettel bestreiten .
Das letzte Drittteil blieb dann für den Inhalt des Buches übrig .
Fritz mußte sich den Vorschlägen seines Verlegers um so mehr fügen , als er ja auf den Roman einen nicht unbedeutenden Vorschuß erhalten hatte , den ihm Weißbleicher öfter als es angenehm war , vorhielt .
" Das Geschlecht " sollte in Prima-Ausstattung herauskommen mit einem intimen Titelbilde .
Weißbleicher wollte etwas tun für das Buch .
Seitdem der Verleger in dem Manuskript ein sicheres Pfand in den Händen hielt , für das , was er in diesen Autor an Geld gesteckt hatte , nahm er sich des jungen Mannes auch noch in anderer Weise an .
Fritz Bärtig sollte gesellschaftlich lanciert werden ; das war ein nicht zu verachtendes Hilfsmittel für den literarischen Erfolg .
Und besonders wenn man wie Fritz aus guter Familie stamme , ein nettes Äußere habe und die Umgangsformen der höheren Kreise beherrsche , meinte Weißbleicher in väterlich protegierendem Tone , dürfe man sich diese Chance nicht entgehen lassen .
Er sprach dann von einer Frau Hilschius , bei der er Fritz einführen wollte .
Die Dame sehe in ihrem Salon eine Menge bedeutender Künstler .
Dieses schöngeistige Haus sei das einzige am Orte , wo ernsthaft über Literatur gesprochen würde .
Dann gab er Fritz ein Buch zu lesen , einen Roman seines Verlages , mit dem er sehr geheimnisvoll tat .
Der Name des Autors sei ein Pseudonym , unter dem sich eine Dame der ersten Gesellschaft verberge .
Fritz las den Roman und fand ihn herzlich schwach .
Er sprach mit Lehmfink darüber , fragte ihn , ob er etwas von dem Buch und der Verfasserin wisse .
Heinrich Lehmfink lachte , als er den Namen hörte .
Er habe den Roman , der , weil er à clef geschrieben sei , in skandalsüchtigen Kreisen ein gewisses Aufsehen erregt habe , zur Besprechung zugeschickt bekommen .
Es sei ein seichtes Machwerk voll Indiskretion , Sentimentalität und Aktualitätssucht .
Fritz hielt mit seiner Kritik nicht zurück , als er dem Verleger das Buch wieder brachte .
Weißbleicher war in seiner Geschäftsehre gekränkt , einen Roman , der schon zwei Auflagen erlebt hatte , so scharf kritisiert zu sehen .
Es sei eine " mit Herzblut geschriebene Dichtung " , behauptete er .
Gerade daß die Verfasserin darin ihr eigenes ungewöhnliches Schicksal niedergelegt habe , mache es zu einem echten " Dokument humain . "
Dann erzählte er unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit Fritz die Geschichte der Dichterin , eben jener Frau Hilschius , die er als eine Beschützerin der Künste geschildert hatte und die , wie er wohl sagen dürfe , seine intime Freundin sei .
Nach Weißbleicher stammte die Dame aus reicher , angesehener Kaufmannsfamilie .
Ungewöhnlich jung hatte sie einen Geschäftsfreund ihres Vaters , einen Sechziger , geheiratet .
Aus dieser Ehe stammte eine Tochter .
Als der Gatte früh gestorben war , heiratete die Witwe im Jahre darauf einen Offizier .
Die Ehe ging zunächst ganz glücklich .
Ein Sohn wurde geboren .
Der Mann nahm den Abschied , um seinen musikalischen Neigungen leben zu können .
Man machte ein Haus , sah einen Kreis von Künstlern aller Art bei sich .
Auf einmal hörte die Welt von einem Ehezerwürfnis .
Es gab ein Duell , in welchem der Gatte den Liebhaber , einen Allerweltsmann : Musiker , Theaterdichter , Publizist , verwundete .
Dann kam es zum Scheidungsprozeß , der durch Indiskretionen der Presse zu einer Skandalaffäre aufgebauscht wurde .
Während der Prozeß noch im Gange war , starb der Gatte .
Alle Welt nahm an , daß der , welcher das Glück dieser Ehe gestört hatte , nunmehr die schwer kompromittierte Frau heiraten werde ; aber der Liebhaber zog sich zurück , und Frau Hilschius blieb im Witwenstande .
Fritz Bärtig war erstaunt , nachdem er diese Geschichte gehört hatte , bei seinem Besuche in Frau Hilschius Salon , wohin er in Weißbleichers Gesellschaft ging , eine ältere korpulente Dame vorzufinden , deren Äußeres durchaus nicht an Liebesabenteuer denken machte .
Auch sah man ihr die Verfasserin eines sensationellen Romans , von dem der Verleger behauptet hatte , er sei " mit Herzblut " geschrieben , in keiner Weise an .
Das einzige an ihrem sonst recht unbedeutenden Kopfe , was nach Genialität aussah , war die Lockenperücke , und diese war mit Kunst unordentlich gemacht .
Fritz Bärtig kam in eine Gesellschaft von mindestens zwanzig Personen .
Es war der Mittwoch der Frau Hilschius , an dem sie von acht Uhr abends an offenes Haus hatte .
Die Hausfrau empfing ihn mit den Worten :
" Wir kennen Sie ja längst , Herr Bärtig , wenigstens Ihrer geistigen Physiognomie nach . " - Danach nahm sie ihn bei der Hand und stellte ihn der Gesellschaft vor : " Fritz Bärtig , der bekannte Dichter , Autor von » Leiser Schlaf « , dessen großer Roman » Das Geschlecht « demnächst bei unserem Weißbleicher herauskommen wird . "
- Fritz war zunächst etwas verdutzt über die Epitheta , die man seinem Namen angehängt hatte .
Doch beruhigte er sich etwas , als Frau Hilschius ihm die übrigen Anwesenden mit ähnlichen Titulaturen bezeichnete .
Da war keiner , der nicht " genial " , " hervorragend " , zum mindesten " berühmt " gewesen wäre .
Und niemand von diesen Herren und Damen zuckte mit der Wimper oder sagte etwas dagegen .
Fritz sah da zwei junge Herren mit sehr viel ungekämmtem Haar , die ihn , als er von Frau Hilschius als " bekannter Dichter " eingeführt wurde , mit kritisch erhobenen Augenbrauen mißgünstig von der Seite ansahen .
Er schloß daraus , daß er es mit Kollegen von der Feder zu tun habe .
Eine Anzahl junger Damen war da , denen man mit der Bezeichnung " Gänschen " kaum Unrecht getan hätte ; jedoch versicherte Frau Hilschius von der einen , sie sei eine geniale Malerin , einige waren Klaviervirtuosinnen , ja sogar eine hoffnungsvolle Dichterin war darunter .
Diese letztere , eine junge Dame mit niedlichem , aber völlig leerem Puppengesicht , verwickelte Fritz Bärtig in ein Gespräch .
Sie erzählte ihm , daß sie Gedichte " mache " .
Ein Band sei schon heraus , " Efeuranken " heiße er , und ein neuer werde demnächst erscheinen .
Ihr Verleger sei Herr Weißbleicher .
Sie fragte , ob Herr Bärtig auch Gedichte habe erscheinen lassen , und als Fritz bejahte , schlug sie sofort vor , daß man die Bände austauschen wolle .
Schließlich tat sie einen tiefen Seufzer , und indem sie Fritz treuherzig anblickte , rief sie : " Ach , es ist wunderschön , Gedichte machen !
Man kann alles sagen , was man im Herzen hat ; alle tiefsten Erfahrungen , alle Gefühle und Leidenschaften ausströmen lassen !
Finden Sie nicht auch , Herr Bärtig ? "
Fritz , völlig überrumpelt , bejahte .
Aber der Nachsatz , der nun kam , setzte ihn noch mehr in Staunen .
Mit einem tieferen Seufzer nämlich rief die junge Dame : " Ach , wenn es nur nicht so furchtbar viel Geld kostete ! " -
Er erkundigte sich teilnehmend , was denn dabei so kostspielig sei .
" Haben Sie denn nicht auch für Ihre Gedichte bezahlen müssen ? " fragte sie .
" Herr Weißbleicher hat mir gesagt , daß alle Dichter das täten ! "
- Diese Worte klärten Fritz Bärtig mit einem Schlage über eine Erscheinung auf , die ihm bis dahin dunkel gewesen war : die vielen Gedichtsammlungen im Weißbleicherschen Verlage .
Und dazu Weißbleicher , der immer behauptete :
er lasse sich die Unterstützung junger , aufstrebender Talente viel Geld kosten ! -
Die Kleine hier hatte in aller Unschuld das wichtigste Geschäftsgeheimnis des beliebten Verlages ausgeplaudert .
Der Mann mit den schlauen Augen in dem fetten Biedermannsgesicht spielte in diesem Salon die tonangebende Rolle .
Die Dame des Hauses nannte ihn :
" Mein lieber Weißbleicher ! "
Die Jünglinge mit dem langen , ungekämmten Haar vergaßen gänzlich ihren germanischen Dichterstolz , dienerten mit geschmeidigem Rückgrat , wo immer die Hängebacken , die Glatze und der dicke Leib des allmächtigen Verlegers sich blicken ließen .
Bei der Damenwelt hatte Weißbleicher sich in die tonangebende Rolle zu teilen mit einem dunkelgelockten , noch sehr jungen Manne , dessen bleiches , feines Profil Fritz von Anfang an aufgefallen war .
Besonders von den jüngeren waren immer einige um diesen Jüngling zu finden , mit Andacht seinen Worten lauschend .
Fritz erkundigte sich bei einer Dame , die neben ihm stand , wer der junge , sympathisch aussehende Mann eigentlich sei .
" Ich bitte Sie , das ist doch mein Bruder ! " sagte die kleine , dunkeläugige Person .
Und als Fritz diese Antwort mit einem Gesicht aufnahm , welches deutlich erkennen ließ , daß er so klug sei wie zuvor , rief sie lachend : " Na , dann muß ich mich also vorstellen !
Ich bin nämlich die Tochter des Hauses .
Der da , den Sie so nett einen » sympathischen jungen Menschen « genannt haben , ist mein Stiefbruder .
Dies hier ist der Salon der Frau Hilschius , meiner Mutter , wo sie jeden Mittwoch eine Anzahl berühmter , genialer , hochbedeutender Menschen sieht .
Sind Sie nun orientiert , Herr Bärtig ? "
Fritz war betreten über sein Versehen und stammelte einige entschuldigende Worte .
Die kleine Dame blickte ihm schelmisch dreist in die Augen .
" Na , deshalb keine Feindschaft nicht ' ! " sagte sie mit dem unverkennbaren Akzent von Berlin W .
" Die Familienverhältnisse sind bei uns etwas verwickelt .
Man kann nicht von jedem verlangen , daß er sich das alles umgehend zurecht klaviert . "
Fritz sah , daß die Tochter des Hauses nicht an Verblüffung leide .
Er war sehr bald im lebhaften Gespräch mit ihr über die Anwesenden .
Sie komme nicht selten von Berlin herüber zu diesen Mittwochen ihrer Mutter , erzählte Annie Eschauer , weil es ihr einen Hauptjux mache , soviel harmlos verrückte Leutchen beisammen zu sehen .
" Meine Mutter ist die gutmütigste Person , die ich kenne , " sagte Frau Eschauer .
" Sehen Sie , von dieser Gesellschaft kommt die Hälfte hierher des Büfetts wegen , das es nachher gibt .
Die anderen aus Neugier , um des Klatsches Willen .
Noch andere , weil sie hier Professor Wallberg zu treffen hoffen , der aber heute nicht da ist .
Schließlich schickt uns auch Weißbleicher seine zahlungsfähigen Lyriker männlichen und weiblichen Geschlechts .
Aber meine gute Mutter denkt , das alles komme der Kunst wegen zu ihr .
Sie glaubt wirklich : soviel Nasen , soviel Genies habe sie in ihrem Salon . "
Fritz erkundigte sich , zu welcher Kategorie von Gästen sie ihn eigentlich zähle ?
Frau Eschauer rief lachend :
" Ach , ich dachte , sie verstünden Spaß !
Wissen Sie , Ihnen sieht man auf den ersten Blick den Weißen Raben an .
Was Sie hier wollen , weiß ich noch nicht recht ; werde mich aber bemühen , es herauszubekommen .
Vielleicht haben Sie Absichten auf das blonde Lämmchen mit den » Efeuranken « - wie ? "
Sie wurde von der Hausfrau abgerufen .
Mutter und Tochter verschwanden im Nebenzimmer , wo offenbar das Buffet zurecht gemacht wurde .
Aus den lebhaften Blicken , welche die Jünglinge mit dem langen Haar nach jener Tür sandten , war das mit einiger Sicherheit zu schließen .
Der Sohn des Hauses trat zu Fritz .
Er stellte sich selbst vor .
" Ich bin Theophil Alois Hilschius . "
Darauf erzählte er ungefragt , daß er ein Drama geschrieben habe : " Sulla " .
Wann und wo er es einzureichen beabsichtige , fragte Bärtig den offenherzigen Jüngling .
Eingereicht sei es längst , war die Antwort ; aber keine Bühne habe bisher den Mut gehabt , es aufzuführen .
Ob es denn so außerordentliche szenische Anforderungen stelle , erkundigte sich Fritz .
" Das nicht , aber psychologische ! " war die stolze Antwort des Achtzehnjährigen .
" Übrigens will ich nicht vorgreifen , denn meine Sulla wird nachher vorgelesen werden . "
Weißbleicher kam zu den zwei heran .
Er klopfte dem Sohne des Hauses vertraulich auf die Schulter .
" Der kann was !
Theophil Alois Hilschius !
In ein paar Jahren wird die Welt den Namen kennen . "
Der Jüngling trug das Lob mit Würde .
Inzwischen wurden die Flügeltüren zum Nebenzimmer geöffnet .
Eine Tafel war zum Buffet hergerichtet worden .
Man erblickte Braten , Salat , Kompotte , Schüsseln mit süßen Speisen , eine Bowle .
Alles drängte dorthin , gelockt von dem erfreulichen Anblick ; voran die Dichter .
Fritz blieb im Salon mit Theophil Alois , der ihn von seinem Stücke unterhielt .
Es werde demnächst in einer intimen Liebhaberausgabe bei Weißbleicher herauskommen .
Frau Annie Eschauer kam .
Sie trug in der einen Hand ein Glas Bowle , in der anderen einen Teller mit einer Kollektion von Leckerbissen .
Beides präsentierte sie Fritz .
" Ich will gut machen , was ich vorhin verbrochen habe .
Seien Sie mir nicht mehr bös , Herr Bärtig !
Kommen Sie dort hinein , wir wollen uns unterhalten .
Theophil , hole mir was zu knabbern !
Du weißt , ich liebe das Krokant . "
Sie führte Fritz in ein kleines Boudoir , das neben dem Salon lag .
Dort strahlte eine aus einem von türkischen Schals gebildeten Baldachin herabhängende Ampel rötliches Licht aus .
Er mußte der Dame gegenüber Platz nehmen .
Theophil Alois erschien sehr bald mit Bowle und einem Teller voll Konfekt für seine Schwester .
" Brav , mein Junge ! " rief Annie , und streichelte dem Stiefbruder das seidige Haar .
" Nun kannst du dort hinein zu den kleinen Mädels gehen .
Die mit den » Efeuranken « hat schon lange nach einer gleichgestimmten Seele geschmachtet . "
" Mein Bruder ist nämlich ein Wunderknabe , " meinte Annie , " und dabei noch so furchtbar jung .
Er nimmt sich selbst entsetzlich ernst , das gute Kind .
Doch das haben wir alle in dem Alter getan . "
" Studiert Ihr Herr Bruder , gnädige Frau ? "
" O nein !
Er quält sich noch mit dem Abiturientenexamen . "
Fritz entfuhr ein Ausruf des Staunens .
" Ja , sehen Sie , Herr Bärtig , Theophil behauptet , die Lehrer seien solche Idioten .
Sie verstehen ihn allesamt nicht .
Der deutsche Lehrer hat ihn durchfallen lassen .
Mein Bruder sagt , der Mann gehöre einer anderen literarischen Richtung an als er .
Der arme Junge , die Professoren wollen nichts von seinen Aufsätzen wissen und die Theater nichts von seinen Stücken !
Aber das Mutterherz glaubt an sein Genie .
Er soll nur das Examen machen , nachher darf er Dichter werden , hat Mama erlaubt . "
" Dichter werden ! " rief Fritz .
" Der Unglückliche ! "
" Sie sind es doch auch ! "
" Gerade darum möchte ich jeden jungen Menschen warnen , sich auf so dornenvollen Pfad zu begeben . "
Annie Eschauer nahm auf einmal eine ernstere Miene an .
Sie rückte ihm näher und sagte halblaut :
" Wissen Sie , Herr Bärtig , daß Sie etwas ganz ganz Anderes sind , als die Herrn Poeten dort am Buffet , das lehrt mich ein einziger Blick .
Ich kann diesen Ekel von Weißbleicher sonst nicht ausstehen ; aber daß er Sie uns zugeführt hat , dafür bin ich ihm sehr dankbar . "
Fritz sah sie erstaunt an .
Was wollte diese Dame ?
Was wußte sie von ihm ?
Es war ein eigentümliches Gesicht , in das er blickte .
Etwas Unausgeglichenes lag darin .
Die Augen , groß und glänzend , hätten schön sein können , wären sie ruhiger gewesen .
Die Nase ein wenig zu kurz für die starkentwickelte Kinn- und Wangenpartie .
Die lebhaft gefärbten aufgeworfenen Lippen über weißen Zähnen , und das rotbraune , buschige Haar machten an den Kopf einer schönen Mulattin denken .
Die Figur war kaum mittelgroß , untersetzt , der Busen üppig .
Wie in ihrer Erscheinung das Unvermittelte der Mischlingsnatur lag , so schien auch ihr Wesen jäh und unberechenbar .
Der Ton ihrer Unterhaltung wechselte zwischen dem Graziösen der Weltdame und der Burschikosität eines berliner Gassenjungen .
Dumm war Annie Eschauer sicher nicht .
Sie schien geistige Interessen zu haben .
Fritz hörte ein Paar recht treffende Urteile von ihr .
Aber als er dann näher auf das Thema eingehen wollte , sprang sie ab ; ihr Interesse schien flackernd wie die Flamme ihrer unstäten Augen .
Ein schwüler Hauch sinnlicher Verführung ging von ihrer üppigen Erscheinung aus .
Sich ein dauerndes seelisches Glück oder auch nur gute Kameradschaft mit ihr zu denken , war schwer .
Es kamen immer neue Gäste .
Während Fritz im Tete-a-tete saß mit Annie Eschauer , traten ins Nebenzimmer , das er von seinem Platze aus übersehen konnte , durch die Eingangstür drei Damen ; zwei ältere und eine ganz junge .
Fritz erschrak , als er die Züge der Jungen betrachtete .
Diese hohe , gewölbte Stirn , die schmale , rassige Nase , das feine Kinn .
Und um den Kindermund genau das spöttisch überlegene Lächeln , das sie neulich im Tramwagen gehabt , als sie seinen forschenden Blick kühl erwidert hatte .
Mehr als ein Mal hatte er in der letzten Zeit an diese Begegnung denken müssen .
Und nun war es ihm wie eine Vision , als er diese graziöse Figur abermals vor sich erblickte .
Frau Annie fand mit fixem Blick schnell heraus , welcher Gegenstand das Interesse ihres Herrn so plötzlich auf sich lenkte .
" Kennen Sie die Kleine da , Herr Bärtig ? " fragte sie .
Fritz beeilte sich zu verneinen .
Nur eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einer Dame seiner Bekanntschaft habe ihn an dem Fräulein frappiert , und er möchte wohl wissen , wer sie sei .
" Hedwig von Lavan .
Theophil schwärmt für sie .
Er hat sie in der Tanzstunde kennen gelernt .
Sehen Sie , da ist er schon bei ihr ! "
Fritz war enttäuscht .
Was hatte er in das Gesicht des Mädchens alles hineingesehen von interessanten Eigenschaften ; und nun entpuppte sich die Bewunderte als die Tanzstundenschwärmerei eines Gymnasiasten .
Wie sie jetzt , behütet von den beiden alten Damen , sich mit Theophil unterhielt , kam sie Fritz auf einmal recht unbedeutend vor .
Er begriff nicht seine Eselei , ihr neulich Abend nachgelaufen zu sein .
Was konnte man von einem Gänschen erwarten , das für Waldemar Heßlow schwärmte und sich von Theophil Alois Hilschius die Cour machen ließ !
- " Mein Brüderchen hat gar keinen schlechten Geschmack , " fuhr Annie Eschauer fort .
" Fräulein von Lavan ist ein niedlicher Käfer , finden Sie nicht auch ?
Übrigens ist sie Waise . "
" Wer sind denn die beiden Damen , die mit ihr kamen ? "
" Ihre Adoptivmütter , zwei Schwestern : Fräulein Ida und Amanda Tittchen .
Alte Schachteln , die das Mädel angenommen haben an Kindesstatt .
Theophil weiß die ganze Geschichte .
Eine von den beiden Alten da ist verlobt gewesen mit dem Vater von Fräulein von Lavan .
Die Tittchens haben nämlich Geld .
Herr von Lavan , ein alter Schwerenöter , starb , ehe er in den sauren Apfel beißen mußte , Amanda heimzuführen .
Es ist die mit dem schwarzen Kleide ; sie markiert immer noch die trauernde Witwe .
Den besten Coup hat bei der ganzen Geschichte die kleine Hedwig gemacht .
Ihr Vater hatte nichts als Schulden , während sie sich in die Erbschaft der Schwestern Tittchen wahrscheinlich nur mit einem Mops oder einem anderen Lieblingstier zu teilen haben wird . "
Fritz hatte über Frau Annies belustigender Kritik die eben erlebte Enttäuschung schon ganz vergessen .
Er betrachtete sich die Damen Tittchen genauer .
Altmodische Erscheinungen , mit großen , aufgedunsenen , gutmütigen Gesichtern .
In ihrer Kleidung verleugneten sie , trotz der prächtigen Sachen , die sie auf sich gehängt hatten , die Spießbürgerabkunft nicht .
In dieser Gesellschaft von Künstlern schienen sie sich nicht ganz geheuer zu fühlen ; sie hielten sich befangen in der Nähe der Tür und betrachteten die fremden Menschen um sich her neugierig-ängstlich aus großen , runden , erstaunten Vogelaugen .
" Ich will Sie den alten Schachteln vorstellen , wenn es Ihnen Spaß macht , " sagte Annie Eschauer .
Fritz wurde bei dem Vorschlage nicht ganz behaglich zu Mute .
Würde ihn Fräulein von Lavan wiedererkennen ? -
Die Tanten lächelten den jungen Mann verlegen an und machten linkische Knickse , als er sich vor ihnen verbeugte .
Fräulein von Lavan hingegen sah Fritz ruhig in die Augen .
" Ich glaube , wir haben uns schon aus der Entfernung im Theater gesehen , " sagte sie .
Dabei hatte sie wieder jenes spöttische Lächeln , das Fritz so deutlich im Gedächtnis geblieben war .
Dieser Gegensatz von Jugend und Kaltblütigkeit in einer Person setzte ihn von neuem in Erstaunen .
Er war froh , seine Befangenheit hinter einigen Phrasen über das Theater notdürftig verbergen zu können .
Stillschweigend nahm er an , daß die hiesige Bühne ihr über alles gehe .
Aber sie übte an den Vorstellungen sowohl wie an dem Publikum eine Kritik , die Fritz äußerst treffend erschien .
Sie kannte die Bühnen von Wien und München , und stellte Vergleiche an .
Fritz , der sie mit Staunen von Paris und Rom sprechen hörte , als seien diese Städte ihr ganz vertraut , erfuhr , daß sie eigentlich ihr ganzes Leben an der Seite des Vaters auf Reisen verbracht habe .
Hedwig von Lavan besaß ein schwaches , aber dabei wohlklingendes Organ .
Sie pflegte nur halblaut , wie verschleiert , zu sprechen .
Das gab der Unterhaltung mit ihr etwas Diskretes .
Fritz war angenehm berührt , endlich auf jemanden gestoßen zu sein , der dialektfrei sprach .
Wie ein lange vermißter reiner Laut stach ihre Sprechweise ab von dem verdorbenen Deutsch , mit dem die Autochthonen schon bald ein Jahr lang sein verwöhntes Ohr gequält hatten .
Nun sah er auch die grauen Augen , über deren Ausdruck er sich neulich im Unklaren geblieben war .
Sie fielen weder durch Tiefe , noch durch Feuer auf ; ungewöhnlich ruhig , fest , ja hart war der Blick .
Fritz hatte wieder das Gefühl , als komme er mit Stahl in Berührung , diesen kalten , beobachtenden Sternen gegenüber .
Unwillkürlich nahm er sich zusammen in dem , was er sagte , viel mehr als er es vordem Frau Eschauer gegenüber getan hatte .
Welch ein Gegensatz zu der üppigen , herausfordernden Annie !
Hedwig erschien ihm fast wie ein geschlechtsloses Wesen , mit ihrem kaum angedeuteten Busen , den knabenhaft mageren Gliedmaßen und dem schmalen Schädel unter dünnem Haar , in den sich ihr kapriziöses Gesichtchen fortsetzte .
Sie sprachen vom modernen französischen Romane .
Mit Fräulein von Lavan traf sich Fritz in seiner Begeisterung für Guy de Maupassant .
Sie stellte den unerbittlichen Vivisektor Zola weit über Daudet , den sie langweilig , süßlich und unwahr nannte .
Fritz erkundigte sich , ob sie Balzac kenne .
Hedwig verneinte , fügte aber hinzu , sie hätte den Namen oft von ihrem Vater gehört , der Balzac den großen Vorläufer Zolas genannt habe .
" Balzac hat die feinere Künstlerhand , " meinte Fritz .
" Aber Zola ist doch der größere Kerl .
Eine einzigartige Kombination von Gelehrtem , Dichter , Techniker , Pionier , Politiker , Nationalökonom , wie sie nur das neunzehnte Jahrhundert hervorbringen konnte .
Zyklop und moderner Baumeister in einer Person .
Sein Bau mag in Einzelheiten Roheiten und kahle Flächen aufweisen , als Ganzes ist er riesenhaft .
Balzac ist der intimere , der romantischere dabei , ein Kenner der Sitten und der Gesellschaftsseele , wie es nicht viele gibt . "
Hedwig interessierte sich für Balzac .
Da Fritz die Comédie humaine studiert hatte , fast wie ein wissenschaftliches Buch , konnte er ein genaues Bild seiner Eigenart geben .
Das Mädchen folgte seinen Worten mit dem Ausdrucke sachlichen Ernstes .
" Ich danke Ihnen , " sagte sie , " das ist mir von großem Wert .
Ich werde mir auf alle Fälle Balzacs Werke anschaffen . "
Fritz meinte :
Die Mühe könne er ihr ersparen .
Er besitze diesen Autor in einer guten Ausgabe .
Wenn es ihr recht sei , wolle er ihr die neun oder zehn Bände , die es seien , übermitteln .
" Sagen Sie mir , bitte , Ihre Adresse " erwiderte Hedwig .
" Ich werde zu Ihnen schicken nach den Büchern . "
Fritz zögerte .
Er dachte an Frau Klippelse Neugier und an Almas leicht erregte Eifersucht .
" Nein , ich bringe die Bände selbst , " rief er .
" Wo wohnen Sie ? "
" Ich wohne im ersten Stock , Herr Bärtig , " war die Antwort .
" Wenn ich nicht irre , kennen Sie das Haus bereits . "
Sie sah ihn an , ohne eine Miene zu verziehen .
Fritz errötete und stotterte dasselbe , was er vorhin schon Annie gegenüber behauptet hatte , von einer ungewöhnlichen Ähnlichkeit mit einer Dame seiner Bekanntschaft .
An dem überlegenen Lächeln , das sofort auf ihrem Gesicht erschien , sah er , daß sie ihm nicht glaube , und daß er die Dummheit nur größer gemacht habe .
Jetzt fing ihn die Sicherheit dieses kleinen Dinges doch an zu verdrießen .
Er sann nach , ob er ihr nicht irgend eine Bosheit versetzen könne .
Nebenan wurde Leben .
Die jungen Damen reckten die Hälse und drängten alle nach einer Richtung .
Fritz Bärtig , durch seine Größe begünstigt , blickte über die blonden und braunen Zöpfe hinweg , und erkannte für einen Augenblick ein glattrasiertes Männergesicht .
Der Schauspieler Heßlow hier , der schöne Waldemar Heßlow ! - Gleich darauf erschien die Verfasserin der " Efeuranken " in der Türöffnung , und rief hochgeröteten Angesichts in das Zimmer :
" Er ist da ! " worauf sie wieder in der Richtung entschwand , wo soeben der Mime zu sehen gewesen war .
Jetzt hörte man auch eine tiefe Männerstimme , die sich wohlgefällig auf den einzelnen Silben wiegte .
" Wissen Sie wer dieser er ist , Fräulein von Lavan ? " erkundigte sich Fritz , dabei betrachtete er Hedwigs Miene scharf , was sich wohl darauf malen würde .
Das Mädchen lauschte einen Augenblick .
" Ach , Herr Waldemar Heßlow ! " sagte sie anscheinend unbefangen .
" Kennen Sie den großen Mann , Fräulein ? "
" Natürlich !
Er verkehrt bei meinen Tanten . "
" Heßlow ist einer unserer bedeutendsten Schauspieler . "
" Ganz und gar nicht , Herr Bärtig !
Ich finde ihn als Schauspieler herzlich schwach .
Er hat mir schon manche Rolle total verdorben . "
Wenn Fritz versucht hatte , sie in Verlegenheit zu versetzen , so war das mißglückt .
In diesem Augenblicke trat Annie Eschauer zu ihnen :
" Der schöne Waldemar ist da ! " verkündete sie .
" Da drinnen wird er von seinen Verehrerinnen gefüttert .
Das ist ein Anblick , den sie sich nicht entgehen lassen dürfen , Herr Bärtig ! "
Fritz verbeugte sich vor Fräulein von Lavan und folgte Annie .
Als sie das Eßzimmer betraten , bot sich ihnen ein eigentümlicher Anblick .
Am Tische saß Waldemar Heßlow , eine Serviette vorgesteckt , das Haar kühn aus dem großen Gesicht mit der Adlernase nach hinten gestrichen . Hochgerötet ; eines Kenners Auge hätte ihm angesehen , daß er eben erst abgeschminkt war .
Er kam von der Bühne , wo er eine seiner Renommierrollen , den Grafen Essex , gespielt hatte .
Hinter ihm , neben ihm , gegenüber : Damen , die froh waren , ihn bedienen zu dürfen .
Er aß und trank mit vollen Backen .
" Hier sind mir zu viele Gänse um einen Gänserich ! " sagte Frau Annie .
" Kommen Sie ins Rauchzimmer , Herr Bärtig . "
Sie fanden da die jungen Männer mit dem langen Haar ganz allein .
Sie saßen und schwiegen mit verdrossenen Mienen .
" Die armen Kerle ! " raunte Frau Annie Fritz zu , " der schöne Waldemar hat sie vom Eßtisch verdrängt . "
Dann hielt sie ein Dienstmädchen an und befahl ihr , Bowle und Gläser in dieses Zimmer zu bringen .
" Warum so düster , meine Herren ?
Ich kann die Trauerkerzen-Begräbnis-Stimmung nicht ausstehen .
Lassen Sie uns eine rauchen ! "
Dabei öffnete sie ein Wandschränkchen , holte Zigarren hervor und forderte die jungen Leute auf , sich zu bedienen .
Sie selbst zündete sich eine Zigarette an , und auch Fritz mußte eine nehmen .
Dann kam die Bowle .
Die Tochter des Hauses schenkte selbst aus und setzte sich zu den Langhaarigen , deren Gesichter sich vor den gefüllten Gläsern aufhellten ; den Rest von Weltschmerz vertrieb Frau Annie durch ihr Geplauder .
Endlich schien Waldemar Heßlow soweit gestärkt zu sein , daß er es unternehmen konnte , den » Sulla « vorzulesen .
Die Mutter des Autors ging durch alle Zimmer , um den Gästen dieses Faktum mitzuteilen .
Die jungen Leute im Rauchzimmer warfen noch einen wehmutsvollen Blick auf die Zigarren , welche von vorzüglicher Qualität waren .
Wie der Sulla ausfallen würde dagegen , schien sehr fraglich .
Aber die Frau des Hauses hatte befohlen , und niemand , am wenigsten die jungen Dichter , wollten es mit dieser mütterlichen Freundin verderben .
Man begab sich in den Salon zurück , wo inzwischen Stühle gestellt worden waren .
Waldemar Heßlow saß an einem kleinen Tischchen , flankiert von zwei silbernen Kandelabern , welche die Feierlichkeit des Anblicks erhöhten .
Hinter ihm lehnte der Autor , bereit , die Seiten des Manuskripts umzuwenden , die Arme verschränkt , die Stirn runzelnd , in einer Art Gladiatorenstellung , als sei er bereit , den Kampf mit der Bestie Publikum aufzunehmen .
Das Manuskript , das vor Heßlow lag , war bedenklich stark , wie Fritz mit einem schnellen Blicke konstatierte .
Erst ließ der Vortragende die Menge sich beruhigen .
Dann als kein Stuhl mehr gerückt wurde , kein Flüsterlaut mehr erklang , begann er :
" Sulla , Tragödie in fünf Akten , von Theophil Alois Hilschius . "
Fritz hatte richtig vermutet : fünf Akte , dazu ein Verzeichnis von einigen zwanzig handelnden Personen .
Und um das Maß voll zu machen :
Verse !
Fritz war wütend auf Weißbleicher , daß er ihn darauf nicht vorbereitet hatte .
Waldemar Heßlows Vorlesen war seines Spieles auf den Brettern würdig .
Er nutzte sein volles Organ aus , als habe er einen Saal auszufüllen und nicht ein mittelgroßes Zimmer .
Er war offenbar ganz in seinem Element .
Die jugendliche Phrasenhaftigkeit des Stückes gab ihm Gelegenheit , stolzklingende Tiraden mit dem gehörigen Pathos herauszuschmettern und sich im sentimentalen Tiefsinn langgedehnter Monologe zu ergehen .
Stück und Vortrag schienen nichtsdestoweniger der Zuhörerschaft zu gefallen .
Nach Schluß des ersten Aktes hörte man Weißbleichers öliges Organ :
" Vielversprechend !
Die Exposition klar , die Charaktere interessant angelegt , die Entwicklung fesselnd .
Sehr vielversprechend ! "
Frau Hilschius strahlte und sah sich voll Stolz um .
Schon wollte sich eine Unterhaltung hervorwagen ; aber Waldemar Heßlow deutete durch ein Räuspern an , daß er Aufmerksamkeit für den weiteren Verlauf der Tragödie erbitte .
Sulla , obgleich " Tatmensch " , besaß eine merkwürdige Neigung zu weitschweifigen Monologen , und verlängerte dadurch sein Leben und das Stück ungemein .
Fritz hatte schon wiederholt verstohlen gegähnt , sich dabei besorgt umsehend , ob etwa jemand das Verbrechen bemerke .
Aber die meisten Augen waren nach vorn gerichtet , wo zwischen den silbernen Kandelabern Waldemar Heßlow saß , unentwegt Jamben skandierend , während Theophil Seite um Seite umblätterte .
Fritz überlegte , daß er in der Nähe einer Tür sitze , die schwerlich verschlossen sein würde .
Er benutzte den Augenblick , wo Sulla den Befehl erteilte , dreitausend Gefangene niederzumetzeln , um , während ein Schauder bleichen Entsetzens über die Zuhörer ging , unbeachtet zu entkommen .
Gott sei Dank , er war draußen !
Unwillkürlich richteten sich seine Schritte nach dem Rauchzimmer .
Aber wie erstaunte er , als er hier in weißlichen Qualm gehüllt die beiden langhaarigen Kollegen antraf .
Vor ihnen stand die geöffnete Zigarrenkiste und die Bowle .
Beides machte einen ziemlich leeren Eindruck .
" Ist Sulla tot ? " fragte einer der Dichter teilnahmsvoll .
" Nein , er hat noch zwei und einen halben Akt zu leben , " war Fritzens Antwort .
" Wir sind schon nach dem ersten Akte gegangen .
Leider ist die Bowle alle , und Bier gibt es hier nicht .
Da wird es wohl das Beste sein , wir gehen . "
" Zu Sulla ? "
" Gottbewahre !
In ein Bierhaus natürlich .
Kommen Sie mit ? "
Die Dichter erhoben sich , nahmen die letzten Zigarren aus der Kiste , steckten sie ein und gingen .
Fritz Bärtig , vor die Wahl gestellt , den Sulla weiter über sich ergehen zu lassen , oder mit den Kollegen einige Nachtstunden zu verbringen , zog die gemeinsame Flucht vor .
* Am Tage darauf , als er mit Lehmfink im Café zusammentraf , erzählte Fritz dem Freunde von den Erlebnissen im Salon der Frau Hilschius .
Im Anschluß daran unterhielten sie sich über das schöngeistige Leben des Platzes , und Fritz äußerte die Ansicht , es sei doch erstaunlich , daß eine so große Stadt in ihren geistigen Interessen so völlig im Rückstand geblieben war .
Heinrich Lehmfink hielt sich lange genug am Orte auf , um übersehen zu können , welche Kräfte fördernd , welche hemmend am Werke seien , dem lokalen Geistesleben die Eigenart aufzudrücken .
Mittelmäßigkeit , behauptete er , sei hier das charakteristische Gepräge : in der Kunst , der Gesellschaft , der Politik .
Und dabei waren doch alle Vorbedingungen vorhanden , die eine große Entwicklung hätten hervorrufen können .
Herrliche Mittel : Schönheit der Natur , Reichtum , gute Vorbilder , alte Tradition .
Doch bei so viel Gunst der Verhältnisse fehlte eines : die Triebkraft des Bodens .
War dieses Erdreich vielleicht übersättigt ?
War die Kultur im Alter lendenschwach geworden , nicht mehr fähig zur Zeugung ?
Hatte dieses an sich begabte Volk schon zuviel verausgabt , war es jetzt in das Alter eingetreten der Beschaulichkeit , wo man lieber genießt und das Erworbene vorsichtig ordnet , statt sich noch einmal in den Kampf der Meinungen zu stürzen und alles aufs Spiel zu setzen ?
Oder lag es daran , daß durch den Gang der Weltereignisse der ganze Staat herabgezogen worden war von seiner ehemaligen Bedeutung auf ein niedriges Niveau ?
Mußte das nicht verhängnisvoll auf das Selbstgefühl jedes Einzelnen zurückwirken ?
Denn in dem verkleinerten , beschnittenen Terrain fehlte dem Strebsamen der Raum , sich auszubreiten ; von vornherein wurde dem Drang , sich hervorzutun , ein Dämpfer aufgesetzt , weil dem Läufer nur eine kurze Bahn vorgesteckt war .
Die Eigenart konnte sich nicht ausleben .
Die vielen , reichbeanlagten Naturen , die dieser intelligente Stamm hervorbrachte , wurden unterbunden in ihrer Entwicklung .
Oder sie wurden ganz verdrängt , gingen ins Ausland .
Der Fluch der Enge lag auf Stadt und Land .
Da die hohen Ziele genommen waren , da der Ausdehnung ins Weite ein Damm vorgelegt war , da die großen Aufgaben des deutschen Lebens , die in Angriff zu nehmen man ehemals sich zum Fluche versäumt hatte , von einer jüngeren , kräftigeren , skrupelloseren Nation gelöst wurden , zog man sich beleidigt auf sich selbst zurück , bearbeitete das kleine Gebiet , das einem gelassen worden war , mit peinlicher Sorgfalt , die zur Pedanterie und zur Zersplitterung edler Kräfte ausarten mußte .
Der ehemals freigewachsene Baum , in seinem Wipfel verschnitten , trieb eine buschige , zwerghafte Krone , in der ein Ästchen dem anderen Luft und Licht wegnahm .
Die äußere Lage des Staates wirkte auch auf die Kultur zurück .
Wie in der Politik ließ man die großen Fragen der Zeit in Kunst und Wissenschaft auswärts entscheiden , gewöhnte sich aber daran , über alles spießbürgerlich weise zu raisonieren und zu moralisieren .
Keine großen Ideen beschäftigten die Gemüter ; Ideal war : Gemütlichkeit , Bequemlichkeit in Ruhe genießen .
Jeden , der sie darin zu stören wagte durch Äußerung neuer Ansichten , blickten sie mißtrauisch , bedenklich von der Seite an und verdächtigten ihn , wenn sie unter sich waren , aufrührerischer Gesinnung halber .
Zwar gab es einen Hof , welcher den Brennpunkt bildete für die gute Gesellschaft ; früher war von hier , wenigstens für die Kunst , wiederholt segensreiche Befruchtung ausgegangen .
Aber jetzt war man da so ganz beschäftigt mit militärischen Dingen , mit konfessionellen Interessen und mit Rangfragen , daß für ein Mäzenatentum großen Stils Zeit nicht übrig blieb .
Die Kunst , welche einstmals dieser Stadt einen Kuß aufgedrückt hatte , der ihrem Angesicht unvergängliche Schönheit verlieh , war zu einem äußerlichen Zierat geworden .
Bei dem weiteren Aufbau , im Aufstellen von Monumenten , bei Errichtung öffentlicher Gebäude , wurde ein Abderitenstreich nach dem anderen begangen .
Selbst auf die Kunst übertrug der Spießbürger sein instinktives Grauen vor Eigenart .
Das Kunstwerk sollte " schön " sein .
Unter " schön " verstand er das , was ihn amüsierte , seine Neugier befriedigte , seine Sinne kitzelte .
Häßlich war das , was stark , neu , ungewöhnlich auftrat , zum Nachdenken zwang und den Menschen in seiner Verdauung störte .
Nur für Musik legte man viel Interesse an den Tag ; musikalisch zu sein , gehörte sogar zum guten Ton .
Diese Kunstbetätigung entsprach am meisten dem verschwommenen , gedankenlosen Phäakentum dieses genußfrohen Völkchens .
Hier machte man im Wagnerkultus sogar der Moderne seine Reverenz ; freilich erst nachdem sich der verstoßene Sohn dieses Landes auswärts den Freipaß eines berühmten Namens geholt hatte .
Denn vor allem , was weither kam , lag man auf der Nase .
In der Gesellschaft spielten Fremde die tonangebende Rolle .
Kein Wunder , daß sich der Ausländer wohl fühlte unter Menschen , deren verwaschene und schmiegsame Individualität es gelassen duldete , daß der Engländer sich unter ihnen stolz als Engländer , der Russe ungeniert als Russe suhlen und aufführen durfte .
Die öffentliche Meinung aber war mit diesen Zuständen durchaus zufrieden .
Es ging ja alles gut und glatt , man verdiente Geld , und - worauf man den höchsten Wert legte - die Gemütlichkeit wurde nicht gestört .
Die Presse schließlich machte diesen Ton mit ; denn wie lange wäre sie " maßgebend " geblieben , wenn sie den Leuten nicht das gesagt hätte , was sie gern hören wollten ! -
Heinrich Lehmfink war in seine schwäbische Heimat gereist , um , wie er sagte , Mutter und Schwester , die lange nichts von ihm gesehen hätten , wieder einmal aufzusuchen .
Die nächste Folge davon war für Fritz , daß sich im Café der Dichter Karol , alias Siegfried Silber , mit an seinen Tisch setzte .
Allerdings pflegte der kleine Mann pro forma noch immer zu fragen , ob es auch erlaubt sei , und jedesmal dankte er ausdrücklich für die Genehmigung ; doch wohl nur , um zu zeigen , daß er die Abweisung , die ihm einstmals widerfahren war , nicht vergessen habe .
Die langhaarigen jungen Leute , mit denen Fritz neulich gemeinsam aus der Sulavorlesung geflohen war , um mit ihnen dann noch ein paar Stunden im Bierhause Literatur zu schwatzen , verkehrten in demselben Café .
Dadurch , daß Fritz Bärtig sich mit ihnen grüßte , erfuhr Siegfried Silber , dessen Blicke so leicht nichts entging , und den keinerlei Verschämtheit hinderte , allem , was ihn interessierte , auf den Grund zu gehen , daß Bärtig im Hause der Frau Hilschius verkehre .
Diese Tatsache schien Silber sehr zu interessieren ; wiederholt kam er im Gespräche darauf zurück .
Wen man alles dort treffe , wollte er wissen , welche Art Person Frau Hilschius wäre , ob sie sehr reich sei .
Nach den fernliegendsten Dingen erkundigte er sich .
Schließlich mußte Fritz dem Wißbegierigen sogar den Roman borgen , den Frau Hilschius geschrieben hatte .
Bärtig konnte nicht lange im Zweifel darüber sein , was das zu bedeuten habe .
Silber wollte in den Salon der Frau Hilschius eingeführt sein .
Fritz lachte über den Ehrgeiz des kleinen Mannes .
Er selbst hatte es eigentlich verschworen , dort wieder hinzugehen .
Aber da Silber wirklich viel daran zu liegen schien , mit den Kreisen in Verbindung zu kommen , die bei der schöngeistigen Dame verkehrten , versprach Fritz die Einführung am nächsten Mittwoch zu bewerkstelligen .
Im letzten Augenblicke wurde ihm allerdings bange , daß Siegfried Silber mit seinem oft recht vernachlässigten Aufzug ihn dort blamieren könne .
Wie seine Manieren in Damengesellschaft sein mochten , wußte man auch nicht .
Als Fritz an das scharfe Mundwerk von Annie Eschauer und an die spöttische Miene von Fräulein von Lavan dachte , tat ihm sein Versprechen beinahe leid .
Aber schließlich erwiesen sich solche Befürchtungen als übertrieben .
Silber hatte reine Wäsche angelegt für diese Gelegenheit , und weder Frau Annie noch Hedwig von Lavan waren an diesem Mittwoche da .
Frau Hilschius war erfreut , einen " bekannten Autor " mehr in ihrem Salon zu begrüßen ; denn als solchen hatte Fritz Bärtig den Neuling eingeführt .
Nur Weißbleicher , der Patron des Hauses , rümpfte die Nase und meinte mit einem mißbilligenden Seitenblicke auf seinen Stammesgenossen :
" Solche Elemente " gehörten doch eigentlich nicht hierher .
Fritz konnte nicht finden , daß Siegfried Silber seine Rolle schlecht gespielt hätte .
Im Gegenteil !
Man mußte nur wissen , aus welchen Verhältnissen der Mensch stammte .
Hinter dem Ladentisch seines Vaters hatte er sicher keine Gelegenheit gehabt , sich gesellschaftlichen Schliff anzueignen .
Dies hier war sein erstes Debüt im Salon .
Dafür war die Sicherheit seines Auftretens erstaunlich .
Schnell hatte er sich über die Anwesenden orientiert .
Die Sterne zweiten und dritten Ranges ignorierte er , unterhielt sich nur mit Leuten , die etwas zu bedeuten hatten .
Mit dem Sohne des Hauses , Theophil Alois , freundete er sich an .
Als Fritz Bärtig gelegentlich an den beiden vorüberkam , klangen ihm große Worte über die " Zukunft der deutschen Literatur " in die Ohren , die einen " Heiland "brauche . -
Fritz war keinen Augenblick darüber im Zweifel , daß jeder der beiden Jünglinge sich selbst für diesen Heiland ansehe .
Als man aufbrach , hatte Silber die Genugtuung , daß ihn Frau Hilschius aufforderte , doch ja in Zukunft ihre Mittwoche mit seiner Gegenwart zu beehren .
Wenige Tage darauf erhielt Fritz durch Weißbleicher , mit dem er der Korrektur seines Romanes wegen jetzt öfters zusammen kam , eine Einladung von Frau Hilschius , bei ihr im intimen Kreise zu Mittag zu speisen .
Nur die Familie würde da sein , der Verleger selbstverständlich , und Professor Wallberg .
Fritz hatte diesen Namen schon wiederholt von Weißbleicher mit besonderer Betonung nennen hören , auch andere Leute , besonders die literaturbeflissenen Damen im Salon der Frau Hilschius hatten den Namen Wallberg mit einer gewissen Ehrfurcht und Scheu in den Mund genommen .
Fritz erkundigte sich daher , was es mit diesem Manne so besonderes auf sich habe .
Weißbleicher gab zur Antwort : Professor Wallberg sei eine " kritische Koryphäe " , ein Mann , von dem ein paar Zeilen genügten , einen jungen Autor berühmt zu machen .
Zwar gehöre der Professor der alten Schule an , aber - und das sagte der kundige Geschäftsmann mit bedeutungsvollem Augenzwinkern - wenn er an einem jungen Autor Gefallen finde , vor allem wenn er bei der Jugend auf das gehörige Maß von Bescheidenheit stoße , lasse er sich auch herbei , einen Vertreter der modernen Richtung zu lancieren .
Der Verleger deutete dann noch an , daß zwischen seinem Verlage und dieser Autorität Beziehungen zartester Natur bestünden , die seinen Autoren zu gute kämen .
Frau Hilschius empfing Fritz Bärtig mit großer Zuvorkommenheit , als er ihrer Einladung folgend mittags um zwei Uhr sich zu Tisch einfand .
Von Annie Eschauer wurde er mit der Vertraulichkeit einer alten Bekannten begrüßt .
Sie sei auf der Durchreise nach Karlsbad , erzählte sie , und da habe sie um dieses Diners Willen einen Tag zugegeben .
Während Fritz sich mit den beiden Damen unterhielt , saß Theophil Alois in einsamer Größe auf einem Hocker , Bein über Bein geschlagen , die Hand am Kinn , mit gerunzelter Stirn , düster , als wälze er den Plan zu einem neuen Sulla in seinem Haupte .
Bis ihn seine Stiefschwester durch die boshafte Frage , ob er das Lateinisch für morgen schon präpariert habe , zu einem mißmutigen :
" Unverschämtheit ! " veranlaßte .
Beleidigt verließ er das Zimmer .
Seine Mutter , deren Liebling er war , ging ihm nach , wohl um ihn zu trösten .
Annie lachte und meinte :
" Familienszene ! " -
Die Unterhaltung zwischen Annie und Fritz wollte eben intimer werden , als Weißbleicher kam .
Er setzte sich zu den beiden .
Professor Wallberg schien seine Bedeutung dadurch beweisen zu wollen , daß er warten ließ .
Endlich kam der große Mann und entschuldigte die Verspätung damit , daß er den Besuch eines auswärtigen Bühnenleiters - er nannte einen aristokratischen Namen - empfangen habe , der seine Ansicht über ein Theaterstück habe einholen wollen .
Er verweilte bei diesem Thema , wie es schien , nicht ungern , da es ihm Gelegenheit gab , noch andere glänzende Persönlichkeiten seiner Bekanntschaft namhaft zu machen .
Der Professor war ein großer , ehemals gewiß recht stattlicher Mann , mit weißem Vollbart .
Das noch ziemlich volle Haupthaar trug er ohne Scheitel einfach nach hinten gestrichen , wo es ihm in graugelben Strähnen bis tief ins Genick fiel .
Die Gesichtsfarbe war gleichmäßig rötlich .
Hinter der goldenen Brille lagen ein Paar graue Augen , aus deren Sprache man nicht recht klug werden konnte .
Im Knopfloch trug er eine Ordensrosette , die in vielerlei Farben erstrahlte .
Man ging zu Tisch .
Zunächst führte Professor Wallberg die Unterhaltung so gut wie allein .
Er sprach von Literatur , doch hatte alles , was er sagte , mehr oder weniger Bezug auf seine Persönlichkeit .
Er erzählte allerhand Anekdoten , zitierte Aussprüche berühmter Leute , die beweisen sollten , daß das literarische Leben der letzten Dezennien sich um einen einzigen Mittelpunkt drehe , um ihn .
Frau Hilschius hing bewundernd an den Lippen des großen Mannes , Theophil blickte verehrend zu dem grauen Haupt auf , selbst Weißbleicher , der sonst so beredte , schwieg , und dachte vielleicht über die " zarten Beziehungen " nach , die zwischen seinem Verlage und diesem Literaturpapst bestanden .
Einzig Frau Annie machte dem Professor hie und da durch eine Zwischenbemerkung ein wenig Opposition , die Wallberg jedoch abzuschwächen verstand , indem er alles , was Frau Eschauer äußerte , für " allerliebst amüsant " erklärte und durch diesen Freipaß den Pfeilen ihres Witzes von vornherein die Spitze abbrach .
An Fritz Bärtig hatte Professor Wallberg noch kein einziges Mal das Wort gerichtet , er nahm wohl stillschweigend an , auch in ihm einen Bewunderer zu besitzen .
Vielleicht um festzustellen , wes Geistes Kind der junge Mensch , der ihm von Frau Hilschius als Dichter und Verfasser eines demnächst erscheinenden Romans vorgestellt worden war , eigentlich sei , begann er von der modernen Jugend und ihren Bestrebungen .
Der alte Herr sprach sich nicht gerade freundlich aus über den Naturalismus .
Er nannte ihn die rohste Art der Kunstübung , ein Zurücksinken in den Zustand der Wilden , ohne die Urwüchsigkeit der Barbarei , vielmehr mit der perversen Raffiniertheit des fin de siecle verquickt .
Decadence und Naturalismus seien Erscheinungen , die sich gegenseitig bedingten .
Decadence erzeuge Naturalismus , und das mißratene Kind des Naturalismus wiederum sei die Decadence .
" Ach , so etwas Decadence zur Abwechslung ist gar nicht übel " meinte Annie .
" Die früheren Dichter sangen mir zuviel vom treuen deutschen Herzen , vom schönen Rhein , von Minne , Tugend und lauter solchen unmöglichen Sachen .
Es wurde einem dabei immer zu Mute wie nach Lindenblütenthee .
Da lobe ich mir die Jungen , die sind amüsanter .
Ich kenne einige Dichter der jüngsten Schule in Berlin , sie gehen bei uns ein und aus im Hause , und ich muß sagen , die Leute sind ganz charmant ! "
" Ein echt weiblicher Grund , deshalb die ganze Richtung zu loben , " höhnte der Professor .
" Aber mir , Gnädigste , gestatten Sie wohl , mich durch das meinetwegen noch so bestechende Äußere der jungen Autoren nicht beeinflussen zu lassen und der Sache etwas tiefer auf den Grund zu gehen .
Es handelt sich beim Naturalismus um mehr als eine bloße Mode ; eine Krankheit ist er , eine Seuche , welche die Geister befallen hat .
Moralische Verwilderung , krasser Nihilismus !
Nichts wird mehr anerkannt , es gibt keine Autoritäten mehr , jede Pietät fehlt , jeder Respekt .
Alles alt Bewährte , jede Tradition will diese Richtung vernichten und weiß doch nichts Neues an die Stelle des Alten zu setzen .
So handeln Menschen , die das moralische Gleichgewicht verloren haben und darum ihrer Sinne nicht mehr mächtig sind . " - Professor Wallbergs Stirn und Hals hatten sich dunkel gefärbt bis unter das gelbgraue Haar ; in fanatischem Hasse blitzten seine grauen Augen unter den Brillengläsern hervor .
" Mir kommt es vor , " fiel hier Fritz Bärtig ein , der Annie Eschauers Augen längst auf sich gerichtet sah mit der deutlichen Frage : » wirst du hierauf nichts erwidern ? « " mir kommt es vor , als handle es sich beim Naturalismus nicht um Erkrankung , sondern um den Anfang eines Gesundungsprozesses .
Die neueste Revolution in der Literatur ist mit Nichten ein Kind der Decadence , sie ist Reaktion , berechtigte Reaktion gegen Unnatur und Impotenz der vorigen Generation .
Der Naturalismus ist eine Notwendigkeit geworden und wird hoffentlich eine Erlösung werden .
Hätten wir ihn noch nicht , so müßte er erfunden werden .
Decadence ist eine Erscheinung des Gesellschaftslebens .
In diesem Sinne ist Decadence immer da , eben so gut wie es überall verbrecherische Menschen gibt .
Der Künstler wird einen solchen Wandlungsprozeß auf dem Gebiete der Sitten mit Interesse verfolgen , ihn eventuell auch verwerten ; im übrigen hat Kunst mit Moral nichts zu tun , und der Vorwurf der Immoralität , der so oft gegen uns erhoben wird , geht glatt am Ziele vorbei . "
Professor Wallberg blickte mit maßlosem Staunen auf den jungen Menschen , der es wagte , ihm in solcher Weise zu widersprechen .
Weißbleicher hatte , während Fritz sprach , versucht , durch Blicke und Worte ihm verständlich zu machen , er solle seine Zunge in Acht nehmen ; erfolglos !
Theophil saß mit offenem Munde da .
Annie aber , um deretwillen Fritz den hingeworfenen Fehdehandschuh eigentlich nur aufgenommen hatte , nickte ihm lebhaft beistimmend zu .
Frau Hilschius war besorgt um das gute Einvernehmen ihrer Gäste .
Sie wußte , daß der Professor Widerspruch nicht vertrage .
Darum machte sie den Versuch , das Gespräch auf ein anderes Gebiet zu lenken , begann von bildender Kunst zu sprechen und wiederholte dabei unbewußt einen Artikel , den sie am Morgen in einer bekannten Zeitschrift gelesen hatte .
Aber es dauerte nur wenige Minuten , da war man wieder bei der Literatur angelangt .
Der Professor hatte noch eine Anzahl Vorwürfe auf dem Herzen gegen die junge Richtung , die er sich von der Galle reden wollte , umsomehr , als dieser Fritz Bärtig , dessen Namen er vordem niemals gehört , ja nun das Visier gelüftet und gezeigt hatte , welcher Schule er angehöre .
Der Naturalismus sei im Grunde gar keine Kunst , behauptete Professor Wallberg .
Er verwische die Grenzen zwischen Handwerk , Wissenschaft und Kunst .
Die Empirie werde zum Götzen erhoben und die Schönheit von ihrem Throne gestoßen .
Fritz Bärtig erwiderte : der Naturalismus gehe auf Wahrheit aus und suche darum das Charakteristische auf .
" Nein ! " rief der alte Mann und blitzte ihn wütend über den Tisch an .
" Nein !
Die Entschuldigung kennen wir ; sie ist faul !
Unter dem Deckmantel Wahrheitsliebe wühlt ihr mit Behagen im Kehrichthaufen und sucht alles daraus hervor , was häßlich , schmutzig und ekelhaft ist . "
" Es gibt überhaupt keine Erscheinung des Lebens und der Natur , " sagte Fritz darauf , " die nicht für das überzarte , empfindliche Gemüt etwas Erschreckendes oder Abstoßendes enthält , ebenso , wie es nichts gibt , woraus die Lüsternheit nicht , wenn sie will , Kapital schlagen kann .
Schön und häßlich sind eben relative Begriffe , und liegen im Auge des Beschauers .
Die Kunst aber kann Erscheinungen wie Tod , Geburt , Geschlechtsleben , Krankheit nicht entbehren zur Darstellung , weil sie notwendige Teile des Lebens sind und weil sich die Natur darinnen am unmittelbarsten und stärksten offenbart .
Die Moderne ist nur mutiger , sie verwirft das Feigenblatt und sie ist auch ehrlicher ; Schminke , Schönheitspflästerchen und falsches Haar gehören nicht zu ihren Requisiten . "
In gereiztem Tone unterbrach ihn der Professor .
" Und das Ende wird sein , daß die Kunst im Wachsfigurenkabinett anlangt .
Es ist nicht nötig , Leichen darzustellen , noch weniger sie zu sezieren , das ist nur eine Spekulation auf die Nerven des Publikums .
Aber das ist es ja gerade : der Naturalismus will allen anderen Berufen ins Handwerk pfuschen .
Einmal führt er sich als Arzt auf , dann wieder geriert er sich als Nationalökonom .
Und was ist er im Grunde , wenn man ihn bei Lichte betrachtet ?
Photograph !
Gesteht es doch nur offen ein , daß ihr mit eurer Wirklichkeitstreue , mit dem Geschrei nach Wahrheit , auf eurer Suche nach menschlichen Dokumenten euch die Technik des Photographen zum Muster genommen habt , daß ihr im besten Falle Retoucheure seid , aber niemals frei schaffende Künstler ! "
" Den Vorwurf , daß wir die Wirklichkeit wieder zu Ehren bringen wollen , " erwiderte Fritz , der im Gegensatz zu dem Professor sich die Ruhe ziemlich gewahrt hatte , " glaube ich , können wir uns gefallen lassen .
Nicht das mechanische Reflektieren der Photographenplatte streben wir an , sondern die Objektivität des Auges , und die Treue der Hand im Wiedergeben .
Wir haben Ehrfurcht vor der Natur , wir wollen ihr dienen , ohne ihre Sklaven zu sein .
Die bengalische Beleuchtung , mit der die vorige Künstlergeneration so viel gearbeitet hat , verachten wir als Mache .
Wir beobachten und ergründen , statt wild darauflos zu fabulieren .
Die Naturwissenschaft hat uns die Methode realistischen Sehen_es und der Determinismus das logische Denken wieder gelehrt , die dem Künstler ganz abhanden gekommen waren . "
" Naturwissenschaft , Determinismus !
Behängt nur mit solchen Flicken eure krasse Nacktheit .
Der wahre Name für eure Weltanschauung ist Materialismus , Pessimismus , Nihilismus und für eure Schreibweise : Pornographie .
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen !
Mit Ekel , mit sittlichem und ästhetischem Ekel nur kann man eines eurer Bücher in die Hand nehmen .
Was soll man von einer Jugend erwarten , die nicht allein der Ideale bar ist , nein , die auch noch alles , was früheren Generationen heilig war , in den Kot hinabzieht ! "
" O , wir haben Idealismus !
Wir haben uns die schwierigere , die undankbarere , die gefährlichere Aufgabe gewählt .
Darin liegt unser Idealismus , daß wir den Mut haben , in die Schächte des Lebens hinabzusteigen , dort nach neuen Werten zu graben und in Tiefen zu leuchten , die bisher ängstlich vermieden worden sind .
Das erfordert mehr Kühnheit und Entsagung , als die grüne Wiese des Opportunismus abzugrasen .
Der Sieg ist auf unserer Seite , weil wir den Bedürfnissen der Zeit Rechnung tragen .
Die Zeit ist realistisch und schreit nach Realismus .
Ganz große Leute , wie Goethe , sind unsere Helfer . "
" Nun rufen Sie auch noch Goethe an , das ist wahrhaftig Blasphemie ! "
" Ich meine nicht den Geheimrat Goethe , ich meine den jungen Wolfgang , der hätte uns verstanden , der stünde , wenn er jetzt lebte , auf unserer Seite .
Und Goethe hat auch im Alter nicht Ach und Weh geschrien , wenn die Jugend über ihn hinausstürmte .
Nur das eingerostete Alter bildet ein Hindernis für die Entwicklung .
Da wird geklagt über Mangel an Pietät und die Jugend denunziert als unmoralisch .
Man soll uns nur einmal sagen , weshalb wir Respekt haben sollen vor der älteren Dichtergeneration !
Was hat sie uns denn für Vorbilder geschenkt ?
Sollen wir vielleicht den Professorenroman bewundern ?
Vom geschäftlichen Standpunkt aus mag der ja ganz einträglich sein ; denn von harmlosen Seelen werden diese Schmöker , die eigentlich nicht viel mehr sind als Indianergeschichten , ja um Weihnachten herum gern gekauft , aber mit Literatur . . . . . . "
Hier machte Weißbleicher so deutlich abwinkende Zeichen , während Frau Annie boshaft belustigt kicherte , daß Fritz merken mußte , daß er irgend einen delikaten Punkt berührt habe .
Er stockte .
An dem Ausdrucke schlecht verhehlten Zornes in den Mienen des Professors sah er , wen er mit seinen letzten Worten , ohne es zu wollen , schwer getroffen habe .
Peinliche Stille entstand .
Aus der allgemeinen Verlegenheit half diesmal Theophil Alois .
" Donnerwetter , es ist ja schon zehn Minuten nach drei Uhr ! " rief der Dichter des Sulla , dessen Blick auf die Pendule ihm gegenüber gefallen war .
Er sprang auf , warf noch einen wehmutsvollen Blick auf das Halbgefrorene , das eben herumgereicht wurde , und eilte von dannen .
Frau Hilschius aber benutzte diese kleine Episode , um endgiltig das klippenreiche Thema der zeitgenössischen Literatur von der Tagesordnung verschwinden zu machen .
Sie stimmte ein Klagelied an über die Einrichtung des Nachmittagsunterrichts und die Überbürdung der Gymnasiasten .
Den Kaffee nahm man in dem geräumigen Salon der Hausfrau ein , wo die Sulla-Vorlesung stattgefunden hatte .
Frau Hilschius , Weißbleicher und der Professor waren bald in ein eifriges Gespräch über die dichterische Zukunft des Wunderkindes Theophil vertieft .
Annie aber zog sich mit Fritz Bärtig in das kleine Boudoir nebenan zurück , in welchem sie schon neulich gesessen hatten .
Für Fritz war es ein eigentümliches Gefühl , einmal wieder nach gutem Diener eine importierte Zigarre zu rauchen und seine Füße auf dem Gewebe eines echten Persers auszustrecken .
Annie Eschauer lag bequem im Schaukelstuhle zurückgelehnt und wiegte ihren üppigen Körper langsam in einem gewissen Rhythmus auf und ab .
Ihre kleinen , weißen , runden Hände mit den vielen bunten , glitzernden Steinen lagen in unruhigem Spiel bald in ihrem Schoße , bald auf den geschwungenen Lehnen des Stuhles , bald hantierten sie mit einem niedlichen Dolch , der auf einem niedrigen Tischchen neben ihr lag .
Sie hatte etwas von einem niedlichen Kätzchen , in ihrer lässigen Ruhe , wie sie Fritz jetzt , ohne das rhythmische Schaukeln zu unterbrechen , mit unbestimmbar schillernden Augen von der Seite ansah , befriedigt lächelte und nach einer Weile behaglicher Betrachtung seiner ganzen Erscheinung sagte :
" Wissen Sie , Herr Bärtig , Sie gefallen mir eigentlich heute noch besser als neulich .
Vorhin , wie Sie es dem alten Professor gegeben haben , das war allererster Klasse .
Wußten Sie eigentlich , daß der gute Mann einen Roman geschrieben hat , der im alten Phönizien , Assyrien oder so wo spielt , auf den er sehr stolz ist ? "
" Nein , ich wußte es nicht .
Aber aus seinem Gesicht schloß ich dann allerdings , daß ihm die Lorbeeren von Ebers keine Ruhe gelassen haben mochten .
Unhöflich zu sein gegen einen Gast Ihrer Frau Mutter , lag mir gänzlich fern . "
" Ach , es schadete gar_nichts !
Ich habe mich ja gekugelt !
Es war höchste Zeit , daß der alte , eingebildete Bonze es einmal richtig gesagt bekam .
Diesem Manne wird sonst niemals widersprochen .
Alle haben sie Angst vor ihm ; er ist ja hier vereidigter Sachverständiger ! "
" Ich fürchte , ich werde es auszubaden haben , " erwiderte Fritz , " daß ich eine eigene Ansicht zu besitzen wage .
Ich habe es dem Herrn Professor wohl angesehen , er dachte bei sich :
Komme du mir nur Mal unter die Finger ! -
Mein armes Buch wird er böse zerpflücken . "
" Ihr neues Buch !
Ihr Roman ! -
Weißbleicher hat mir schon den Titel verraten .
Vielversprechend !
- Ich bin kolossal neugierig !
Erzählen Sie mir doch was von dem Inhalt ! "
" Das kann ich nicht , gnädige Frau ! "
" Ist es so unpassend ? "
" So hatte ich es nicht gemeint .
Ich habe geradezu eine Scheu davor , von meinen Sachen zu sprechen ; es macht mich verlegen . "
" Sie sind ein sonderbarer Mensch , eine ganz eigentümliche Mischung von - na , ich will Sie nicht eitel machen !
Es wäre mir wirklich interessant , hinter Ihre Geheimnisse zukommen ; denn Sie haben welche , das sehe ich Ihnen an , gerade weil Sie so unschuldig tun . -
Sagen Sie Mal , Herr Bärtig , was wollen Sie eigentlich in diesem Nest ?
Sie gehören doch nach Berlin ! "
Fritz erzählte ihr in Kürze , was ihn von Berlin weggetrieben habe ; als äußerer Anlaß , der Mißerfolg seines Stückes , und als tieferer Grund , sein Wunsch nach Einsamkeit .
Das berliner Treiben sei ihm völlig unerträglich geworden .
" Unsinn ! " rief Annie und richtete sich aus ihrer lässigen Haltung auf .
" Sagen Sie mir gegen Berlin nichts !
Berlin ist der einzige Ort , wo man lebt .
Ich würde es in einer anderen Stadt überhaupt nicht aushalten .
Hier zum Beispiel komme ich mir vor , wie so ein Fischchen , das im Glasballon der guten Stube steht , immerfort im Kreise herumschwimmen muß und mit Semmel gefüttert wird .
In Berlin , da ist man im Strome .
Unter Umständen geht es Mal ein bißchen bunt zu ; aber das ist doch gerade das Aufregende .
Was ist denn weiter dabei , mit einem Theaterstücke durchfallen !
Versuchen Sie es noch einmal !
Vielleicht gibt es zur Abwechslung einen Schlager .
Auf der Börse wechselt auch , heute macht einer Pleite , zum ultimo hat er eine feine und kommt wieder obenauf . "
" Ich bin hierher gegangen , mich zu sammeln , Ruhe zu haben für eine große Arbeit . "
" Schön !
Jetzt ist ihr Roman fertig .
Nun kommen Sie nach Berlin zurück !
Wenn es überhaupt ein Erfolg sein soll , kann er nur dort kreiert werden .
Man wird es in Berlin sehr ungewöhnlich finden , daß Sie es ein Jahr lang im Exil ausgehalten haben ; wunderweiß welche Erlebnisse werden Ihnen angedichtet werden .
Sie werden der interessante Mann , womöglich der Clou sein der Saison . "
" Gerade dem habe ich entfliehen wollen , diesem schnellen Auf-den-Schild-erhoben- werden .
Was nützt mir die Berühmtheit eines Monats , wenn ich mit einer ernsten Arbeit unbemerkt bleibe . "
" Man wird Sie nicht in der Versenkung verschwinden lassen , diesmal nicht !
Dafür stehe ich Ihnen ! " rief Annie Eschauer mit einem Blicke , der es ihm heiß und kalt überlaufen machte .
" Kommen Sie nach Berlin !
Wozu hat man seine Verbindungen !
Bei uns verkehren die ersten Leute der Bühne und der Presse .
Es kostet mich ein paar Federstriche , und ich verschaffe Ihnen die Bekanntschaft von wem immer Sie wollen .
Schreiben Sie ein Stück , es soll angenommen werden ; ich setze Kopf und Kragen daran .
Es hat Ihnen bisher offenbar nur jemand gefehlt , der sich Ihrer angenommen hätte .
Dichter sind unpraktisch , brauchen Bemutterung .
Mit Schüchternheit kommt man in Berlin freilich nicht weit .
Und wer nun gar in der Provinz lebt , ist ein toter Mann .
Noch soviel Talent mögen Sie entwickeln , gemacht können Sie nur in Berlin werden .
Also nächsten Herbst auf Wiedersehen !
Ich zähle bestimmt auf Sie . "
Fritz gab keine Zusage , er sagte aber auch nicht : nein .
Wer längere Zeit berliner Luft geatmet hat , den befällt von Zeit zu Zeit eine Sehnsucht nach dem nicht immer gefälligen und gemütlichen , aber jederzeit starken Leben dieser wunderlichen Stadt .
Und gerade Annie Eschauer war die richtige Person dazu , Fritz die Stadt , der er grollte , die er im geheimen aber doch liebte , ins Gedächtnis zu rufen .
Annie mit ihrer kecken Lebendigkeit , ihrem schnellen Erfassen und Urteilen , ihrem unverfrorenen Witz , war im Guten und Schlechten eine Repräsentantin des Geistes und Tones , der nur im Tiergartenviertel gedeiht .
Es war Berlin selbst , das seine Hand nach ihm ausstreckte .
Mit diesen sinnlichen Lippen , die gleich schnell zum Kusse wie zu einer schnodderigen Bemerkung bereit waren , mit diesen ebenso begehrlichen wie kühl beobachtenden Augen , die so ungeniert dreinblicken konnten , lockte » Berlin W « den Ungetreuen in seine Arme zurück .
Die körperliche Nähe dieser Frau beunruhigte ihn stärker , als er für gut befand , sie merken zu lassen .
Ihr üppiger Wuchs war ein Appell an die Sinne , die ganze Person umschwebte eine unbestimmte , schwüle Atmosphäre von Wollust .
Sie brauchte nichts zu sagen , nichts zu tun , nur wie jetzt das Auge mit seinem unruhig flackernden Glanze unter den schweren , verschleiernden Lidern auf ihn zu richten , und hundertfältige Versuchung wurde in ihm aufgeregt .
" Also , Sie kommen , nicht wahr ? "
" Nein , gnädige Frau , es geht nicht ! "
" Warum nicht ? "
" Ich bin gebunden . "
" Gebunden - wodurch ?
Ein junger Mensch wie Sie , unverheiratet !
Wenn Sie noch Familienvater wären - aber so !
Oder fesseln Sie etwa zarte Bande , von denen man nichts wissen darf - he ? "
Ihr Blick hatte für einen Augenblick etwas Lauerndes ; aber im Nun lächelte sie auch schon wieder .
" Seien Sie offen , sagen Sie mir , was mit Ihnen ist , Herr Bärtig !
Sehen Sie , ich will auch ganz ehrlich sein .
Ihre Einladung zum heutigen Mittagessen habe ich veranlaßt .
Ich wollte Sie gern noch einmal sprechen , ehe ich nach Karlsbad reise ; denn ob wir uns im Laufe dieses Sommers sehen werden , ist fraglich .
Ihr Schicksal interessiert mich .
Ich glaube , daß es Ihnen nicht gut ergangen ist in der letzten Zeit ; man sieht Ihnen das an .
Gibt es gar_nichts , womit man ihnen zu Hilfe kommen könnte ?
Sie brauchen deshalb noch nicht diese stolze Miene aufsetzen .
Es liegt kein Grund vor , beleidigt zu sein . "
" Ich danke Ihnen , gnädige Frau ! " sagte Fritz , dem die letzte ernüchternde Wendung des Gespräches die volle Beherrschung seiner Gefühle wieder gegeben hatte .
" Ich brauche nichts !
Meine äußere Lage ist geordnet .
Ruhe zur Arbeit ist alles , was ich nötig habe , und die finde ich hier eher als in Berlin . "
" Ach , Sie sind langweilig mit Ihrer Ruhe zur Arbeit ! -
Na , vielleicht ändert sich einmal was in Ihrem Leben .
Wenn Sie jemals in die Lage kommen sollten , Hilfe zu brauchen , dann , das bitte ich mir aus , kommen Sie zu mir .
Und darauf geben Sie mir Mal Ihre Hand !
" Wie kann ein Mann nur solch feine , schlanke , zarte Hand haben ! "
- - * * * Fritz Bärtig hatte sein Fräulein von Lavan gegebenes Versprechen , ihr den Balzac zu bringen , nicht vergessen .
Er packte die kleinen , schon ein wenig vergilbten Bände eines Tages zusammen und machte sich damit auf den Weg .
Es lag ihm daran , angenommen zu werden , denn die kurze Unterhaltung neulich hatte ihn begierig gemacht auf mehr .
Darum bemühte er sich , das öffnende Mädchen darüber aufzuklären , daß er kein Handlungsreisender sei , oder sonst eine Persönlichkeit , die man so schnell wie möglich los zu werden sucht .
Doch war das in diesem Falle gar nicht nötig ; das runde Gesicht der drallen Person erstrahlte verständnisvoll , als er seinen Namen nannte .
Das Fräulein lasse bitten , hieß es .
Um einem leicht möglichen Mißverständnis vorzubeugen , erklärte Fritz noch besonders , daß er nicht zu den Damen Tittchen wolle , sein Besuch gelte lediglich Fräulein von Lavan .
Die Vertraulichkeit der Zofe verstärkte sich noch , diskret lächelnd erklärte sie : Fräulein Hedwig habe Auftrag gegeben , Herrn Bärtig , sobald er komme , zu ihr zu führen .
Fritz betrat mit seinem Paket in der Hand ein schmales , einfenstriges Zimmer .
Hedwig von Lavan erhob sich von ihrem Platze am Schreibtisch , schritt auf ihn zu , blickte ihm wie einem Bekannten ruhig und frei in die Augen und reichte ihm die Hand .
Dann bat sie ihn , Platz zu nehmen .
Sie selbst ging an den Schreibtisch zurück und öffnete dort das Paket , das er ihr überreicht hatte .
Er betrachtete sie , wie sie da stand und einen der kleinen Bände nach dem anderen aufschlug , um die Titel zu lesen .
Sie trug heute ein eng anliegendes Kleid von grauem Herrentuch , ohne jeden Ausputze und Schmuck , das in seiner Knappheit die Knabenhaftigkeit ihrer Figur bis zur Sprödigkeit hervortreten ließ .
Von dem hohen , dunklen Halskragen hob sich das Profil des blassen Gesichtes und die mattblonden Flechten der lockeren Frisur unendlich fein und duftig ab .
Es lag nichts von kindlicher Neugier in der Art , wie sie die Bücher durchblätterte und hie und da eine Zeile überflog , eher der gesetzte Ernst des Forschers ; jener Ausdruck der Sachlichkeit , der Fritz schon neulich als etwas Besonderes an ihr aufgefallen war , weil man ihn nicht bei dieser Jugend suchte .
Fritz wollte ihr Rat geben , in welcher Reihenfolge sie Balzacs Romane am besten lese , um Verständnis zu gewinnen für das imposante Lebenswerk dieses Schriftstellers .
" Wissen Sie , Herr Bärtig , " meinte Hedwig , " mir kommt es gar nicht auf das literarische an bei einem Buche ; mich interessiert der Mensch .
Welche Stellung die Literaturgeschichte einem Autor anweist , ob er berühmt ist , ob seine Sachen Standard Works sind , das hat mich immer ganz kalt gelassen .
Mir ist niemals Ehrfurcht vor den Klassikern eingeflößt worden ; ich habe nämlich in meinem ganzen Leben keine einzige Literaturstunde gehabt . "
" Sie Beneidenswerte !
Niemals haben Sie ein Schillarsches Gedicht auswendig lernen müssen ? "
" Niemals !
Mit meiner Schulbildung ist es überhaupt sehr mangelhaft bestellt .
Jede höhere Tochter würde mich schlagen in den Elementarfächern . "
" Wie haben Sie es denn fertig gebracht , den Argusaugen des Schulinspektors zu entgehen , gnädiges Fräulein ? "
" In den Ländern , wo ich meine Kindheit verlebt habe , gibt es dergleichen nicht .
Das Beste , was ich weiß , habe ich vom Fenster des Eisenbahncoupes aus gelernt .
Wenn wir reisten , hatte mein Vater Zeit , sich mit mir abzugeben .
Er war ein Anreger , wie ich keinen zweiten gekannt habe , ganz ohne Methode sein Unterricht .
Bunt , lustig und interessant wußte er alles zu gestalten , und man lernte spielend bei ihm .
Das Übrige habe ich mir aus Zeitungen und Büchern zusammengelesen . "
Sie räumte jetzt die Bücher zusammen , die auf ihrer Schreibtischplatte lagen , legte einen Band Balzac besonders , schloß die anderen weg .
Dann setzte sie sich Fritz gegenüber .
Er war wieder überrascht durch die Geschlossenheit ihres Wesens .
Wo hatte das junge Ding , dessen Haut die Farbe trug der unangetasteten Knospe , diese überlegene Ruhe her , dieses trockene Selbstbewußtsein ? -
Es war so gar_nichts von Pose an ihr , jedes Wort , jede Handlung schien selbstverständlich und originell .
» Es muß sehr viel gutes , altes Blut in ihren Adern rollen « , dachte Fritz bei sich .
Er fragte sie nach ihren Eltern .
Bereitwillig erzählte sie ihm die Geschichte ihres Vaters und damit gleichzeitig die ihre .
In knapper , charakteristischer Art gab sie nur das Wichtige , alles Detail der Ausmalung des Hörers überlassend .
Herr von Lavan war in den fünfziger Jahren österreichischer Offizier gewesen .
Eines Ehrenhandels wegen , der für ihn einen ungünstigen Verlauf nahm , mußte er den Abschied nehmen .
Er ging nach Amerika .
Drüben nahm er am Bürgerkriege Teil , focht auf Seiten der Union , wurde verwundet und in Gefangenschaft geschleppt .
Nach Beendigung des Krieges fand er im Buchhandel Unterkunft , verdiente sich ein Vermögen , heiratete eine Deutsche .
Ein Zeitungsunternehmen , das er ins Leben gerufen , wurde von den politischen Gegnern zu Grunde gerichtet .
Herr von Lavan büßte sein Erworbenes wieder ein .
Die Gattin starb wenige Jahre nach Schließung der Ehe .
Er ging mit der kleinen Hedwig , seinem einzigen Kinde , nach Europa zurück .
Von einem Orte zum anderen reiste das Paar .
Herr von Lavan verwertete jetzt seine ungewöhnlichen Erfahrungen und seine große Belesenheit publizistisch .
Er war inzwischen Sechziger geworden , und seine Gesundheit begann schwankend zu werden .
In Mentone , wohin er sich begeben hatte , um sich von schwerer Niederlage zu erholen , lernte er die Schwestern Tittchen kennen und verlobte sich mit Amanda .
Aber nur von kurzer Dauer war der Brautstand .
Infolge einer Erkältung erkrankte Herr von Lavan zu Tode .
Auf dem Sterbebette übergab er seine Tochter der Fürsorge ihrer jetzigen Pflegemütter .
Das einzige , was er dem Kinde hatte hinterlassen können , war ein Manuskript , seine Memoiren enthaltend .
Fritz Bärtig erkundigte sich , ob diese Memoiren in früherer oder späterer Zeit veröffentlicht werden sollten .
Vielleicht würde Fräulein von Lavan selbst die Herausgabe übernehmen , meinte er .
Hedwig erklärte , diese Absicht liege ihr ganz fern ; die Aufzeichnungen ihres Vaters seien intimster Natur .
" Handelt es sich darin um Politik ? " erkundigte sich Fritz .
" O nein , um Politik ganz und gar nicht !
Es sind Bekenntnisse .
Tante Amanda war schon außer sich , als sie nur ein paar Seiten davon gelesen hatte . "
Bei diesem Worte sah Fritz heute zum ersten Male das spöttische Lächeln auf ihren Lippen erscheinen , das er schon kannte .
" Und dabei versteht Tante Amanda nicht einmal französisch !
Mein Vater hatte die Gewohnheit , vieles französisch zu formulieren .
Deutsch , sagte er , sei für gewisse Gedanken zu grob . -
Manches ist auch in Briefform geschrieben , an eine Freundin gerichtet .
Daß diese Freundin nur eine fingierte Person sei , wollte Tante Amanda nicht glauben .
Wenn ich nicht gerade dazu gekommen wäre , als sie das Paket in den Herd steckte , wäre alles zu Asche verbrannt .
Sehen Sie , hier habe ich noch ein Andenken davon !
Es ist jetzt ein halbes Jahr her . " - Sie streifte den Ärmel an ihrem dünnen Ärmchen ein wenig empor und zeigte ihm einen rötlichen Streifen , der über das weiße Fleisch vom Handgelenk aufwärts lief .
" Dadurch sind die Blätter nun doppelt mein geworden , " fuhr sie fort .
" Ich würde sie niemandem lassen , niemandem !
Wenn ich sie veröffentlichen wollte , könnte jedermann sie lesen .
Und ich glaube , die anderen Menschen würden auch nicht viel gescheiter urteilen , als Tante Amanda .
Ich bin froh , daß ich das ganz und gar für mich habe . "
Sie sagte das mit verächtlichem Stolz .
Fritz bemerkte ein schwaches Erröten in ihrem Gesicht , wie ein leichter Hauch über einen Spiegel geht und im Nun wieder verschwindet .
Dann schlug sie eine ganz neue Tonart an .
" Sie müssen meine Tanten sehen , Herr Bärtig !
Es sind liebe , alte Dinger !
Ich habe beide recht gern .
Außerdem würden die Guten sehr gekränkt sein , wenn sie erführen , daß ich Besuch gehabt , den ich ihnen unterschlagen hätte .
Beide sind sehr verlegen , aber auch sehr neugierig . "
Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer .
Man betrat einen größeren Raum , in welchem , da die Rollläden herabgelassen waren , Halbdunkel herrschte .
Die Möbel standen unter Kappen von hellem Stoff .
Sie durchschritten die kalte Pracht des Salons und kamen jenseits in ein kleineres , bewohntes Zimmer .
Hier saß die ältere der beiden Schwestern : Ida .
Sie war mit Näherei beschäftigt , hatte die Brille auf der Nase und fuhr erschreckt zusammen , als Hedwig plötzlich mit einem fremden Herrn eintrat .
Fritz sagte , daß er schon die Ehre gehabt habe , und Hedwig erklärte , wer Herr Bärtig sei .
Aber Tante Ida packte in größter Verwirrung ihr Nähzeug zusammen , flüsterte dem jungen Mädchen etwas ins Ohr , wackelte zur Tür und verschwand .
Hedwig erklärte lachend :
" Sie will Amanda fragen , was nun zu geschehen hat .
Tante Amanda ist nämlich unser Orakel .
Sie ist um ganze drei Jahr jünger als Ida , und darum in Idas Augen ein halbes Kind .
Amanda darf das nicht machen und jenes nicht anziehen , weil es sich für ihre Jugend nicht schickt .
Ida hält ihre Schwester für eine Schönheit .
Abends darf das verführerische Wesen nicht allein auf die Straße gehen .
Amanda ist leidend .
Ida und der Hausarzt haben ihr das eingeredet .
Der größte Teil des Tages geht in Beratungen hin , was Amanda essen und trinken darf , ob man ausgehen soll oder ausfahren , welches Mittel heute eingenommen werden muß .
Das ist das Leben , das wir hier führen . "
" Und wie fahren Sie dabei ? "
" Ich - ganz gut !
Die Tanten sind so sehr mit sich beschäftigt , daß ich ziemlich machen kann , was ich will .
Manchmal wollen sie mir verbieten , dieses oder jenes Buch zu lesen ; aber ich verschaffe es mir einfach .
Auch über die Toilette machen sie mir Vorschriften , die ich nur beachte , wenn sie mir passen .
Es läßt sich schon mit ihnen auskommen .
Vor den » feinen Manieren « haben sie einen Riesenrespekt .
Ihre Jugend müssen sie in ganz beschränkten Verhältnissen zugebracht haben ; erst als beide alt waren , ist ihnen durch den Tod von entfernten Verwandten eine Menge Geld zugefallen .
Das hat sie etwas aus dem Gleichgewicht gebracht .
Nun möchten sie von dem Mammon doch auch Spaß haben ; wissen aber nicht recht , wie das anfangen .
Haben Sie den Salon nebenan bemerkt ?
Alles fix und fertig zu Gesellschaften .
Aber die Tanten kennen fast niemanden .
Mir ist das sehr lieb .
Auf diese Weise werde ich nicht gestört .
Ich will nur solche Menschen sehen , die mir gefallen . "
Fritz hätte sie gern gefragt , welche Auserlesenen ihr denn gefielen :
Waldemar Heßlow vielleicht ?
Ob er selbst sich dazu rechnen dürfe ?
Aber jetzt kamen die Tanten .
Neulich im Salon der Frau Hilschius hatte Fritz in Ida und Amanda Tittchen nichts gesehen , als zwei alte Jungfern , die sich aufs Haar glichen , heute , durch die mokanten Bemerkungen Hedwigs aufmerksam gemacht , sah er den Unterschied zwischen den Schwestern genauer .
Ida war das Aschenbrödel .
Amanda putzte sich ; man sah_es ihr an , daß sie sich schonte , sich nichts abgehen ließ an gutem Essen und Ruhe .
Ein Spitzenhäubchen mit buntem Bande gab ihrem geröteten Gesicht sogar den Anflug einer gewissen Koketterie .
» Amanda ist vor dreißig Jahren wahrscheinlich gar_nicht so übel gewesen « , dachte Fritz bei sich .
Sie starrten ihn beide mit großen , runden Vogelaugen neugierig an .
Ein Mann , der Bücher schrieb , war für sie ein Wundertier .
Sie verstünden beide sehr wenig von Kunst , erklärte Ida ; aber nun hätten sie durch Frau Hilschius eine Menge berühmter Leute kennen gelernt .
Fritz hütete sich wohl , die rührenden alten Dinger über die Bedeutung von Dichtern , wie Theophil Hilschius oder die Verfasserin der » Efeuranken « aufzuklären .
Auch als Amanda von Waldemar Heßlow als einem der ersten Heldendarsteller der Gegenwart sprach , zuckte er nicht mit der Wimper .
Sie waren begeisterte Theaterfreunde .
Gleich beim Eintreten hatte Fritz die Photographien verschiedener lokaler Bühnengrößen in den Kostümen ihrer Paraderollen auf dem Vertiko stehen sehen .
Der schöne Waldemar war mehrfach vertreten .
Mit Stolz erzählte Ida , daß Herr Heßlow ihnen schon zweimal die Ehre gegeben , bei ihnen zu Mittag zu speisen ; und Amanda korrigierte die Schwester dahin , daß es schon dreimal gewesen sei .
Hedwig , auf die Fritz blickte , begierig zu sehen , wie sie sich dazu stelle , saß mit dem unschuldigsten Kindergesicht dabei , als sei sie nicht imstande , ein Wässerchen zu trüben .
War sie nicht wie ein Wesen aus anderer Welt in dieser spießbürgerlichen Umgebung ?
Merkwürdig launisch hatte das Schicksal gewaltet , als wolle es einen kapriziösen Streiche machen , da es dieses fremde Vögelchen in das Nest der alten Jungfern legte .
Als Fritz sich zum Gehen anschickte , tuschelten die beiden Schwestern eifrig zusammen .
Er ahnte , daß es sich um eine Einladung handelte .
Keine von beiden wollte sprechen , eine schob es der anderen zu .
Endlich faßte sich Ida , als die ältere , ein Herz , trat verlegen errötend vor Fritz hin und bat ihn , am nächsten Sonntag Mittag einen Löffel Suppe bei ihnen einnehmen zu wollen . * * * Seit einigen Tagen gastierte eine Truppe aus Süddeutschland an dem zweiten Theater der Stadt .
Fritz Bärtig hatte wohl die Berichte der Zeitungen gelesen , die voll des Lobes waren über die Leistungen der Gäste , doch fühlte er wenig Lust , sie mit eigenen Augen zu sehen .
Das Repertoire mit seinen derben Volksstücken im Bauerndialekt war nicht nach seinem Geschmack .
Aber eines Morgens schrieb ihm Lehmfink , der inzwischen von seiner Reise zurückgekehrt war , ein paar Zeilen :
er habe eine Parkettloge genommen , Fritz und Alma müßten unbedingt abends seine Gäste sein für die Vorstellung .
Er kenne die Truppe , es werde frisch und charakteristisch gespielt ; das harmlos lustige Stück aber werde ganz etwas für Fräulein Lux sein .
Eine so freundliche Einladung war nicht abzulehnen .
Er sagte Alma , sie möge ihre Toilette für den Abend in Stand setzen .
Das Stück , das man sah , war ein ländlicher Schwank , mit eingelegten Chören und Couplets .
Das beste daran blieb die Keckheit , mit der Typen aus dem Volksleben in wenigen drastischen al Fresko-Strichen festgelegt waren .
Alma und Fritz saßen auf den Vorderplätzen der Parkettloge , während Lehmfink hinter ihnen Platz nahm .
Alma hatte sich allerliebst herauszuputzen verstanden .
Fritz staunte selbst ; was solch ein Mädchen doch , wenn es darauf ankam , aus sich zu machen wußte ! -
Mehr als ein Operngucker wurde auf sie gerichtet .
Heinrich Lehmfink hatte mit der Wahl dieses Stückes gerade das Richtige für Almas Geschmack getroffen .
Die Moral der Dichtung war handgreiflich .
Das Böse , das anfangs zu triumphieren schien , bekam später die gerechten Rutenstreiche zu kosten .
Alma äußerte ungeniert die Empfindungen , welche die drastischen Vorgänge auf der Bühne in ihr auslösten .
Jede komische Szene entfesselte ihr herzliches Lachen , jede ernstere Stelle machte sie traurig , ja , rührte sie zu Tränen .
Wiederholt drückte sie Fritzens Hand , um ihm zu verstehen zu geben , wie tief ergriffen sie sich fühle , um sich gleich darauf , wenn es etwas Lustiges gab , zu Lehmfink zu wenden und ihm den lachenden Mund und ein strahlendes Augenpaar zu zeigen .
In den Pausen saß sie dann ganz verträumt da , wie ein Kind , das sich aus den Wundern eines eben angehörten Märchens nicht wieder in die Nüchternheit des Alltags zurückfinden kann .
Als die große Pause kam , ging Fritz zum Büfett , ein Glas Bier zu trinken , während Lehmfink bei Alma in der Loge blieb .
Fritz stand da , sein Glas in der Hand , und blickte gelangweilt auf die nichtssagenden Gesichter des vorüberwandelnden Publikums , als sich ein kleiner Herr mit dunklen Augen und spitzem Bart von dem Zuge trennte und auf ihn zu kam .
" Sie hier , Silber !
Ich habe Sie doch gar nicht bemerkt . "
" Aber ich Sie !
Freilich sitze ich nicht so vornehm .
Ich habe meinen Rezensentenplatz im Parkett . "
" Wie gefällt Ihnen das Stück ? "
" Etwas völlig Unliterarisches ist zur Abwechslung auch nicht übel .
Übrigens will ich nur gestehen :
ich habe schlecht aufgepaßt ; das macht die Nähe Ihrer Loge . "
Fritz begriff nicht sofort , was er meine , und sah ihn befremdet an :
" Unserer Loge ? "
- " Lieber Bärtig ! " sagte Siegfried Silber vertraulich und verzog den Mund zu einem faunischen Lächeln , " Ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen .
Sie sind ein glücklicher Schatzgräber !
Das ist eine Barre echten Goldes , die Sie da gehoben haben .
Ein unverfälschtes Stück Natur !
Ursprünglichste , lieblichste Natur .
Diese Frische , diese köstliche , naive Unmittelbarkeit ! -
Nur allein solches Lachen zu hören , dieses goldige Lachen , ist wie ein Jungbrunnen für die Seele .
Noch einmal , meinen aufrichtigsten Glückwunsch . "
Fritz war verlegen , er wußte im Augenblick wirklich nicht , wie er sich verhalten sollte .
Er schwankte zwischen einem Gefühl starken Unbehagens über Silbers Zudringlichkeit und der Belustigung über die Ekstase des kleinen Mannes .
Und schließlich schmeichelte die Bewunderung für Alma doch auch seinem Besitzerstolz .
" Ich ahnte es ja längst ! " fuhr Silber fort , während sie im Foyer auf und ab schritten , " es ist etwas Wunderbares mit diesen Dingen ; der Instinkt sagt es einem , ob ein Mann ein Liebling ist der Frauen .
Für das Auge des Kenners webt Frauenliebe eine Gloriole um das Haupt dessen , den sie erwählt .
Ich fand diesen Widerschein eines heimlichen Glückes sofort heraus an Ihnen , als wir uns kennen lernten .
Und heute sehe ich , daß ich mich nicht getäuscht habe .
Sie legen mir doch meine Worte nicht als Unbescheidenheit aus , lieber Bärtig ?
- Ich bin meiner innersten Natur nach selbst ein Verehrer des Weibes , sodaß mir beim Anblick eines solchen Glückes das Herz aufgeht und meine Zunge gelöst wird .
Sie sind nicht ungehalten , nicht wahr ? "
Die Klingel ertönte , die Besucher auf ihre Plätze zurückrufend .
Man trennte sich eilig .
Fritz lachte in sich hinein .
Der Mensch hatte etwas zu Putziges , wie er mit Mund und Augen , dem ganzen beweglichen Gesicht und den zappeligen Gliedmaßen zugleich sprach .
Hätte man ihn zurechtweisen sollen , ihm sagen , daß er taktlos sei und aufdringlich ? - -
Es ging Fritz eigentümlich mit Silber ; in Gedanken ärgerte er sich oft über den Menschen und dachte daran , diese Klette bei günstiger Gelegenheit abzuschütteln .
Aber dann , wenn der Augenblick da war , wirkte seine fremdartig groteske Persönlichkeit doch wieder hypnotisierend auf ihn .
Die temperamentvolle Art , wie dieser Mensch sich durchzusetzen wußte , hatte suggestive Kraft .
Mit manchem Abstoßenden in seinem Wesen mußte die Tragik seiner Herkunft versöhnen , sein hartes , vielumhergetriebenes Leben .
Das Bedürfnis , sich selbst darzustellen , die eitle Theatralik seines Wesens , entsprangen der nämlichen Quelle , wie seine gelegentliche Unterwürfigkeit und Schmeichelsucht .
Die geheime Furcht kam darin zum Ausdruck , nicht für voll angesehen zu werden .
Seine Arroganz war nur eine Schutzwaffe dessen , der bittere Zurücksetzung erfahren hatte .
Ein Blick in diese unglückliche , abgehärmte , unstäte , den ewigen Zwiespalt wiederspiegelnde Physiognomie entwaffnete den Spott .
Sollte man einen , der so schwer an dem Fluche seines Blutes trug , auch noch mit einem Fußtritt von sich schicken ?
- Jedenfalls war Fritz Bärtig froh , daß Heinrich Lehmfink seine Unterhaltung mit Silber nicht angehört hatte .
Nach dem Theater gingen sie in eine Weinstube .
Lehmfink war auch hier der Wirt .
Man saß in einer gemütlichen Ecke ganz für sich .
Erst kamen grüne Gläser , später sogar Champagnerkelche .
Fritz und Alma frischten die Bekanntschaft auf mit Leckerbissen , die sie seit Berlin nicht mehr auf ihrem Teller gesehen hatten .
Bärtig kannte seinen Freund Lehmfink gar nicht wieder ; so leichtherzig und guter Dinge hatte er ihn kaum je gesehen .
Alma , die im Theater so recht nach Herzenslust hatte lachen und weinen können , trug in Auge und Angesicht den Abglanz seelischer Rührung , und in ihrer Stimme zitterte Ergriffenheit ; wie die Wellen noch lange wogen , wenn das aufwühlende Wetter schon längst abgezogen ist .
Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit erzählte Heinrich Lehmfink heute allerhand von sich und seinen Erlebnissen .
Fritz Bärtig kannte das Leben seines Freundes nur den äußeren Umrissen nach ; daß es reicher sei an Enttäuschung und Entsagung als an Erfolgen , wußte er .
Darum vermied er alles Forschen und Fragen , weil man fürchten mußte , mit noch so schonend abfühlender Hand geheime Wunden zu treffen .
Almas Gegenwart schien Heinrich Lehmfink die Zunge zu lösen .
Die beiden hatten ja vom ersten Tage ab herzliches Gefallen an einander gefunden .
Daß er keinen Grund zu Eifersucht hatte , wußte Fritz genau .
Mit Lehmfink hätte er seine Geliebte unbesorgt eine Reise um die Welt unternehmen lassen .
Sein Freund hegte , soviel Fritz wußte , nur eine ernsthafte Schwärmerei im Herzen , die für seine Schwester .
Von Toni sprach er mit Weihe und innerer Beglückung , wie von einer Braut .
Er pflegte sie als sein " kleines Schwesterchen " zu bezeichnen , obgleich sie um ein Jahr älter war , als er .
Auch heute spielte in Lehmfinks Erzählungen Toni eine ganz besondere Rolle .
Er brachte ein altes Ledertäschchen heraus , das Fritz als unzertrennbar von seinem Freunde schon längst kannte , ohne bisher seinen Inhalt je erblickt zu haben ; darin befand sich eine Photographie der Schwester .
Heinrich Lehmfinks groteskes Pudelgesicht erstrahlte in ehrlichem Stolz , als er einen liebevollen Blick auf das Bildchen warf und es dann an Fritz und Alma weiter reichte .
Es war ein durchaus nicht schönes , aber freies und frisches Frauenangesicht , welches die Photographie wiedergab .
Dieselbe hohe , gewölbte Stirn , wie der Bruder , eine gerade , kräftig ansetzende , in eine feine Spitze auslaufende Nase , blanke , klugblickende Augen , ein festes , energisches Kinn und ein Mund , den man geneigt gewesen wäre , herb zu nennen , wenn die ein wenig nach oben gezogenen Winkel ihm nicht einen erleichternden Zug von guter Laune gegeben hätten .
Fritz Bärtig fühlte sich durch das Konterfei von Toni Lehmfink an deutsche Frauengesichter auf mittelalterlichen Holzschnitten erinnert .
Alma konnte sich gar nicht von dem Bilde trennen .
Sie verfiel in tiefe Nachdenklichkeit vor diesem Gesicht .
" Muß die gut sein ! " wiederholte sie halblaut vor sich hin in beinahe ehrfurchtsvoller Scheu .
" Ein aufgeräumter Kopf und ein reines Herz , das ist meine kleine Schwester ! " sagte Heinrich Lehmfink , als er das Bild mit liebevoller Sorgfalt wieder in die Tasche seines Rockes versenkte .
Man kam dann auf ein anderes Thema .
Die Zeit , welche Fritz Bärtig und Heinrich Lehmfink gemeinsam in Berlin verbracht hatten , war eine unerschöpfliche Fundgrube der Erinnerungen für beide .
" Sie haben wieder einmal ein neues dramatisches Genie entdeckt in Berlin , " sagte Lehmfink .
" Gestern abend war Premiere , die heutigen Blätter sind voll davon . "
Fritz wußte noch gar nichts von dem großen Ereignis .
Er bestellte beim Kellner die letzten Berliner Blätter und überflog die Theaterberichte .
" Habemus papam ! " rief Lehmfink , " wenn von dem , was die Herren in ihrer blühenden Phantasie behaupten , auch nur der fünfte Teil wahr ist . "
" Ich kenne den Autor ! " sagte Fritz .
" Er war einer von den vielen , die am Markte standen und sich anboten .
Jetzt sitzt er nun glücklich auch an der Tafel der Anerkannten .
» Von dem gestrigen Premierenabend datiert eine neue Epoche der deutschen Literatur . . . . . «
Hast du es gelesen , Lehmfink ?
Und wenn man die Anfänge dieses Jünglings mit erlebt hat ! -
Er lud alle Vierteljahr uns Freunde ein , sein Neuestes anzuhören .
Kein Mensch ging schließlich mehr in die Vorlesungen ; denn seine Stücke waren Nieten , Nieten , Nieten .
- Dann hat er , wie ich höre , eine Zeit lang Romane und Novellen nach der Elle für Familienblätter geschrieben .
Und nun ist er » der deutsche Ibsen « , ja andere bemühen gar Moliere und Shakespeare zum Vergleich . "
" Ist es möglich , daß du dich darüber erregst , lieber Bärtig ?
Solches Lob ist für den Kenner doch schlimmer als der ärgste Tadel . "
" Er besitzt feine Witterung für das Aktuelle , schmeichelt dem Bildungsphilister gleichzeitig und dem Pseudofreigeist .
Und nun geht das Stück über sämtliche Bühnen Deutschlands , Hunderttausende werden es sehen .
Über Nacht hat dieser Mensch mit einem geschickten Coup gewonnen , was der geheime Traum ist der Besten : Auge in Auge zu stehen dem ganzen Volke gegenüber , überhaupt zu Worte kommen , weithin gehört werden !
Die Ungerechtigkeit , die darin liegt , erregt mir die Galle . "
" Ich möchte dir raten , Bärtig , folgendes zu bedenken :
Wie sieht sich die Sache heute abend an , und wie wird sie in zehn Jahren aussehen ; oder nimm , um die richtige Perspektive zu gewinnen , einen Zeitraum meinetwegen von hundert Jahren .
Wieviele solcher Premierenabende , von denen eilfertige Zeitungsschreiber eine » neue Epoche der Literatur « datieren , werden dann ins Nichts verronnen sein ! -
Weißt du , wer mir Trösterin ist all den Ungerechtigkeiten gegenüber , von denen die Welt wimmelt ?
Die unbestechliche Richterin Zeit !
Laß die Kunst sich breit machen , die dem Tagesgeschmack imponiert , laß sie Berge produzieren von seichter aufgeblasener gefälschter Ware !
Ein paar Jahre , Jahrzehnte vielleicht , mag sich es halten ; dann , Kraft Naturgesetzes , muß das hohle Scheinwerk hinab von seiner usurpierten Höhe .
Es muß , sage ich , wird wie von unsichtbaren Händen zum Grunde gestoßen .
Sieh dir doch die Literaturgeschichte an ; aus der Ferne gesehen gleicht sie einem mächtigen Gebirgsstock , mit einzelnen einsam ragenden Höhen .
Einmal ist alles ein Hochplateau gewesen , dessen Niveau das der jetzigen höchsten Spitzen war .
Das , was das Gerippe des Gebirges einst umgab und verhüllte , ist weggeschwemmt - wohin ?
Als Dünger in die Täler , oder auch als unfruchtbarer Sand ins Meer .
Der leichte Boden und das lockere Geröll wurden unrettbar zur Tiefe gerissen , während der echte Fels aus dem Urgrund der Dinge heraus höher zu wachsen scheint und die Jahrtausende überdauert . "
" Der Gedanke ist schön , Lehmfink , und wenn du uns deine » Literaturgeschichte der Verkannten « schreibst , wird er ihr sicherlich zu Grunde liegen . -
Aber meinem Temperamente genügt dein Trost nicht .
Wenn ein solches Gesetz existiert , welches das Echte unfehlbar an den Tag bringt , was nützt das deinen » Verkannten ? « -
Sie sind tot und merken in ihren Gräbern nichts von der verspäteten Anerkennung .
Der Künstler will bei Lebzeiten geliebt sein .
Ich will hören und lesen , wie meine Werke einschlagen ; ich will den Resonanzboden haben der öffentlichen Meinung , der mir meine Gedanken mit verdoppelter Wucht zurückgibt .
Ich will den großen Genuß auskosten , meine Individualität , das , was ich bin und kann , mir bestätigen zu lassen durch Hunderttausende . "
" Ein begreiflicher Ehrgeiz , Bärtig !
Aber ich weiß doch noch Höheres .
Anerkennung , wie sehr sie auch als Sporn wirken mag , bleibt etwas von außen dir Angetragenes , das deine innere Beschaffenheit nicht um einen Deut ändern kann .
Ausschlag für das Maß einer Künstler-Individualität , wie schließlich für jeden Schaffenden überhaupt , gibt die Liebe zur Sache , die stille , starke , unbeirrbare Liebe des Menschen für sein Werk , die sich um Erfolg und Triumph nicht kümmert , die wie alle guten Eigenschaften im Verborgenen , ohne Lärm , pflanzenhaft unbewußt am Werke sein muß , um Früchte zu zeitigen .
Ich sah neulich , als ich mit meinem Schwesterchen einen Ausflug machte , auf einer Lichtung im Walde einen gefällten Eichbaum liegen .
Wir betrachteten uns die Schnittfläche , um zu taxieren , wie alt der Riese etwa gewesen sein könne .
Da ergriff mich wirkliche Bewunderung für die treue , fromme Arbeit , die der Baum im Laufe der Jahrhunderte geleistet .
In aller Stille , so recht vom innersten Wesenskern heraus , hatte er Jahr um Jahr einen Ring angesetzt .
Jetzt erst , da er geschlagen dalag , offenbarte er sein Geheimnis , wie er hatte so groß und stolz und alles überragend werden können .
So sollte der Mensch sich selbst aufbauen ! -
Ich verkenne nicht die Ausnahmestellung des Talentes .
Jede Eigenart , jede hohe Begabung ist ein geheimnisvolles Wunder der Natur ; aber selbst das Talent braucht ernste , nüchterne Arbeit , wenn aus der bloßen keimhaften Anlage hartes , nutzbares Eichenholz werden soll .
Ich glaube nicht an dieses plötzliche Über-Nacht- vom-Himmel-fallen eines Genies .
Wer etwas kann , der hat sicherlich den Weg mühseliger innerer Entwicklung hinter sich .
Langsames Wachsen bleibt Eichenart .
Dieses jähe , staudenartige Emporschießen der Talente und Talentchen , wie es jetzt Mode wird , ist Treibhauskultur .
Ruhmsucht treibt die Leute vorwärts zu geilem Wachstum ohne Mark .
Unser liebes , urteilsloses Publikum aber und die reklamefreundliche Presse ist sofort bereit , eine solche Pflanze mit den Papierblumen und Pappsternen des Tageserfolges zu behängen .
Wie viele haben sie auf diese Weise schon verdorben , die nicht stolz genug waren , ohne die Anerkennung des großen Haufens leben zu können .
Glaube mir , Bärtig , im stillen wachsen , unbekümmert um Liebe und Haß , das ist die Rettung des Künstlers vor dem Moloch Eitelkeit .
Man braucht nicht zu sorgen , daß man in der Verborgenheit verkomme , oder daß man ohne Nutzen gelebt habe , weil man nicht alle Tage in den Blättern steht .
Wie im Haushalte der Natur nichts ungenutzt unter den Tisch fällt , so geht im Geistigen keine Kraft , keine Leistung jemals verloren .
Das Echte setzt sich durch , wenn auch vielleicht spät .
Auf Zeiträume kommt es dabei gar nicht an ; denn das Echte ist ewig . "
Fritz schwieg , nicht überzeugt zwar , aber doch getroffen durch manches Wort des Freundes , das an die Tiefen der Dinge gerührt hatte .
" Aber wir sind wirklich sehr unhöflich ! " sagte Lehmfink mit einem Blick auf Alma .
" Nicht eine Viertelstunde können wir zwei zusammen sein , und mitten drin sind wir in der Literatur ! "
Er schenkte die Gläser von neuem voll und trank Alma zu . * * * Es wurde spät , ehe sie sich in dieser Nacht trennten .
Durch ein paar Straßen begleitete Lehmfink die Freunde .
Dann kehrte er um , seine in entgegengesetzter Richtung gelegene Wohnung aufzusuchen .
Alma hatte sich bei Fritz eingehängt , sich eng an ihn schmiegend ; um diese Tageszeit war man vor indiskreten Blicken ja sicher .
Die menschenleeren Gassen hallten keinen anderen Ton wieder als ihre Tritte .
Das Mädchen war aufgeräumt und gesprächig .
Sie erzählte von dem Theaterstücke , das man gesehen hatte , wie ein Kind voll Wichtigkeit aufzählt , was ihm besonders gefallen hat .
Dann wieder pries sie Doktor Lehmfinks Gastfreundschaft mit begeisterten Worten .
Fritz ließ sie gewähren ; er war müde und gähnte wiederholt .
Einen Teil von Almas Überschwänglichkeit setzte er auf Kosten des Weines , an den sie nicht gewöhnt war .
» Morgen wird es wohl einen kleinen Kater geben ! « dachte Fritz bei sich .
Nicht weit von ihrem Hause , in einer Gegend , wo der Vorstadtcharakter sich durch schlechte Beleuchtung und schmalen Bürgersteig bemerkbar machte , begegnete ihnen , als sie um die Ecke bogen , ein langaufgeschossener Bursche , der wie aus der Erde emporgewachsen urplötzlich vor ihnen stand .
Alma stieß einen Schrei aus :
" Ludwig ! " -
Fritz blickte aus nächster Nähe in ein hageres Gesicht mit tiefliegenden , dunklen Augen , und wußte im Nun , mit wem er es zu tun habe .
Einen Augenblick schien es , als wolle der Stuckateur Glück die beiden anreden .
Er warf einen glühenden Blick auf Alma , seine Lippen bewegten sich krampfhaft .
Dann , auf Fritzens energische Aufforderung , Platz zu machen , trat er zögernd zur Seite .
Bärtig fühlte Almas Arm heftig in dem seinen beben , als sie weiter schritten .
" Er kommt uns nach ! " flüsterte das Mädchen .
Auch Fritz hörte jetzt deutlich in einiger Entfernung Schritte , die ihnen folgten .
Das Bewußtsein , Almas verschmähten Liebhaber auf den Fersen zu haben , zu dieser Tageszeit , in einer Gegend , die sowieso nicht zu den sichersten gehörte , war keineswegs angenehm .
Man erreichte jedoch unbelästigt die Haustür .
Fritz schloß schnell auf , ließ Alma eintreten und sah sich dann um .
Auf der anderen Seite der schmalen Gasse schritt Ludwig Glück langsam vorüber , das Gesicht Fritz zugewendet .
Eine Weile noch sah ihm Bärtig nach , bis die hagere , gebeugte Gestalt im Dunkel verschwunden war .
Als sie in ihr Zimmer gekommen waren , machte Fritz Licht .
Jetzt erst bemerkte er , daß Alma kreideweiß war im Gesicht und am ganzen Körper schlotterte .
" Was ist dir , mein Schatz ? " fragte er und nahm ihre eiskalten Hände zwischen die seinen .
" Gott sei Dank ! " hauchte sie .
" Ich dachte , er würde dir etwas tun ! "
Fritz lachte sie aus mit ihrer Angst .
Der Stuckateur Glück machte ihm jetzt , wo sie sicher geborgen waren , nicht mehr den Eindruck eines gefährlichen Menschen . -
Am nächsten Tage , als Fritz Bärtig von seinem gewöhnlichen Mittagsbrotausgang nach Haus zurückkehrte , fand er dort große Aufregung .
Schon im Korridor rief ihm Frau Klippel entgegen :
so etwas sei unerhört ; das Fräulein bringe sie ins Gerede mit ihren Kerlen .
Fritz schob die fauchende Person beiseite und eilte ins Wohnzimmer , um sich bei Alma die Erklärung zu holen .
Das Mädchen war ruhiger als in der Nacht zuvor ; nur die großen , unnatürlich glänzenden Augen in dem weißen Gesicht sprachen von Erregung .
Sie erzählte :
Vor einer halben Stunde etwa sei Ludwig Glück dagewesen und habe sie zu sprechen verlangt .
Da sie jedoch seine Stimme erkannt hätte , habe sie sich wohlweislich eingeschlossen vor ihm .
Glück sei nicht gegangen , habe vielmehr an der Tür gerüttelt und Einlaß begehrt .
Durch den Lärm angelockt , waren Hausleute herbeigekommen , zwischen ihnen und Glück sei es zum Wortwechsel gekommen .
Dadurch hatte sich Alma veranlaßt gesehen , herauszutreten , um Glück zu bitten , er möge sie in Ruhe lassen , sie habe nichts mit ihm zu schaffen und er solle sich entfernen .
Das hätte er dann schließlich , nachdem sie ihre Bitte wiederholt und an sein Anstands- und Ehrgefühl appelliert hatte , endlich auch getan .
Frau Klippel , der es inzwischen gelungen war , sich ins Zimmer einzudrängen , sprach von Hausfriedensbruch , und wollte ihre bekannte Litanei von Beschwerden und Verdächtigungen herunterbeten .
Fritz kam ihr jedoch zuvor , indem er erklärte , er hätte sowieso die Absicht gehabt , das Quartier am ersten zu kündigen , nun könne es gleich geschehen .
Die Wirtin war über diese ihr gänzlich unerwartete Aufkündigung doch etwas betreten ; so habe sie es nicht gemeint , erklärte sie einlenkend .
Fritz jedoch hielt das , was er einmal gesagt hatte , aufrecht .
Man sagte sich , daß solche Vorkommnisse sich jeden Tag wiederholen könnten .
Gegen Ludwig Glück mußten irgendwelche Maßregeln ergriffen werden - aber welche ?
Sollte Fritz ihm die Polizei auf den Hals hetzen ?
Kompromittierte man sich dadurch nicht selbst ? -
Almas Idee war , auf und davon zu gehen , gemeinsam sich nach einer anderen Stadt zu wenden .
Davon wollte Fritz nichts wissen ; vieles hielt ihn hier , vor allem die Verbindung mit seinem Verleger .
Und selbst durch einen Ortswechsel wären sie vor Ludwig Glück nicht sicher gewesen , der ihnen ja überall hin nachziehen konnte .
Bärtig war eher geneigt , sich mit dem Menschen in Güte auseinander zu setzen .
Aus seinen Briefen an Alma hatte Fritz den Eindruck gewonnen , daß Glück einer sei , der vernünftigen Vorstellungen zugänglich sein mochte .
Fritz beschloß , Glücks Adresse festzustellen und ihn aufzusuchen .
Auf dem Meldeamte erfuhr er nach einigen Schwierigkeiten , was er wissen wollte .
Als er den Stuckateur Ludwig Glück aufsuchte , stellte es sich heraus , daß der Mensch nur eine Schlafstelle innehabe und des Tages über auf Arbeit sei .
Seine Wirtsleute konnten jedoch das Lokal angeben , wo er zu verkehren pflegte .
Fritz Bärtig begab sich dorthin und fand den Gesuchten .
Glück saß an einem Tische für sich und las in einer Zeitung .
Fritz trat zu ihm und rief den ganz vertieften bei Namen .
Der Stuckateur fuhr auf .
Aus dem jähen Erröten des bleichen Gesichtes sah Bärtig , daß er erkannt worden sei .
" Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen , Herr Glück ?
Ich habe in einer Angelegenheit mit Ihnen zu reden . "
Der Gefragte blickte ihn starr an , gab weder ein Zeichen der Zustimmung , noch der Abwehr .
Fritz ergriff einen Stuhl und setzte sich .
Er war in einiger Verlegenheit ; auf alles andere hatte er sich von Glücks Seite gefaßt gemacht als auf Schweigen .
Fritz begann :
" Es ist mir mitgeteilt worden , daß Sie vorgestern in meiner Wohnung gewesen sind und dort den Versuch gemacht haben , mit Fräulein Alma Lux zu sprechen - das ist wohl an dem , Herr Glück ? " -
Über Ludwig Glücks Züge huschte etwas wie ein Lächeln .
Er nickte , sagte aber noch immer kein Wort .
" Ich will Ihnen etwas sagen , Herr Glück ! " rief Fritz , aus der Rolle gelassener Überlegenheit fallend , da ihn das Lächeln reizte .
" Unterlassen Sie solche Besuche in Zukunft !
Sie haben nun gesehen , daß Fräulein Lux nichts von Ihnen wissen will .
Sie werden dort niemals angenommen werden .
Das , bitte ich , sich merken zu wollen ! "
Glücks Lippen bewegten sich ein paar Mal , ehe er mit leiser Stimme begann :
" Ich wollte weiter gar nichts , als Alma etwas fragen .
Sich vor mir einzuschließen , hätte sie nicht nötig gehabt .
Ein Verbrecher bin ich nicht . "
Der gedrückte Ton , in dem er das vorbrachte , stimmte Fritz milder .
gewalttätig sah der Mensch wahrhaftig nicht aus .
" Wollen Sie mir vielleicht anvertrauen , Herr Glück , was Sie Alma zu sagen beabsichtigten ?
Ich kann es ihr ja ausrichten . "
Glück blickte den anderen scheu von der Seite an ; offenbar traute er dem Vorschlage nicht .
Dann erschien wieder jenes eigentümliche Lächeln auf seinen Zügen .
Es war mehr ein nervöses Zucken der Lippen ; Fritz sah es jetzt deutlicher .
" Sie können Alma von mir ausrichten , " begann Glück mit seiner schwachen Stimme , " ob sie sich vielleicht noch entsänne , wer sie verteidigt hätte , als ein Kerl sie hinterrücks überfiel - damals - sie wird schon wissen !
Ich habe es deshalb gut in Erinnerung , weil ich noch den Messerstich manchmal fühle , den der Hund mir versetzte .
Ob Alma es noch weiß , das fragen Sie sie einmal ! "
Der Stuckateur schwieg , wieder zuckten seine Lippen , die Nasenflügel vibrierten heftig , Schweiß stand ihm auf der Stirn .
Fritz war betreten ; so tiefe Gefühle und einen so schlichten Ausdruck dafür hatte er nicht erwartet .
Sein unglücklicher Rivale gefiel ihm besser , als es ihm im Grunde lieb war .
Was für dunkle , sprechende Augen der Mensch hatte .
Wie die verhaltene Leidenschaft seine Züge schön und bedeutend machte !
- " Ich hätte Alma auch noch etwas anderes zu fragen gehabt , " fuhr Glück fort .
" Wer damals , als der gute Vater Lux starb , wer damals mit Rat und Tat geholfen hat ?
Ich war nur Geselle und verdiente wenig ; aber mein letzter Pfennig ist draufgegangen .
Alma könnte es noch wissen , es ist erst sechs oder sieben Jahre her . "
Fritz blickte wie gebannt auf den Sprecher .
Wie anders klang die Geschichte dieser Liebe , wenn man sie von Seiten des Verschmähten dargestellt bekam .
" Ich habe Alma gekannt , als sie noch kurze Kleider trug , " sagte Glück .
" Wie oft habe ich ihr bei den Schulaufgaben geholfen !
Das Rechnen fiel ihr sauer ; da kam sie zu mir gelaufen .
Ich wohnte eine Treppe über der Familie Lux .
Es ging bei ihnen ärmlich genug zu .
Der Vater war ein braver Mann , der es gut mit mir meinte .
Wäre er am Leben geblieben , manches wäre wohl anders geworden , auch für mich .
Die Witwe hat nicht einmal ein Jahr gewartet , ihren Liebsten zum Stiefvater der Kinder zu machen .
Alma war da schon größer und verstand ganz gut , was für eine Schmach das sei .
Wie oft hat sie sich bei mir ausgeweint !
Ich war es , der ihr riet , aus dem Hause der Mutter zu gehen , wo sie so Häßliches täglich mit ansehen mußte .
Damals wußte sie ganz gut , daß ich der einzige Mensch war , der es redlich mit ihr meinte .
Und zum Dank für alles das , stellt sie sich jetzt , als wäre ich der erste beste , fremde , hergelaufene Kerl , mit dem sich einzulassen Schande ist .
Wer mir das damals gesagt hätte ! "
- Glück hatte sich in leidenschaftlichen Eifer hineingeredet .
Er schien fast vergessen zu haben , wer ihm gegenüber sitze .
Fritz hütete sich wohl , ihn zu unterbrechen .
" Ich bin dumm gewesen , dumm und gutgläubig !
Ich dachte : das Mädel ist dir sicher .
Zum Heiraten war sie noch zu jung , und wir hatten auch kein Geld .
Ich wollte mir erst etwas Ordentliches verdienen .
Aber weil in einer kleinen Stadt nicht viel zu machen war , ging ich ins Ausland .
Ich bin in Rußland gewesen und in Österreich .
Schönes Geld hatte ich verdient . Habe aber auch gearbeitet , oft bis in die sinkende Nacht hinein , und früh wieder mit Sonnenaufgang , kaum mir Zeit gegönnt zum Essen .
Dann kam meine Krankheit .
Beim Militär hatten sie mich schon zurückgestellt , weil ich das Maß über der Brust nicht habe .
Ich lachte damals , weil mir nie etwas gefehlt hatte .
Aber nun bekam ich auf einmal das Blutspucken .
Ein halbes Jahr lang habe ich in Budapest gelegen im Hospital .
All mein Erspartes ging damals drauf .
Ich bin auch nie wieder das geworden , was ich früher war . "
Glück fuhr sich mit der Hand über die Stirn , auf der der Schweiß in hellen Tropfen stand .
Fritz fiel diese Hand auf .
Es war eigentlich nicht die Hand eines Arbeiters , mehr die schlanke , nervöse eines Künstlers .
Der ganze Mensch , wenn man von seiner ärmlichen Kleidung absah , machte den Eindruck höherer Bildung und verfeinerter Sitten .
" Ich habe viel an Alma geschrieben .
Sie antwortete mir selten .
Wie oft habe ich sie gebeten in meinen Briefen , zu warten , bis ich wieder käme und sich mit keinem anderen einzulassen . -
Dann schrieb sie mir mit einem Male , daß sie sich nach Berlin wenden wolle .
Ich warnte vor der großen Stadt .
Es war umsonst .
Bald darauf kam ihr letzter Brief an mich .
Ich sollte ihr nicht weiter schreiben ; was ich wolle , könne ja doch niemals werden .
Den Brief erhielt ich auf allerhand Umwegen , während ich krank lag in der Fremde .
Fast war es mein Tod .
Wäre ich doch nur gestorben ! "
Er seufzte , seine Lippen zuckten so stark , daß er nicht weiter sprechen konnte für eine Weile .
Fritz bemerkte die Tränen in seinen Augen wohl .
" Sie war ein Mädchen , wie es kein zweites gibt !
Die und keine andere muß deine Frau werden ! sagte ich mir . -
Daß es nun so hat kommen müssen ! "
- - Er bedeckte die Augen mit der Hand .
" Herr Glück ! " begann Fritz nach einer Pause .
" Ich kann nicht viel zu dem sagen , was Sie mir erzählt haben .
Aber eines möchte ich doch bemerken :
Alma hat Sie , soviel ich weiß , niemals im Zweifel gelassen darüber , daß sie auf Ihre Werbungen nicht eingehe .
Sie sind niemals mit ihr verlobt gewesen . "
" Wer hat das behauptet ! " rief Glück erregt .
" Ich Esel traute , daß sie mir auch ohne Ring die Treue halten werde .
Ich war ihr Freund , ein besserer , als das Mädel je einen gehabt hat und haben wird . "
" Freundschaft bindet nicht fürs Leben .
Das werden Sie mir wohl zugeben , Herr Glück ! "
" Wie nennen Sie denn das , was Alma jetzt hat ? " rief der Stuckateur und fuhr von seinem Sitze auf .
" Sind Sie beide etwa ordentlich versprochene Liebesleute ? - Antworten Sie mir auf die Frage , mein Herr !
Wollen Sie Alma heiraten - werden Sie meine Alma heiraten ? "
" Sie haben kein Recht , mich das zu fragen , Herr Glück .
Und ich werde Ihnen darauf nicht antworten , " erwiderte Fritz Bärtig , der nun , da die Rollen sich so unerwartet vertauscht hatten , bleich geworden war .
" Sie wollen meine Alma nicht heiraten ! " rief Glück .
" Nun weiß ich es ! "
Seine dunklen Augen leuchteten triumphierend auf .
Fritz war aufgestanden .
" Es tut mir leid , Herr Glück , Ihr Ton macht mir ein weiteres Zusammensein unmöglich .
Alma hält zu mir und nicht zu Ihnen , das ist alles , was ich Ihnen noch zu erwidern habe . "
" Alma hält zu Ihnen ! -
Ja , leider !
Brüsten Sie sich nur damit , als ob es Ihr gutes Recht wäre .
Wilde Ehe nennen wir das , wir gewöhnlichen Leute , wie Sie zwei leben .
Vor Gott und Menschen eine Schande !
So machen es solche Herren immer !
Erst wird ein armes Mädel betört ; sie ist dumm und verliebt , läßt sich verführen .
Eine Zeit lang ist sie gut genug zum Zeitvertreib .
Dann läßt man sie sitzen .
So wird es mit Alma auch kommen , das weiß ich ! "
Fritz hatte inzwischen den Ausgang des Lokales erreicht .
Glück kam ihm nachgeschritten .
" Richten Sie Alma von mir aus :
ich , Ludwig Glück , ließe nie und nimmer von ihr , wenn sie mich auch jetzt von sich treibt wie einen Hund .
Ich bleibe ihr treu bis in den Tod . -
Richten Sie ihr das von mir aus ! " * * * Den Löffel Suppe , zu welchem Fritz Bärtig von den Damen Tittchen eingeladen worden war , nahm er Sonntags Mittag in Gestalt eines reichhaltigen Mittagsessens zu sich .
Die Unterhaltung bewegte sich in höheren Sphären , denn die Tanten , im Bewußtsein , einen Schriftsteller an ihrem Tische zu haben , kramten allerhand Literaturkenntnisse aus .
Es stellte sich heraus , daß sie Abonnentinnen waren eines Journallesezirkels , dessen Lebensbeschreibungen berühmter Zeitgenossen , Kunstplaudereien und Theaternotizen , sie mit Eifer verfolgten .
Sie glaubten daher ganz auf der Höhe zu stehen in allen literarischen Fragen .
Fritz ging auf den Ton der Unterhaltung ein .
Diese Damen darüber aufklären zu wollen , daß die von ihnen bewunderten Artikel mit Literatur ebensowenig zu tun hatten , wie die schauderhaften Stillleben an den Wänden des Eßzimmers mit Malerei , wäre höchst überflüssig gewesen .
Ein paar zustimmende , übertrieben bewundernde Bemerkungen waren mit ihrer versteckten Ironie für Hedwig von Lavan berechnet , und wurden von dieser auch gewürdigt .
Fritz hatte wieder Gelegenheit , die weltkluge Haltung des jungen Dinges anzustaunen .
Die Tanten gaben Hedwig vor Fritzens Ohren allerhand Belehrungen , Ratschläge und Ermahnungen .
Sie ließ die gute Lehre ruhig über sich ergehen , lehnte sich nicht auf ; höchstens verriet ein unmerkliches Lächeln ihre innere Überlegenheit .
Nach Tisch hätte Fritz Bärtig nur zu gern mit Fräulein von Lavan unter vier Augen gesprochen ; aber mindestens eine der Tanten hielt sich immerwährend in der Nähe der jungen Leute auf .
Man saß im großen Salon , dessen Möbel , heute von ihren Kappen befreit , die ganze schreiende Herrlichkeit ihres roten Samtplüschs entwickelten .
Nachdem sie dem Kaffee alle Ehre angetan hatte , zog sich Amanda zurück , jedenfalls um ein Nickerchen zu machen .
Fritz und Alma blieben unter Idas , der Älteren , Obhut zurück .
Aber es schläferte das alte Mädchen gewaltig , wie man aus den immer kleiner werdenden Augen und gelegentlichen , dem Gähnen verzweifelt ähnlichen , krampfhaften Bewegungen ihrer Kinnbacken schließen konnte .
Plötzlich sagte Hedwig mit bedeutungsvollem Blicke zu Fritz :
" Haben Sie unseren » Hausschatz der schönen Künste « schon gesehen , Herr Bärtig ? "
- Fritz verneinte .
Hedwig erhob sich und gab ihm mit den Augen einen kaum merklichen Wink .
Er folgte ihr zu dem Tisch in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers .
Dort lagen um einen Gummibaum , der in bemaltem Porzellantopf stand , die Prachtbände des Hauses versammelt .
Der Hausschatz der schönen Künste erwies sich als ein umfangreiches Sammelwerk von geschmacklosen Farbendrucken mit erklärendem Text .
Hedwig schlug den goldverzierten Deckel auf , und Fritz rief : " Ach , wie reizend ! "
Tante Ida meinte mit schon halb umflorter Schlafstimme von der anderen Ecke des Zimmers her :
" Nicht wahr ?
Es war aber auch sehr teuer ! " - - Hedwig schlug noch eine Seite um , und las den Titel des betreffenden Blattes laut für die Sauvegarde , dann sagte sie mit gedämpfter Stimme für Fritz :
" Ich habe Ihren Roman , » Das Geschlecht « , in der Zeitung angezeigt gelesen .
Können Sie mir das Buch nicht verschaffen ? " -
Fritz blickte nach der Sofaecke hinüber , bevor er antwortete .
Von dort belehrte ihn jetzt ein Schnarchen , daß weitere Vorsicht unnötig sei .
" Das Buch wird etwa in vierzehn Tagen fertig gedruckt sein und dann in den Buchhandel kommen , " erwiderte er .
" Aber eines halte ich mich doch für verpflichtet , Ihnen zu sagen , gnädiges Fräulein , für junge Damen habe ich es eigentlich nicht gedacht . "
An dem spöttischen Zuge , der sofort auf ihrem Gesichte erschien , sah Fritz Bärtig , daß seine Bemerkung höchst überflüssig gefunden werde .
» Sie scheinen mich mit einem Gänschen zu verwechseln , mein Herr ! « wollte das Rümpfen dieses stolzen Näschens sagen .
Um die Beleidigung gut zu machen , erklärte Fritz , er wolle ihr die Aushängebogen seines Romans , die er bereits beisammen hatte , zuschicken .
" Ein avant-la-lettre-Exemplar für Sie ganz allein ! "
Am Aufleuchten ihrer Augen sah er , daß er damit ihren Geschmack getroffen habe .
Die Vorstellung , dieses zarte Mädchengesicht mit den wissenden Augen in sein Buch vertieft zu sehen , hatte etwas tief Erregendes für Bärtig .
Den Roman in der Hand einer " höheren Tochter " gewöhnlichen Schlages zu wissen , wäre ihm wie unerträgliche Profanierung erschienen ; aber wie auf dieses körperlich dem Kinde nahestehende , geistig weit über seine Jahre gereifte , widerspruchsvolle , rätselhafte Geschöpf gerade dieses Buch wirken würde , das erfüllte ihn mit Neugier .
Hedwig erzählte ihm jetzt von ihrer Balzac-Lektüre .
Sie hatte von diesem Autor einen starken Eindruck empfangen .
Fritz Bärtig hörte ihr nur mit halbem Ohr zu .
Er mußte immer denken :
» Sie wird deinen Roman " Das Geschlecht " lesen . «
- In der Ecke die schlummernde Tante .
Ringsum die altmodische Umgebung , die Bilder wohlbeleibter Spießbürger und ehrbarer Damen , die von den Wänden mit verwunderten Mienen auf dieses so ganz anders als sie geartete Paar junger Menschen herabblickten .
Wie eigensinnig und doch tieferen Sinnes nicht entbehrend das Leben manchmal die Menschen zusammenführte !
Es war die Regung eines glücklichen Instinktes gewesen , so dünkte es Fritz , was an jenem Abende nach dem Theater seinen Blick wie fasziniert auf die Züge des jungen Mädchens gelenkt hatte .
Aber länger als ein paar kurze Minuten wurden ihm nicht gegönnt zum Auskosten dieser Situation .
Die impertinent laute Vorsaalklingel erscholl , und darüber wachte Tante Ida auf .
Wie die meisten Menschen , wenn der Schlaf sie wider Willen überkommt , hatte sie das Bestreben , die Tatsache zu verschleiern , daß sie geschlummert habe .
" Natürlich ! " meinte sie , einen Zipfel des unterbrochenen Gedankenganges wieder erwischend , » Hausschatz der schönen Künste « heißt es .
Wir bekommen es in Lieferungen , das Heft zu drei Mark . "
- Das Dienstmädchen , deren Posaunenengelgesicht und verständnisvoll schlaues Schmunzeln Fritz schon mehrfach belustigt hatten , trat ein und meldete :
" Herr Hofschauspieler Heßlow . "
Ihr auf dem Fuße folgte der schöne Waldemar , Zylinder in der Hand .
Die Pracht seiner Glieder war heute in einen schwarzen Anzug von tadellosem Schnitt gehüllt .
Er begrüßte die Anwesenden mit wohlüberlegter Nuancierung :
Tante Ida bekam eine würdevoll gemessene Verbeugung , Hedwig wurde lebhaft verbindlich mit einem Stich ins Courmacherliche begrüßt , gegen Fritz verhielt er sich höflich zurückhaltend .
Dann sah er sich nach dem Tischchen um , das auf der Bühne bereit zu stehen pflegt zum Wegsetzen des Zylinders , fand dieses Möbel auch glücklich , knöpfte seine Handschuhe auf und streifte sie ab , immer mit dem Gesicht nach dem Zuschauer , ernst und mit der der Situation entsprechenden Wichtigkeit , ergriff einen Stuhl , setzte sich , den Kopf stolz zurückwerfend , schlug mit Emphase Bein über Bein , betrachtete dann einen Augenblick sinnend seine Fingernägel , wollte , einem Räuspern nach zu schließen , eben die Unterhaltung eröffnen , als sich die Tür auftat und Tante Amanda einließ , und so dem Mimen Gelegenheit gab , die Begrüßung einer neu auftretenden Person dem Bühnenreglement gemäß mit Korrektheit auszuführen .
Fritz Bärtig beobachtete voll Spannung Hedwig von Lavan .
Es war doch gar nicht denkbar , daß dieser affektierte Mensch ihr imponieren könne .
Sah sie denn nicht die Lächerlichkeit seiner Komödiantenmanieren ?
Hörte ihr Ohr nicht das falsche Pathos seiner hohlen Deklamierstimme ?
Wie das im Alltagsleben peinlich wirkte , einer Maskerade gleich im hellen Licht des Mittags !
Aber das spöttische Lächeln , das sonst so locker saß bei Hedwig , erschien nicht auf ihrem Gesichte .
Im Gegenteil , Fritz glaubte ein gewisses Interesse , eine Art schwer zu definierender intensiver Aufmerksamkeit in ihren Mienen zu lesen , mit der sie den Blick auf dem Schauspieler ruhen ließ .
Waldemar Heßlow erzählte den Tanten , die mit naivem Entzücken , wie Kinder , an dem Munde des Bewunderten hingen , daß er die nächstens beginnenden Theaterferien wie gewöhnlich zu einer Reise zu benutzen beabsichtige .
Vielleicht werde er eine Alpenhochtour unternehmen , um das Bergsteigen nicht ganz zu verlernen .
Dann fing er an , mit den Sports , die er betreibe , zu renommieren .
Schwimmen , Reiten , Rudern , Fechten , wäre sein Element .
Als er sich in dieses Thema vertiefte , wurde sein ganzes Wesen lebendiger und natürlicher ; man sah , daß das Pathos und die gezierten Manieren doch nur etwas ihm äußerlich aufgehangenes waren .
Fritz Bärtig dachte darüber nach , was diesen Menschen wohl bewogen haben könne , zur Bühne zu gehen .
Zeitlebens würde er ein mittelmäßiger Schauspieler bleiben , der , um mit Hamlet zu reden , " eine Leidenschaft in Fetzen reißen " mochte , niemals aber " das Wohlgefallen der Einsichtsvollen gewinnen " konnte .
Wie ganz anders hätte er den Beruf eines Athleten , eines Preisboxers , Meisterschaftsringers oder Wettläufers erfüllt , mit diesem Körper von nicht alltäglicher Kraft und Schmiegsamkeit , dessen ebenmäßigen Wuchs selbst die modern weiten , sackartigen Kleider nicht gänzlich zu verdecken vermochten .
Es strömte wie ein Hauch gesunder , animalischer Kräfte von diesem Manne aus .
Ob darin vielleicht die Lösung des Rätsels lag , warum der Mime , trotz aller Geistlosigkeit seines Spieles , solche Triumphe feierte bei den " Gründlingen im Parterre " ?
- " Wir verreisen auch ! " sagte Hedwig , als Heßlow eine Pause eintreten ließ , um eine Tasse Kaffee anzunehmen , die ihm Tante Amanda errötend anbot .
Er war jetzt wieder ganz Akteur , nahm Zucker und Sahne mit Würde und trank seinen Kaffee mit bedeutungsvoller Ausführlichkeit .
" Also die Damen verreisen !
Und wohin , wenn man fragen darf , mein gnädiges Fräulein ? "
Damit wandte er sich an Hedwig .
" Meine Tanten haben von Interlaken gesprochen . "
" Interlaken , bravo !
Ich habe auch daran gedacht , ins Berner Land zu gehen .
Also würde man sich dort sehen unter Umständen . "
" Wirklich , Herr Heßlow , das wäre reizend ! " riefen die Tanten wie aus einem Munde .
" Bereits voriges Jahr fügte es ein glücklicher Zufall , daß wir uns in Norderney trafen , " meinte Waldemar Heßlow , jede Silbe einzeln betonend , als habe er Jamben zu skandieren , " und nun winkt uns der Hoffnungsstern eines fröhlichen Beisammenseins von neuem . "
Fritz beobachtete Hedwig scharf .
Das Mädchen sagte nichts , aber er glaubte zu bemerken , daß sie leicht die Farbe wechselte .
Es kam dann zu einer richtigen Verabredung zwischen Waldemar Heßlow und den Damen Tittchen , sich in einigen Wochen in Interlaken zu treffen .
Hedwig von Lavan hörte aufmerksam zu mit der Miene des wohlerzogenen Kindes , das an der Unterhaltung der Erwachsenen teilzunehmen sich nicht unterfängt .
Fritz Bärtig begann sich überflüssig vorzukommen unter Menschen , die so ausschließliches Wohlgefallen an einander fanden .
Er nahm kurzen Abschied , unter dem Vorgeben , eine anderweite Verabredung zu haben .
Er ging in schlechter Laune , beherrscht von dem unangenehmsten aller Gefühle , düpiert zu sein .
Was hatte er alles in das Gesicht dieses jungen Mädchens hineingelegt , was alles hinter ihrem Wesen gesucht an Feinheit , Geist und origineller Begabung .
Und nun entpuppte sie sich als ein ganz alltägliches Weibchen , abhängig , betört , verblendet , geschmacklos in ihrer Wahl , bereit , dem ersten besten nachzulaufen , der , ein schönes Stück Fleisch , ihrem Weibesinstinkt imponierte .
Hedwig hatte ihm wirklich eine große Enttäuschung bereitet .
Und er beschloß bei sich , ihr die versprochenen Aushängebogen nicht zuzuschicken .
Sie war einer solchen Auszeichnung nicht wert. * * * Fritz Bärtig hielt nun das erste Exemplar seines Romans » Das Geschlecht « in Händen .
Es war wirklich schwer sich vorzustellen , daß in diesen paar Hundert Druckseiten all das enthalten sein sollte , was er in mancher nachdenklichen Stunde sich an schwerer Arbeit abgerungen hatte .
Und eigentümlich war es auch zu denken , daß im Augenblicke nur er , der Schöpfer , das Werk kenne , daß es noch ganz sein Geheimnis sei .
Binnen kurzem aber würden vieler Augen über diese Zeilen gleiten , die Augen fremder , gleichgiltiger Menschen , von denen jeder , selbst der unberufenste , dann unwidersprochen mit gerümpfter Nase über ihn zu Gericht sitzen konnte .
Er fühlte das Bedürfnis , aus dem Munde eines Freundes über sein Buch ein Wort zu hören , ein gutes Wort , das ihm gewissermaßen bestätigen sollte , daß das , was in seiner Phantasie nach Dasein gerungen hatte , nun auch wirklich Leben habe , daß es die geheimnisvolle Kraft besitze , die fremde Seele zu ergreifen und zu befruchten .
Mit solchen Gefühlen übergab er seinem Freunde , Doktor Lehmfink , ein Exemplar , in das er zuvor eine warmherzige Widmung geschrieben hatte .
Heinrich Lehmfink nahm die zwei Bände in die Hand , blätterte darin mit dem Auge des Bibliophilen , und gratulierte dem Autor zu dem Buche , das schon rein äußerlich den besten Eindruck mache .
Während der nächsten Tage versandte dann Fritz eine Anzahl Freiexemplare .
Einige Kollegen aus seiner berliner Zeit wurden bedacht , sein Freund Baron Chubsky in Paris erhielt ein Exemplar .
In der Stadt selbst schickte er nur an Frau Hilschius sein Buch , mit einer nichtssagend höflichen Widmung .
Weißbleicher hatte ihm geraten , das zu tun .
Die Rezensionsexemplare an Zeitungen und einzelne einflußreiche Kritiker wurden vom Verlage aus versandt .
Von Lehmfink sah und hörte Fritz in den nächsten Tagen nichts .
Es war ihm nur recht so .
Fritz wußte : der Freund liest dein Buch .
Er wollte ihn gar nicht sehen , ehe er nicht ausgelesen hatte und ihm das Urteil über das Ganze sagen konnte .
Darum ging er auch nicht zur gewohnten Stunde ins Café , um den Freund nicht zu vorzeitigem Sprechen zu veranlassen .
Er legte gerade auf Heinrich Lehmfinks Urteil den allergrößten Wert .
Wenn Lehmfink eine Sache lobte , dann war etwas daran .
Obgleich selbst kein Künstler , war ihm doch die Kunst eine heilige Sache , und gerade daß er nicht unter den Mitstrebenden stand , gab seiner Kritik größere Unparteilichkeit .
Dann trafen sie sich zufällig auf der Straße .
Fritz vermutete , daß der Freund sein Buch nunmehr ausgelesen haben könne , und erwartete eigentlich , daß er davon zu sprechen anfangen werde .
Aber Heinrich Lehmfink schwieg sich über den Roman völlig aus .
Fritz Bärtig fragte nicht , um nicht den Eindruck der Ungeduld hervorzurufen ; im Innersten jedoch war er etwas beunruhigt durch Lehmfinks Verhalten .
Eines Tages nun erschien der Freund bei ihm in der Wohnung .
Ohne große Formalitäten ging er auf Fritz zu .
" Guten Tag !
Wie geht_es ?
Ist Fräulein Alma da ? "
Fritz erwiderte , daß Alma bei ihrer Arbeit sei , und wollte sie rufen .
Lehmfink wehrte ab .
" Nein !
Ich wollte nur wissen , ob sie in Hörweite ist ?
Ich muß nämlich nun endlich mit dir über deinen Roman sprechen . "
Fritz erklärte , daß sich zwischen ihnen und Alma der Vorsaal befände , sich dabei im stillen wundernd , warum sie wohl Lehmfinks Urteil über das Buch nicht mit anhören dürfe .
" Ich habe deinen Roman gelesen , Bärtig - zweimal gelesen " - -
Dann folgte lange Zeit nichts .
Heinrich Lehmfink storchte durchs Zimmer , die Arme im Kreuz verschränkt , und machte sein ernstestes Gesicht .
Fritzens Herz klopfte , er wurde an jenen Augenblick erinnert , als bei der Premiere seines Stückes sich der Vorhang zum ersten Male hob .
" So versetze mir doch nur um Gotteswillen den Todesstoß ! " rief er , " und warte nicht so lange .
Also mein Roman taugt wohl nichts - nicht wahr ? "
Heinrich Lehmfink blieb vor Fritz stehen , der im Stuhle an seinem Schreibtische Posto gefaßt hatte , und sah ihn an mit seinen großen , glänzenden , ausdrucksvollen Augen , über deren Schönheit man die Häßlichkeit des übrigen Menschen ganz vergaß .
Es lag Trauer in diesen Augen , wie in dem ganzen ehrlichen Gesichte .
" Lieber Bärtig , es steckt in deinem Buche soviel Talent , Geschmack , Phantasie , Stil , überhaupt große Kunst daß es ein Jammer ist , ein Herzensjammer , daß es - nun offen heraus - daß es als Ganzes doch verfehlt ist . "
" Das muß ich sagen ! " rief Fritz , " Wenn ein Kunstwerk ein Kunstwerk ist . . . "
" Weißt du , Bärtig , wenn ich ein Buch lese , so gebe ich mich zunächst willig hin , lasse mich von dem Autor führen , wohin es ihm beliebt .
Ich bin mit einem Worte ein dankbarer Leser .
Während des Lesens aber schon melden sich Stimmen , vielleicht auch Zweifel , die erst später , wenn ich das ganze überschaue , mir wirklich zum Bewußtsein kommen .
Und dann , wenn das Werk von mir abgerückt ist , sich nicht mehr in mir selbst abspielt , so daß ich unbefangen urteilen kann , dann stelle ich mir vor allem eine Frage , die vor jedem Kunstwerk gestellt werden muß :
In welchem Verhältnis hat der Künstler zu seinem Geschöpfe gestanden ?
- Hat er geliebt ?
Hat er ernst , groß , rein und keusch geliebt ?
Trägt die Frucht seiner Liebe - mag ihr sonst auch mancher individuelle und zeitliche Mangel anhaften - Züge tiefer , edler Gefühle ? "
" Eine Moralpredigt habe ich nicht schreiben wollen , und ich glaube , der Titel » Geschlecht « erweckt auch nicht diese Erwartung .
Für einen Mann wie Professor Wallberg , welcher verlangt , daß die Kunst nur das » Schöne « darstelle , scheidet mein Buch aus der Reihe der Kunstwerke aus , schon durch sein Thema .
Aber daß auch du bei der Beurteilung im Stofflichen stecken bleiben würdest , Lehmfink . . . . "
" Mein lieber Bärtig !
Es kann einer aus dem gröbsten Material , meinetwegen aus dem Kot der Landstraße , Gebilde formen , die durch Beseelung uns den Stoff , von dem sie genommen , gänzlich vergessen machen .
Es kommt eben darauf an , was einer hineinzulegen hat . "
" Ich habe mein Herz hineingelegt , Lehmfink ; was kann ich weiter tun ?
Wie eine Geliebte ist mir mein Werk gewesen .
Es ist ein verflucht ernstes und höchst persönliches Verhältnis , in welchem ich zu diesem meinem Buche gestanden , das kann ich dir versichern ! "
" Ich verkenne nicht den Ernst deines Strebens ; du hast dich von einem Stoffe losringen wollen .
Und vielleicht ist gerade das die Ursache deines Unterliegens .
Du standest diesem Stoff nicht frei und unbefangen genug gegenüber , um aus den gehrenden Elementen einen Wein zu keltern , der die Hefe der Sinnlichkeit nicht nachschmecken ließe . "
" Sinnlichkeit ist der Nährboden aller Kunst . "
" Aber der Schaffende muß sie in sich überwunden haben ; sie darf ihm nicht das Auge trüben .
Wenn sie ihm zu Kopfe steigt , wird seine Hand unfehlbar zittern , und sein Werk wird etwas Verzerrtes haben .
Wie die Frucht in ihrem feinsten Aroma die Bestandteile des Bodens schmecken läßt , auf dem sie gewachsen , so spiegelt jedes Kunstwerk den Zustand der Seele wieder , die es genährt hat .
Was du uns gibst , Bärtig , ist noch nicht abgegohren . . . . "
" Meinetwegen mag es nicht abgegohren sein ; daran liegt mir gar_nichts !
Ich habe etwas Starkes , Neues , Unerhörtes geben wollen .
Das Geschlechtsleben in seiner ganzen Wildheit und alles beherrschenden herrlichen Kraft und Unbändigkeit habe ich versucht darzustellen .
Den Begriff der Unanständigkeit gebe ich in der Kunst nicht zu .
Die Natur , deren Jünger wir sind , kennt ihn auch nicht .
Wir Jungen haben den Mut , die Kleider abzuwerfen , nackt hinzutreten vor alles Volk .
Wir zeigen das Natürliche , wie es ist , und nehmen dadurch der Lüsternheit den geheimen Anreiz .
Ich habe zeigen wollen , daß das Geschlecht im Menschen die Centrale ist , der Urkeim , der Leittrieb , das , wovon sein Leben die Richtung erhält , das , wodurch in letzter Linie unser Denken , Fühlen , Handeln bestimmt wird .
Mag den alten Jungfern beiderlei Geschlechts darüber graulich werden ! "
" Ich tadle nicht , Liebster , daß du diesen Angelpunkt der menschlichen Natur versucht hast , zum Brennpunkte eines Kunstwerkes zu machen .
Aber gerade hier ist das Wie alles .
Du wirst mir zugeben , daß das Geschlecht , wie es das Ausschlaggebende ist für den Einzelnen , so für die Kunst das heikelste und gefährlichste Thema .
Ein Gebiet , auf dem auf Schritt und Tritt Fallstricke liegen .
Wer dieses Land betritt , übernimmt eine große Verantwortung nicht bloß für sich selbst .
Es liegt im Wesen des Sexuellen , daß es die Augen und Ohren , alle Sinne , von weit her mit Gewalt auf sich lenkt .
Dein Werk ist ein Spiegel , der ein Bild in einen anderen Spiegel , das Gemüt des Lesers , wirft .
Sicherlich kann das Unreinste rein werden in der Wiederstrahlung einer keuschen Seele .
Aber wer einen Brand schildern will , muß sich befreit haben von den Gefühlen , die das Ereignis in ihm weckte .
Wer mitten im Getümmel steht der aufgeregten Sinne , ist nicht der Mann dazu , uns reine , abgeklärte Werke zu schenken . "
" Ich bin keine Fischnatur , Lehmfink !
Ich erlebe meine Dichtungen und schreibe sie mit Herzblut .
Hast du denn nicht herausgefühlt , daß mein Buch persönliches Erlebnis ist ? "
- " Natürlich , lieber Freund , ist mir die starke , persönliche Note nicht entgangen .
Du zeigst uns die Welt in der subjektiven Beleuchtung deines Naturells , wie es das gute Recht ist des Künstlers .
Aber , nun kommt eben mein » aber « - - - " Fritz blickte gespannt auf den Freund , es war ihm neu , daß Lehmfink sich fürchtete , mit der Sprache herauszurücken .
" Ich möchte nicht gern persönliches einmischen , " fuhr Lehmfink bedachtsam fort , " aber es ist hier nicht zu umgehen .
Nicht wahr , Fräulein Alma kann uns sicher nicht hören ? "
Fritz wiederholte , was er schon vorhin gesagt hatte :
Alma sei außer Hörweite .
" Du wirst mich nicht mißverstehen , Bärtig , wenn ich sage , was ich auf dem Herzen habe .
Ich kann das leichter tun , weil du die Frage , um die sich_es handelt , durch dein Buch gewissermaßen selbst zur öffentlichen Diskussion gestellt hast . "
" Nun bin ich allerdings begierig . . . . . . "
" Du hast in den Mittelpunkt deines Romans das Erotische gestellt .
Darum ist das Buch für mich doppelt nachdenklich geworden , denn auch mir ist die Frage , wie der Mann zum Weibe steht , die entscheidende seines Schicksals .
Allerdings meine ich damit nicht das Verhältnis zu den Weibern ; das ist eine untergeordnete Angelegenheit des Trieblebens .
Ich spreche von dem großen Probleme Liebe .
Das Wort ist soviel mißbraucht , daß es einer Münze gleicht , deren Gepräge undeutlich geworden ist .
So verstehen auch wir zweie darunter etwas verschiedenes .
Beim Lesen deines Romans wurde mir das recht klar .
Das ist die Einseitigkeit deiner Weltanschauung und die Achillesferse deines Buches , daß du der animalischen Natur des Menschen ein Übergewicht zugestehst .
Und damit folgt mit Naturnotwendigkeit , daß du das Weib herabzerrst .
Indem du die Frauen zu Geschlechtswesen stempelst , erniedrigst du die ganze Art , läßt von der Liebe nur die Verliebtheit gelten .
Die Frauen werden uns immer genau das sein , was wir ihnen sind .
Suchen wir bei ihnen nur sinnlichen Reiz , so werden sie uns mit dem aufwarten , was wir in sie hineinlegen .
Gewiß , ich weiß es : ohne Sinnlichkeit keine Kunst ! das Geschlecht macht den Mann zum Manne , den Künstler zum Künstler .
Aber Sache höchster Verantwortlichkeit ist , daß wir dem Feuer die rechte Nahrung zuführen .
Dem einen wird die Flamme zum inneren Heiligtum , das , weil er sie rein bewahrt , sein ganzes Leben durchwärmt und erhellt ; den anderen dörrt sie aus bis auf das Mark der Knochen .
In der Dichtung bedeutet die Überherrschaft des Erotischen unfehlbar das Sinken des geistigen Niveaus .
Leben und Kunst stehen nun einmal in tiefstem organischem Zusammenhäng .
Ich sprach von deinem Buche , Bärtig , und nun bin ich auf das gekommen , was gar nicht zur Diskussion stand , und was doch tausendmal wichtiger ist als alle Bücher , das Leben . "
- Hier wurden sie unterbrochen .
Eine Tür ging auf der anderen Seite des Korridors .
Alma kam ins Zimmer geeilt .
Als sie sah , wen Fritz zu Besuch hatte , blieb sie errötend stehen .
" Herr Doktor Lehmfink ist bei uns , " rief sie und klatschte vor Freude in die Hände .
" Und das sagt mir niemand ! " * * * Über Fritz Bertings Roman fingen nun an , die Urteile einzulaufen .
Zuerst kamen die Blätter , die nur den Waschzettel abdruckten .
Den Text hatte Weißbleicher entworfen .
Es wurde darin auf das interessante Problem des Romans hingewiesen , angedeutet , daß es sich um heikle Dinge handle , dabei aber nicht mehr verraten als nötig war , die Neugier zu reizen .
Dann erschien in einer literarischen Revue , die auf dem äußersten linken Flügel der jüngsten Kunstbewegung stand , eine eingehende Besprechung aus der Feder eines älteren berliner Kritikers , dessen Parteinahme für die Jugend einiges Aufsehen erregt hatte .
Der Mann begrüßte diesen Roman als ein hoffnungerweckendes Buch .
Von einem Autor , der sich mit solcher Kälte und Sachlichkeit an eines der schwierigsten Probleme gewagt habe , und nicht im Stoffe untergegangen sei , könne man Großes erwarten .
Er nannte das » Geschlecht « eine hochwillkommene Bereicherung des physiologischen Naturalismus und Maß ihm dokumentarischen Wert bei .
Es waren glückliche Augenblicke für den Dichter , als er diese Zeilen las , die ihm sein Freund Doktor Nackede blau angestrichen von Berlin zugeschickt hatte .
Das Lob , das ihm hier erteilt wurde aus bekannter Feder , an weithin gesehener Stelle publiziert , verlieh ihm in vieler Augen den literarischen Ritterschlag .
Er war nun gewissermaßen zünftig geworden , sein Buch konnte keinesfalls mehr totgeschwiegen werden .
Als ob ein Dämpfer auf diese Freude gesetzt werden solle , kam wenige Tage darauf in einem vielgelesenen lokalen Blatte eine Besprechung seines Romans aus Professor Wallbergs Feder .
Wallberg ließ keinen guten Faden an dem Buche .
Er nannte es die leichtfertige Arbeit eines unreifen Menschen , sprach ihm jeden literarischen Wert ab , warnte vor solcher Lektüre , welche geeignet sei , die sittlichen Begriffe zu verwirren , und benutzte die Gelegenheit , mit der Moderne , für deren Weltanschauung und Kunstprinzip dieses traurige Machwerk typisch sei , gründlich ins Gericht zu gehen .
Daß Wallberg seinen Roman loben würde , hatte Fritz Bärtig nicht angenommen , nachdem er neulich an Frau Hilschius Tische die Klingen mit diesem fanatischen Alten gekreuzt hatte .
Aber daß der Mann eine so animose Kritik schreiben werde , hatte er doch auch nicht für möglich gehalten .
Voll Entrüstung lief Fritz mit dem Zeitungsblatt zu Weißbleicher .
Der Verleger , der den Artikel bereits kannte , faßte die Sache jedoch ziemlich kühl auf .
" Schadet gar nichts ! " meinte der erfahrene Mann , " schadet gar nichts !
Im Gegenteil , der Professor bringt uns die Leute nur auf den Geschmack .
Ich kannte einen Autor , der lancierte selbst Artikel , die seine Bücher in Grund und Boden verrissen , in die Blätter .
Was die Menschen heute über ein Buch lesen , haben sie morgen meist schon vergessen ; daß der Name im Gedächtnis bleibt , ist die Hauptsache .
Wenn Professor Wallberg sagt : Ihr Buch wirke demoralisierend , so macht er Ihnen mit dem einen Worte die großartigste Reklame .
Ich wette , eine Menge Leute laufen daraufhin zum Buchhändler , die , wenn er gesagt hätte , es sei ein gediegenes Werk , daran nicht dächten . "
Wieweit der Verleger mit dieser Behauptung recht habe , war schwer zu beurteilen .
Jedenfalls stellte Fritz Bärtig fest , daß sein Roman unter der Überschrift " Sensationelle Neuheit " in den meisten Buchläden auslag .
Und daß sein Name bekannt zu werden beginne , ersah er aus den Zuschriften , die er erhielt .
Tagesblätter forderten ihn zur Mitarbeiterschaft auf .
Ein Zeitungsverleger fragte an , ob der Autor von » Das Geschlecht « nicht für sein Blatt , das hauptsächlich von Damen gelesen werde , einen ähnlich spannenden Roman , " nur etwas naiver " , verfassen könne .
Einen Ausbruch begeisterter Bewunderung enthielt ein Brief , den der Dichter Karol an Fritz Bärtig richtete .
Er glich einer Liebeserklärung .
Fritz kannte die Art Silbers nun zur Genüge , um einiges von diesem Enthusiasmus auf Konto seiner theatralischen Ader zu setzen .
Aber der Brief tat dem Autor doch wohl ; er war ihm ein Beweis , daß sich dieser Leser ganz von dem Buche hatte ergreifen lassen .
Und welchem Dichter dünkte solche Wirkung nicht der beste Dank ! -
Am Schlusse seines Briefes fragte Silber an , ob es Herrn Bärtig recht sei , wenn er in einem Blatte , das ihm weißes Papier zur Verfügung stelle , eine Erwiderung schreibe gegen Professor Wallbergs unqualifizierbare Kritik .
Fritz schrieb zurück , daß er dagegen natürlich nichts einzuwenden habe .
Es fügte sich , daß er Silbers Artikel zuerst aus Heinrich Lehmfinks Hand erhielt .
Die beiden Freunde saßen im Café beisammen , wie gewöhnlich umgeben von Zeitungen , als Lehmfink die letzte Nummer eines Blattes radikaler Färbung über den Tisch hinweg an Fritz reichte .
" Da , unerwartete Ehrung !
Herr Siegfried Silber reitet für dich in die Schranken ! "
Fritz las den Artikel durch .
Er war gepfeffert .
Mit ätzendem Hohn begoß der Verfasser den alten Herrn , dem persönliche Voreingenommenheit und die geifernde Mißgunst seniler Impotenz vorgeworfen wurde .
In geschickter Weise hatte Silber die Sache so zu wenden gewußt , daß der Tadel der Leichtfertigkeit , Geschmacklosigkeit und Eitelkeit , den Wallberg gegen den Autor des Geschlechts und gegen die ganze junge Richtung geschleudert hatte , ihm mit Zinsen zurückerstattet wurde .
" Wird dir nicht bange bei diesem Verteidiger ? " fragte Lehmfink .
" Es ist immerhin eine Tat , " erwiderte Fritz , " einem Manne von dem Einflusse Wallbergs so ungeniert auf die Finger zu klopfen . "
" Wie ich Siegfried Silber kenne , mein lieber Bärtig , wird er dir die Rechnung für diese Leistung über kurz oder lang präsentieren . "
- Fritz war über seinen Freund Lehmfink wirklich ärgerlich .
Was mußte er an Silbers Besprechung herummäkeln ; er , der selbst für " das Geschlecht " nichts übrig gehabt hatte als ein absprechendes Urteil .
Manches Wort des Freundes war von neulich her in Fritzens Gedächtnis haften geblieben und ließ dort geheime Widerhaken fühlen .
Eigentlich hatte Lehmfink kein Recht , zu urteilen , wie er es getan .
An der Klugheit , Belesenheit und der gründlichen Bildung des Freundes wollte Fritz nicht zweifeln ; aber Lehmfink war vielleicht doch zu sehr in der Philologie , von der er ursprünglich ausgegangen , stecken geblieben .
Davon haftete ihm die Pedanterie , die Hausbackenheit und ein Rest von Engigkeit an , die es ihm unmöglich machten , dem modernen Empfinden bis in seine äußersten Konsequenzen zu folgen .
Daß er keine Künstlernatur war , hätte schließlich nicht ein Hindernis zu sein brauchen , ein Nachempfinder und Kundschafter des Neuen zu werden .
Was Lehmfink fehlte , waren die Nerven , die empfindlichen , auf die feinsten Stimmungen eingestellten und auf die subtilsten Reizungen reagierenden Nerven , und damit die letzte Verfeinerung des Geschmackes und der Genußfähigkeit .
Die Antike konnte Lehmfink verstehen , die neuere Kunst auch , soweit sie sich in den Bahnen bewegte solid bürgerlicher Weltanschauung ; dahinter kam für ihn die Scheidewand .
Es war traurig , bei einem sonst so ausgezeichneten Menschen und treuen Freunde diese Schranke der Anlage zu beobachten .
Hier , nicht in seinen äußeren Mißerfolgen , lag wohl die Tragik von Lehmfinks Persönlichkeit .
Was Lehmfink schrieb , mochten es Bücherbesprechungen sein , Theaterrezensionen , Essays , literarhistorische oder feuilletonistische Artikel , war gediegene , gründliche , reinliche Arbeit , getragen von Treue und Ernst , hinter jeder Zeile stand die Überzeugung eines ganzen Mannes .
Was war es also , was dem Freunde fehlte , um ihn zu einem Kritiker großen Stiles zu machen , für den er so viele wichtige Eigenschaften besaß ?
Fritz legte sich die Frage wiederholt vor , wenn er vor Lehmfinks Arbeiten eine gewisse Langeweile empfand .
Es kam ihm dann wohl vor , als rede jener eine andere Sprache , als stammten seine Sentenzen , trotzdem sie in funkelnagelneuem Druck auf frischem Papier zu lesen standen , aus einer verflossenen Periode .
Gehörte Lehmfink nicht vielleicht zu der Klasse jener um ein paar Jahre zu spät Geborenen , die noch viel weniger gelten , als die , welche zu früh in ihre Zeit geboren sind ? -
Er besaß nicht die weitherzig kühne Lust am Gewagten , die Witterung für das Neue , den instinktiven Spürsinn für das , was Zukunft hat , die dem Pfadfinder auf geistigem Gebiete genau so angeboren sein müssen , wie dem Entdecker von Weltteilen .
Er operierte mit Begriffen aus einer überwundenen Ethik , holte seine kritischen Maßstäbe aus der Rüstkammer einer veralteten Ästhetik .
Daß es Neuland gäbe , wo für moderne Bedürfnisse moderne Gesetze gefunden werden mußten , wollte seinem konservativen Schädel nicht eingehen .
Ähnlich rückständige Ansichten , aber in minder liebevoller Form , wie Heinrich Lehmfink , äußerte in einem Briefe Fritzens Schwester Konstanze über den Roman .
Fritz hatte seiner Familie wohlweislich kein Exemplar zugeschickt ; wußte er doch , daß die Lektüre bei ihnen nur moralische Entrüstung auslösen würde .
Nun hatten sie sich den Roman selbst angeschafft ; eine Verschwendung , die er ihnen gar nicht zugetraut hätte .
Wie Fritz erwartet hatte , war der schwesterliche Brief voll von Vorwürfen .
Alles an dem Buche fand Konstanze tadelnswert : den " gräßlichen Titel " und den " unanständigen Inhalt " .
Warum denn Fritz nicht wenigstens ein Pseudonym gewählt hätte ?
Es sei für die Familie höchst widerwärtig , den Namen Bärtig in Verbindung mit einer solchen Sache durch alle Zeitungen gezerrt zu sehen .
Frau Wedner legte eine Kritik bei , die sie aus einem christlich-konservativen Blatte ausgeschnitten hatte .
Daraus könne Fritz ersehen , wie die anständigen Leute über seine Leistungen dächten .
Wedner habe gesagt , es sei ihm ganz besonders peinlich , daß sein eigener Schwager jener revolutionären und frivolen Geistesrichtung angehöre , die jetzt aufkomme , da er es sich zur Lebensaufgabe gemacht habe , die Nuditäten in Kunst und Literatur zu bekämpfen .
Dann der Ausruf :
" Was würde unser herrlicher Vater dazu sagen ! " -
Ob Fritz denn alle Pietät abhanden gekommen sei ?
Ob er denn nicht etwas Rücksicht nehmen wolle auf die Gefühle der Schwester und auf die Stellung des Schwagers ? -
Er zerriß den schwesterlichen Brief .
Man wußte wirklich nicht , sollte man über ein solches Dokument hirnverbrannten Mißverstehens lachen , oder sich ärgern ! - Rücksicht nehmen ? -
Pietät ?
- -
Hatte er wirklich der Familie soviel zu danken , daß sie diese Forderung an ihn stellen durfte ? -
Sein " herrlicher Vater " !
Wie Hohn klang das Wort ihm ins Ohr .
Nicht einen Freund und Führer hatte er im Vater gehabt , nein , einen pedantisch verständnislosen Zuchtmeister , der nur immer bestrebt gewesen war , mit der Schere der Korrektheit beim Sohne die Triebe der Eigenart zu verschneiden .
Und die übrige Familie !
Das beste , was er besaß , seine Dichterbegabung , hatte er gegen ihre nörgelnde Mißbilligung verteidigen müssen .
Immer nur hatten sie versucht , ihn von seinem Wege abzulenken .
Nie war ihm ein Wort des Verständnisses , des liebevollen Eingehens auf seine Anlagen , seine Bedürfnisse , von jener Seite gekommen .
Nur immer verdächtigt und verkleinert hatten sie ihn , gerade in seinem Besten ihn herabzuziehen versucht .
Er war weder dem Andenken des Verstorbenen Pietät , noch den Lebendigen Rücksicht schuldig . * * * Schließlich trug ihm das neue Buch auch einen unerwarteten Besuch ein .
Theophil Alois Hilschius erschien eines Sonntags vormittags in Fritzens Zimmer , mit feierlicher Miene , schwarz gekleidet , wie zu einem Leichenbegängnis .
Es stellte sich heraus , daß der Dichter des " Sulla " dem Verfasser des " Geschlecht " seinen kollegialen Glückwunsch darbringen wollte .
Theophil Alois entledigte sich seiner Aufgabe mit Würde .
Sah er vielleicht im Geiste schon die Kommentare und Abbildungen , die sich in der Zukunft an ein derartiges Ereignis der Literaturgeschichte knüpfen würden ? -
Der junge Mann lobte das Buch .
Vor allem habe ihn daran das Physiologisch-Pathologische interessiert .
Auch er habe sich mit ähnlichen Problemen getragen .
Er sei entschlossen , sich nunmehr dem Gebiete des analytischen Romanes zuzuwenden .
Es fehle uns in Deutschland diese Kunstgattung noch ganz und gar .
Er werde , um diesem Mangel abzuhelfen , demnächst einen Roman-Zyklus zu schreiben beginnen , der das gesamte zeitgenössische Leben umfassen sollte und auf einige zwanzig Bände berechnet sei . -
Fritz Bärtig mußte die nähere Auseinandersetzung des Planes zu diesem " monumentalen Werke " der " Zeit- und Massenpsychologie " , wie der zukünftige Autor es selbst nannte , geduldig über sich ergehen lassen .
Aber Theophil Alois Hilschius verband mit diesem Besuche noch eine andere Absicht .
Er habe seine Maturitätsprüfung bestanden , berichtete er .
Fritz gratulierte und erkundigte sich , wohin sich der junge Herr nunmehr zu wenden gedenke .
Seine Mutter habe ihm einen Check über dreitausend Mark gegeben , ließ Theophil mit gut gespielter Gleichgiltigkeit fallen .
Er solle eine Reise machen .
Aber da er gar keine Lust verspüre , allein zu reisen , sei er gekommen , Herrn Bärtig zu fragen , ob der ihn nicht begleiten wolle , selbstverständlich auf seine , Hilschius , Kosten .
Fritz war über diesen Vorschlag einigermaßen erstaunt .
Er erkundigte sich zunächst , wo denn die Reise hingehen solle .
Theophil meinte , das sei ihm im Grunde gleichgültig .
Aus Landschaft mache er sich nichts , das Psychologische sei ihm alles .
Jedoch wäre er bereit , eine Reise ans Nordkap zu unternehmen , obgleich er das Meer brutal fände .
Übrigens habe er einen Brief abzugeben von seiner Schwester Annie .
Frau Eschauer schrieb an Fritz Bärtig :
er habe Gelegenheit , ein gutes Werk zu tun , wenn er ihren Bruder auf seiner ersten Reise begleite .
Sie schlug Norwegen vor .
Auf der Rückfahrt sollten die beiden nach Rügen kommen , wo sie mit dem Gatten und einigen Freunden sein würde .
Ihre Ansicht über seinen Roman könne sie Fritz nur mündlich sagen .
Der Schluß war ein :
" Auf Wiedersehen am Strande von Binz ! "
Der Plan hatte viel Verlockendes .
Er war wie die plötzlich vom Himmel gefallene Erfüllung eines unmöglichen Wunsches , mit dem man gelegentlich schon geliebäugelt hatte .
Das Nordland !
Was verbanden sich mit dem Begriff für Erwartungen unerhörter Naturschönheit , zauberhafter Stimmung des Primitiven , Urkräftigen , Unentweihten .
Und darüber als feinster Duft die geistigen Beziehungen , die den modernen Menschen mit jenen durch ihre großen Dichter plötzlich aktuell gewordenen Ländern verbanden .
- Gerade in den letzten Wochen hatte Fritz Bärtig einen unbändigen Drang in sich gefühlt nach Natur .
Die Stadt war ihm wieder einmal ganz unerträglich geworden .
Hitze und Staub des Hochsommers hatten das enge Quartier in ein Infernum verwandelt .
Durch Ausflüge , Spaziergänge , Dampfschifffahrten hatte er sich Abwechslung zu schaffen versucht .
Aber auf die Dauer langweilte das .
Die Umgebung der Stadt , die anfangs durch eine gewisse Anmut und Niedlichkeit seinen Beifall erregt hatte , war ihm eintönig und schal geworden , wie ein süßer Trank ohne kräftiges Aroma .
Diese niederen Höhen waren ja nur Ansätze zu Bergen , der Fluß , jetzt wieder ganz seicht , die Karikatur eines Stromes ; und die viel gepriesenen Felsen und Schluchten des Duodezgebirges oberhalb der Stadt erinnerten ihn an Theaterkulissen .
Und dazu überall die Restaurationen , Haltepunkte , Ruheplätze und Aussichtstürme !
Alles bebaut , verschönert , korrigiert , reguliert durch die Menschenhand .
Und selbst da , wo aus Versehen ein Stück Natur in seiner ursprünglichen Keuschheit geblieben war , nichts Imposantes .
Eine Landschaft , die weder Fleisch war noch Fisch .
Nicht Ebene mit der Größe der Einförmigkeit in unendlicher Ausdehnung , und auch nicht Hochgebirge mit der Wucht der Massen und der Klarheit großer Formen und Linien .
Es war die Unklarheit des Zwitterdinges , des Überganges vom Mittelgebirge in die Ebene , von Land in Stadt , was dieser Gegend den Stempel des Unbedeutenden , Erkünstelten und Spieligen aufdrückte .
Und Fritz brauchte gerade in dieser Zeit den Anblick von Großem , Ursprünglichem .
Seit er sein Buch veröffentlicht hatte , kam er sich so zwecklos vor .
Er war auf der Suche nach neuen Impulsen , nach Ausfüllung , nach einem Ersatz für das , was er an Kräften hergegeben hatte .
Wohl regten sich Stimmungen in ihm , Töne erklangen , schüchtern klopften Gedanken an ; aber verdichtet zur geschlossenen Idee hatte sich davon noch nichts .
Ein starker Eindruck von außen , das wußte er aus Erfahrung , machte oft die gehrenden , nach einem Mittelpunkte suchenden Elemente sich schneller und schöner zum Kristalle zusammenschließen .
Nichts war in solch kritischer Zeit der Empfängnis , wo die Urzellen heranwuchsen des zukünftigen Kunstwerkes , gleichgültig , nicht die Luft , in der man lebte , nicht die Bilder , die das Auge aufnahm .
Auch darin waren Künstler und Mütter einander ähnlich ; Genuß , Stimmung , Beschäftigung , die leichten Strömungen an der Lebensoberfläche , wirkten doch hinab bis in jene geheimnisvollen Gründe , wo die keimende Frucht ihre Säfte aus dem ganzen Organismus an sich zieht .
Zu der inneren Sammlung aller Seelenkräfte , aus der allein eine Dichtung ihren Ursprung nehmen kann , war Fritz Bärtig in der letzten Zeit nicht gekommen .
Er hatte viel des Aufreibenden , Unerquicklichen und Häßlichen erlebt .
Da war die ewige Geldfrage , mit ihren empfindlichen Demütigungen im Gefolge .
Dann der Kampf mit der Quartierwirtin , die nun , wo es feststand , daß die Mieter ausziehen würden , ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen suchte .
Das Erlebnis mit dem Stuckateur Glück trug auch das seine dazu bei , Fritz Bärtig den Boden unter den Füßen heiß zu machen .
Am schwersten aber lastete auf seinen Nerven die trübe , gedrückte Stimmung , in der Alma sich neuerdings befand .
Fritz hatte dem Mädchen gegenüber von der Notwendigkeit gesprochen , zukünftig in getrennten Quartieren zu wohnen .
Er war der Ansicht , daß dies für beide Teile besser sei , ein jedes könne dann seiner Beschäftigung ungestörter nachgehen .
Auch entgehe man dann leichter dem Klatsch und der Neugier Dritter , von denen sie genug zu kosten bekommen .
Fritz hatte sich daraufhin auch schon Quartiere angesehen .
Eines , das in der Nähe des Geschäftes lag , für welches Alma arbeitete , schien ihm sehr zweckentsprechend .
Wohin er selbst ziehen würde , wußte er noch nicht .
Seinen Vorstellungen , daß man bei einer solchen ja nur rein äußerlichen Trennung viel mehr von einander haben werde , schenkte Alma keinen Glauben .
Mit Gründen der Logik war ihr nicht beizukommen .
Wenn sie sich überhaupt darauf einließ , mit ihm über den Umzugsplan zu sprechen , so war ihre einzige , stets wiederkehrende Behauptung :
" Es geschieht nur , weil du mich satt hast ! " -
Und ihre trübe Miene und der verzweifelte Blick sagten , daß es ihr mit dieser Furcht wirklich ernst sei .
Sie war nicht dazu zu bewegen , sich die Wohnung , in die sie ziehen sollte , auch nur von außen anzusehen .
Fritz aber fand es sehr aufreibend , ihren Widerstand zu bekämpfen .
Wenn er es mit trotziger Auflehnung zu tun gehabt hätte , wäre ihm das noch lieber gewesen , als diese stummen , vorwurfsvollen Mienen und langweiligen Tränen .
Alma wußte es eben nicht - und man durfte es ihr auch nicht sagen - , wie groß die Gefahr sei , die in dem steten Zusammenleben , in dem Eng-aneinander-gebunden- sein ihre Liebe bedrohte .
Wieviel Anmut und Reiz büßte ihr Gesicht , ihre Gestalt , ihre ganze , körperliche Gegenwart ein , dadurch daß Fritz sie oft in den ernüchternden Situationen des Alltagslebens sah .
Wie wurde selbst das Feuer ihrer Umarmungen abgeschwächt , weil er sie nicht zu suchen brauchte , sie haben konnte , wann er wollte .
Das arme Ding ahnte nicht , wie begrenzt das Maß sinnlicher Anziehung ist , welches auf die Dauer eine Frau auf den Mann auszuüben vermag .
Sie wußte nichts von der Ökonomie des Genusses , welche die Frau üben muß , will sie den Mann für immerdar an sich fesseln .
Ein geistiges Sich-in-einander-einleben war bei diesem Paare ausgeschlossen .
Alma klammerte sich ängstlich an das Einzige , was ihr von dem Geliebten gewährt wurde , an seine leibliche Gegenwart .
Immer inniger wollte sie ihn an sich binden ; am liebsten hätte sie ihn Tag und Nacht an ihrer Seite gehabt , im stillen schon argwöhnend , daß er sich zurückziehen wolle von ihr .
Daher die verzweifelte Glut ihrer Hingabe .
Nur wenn sie nahe bei einander waren , wußte sie , daß er ihr ganz sicher sei .
Nichts ahnend trieb sie ein gefährliches Spiel ; niemand sagte ihr , daß durch tägliche Auszahlung in kleiner Münze der Liebesschatz , so groß er anfänglich gewesen sein mochte , mit der Zeit unwiederbringlich verrinnen mußte .
Fritz , der als Mann in viel höherem Grade befähigt war , sich über das Liebesverhältnis verstandesmäßig bewußt zu erheben , als das Mädchen , dem ihre Liebe heiligster Lebensinhalt war , Fritz sagte sich ganz nüchtern , daß eine Trennung noch am ersten ihre Neigung verjüngen werde .
Das Verlangen zu einander würde wachsen , dem Bedürfnis der Zärtlichkeit neues Blut zugeführt werden .
Mit gutem Gewissen konnte er Alma für einige Zeit verlassen ; auch ihr würde ja das Beste zu gute kommen von den starken Eindrücken , dem freien , sorglosen Leben , die er da draußen auf dem Meere , im Nordland zu genießen hoffte .
Ein feuriger Liebhaber würde er zurückkehren in die Arme seines Mädchens .
Fritz Bärtig erwartete Großes von dieser Reise .
Der Künstler in ihm wollte neue Farben , neue Strahlen einheimsen aus dem ewig mannigfaltigen Spektrum der Natur .
Seine Liebe wollte er schützen vor den Gespenstern der Langeweile und des Überdrusses , die ihr schon einigemal drohend gewinkt hatten .
Und sein ganzes Dasein sollte ein frischerer Luftzug befreien , vom Spinnweb der üblen Laune , der Sorge und des Zweifels .
- Holder of rights
- Bildungsroman Projekt
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- TextGrid Repository (2025). Korpus. Wurzellocker. Wurzellocker. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0pn.0