Erster Teil Schloß Nevershuus lag grau und schwerfällig unter hohen Bäumen mit seinen breiten Seitenflügeln und dem viereckigen Turm , der kaum das Dach überragte .
Aber von seiner Plattform aus konnte man weit über Meer und Heide sehen und auf die kleine Küstenstadt hinunter , die sich zwischen Deichen und grünen Wiesen hinzog .
In früheren Zeiten sollte es einmal irgendeiner schlimmen Fürstin als Witwensitz gedient haben - von daher stammten wohl die altersschwarzen Ölbilder droben im Rittersaal und allerhand Spukgeschichten , die immer noch im Volksmund fortlebten , obgleich das Gut jetzt schon lange im Besitz der Familie Olestjerne war und die gemalten Damen mit ihren feierlichen Mienen auf die Schicksale und das Treiben einer anderen Zeit herabsahen .
Es konnte immer noch einen melancholisch unheimlichen Eindruck machen , das alte Schloß , wenn die Herbststürme durch alle Kamine heulten wie geängstigte arme Seelen , oder wenn der Nebel vom Meer heraufstieg und alles in seine wogenden grauen Schleier einhüllte .
Aber es hatte auch seinen Frühling und seinen Sommer , wo die Sonne alles Düstere aus den weiten hohen Räumen herausleuchtete , wo der reiche grüne Garten um die grauen Mauern blühte und drüben in der Ferne das Meer blau und schimmernd dalag .
Für die Bewohner von Nevershuus ging die schöne Jahreszeit ebenso still und gleichförmig hin wie der Winter .
Der Gutsherr Christian Olestjerne war meist draußen im Felde oder auf der Jagd , und seine Frau saß mit ihrer ältesten Tochter am Steintisch unter den Buchen , wenn sie nicht in Küche und Vorratskammer zu tun hatten .
Die Freifrau Anna Juliane war eine schöne , stattliche Frau mit raschen , dunklen Augen und eiserner Tatkraft - von früh bis spät auf den Beinen , um überall nach dem Rechten zu sehen .
Aber dabei hatte sie nichts Leichtes in ihrer Art , das Leben zu nehmen , es türmte sich alles vor ihr auf wie ein Berg , über den sie nie hinaussehen konnte - die Wirtschaft , der große Haushalt , die Kinder , tausend Dinge , die täglich zu tun und zu überlegen waren und ihr beständig im Kopf herumgingen .
Seit ihre Älteste erwachsen war , hatte sie nun wenigstens jemand , mit dem sie das alles teilen und beraten konnte , während sie des Vormittags im Garten saßen , Wäsche ausbesserten oder Obst zum Einkochen schälten .
Wenn nur das Heu von den Strandwiesen hereinkäme , ehe es wieder Regen gab und alles zugrunde ging wie im vorigen Jahr - Gott weiß , der Vater hatte diesen Frühling schon genug Ärger gehabt ; das durfte nicht noch dazu kommen .
Wie lange würde sich Nevershuus überhaupt noch halten lassen , bei all den mißlichen Verhältnissen .
" Ach Mama " , sagte dann wohl Marianne in ihrer ruhigen Weise , " quäl ' dich doch nicht darum , es hat ja noch Zeit bis zur Heuernte . "
Aber die Mutter war schon längst wieder bei anderen Gedanken - ob Marianne meinte , daß das neue Kindermädchen zuverlässig sei ?
Ellen und Detlev waren in letzter Zeit gar so unbändig , und sie hatte jetzt doch nur die beiden Kleinen zu hüten .
Und wie würde es Erik nun wohl auf der Schule gehen - mit Kai wollte es ja immer noch nicht recht vorwärts , und vor allem war seine Gesundheit eine rechte Sorge .
Ja , Sorgen überall , und Sorgen mußten ja sein .
Es war ein Wort , das die Freifrau häufig gebrauchte , und wenn sie dabei angekommen war , konnte sie so aus tiefster Seele heraus seufzen .
Dann fiel ihr plötzlich wieder ein , daß sie versäumt hatte , irgend etwas anzuordnen , und sie ging mit ihrem raschen Schritt ins Haus hinein , um es nachzuholen .
Manchmal seufzte Marianne dann im stillen mit : die Mutter ließ sich und anderen wenig Ruhe , und ihre rastlose Lebhaftigkeit hatte beinahe etwas Aufreibendes - es war keine Kleinigkeit , ihr immer das Gleichgewicht zu halten , besonders , wenn sie sich in Taten umsetzte .
Mochten nun die Dienstboten etwas versehen haben , die Jungen mit schlechten Zeugnissen heimkommen , oder die Kleinen irgendein Unheil anrichten - immer war es Marianne , bei der sie Zuflucht suchten , die alles ausgleichen und vermitteln sollte .
So atmete sie meist erleichtert auf , wenn der stürmische Vormittag vorüber war und die Mutter sich nach Tisch mit einem Buch ins Wohnzimmer zurückzog .
Für Marianne kamen dann die besten Stunden des Tages , wo sie dem Vater bei seinen Schreibereien half , oder ihn bei seinen Rundgängen auf dem Gut begleitete .
Auch die jüngeren Geschwister wußten diese häusliche Nachmittagsruhe nach Kräften zu genießen .
Es war die Zeit , wo sie ungestört allen möglichen verbotenen Unternehmungen nachgehen konnten - den alten Gärtner drüben im Nebenhaus besuchen , wo sie Kaffee bekamen und an seinen langen Pfeifen rauchen durften , oder die Dorfkinder , die schon lange wartend am Gitter standen , hereinlassen und mit ihnen am Graben Brücken bauen und Schiffe schwimmen lassen .
Das Kindermädchen hatte noch zu tun , und wenn Erik dabei war , ließ man die Kinder ruhig eine Zeitlang ohne Aufsicht .
Ellen folgte dem älteren Bruder durch dick und dünn und zog den kleinen Detlev an der Hand hinter sich her .
Mit vereinter Anstrengung bekamen sie ihn über alle Gitter und Schwierigkeiten weg , und wehe ihm , wenn er schrie oder sie verklagte .
In diesem Sommer war das Nachmittagsglück nicht mehr so ungetrübt wie früher , denn seit Erik zur Schule ging , wurde er hochmütig , fing an , Ellen , die sonst seine unzertrennliche Gefährtin war , zu verachten , um sich zu den Großen zu rechnen .
Sie hatte jetzt manches auszustehen - zuweilen fiel es ihm ein , ihr Unterricht zu geben , sie sollte ihm Geschichten nacherzählen oder Buchstaben in den Sand schreiben , und lehnte sie sich im Gefühl ihrer Ohnmacht dagegen auf , so wurde sie einfach übergelegt und durchgeprügelt .
Manchmal kam dann Lise , das Kindermädchen , ihr zu Hilfe : " Laß doch Ellen in Ruhe , was hat sie dir getan ? "
" Da brauchst du dich gar nicht hineinzumischen " , sagte Erik überlegen .
" Mama ist immer sehr strenge mit Ellen , und wenn sie nicht da ist , muß ich Ellen verhauen , damit sie sich nichts einbildet . "
Im ganzen war das Mädchen recht froh , ihn jetzt für einen Teil des Tages los zu sein ; wenn er wieder zur Schule war , ging sie mit den beiden Kleinen auf die einsame Graskoppel hinter dem Garten , wo Owe Jensen , der lange blonde Knecht , arbeitete .
Und die ganze Gesellschaft war dann sehr vergnügt , Owe ließ seine Arbeit liegen und wanderte mit Lise langsam die breiten , grasüberwucherten Wege entlang , während die Kinder Hand in Hand hinterdrein trottelten .
Zuweilen brachte er auch seinen Freund mit ; das war Lise zuerst nicht ganz recht gewesen , denn Klaus Sörens war eine Art Räuberberühmtheit in der Umgegend und erst vor kurzem aus dem Zuchthaus entlassen .
Aber allmählich fand sie , daß es auch seine Vorteile hatte , wenn er mitkam .
Dann konnte sie ungestört mit Owe im Gras liegen und brauchte sich nicht um die Kleinen zu bekümmern .
Detlev bekam einen schönen , weichen Platz , wo er schlief oder mit den Beinen im Sonnenschein strampelte , und der Zuchthäusler spielte mit Ellen .
Sie liebte ihn leidenschaftlich und war selig , wenn er mit ihr herumjagte oder ihr Blumen und Erdbeeren pflückte .
Man hatte ihr wohl eingeschärft , nichts davon zu erzählen , und das tat sie auch nie .
Bei Lise und ihren Freunden fühlte sie sich viel wohler wie zu Hause , denn Mama und Prügel kriegen waren so ziemlich die ersten Begriffe , die ihr Bewußtsein zu fassen vermochte und die für sie in eins zusammenfielen .
Die kleine Ellen hatte schon frühzeitig ein dunkles Gefühl davon , daß sie mit dem linken Fuß auf die Welt gekommen sein mußte .
Sie war ein etwas schwächliches , zurückgebliebenes und dabei scheues , trotziges Kind , an dem niemand besondere Freude hatte , und das zwischen den beiden Brüdern nicht recht zur Geltung kam .
Eigentlich war sie überflüssig und wurde fortwährend hin und her geschoben .
Wenn Erik ihre Gesellschaft wünschte , durfte sie mit zu Nachbarskindern oder Besuchen , wußte er nichts mehr mit ihr anzufangen , so wanderte sie wieder in die Kinderstube .
Und er konnte sie nur brauchen , solange sie sein willenloses Werkzeug und Echo war , Löcher wühlte , wo er Bäume pflanzen wollte , ihm die Bälle aufsammelte oder auch nur dabeistand und seine Taten bewunderte .
Aber mit der Zeit bekam sie ihren eigenen Kopf , wurde eigensinnig und ungefällig und wandte sich immer mehr dem kleineren Bruder zu .
Im Grunde fuhr sie dabei noch schlechter wie früher , denn war schon Erik verzogen und bewundert , so wurde Detlev , das goldhaarige Jüngste , vom ganzen Hause vergöttert und stellte sie völlig in den Schatten .
Dazu kam noch , daß sie jetzt die Ältere war und für alles , was sie zusammen verbrachen , die Verantwortung zu tragen hatte .
Ellen kam allmählich zu dem Schluß , es läge alles nur daran , daß sie ein Mädchen war ; das bekam sie ja unzählige Male zu hören :
Kleine Mädchen dürfen nicht so wild sein - kleine Mädchen klettern nicht auf Bäume - kleine Mädchen müssen ihre Kleider schonen - diese verwünschten rosa und weißen Kleider , die sie zu Tisch anbekam und die immer gleich zerrissen oder schmutzig waren .
Manchmal klagte sie dann verzweifelt dem Mädchen ihr Leid :
" Wenn ich doch nur ein Junge wäre ! "
Und Lise tröstete sie :
" Warte nur , bis du sechs Jahre alt bist , dann wirst du einer . "
Der sechste Geburtstag kam und brachte ihr die erste , schwere Enttäuschung .
Als sie aufwachte , wollte sie Kleider von Erik anziehen , denn jetzt war sie doch ein Junge und wollte auch verzogen und bewundert werden .
Aber sie wurde nur entsetzlich ausgelacht , selbst der Vater lachte mit , und dann erfuhr sie , daß sie immer ein Mädchen bleiben müßte .
An dem Tage konnte Ellen sich über nichts mehr freuen .
Dafür war sie nun sechs Jahre alt und sollte anfangen , lesen zu lernen , neben Mama auf der grünen Gartenbank stillsitzen mit den schrecklichen Buchstaben vor sich , die man nie behalten konnte .
Die Buchen waren eben erst grün geworden , die Luft voller Bienensummen und sommerlichem Gezwitscher .
Das machte Ellen so zerstreut , daß es mit dem Lesen durchaus nicht gehen wollte .
Drüben schaufelte Detlev in dem großen , weißen Sandhaufen , jeden Augenblick schielte sie sehnsüchtig zu ihm hinüber .
Aber die Mutter ließ nicht aus , sie nähte und schalt , während Ellen wahre Fieberphantasien buchstabierte .
Fast regelmäßig endete es mit Klapsen und Tränen , und dann kam das Allerschlimmste : der lange , graue Strumpf , an dem sie zur Strafe stricken mußte , - der Strumpf , der nie ein Ende nahm und auf den viele , viele Tränen hinunterliefen , während Detlev im Sand spielte und die Sonne schien .
War Ellen dann endlich entlassen , so ließ die Mutter einen Augenblick ihre Näherei sinken und seufzte :
" Es ist doch wirklich ein Kreuz mit dem Kind ! "
Gegen Ende des Sommers wurde der fünfzehnjährige Kai schwer krank .
Die Mutter war Tag und Nacht bei ihm , und die anderen Kinder bekamen sie kaum mehr zu sehen .
Marianne mußte für den Haushalt sorgen , und so gab es einmal wieder Freiheit , denn diese hatte alle Hände voll zu tun und konnte sich nicht viel um die Kleinen kümmern .
Während dieser Zeit schlief auch Ellens Unterricht fast ganz ein , statt dessen entstand ein erbitterter Wettkampf zwischen Erik und ihr , wer die schönsten Teufel zeichnen könnte .
Da kam eines Tages Mariannes Freundin Hedwig Janssen dazu , die eine Pastorentochter war , und sagte mit ihrer etwas heiseren Stimme :
" Du solltest doch den Kindern verbieten , immerfort Teufel zu malen , ich finde es wirklich nicht recht . "
Marianne verbot es , und nun hatte das Zeichnen allen Reiz verloren .
Abends lag Ellen lange wach im Bett , drüben am Tisch saß das Kindermädchen und nähte .
" Du , Lise , wer ist eigentlich der Teufel ? "
" Warum willst du das wissen ? "
" Weil Hedwig gesagt hat , es wäre nicht recht , wenn wir ihn immer zeichneten . "
Lise versuchte ihr zu erklären :
Ein böser Geist , von dem alles Schlimme herkam und der große Macht besaß .
Das Kind setzte sich im Bett auf und horchte gespannt .
Zuletzt erzählte Lise ihr die Geschichte von einem Mann , der sich dem Teufel verschrieben hatte mit Leib und Seele .
Dafür bekam er alles , was er wollte , aber zuletzt , als er sterben sollte , erschien der Böse , um ihn zu holen , und er mußte mit in die Hölle .
" So , aber jetzt sollst du schlafen , Ellen . "
Kais Krankheit dauerte sehr lange , und selbst die Kleinen fühlten die trübe , lastende Stimmung , die über dem ganzen Hause lag .
Sie suchten sich alles mögliche auszudenken , was ihm Freude machte , denn sie hatten ihn alle sehr lieb .
Kai wollte Naturforscher werden , sein ganzes Zimmer war voll von Steinen , Schmetterlingen , ausgestopften Vögeln , und hinten im Garten stand ein verdorrter Baum , wo er tote Tiere für seine Skelettsammlung aufhängte .
Was die Geschwister jetzt an verendeten Katzen , ertränkten jungen Hunden und anderem Getier fanden , kam an den Baum , und sie freuten sich heimlich auf die Überraschung , wenn er wieder aufstand .
Aber Kai stand nicht wieder auf - - die Großen wußten es schon lange , daß er sterben mußte .
Mama war blaß , sie hatte tiefe Ringe um die Augen und schalt nicht mehr so viel , und der Vater sprach kaum ein Wort .
Eines Vormittags spielten die beiden Jüngsten im Garten .
Seit dem Frühstück hatten sie niemand von den anderen gesehen , und unten im Schloß war alles still .
Gegen Mittag kam Erik aus dem Haus , er setzte sich auf die eiserne Treppe , und Ellen hörte , daß er laut weinte .
Sie rannten zu ihm hin und quälten ihn mit Fragen , aber er schluchzte nur immer lauter .
" Kai ist tot ! "
Tot - Ellen empfand nur einen furchtbaren Schrecken , ein Gefühl von kalter , beklemmender Angst , wie sie es noch nie am hellen Tage gehabt hatte .
Sie klammerte sich fest an Erik und weinte entsetzt mit .
Detlev wurde auch bange , er wußte nicht , was das alles bedeuten sollte , und rief laut nach Mama .
Stadt dessen kam die alte Stina heraus , ihr Gesicht war ganz verstört und zusammengefallen - die Kinder hatten sie noch nie in Tränen gesehen .
" Ihr müßt ganz ruhig sein , ihr könnt jetzt nicht zu Mama . "
Dann ging sie mit ihnen durch den Garten .
Sie saßen am Abhang dicht beim Schloßgraben , und Stina und Erik sprachen darüber , ob Kai wohl in den Himmel gekommen sei : ja , gewiß war er das - Kai war ja ein so guter Junge , hatte so viel gebetet , noch in den letzten Tagen - denn er wußte ja selbst , daß er nicht wieder gesund würde .
Ellen hörte schweigend zu : wie konnten sie das so sicher wissen - und wie war es wohl im Himmel ?
Sie wußte sich nichts darunter vorzustellen , und dann kamen andere bange Gedanken : wenn sie selbst stürbe - sie käme gewiß nicht in den Himmel , weil sie so schlecht war .
Später kam Marianne und holte die Kinder ins Wohnzimmer .
Dann gingen alle zusammen hinauf .
- Alles war so still und unheimlich , Kai lag im Bett wie sonst , wie er die ganze Zeit dagelegen hatte , nur etwas blasser und mit gefalteten Händen .
Ellen hatte ihren Vater an der Hand gefaßt ; es war so sonderbar und so schrecklich , daß die Erwachsenen alle weinten und daß Kai wirklich tot war .
Und wie konnte er im Himmel sein , wenn er doch hier tot auf dem Bett lag ?
Die Mutter wußte den Tod ihres ältesten Jungen kaum zu verwinden .
Lange Zeit hindurch war sie leidend und schwermütig und konnte es nicht ertragen , die Kinder viel um sich zu haben , die immer wieder von Kai sprachen und nach ihm fragten .
So wurde für die beiden Kleinen eine Gouvernante ins Haus genommen , und Ellen bekam nun regelmäßige Stunden , Tag für Tag , unerbittlich .
Sie mochte immer noch nicht lernen , und es wurde ihr bitterschwer stillzusitzen .
Einförmig liefen die Tage hin unter vielen Tränen und ewigem Nachsitzen .
Als Detlev größer wurde , fing er an mitzulernen ; er war auffallend begabt und hatte die Schwester bald eingeholt .
Man wurde sich nun darüber klar , daß Ellen wirklich dumm sei , und sie tröstete sich selbst damit :
ich kann nun einmal nicht lernen .
Aber im ganzen war Fräulein Anna gutmütig und hatte viel Geduld .
Sie kam bald dahinter , daß Ellen für freundliche Worte zugänglicher war wie für Schelte , und sie vertrugen sich ganz gut miteinander .
Das Kind fühlte sich wie geborgen , wenn es nur dem Bereich der Mutter entfliehen konnte - mit Mama war es beständig , als ob man auf Eiern tanzte , jeden Augenblick ging eins kaputt .
Wenn sie sich alle Mühe gab , nicht ungezogen zu sein , tat sie unfehlbar irgend etwas , was verboten war oder sich für ein kleines Mädchen nicht schickte .
Öfters waren es allerdings auch schwerere Verbrechen , wo Ellen sich schuldig fühlte ; aber um Verzeihung bitten und Reue zeigen waren Dinge , die sie nicht über sich gewann , wenn Mama böse war .
So war sie eines schönen Tages mit Detlev verschwunden , und stundenlang wurde nach den beiden Kindern gesucht .
Gleich nach Mittag waren sie in den Garten gelaufen und von da auf die Koppeln .
Drüben auf der " Freiheit " war Schützenfest , die Musik und die vielen Leinwandzelte lockten unwiderstehlich .
Über den Wall , der nach dieser Seite hin das Gut abgrenzte , durften sie nicht hinaus , es war streng verboten , aber Ellen hatte bei dem verlangenden Hinüberschauen alles vergessen .
Sie kletterte hinüber und wagte sich mit Detlev an der Hand in das Gewühl .
Vor einer Schießbude traf sie ihren alten Freund Klaus Sörens , und das Wiedersehen erfüllte sie mit großer Seligkeit .
Er kaufte ihnen Lebkuchenherzen , ließ sie Karussell fahren und zeigte ihnen alles , was zu sehen war .
Besonders von den Seiltänzern waren sie nicht wieder wegzubringen , denn da waren fünf kleine Jungen , die sich in der Luft überschlugen und auf Kniestelzen tanzten .
Neben dem Zelt stand ein grüner Wagen mit Blumenstöcken in den Fenstern - darin wohnten sie , sagte Klaus , und fuhren von einem Ort zum anderen .
In Ellen zuckte es förmlich - wie mußten die glücklich sein !
Die ganze übrige Welt war für sie versunken und vergessen ; es war nur gut , daß Klaus sie schließlich nach Hause schickte .
Und nun kam ein jäher Sturz aus allen Himmeln .
Vor der Gartentür stand Mama :
" Um Gottes Willen , wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt ? "
Detlev war so begeistert , daß er sich gleich verschwätzte , und Ellen sah ein , daß lügen nichts half .
Aber erzählen wollte sie auch nicht , es war nichts aus ihr herauszubringen , nicht einmal mit Schlägen .
Wie immer , mußte sie selbst die Rute holen , die unter dem Klavier auf einem niedrigen Notenpult lag .
Während sie in das Halbdunkel unter dem Instrument hinein kroch , tanzten immer noch die bunten Bilder von der " Freiheit " vor ihren Augen .
Dann ließ sie die Strafe über sich ergehen und bis die Zähne zusammen , um nicht zu schreien .
Den Triumph sollte Mama nicht haben , die jedesmal ganz außer sich geriet über diesen stummen Eigensinn .
Für den Rest des Tages wurde Ellen in die Kinderstube geschickt .
Das Mädchen war ausgegangen , sie saß ganz allein in einer Ecke und sann Rache .
Sie war wütend auf Detlev , der nie den Mund halten konnte - und daß immer alles Schöne verboten war - und Mama - nicht einmal die Hunde bekamen so viel Prügel . -
Mama hatte wohl die Hunde auch viel lieber .
Das war nicht mehr auszuhalten , ihr Gesicht glühte vor Zorn und Aufregung .
Immer nur Schelte und Schläge - nein , sie wollte lieber fortlaufen , gleich morgen früh fortlaufen .
Und dann malte sich Ellen aus , wie sie immer den Deich entlang gehen würde , der sich so endlos in die Ferne schlängelte .
Denn da mußte es hinausgehen in die Welt . -
In eine große Pappschachtel packte sie ihre liebsten Sachen zusammen , um sie auf der Flucht mitzunehmen .
Dann dachte sie wieder an die Akrobaten , sie hatte Geschichten gelesen von Zigeunern , die Kinder raubten und zu Kunststücken abrichteten .
Die würden sie gewiß mitnehmen , und was für ein wundervolles Leben mußte das sein , ohne Stunden und Eltern und Gouvernanten .
Dazwischen fiel ihr plötzlich ein , was Lise vom Teufel erzählt hatte : wer sich ihm verschrieb , dem konnte er alles verschaffen , was er sich nur wünschte .
Es wurde Abend , die alten Marmorreliefs am Kamin schimmerten matt durch die Dämmerung , aber heute fürchtete Ellen sich nicht .
Sie saß tief in Gedanken und rang mit einem großen Entschluß .
Schließlich suchte sie sich einen von ihren schönsten bunten Briefbogen aus der Schublade , ging damit ans Fenster , wo es noch etwas hell war , und verschrieb sich dem Teufel mit Leib und Seele , wenn er ihr helfen wollte , zu den Zigeunern zu kommen .
Ellen steckte den Brief in ein Kuvert und legte ihn oben auf das Kaminsims , dann ging sie verstockt zu Bett .
Das Fortlaufen wollte sie nun einstweilen noch aufschieben .
Als sie ein paar Tage später nachsah , war der Brief verschwunden , der Teufel hatte ihn also wohl gefunden und mitgenommen .
- Ellen erschrak furchtbar , ihr Trotz war inzwischen schon wieder etwas abgesunken , aber nun gab es keine Rückkehr mehr .
Die Mutter und Fräulein Anna waren in der folgenden Zeit manchmal der Verzweiflung nahe , denn mit Ellen war nichts mehr anzufangen , sie wurde von Tag zu Tag ungezogener .
Wozu sollte sie sich jetzt noch Mühe geben , wenn sie doch dem Teufel gehörte .
Sie wartete nur darauf , daß er sich irgendwie betätigen würde , und fühlte sich einsam und verwegen , als ob die ganze Welt gegen sie stände .
Inzwischen überfiel sie manchmal eine furchtbare Angst - wenn er nun kam und sie holte , wenn er jetzt auf einmal hinter der Tür herausschaute !
Ellen wagte kaum mehr , durch ein dunkles Zimmer zu gehen .
Wenn sie ihre Aufgaben lernte , sah sie nach der Uhr : bis dahin muß ich fertig sein , sonst kommt er .
Sie zählte im Gehen Pflastersteine , Treppenstufen , Korridorfliesen und gelobte sich , nur auf jede vierte zu treten , dann sollte er keine Macht mehr über sie haben .
Manchmal konnte sie es aber nicht lassen , absichtlich falsch zu treten , um ihn herauszufordern , und dann berauschte sie sich an ihrem schlechten Gewissen - wenn Mama und die anderen wüßten , daß sie sich dem Teufel verschrieben hatte und er jeden Augenblick kommen konnte , sie zu holen .
Ein Jahr später kam Ellen am Weihnachtsabend zum erstenmal mit in die Kirche , und nun gab es eine große Umwälzung in ihrem Inneren .
Der schmucklose weiße Raum mit dem blaugemalten Sternenhimmel und den zwei brennenden Christbäumen neben dem Altar kam ihr unsagbar schön vor .
Auf der vergoldeten Kanzel stand der Propst mit seiner mächtigen , kahlen Stirn und der tiefen Friedensstimme : Siehe , ich verkündige euch große Freude , die allem Volke widerfahren wird , denn euch ist heute der Heiland geboren !
Ellen war geblendet und überwältigt , es schien ihr , daß der liebe Gott selbst da oben stände und zu ihr redete , und als ob sie ihn vorher noch gar nicht gekannt hätte .
Und jetzt mit einemmal glaubte sie an Gott , glaubte an das Wunder : der Heiland war auch für sie geboren , um sie zu erlösen von der finsteren Macht der Sünde .
Als der Propst von der Kanzel verschwand , war sie ganz unglücklich .
Aber dann erschien er wieder vor dem Altar und sagte etwas , die Orgel setzte ein , und der Chor antwortete .
Musik hatte Ellen fast noch nie gehört , und es kam ihr vor wie Engelsstimmen , die aus dem Himmel herabtönten .
Als sie hinter der Mutter aus der Kirche ging , sah sie sich noch einmal um ; ihr war , als ob der liebe Gott da drinnen in all dem Lichterglanz zurückbliebe .
Dann der Heimweg durch die schmalen Straßen und die lange Kastanienallee , die nach Nevershuus führte , - hinter den erleuchteten Gangfenstern sah man die Dienstboten eilig hin und her laufen .
Die Eltern verschwanden gleich in den " grünen Saal " , um die Lichter anzuzünden .
Oben in Mariannes Zimmer warteten die Geschwister im Dunklen .
Die Stühle wurden dicht an die Tür geschoben , damit man rasch hinunter könnte , wenn es klingelte .
Leise sprachen sie von Kai , nun waren es schon vier Jahre , daß er unter ihnen fehlte , und sie dachten daran , wie lustig der große , blasse Bruder an solchen Tagen gewesen war .
Endlich wurde geschellt , und nun stürzten sie die Treppe hinunter , jeder wollte zuerst kommen .
Im Eßzimmer standen die Leute in ihrem Sonntagszeug , die Mädchen mit weißen Schürzen und Hauben , die uralte bucklige Köchin , der Gärtner , all die langjährigen Getreuen , die eng zum Schloß und zur Familie gehörten .
Die Flügeltüren gingen auf , im Saal wogte es von Lichtern und Tannenduft , im ersten Augenblick waren alle wie geblendet .
Ellen stand vor ihrem Tisch , sie fand alles , was sie sich wünschte , und dazu noch ein Buch , das Kai gehört hatte .
Mama kam und küßte sie .
" Freust du dich , mein Kind - das ist ein Andenken an Kai - ihr müßt ihn nie vergessen . "
Mama sah verweint aus .
Es war selten , daß sie so gut mit Ellen sprach , und Ellen hätte sich für sie kreuzigen lassen in diesem Augenblick .
Das Herz wurde ihr voll von Weihnachtsseligkeit , am liebsten hätte sie laut geweint .
Neujahr war sie wieder in der Kirche .
Neben dem Altar brannten noch einmal die Christbäume , und der Propst redete , aber diesmal war es nicht der wundergläubige Festjubel , den er verkündete , sondern ernste , beinahe drohende Worte von Sterben und Vergehen , von der kurzen Gnadenfrist , die dem Menschen gegeben ist , um sich zu besseren .
Ellen faßte tausend gute Vorsätze , sie wollte von nun an jeden Tag beten und so vollkommen werden , daß niemand mehr über sie schelten konnte .
Auf ihren früheren Bundesgenossen , den Teufel , blickte sie jetzt mit großer Verachtung herab - er hatte ihr ja nicht einmal geholfen ; aber sie fürchtete sich auch nicht mehr vor ihm .
Er konnte ihr nichts mehr anhaben , wenn sie betete :
Gott war mächtiger .
Eine Zeitlang strengte sie sich nun wirklich an und betete mit großem Eifer , aber es war so schwer , man fiel doch immer wieder in Sünde .
Gegen Ostern ging Fräulein Anna fort , um eine Stellung im Ausland anzunehmen .
Die beiden Kleinen hatten lange Ferien , während die Mutter eine neue Lehrerin suchte .
Allmählich fingen sie an zu hoffen , es würde sich überhaupt keine finden , und sie hatten jetzt so viel andere Dinge im Kopf , daß sie ihre Freiheit sehr gut brauchen konnten .
Eine Jugendbekannte der Baronin Olestjerne hatte ihren Sohn drunten in der Stadt zur Schule gegeben , und dieser schmächtige , schwarzäugige Junge , der Geerd hieß , war ein großes Ereignis im Leben der beiden Geschwister .
Sie hatten jetzt einen Freund , den sie mit wetteifernder Leidenschaft liebten und in ihre Geheimnisse einweihten , in alles Verbotene und Verlockende : wie man das verrostete Türschloß zum Turm und zum alten Gefängnis aufbrachte , oder durch eine Luke vom Garten aus in die dunklen , gewölbten Keller einstieg - in alle verstohlenen Winkel von Schloß und Garten , von denen sie Besitz ergriffen hatten und jeder seinen Namen und seine Geschichte besaß .
Geerd war entzückt von alledem , die drei Kinder schlossen sich immer feuriger zusammen und kamen schließlich auf die Idee , ihre Freundschaft durch einen Blutbund zu besiegeln .
Ein Abend , wo die Eltern in Gesellschaft waren , wurde dazu ausersehen , denn diese heilige Handlung konnte nur ganz im geheimen , bei Nacht und Nebel vor sich gehen .
Als der Wagen aus dem Hof rollte , stürmten sie rasch in die Kinderstube , wickelten sich in phantastische Gewänder aus weißen Bettüchern , zündeten die heimlich erbeuteten Wachskerzen an und wallfahrteten mit dumpfem Gemurmel , in dem immer wieder das Wort " Blut ! " vorkam , durch den Rittersaal , durch die weiten , dunklen Bodenräume , die sich über das ganze Schloß hinzogen , und dann die schmale Wendeltreppe hinab in die frühere Kapelle .
Unwillkürlich hörten sie auf zu murmeln , auf dem glatten Fliesenboden hallte jeder Schritt laut wider , und die tiefen Nischen rings an der Wand waren unheimlich dunkel .
An der Stelle , wo der Altar gestanden , war noch eine viereckig aufgemauerte Erhöhung , da stellten sie ihre Lichter hin .
Keines von ihnen sprach ein Wort , während sie sich mit einem stumpfen Messer Arme und Beine ritzten und das Blut in einem Glase sammelten .
Weil es nicht genug war , kam noch etwas Wasser dazu , dann tranken sie es aus , schwuren sich ewige Treue und furchtbare Rache dem , der zum Verräter würde .
Als das geschehen war , wurde die Stimmung etwas leichter .
Geerd , der über Taschengeld verfügte , hatte Kuchen und eine Flasche Wein beschafft , und sie lagerten sich zum Mal um den Altar .
Verspätet und mit erhitzten Köpfen erschienen die drei an diesem Abend im Eßzimmer , und während sie bei Tisch saßen , gingen immer wieder geheimnisvolle Blicke und Anspielungen zwischen ihnen hin und her .
Wenn es irgend anging , feierten sie jetzt jeden Sonntagabend ein heimliches Bundsmal in der Kapelle , im Keller oder auf dem Turmboden - aber dunkel mußte es sein , und niemand durfte darum wissen , sonst wäre alles entweiht gewesen .
Als aber der Winter zu Ende und es draußen wieder schön und trocken war , fanden sie , daß nun etwas Neues kommen müsse .
Anfang April , an einem warmen , lichten Tage , durchstreiften sie den ganzen Garten , diese unerschöpfliche Märchenwelt von Abhängen , Gebüschen und halbverwachsenen Wegen , wo man immer wieder etwas entdeckte : Plätze , wo sie noch nie gewesen waren , Pflanzen , die sie nicht kannten , Ameisenhaufen , Vogelnester und so vieles andere .
Besonders war es der breite Schloßgraben , der sie anzog , mit seinem geheimnisvollen , grünen Wasser , auf dem sonderbare große Spinnen wie auf Schlittschuhen hinglitten .
An den Abhängen blühten schon die weißen Sternblumen und die Weidenzweige hingen tief herunter .
Zuletzt kamen sie in die verwilderte Schlucht , die zwischen Garten und Koppel lag , mit einem schmalen Fußweg mitten durch und ein paar krummen Holunderbäumen .
Geerd ging wie immer zwischen den beiden anderen , die sich so ähnlich sahen , daß man sie in gleichen Kleidern fast für Zwillinge halten konnte .
Trotz der zwei Jahre , die zwischen ihnen lagen , waren sie fast gleich groß , beide mit kurzem , blondem Haar und den scharfen Olestjerneschen Familienzügen .
Ellen war im Lauf der Jahre kräftig und gesund geworden und stolz darauf , daß sie es mit jedem gleichaltrigen Jungen aufnehmen konnte .
Es war Bundestag heute , und sie ratschlagten gewaltige Pläne , gingen ernst prüfend umher und maßen die Schlucht mit den Augen .
Dann wurde Geerd das Wort zuerteilt , und er schwang sich in einen Baum , um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen :
" Bundesgenossen , hier wollen wir unser Reich gründen - unser Königtum - , von hier aus soll es wachsen , sich ausbreiten und die Nebenreiche verschlingen , wo jetzt noch unsere Feindin , die grimme Fürstin Anna Juliane , herrscht .
Wir wollen sie entthronen und uns zinsbar machen . "
Die beiden anderen stimmten ein furchtbares Kriegsgeheul an und schwangen ihre hölzernen Speere .
Von früh bis spät waren sie jetzt draußen an der Arbeit , rammten Pfähle in die Erde , schleppten Tannenzweige und Moos herbei und bauten Hütten .
Mit vieler Mühe hatten sie sich die Erlaubnis errungen .
Die Mutter wollte erst nichts davon wissen , aber Detlev hörte nicht auf , sie zu bestürmen , und schließlich erfuhr der Vater von der Sache und kam ihnen zu Hilfe .
Er nahm sogar lebhaftes Interesse daran und ging selbst mit hinaus , um ihnen die Grenzen ihres Gebietes anzuweisen .
Das Königreich wuchs nun rasch empor , es wurden Straßen gelegt , Felder und Bauplätze abgemessen .
Auf dem freien Platz in der Mitte erhob sich eine große Hütte aus Brettern und Backsteinen , das war der Tempel , denn sie hatten sich heimlich vom Christentum losgesagt und eine neue Religion erdacht .
Im Tempel stand die Bundeslade , in der geraubte Schätze verborgen wurden , und ein unförmlicher Götze aus Holz , den hatten sie selbst in vielen mühsamen Stunden geschnitzt und angemalt .
Er hieß der Mohu und wurde mit Opfern , Gesängen und wilden Tänzen gefeiert .
Vier Wochen lang hatten sie unermüdlich geschafft , da kam plötzlich ein Blitz aus heiterem Himmel - Ellen und Detlev wurden eines Morgens zu Mama gerufen : im Wohnzimmer saß eine blasse Dame mit schwarzem , glattem Haar .
Die Geschwister sahen sich erschrocken an , das konnte nur die neue Gouvernante sein , an die sie schon längst nicht mehr geglaubt hatten .
Sie mußten ihr guten Tag sagen und erfuhren , daß sie Cläre Huhn hieß ; darüber wären sie beinahe ins Lachen geraten und vermieden ängstlich , sich anzusehen .
Fräulein Huhn war sehr freundlich und hatte feuchtkalte Hände .
" Nicht wahr , wir wollen jetzt recht fleißig zusammen sein ?
Ihr müßt mich aber auch etwas lieb haben und mich du nennen . "
Dann wurden sie wieder entlassen .
Zum Draußenarbeiten hatten sie heute die Lust verloren , und als Geerd am Nachmittag kam , fand er die beiden melancholisch neben einer angefangenen Hütte sitzen .
Ellen war verzweifelt :
nun sollte das Jammerleben wieder anfangen - Stunden - Schelte - Nachsitzen , und hinter all diesen Schrecknissen stand Mama und die Ecke im Wohnzimmer , wo sie stricken mußte .
Geerd versuchte sie mit Bonbons zu trösten , und allmählich wurde der Schmerz etwas milder .
Dann schlug er einen Trauergottesdienst vor , - alle drei rauften sich die Haare und schlugen sich an die Brust , während sie den Mohu umtanzten und seinen Fluch auf Cläre Huhn herabriefen .
Sie sollte ihm zu Ehren geschlachtet und verbrannt werden , wenn er seinen treuen Dienern zu Hilfe kam .
Danach lag jeder vor seiner Hütte , und sie pflegten Rat , was jetzt zu tun sei .
Alle drei waren in kriegerischer Stimmung und verlangten danach , sie auszutoben .
Detlev kroch vorsichtig den Abhang hinauf , um zu sehen , ob nicht etwa wieder die Dorfkinder zum Blumenpflücken in die Koppel eingebrochen wären .
Und richtig , da war eine ganze Rotte , raufte Feldblumen und trat das Gras nieder .
Nun erhoben sich auch die beiden anderen , sie schlichen geduckt am Wall entlang und umzingelten den Feind .
Bald war eine wütende Prügelei im Gang , die Bundesgenossen trugen trotz ihrer geringen Zahl den Sieg davon und machten ein paar Gefangene , die übrigen entflohen unter zornigen Drohreden .
Nun hielten sie Gericht : den Mädchen banden sie mit Taschentüchern die Augen zu und stürzten sie vom Wall herab .
Ein Junge , der sich heftig zur Wehr setzte , sollte mit in ihre Stadt geschleppt werden .
Sie warfen ihn nieder , zogen ihn an Armen und Beinen über das Gras hin zu den Hütten , wo er dann noch ein paarmal hin- und hergeschwenkt und in einen großen Brennesselbusch geworfen wurde .
Damit war ihr Blutdurst gestillt , und der Gerichtete durfte mit ziemlich zerrissenen Kleidern heimgehen , während das Geschwisterpaar mit seinem Freunde frohlockend den Mohu umtanzte .
Nach diesem stolzen Tage fing das Schulleben für Ellen und Detlev wieder an .
Es war wenigstens ein Glück , daß die neue Lehrerin nicht im Hause wohnte und nur zu den Stunden kam .
Die Kinder wußten bald , daß mit ihr nicht so leicht fertig zu werden war wie mit der früheren , die sie jetzt in der Erinnerung mit einem förmlichen Nimbus umgaben .
Die Mutter hatte eingehend mit ihr über Ellen gesprochen , und das Fräulein nahm sich vor , das unmögliche Kind mit gütiger Strenge zu zähmen .
Dadurch hatte sie von vornherein verloren ; Ellen wand sich geradezu vor diesen eindringlichen Blicken und feuchten , ermahnenden Händedrücken , die an ihre Seele heranwollten .
- Draußen blühte der Sommer , der Rasen vor dem Fenster wuchs immer höher empor , so daß man gerade in das bunte Gewoge von Gras und Blumen hineinsah .
Dahinter breiteten die Kastanienbäume ihre grünen Gewölbe mit den weißen Blütenkerzen bis auf den Boden nieder .
- Ellen und Detlev saßen sich gelangweilt gegenüber , platzten manchmal zur Unzeit in Gelächter aus und widerstrebten aus tiefstem Herzen jedem Wort , das die schwarze , glattgescheitelte Lehrerin sagte .
Kaum war die Stunde zu Ende , so rannten sie wie kopflos davon und mußten zehnmal zurückgerufen werden , um das Tintenfaß , ihre Bücher oder sonst etwas wegzuräumen .
Dann stürzten sie zu den Hütten und warteten auf Geerd .
Jeder Tag brachte neue Gedanken , neue Pläne und Taten .
Sie gruben Kanäle , legten Inseln drunten im Graben an und befuhren das schlammige , grüne Wasser in einem alten Backtrog oder auf Bretterflößen .
Das war die stolze Flotte , die von fernen Gestaden unermeßliche Schätze brachte und mehr wie einmal strandete .
Jeden Monat wurden die Ämter und Würden neu verteilt , so waren sie abwechselnd Könige , Minister und hohe Kirchenfürsten in prunkvollen Gewändern aus farbigem Glanzkattun , mit Kronen und Bischofsmützen aus Goldpapier .
Dann legten sie sich Namen und Wappen bei , und jeder erdachte sich eine verwickelte Sage über die Abstammung seines Geschlechtes , die mit gemalten Anfangsbuchstaben und absonderlichen Ungeheuren geschmückt , niedergeschrieben und in der Bundeslade aufbewahrt wurde , neben den langen Papierrollen mit Gesetzen .
Dann ging der Sommer herum , das Moos an den Hütten vermoderte , und draußen mußte die Arbeit ruhen .
Dafür gab es nun Reichstage , Kunstausstellungen von selbstgemalten Bildern , glänzende Mohufeste mit Prozessionen durch das ganze Schloß und Turniere im Rittersaal .
Grüngestrichene , hölzerne Gartenstühle waren die stolzen Rosse , die sich hoch auf bäumten , während die Recken sich mit höhnischen Reden zum Kampf herausforderten und mit eingelegter Lanze aus dem Sattel zu heben suchten .
An einem Sonntagabend im Winter saßen die drei Kinder allein im Eßzimmer .
Es war heute nichts Rechtes mehr anzufangen , Ellen mußte noch für morgen lernen , und Geerd sprach ein paarmal davon , jetzt nach Hause zu gehen .
Aber jedesmal suchte Detlev wieder etwas Neues hervor , um ihn festzuhalten .
Schließlich wühlte er den ganzen Bücherschrank durch und kam mit einem Stoß von alten Bilderbüchern wieder , die von irgendeiner Großmutter stammten .
Sie blätterten darin herum und sahen gelangweilt auf all die ausländischen Tiere , Pflanzen und Völkertrachten .
" Jetzt kommen Eingeweide und Gerippe " , kündigte Geerd an .
Ellen sah über ihre biblische Geschichte weg :
" Was ist das für ein Buch , das haben wir noch nie gesehen , glaube ich ? "
" Es lag auch ganz zuunterst " , sagte Detlev .
" Eure Mutter hat es wohl vor euch versteckt , da sind Sachen drin , die ihr noch nicht sehen dürft . "
Geerd wollte das Buch zumachen , aber nun fielen die beiden darüber her .
" Was dürfen wir nicht sehen ? -
Gib doch her .
- Was ist denn das , ein Embryo ?
- Weißt du das , Geerd ? "
" Ja , ich weiß schon - das ist ein Kind , ehe es geboren wird .
Du bist auch Mal einer gewesen . "
Die Geschwister sahen die Illustrationen an und versanken in staunendes Schweigen .
Dann wollten sie sich totlachen .
" Gibt es denn schon Kinder , ehe sie geboren sind ? "
" Seid doch nicht so albern " , sagte Geerd und fing an , ihnen mit wissenschaftlichem Ernst den Zusammenhäng zu erklären .
Die Kinder hörten auf zu lachen , es erwachte zum erstenmal die Ahnung in ihnen , daß das Leben auch drohende , dunkle Tiefen barg , und es schien ihnen seltsam und entsetzlich .
Von diesem Abend an drehten sich ihre Gedanken und Gespräche fast ausschließlich um das große Geheimnis , das sie zu begreifen suchten und doch nicht ganz begriffen .
Sie nahmen es alle drei sehr ernst - die ganze Welt verwandelte sich ihnen in einen Abgrund von unausdenkbaren Greueln , sie schämten sich ihrer Mitmenschen und verachteten sie .
" Wie waren die nur imstande - fast alle Erwachsenen " , sagte Geerd - " sich mit solchen sinnlosen Widerwärtigkeiten abzugeben ?
Die Verheirateten , um Kinder zu bekommen , das ging ja wohl nicht anders , aber die übrigen ?
Zum bloßen Vergnügen ? -
Aber wie konnte ihnen das Vergnügen machen ?
Und warum bekamen die keine Kinder ? "
So drängte sich ihnen Rätsel auf Rätsel , und alle wußte Geerd auch nicht zu lösen .
" Woher weißt du eigentlich das alles ? " fragten sie einmal .
" Von meiner Mutter - sie sagt mir alles , was ich wissen will . "
Ellen und Detlev waren sehr erstaunt und beneideten ihn um seine Mutter .
Bei ihnen war das ganz anders , sie gingen beinahe schuldbewußt herum , seit sie so viel erfahren hatten , und zitterten , daß die Eltern es merken könnten .
Das Königreich geriet darüber mehr und mehr in Vergessenheit , wenigstens waren sie nicht mehr mit demselben Eifer dabei wie früher , und als die schöne Zeit wiederkam , machten sie lieber weite Spaziergänge miteinander .
Der Mutter war es ein Dorn im Auge , daß Ellen immer nur mit den Jungen zusammen sein wollte , aber Geerd und Detlev ließen nicht nach , bis sie mitdurfte .
" Meinetwegen diesen einen Sommer noch " , sagte sie schließlich , " aber dann hat es ein Ende .
Dann muß sie wirklich einmal anfangen , ein vernünftiges Mädchen zu werden . "
Davon war bis jetzt noch wenig zu merken , immer war es gerade Ellen , die mit zerrissenen Kleidern , mit Schrammen und Beulen heimkam oder schlammbedeckt und bis an den Hals durchnäßt .
Woher hatte das Kind nur diese unbändige Wildheit im Leibe ?
Kein Baum war ihr zu hoch , kein Graben zu breit , und wurde sie dafür gescholten , so brach sie jedesmal in schmerzliche Verwünschungen aus , daß sie kein Junge war .
Trotz all dieser Bitternisse war es noch ein wunderbar schöner Sommer , den die drei Freunde zusammen verlebten .
Lange Nachmittage lagen sie draußen am Strand in dem kurzen , harten Deichgras , wenn die Luft so klar war , daß man die Inseln deutlich sehen konnte und weitum nichts hörte , wie den langgezogenen , sehnsüchtigen Schrei der Seevögel .
Und der Rückweg durch den grünen Koog , wo es große Gefahren und Hindernisse mit Gräben und losgerissenen Bullen gab .
Oder sie gingen weit in die Heide hinein zum " Galgenberg " .
- Vor vierzig Jahren sollte dort die letzte Hinrichtung gewesen sein , jetzt stand nur noch ein einziger alter Pfosten da .
Die Kinder saßen im roten Heidekraut und schauderten , wenn eine Krähe aufflog .
Oft sprachen sie dann von ihrem späteren Leben - Geerd sollte zum Herbst auf eine andere Schule , und das war ein furchtbarer Schlag für sie alle .
Wie sollten sie ohne einander fortleben , bis sie groß waren und tun konnten , was sie wollten .
Denn dann wollten sie wieder zusammenkommen , das stand fest .
" Ja , und du wirst wohl auch später einmal heiraten müssen , Ellen , und Kinder kriegen " , sagte Geerd manchmal .
Ellen sträubte sich wütend dagegen , es war ein schrecklicher Gedanke , daß sie eine Frau werden sollte , sie suchte sich dann durch doppelte Kraftleistungen hervorzutun und redete wilde Zukunftspläne .
Sie dachte immer noch daran , einmal fortzulaufen zu den Zigeunern , hatte sich heimlich beim Tischler Kniestelzen machen lassen und übte sich in Purzelbäumen , um bereit zu sein , wenn der Augenblick kam .
Ach , und dann im grünen Wagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt , konnte es wohl etwas Schöneres geben ?
Oder wenn das nicht ging , als Schiffsjunge verkleidet zur See gehen ; kein Mensch hielt sie für ein Mädchen , wenn sie Detlevs Kleider anhatte .
" Ellens Vogelbauer " , sagte der Bruder überlegen , wenn sie so sprach , und dann lachten die beiden Jungen sie aus .
Ellen arbeitete nun schon seit mindestens zwei Jahren daran , einen ungeheuren Käfig für ihre Kanarienvögel zu bauen , der immer wieder mißlang , und jedesmal versuchte sie es dann auf andere Weise .
Einmal hatte sie schon einen zustande gebracht aus zerspaltenen Zigarrenkisten , aber es war so dunkel darin , daß die Vögel melancholisch wurden und nicht mehr sangen .
Und nun hatte sie natürlich wieder einen neuen angefangen .
" Du hast gut reden " , sagte Ellen geärgert , denn Detlev wollte Philosoph werden und große Werke schreiben .
Das war in ihren Augen kein Kunststück , und sie fand es sehr langwellig .
Die Herbsttage kamen , im Garten wurde es feucht , alles versank in welken Blättern , und der Sturm riß große Äste von den Bäumen .
Die Kinder gingen nur noch engumschlungen und waren traurig - ihnen war zumute , als ob eines von ihnen sterben sollte .
An Geerds letztem Tage rissen sie die Hütten und den Mohutempel nieder und versenkten ihren Götzen in den Graben - mit bitterer Wehmut -
was sollte das alles jetzt noch ?
Und dabei kam es ihnen vor , als ob sie seit dem letzten Jahr unendlich viel älter geworden wären .
Gegen Abend gingen sie zusammen hinauf , um Geerds Sachen aus der Kinderstube zu holen .
Während Detlev noch im Zimmer kramte , standen die beiden anderen Hand in Hand auf der Diele neben der großen Stehuhr , die immer so unheimlich laut tickte und beim Schlagen wie ein Uhu heulte .
Es war schon halbdunkel .
Ellen sah nur Geerds weißen Strohhut und seine weiten , schwarzen Augen , sie sehnte sich heimlich danach , ihm um den Hals zu fallen und ihn viele Male zu küssen , fand aber nicht den Mut dazu .
Dann kam Detlev , und sie begleiteten ihren Freund zum letztenmal durch den dunklen Rittersaal , die Treppe hinunter und über den Hof bis zur ersten Laterne .
Die Geschwister wohnten nebeneinander und die Tür zwischen ihren Zimmern stand immer offen .
Wenn sie im Bett waren , kam die Mutter herauf und betete mit ihnen .
An diesem Abend konnte Ellen kaum ein Wort herausbringen und war in Todesangst , daß Mama böse würde .
Die sagte aber nur :
" Ich finde es auch schade , daß Geerd fort ist , aber nun muß das viele Herumtoben wirklich aufhören . "
Mama fand es auch schade - das rührte Ellen so , daß sie sich nur mit Mühe beherrschte .
Als die Mutter wieder hinunterging , schlich sie sich leise zu Detlev hinein und setzte sich auf sein Bett .
Sie umarmten sich immer wieder und weinten zusammen , dann sprachen sie noch lange von Geerd und wie nun alles verödet war ohne ihn .
Seit Geerd fortging , war für Ellens Kinderzeit die beste Freude verloschen , und sie suchte mit tiefem Verlangen nach etwas , das ihr Leben wieder so ausfüllen sollte .
Detlev kam nun auch aufs Gymnasium , er fand neue Freunde , die meistens rasch wechselten ; die alte Kameradschaft zu drei kam mit keinem mehr recht zustande .
Die Mutter schränkte Ellens Freiheit auch immer mehr ein , sie fand jetzt mit einemmal , daß sie sich früher zu wenig um das Mädchen gekümmert hatte , und zwang sie , viele von den schönen freien Nachmittagen mit einer Näharbeit im Wohnzimmer zu sitzen .
Und Ellen haßte diese Art von Beschäftigung mit verzweifelter Unlust , es war fast noch schlimmer wie Lernen .
Ihr ganzer Tag bestand aus immer neuen Versuchen , diesen beiden Üblen zu entrinnen .
Wo sie nur konnte , stahl sie sich fort auf die Koppel hinaus , wo der Wind durch die mächtigen Baumkronen strich .
Da hörte sie nicht , wenn die Mutter sie rief , und fühlte sich eine kurze Weile sicher vor ihr .
Und ihre Seele klammerte sich leidenschaftlich an diese ganze Heimatswelt , die in tausend vertrauten Tönen zu ihr sprach ; sie dachte an all die langen Sommerstunden , wo sie hier gespielt hatten mit soviel Freude und Mut , weil jeder Tag und jede Jahreszeit immer wieder etwas brachte , daß Geerd kam , oder bald Ferien waren , oder das Obst reif wurde .
So unendlich viel hatten sie immer vorgehabt und sich ausgemalt für die nächsten Jahre und für später , als ob überall große Schätze und Reichtümer lägen , die man nur zu heben brauchte .
Aber auch durch all diese frohen Zeiten ging doch immer ein bitterer Grundton - Mama !
Seit sie denken konnte , fühlte Ellen sich wie verfolgt von ihr und warum ?
Warum bekamen Mamas Augen immer diesen sonderbaren , bösen Blick und ihre Stimme den zornigen , fast pfeifenden Ton , wenn Ellen nur zur Tür hereinkam ?
War sie allein mit der Mutter im Zimmer , so wehte es sie eisig an , als ob jeden Augenblick etwas Furchtbares geschehen könnte , und nachts träumte sie manchmal , daß die Mutter mit der großen Schere hinter ihr herlief und sie umbringen wollte .
Sie hatte sich ja beinahe daran gewöhnt , wie an ein Gebrechen , mit dem man geboren wird und weiß , daß es auf Lebzeiten nicht wieder abzuschütteln ist .
Aber woher die Kraft nehmen , es zu tragen ?
Ellen fing an , wieder fromm zu werden - der liebe Gott war der Einzige , der ihr helfen konnte , aber er war so weit weg .
Sie versuchte es förmlich mit Sturm , ihm wieder nah zu kommen .
Es war ihr nicht mehr genug , jeden Sonntag zur Kirche zu gehen , sie betete beim Aufstehen und beim Schlafengehen alles , was sie auswendig wußte , lange Gesänge , Katechismusstücke , und immer auf den Knien .
Das bloße Dasitzen mit gefalteten Händen , wie bei der Hausandacht , war ihr nicht feierlich genug .
Oft stand sie auch nachts wieder auf , zog den Vorhang in die Höhe , um die Sterne zu sehen , und hielt ihren einsamen Gottesdienst .
Oder bei Tage , wenn sie sich ungestört wußte , errichtete sie eine Art Altar , um davor zu beten , stellte ihren liebsten Kanarienvogel mit seinem Käfig auf einen Stuhl und Blumen ringsherum .
Nach solchen Stunden fühlte sie einen fanatischen Mut , alles zu ertragen , und es konnte ihr dann beinahe Freude machen , wenn sie un gerecht gescholten wurde .
Als Ellen vierzehn Jahre alt war , kam wieder etwas Abwechslung in ihr Dasein :
sie sollte Tanzstunde bekommen .
Das gehörte ebenso unabänderlich in das Erziehungsprogramm wie längere Kleider und reine Hände , die jetzt von ihr verlangt wurden .
Es war ihr ganz neu und zuerst etwas beängstigend , mit so vielen Kindern zusammenzukommen .
Aber wenn der langbeinige , immer etwas angetrunkene Tanzmeister mit seiner Geige mitten im Saal stand und die ganze Schar um ihn herumwirbelte , kam es wie ein Rausch über sie , und sie vergaß , daß das Leben sonst so schwer war .
Den anderen Mädchen gegenüber fühlte sie sich etwas zurückgeblieben , vor allem war es unangenehm , als Schloßfräulein so schlecht angezogen zu sein .
Dafür hatte ihre Mutter gar keinen Sinn - jahraus , jahrein dieselben alten Kleider , die immer wieder ausgebessert , verlängert oder gewendet wurden und niemals nach der Mode .
Ellen hatte sich bisher nicht viel darum gekümmert , aber jetzt konnte sie stundenlang vor dem Spiegel stehen und über ihr Äußeres nachdenken .
Wenn Mama sie dabei ertappte , gab es wieder ein Donnerwetter :
" Gib dir nur Mühe ordentlich auszusehen und nicht alles zu zerreißen .
Das andere ist Nebensache . "
Aber das war nicht der einzige Punkt , in dem die Stadtkinder ihr überlegen waren :
sie hatten Liebesgeschichten , Rendezvous , gingen mit den Schülern spazieren und zum Konditor .
Alle diese lustigen Dinge , von denen Ellen jetzt immer erzählen hörte , schienen ihr so verlockend und begehrenswert , daß sie Detlev verleitete , mitzumachen .
Sie erfanden immer neue Vorwände , um in die Stadt zu kommen , und gingen dann mit den anderen bummeln .
So wundervoll sündig kam man sich vor bei diesen heimlichen Streifzügen unter Lärm und Gelächter , oder in dem dunklen Hinterzimmer der kleinen Konditorei , bei all den Neckereien und Anspielungen , die da hin und her flogen , - bei all dem Herzklopfen vor Entdeckung und den hinterlistigen Verabredungen während der Tanzstunde unter Mamas Augen .
Es bekam alles eine andere Perspektive .
Ellen hatte bis dahin nur in sich selbst hineingelebt in dem engen Kreise , den man um sie zog .
Jetzt fing die Welt an , sich zu weiten , sie sah : es gab noch ein Leben , das jenseits der Mauer lag , das rascher pulsierte und reich an lockenden Erregungen war .
Am Ende dieses bewegten Sommers verreisten die Eltern auf längere Zeit .
Ellen genoß die Septembertage im Gefühl eines großen Triumphs , denn Cläre Huhn war krank geworden , und das empfand sie als ihr Werk .
Vier Jahre hindurch hatten sie sich Tag für Tag an dem großen runden Schultisch gegenübergesessen , und vier Jahre hindurch hatte Ellen das arme , bleichsüchtige Geschöpf buchstäblich gemartert mit allen Schikanen , die der rücksichtslose Haß eines Kindes ersinnen kann .
Sie ließ sich kein Lächeln , keinen Fleiß , kein Eingehen auf irgend etwas abgewinnen , begegnete aller Freundlichkeit und aller Strenge mit derselben steinernen , ablehnenden Hartnäckigkeit und betete allabendlich , daß Gott Cläre Huhn mit seinem Zorn treffen möge .
Als die Nachricht kam , daß sie erkrankt war , lag Ellen in ihrem Zimmer auf den Knien und dankte Gott .
Am Fenster sangen ihre Kanarienvögel , die Sonne lachte , und sie brauchte nicht in die Stunde .
Das Werkzeug ihrer Qual war verstummt und unterlegen .
Nun kam eine Reihe von Festtagen .
Marianne regierte mit Milde und fand , daß die Kinder sich dann auch viel besser lenken ließen .
Sie war sich immer gleich geblieben als die sanfte , ruhige Älteste , zu der alle mit ihren Anliegen kamen .
Und sie hatte nicht immer einen leichten Stand dabei - die Mutter war hitzig und parteiisch , Papa konnte keinen Ärger vertragen , und die junge Meute stürmte fortwährend dagegen an , mit allen ihren Forderungen , Wünschen und Unbotmäßigkeiten .
Jetzt ging jeder seinen Weg und dabei war Frieden .
Ellen und Detlev saßen halbe Tage in den Obstbäumen oder lagen im Gras und lasen verbotene Bücher .
Sie deklamierten sich gegenseitig die Räuber vor und stritten darum , wer den Faust besser verstände .
Hier und da mußten sie auch alle der Schwester bei Gartenarbeiten helfen , und manche Vorübergehende blieben am Gitter stehen und sahen hinein , denn war das heranwachsende Geschlecht der Olestjernes vollzählig beisammen , so konnte man jederzeit ein stürmisches , weithinschallendes Gelächter hören , besonders wenn die " jungen Leute " , wie sie in liebevoller Respektlosigkeit ihre Eltern nannten , nicht dabei waren .
In dieser Zeit gab es für Ellen viel Gelegenheit , unbemerkt zu entkommen , und das Herumtreiben hatte jetzt noch einen besonderen Hintergrund .
Denn Ellen liebte , und alle ihre Gedanken gingen darauf hin , einem rothaarigen Primaner zu begegnen - an den nebelverschleierten Herbsttagen , wenn die junge Welt in den dämmerigen Gassen oder im Stadtpark auf- und abging .
Ellen wußte , daß ihre Liebe unglücklich und hoffnungslos war , denn er stand auf der fernen , unerreichbaren Höhe des Erwachsenseins .
Aber es war schon lähmende Seligkeit , ihn nur zu sehen , von ihm gegrüßt zu werden und dann abends an ihn zu denken , wenn sie im Bett lag .
In der kleinen Stadt blieb nichts verborgen .
Bald nachdem die Freifrau zurückgekehrt war , wurde sie von wohlmeinenden Bekannten darauf aufmerksam gemacht , daß ihre beiden Jüngsten sich eines schlimmen Rufes erfreuten .
Nicht einmal Ladenklingeln und Fensterscheiben waren sicher vor ihnen , und was das Ärgste war , Ellen trieb sich mit Jungen in der Stadt herum .
Nun wurde Ellen plötzlich aus allen Himmeln geschleudert ; aber diesmal fand sie den Mut zu offener Auflehnung , und es gab eine heiße Szene zwischen ihr und der Mutter .
" Zieht mir doch lieber gleich eine Zwangsjacke an " , schrie sie .
Ellen hatte gar keine Ahnung , was das eigentlich für ein Ding wäre , aber sie bekam ihre Zwangsjacke .
Man ließ sie nicht mehr aus den Augen , und mit dem heimlichen Ausreißen war es ein- für allemal vorbei .
Dies Jahr durfte sie nicht einmal mit den Brüdern zum Schlittschuhlaufen .
Wehmütig sah sie an Winternachmittagen in den beschneiten Garten hinaus und dachte an ihre unglückliche Liebe - jetzt war er wohl auf dem Eis , und ihr war jede Möglichkeit abgeschnitten , ihn auch nur zu sehen .
Die Sehnsucht wurde immer brennender , sie zitterte und wurde rot , wenn Erik zufällig seinen Namen nannte .
Die gehrende Unruhe , die sie in sich fühlte , machte sich manchmal in überlauter Lustigkeit Luft und häufiger noch in wilden Wutausbrüchen .
Ellen fand auch , daß man sie namenlos reizte .
Von früh bis spät fuhr die Mutter sie an , jeder Blick sagte : Wozu bist du überhaupt auf der Welt ?
Und an Heftigkeit gab Ellen ihr nichts nach .
Eine Zeitlang hörte sie schweigend zu , bis die Zähne zusammen , daß sie knirschten , dann stürzte sie hinaus und schlug die Tür zu .
Mama war hinter ihr her , ehe sie sich_es versah .
Plötzlich hatte sie die zornig flammenden Augen dicht vor sich , fühlte einen brennenden Schlag im Gesicht : " Gehe mir aus den Augen , ich habe es satt , mich mit dir zu quälen . "
War sie dann allein im Zimmer , so wußte sie nicht , wo hinaus mit der Wut , die in ihr tobte , wußte nicht mehr , was sie tat .
Dann rannte sie mit dem Kopf gegen die Wände , bis ihr die Funken vor den Augen sprühten und der Schmerz sie wieder zur Besinnung brachte .
An solchen Tagen mußte sie oben bleiben und durfte sich nicht mehr vor der Mutter blicken lassen .
Da lag sie dann auf dem Bett und spann endlose Pläne .
Wieder und wieder malte sie sich aus , wenn sie nur erst erwachsen wäre und von zu Hause fort könnte .
Die Zirkusgedanken hatte sie jetzt allmählich aufgegeben , es war doch wohl zu spät geworden .
Aber das stand ihr immer noch fest , irgendwann einmal mußte sie sich freimachen von diesem unerträglichen Leben und in die Welt hinaus , in die unbekannte verheißungsvolle Welt .
An einem Sonntagmorgen , als Ellen zum Frühstück hinunterkam , las Mama gerade einen Brief .
" Nun ist alles in Ordnung " , sagte sie und legte ihn neben ihren Teller .
" Du kommst Ostern in die Pension nach A... , Ellen . "
Ellen nahm diese Nachricht mit dumpfer Gleichgültigkeit hin .
Von der Pension war schon oft die Rede gewesen , aber sie hatte bisher nie recht daran geglaubt .
Es waren nur noch wenige Wochen bis Ostern .
Sie machte ihrer Umgebung die letzte Zeit noch so schwer wie möglich .
Nur mit Detlev allein war es anders , da taute ihr ganzer Schmerz auf , daß sie fort sollte , von ihm und von der Heimat .
Die beiden waren noch nie einen Tag getrennt gewesen , hatten jedes Erlebnis , jede Empfindung geteilt , seit sie denken konnten .
Sie wußten es nicht zu fassen , daß sie jetzt voneinander gerissen wurden , daß wirklich einmal der letzte Tag käme .
Aber er kam , und er ging vorüber - am Abend sollte Ellen mit ihrer Mutter abreisen .
Nach Tisch schlichen sich die beiden Jüngsten hinauf in die alte Kinderstube .
Beim Essen hatten sie Wein bekommen , ihre Köpfe brannten , - so hielten sie sich lange umschlungen und weinten ihre bittersten Tränen . -
Zwei Jahre - zwei endlose Jahre voneinander getrennt sein und lernen müssen , gequält werden , - sie fühlten beide , daß etwas Unwiederbringliches vorüber war und nie wiederkommen würde .
Als man sie rief , kamen sie mit roten , verschwollenen Augen .
Dann gingen alle zusammen an die Bahn .
Vor den anderen weinten sie nicht mehr und küßten sich nicht .
Detlev stand mit zusammengebissenen Zähnen abseits von den Geschwistern auf dem Perron und ließ keinen Blick mehr von Ellen , bis der Zug mit ihr und der Mutter in die weite Marschebene hineinfuhr .
" Ellen Olestjerne soll hereinkommen . "
Sie kam , machte die drei vorschriftsmäßigen Knickse - einen an der Tür , dann in der Mitte des Zimmers , wo die großen Blumen im Teppich waren , und den letzten , als sie vor der alten Dame stand .
Die Pröpstin des freiadligen Stiftes zu A... saß an ihrem Schreibtisch .
Sie war schon über sechzig Jahre alt und kannte keine Ruhestunden .
Ihr strenges , wie in Stein gehauenes Gesicht mit der hohen , blanken Stirn hatte einen Zug von eiserner Energie - sie hielt sich sehr gerade , nur in der weißen schmalen Hand , die auf der geschnitzten Stuhllehne lag , war etwas von der Müdigkeit des Alters .
" Was sind das für Sachen , Ellen ?
Du hast Hedwig Vogt ins Gesicht geschlagen ? "
" Ja , weil sie mich geärgert hat , das lasse ich mir nicht gefallen . "
Die Pröpstin faßte Ellen ums Handgelenk und führte sie ans Fenster , wo es etwas heller war .
" Vor allem , mein Kind , mäßige dich in deiner Art zu reden . "
Ellen wollte etwas sagen , aber sie kam nicht zu Wort , die gestrenge Stimme sprach immer weiter mit ihrem harten , scharfklingenden S.
" Es schickt sich überhaupt nicht , so aufzubrausen .
Mit solchem Benehmen kommst du mir hier nicht durch , Ellen .
Wenn du meinst , daß dir Unrecht geschieht , kannst du zu mir kommen und dich beschweren .
Ihr seid keine Gassenjungen . "
" Ich wollte , ich wäre einer " , fuhr Ellen endlich dazwischen .
Sie war empört , daß sie sich nicht selbst ihrer Haut wehren sollte .
" Was sagst du da ? " die Stimme wurde immer strenger und das S immer schärfer .
" Nimm dich in acht , Ellen , ich weiß , wes Geistes Kind du bist .
Deine Mutter hat mit mir gesprochen , und wenn ich sehe , daß in Milde mit dir nicht auszukommen ist , so gibt es noch andere Mittel . "
Mein liebes Kind - die Frau Pröpstin hat uns wieder geschrieben , daß Du sehr eigensinnig bist und Dich mit den anderen Mädchen schlecht verträgst .
Wirst Du denn nie aufhören uns immer neuen Kummer zu machen ?
Ich habe die Frau Pröpstin gebeten , Dich in strenge Zucht zu nehmen , und wir verlangen von Dir , daß Du Dir jetzt endlich Mühe gibst , anders zu werden .
Mehr will ich heute nicht sagen , ich bete täglich zu Gott , daß er Deinen Sinn ändern möge .
Die Geschwister lassen grüßen .
Deine Mutter .
Geliebtes , vielen Dank für Deinen Brief .
Es ist schrecklich öde ohne Dich .
In der Schule ziehe ich mich immer mehr zurück und gehe viel allein spazieren .
Nachmittags dichte ich gewöhnlich .
Dein schwarz und gelber Vogel ist gestorben , aber sei nicht traurig , ich will Dir mein anderes Männchen schenken .
Ich habe zwei Photographien von Geerd gekriegt , aber Mama erlaubt nicht , daß ich Dir eine schicke .
Jetzt weiß ich nichts mehr .
Eure Briefe werden ja auch immer gelesen und da kann man nichts Ordentliches schreiben .
Dein Detlev .
A... , Juni 1885 - - - morgen darf ich mit den D. es und ihrer Mutter in die Stadt , da kann ich heimlich einen Brief einstecken und schicke ihn an Jens Kettelsen , der ihn Dir in der Schule geben soll . -
Gott , Detlev , Du machst Dir gar keinen Begriff davon , wie schrecklich es hier ist .
Man ist eingesperrt wie im Zuchthaus und kommt gar nicht heraus , außer bei dem langweiligen Spaziergang , wo man in Reih und Glied geht und vor jedem Hofwagen knicksen muß .
Sonst immer nur lernen , den ganzen Tag , die Fleißigen lernen sogar auch bei der Promenade und im Bett .
Ich bin schon sehr oft hereingefallen , gleich in der ersten Zeit , weil ich eine andere geohrfeigt hatte und die Treppe herunterrutschte .
Dann waren wir neulich im Garten und haben Stachelbeeren gerast .
Nun dürfen wir in der Freistunde nicht mehr hinunter und kriegen ins Zeugnis , daß wir gestohlen haben .
Und so weiter - - Übrigens habe ich jetzt eine Flamme , sie heißt Editha und ist bei weitem die Hübscheste .
Ich schwärme sehr für sie und habe schon viele Gedichte auf sie gemacht .
- Hoffentlich komme ich Michaelis in die erste Klasse , dann sind wir immer zusammen .
Leider geht sie nächste Ostern schon ab .
Ach Du , ich weiß nicht , wie ich es hier noch so lange aushalten soll und dann noch ein ganzes Jahr .
Die Pröpstin kann mich nicht ausstehen , gerade wie Mama , und sie können alle nicht begreifen , daß man toben muß , wenn man vergnügt ist .
Wir dürfen uns hier nur » sittsam und anständig bewegen « .
Ich schicke Dir eine Karikatur von unserer Mademoiselle , die anderen finden sie sehr ähnlich .
Ich zeichne überhaupt in allen Freistunden .
Aber laß um Gottes Willen nichts herumliegen .
Deine Ellen .
Nevershuus , Oktober 1885 Liebe Ellen , Deine Versetzung in die erste Klasse hat uns sehr gefreut und überrascht .
Es ist mir sehr lieb zu hören , daß Du Deine frühere Trägheit abgelegt hast und gut weiterkommst .
Nun Sorge aber auch das nächste Mal für ein gutes Zeugnis im Betragen .
Ich weiß , wie schwer es Dir wird , Deine Lebhaftigkeit zu zügeln , aber bedenke , daß Du jetzt am Konfirmationsunterricht teilnehmen und anfangen sollst , eine junge Dame zu werden .
Wir müssen uns alle mehr oder minder in das Leben schicken .
Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Vater. A... , November 1885 Liebster Detlev , eben habe ich den Diener auf der Treppe erwischt , und er will mir den Brief besorgen .
- Es hat eine große Mordsgeschichte gegeben , und wäre nicht die ganze Klasse dabei gewesen , so hätte man mich und Editha sofort geschwenkt .
Die Alte will an all unsere Eltern sofort schreiben , und wir haben schon einen Preis ausgesetzt , wer den ärgsten Brief von zu Hause kriegt .
Ich habe aber doch verfluchte Angst vor den jungen Leuten .
Denke nur , wenn sie mich hier wirklich herausgeworfen hätten , es war nicht mehr weit davon . -
Also es war so : Unsere Erste war letzten Sonntag nicht da , Editha als Zweite sollte sie vertreten , und wir überredeten sie , den Abend volle Freiheit zu geben .
Als das Mädchen fort war , standen wir wieder auf .
Maria Besserer blies die Mundharmonika , und wir sangen und tanzten .
Nun ist hinten am Saal eine Tür , die auf den Speicher geht , und da bekamen wir Lust , eine Entdeckungsreise zu machen .
Editha ging mit der Nachtlampe voran .
Du glaubst nicht , wie schön sie war mit ihren langen , schwarzen Haaren . -
Erst hielt sie noch eine Rede über die Mysterien des Stiftes :
wir sollten uns gefaßt machen , auf eingetrocknete Blutflecken und Leichen von früheren Stiftskindern zu stoßen .
Einige wurden so bange , daß sie wieder in ihre Betten krochen .
Dann kamen wir in lauter alte Bodenräume , voll Gerümpel und Spinneweben , und überall schien der Mond herein .
Editha und ich stiegen auf die Leitern in den Turm hinauf , durch die Luke hinaus und rutschten das ganze Kapellendach entlang .
Das haben die dummen Gänse nachher , als sie ausgefragt wurden , alles erzählt .
Nachher stellten wir die Lampe auf den Boden und tanzten einen Indianertanz darum herum .
Dabei haben wir so gehopst , daß wir den anderen Tag ganz lahm waren .
Zuletzt liefen wir noch auf den Korridor hinaus und brachten dem vierten Schlafsaal ein Ständchen und warfen ihnen Stiefel ins Bett .
Die haben uns dann angezeigt - ist das nicht eine Gemeinheit ?
Die Alte kam selbst in die Klasse , alle sagten , so wütend hätte man sie noch nie gesehen .
" Die Sünde ist unter euch wie ein fressender Eiter " , sagte sie einmal - dabei platzte ich heraus , und nun fuhr sie auf mich los : ich wäre die Anstifterin , das wüßte sie ganz genau .
Ich hätte die anderen verleitet , im Nachthemd auf den Korridor zu gehen , und das wäre unsittlich usw .
Es ist immer noch große Aufregung im Stift , denn fortwährend kommen neue Schandtaten heraus , auch von dem vierten Schlafsaal , der uns angezeigt hat .
Aber es ist nicht recht dahinterzukommen , was die eigentlich gemacht haben , denn das wird alles bei der Pröpstin im Zimmer verhandelt .
Sie hat nur die Erste abgesetzt und alle in andere Schlafsäle verteilt .
Na , Gott sei Dank , Weihnachten sehen wir uns wieder , dann habe ich Dir noch viel zu erzählen .
Aber ich werde dann wohl sehr in Ungnade sein .
Deine Ellen .
Ist Fritz H. noch auf der Schule ?
Seit ich Editha habe , bin ich lange nicht mehr so verliebt in ihn .
Hier ist überhaupt niemand in Jungen verliebt , wer keine Flamme hat , schwärmt für den Pfarrer .
Aber nun lebe wohl .
Deine Ellen .
Am Neujahrstage saß Ellen in ihrer Heimatskirche und legte wie in Kinderzeiten glühende Besserungsgelübde zu Gottes Füßen nieder .
Ein furchtbares Unwetter von elterlichem Zorn war über sie hingebraust , und der Vater hatte lange und ernst mit ihr gesprochen .
" Was soll denn aus dir werden , wenn sie dich nun fortschicken und es immer so weiter geht ? "
Ihr war selbst bange geworden , was aus ihr werden sollte , aber es war ja noch nicht zu spät , sie wollte sich wirklich ändern , sich mehr im Zaume halten .
Aber sie fühlte sich doch nicht ganz sicher , und dies Gefühl wurde noch stärker , als sie wieder in der Pension war .
Die ersten Wochen ging es ganz gut .
Unter den jungen Mädchen war jetzt viel von der Konfirmation die Rede .
Der Pfarrer hatte damit angefangen , ihnen die Grundlagen und das Wesen des Christentums zu erzählen , dann kamen die einzelnen Gebote und ihre Beziehung auf das Leben - der ganze schwerwiegende Ernst , der in all den Drohungen und Verheißungen lag - Gottes Zorn und Gottes Gnade .
Als die Sünde wider den heiligen Geist besprochen wurde - die Sünde des Gläubigen , der mit vollem Bewußtsein die Gnade verscherzt , die furchtbarste , äußerste Sünde , für die keine Vergebung ist , folgten sie angstvoll jedem seiner Worte und zitterten bis in die tiefste Seele hinein unter demselben Gedanken : und wenn nun ich sie begangen hätte ?
Sie sollten nun bald zum erstenmal an den Altar Gottes treten und davor stand das Wort :
Wer aber unwürdig isst und trinket , der isst und trinket sich selber das Gericht .
Wie ein Schauer lief es durch die Reihe der zwölf jungen Mädchen , die andächtig auf ihrer Schulbank saßen , und zugleich lag ein mächtiger Reiz darin , schuldvoll und niedergeschlagen vor diesem Mann dazustehen , der ihnen bis ins tiefste Innere schauen konnte und wußte , was Sünde war .
Für Ellen war der Pfarrer von allen Vorgesetzten der einzige , zu dem sie Vertrauen hatte .
Er bekam alles zu wissen , was man tat , und wie oft hatte sie ihm schon nach der Stunde in den großen Saal folgen müssen , um eine Vermahnung zu bekommen , aber er schalt nicht , suchte sie nicht zu beschämen oder zu demütigen wie die Pröpstin , er fand jedesmal ein gutes Wort und ein verstehendes Lächeln .
Dafür war Ellen auch in seinen Stunden die Aufmerksamkeit selbst und lernte die längsten Psalmen auswendig , um ihm Freude zu machen .
Mit Editha war sie immer noch viel zusammen und schwärmte sie in namenloser Hingebung an .
Sie hatte das Herz voller Anbetung und den Kopf voller Verse , bei Tisch , in den Stunden und abends im Bett , immer fand sie wieder neue Reime zusammen , um die Freundin zu besingen .
Editha war die Schönste , die Beste , die Unvergleichliche .
Wenn sie abends im Schlafsaal das Haar aufmachte , hing es wie ein dichter Mantel um sie her , die Brauen lagen gleich zwei breiten , schwarzen Strichen über den dunklen , schweren Augen .
Und ihre Hände und Füße , die so klein und zierlich waren - man konnte kaum begreifen , daß Editha sie wie andere Menschen gebrauchen konnte .
Für die alte Vorsteherin gab es viele schwere Stunden .
Seit die beiden so eng befreundet waren , schien eine ganze Horde von Teufeln in dem ehrwürdigen alten Gebäude zu spuken .
Die ganze erste Klasse war außer Rand und Band , trotz Konfirmationsstunden und quälender Gewissensfragen .
Es kam vor , daß den Lehrerinnen Salz ins Bett gestreut wurde , so daß sie die ganze Nacht nicht schlafen konnten , oder dem Kandidaten wurden alle Knöpfe vom Mantel geschnitten und der Hut von oben bis unten mit Kreide bemalt , was dann niemand getan haben wollte .
Oder Ellen und Editha wetteten , ob man Tinte trinken und vom höchsten Schrank herunterspringen könnte .
Und sie tranken wirklich Tinte und sprangen von den Schränken herunter auf die Fliesen , daß die anderen leichenblaß wurden vor Schreck .
Anfang Februar war Edithas Geburtstag .
Ellen träumte eine Zeitlang davon , der Freundin ihre gesammelten Gedichte zu schenken , mit Druckschrift und schön gebunden .
Sie schienen ihr aber schließlich doch nicht gut genug , und so wollte sie denn lieber ein Gedichtbuch kaufen .
Wer sie gemacht hatte , war ja einerlei , wenn nur recht viel von Liebe drin stand .
Es war nicht so einfach , eins zu bekommen , denn das Taschengeld wurde ihr regelmäßig für Strafen abgezogen , und alle Einkäufe gingen durch die Hand der Vorsteherin .
Ellen zerbrach sich nicht lange den Kopf darüber , sie borgte die kleine Summe zusammen , obgleich Geldleihen streng verboten war , und überredete eine von den letzten Neuen , das Buch auf ihren Namen kommen zu lassen .
Es war eine Sammlung von 450 Gedichten .
Dann lag es eine Nacht unter ihrem Kopfkissen , und sie dachte in fieberhafter Seligkeit daran , wie Editha es morgen an ihrem Platz finden würde .
Als Ellen vor der ersten Stunde ihre Bücher zusammensuchte , legten sich plötzlich zwei Hände um sie und es ging wie ein Feuerstrom durch ihr Herz ; Editha küßte sie auf den Mund .
" Das war lieb von dir , kleine Ellen , ich habe mich so gefreut . "
In der Arbeitsstunde um Mittag fehlten die beiden Unzertrennlichen .
Zufällig kam die Klassenlehrerin herein und fragte nach ihnen , aber niemand hatte sie gesehen .
Mademoiselle geriet in Aufregung , suchte und fragte durchs ganze Haus .
Um Gottes Willen , wo konnten die beiden sein , es war ihnen ja alles zuzutrauen .
Die ganze Klasse mußte mitsuchen und es entstand ein förmlicher Tumult .
Endlich entdeckte man sie oben im Schlafsaal der Kleinen , auf zwei der entlegensten Betten lagen sie und lasen sich Gedichte vor .
Sie machten nicht einmal Miene aufzustehen und wollten sich halb totlachen , als die Mademoiselle wutbleich vor ihnen auftauchte .
Dann wurden sie in die Klasse hinuntergeschickt .
Das Buch , in dem sie gelesen hatten , nahm die Lehrerin an sich und ging damit zur Pröpstin .
Die alte Dame unterzog es einer genauen Prüfung , während sie sich den ganzen Vorfall berichten ließ .
Auf dem ersten Blatt stand eine lange Widmung in Versen von Ellens Hand .
Wie kam Ellen zu dem Buch , das gestern erst eine andere bestellt hatte ?
Nun folgte ein Verhör auf das andere , nur Ellen wurde nicht vorgerufen .
Stadt dessen erschien die Vorsteherin nach Tisch selbst in der Klasse , um sie vor allen anderen niederzuschmettern .
Sie war in großer Toilette , weil sie nachmittags an Hof gehen wollte , die lange Seidenschleppe knisterte wie eine zornige , schwarze Schlange hinter ihr her .
Ellen stand da , beide Hände in den Schürzenlatz gesteckt und sah ihr gerade in die Augen .
Sie wollte zeigen , daß sie sich nicht fürchtete , während die alte Dame mit harten , zischenden Worten auf sie ein sprach :
" Mit dir , Ellen Olestjerne , werde ich von jetzt an nicht mehr unter vier Augen reden , denn du verdienst diese Rücksicht nicht mehr .
Du hast meine Geduld nun bald ein Jahr lang auf eine harte Probe gestellt ; ich will jetzt nicht davon reden , daß du dich von Anfang an gegen jede Zucht und Ordnung aufgelehnt , dich auch heute noch wieder mit Editha , die ja leider ganz unter deinem Einfluß steht , lachend über alle Regeln hinweggesetzt hast , nur das eine will ich dir sagen : für ehrlich wenigstens habe ich dich bis jetzt gehalten , bis zu dem Augenblick , wo ich erfuhr , auf was für Schleichwegen du dir dieses Buch verschafft hast .
Jetzt weiß ich , daß du selbst vor einem gemeinen Betrug nicht zurückschreckst - du , ein Mädchen aus guter , hochgeachteter Familie - eine Konfirmandin .
- Und ich sage dir noch einmal , zum letztenmal : halte ein auf der abschüssigen Bahn , die du wandelst .
Gehe in dich , ehe es zu spät ist , sonst wirst du dermaleinst mit bitterer Reue an meine Worte zurückdenken . "
Dann wandte sie sich zu den anderen :
" Ellen Olestjerne hat sich eines gemeinen Betruges schuldig gemacht - sie hat den Namen einer Mitschülerin mißbraucht , um sich ein Buch zu verschaffen , das sie nicht bezahlen konnte , und noch zwei andere veranlaßt , ihr Geld zu borgen , um ihre Schuld wenigstens für den Augenblick zu decken .
Ihr habt sie von jetzt an als ehrlos zu betrachten und ich warne jede , die noch mit ihr verkehrt . "
Damit verließ sie das Zimmer und die schwarze Seidenschlange raschelte ihr nach .
Ellen wanderte auf drei Tage in Arrest .
Da saß sie in der dämmerigen Turmstube , machte lange Gedichte auf Editha und wartete , wie ihr Schicksal sich entscheiden würde .
Als sie am nächsten Sonntag der Reihe nach zur Pröpstin hineinkamen , um ihre Zeugnisse vorzulegen , sagte die verhaßte Stimme :
" Ellen Olestjerne , deine Eltern sind von dem Vorgefallenen benachrichtigt .
Du kannst noch bis Ostern hierbleiben , weil ich ihnen nicht die Schande antun will , dich vor der Einsegnung fortzuschicken . "
Es war doch ein arger Schrecken , als die kalte , unerbittliche Tatsache plötzlich vor ihr stand : fortgejagt - und die Eltern .
- Wie in einem bösen Traum ging Ellen hinaus , an den anderen vorbei , ohne irgend etwas zu sehen , die Treppe hinauf , oben am letzten Gangfenster blieb sie stehen und legte das Gesicht an die Scheiben .
Sie hatte Todesangst vor zu Hause - heute wußten sie es vielleicht schon .
Es war nicht auszudenken , wie eine erdrückende Last wälzte es sich von allen Seiten über sie her .
Dazwischen glänzte wohl auch etwas Helles , Freudiges auf : heimkommen - fort aus diesen dumpfen Schulstuben , aus der moderigen Kerkerluft .
Heimatsvisionen kamen , das Schloß , die sonnigen großen Zimmer , wo abends die Spatzen vor den Fenstern in den Ulmen schwätzten , der sommerliche Garten mit seinem starken Fliederduft - Detlev , die Geschwister alle - und nun schluchzte sie vor Heimweh .
Ja sie wollte nach Hause , nur nach Hause , wie schlimm es auch werden mochte .
Am Montagmorgen kam Ellen noch halb verschlafen hinunter .
Vor ihrem Schrank stand Fräulein Blümner , die Wirtschaftsdame , mit der turbanartigen , punktierten Haube und räumte die Sachen auf .
" Was soll das ? "
" Fragen Sie nicht so unverschämt - Sie bekommen Ihren Schrank jetzt da oben auf der Treppe , damit die anderen nicht mehr wie nötig mit Ihnen in Berührung kommen .
Wer so lügt und trügt wie Sie , muß sich auch darauf gefaßt machen , daß man ihn danach behandelt . "
Ellen lachte , um ihre Wut zu verbergen , und machte ihr hochmütiges Gesicht .
Nachher schrieb sie mit Riesenbuchstaben auf die Innenseite der Schranktür :
Ich habe nie das Knie gebogen - den stolzen Nacken nie gebeugt .
17. Februar 1885 .
Das brachte ihr wieder einen Tag Arrest ein .
Und so ging es nun mit allem ; sie war in Acht und Bann getan , jede von den anderen , die sich noch mit ihr sehen ließ , fiel in Ungnade .
Aber sie nahm den Fehdehandschuh auf , beging bei jedem Anlaß die größtmöglichen Ungezogenheiten , nahm die Strafe lachend hin und überbot sie durch noch ärgeres Benehmen .
Im Schlafsaal gab es fast jeden Tag Skandal .
Wenn Ellen sich Wasser holte , balancierte sie die blecherne Waschschüssel auf dem Kopf und behauptete , sie könnte kein Blech anfassen .
Beim Mundspülen gurgelte sie nur in Melodien und sagte , es käme ganz von selber , sie könnte es nicht lassen .
Und wenn alle im Bett lagen , fing sie an zu heulen wie ein wildes Tier in langgezogenen Tönen die halbe Nacht hindurch , so daß niemand schlafen konnte .
" Ellen , sei ruhig " , schrie die Erste , die Aufsicht führen mußte .
" Mein Gott , ich bin so traurig , du kannst mir doch nicht verbieten , zu weinen " , und sie heulte weiter .
Die anderen kamen um vor Lachen , und die Erste war machtlos dagegen .
Sie konnte nur anzeigen , immer wieder anzeigen , und das war Ellen jetzt ganz gleichgültig , sie lebte in einem förmlichen Rausch von Auflehnung .
Ein paarmal ging sie zur Pröpstin , um sich selbst anzuzeigen , wenn sie fand , daß man zu nachsichtig gegen sie war .
" Miß Collins hat wohl vergessen zu melden , daß ich gestern in der Stunde gelacht habe . "
Die Pröpstin geriet außer sich vor Zorn und verbot ihr schließlich , das Zimmer überhaupt noch zu betreten .
Aber manchmal fühlte Ellen sich auch todunglücklich - sie stand jetzt wirklich ganz allein , selbst Editha wollte nichts mehr von ihr wissen , hatte sich immer mehr von ihr zurückgezogen und ging nur noch mit einer früheren Freundin , die Ellen nicht leiden konnte .
Sie ballte heimlich die Hände , wenn sie die beiden zusammen sah , und ihre Dichtungen wurden immer verzweifelter : draußen heulte der Sturm , Eulen schrien in finsterer Nacht - alle schliefen , nur sie allein wachte mit ihrem zerrissenen Herzen , in dem die Leidenschaft wütete und die verratene Liebe .
Manchmal wurden es auch Rebellengesänge :
" Wie lange soll ich diese Schmach noch dulden - wie lange diese Ketten tragen noch ! " oder :
" Es kreist mein Blut in wildem schnellem Lauf - und alle Pulse hämmern laut .
- Mein Stolz , mein Selbstgefühl bäumt , ach , sich auf . -
Zuviel , zuviel habt ihr mir zugetraut . "
Kurz vor Ostern kam noch die letzte Zeugnisverteilung .
Das war immer ein feierlicher , öffentlicher Akt , dem viele Ehrenpersonen aus der Stadt beiwohnten und wo die Pröpstin eine Rede hielt .
Diesmal ging es wie ein Gewitter über die fünfzig Kinder hin , von denen manche kaum mehr aufzusehen wagten .
Während ihrer zweiunddreißigjährigen Amtsführung habe sie noch kein Jahr erlebt wie das letzte , - ein Geist des Aufruhrs ist in unsere Anstalt eingedrungen , - unlautere Elemente , die wir leider erst zu spät erkannt haben und die durch Leichtsinn und Gewissenlosigkeit ein schlimmes Beispiel gaben , - und dann erhob sich ihre Stimme immer lauter und strafender .
- Derartige Elemente müssen schonungslos ausgemerzt werden - es sind Krebsschäden , die nur durch einen raschen Eingriff beseitigt werden können . - -
Ellen sah wohl , wie viele Blicke sich auf sie richteten , wenn auch nicht ihr Name genannt wurde .
Sie wollte die Augen nicht niederschlagen und empfand es beinahe wie einen Triumph : " Ja , mit mir seid ihr doch nicht fertig geworden . "
An demselben Abend wurde sie zum Pfarrer gerufen , er sah sie lange ernst an und sagte dann :
" Nein , Ellen , vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten , ich glaube zu wissen , wie es in Ihrem Inneren aussieht und daß Sie die Absicht haben , es von nun an anders werden zu lassen .
Denken Sie an das Wort :
es wird Freude sein im Himmel über einen Sünder , der Buße tut , vor neunundneunzig Gerechten .
Vor allem lassen Sie den schlimmen Widerspruchsgeist und allen kindischen Trotz fahren , damit kommt man nicht durch die Welt , Ellen . -
Ich habe trotz alledem gutes Zutrauen zu Ihnen , denn ich weiß , daß Sie im Grunde nicht schlecht sind .
Sie machen es nur sich selbst und anderen schwer .
Aber Sie waren eine von meinen besten Schülerinnen und ich möchte auch , daß Sie einer von meinen besten Menschen werden .
Ich will auch selbst mit Ihrer Mutter sprechen , die wohl einigen Grund hat , ungehalten über Sie zu sein . " - Damit gab er ihr die Hand , und ihr liefen große Tränen übers Gesicht .
Als am nächsten Tage die Mutter kam , war Ellen weich wie Wachs .
Und es ging viel besser ab , als sie gedacht hatte .
Mama schien doch nicht ganz mit der Pröpstin einverstanden , sie sprach viel mit dem Pfarrer und war merkwürdig milde .
Vor der Beichte versöhnten sich die Konfirmandinnen untereinander und suchten auch die Lehrerinnen auf , um in vollem Frieden mit aller Welt das Abendmahl zu nehmen .
- Ellen schloß sich von diesem Brauch aus :
was haben die mir zu verzeihen , wenn ich mit mir selbst und dem lieben Gott im reinen bin ?
Dann mußten sie alle einzeln zur Pröpstin hereinkommen , man murmelte auch dort ein paar Worte von Verzeihen und bekam einen Kuß auf die Stirn : - du bist mir eine liebe Schülerin gewesen , gehe hin in Frieden .
Als Ellen kam , standen sie sich einen Augenblick gegenüber , beide in tödlichem Widerwillen , die alte Dame und das fünfzehnjährige Kind .
" Hast du mir nichts zu sagen , Ellen Olestjerne ? "
" Nein . "
Auf die einzelnen Worte , die nun folgten , konnte Ellen sich nachher nicht mehr recht besinnen .
Die Pröpstin sprach eine Art Fluch über sie aus und wies dann gebieterisch mit ihrem aristokratischen , wohlgepflegten Zeigefinger nach der Tür .
Später gingen die jungen Mädchen auf dem Gang hin und her , meist in ernsten Gesprächen , einige hatten auch große Sorge wegen der Kleider für morgen und wie sie das Haar tragen sollten .
Trotz der Pröpstin war Ellen weich und froh gestimmt , das Wiedersehen mit der Mutter war überstanden und sie hatte Editha wieder , nach einer langen Unterredung .
" Siehst du , ich mußte die letzte Zeit etwas Rücksicht nehmen .
Du weißt , ich bin von Kind an hier , die Alte hat sozusagen Mutterstelle an mir vertreten und ist immer sehr nachsichtig gewesen .
Sie verlangte einfach von mir , daß ich den Verkehr mit dir abbrechen sollte .
Leicht ist es mir nicht geworden , aber du tatest ja immer , als ob es dir ganz gleich wäre . "
" O Gott , nein , das war es nicht . "
Sie umarmten sich , und Ellen war überselig .
" Weißt du , wir wollen uns oft schreiben .
Laß mich wissen , wie es dir zu Hause ergeht . "
" Ja , und ich habe noch eine Bitte - , schenke mir doch eine Locke von dir . "
Ellen durfte sich selbst eine abschneiden , sie hatte schon eine ganze Edithasammlung bis zu weggeworfenen Stahlfedern , heimlich abgeschnittenen Plaidfransen und alten Schreibheften , aber die Locke kam in ein Medaillon , das sie immer unter dem Kleid tragen wollte .
Die Osterglocken läuteten , und in weißen Kleidern mit langen Schleppen stiegen die Konfirmandinnen die hohen Steinstufen hinab , durch den dunklen , feuchtkalten Hausflur in die Kapelle .
Als Ellen vor dem Pfarrer kniete , war ihr , als ob seine Stimme für sie einen ganz besonderen Klang hätte , der ihr allein galt , wie eine feierliche Heimlichkeit zwischen ihnen .
- Ihre Seele war voller Ernst und wogte in einem frohen , morgenfrischen Gefühl .
Mit diesem Tage wollte sie ja ein neues Leben anfangen , es kam ihr jetzt so leicht und hell vor , - wie wenn man nach einem mißglückten , zerfetzten Tag aufwacht und nun alles zurechtbringen will , was gestern nicht gelang . Anderen Tags reiste sie mit ihrer Mutter ab .
An der Treppe stand die Pröpstin und streckte ihr kalt die Hand zum Kuß hin . -
Ah - zum letztenmal diese Treppe , zum letztenmal dies harte , blanke Gesicht mit den tiefgemeißelten Augenhöhlen , zum letztenmal dieser Sklavenhandkuß !
Und dann das wehmütige Glück , in den Frühlingsabend heimzufahren , heimwärts , nach Nevershuus , zu den Geschwistern - und mit dem Versprechen , daß Editha sie nicht vergessen wollte .
Marianne Olestjerne war bei ihrem Vater im Zimmer und staubte den mächtigen alten Schreibtisch ab .
Mit bedächtigen , liebevollen Bewegungen stellte sie die verblaßten Familienphotographien in dunkelbraunen oder violetten Samtrahmen wieder hin und legte vorsichtig die Papiere beiseite .
Dann die lange Schale mit Federhaltern und Bleistiften , jeder kam wieder an seinen Platz .
Es war wohl zu sehen , sie tat das alles mit Liebe und langjähriger Gewohnheit , als ob jedes Stück Bedeutung und Leben hätte .
Der Freiherr saß am runden Mitteltisch vor dem Sofa und trank seinen Morgenkaffee aus der großen Kopenhagener Tasse .
Diese ganze Frühstunde ging vor sich wie eine heilige Handlung , die nicht unterbrochen und gestört werden durfte .
Marianne sah zu ihm hinüber , während er die Zeitung durchsah und wieder hinlegte .
Der Vater war für sie der Beste und Geliebteste von allen , das , worum sich ihr Tag und ihre Arbeit drehte .
" Papa " , sagte sie etwas leise .
" Was willst du , mein Kind ? "
" Papa , heute ist Ellens Geburtstag - willst du nicht wenigstens einen Augenblick hinübergehen , wenn sie ihre Geschenke bekommt ? "
Ein unwilliger Zug ging um seinen Mund , er schob den Sessel weg und ging durchs Zimmer .
" Ich warte nur darauf , daß sie zu mir kommt . "
" Das wagt sie nicht " , sagte die Schwester .
" Unsinn , ich habe noch nie bemerkt , daß Ellen etwas nicht wagt . "
" Du hast es ihr auch nicht leicht gemacht , Papa , seit sie wieder hier ist , hast du kein Wort mit ihr gesprochen .
Das schüchtert sie ein und Mama - - "
" Ich dachte , das ginge jetzt besser ? -
Ich habe wahrhaftig die Lust verloren , mich darum zu kümmern . "
" Nein , es geht nicht besser , lieber Vater , ich weiß ja selbst , wie schwer es mit Mama ist .
Und Ellen ist noch so jung und hat nicht die Überlegung .
- Wir anderen haben dich gehabt , und Ellen braucht vielleicht mehr wie alle eine feste Hand , aber auch Liebe . "
Er ging immer rascher , und Marianne fühlte seine Verstimmung aus jedem Schritt .
" Ich weiß nicht , was sie will und was sie braucht , ich kann dies Kind nicht begreifen .
Wie ist sie denn wiedergekommen - strahlend , daß sie nicht mehr so viel zu lernen braucht und ihre dummen Jungenstreiche mit Detlev fortsetzen kann .
Keine Ahnung , daß sie sich schämt , kein Wort , daß es ihr auch nur leid tut , uns das alles angerichtet zu haben .
Sie ist doch damals nur fortgekommen , weil ich sah , daß es mit ihr und Mama nicht gehen wollte - um ihr zu helfen .
Aber sie hält alles , was man für sie tut , für Feindseligkeit und Bosheit und widerstrebt blind und unvernünftig .
- Sage du ihr das , sprich einmal mit ihr .
Wenn sie dann von selbst kommt , soll es gut sein . "
Aber Ellen kam nicht .
" Es nützt ja doch nichts " , war die Antwort auf alle Vorstellungen der älteren Schwester .
- So wurde es ein melancholischer Geburtstag .
Als die anderen nach Tisch vor der Gartentür saßen , lief Ellen auf die Koppel hinaus .
Was sollte sie da droben ?
Sie fühlte sich überflüssig , im Wege , ausgeschlossen .
So warf sie sich ins Gras und weinte - ja , die Heimat , die hatte sie nun wieder , aber sonst war alles wie früher , täglicher Kampf und tägliche Quälerei , nur noch rettungsloser und verfahrener durch die unglückselige Pensionsgeschichte .
Später kam Marianne mit Detlev , sie fand , daß doch etwas Festliches für Ellen geschehen müßte und wollte mit den beiden ihren Lieblingsweg nach Olrup gehen - es war ein kleines Dorf draußen am Meer .
Ellen bewunderte ihre Schwester sehr - die hatte ihre ganze Jugend zu Hause verlebt und war nie unzufrieden , immer gleichmäßig in ihrer stillen Heiterkeit .
Sie kamen darauf zu sprechen , auf die Eltern und alles .
" Du mußt dir doch auch ziemlich viel gefallen lassen und darfst alles mögliche nicht " , meinte Ellen .
" Aber es liegt mir auch meistens nicht so viel daran .
Wenn Papa mir zum Beispiel verbietet , irgendein Buch zu lesen , so weiß ich , daß er seinen Grund dafür hat .
Und es bleibt immer noch so viel Schönes , woran man sich freuen kann , daß das gar nicht in Betracht kommt . "
" Ja , aber hast du jemals gesehen , daß Mama mir etwas aus einem vernünftigen Grund nicht erlaubt ?
Sie verbietet nur , um zu verbieten , oder weil sie alles überflüssig findet , was mir Freude macht .
Sie sagt , ich wäre faul und wollte nichts tun , aber warum läßt sie mich nicht malen ?
Es ist das einzige , was ich mir wünsche und was mir Freude macht .
Dann würde ich mit Vergnügen den ganzen Tag arbeiten .
Aber sowie sie mich mit einem Skizzenbuch sieht , heißt es : laß doch das alte Geschmier , es kommt ja doch nichts dabei heraus . "
Marianne zuckte die Achseln .
" Mama ist nun einmal dafür , daß man nur nützliche Sachen tut , sie hat es auch nicht gern , wenn ich viel lese .
Ich sage dir deshalb auch immer wieder , du solltest dich an Papa halten , der kann dir noch am ehesten helfen .
Mir scheint immer , daß ihr Jüngeren ihn eigentlich gar nicht kennt . "
" Er kümmert sich nicht viel um uns . "
" Das würde er schon tun , wenn ihr nur wolltet .
Ich habe dir doch gesagt , er wartet nur darauf , daß du kommst . "
" Das kann ich nicht - ich kann einfach nicht .
Wofür soll ich ihn denn um Verzeihung bitten ?
Daß dies infame Tier von Pröpstin mich nicht leiden konnte ?
Ich möchte ihr heute noch den Hals umdrehen . "
" Ich auch " , fuhr Detlev ingrimmig dazwischen ; die Pröpstin haßte er mit .
Vor ihnen lag das Dorf mit seinen Strohdächern und dem niedrigen , stumpfen Kirchturm .
Über den Heidehügel gingen sie zum Meer hinunter , und Marianne pflückte Blumen für Papas Schreibtisch .
Dann saßen sie am Strand auf den großen Steinen , während die Sonne langsam ins Meer hineinrollte wie eine große brennende Kugel .
Der Himmel loderte weithin auf , das Meer wurde rot , und die Heidehügel glühten .
Allmählich losch alles wieder aus und nun wurde es rasch dunkel , die einzelnen Gestalten auf dem Deich sahen aus wie schwarze Silhouetten .
" Wenn man das malen könnte , " sagte Ellen , " überhaupt malen können , alles , was es gibt . "
Detlev lachte : " Immer noch Vogelbauer , Ellen !
Du bist doch noch geradeso wie früher . "
" Ja , aber ich werde meine jetzigen Vogelbauer doch noch einmal zusammenkriegen , darauf könnt ihr euch verlassen . "
Sie gingen jetzt rasch den Deich entlang und sprachen von der großen Sturmflut vor acht Jahren .
Es war die lange gerade Strecke , wo damals der Deich beinahe gebrochen und nur einen Meter breit stehengeblieben war .
Wie da die haushohen Wellen herüberschlugen und die Menschen , die sich hinauswagten , wie Papierfetzen herumflogen . -
Dann kam das rote Deichwärterhaus mit dem kleinen , sonnenverbrannten Garten , der Bootschuppen , das Dock , wo alte Schiffe zum Ausbessern lagen .
Dicht beim Hafen begegneten sie vielen Spaziergängern , immer die gleichen , die jeden Abend hier herausgingen , all die bekannten Gesichter aus der kleinen Stadt .
Das Grüßen nahm kein Ende , hier und da mußten sie auch stehenbleiben und ein paar Worte sprechen , bis sie endlich in die schmalen Hafenstraßen einbogen , über den Markt unter dem Rathausbogen durch und schließlich die dunkle Kastanienallee zum Schloß gingen .
Ein paar Tage später , als Ellen zur Stadt war , ging die Mutter in ihr Zimmer hinauf :
" Ich muß doch einmal sehen , was sie da immer treibt , wenn sie allein ist " , dachte sie . -
Ellen hatte vergessen wegzuräumen , da standen drei Bilder von Editha mit Blumen davor , auf dem Tisch lag ein langer , angefangener Brief an die Freundin , der bitteren Weltschmerz atmete und endlose Klagen über Ellens elendes Los .
Und daneben ein dickes , ledernes Buch mit selbstgeschriebenen Gedichten , das die Mutter noch nie gesehen hatte .
Sie nahm es mit ins Wohnzimmer , setzte ihre Brille auf und las den ganzen Nachmittag .
Als Ellen nach Hause kam , warf Mama ihr das Buch vor die Füße .
" Du hättest es verdient , daß ich es dir um die Ohren schlage .
Was ist das für ein unerhörtes Zeug ?
Schämst du dich denn nicht , so was zusammenzuschmieren ?
Das hört jetzt auf , verstanden ?
- Und was du da an deine Editha schreibst - du meinst wohl , daß dir arges Unrecht geschieht , wenn du nicht all deinen verrückten Einbildungen folgen sollst .
Von jetzt an lese ich all deine Briefe , verlaß dich darauf . "
Ellen stand zuerst wie versteinert .
Wie konnte Mama sich das herausnehmen , in ihren tiefsten , innersten Geheimnissen herumwühlen - ja , jetzt schämte sie sich allerdings - ihr war , als ob man ihr alle Hüllen von der Seele gerissen hätte und dann kam eine sinnlose Wut über sie . -
Sie schrie der Mutter alles ins Gesicht , was an Groll in ihr aufgespeichert war .
" Ich wollte , ich wäre Gott weiß wo , nur nicht mehr bei euch , in dieser Hölle .
Aber ich laß es mir nicht mehr gefallen .
Lieber Lauf ich fort oder bringe mich um . "
Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer - Ellen hatte den Arm erhoben in drohender Abwehr : " Rühr mich nicht an , Mama ! "
Denn die Mutter hatte sie schlagen wollen .
Ellen kam wieder fort von zu Hause .
Der Vater hatte sie zu sich rufen lassen und lange mit ihr darüber gesprochen .
Ihr ganzer Trotz zerfloß in Tränen - sie hatte nie geglaubt , daß Papa so gut wäre , so vieles verstehen konnte und ihr helfen wollte .
So wurde sie denn auf längere Zeit zu ihrer Tante Helmine Olestjerne geschickt .
Es war eine jüngere Schwester des Freiherrn , die für sich allein in ihrem eigenen Haus und Garten lebte und eine besondere Vorliebe dafür hatte , sich bedrängter Jugend anzunehmen .
Bei ihr konnte Ellen frei heraus mit allen ihren Beschwerden und unruhigen Wünschen .
Schon am ersten Abend , als sie bei Tante Helmine in dem gemütlichen Wohnzimmer mit altväterischen Möbeln und Familienbildern saß , erzählte sie all ihre Erlebnisse zu Hause und in der Pension .
Die Tante hörte aufmerksam zu : " Ja , mit deiner Mama ist es sehr schwierig - ich habe sie auch manchmal nicht verstehen können .
Du bist ja jetzt groß genug , daß man mit dir darüber reden kann .
Aber bei mir sollst du dich nun einmal wirklich wohl fühlen und soviel Freiheit haben , wie ich dir mit gutem Gewissen geben kann .
Es ist eine Malerin hier , bei der du Stunden nehmen kannst , wenn du so große Lust dazu hast . "
Ob sie Lust hatte !
Ellen riß beinahe das Tischtuch mit Lampe und allem herunter und fiel der Tante um den Hals .
" Und wenn die sagt , daß du Talent hast , lassen sie dich vielleicht auch zu Hause dabei .
Dann hast du wenigstens eine Arbeit , die dir Freude macht . "
Ellen bekam ein Zimmer als Atelier eingerichtet und warf sich gleich vom ersten Tage an mit Heißhunger auf die Arbeit , mit ihrer vollen , gesunden Jugendkraft , die sie bisher fast wie etwas Überflüssiges gedrückt hatte und jetzt mit einemmal in ihr aufjauchzte , weil sie ein Ziel bekam und das Ziel , das ihr glühendster Wunsch war .
Am liebsten stand sie die ganzen , langen Sommertage vor der Staffelei oder streifte mit dem Skizzenbuch draußen herum , statt mit der Tante auf Besuche zu fahren oder Vergnügungen mitzumachen .
Ihre Lehrerin betete sie etwas scheu und aus der Ferne an - eine Künstlerin , die in Paris und München gewesen war , ein Wesen aus einer ganz anderen Welt , von der Ellen nichts geahnt hatte und alles mit staunender Glut verschlang , was sie jetzt erfuhr .
Sie schämte sich ihrer bodenlosen Unwissenheit - hatte noch nie ein richtiges Bild gesehen , nicht einmal gewußt , daß man nach lebenden Modellen malte , und tat so dumme Fragen , daß Fräulein Hunius oft lächelte .
Und wie die da herumging zwischen all den beschränkten , engherzigen Leuten - nur ihrer Kunst lebte .
Nur der Kunst leben .
Ellen fing an zu ahnen , was das sein müßte .
Wenn die Lehrerin zur Stunde kam , stand sie bebend hinter ihr und folgte jedem Strich .
Und nur dann , wenn sie ihr Gesicht nicht sehen konnte , wagte sie von sich selbst zu sprechen - wie sie sich auch so ganz in die Kunst hineinstürzen möchte , nur dafür dasein und arbeiten bis aufs Blut , trotz aller Hindernisse .
Und was für Hindernisse standen ihr entgegen - das meinte Fräulein Hunius auch , die Ellens ganze Verwandtschaft kannte .
Sie sprach ihr auch von den Enttäuschungen , daß Ellen noch so jung sei und sich wie alle Anfangenden große Illusionen mache , die wohl meist nach und nach zerschellten .
Aber das bedrückte sie nicht weiter , und sie glaubte nicht daran .
Es war eine Zeit , wo sich ihr alles in einen Traum von immerwährender Glückseligkeit verwandelte , der ganze Tag war ein ernstes Spiel mit frohen Kräften , und selbst in den warmen Sommernächten wollte keine rechte Müdigkeit kommen .
Manchmal stand Ellen heimlich wieder auf , stieg aus dem niedrigen Fenster und lief über den Rasenplatz zum Fluß hinunter , der am Garten vorbeifloß .
Da schaukelte sie sich in Tante Helminens kleinem Boot oder tauchte in das dunkle , raschfließende Wasser hinein , mit stiller Angst , daß die Tante sie gehört haben könnte .
Anfang Dezember schrieb die Mutter , Ellen müsse nun endlich einmal wiederkommen .
Die Tante ließ sie ungern gehen , denn sie hatte große Freude an Ellens Fleiß und konnte ihre rastlose Lebendigkeit gut ertragen .
Aber im nächsten Jahr sollte sie wiederkommen und weiterlernen .
Ellen fuhr nach Hause mit zwei großen Zeichenmappen und voll von Plänen und Zukunftsträumen .
Jetzt strahlte ihr die Welt .
Sie wollte gut gegen Mama sein , ihr nachgeben , soweit es ging , und im Stillen weiterarbeiten , bis sie alle überzeugt hatte , daß sie Malerin werden müßte .
Am Weihnachtsabend saßen sie alle noch spät beim Punsch im Eßsaal auf Nevershuus .
Der Freiherr ging , wie er es liebte , während des Gespräches mit großen Schritten auf und ab .
" Das waren eure letzten Weihnachten hier " , sagte er plötzlich und blieb am Tisch stehen .
Die vier Geschwister saßen wie versteinert und sahen ihn an .
" Ja , Papa hat Nevershuus verkauft " , sagte nun die Mutter mit Tränen in den Augen .
" Zum Frühjahr müssen wir fort . "
Sie schwiegen alle , der Vater stand vor ihnen und reckte sich in die Höhe : " Seid doch froh , wenn wir endlich einmal aus dem Nest herauskommen - von euch Jungen wird ja doch keiner Landwirt , und wir sind jetzt zu alt , um uns damit zu plagen , für nichts und wieder nichts . "
Marianne war die einzige , die schon darum gewußt hatte , die anderen konnten sich immer noch nicht von der jähen Überraschung erholen :
daran hatten sie nie gedacht , sich nie vorgestellt , daß es einmal so kommen könnte - Nevershuus ihnen nicht mehr gehören .
Und die Eltern waren in ihren Augen die " jungen Leute " , denen keine Zeit etwas anhaben konnte - Papa sich zur Ruhe setzen , das war wie eine Erklärung , daß sie nun alt würden .
Sie mühten sich alle , ihre Bewegung zu unterdrücken , denn Gefühlsäußerungen , besonders im größeren Kreise , waren bei den Olestjernes niemals Brauch gewesen .
Es gab nur hier und da einen etwas unsicheren Ton in den Stimmen , während sie über das große Ereignis sprachen .
" Wo wollt ihr denn hinziehen ? " fragte Erik mit seiner gewohnten überlegenen Ruhe - für ihn kam es auch nicht so sehr in Betracht , da er demnächst auf die Universität sollte .
" Das wissen wir noch nicht , aber jedenfalls in eine größere Stadt . "
" Für uns ist es überall gut , wo wir zusammen sind und euch haben " , meinte Marianne ; "- aber es war doch unser Nevershuus . "
" Ach , ihr solltet euch doch freuen , einmal in andere Umgebung zu kommen , " sagte der Vater wieder .
" Hier versimpelt ihr auf die Länge , seht nichts von der Welt , wißt nichts von der Welt . Euer Nevershuus werdet ihr schon mit der Zeit vergessen . "
" Wie kannst du das sagen , Christian ! "
Der Freifrau ging es wie den Kindern , sie hing mit allen Fasern an dem alten Schloß - vierundzwanzig Jahre - ihre ganze Ehe - die Kinder , die hier geboren und aufgewachsen - ihr Ältester , der hier gestorben war !
Sie begriff doch nicht recht , daß ihr Mann sich so leicht loslöste , es wie eine Befreiung empfand , wie einen neuen Lebensanfang , von hier fortzukommen .
Marianne saß mit ineinandergelegten Händen und sah nur ihren Vater an - er war grauer geworden in den letzten Jahren , die Stirn noch höher und gefurchter , aber heute schien er ihr so verjüngt .
Sie wußte am besten , wie er sich von jeher hinausgesehnt aus diesem engumschlossenen Leben , in das die Verhältnisse ihn gegen seine Neigung hineingezwungen hatten .
Durch die offene Tür sah man in den Weihnachtssaal , die Lichter waren längst heruntergebrannt , das Silber auf den Tannen schimmerte matt im Dunklen .
" Ihr lacht ja heute gar nicht " , sagte der Freiherr auf einmal , " was ist denn in euch gefahren ? "
Sonst mochte es ihm manchmal zu viel werden , wenn seine junge Schar bei jedem vernünftigen Gespräch , bei jeder ernsten Lektüre unweigerlich im Chor losplatzte , besonders an Festtagen , wenn die Bowle auf dem Tisch stand .
Aber er vermißte doch etwas , wenn sie so unnatürlich ernst waren .
Aber sie saßen alle und dachten , daß diese Weihnachten nun die letzten in der alten Heimat wären , da wollte kein Gelächter in Gang kommen .
Zweiter Teil Zweiter Teil L... , 3. März 1888 Vor allem will ich Sie beruhigen , daß weder meine Mutter noch Detlev etwas von unseren Gesprächen gehört haben - sie schalt nur , daß ich zu viel mit Ihnen getanzt hätte .
- Herrgott , wenn sie wüßte , daß ich jetzt an Sie schreibe - es ist bald fünf Uhr , unten auf der Straße rasseln schon Milchwagen , ich liebe nichts mehr , als so eine Nacht durch aufzubleiben , und heute wäre es mir unmöglich gewesen zu schlafen .
Es kommt mir wie ein Wunder vor , daß ich nun wirklich einen Menschen gefunden habe , dem ich alles sagen kann und der mein Freund sein will .
Sie machen sich ja keinen Begriff davon , wie allein ich war und wie todunglücklich ich mich von jeher zu Hause gefühlt habe , besonders in diesem letzten Jahr , wo auch Detlev mir immer fremder wurde .
Sie wollten mir das nicht recht glauben , aber es ist wirklich so : meine Mutter sieht es nicht gerne , wenn ich viel mit ihm zusammen bin .
Sie hat ihm das Versprechen abgenommen , mich keine modernen Bücher lesen zu lassen und mich mit seinem Verkehr nicht in Berührung zu bringen .
Nur unter der Bedingung darf ich mit ihm ausgehen , die Eltern sind ja schon außer sich , daß er so in all diese Sachen hineingekommen ist und mit freidenkenden Menschen verkehrt .
Aber Sie können sich vorstellen , wie mir dabei zumute war , wenn er mir von Ihnen und den anderen erzählte , wie von einer Welt , die mir immer verschlossen bleiben sollte .
Dann fand ich eines Tages auf seinem Schreibtisch " Brand " und " Peer Geeint " und nahm es mir herüber .
Ganze Tage habe ich darüber zugebracht und konnte weder essen noch schlafen , nur immer wieder lesen , sowie ich allein war .
Es kam mir vor , als ob jedes Wort für mich geschrieben wäre , ich wußte mit einemmal , daß es keine unmöglichen Hirngespinste waren , mit denen ich kämpfte , - wenn sich alles in mir sträubte gegen das Leben , das man mir aufzwingen will .
Früher empfand ich es immer als eine Art Unrecht gegen meine Eltern , mich so dagegen aufzulehnen und heimliche Sachen zu tun , aber nun ging es mir plötzlich auf , daß jeder ein unveräußerliches Recht an sein Ich und sein eigenes Leben hat .
Wissen Sie die Stelle : das Eine darfst du nie verschenken , - dein Selbst , dein Ich , den heiligen Dom - du darfst nicht binden - nicht es lenken - nicht hemmen seines Lebens Strom - Er rauscht dahin und strömt und schwillt : - bis er im Meer die Sehnsucht stillt .
Wenn Sie erst mein ganzes , bisheriges Leben kennen , werden Sie begreifen , was für einen überwältigenden Eindruck das auf mich machte , als ob plötzlich etwas Erlösendes durchbräche , wo früher eine dumpfe , undurchdringliche Maße war .
Und dabei muß ich immer wieder an den großen Krummen im " Peer Geeint " denken , wie er im Nebel auf ihn losschlägt und nicht durchkann , und der Krumme antwortet : " Gehe herum . "
Aber wo er hinkommt , ist wieder dasselbe da und ruft : " Gehe herum ! "
Zuerst habe ich das alles ganz allein durchlebt , aber es hätte mich einfach erstickt , ich mußte mit Detlev davon sprechen .
Und da kamen wir uns wieder so viel näher , er hat mir dann auch die anderen Bücher gegeben , und was waren das für Stunden , wenn wir zusammen darüber sprachen .
Er arbeitet abends immer in meinem Zimmer , und da reden wir oft die ganze Zeit von alledem .
Dann erzählte er mir auch von Ihnen , und ich versuchte , ihm das Verantwortungsgefühl auszureden , weil ich Sie so gerne kennenlernen wollte .
Als ich Sie ein paarmal gesehen hatte , wußte ich ja gleich , daß wir uns verstehen würden .
Und wie Detlev es dann durchsetzte , daß ich zu dem Tanzabend mitdurfte - sehen Sie , da hatte ich das Gefühl , als ob etwas Entscheidendes kommen müßte , jetzt oder nie .
Sonst wäre es wieder an mir vorbeigegangen , und ich hätte in dem alten Elend weiterleben müssen .
- Und nun ist es wirklich geschehen - als ich hinter Mama und Detlev nach Hause ging mit Ihrem Brief in der Tasche , dachte ich immer nur :
jetzt kann kommen , was will , das können sie mir doch nicht mehr nehmen .
Daß wir uns öfter sehen , wird allerdings schwierig sein , ich weiß schon gar nicht , wie ich immer zur Post kommen soll , um Ihre Briefe abzuholen - also wenn möglich , Mittwoch im Dom , die Tür beim Turm ist ja immer offen .
Und nun leben Sie wohl - es kommt mir vor , als ob ich Ihnen so viel zu sagen hätte , daß es nie ein Ende nimmt. 8. März , nachmittags Eben komme ich von unserer so schmählich zerrissenen Zusammenkunft im Dom zurück .
Der Schrecken sitzt mir noch in allen Gliedern .
Gott im Himmel , wenn mein Vater uns gesehen hätte - ich hätte mir auch denken können , daß er unserem Besuch die Kirchen zeigen würde .
Und was der Kirchendiener wohl gedacht hat , als wir auf allen vieren zwischen den Bänken durchliefen .
Es war eine gute Idee von Ihnen , denn sonst hätten sie uns sicher gesehen .
Aber es war doch schön , daß wir uns wenigstens so lange in Ruhe unterhalten konnten .
Glauben Sie nur nicht , daß ich Ihnen unsere häuslichen Verhältnisse übertrieben habe . -
Seit wir hier sind , habe ich mit Mühe erreicht , daß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sein kann und nicht mehr nähen muß .
Da habe ich mir mit einer spanischen Wand eine Art Atelier eingerichtet , wo ich Male und modelliere .
Aber es ist unmöglich , allein weiterzukommen - ich darf weder Modelle nehmen , noch mir Gipsabgüsse ausleihen .
Meine Mutter findet , ich soll dann wenigstens " hübsche , brauchbare " Sachen - Geschenke , Porzellanteller usw. machen .
Das fällt mir natürlich nicht ein , und so bleibt mir nichts übrig , wie meine alten Stiefel und ähnliches zu malen .
Davon habe ich schon eine ganze Galerie .
- Ich weiß ganz gut , daß meine Mutter mich auf diese Weise zwingen will , nachzulassen .
Aber ich lasse nicht nach .
Es ist überhaupt ein fortwährender Krieg .
" Jedermanns Hand wider jedermann . "
Mit meinem Vater kann ich auch zu keinem Verständnis mehr kommen , er hat sich in letzter Zeit mehr um mich gekümmert , aber es ist doch zu spät .
Ich kann mich nicht freundlich mit ihnen stellen , wenn ich sie zugleich fortwährend hintergehen muß .
Und das wieder muß ich , um zu meinem Lebensrecht zu gelangen .
Ein ehrlicher , offener Kampf würde mir gar nichts nützen , sie sperren mich dann höchstens noch mehr ein .
Und was das Leben so schön macht , kann nicht schlecht sein .
Wo bliebe dann die Wahrheit ?
In all dieser verschrobenen Sittlichkeit und Moral ist ja doch kein Funke davon .
Ich lese jetzt gerade " Die Frau " von Bebel und Lassalles " Leben " .
Was ist das für ein Kerl , ich bin ganz weg , in den hätte ich mich wahnsinnig verliebt .
Seine Flugschriften will ich jetzt auch lesen , Detlev hat sie ja. P.S .
Die Mutter hat Detlev gestern gefragt , ob er etwa mit zu diesem abscheulichen Ibsenklub gehörte , wo die Mädchen mit jungen Männern über unmoralische Sachen sprächen und zusammen Ibsen läsen .
- Sie hat in einer Gesellschaft davon gehört .
Natürlich waren Sven Olafson und die Schwestern Seebald damit gemeint , aber wer mag den Namen Ibsenklub aufgebracht haben ?
Vielleicht haben wir Detlev jetzt bald so weit , daß ich die alle einmal kennen lerne .
Übrigens hat Mama bei dieser Gelegenheit auch noch gesagt :
" Friedrich Merold ist doch der einzige Nette von deinen Freunden . "
- Sie scheinen also doch guten Eindruck gemacht zu haben .
20. März Es ist morgens um fünf Uhr - beim Aufwachen fiel mein erster Blick auf die Blumen von Ihnen , die noch immer blühen .
- Ich stehe jetzt immer so früh auf , um mehr Zeit für mich zu haben , und diese stillen Morgenstunden sind das schönste am ganzen Tag .
Früher in Nevershuus lief ich oft so in der Frühe auf die Wiesen hinaus und manchmal heimlich durch die Stadt zum Strand .
Es war so schön , ganz allein am Meer zu sein , ich habe oft noch Heimweh danach .
Aber was hätte ich für ein Leben geführt , wenn wir dort geblieben wären - jetzt scheint doch wenigstens hier und da ein Lichtstrahl durch die Türspalte .
Und das tut auch wirklich Not .
Gott , was ist das für ein Familienleben , mir schaudert , wenn ich gleich zum Frühstück hinunter muß .
Den ganzen Tag gibt es Auseinandersetzungen und Szenen , wo nur zwei in einem Zimmer beisammen sind .
Sagt einer : das ist weiß , so schreit gleich der andere : nein , was fällt dir ein - schwarz ist es .
Und alles hat Nerven , selbst die Hunde sind nervös bei uns und fangen an zu quieken , wenn zu laut gesprochen wird .
Aber es ist Zeit , ich muß hinunter , leben Sie wohl , bis wir uns wiedersehen .
Ellen. 28. März Wenn wir uns doch bald wiedersehen könnten , ich habe Ihnen so viel zu erzählen .
Vorgestern nahm Detlev mich nun wirklich mit zu Seebalds , und Olafson war zuerst auch da .
Es wurde über die " Frau vom Meer " gesprochen , über Murgers " Zigeunerleben " und über freie Liebe .
Und dann erzählte Olafson von Paris .
Wie kann er wundervoll reden - wenn er sprach , schwiegen alle still , aber ich glaube , uns war allen zumute , als ob man laut schreien müßte vor Begeisterung oder weinen oder irgend etwas ganz Verrücktes tun .
Was sind das alles für Menschen , endlich einmal wirkliche Menschen , ohne Schablone und voll Künstlertum und Freiheit .
Es ist einem , als ob man sein Leben lang taub , blind und stumm in einer Höhle gesessen hätte und nun zum erstenmal sieht , zum erstenmal menschliche Stimmen hört , die ins Leben rufen .
Nachher zeigte Lisa uns ihre Skizzen .
Gott , wenn ich denke , daß man auch einmal so hinauskönnte .
Sie fanden es alle entsetzlich , daß ich so eingesperrt bin , besonders Marga , die ja auch Ihre besondere Freundin ist .
Ich bin sehr angetan von ihr - man sieht , daß sie ihren Lebenskampf mit Stärke und Entschlossenheit kämpft .
Später gingen wir mit der ganzen Gesellschaft zu Sens .
- Sie haben ganz recht : das düstere , alte Haus paßt wunderbar zu diesen Menschen .
Die zwei Schwestern saßen in großen Lehnstühlen und sahen aus wie seltsame schwarze Blumen .
Anita spielte mit einer kleinen Katze - von der anderen weiß ich nicht , wie sie heißt , und der Bruder mit dem Christuskopf stand am Fenster .
Sie sagten alle sehr wenig , aber man fühlt , daß sie es auch nicht nötig haben , so viele Worte zu machen wie wir anderen . - -
das war ein ereignisreicher Tag für mich , ich finde , das Leben wird jetzt mit jedem Tag schöner und reicher .
Und ich bin mitten drin , nun lasse ich es nicht wieder fahren .
14. April Kaum eine Stunde ist es her , daß wir uns trennten - nur die Rose , die im Glas vor mir steht , sagt mir , daß ich nicht geträumt habe - daß wir jetzt für immer zusammengehören .
Friedl , ich hätte Dir noch so unendlich viel zu sagen , aber ich kann nicht .
Es ist , als ob die ganze Wirklichkeit um mich versunken wäre - ich weiß nur noch unsere Liebe , und daß uns nichts mehr trennen kann .
Abends Und dieser Tag ist verschont geblieben von all den Dissonanzen , die mich sonst quälen und zerreißen .
Ich war ganz alleine mit den Eltern , und es fiel ausnahmsweise kein böses Wort zwischen uns .
Mein Gott , und wenn sie einmal mit mir so sind , fühle ich auch wieder , wie ich sie im Grunde doch liebe .
Ich war in einer so weichen Stimmung , daß ich ihnen am liebsten um den Hals gefallen wäre .
Gute Nacht , Geliebter , meine ganze Seele ist bei Dir und gehört Dir .
Mein Fenster steht weit offen , die Luft ist voller Frühling , und in mein Leben ist zum erstenmal Sonne gekommen .
21. April Hab Dank für Deinen Brief - wenn Du wüßtest , wie mich Deine Worte glücklich machen und auch wieder traurig .
Ach , Friedl , daß wir jetzt an eine lange Trennung denken müssen , wo wir uns eben erst gefunden haben - das ist sehr schwer .
- Aber es war schon lange festgesetzt , daß ich für diesen Sommer zu meinen Verwandten sollte .
Länger wie ein halbes Jahr können sie mich hier zu Hause ja nicht ertragen .
Aber sieh , wir können ja auch aus der Ferne alles miteinander teilen - wir müssen um unserer Liebe Willen alles ertragen , und ist es nicht geradeso schön , daß niemand darum weiß ? -
Und ich weiß doch nicht , wie ich nur einen Tag ohne Dich leben soll , und nun erst Wochen und Monate . - -
Ich muß Dir heute abend noch ein Wort schreiben und Dir immer wieder sagen , wie glücklich ich bin .
Endlich - endlich ist es Frühling geworden , und ich komme mir wirklich vor wie ein Baum , der Knospen treibt .
Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen - in Schönheit und Freiheit , nur die letzten Schranken gilt es noch einzurennen , und sie sollen und müssen fallen .
Herrgott , wir sind ja noch so jung - die paar Jahre , bis ich mündig bin , werde ich wohl noch aushalten , und dann soll keine Macht der Welt mich zwingen , noch zu bleiben .
Sollte ich etwa mit gebundenen Händen immer weiter zusehen , wie man mir mein Leben zertritt , bis die Jugend vorbei ist und alles zu spät ?
Nein , siehst Du , Friedl , ich muß hinaus aus alledem , sonst gehe ich innerlich zugrunde .
- Und denke Dir nur , wie göttlich es werden kann , wenn wir beide in München wären - Du studierst und ich Male , und wir lieben uns , wie noch nie zwei Menschen sich geliebt haben .
- Ich sitze oft stundenlang da und stelle mir das alles vor , und es wird immer leuchtender in mir .
Aber es macht vor allem Deine Liebe , und daß ich jetzt endlich einmal fühle , was Glück ist - da blüht dann auch alles andere auf .
Sage mir immer wieder , jeden Tag , daß Du mich lieb hast - Ich küsse Dich tausendmal - - 24 .
April Warum kamst Du gestern nicht ?
Du fehltest mir so unter den anderen .
Gerade dann , wenn es lustig und laut ist , kommt mir auf einmal eine solche Sehnsucht nach Dir .
- Wir trafen uns vorm Tor , der ganze Ibsenklub , und zogen in irgendein Wirtshaus weit draußen an der Landstraße , wo wir zur Feier des Karfreitags Grog tranken und sehr viel Lärm machten .
Auf dem Rückweg kamen wir an der kleinen Kirche vorbei und hüpften im Gänsemarsch oben auf der Mauer entlang , als plötzlich die Türen aufgingen und die andächtige Gemeinde herausströmte .
Wir machten , daß wir herunterkamen , und tanzten alle angefaßt um Lisa herum , die nicht mitgewollt hatte .
Die Kirchenbesucher und Vorübergehenden schienen einigen Anstoß daran zu nehmen , und wir wurden verschiedentlich ermahnt weiterzugehen .
Es war zu schade , daß Du nicht da warst .
- Detlev und ich kamen noch etwas angesäuselt zu Tisch und wurden mit einem Donnerwetter über unser langes Ausbleiben empfangen .
- Sie sind auch außer sich , weil wir uns weigerten , morgen mit zur Kommunion zu gehen , den ganzen Abend wurde kein Wort gesprochen - aber wäre es nicht Feigheit , es um des Friedens Willen doch zu tun ?
2. Mai Das ist nun unwiderruflich der letzte Abend - für Monate .
Eben bin ich noch mit unserem alten Nero im Mondschein durch den Garten gegangen - und mir war ganz wehmütig dabei .
Dies Tier ist das einzige Wesen , das hier zu Hause wirklich an mir hängt und mich vielleicht etwas entbehren wird .
Nein , es ist nur gut , daß ich fortkomme , dieser Zustand reibt mich auf .
Immer liegt es wie ein dunkler Schatten über meinem Leben , das sonst so froh und Licht sein könnte .
Friedl , denke daran , daß ich keine Mutter habe , nie gewußt , was Mutterliebe ist - das alles mußt Du mir ersetzen , und Du tust es ja schon .
So lebe wohl , Du einzig Geliebter , wann werden wir uns nun wiedersehen ?
Wann wird wieder eine Blume von Dir vor meinem Bette stehen , wenn ich einschlafe ?
Du wirst wohl oft zu meinem leeren Fenster hinaufsehen - es ist mir ein Trost , daß Du oft mit Detlev zusammen bist , den werde ich auch schwer vermissen .
Lebe wohl , ich schreibe Dir so bald wie möglich .
Balsdorf , 4. Mai Nun sind wir so weit auseinander , und das Herz tut mir so weh .
Ich denke den ganzen Tag an Dich , an alle die einzelnen Stunden , die wir zusammen waren und an jene allerschönste auf dem Kirchhof , wo Du mir Deine Liebe sagtest .
Immer wieder zog das alles an mir vorbei .
Wie habe ich mich heute auf diesen Augenblick gefreut - ich bin allein in meinem Zimmer und Dein Bild steht vor mir - ich sehe in Deine Augen - draußen über den dunklen Tannen der Mond , und im Garten schlagen die Nachtigallen .
- Friedl , was sollte wohl aus mir werden , wenn ich Dich nicht hätte .
Ich habe noch viele bittere Worte gesagt und gehört in den letzten Tagen zu Hause , es gab noch einen argen Zusammenstoß mit meiner Mutter , und wir haben uns kaum Adieu gesagt .
Papa sprach den letzten Morgen mit mir über meine namenlose Starrköpfigkeit und versicherte mir , daß es mir doch alles nichts helfen würde .
Das einzige Gute bei diesem Abschied war mit Detlev , wir haben uns eine ganze Stunde geküßt und uns geschworen , fest zusammenzuhalten .
Beinahe hätte ich ihm jetzt schon unser Geheimnis verraten .
Vorhin war ich mit den anderen im Wald .
Ich lag im Gras und träumte , während sie sich unterhielten , machte die Augen zu und dachte an unser letztes Beisammensein :
wir standen wieder im Dom bei der großen Orgel - und dann sah ich Dich rasch fortgehen .
Da wurde mir zumute , als ob ich weit fortstürzen möchte in die Einsamkeit mit allem Sehnen und Denken .
Ich möchte Dich noch einmal sehen und dann mein verfehltes , zertretenes Leben von mir werfen .
Ja , Friedl , ich fühle mich manchmal so entsetzlich zerrissen und heimatlos , daß mich alle Kraft verlassen will .
Nirgends bin ich zu Hause , nirgends - am wenigsten da , wo ich es sein sollte .
Kaum ein halbes Jahr kann ich mit ihnen leben , dann muß ich wieder hinaus unter fremde Menschen , wo ich auch nicht hingehöre .
Wenn sie auch gut gegen mich sind , gerade das tut mir manchmal am meisten weh und es sind doch überall dieselben Schranken , an denen ich mich Wundstoße .
Und ich fühle doch auch , daß niemand so zur Lebensfreude geschaffen ist wie ich - manchmal erschrecke ich selbst darüber , was für Wildheit in mir steckt und sich ausrasen möchte .
Du bist ja der einzige , zu dem ich so sprechen kann . Hab Geduld mit mir , Du allein , die anderen haben sie ja alle nicht , weil ich nicht so sein kann , wie sie mich haben wollen .
Vielleicht , wenn Du mich ganz kenntest , würdest Du ebenso denken wie sie .
Das ist ein fürchterlicher Gedanke ; nein , sage mir , daß Du immer an mich glauben willst - immer .
Hilf mir , ich will auch alles auf mich nehmen , wenn Du mich nur lieb hast .
10. Mai Die ruhigen Tage hier haben mich wieder mehr ins Gleichgewicht gebracht - sowie ich nur die wahnsinnige Überreizung von zu Hause überwunden habe , bin ich wieder ein anderer Mensch .
Und Dein geliebter Brief macht mich so froh .
Ich werde hier förmlich verzogen und habe ziemlich viel Freiheit , kann den ganzen Tag draußen zeichnen oder rudern .
Dein Herbstgedicht ist sehr schön - ich mußte an die Herbsttage daheim in Nevershuus denken , wenn ich mit den Hunden auf der Koppel war und im Gehen den Ossian las .
Kennst Du den ?
Oder in den Sturm hinaussang - ich kann eigentlich gar nicht singen , nur wenn ich allein bin .
Aber ich sehne mich so oft nach Musik , und sie fehlt mir so .
Aber bei uns ist das nun einmal so :
was nicht zum täglichen Brot gehört , ist überflüssig und verwerflich .
Und was könnte man alles aus sich machen , wenn einem nur ein bißchen geholfen würde .
Ich möchte alles können und alles wissen und muß fortwährend meine ganze Kraft aufbieten , um nur das wenige zu retten , was ich habe - damit mir nicht auch das zerdrückt wird .
Jetzt lese ich Tristan und Isolde in der alten Sprache , es ist so wunderbar schön .
Meist steige ich damit in einen Baum und schaukle mich in den Zweigen und denke an Dich. 18. Mai Kennst Du das Gedicht von Ibsen :
" Sie saß schon frühe - im Lebensmai - in der Galerie - vor ihrer Staffelei ? - "
Und den Schluß , wie sie immer noch da sitzt und von " leuchtenden Schönheitstagen " träumt , als der Lebensmai längst vorüber ist ?
Vielleicht wird mein Schicksal ähnlich fallen .
Und wenn Du nach vielen Jahren heimkommst und Dir Dein Leben aufgebaut hast , groß und schön , findest Du mich immer noch an meinem Fenster - aber zerstört - vernichtet und fürs Leben verloren .
Und das mit dem Jäger - ich las heute gerade die beiden wieder - erinnerst Du Dich - wie er den anderen mit magischer Gewalt auf einen Berg hinaufzieht und dort festhält .
Und von droben sieht er alles vergehen , woran er hing : sein Haus brennt auf , während der Jäger von der schönen Beleuchtung spricht .
Seine Braut zieht mit einem fremden Mann zur Kirche - aber er bleibt auf dem Berg , und wie alles vorbei ist und tot da drunten , ist er stark geworden und gefeit : Mein Leben im Tale auf ewig tot - Hier oben Gott und ein Morgenrot - dort unten tappen die anderen - .
Vielleicht fällt es auch so - - 1. Juni Morgens halb vier - eben sind wir vom Ball gekommen durch den schimmernden , tauigen Sommermorgen .
Uns liefen Rehe über den Weg .
Wie kann man da zu Bett gehen ?
Ich habe unsinnig getanzt und dachte so viel an Dich , wie wir damals zusammen tanzten .
Ich schicke Dir die Blumen , die ich im Haar hatte . - - Sechs Uhr Mir wurde vorhin doch etwas müde , da bin ich hinaus und zwei Stunden lang durch die Wiesen und Felder gerannt , ganz ohne Besinnen ins Blaue hinein mit meinen Tanzschuhen durchs nasse Gras und über Gräben .
Es war wie ein Rausch , ich fühlte mich so frei , als ob es keine Fesseln mehr gäbe .
Ach , wenn Du hier wärest , ich alles mit Dir genießen könnte , mit Dir zusammen in der freien Natur und die Seele ausruhen lassen .
Da müßten wir beide froh werden .
- Vorhin war mir noch ganz wirblig vom Tanzen , aber jetzt ist es vorbei .
- Siehst Du , so etwas ist eigentlich nicht gut für mich , es steigt mir immer so zu Kopf .
Ich bin so entsetzlich wild , Friedl , ich könnte tanzen , bis ich tot umfalle .
12. Juni Friedl , ich habe einen großen Schritt getan - meinem Vater geschrieben , er sollte mich das Lehrerinnenexamen machen lassen .
Ich habe es mir in dieser Zeit eingehend überlegt . -
So lassen sie mich doch nicht fort , und dann kann ich mich wenigstens auf eigene Füße stellen , wenn es zum Klappen kommt .
Und mir das Geld zum Malen selbst verdienen .
Ich habe mir schon alles ausgerechnet , wenn ich erst Mal für ein Jahr genug habe , gehe ich nach München , und das Weitere findet sich .
Es ist nur ein greulicher Gedanke , alles andere liegen zu lassen und sich wieder hinter die Schulbücher zu setzen .
- Übrigens habe ich Papa gesagt , wenn er mir dies nicht erlaubte , würde ich mich weigern , überhaupt wieder nach Hause zu kommen .
Du , Schatz , durch Detlev habe ich erfahren , daß man mich möglichst viel auf Bälle und solche Sachen schickt , weil Mama hofft , es würde sich doch Mal jemand zum Heiraten finden .
Momentan ist hier das ganze Haus voll von Offizieren zur Jagd .
Ich halte ihnen Reden über Ibsen und moderne Ideen .
Wenn sie morgens in den Garten kommen , sitze ich im Kirschbaum , und sie müssen bitten , daß ich ihnen Kirschen hinunterwerfe .
Die werden sich schwer hüten , mich zu heiraten .
Überhaupt macht es mir furchtbaren Spaß , die Leute vor den Kopf zu stoßen , besonders diese aristokratische Bande .
Ich bin aus meinem Zimmer ausquartiert und wohne in einer Bodenkammer , droben ist ein plattes Dach , auf dem ich gestern Nacht geschlafen habe , das war herrlich .
In acht Tagen fahre ich nach D... zu Tante Helmine und treffe Detlev dort .
Lebe wohl - D... , 25. Juni , vier Uhr morgens Liebster Friedl - Detlev weiß alles - gestern abend habe ich es ihm gesagt , bis jetzt haben wir zusammen auf seinem Bett gesessen und gesprochen .
Er war so furchtbar lieb , freut sich so an unserem Glück - und will uns helfen , so viel er kann .
Jetzt habe ich ihn ganz wieder , wie in unserer Kindheit .
Dann hat er mir auch vieles von sich selbst erzählt , was ich noch nicht wußte - ich kann dir nicht sagen , wie es mich erschüttert hat und auch tief bewegt .
Detlev fühlt sich ja so unglücklich und denkt nur an Maria N. , ob sie ihn wohl doch noch lieben wird .
Nicht wahr , wir wollen tun , was wir können , um ihn froher zu machen - Du bist ihm ja ein solcher Halt .
3. Juli Morgen fährt Detlev nun fort zu Euch - ich mag ihn gar nicht hergeben , was haben wir hier für Abende gehabt , wenn die Tante zu Bett ist und wir noch stundenlang zusammen redeten , von Dir , von ihm und von allem .
Auch über die Kreuzersonate haben wir viel gesprochen , habe Dank , daß Du sie schicktest .
Ja , ich kann begreifen , wie sie Dich erschüttert hat , uns ist es ebenso gegangen , gerade durch all die furchtbaren Wahrheiten .
- Mein Gott , so verbinden sie einem die Augen bei dieser idiotischen Erziehung , und wenn man sie aufmacht , sieht man in einen Abgrund . Hab auch Dank für alles , was Du mir gesagt hast , ja , wir wenigstens wollen in unserer Liebe nach Reinheit und Wahrheit streben .
- Gott , Friedl , wenn ich Dich nicht hätte und den ganzen Reichtum unserer Liebe - Abends - Heute nachmittag ist mein Vater gekommen , und es gab eine große Unterredung .
Also : ich trete diesen Herbst ins Seminar ein und muß dann zweiundeinhalb Jahre drinbleiben - zu Hause .
Mir graut doch davor - denke Dir , die ganze Zeit nicht malen können .
Vielleicht geht es auch in anderthalb Jahren , wenn ich mich sehr anstrenge , dann wäre ich gerade zwanzig - Gott , und dann - - Übrigens hat er mich auch arg verdonnert - es wäre ein letzter Versuch , ich würde ja auch dort wahrscheinlich wieder hinausgeworfen werden , wenn ich mich nicht mehr zusammennähme . -
Er wüßte auch , daß ich Detlev aufhetzte und daß wir beide eine Verschwörung im Hause bildeten mit unseren sogenannten freien Ansichten .
Fortlassen würde er mich nie , wenn ich mich nicht änderte .
Ach Du , mir fehlt doch im Grunde die " moralische Kraft " , um das alles auszuhalten - ich glaube , davon habe ich überhaupt nicht viel .
Wenn mein Ziel nicht wäre .
Vorläufig bleibe ich noch hier - es ist auch ganz nett , nur diesen Sommer etwas unruhig ; fortwährend muß man ausfahren , Theater spielen und so weiter .
Früher ließ meine Tante mich den ganzen Tag arbeiten , jetzt findet sie , ein junges Mädchen muß sich vor allem amüsieren .
Gott ja , ich amüsiere mich auch , aber es bekommt mir innerlich nicht , ich gerate zu leicht in das hinein , was Detlev meine Tobsucht nennt .
Und das ist natürlich auch wieder nicht recht : ein junges Mädchen muß immer die Grenzen innehalten ! -
Aber wenn ich einmal anfange , kann ich das nicht .
Ich möchte dann nur losrasen und alles vergessen , bis ich zusammenklappe , und dann wieder von vorne an und so durch alle Tiefen und Höhen des Lebens durch , bis es aus ist .
Weißt Du , was man so inneren Halt nennt , ich glaube , das fehlt mir gänzlich .
Das mußt Du mir geben , Du hast so viel davon - und in Deiner Liebe werde ich es finden .
Allenberg , 15. August Nun bin ich schon wieder anderswo , Du siehst , ich suche noch die sämtlichen Güter heim , ehe ich mich ins Seminar begrabe .
- Hier bin ich alle Tage schon bei Sonnenaufgang an der See und bade ganz alleine .
Es ist wundervoll , so allein in das kühle , goldene Wasser hineinzuschwimmen , während der ganze Himmel rot ist .
Sonst beschäftigen wir uns damit , ein paar störrische Esel zuzureiten ohne Sattel und Zügel , und abends wird fast immer getanzt .
Es ist hier überhaupt ein ideales , verwöhntes Landleben - so ganz leicht wird es mir doch nicht , von alledem Abschied zu nehmen .
Aber ich denke daran , daß wir uns dann wiedersehen - endlich , nach all den Monaten .
- Und Ostern schon geht ihr beiden von der Schule - und ich bleibe ganz allein .
Deshalb habe ich jetzt auch Eile , zurückzukommen , damit wir wenigstens dies halbe Jahr voll genießen können .
Und es soll so schön werden .
L... Deinen Brief , daß Du für die Ferien verreistest , bekam ich erst heute morgen und fuhr mit sehr gemischten Gefühlen hierher .
Detlev ist ja auch noch nicht da , und ich mit den Eltern allein .
Vorhin habe ich meine Malsachen eingepackt - mir war dabei , als ob ich jemand Geliebten in den Sarg legte , aber ich glaube an eine Auferstehung .
- Dann den Schreibtisch ans Fenster gerückt , damit ich Dich immer sehen kann , wenn Du zu Detlev kommst .
- Als ich gerade dabei war , kam meine Mutter und sprach mit mir über das Seminar .
Ich sollte nur recht fleißig sein , und wir wollten jetzt in Frieden leben .
Das schnitt mir durchs Herz , Friedl , früher hat sie nie so mit mir gesprochen .
Ich glaube , sie hat jetzt Angst , daß sie uns doch einmal ganz verlieren könnte .
Mama ist überhaupt ganz anders geworden , sie hat etwas Milderes , das ich sonst an ihr nicht kenne , und wenn sie nur gut mit mir ist , habe ich sie doch wieder so lieb . -
Aber es ist zu spät - gerade in dem Augenblick fühlte ich auch , wie sehr ich schon losgelöst bin . -
Sieh , Friedl , von Natur ist mir alle Unwahrheit verhaßt , aber sie haben mich selbst da hineingetrieben .
Du hast ja recht , daß gerade wir als Kämpfer für unsere Ideen alle Lüge verschmähen und unantastbar dastehen sollen .
Aber jetzt noch würde es dasselbe bedeuten , wie die Waffen aus der Hand geben und verzichten .
Selbst der Weg zur Wahrheit steht uns noch nicht offen .
Ach , Friedl , wir werden noch viel bluten müssen um unsere Freiheit ; sagt nicht Lassalle irgendwo , daß wir alle Gladiatoren der neuen Zeit wären ?
Von jetzt an wird mein ganzes Zuhauseleben nur noch Schein und Verstellung sein , jedes Wort , das ich sage -
mein wahres Leben liegt anderswo - mit Euch .
Aber wenn ich so allein bin , ist mir oft , als ob ich diesem Widerspruch erliegen müßte - jeden Schritt zu mir selbst mit Lügen erkaufen .
Aber es muß sein und ich werde die Kraft auch finden .
- Und wie lange wird es dauern , bis einmal alles herauskommt - mir ist , als ob ich auf einer Pulvertonne lebte , die jeden Augenblick in die Luft fliegen kann .
Wenn Du nur erst hier wärest - - - Ellen stand am Fenster und hörte durch Herbstwind und Regen vom nahen Bahnhof herüber die Züge pfeifen .
Heute abend sollte Friedl ankommen .
Es wurde dunkel , sie zündete die Lampe an und wollte den Vorhang herunterlassen .
- Da stand plötzlich jemand drüben unter der Laterne und sah herüber .
Sie riß das Fenster auf , Sturm und Regen schlugen ihr ins Gesicht . -
Ja , das war er , in seinem weiten Mantel - - keiner versuchte ein Wort oder ein Zeichen , sie mühten sich , mit den Blicken durchs Dunkel zu fühlen , als ob nur ihre tiefe Sehnsucht die Arme ausbreitete . -
So standen sie sich lange stumm von ferne gegenüber .
Als dann der Bruder ins Zimmer kam , schloß sie gerade das Fenster , die Haare hingen ihr naß in die Stirn .
" War Friedl da ? " fragte er , dann fielen sie sich in die Arme und konnten beide eine Zeitlang nicht sprechen .
Detlev war der getreue Helfer , unermüdlich trug er die täglichen Briefe hin und her , Blumen , Bücher - holte Ellen von der Schule ab und brachte sie zu ihren Liebesstunden .
Die beiden wollten sich jeden Tag sehen , bei gutem Wetter wartete Friedl draußen vor der Stadt am Mühlwasser .
Da saßen sie in einem morschen alten Boot unter den kahlen Weidenzweigen und hielten sich umschlungen , als ob der lange Tag zwischen dem letzten Wiedersehen und dem nächsten in diese kurze Stunde zerfließen müßte .
Als es Winter wurde , lagen sie oft alle drei auf der weiten , gefrorenen Wasserfläche oder auf dem Felde im Schnee und sahen in den schimmernden , weißen Himmel hinauf .
Und war die Zeit zu kurz und das Wetter arg , so blieben die Kirchen ihre Zuflucht .
Detlev nahm ein Buch mit und las , während Friedl und Ellen auf einer alten schwarzen Sargbare oder im Kirchengestühl saßen und sich küßten und die hohen feierlichen Gewölbe schweigend auf all den Frevel herabsahen .
Wenn es vier Uhr war , kam der Kirchendiener mit seinem großen , rostigen Schlüsselbund entlang :
" Meine Herrschaften , die Kirche wird jetzt geschlossen . "
Dann mußten sie sich trennen .
Die Geschwister gingen langsam heim ; bis zum späten Mittagessen saßen sie in der Küche beim heimlichen Kaffee , den die Köchin ihnen immer bereithielt , und abends in Ellens Zimmer mit ihren Schularbeiten .
Sie waren unzertrennlich wie in alten Zeiten und sahen die übrige Familie fast nur bei den Mahlzeiten .
Alles , was sie in sich aufnahmen , lasen , dachten , was in ihnen wuchs und was jeder erlebte , wurde erst voll und ganz , wenn sie es miteinander teilten .
Und was hatten sie nicht alles in sich aufzunehmen in dieser Zeit !
Eines Abends kam Detlev mit einem Buch nach Hause .
Die Eltern waren aus , und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem .
Sie holten sich ihren Tee herüber , vor dem Ofen schliefen die Hunde , Ellen lag auf dem Sofa , Detlev saß neben ihren Füßen und las vor - es war Nietzsches " Zarathustra " .
Sie bebten beide - der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne - jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele , band eine dumpfe , schwere Kette los , sagte etwas , was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte , wonach man im Dunklen herumgetappt hatte und geglaubt , es nie zu finden .
Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen - es war Offenbarung , letzte äußerste Erkenntnis , die mit Posaunen schmetterte - brausend , berauschend , überwältigend .
Und alles andere , der Alltag , das Alltagsleben und - empfinden schrumpfte in eine öde , farblose Maße zusammen , verlor sein Dasein - nur das wahre , heilige , große Leben leuchtete , lachte und tanzte .
Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden - noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter - wie aus einer anderen Welt hörten sie Eltern und Schwester heimkommen , die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden .
Und von nun an lasen sie jeden Abend , der " Zarathustra " wurde ihre Bibel , die geweihte Quelle , aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten .
Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren , - da gab es Gespräche , bei denen sie alle fieberten :
die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer , und die neue Welt , das waren sie selbst mit ihrer Jugend , ihrer Kraft , mit allem , was sie schaffen und ausrichten wollten .
Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen , jeder träumte von einem ungeheuren Lebenswerk , und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensrecht und ihre Überzeugung hinschlachten lassen , wenn es nötig gewesen wäre .
Aber noch im Laufe dieses Winters schmolz der Ibsenklub immer mehr zusammen , und das war ein großer Schmerz .
Olafson , der Apostel aus dem Norden , der die neuen Lehren zuerst in die würdige alte Patrizierstadt gebracht hatte , war wieder nach Paris .
Nach Weihnachten ging auch Marga Seebald ins Ausland , von der Detlev sagte :
Marga ist wie das Meer .
Sie war älter wie die übrigen und die Seele der ganzen Gesellschaft mit ihrer größeren Reife und Erfahrung .
Die anderen Schwestern verließen auch bald nacheinander die Stadt , und die Zurückgebliebenen mochten kaum mehr an dem Hause vorübergehen , das jetzt so leer und fremd dastand .
Das Frühjahr rückte heran .
Detlev und Friedrich Merold steckten im Examen , dann war es bestanden , und sie sollten zusammen nach Berlin , um zu studieren .
Die waren nun frei und hatten das Leben vor sich - alle , alle gingen sie hinaus , nur Ellen mußte zurückbleiben , einsam und zähneknirschend ihre Ketten schleppen .
Sie machten noch einen letzten Abendgang zusammen , sie und Friedl , während die Eltern wieder einmal ausgegangen waren .
Detlev blieb diesmal zu Hause .
In einer Seitenstraße trafen sie sich und gingen durch die Vorstadt hinaus , verirrten sich in unbekannte Gegenden , stiegen über Planken und Gitter , quer über Höfe und Lagerplätze .
Endlich waren sie draußen auf freiem Feld , weit fort von allen Menschen .
Friedl saß am Grabenrand .
Ellen lag mit dem Kopf in seinem Schoß und sah in sein Gesicht und in den Mond hinauf .
Beide waren still und traurig , ihnen war so schwer ums Herz , und die tiefe , stille Einsamkeit erfüllte sie mit Bangen .
" Warum sind wir uns doch so fern bei aller Liebe , " kam es plötzlich über Ellen , " so ganz anders sollten wir zusammengehören , und wenn auch mein Leben zerbräche , was liegt daran .
Sich einmal ganz gehören , und dann sterben und vergehen . "
Es ging ein Zittern durch ihre Seele und durch ihren Körper , und sie glaubte es auch in ihm zu fühlen .
Vielleicht ahnte er , was sie dachte , denn er sagte plötzlich :
" Ellen , laß uns gehen " , und beugte sich dann zu ihr nieder .
Sie umarmten sich lange , lange . -
Es war wohl das letztemal vor seiner Abreise .
Schweigend trennten sie sich vor ihrem Haus .
Drinnen saß Detlev bei der Lampe .
" Gott sei Dank , daß du da bist , es ist gleich Mitternacht .
Ihr seid doch wahnsinnig unvorsichtig . "
Ellen antwortete nicht , sie warf sich aufs Bett und weinte :
" Wie soll ich es aushalten , wenn ihr fort seid . "
3. April Bis zum letzten Augenblick hoffte ich noch , Dich am Bahnhof zu sehen , aber Papa schickte mich auf halbem Weg zurück , ich wollte nicht erst bitten und ging bei dem tollen Schneegestöber langsam nach Hause , mir war bei jedem Schritt , als ob ich es nicht mehr ertragen konnte , ich hatte nur den einen wilden Wunsch , hinzustürzen und Dich noch einmal zu sehen .
Dann war ich in Detlevs Zimmer , und da fühlte ich erst ganz , was ich verloren habe , wie ich auf Schritt und Tritt nach ihm rufen werde . -
Die Hälfte von mir selbst ist fort , er war ja immer neben mir .
Hüte ihn mir gut , Friedl , es ist mein Bestes , was Du mitnimmst .
Ich kann mir selbst unsere Liebe ohne ihn nicht denken .
Aber Du sollst kein Wort der Klage von mir hören - all die gewesenen glücklichen Stunden kann uns niemand mehr nehmen .
Und jetzt bleibt uns die Arbeit an uns selbst und für das spätere Leben .
Wenn auch jeder seine Schule alleine durchmachen muß - es ist doch immer im Gedanken an den anderen .
Lebe denn wohl , Geliebtester , ich will Dich und mich nicht weich machen - den Kopf oben behalten , sonst schlägt es über mir zusammen .
Lebe wohl .
12. Mai Du schreibst jetzt so selten - es fehlt Dir doch nichts , oder bummelt ihr viel ? -
Wenn ich einmal mittun könnte .
Nun seid ihr schon so lange fort , und ich vergrabe mich ganz in Arbeit .
Ich will das Examen doch schon übers Jahr machen , die Lehrer haben mir selbst dazu geraten , und seitdem ist mir etwas leichter ums Herz .
Ein Jahr - nicht mehr ganz ein Jahr , mein Gott , Friedl , was ist das für ein Gedanke .
Wenn sie mich nur nicht vorher noch aus dem Seminar hinauswerfen ; es ist meinen Eltern neulich erzählt worden , daß ich schlechte Bücher und Ansichten verbreitete .
Übrigens schwänze ich oft die Stunden und rudere statt dessen auf dem Wasser hinter der Bändstraße .
Einmal bin ich auch heimlich zu Lisa Seebald gefahren , es sind ja nur zwei Stunden .
Sie hat eine entzückende Wohnung und sagte , wenn der Krach mit zu Hause einmal käme , könnte ich bei ihr wohnen , so lange ich wollte .
Meine Sünden sind überhaupt Legion - ich bin tief gesunken , seit Du und Detlev mich nicht mehr bewachen .
Soll ich Dir auch noch beichten , daß ich neulich mit Elfriede Liemann auf einem Sonntagstanz gewesen bin , wo wir mit Soldaten und Arbeitern tanzten ?
Wir standen an der Fähre und bekamen solche Lust , als wir die Musik hörten .
Elfriede und ich sind übereingekommen , wenn alle Stränge reißen , als Kellnerinnen nach Berlin zu gehen , um mit euch zusammenzusein .
Schüttelst Du nun auch den Kopf und sagst wie mein Vater :
" Was soll aus dir werden , wenn du dich nicht zügeln lernst ? "
Ja , was soll aus mir werden , das denke ich auch manchmal .
Übrigens bin ich viel mit Ernst Senn zusammen , wir gehen fast jeden Morgen vor meinen Stunden am Hafen herum .
Der Verkehr mit ihm ist mir sehr viel , und ich brauche jemand , mit dem ich reden kann .
Weißt Du noch , wie Detlev ihn immer den zweiten Zarathustra nannte , ich muß oft daran denken .
Wir gehen meist schweigend nebeneinander , oder ich erzähle ihm von meinem Leben , und er rollt nur die Augen und sagt : " Ja , ja . " - - Wieder ist mein Brief liegen geblieben , aber heute muß ich mich zu Dir flüchten , um wieder zur Besinnung zu kommen .
Vorgestern hat sich der junge Rehmer erschossen , Du hast ihn doch bei uns gesehen - er war erst sechzehn Jahre alt .
- Ich habe ihn gesehen , da ich gerade mit einer Bestellung hingeschickt wurde , und den ganzen Tag konnte ich diesen Anblick nicht mehr los werden - das blasse Gesicht mit dem Tuch um die Stirn .
Stadt zur Schule zu gehen , nahm ich mir ein Boot und war den ganzen Nachmittag auf dem Wasser - der Himmel war so trübe und bleigrau , und ich konnte immer nur an den Tod denken und - wenn dieses Kind den Mut hatte , warum kann ich ihn dann nicht auch finden ?
Es wäre ja das beste , die Erlösung von allem .
Jetzt bin ich am Fenster bei dem schwülen Maiabend und möchte vergehen vor Weh .
Du schriebst mir das letztemal , ich sollte mir vor allem Lebensmut und Freude bewahren .
- Glaubst Du denn , ich habe noch eines von den beiden ?
Nein , es ist nur noch eine verzweifelte Zähigkeit , das Letzte durchzuhalten .
Und warum muß das Leben gerade mich so drücken , gerade mir alles nehmen , alles versagen ?
Es gibt doch viele , die das nicht so fühlen und ganz zufrieden wären an meiner Stelle .
Vorhin kam mein Vater zu mir herein und sagte ganz leise :
" Ellen , bedenke , daß Tatsachen unwiderruflich sind . "
Wir sahen uns lange an , dann ging er wieder .
Er muß wohl etwas geahnt haben , was heute in mir vorging , und ahnt auch , daß er mich doch einmal verlieren wird , so oder so - rettungslos .
Ach , hilf mir , Friedl , mir ist , als ob ich versinken müßte .
20. August Seit zwei Monaten haben wir nun nichts voneinander gehört .
Warum schreibst Du nicht mehr ? -
Und ich -
was sollte ich Dir schreiben , immer das gleiche :
Tag für Tag dieselbe Tretmühle , dasselbe Elend zu Hause .
Und wenn Du nicht antwortest , denke ich , daß meine Briefe Dich ermüden und langweilen .
Könnten wir doch noch einmal das vorige Jahr zusammen durchleben , es kommt mir jetzt vor wie ein Traum voller Frieden , und als ob es schon so lange her wäre .
Es stimmt mich auch so traurig , daß Du und Detlev immer mehr auseinanderkommt .
In den Ferien war ich fort , jetzt wieder mitten in der Arbeit und mache Morgenspaziergänge mit Senn .
Wann kommt ihr denn ? -
Lebe wohl und auf Wiedersehen .
Deine Ellen .
Kurz vor Friedls Rückkehr , an einem Septembermorgen , ging Ellen mit ihrem Freunde Senn im Dom auf und ab .
Die Kirche war ganz leer , die Sonne leuchtete durch die Bogenfenster , und droben spielte jemand auf der Orgel .
- Sie blieben auf demselben Platze stehen , wo sie so oft mit Friedl gestanden hatte - der Mann neben ihr legte den Arm um sie , sie wollte sich wehren , losmachen , aber dann sahen sie sich an , und wieder schlug das heiße Verlangen in ihnen empor - sie fühlte seine Küsse brennen - dazwischen rauschten langgezogene Orgeltöne durch den Raum .
Ellen ging nach Hause - in die Schule , wie alle Tage , aber sie sah nichts von dem , was um sie herum vorging , glaubte nur immer wieder zu fühlen , wie er sie küßte , und hörte die Orgel wieder brausen .
Ihr war , als ob eine Lawine auf sie zukäme , die sie mitreißen wollte , und sie wußte , es gab keinen Widerstand .
Der Gedanke an Friedl drückte sie wie ein schwerer Stein - gleich war sie erlegen , das erstemal , wo eine Versuchung an sie herantrat - ein paar Tage , ehe er zurückkehren sollte - sie , die jahrelang freudig hatte warten wollen .
Friedl kam - draußen beim Mühlwasser wartete sie auf ihn .
Er war in Uniform , spielte mit seinen weißen Handschuhen , war verändert , fremd .
Schon die Uniform kam ihr fast wie ein Verrat an ihren einstigen Idealen vor .
Sie machte einen gezwungenen Scherz darüber , keiner wußte recht , was er reden sollte .
" Wir haben uns wohl beide verändert " , sagte Ellen schließlich .
" Fühlst du das auch , Ellen ? "
Es klang fast bewegt , und sie wußte mit einemmal , daß sie nicht lügen und schweigen konnte .
" Friedl , ich muß dir etwas sagen - du hast dich in mir getäuscht - - "
" Ellen " , sagte er sehr ernst , " wir haben uns wohl beide getäuscht .
Es ist mir eine Erleichterung , daß du das auch empfindest .
Wir waren töricht , uns aneinander zu binden , ehe wir das Leben kannten und uns selbst .
Eine schöne , wunderbare Zeit ist es gewesen , wie wir beide sie vielleicht nie wieder erleben werden - aber sinnlos , sie festhalten zu wollen , wenn wir beide fühlen , daß sie vorbei ist . "
Die Fremdheit schwand , sie konnte ihm jetzt alles sagen .
" Ja , siehst du , halb und halb habe ich mir auch das gedacht .
Und dann ist ja auch alles gut , nicht wahr , und wir können ohne alle Bitterkeit scheiden .
Ich hatte so viel Sorge um dich , - aber er wird dir ein besserer Halt sein wie ich . "
Sie küßten sich noch einmal an der Stelle ihrer einstigen Liebesstunden .
Dann ging Ellen allein hinunter an den Hafen , da klammerte sie sich mit beiden Armen an einen von den Kaipfosten , sah auf das schimmernde Wasser hinaus , und die Tränen liefen ihr übers Gesicht .
Jetzt hatte sie zum erstenmal erfahren , daß etwas vergehen kann , woran man einst mit ganzer Seele hing .
Sie sah ihr erstes Frühlings-Kinderglück zerbrochen , die Blüten verweht und die Morgenfrische hin .
Und was nun folgte , war kein Frühling mehr .
Schwüle Sommerwinde strichen über sie hin und rüttelten wach , was noch in ihrer Seele geschlafen hatte . - Begehren , Verlangen , alles , was sie bisher nicht verstanden hatte .
Als der andere erfuhr , daß sie jetzt losgelöst war , riß er sie an sich , als wollte er sie zermalmen .
" Jetzt bist du mein . "
Es war eine fortwährende zehrende Unruhe , bis sie sich wiedersahen , und waren sie zusammen , so schüttelte er sie durch , in verwirrenden , heißen Liebkosungen , die Ellen noch neu waren - brennend süß und beängstigend .
Friedl und sie hatten sich nur geküßt wie zwei Kinder .
Aber im letzten Grunde war immer eine leise Enttäuschung , etwas wie Ernüchterung mitten im Taumel . - Dieser Mensch , mit seiner hohen Stirn und den unergründlichen Augen war ihr als etwas Überirdisches erschienen - er sollte nur in Wolken wandeln - der zweite Zarathustra sein - sollte schweigen , als ob er keine gewöhnlichen Worte reden könnte .
So hatte sie ihn früher gesehen - sie konnte nichts Menschliches an ihm ertragen .
Als sie ihn das erstemal essen sah , war es wie eine zerstörte Illusion , das hatte sie sich nie vorstellen können , daß er aß , trank , zu Bett ging , wie alle anderen Menschen .
Und dann , daß er es seiner Mutter sagte , damit sie sich ungestört sehen konnten .
Als Frau Senn von Verlobung sprach und Ellen als Tochter umarmte , wäre sie am liebsten davongelaufen .
Das schien ihr alles so sinnlos , so gut bürgerlich und gänzlich unmodern - war nicht das , was sie wollte .
Der erste Schnee fiel .
Ellen stand am Fenster und sah die Flocken wirbeln .
Von jeher war ihr das eine so ganz besondere Stimmung gewesen , etwas von Heimatsehnen und Weihnachten .
Sie wollte eigentlich an Senn schreiben , und der Brief lag angefangen .
Aber immer wieder kamen andere Gedanken - in der kurzen Zeit , seit er fort war , schien ihr alles verändert und am meisten sie selbst .
- Er hatte sie die ersten Schritte gelehrt und sie dann alleine gelassen , - sie sollte auf ihn warten , und schon fing es an , sie wie eine unerträgliche Fessel zu drücken , daß sie an diesen einen Mann gebunden war .
Sie meinte zu ahnen , daß sie sich doch niemals so ganz binden könnte ; wie sollte man es wissen , ob nicht immer und immer wieder ein anderer kam ?
Denn kaum war er fort gewesen , so hatte sie schon wieder an einen anderen gedacht und dachte jetzt unaufhörlich an ihn .
Ellen hatte keine Ahnung , wer er war - sie begegneten sich eine Zeitlang fast täglich , und dann sprach er sie eines Abends an .
Es war ihr auch ganz gleichgültig zu wissen , wie er hieß , für sie war er gar kein Mensch mit irgendeinem Namen - er war die Versuchung selbst - der Versucher in irgendeiner Menschengestalt , der plötzlich vor ihr auftauchte , wenn sie abends zur Stunde oder ins Theater ging - er sprach auch nicht laut wie andere - er raunte nur , wich nicht von ihrer Seite und raunte ihr geheimnisvolle Lockungen zu : " Komme mit mir , bei mir ist der Rausch , nach dem du verlangst - komme mit mir , ich will dich alle Geheimnisse und Wunder lehren , die du noch nicht kennst . "
Und dies diabolische Lachen , mit dem er dann wieder im Straßengewühl untertauchte , wenn sie alle ihre Kraft zusammennahm und nein sagte .
Tagelang bebte es in ihr nach , als ob wirbelnde Wogen um sie her brandeten ; und wie es lockte und reizte , da hineinzustürzen , Hals über Kopf , alles vergessen , über sich hinbrausen lassen .
Ihr ganzes Wesen schlug um , sie arbeitete nicht mehr , dachte nicht mehr mit tiefem Ernst über alle möglichen Dinge nach - sie träumte nur noch von einem Rausch ohne Grenzen und Ende .
Und diese Träume ließen sie Tag und Nacht nicht los .
Immer wieder sah sie sich in einem rotdurchleuchteten Zimmer , die Wände , die Teppiche , alles brannte in Rot - rote Ampeln , rote Gläser , in denen der Wein rote Schaumperlen warf .
Alles mußte funkeln und leuchten - und ein Ruhebett war da , mit seidenen Kissen und durchscheinenden Vorhängen .
Und er war da - der Versucher - und sie tranken Wein - immer näher zog er sie an sich - jauchzend hintaumeln in namenlose Lust , das versengende Feuer löschen in berauschter Raserei , sich selbst vernichten , sterben , vergehen in Wollust .
Da half keine Arbeit , und wenn sie sich noch so hartnäckig auf die Bücher warf - immer wieder tauchte sein Gesicht zwischen den Zeilen vor ihr auf , und das rote Glühen fing wieder an .
Der Kopf sank auf die Bücher nieder , die Augen zu und träumen , träumen , bis sie verstört auffuhr und wieder versuchte zu arbeiten und alles von vorne anfing .
Hatte er , der Versucher , nicht recht , daß er sie auslachte mit ihrer gewollten Treue und mit ihren Wahrheitsprinzipien ?
" Eine Stunde nur " , so redete er zu ihr , " und nachher vergessen , was geschehen war - was niemand weiß , ist so gut wie ungeschehen . "
- Nein , nein , dann würde alles aus sein und sie den einzigen Menschen verlieren , der ihr gehörte .
Sie mußte an ihm festhalten , sonst ging es hinab in unabsehbare Tiefen .
So schrieb sie an Senn , erzählte ihm alles , jedes Wort , jedes Zusammentreffen .
Darüber kam es zu blutigen Auseinandersetzungen , die sie reizten und verstimmten .
Dann kehrte Ellen den Spieß um und überzeugte ihn , daß er ihr Unrecht täte .
Der Versuchung ins Auge sehen und sie überwinden , sei bessere Treue , als ihr aus dem Wege gehen , und sie wollte sich und ihm nur beweisen , wie stark sie sei .
So endigte es damit , daß er sie beinahe um Verzeihung bat , sie fühlte ihre Macht über ihn und daneben eine leise Spur von Geringschätzung .
Dann traf sie den anderen wieder , diesmal bei hellem Tag .
Sie gingen zusammen durch stille Seitenstraßen , und an einer Ecke blieb er stehen .
" Eine Stunde nur , du süßes Weib - nur eine Stunde - "
" Gott , ich kann ja nicht - - "
" Ihre Augen haben längst ja gesagt , und wenn Sie schweigen , sagt Ihr Mund auch ja . -
Aber , comme vous voulez - Samstag bin ich den ganzen Nachmittag zu Hause und erwarte Sie . "
Nachher saß sie an ihrem Schreibtisch vor der Arbeit - ihre Gedanken drehten sich wie im Wirbel .
Sie schrieb einen raschen , abgerissenen Brief an Senn - " Es hilft doch alles nichts - ich will nicht mehr .
Du mußt mich lassen , mir meine Freiheit geben . "
Seine Antwort kam und sprach von Rechten - Verpflichtungen :
" Ich verlange von Dir - "
Als Ellen den Brief gelesen hatte , warf sie ihn in die Schieblade und ging hinunter .
- Schweigend wie immer saß sie mit ihren Eltern am Tisch - die litten auch alle unter ihr .
Das Familienleben war im letzten Jahr immer trostloser und verbitterter geworden - nur noch ein schweigender Kampf aufs Messer .
Nachher suchte Ellen einen Vorwand , um auszugehen , und dann geradenwegs zu ihm , der sie erwarten wollte .
Sie wußte jetzt seinen Namen und seine Wohnung .
Da stand sie auf dem hellgetünchten Vorplatz und sah auf das weiße Porzellanschild .
Aber er war nicht da - verreist - Freitag käme er wieder .
Langsam ging sie die Straße hinunter - es losch etwas in ihr aus - der große Augenblick war vorbei - verfehlt .
Stadt dessen kam Ernst Senn selbst am nächsten Tag , es hatte ihm keine Ruhe gelassen . -
Er wohnte im Hotel , um seiner Familie und allen Bekannten auszuweichen .
Ellen stand erst kalt und feindselig in der Tür , aber er stürzte auf sie zu , riß sie an sich mit so viel Angst und Liebe , daß sie ganz erschüttert war , machte ihr keine Vorwürfe :
sie sollte nur sein bleiben , nicht mit ihm spielen .
Und sie wurde weich gestimmt , wie immer , wenn sie Liebe fühlte - es kam etwas von dem alten Gefühl für ihn wieder .
Sie sagte zu allem ja - er sollte ihr nur nicht wieder mit Rechten und Verpflichtungen kommen , das reizte sie dann gerade , das Gegenteil zu tun .
Und schließlich war sie wieder im Recht und er hatte sie gekränkt .
Senn blieb noch einen Tag , und sie kam frühmorgens ins Hotel , statt zur Schule zu gehen .
Er schlief noch , und Ellen setzte sich zu ihm auf das Bett - sie waren wieder ganz versöhnt .
Langsam zog er sie immer dichter an sich , löste ihr die Haare auf - Schritt für Schritt kamen sie dem Geheimnis näher , das ihnen beiden noch fremd war .
Aber dann schraken sie doch wieder zurück .
- Sie hätte lieber alles vergessen wollen , aber wenn sie darüber nachdachte , kamen ihr wieder all die bangen Bedenken - all die unsichere Angst . - -
Ein Kind - dann wäre alles für sie Vorbeigewesen , alle Pläne , ihre Kunst , die Freiheit , die nun immer näher kam . -
Im letzten Grunde war es ja auch nur das , was sie dem anderen gegenüber zurückhielt - sie wußte etwas und wußte doch nichts und konnte sich nicht entschließen , zu fragen - da lag immer noch ein Rätsel und niemand löste es ihr .
Die Examenangst trieb eine Zeitlang alles andere in den Hintergrund .
Ellen saß ganze Nächte lang und lernte .
Dies Letzte mußte nun noch durchgehalten werden , und dahinter stand die Freiheit , endlich die Freiheit .
Den Sommer über wollte sie wie gewöhnlich eine Verwandtenreise machen und dann mit Sturm die Entscheidung herbeiführen .
Ließ man sie nicht freiwillig gehen , so würde sie es erzwingen , Lehrerin werden und Geld verdienen .
Der häusliche Himmel hatte sich wieder etwas aufgehellt , die Eltern waren aufgeregt über den Ausgang der bevorstehenden Prüfung und aus Sorge um Ellen , weil sie blaß und überarbeitet aussah .
Dann war es vorbei , und Ellen konnte zuerst kaum begreifen , daß sie wirklich gut durchgekommen war .
Aus dem grauen Schulhaus stürzte sie in den Frühlingsabend hinaus und schleuderte ihre Bücher auf die Erde , daß die Blätter flogen .
- Zu Hause wurde sie förmlich gefeiert , die Mutter war stolz , daß Ellen eine gute Note hatte , und Papa legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte :
" Jetzt hast du mir eine wirkliche Freude gemacht . "
Die Brüder waren zu den Osterferien gekommen - so war es einer von den seltenen ungetrübten Abenden , wo sie alle um Papas Tisch saßen mit Wein und Gelächter .
Ellen konnte heute mitstimmen , ohne einen bösen Blick von der Mutter zu bekommen , es schien , als ob man sie jetzt zum erstenmal anerkannte , zum erstenmal mit ihr zufrieden war .
Ihr selbst war nicht ganz wohl dabei - die dachten jetzt nicht daran , daß es doch nur ein kurzer Waffenstillstand sein konnte .
Wenn sie wüßten , wie es in Wirklichkeit um Ellen stand , daß sie innerlich schon lange draußen auf hoher See trieb und wohl nie mehr den Weg zurückfinden würde - .
Der Frieden dauerte denn auch nicht lange , in den kurzen Wochen , die sie noch zu Hause blieb , fing es immer von neuem an zu gewittern .
Die Eltern lebten in beständigem Mißtrauen : wo steckt Ellen nur wieder ? , was treibt sie ? -
wenn sie den halben Tag verschwunden war , um mit einer Freundin , die am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte , zu modellieren , oder mit einer anderen Französisch zu treiben .
Konnte man denn auf Schritt und Tritt hinter ihr stehen und ihr das bißchen Verkehr mit jungen Mädchen verbieten ?
Und Ellen nahm jetzt alles auf die leichte Achsel und baute nur auf den Zufall , der sie nun schon jahrelang vor Entdeckung beschützt hatte .
Was lag auch jetzt noch daran , wenn das Pulverfaß explodierte ?
So führte sie ein förmliches Abenteuerleben ; solange Senn noch Ferien hatte , schlich sie sich frühmorgens aus dem Hause , um ihn zu treffen , lange , ehe die anderen aufstanden , und manchmal auch abends , wenn man sie im Bett glaubte .
Und drunten am Hafen hatten sie eine stille Bierstube entdeckt , wo sich die Reste des Ibsenklubs und allerhand neu hinzugekommene Bekannte versammelten , während am anderen Tisch die Schiffskapitäne Karten spielten .
Dann war Senn fort - auf Ellens Sommerfahrt wollten sie sich wiedertreffen .
Am letzten Tage , als ihre Koffer schon gepackt standen , begegnete sie dem Versucher , den sie jetzt auch wieder öfters sah .
Es war allmählich eine Art frivoler Kameradschaft zwischen ihnen geworden , sie gingen zusammen ins Café , lachten , spielten eine Zeitlang mit dem Feuer und trennten sich dann wieder .
Ellen ließ sich auch heute wieder mitziehen in das Bahnhofsrestaurant , wo nachmittags die bekanntesten Lebemänner der Stadt saßen und durch die Glasscheiben des runden Erkers die Vorübergehenden kritisierten .
" Das ist nun das letztemal " , sagte Ellen .
" Schade , schade , und wie steht es mit der Moral ? "
" Immer das gleiche . "
Er kam eben vom Reiten , war in hohen Stiefeln und ließ die Reitpeitsche auf dem Tisch tanzen .
" Nein , es ist wirklich schade um den schönen Leichtsinn , denn den haben Sie doch in sich .
Und dann mit dem Trottel da verlobt sein - .
Soll ich Ihnen einmal weissagen - darauf verstehe ich mich einigermaßen ? "
" Ja , bitte . "
" Also Sie - Ellen , Freiin von Olestjerne , mit Ihrer guten Erziehung und Ihrem unglaublichen Lachen - , Sie werden noch eine von den Allerschlimmsten werden , wenn Ihre Zeit erst einmal gekommen ist . "
" Das ist sehr möglich " , meinte sie .
" Nun also , warum denn noch dieser Tugendpanzer ?
Glauben Sie nur nicht , daß er Ihnen gut steht , dazu sitzt er viel zu lose . -
Ich möchte doch übrigens wissen , wer Sie die ersten Flötentöne gelehrt hat ? "
" Sie ! "
" Ach , das ist ja nicht wahr , das sagen alle Frauen .
Da wäre man immer der erste .
Und was haben Sie denn von mir gelernt ?
Sie sind ja immer noch ebenso verlobt . "
Ellen lachte - dann nahmen sie Abschied .
Ellen fühlte etwas wie Reue um schöne , nichtbegangene Sünde .
- Wenn er doch einmal ihre Gedanken erraten hätte , ihr das Rätsel gelöst , von dem alles abhing .
Aber das Unglück lag darin , daß er sie für viel raffinierter hielt , wie sie war .
Aber trotz allem wogte eine selige Stimmung in ihr , als sie die Allee zum elterlichen Hause hinaufging - zum letztenmal !
Jetzt war sie keine Gefangene mehr , alles lag so wundervoll weit und unsicher vor ihr .
Die Mutter stand schon an der Gartentür und sah nach Ellen aus .
" Wo bleibst du wieder so lange ?
Gott sei Dank , das hat nun ein Ende ; wenn du wiederkommst , werden wir eine andere Ordnung einführen . "
Nach Tisch rief der Vater sie herüber .
" Wir lassen dich jetzt zum erstenmal ohne Begleitung reisen , Ellen .
Ich erwarte von dir , daß du dich auch danach benimmst - vor allem bitte ich dich , deine sogenannten Ansichten nicht überall auszuposaunen .
- Im Herbst wollen wir dann einmal weitersehen - vielleicht findet sich bei unseren Bekannten irgendeine Gelegenheit , deine Ausbildung als Lehrerin zu verwerten . "
" Papa , ist es ganz ausgeschlossen , daß Ihr mich Malerin werden laßt ? "
" Hast du den Blödsinn immer noch im Kopf ? -
Dann Schlag es dir jetzt ein für allemal aus dem Sinn - all diese Emanzipationsgeschichten .
Glaubst du , ich werde dich mit deinem törichten Hang zur Ungebundenheit allein in die Welt hinausschicken ?
Aber das sind Sachen , die du nicht verstehst - - "
Dann nahm er einen Brief vom Tisch und warf ihn wieder hin :
" Hast du etwas davon gewußt , daß Detlev Schulden hat ? "
" Nein " , aber Ellen fühlte , wie sie rot wurde .
" Und auch nicht von der Duellgeschichte ? "
" Nein ! "
" Ellen , ich will die Wahrheit wissen . "
" Ich habe ihm versprochen , nichts davon zu sagen . "
Und nun brach sein Zorn hervor :
" Immer steckt ihr unter einer Decke , ihr beiden - gegen uns , gegen alles . -
Was wollt ihr damit ? -
Was setzt ihr euch in den Kopf ? zu fügen habt ihr euch , und ihr werdet euch fügen , solange wir leben . "
Ellen stand hinter ihrem Stuhl und wiegte ihn langsam hin und her , sie fühlte , wie jedes Wort kalt an ihr herunterlief , und die ganze jahrelange Erbitterung regte sich in ihr gegen diese zermalmende Strenge .
Und der Vater wurde immer heftiger , ging rasch hin und her und blieb dann vor ihr stehen .
" Ihr habt nichts getan , ihr beiden , wie uns das Leben verbittert , seit Jahren - "
Sie zitterte innerlich vor seinem Zorn und wollte nichts sagen , aber plötzlich fuhr es ihr heraus : " Ja , weil ihr uns unsere Jugend nehmen wollt . "
" Nimm dich in acht , Ellen " , schrie er auf und machte einen Schritt auf sie zu .
Ellen rührte sich nicht , und dann kehrte er rasch um und ging ins Wohnzimmer hinüber .
" Kronsee , den 3. August Liebe Lisa - dieser Brief gilt Euch allen - und lest ihn mit Andacht , es ist der erste Schrei aus meiner Gefangenschaft , der ein menschliches Ohr erreicht .
Ich bin ja selbst von Detlev abgeschnitten , kann ihn weder sehen , noch ihm schreiben .
- Und was mögt Ihr gedacht haben , als der berühmte Krach , den wir uns immer wie mit Freiheitsposaunen vorstellten , so abgelaufen ist - am Ende denkt Ihr gar , ich habe mich » gefügt « .
Aber ich schwöre Euch bei allen unseren Göttern :
Ellen Olestjerne wird sich niemals fügen .
Das war eine Zeit , Lisa , diese letzten acht Wochen und jetzt immer noch !
Zähneknirschen und Wutschäumen sind nur schwache Worte für das , was ich von Morgen bis Abend empfinde .
Aber nun alles der Reihe nach :
zuerst kam die Reise nach meiner alten Heimat .
- Sie wissen , ich war bei Bekannten in Halmby , unserer kleinen Seestadt bei Nevershuus .
Es war so schön , alles wiederzusehen , ganze Sommertage am Strande zu liegen , die alten Wege zu gehen und ganz eigener Herr zu sein , denn dort kümmerte sich niemand darum , was ich tat .
Ich habe wirklich einmal nur so hinausgeschrien vor Lebensfreude nach all den bedrückten Jahren .
- Nachher besuchte ich dann noch verschiedene Verwandte weiter nach Norden - daß Senn überall mit war , haben Sie wohl durch Detlev gehört .
- Es war wie in einem Lustspiel , dies fortwährende Trennen und Wiederfinden .
Und denken Sie nur , wenn an diesen entlegenen Orten ein Fremder mit schwarzem Bart und unheimlichem Aussehen auftaucht , von dem niemand weiß , wer er ist und was er da will , und wie wir uns dann immer heimlich trafen , meist in aller Morgenfrühe in irgendeinem obskuren Hotel .
- Zuletzt unterschlug ich mit vieler List noch ein paar Tage , wir fuhren im Dampfschiff die Küste entlang und blieben , wo es uns gerade gefiel in den Fischerdörfern .
Dann kam ich hierher nach Kronsee , alles war gut gegangen - und drei Tage später telegraphiert Papa an meinen Onkel , er möchte sofort zu ihm kommen und der Krach war da .
Ich hatte zu Hause in einem Lexikon den letzten Brief von Senn liegen lassen und meine Mutter hatte ihn zufällig gefunden .
Daraufhin brachen sie meinen Schreibtisch auf - Sie können sich ungefähr einen Begriff davon machen , was alles zu Tage kam - mein ganzer Briefwechsel mit Friedl Merold - mit Senn , Detlev , den Ibsenklubleuten und noch allerhand kleine Torheiten vom letzten Winter - der arme Senn war ja nur ein verschwindender Faktor in dem ganzen Sündenpfuhl .
Als mein Onkel zurückkam - mit mir selbst wollten meine Eltern nicht mehr unterhandeln - all diese Unterredungen , Ausfragen - ich habe getobt , Lisa , bis ich endlich so klug geworden bin , alles schweigend über mich ergehen zu lassen .
Denn mir sind einfach die Hände gebunden - man läßt mich nicht aus den Augen , gibt mir kein Geld in die Hand , fängt jeden Brief auf .
Außerdem behaupten sie , solange ich nicht mündig bin , könnten sie mich jederzeit zwingen zurückzukommen .
Das muß ich erst alles ganz genau wissen .
Ich will Ihnen keine Einzelheiten erzählen , Lisa , sonst gerate ich wieder in solche Wut , daß ich alles entzweischlage , und sie sind imstande , mich dann für tobsüchtig zu erklären .
Es war schon einmal die Rede von unter Kuratel stellen .
- Mir ist schon so zumute , als ob man mich in ein Tollhaus gesteckt hätte , um mich verrückt zu machen , ich schiele nach jeder Tür , um zu entkommen , aber jedesmal steht ein Wächter dahinter .
So habe ich mich einstweilen zum Schein ergeben - man hat beschlossen , mich in ein Pfarrhaus zu geben , wo ich Moral und Haushalt lernen soll - und ich habe freudig ja gesagt .
Zweitens ist Senn und mir ein wöchentlicher Briefwechsel gestattet , und wenn wir uns sieben Jahre lang - nämlich bis er eine Stellung annehmen kann - musterhaft führen , dürfen wir sogar heiraten .
Er hat sich schriftlich verpflichten müssen , ohne Einwilligung der Familie keinen Schritt in Bezug auf mich zu unternehmen .
Natürlich wollen sie mir auf diese Weise nur die Waffen aus der Hand winden - ach , Lisa , als ob ich daran dächte , ihn zu heiraten , mir geht es ja nur um meine Freiheit und ums Malen , aber ich hüte mich wohl , das durchscheinen zu lassen .
- Ich warte nur auf den Moment , wo sich eine Türspalte auftut - es kommt mir ja schon vor , wie ein erstes Aufleuchten , daß ich einen Brief an Euch fortschicken kann .
Mein Onkel ist heute zur Stadt gefahren , und wenn die Tante schläft , will ich versuchen , nach der Station zu rennen und ihn einzustecken .
Noch ist nicht einmal sicher , ob es gelingt .
Mein Gott , wenn ich doch jetzt soviel Geld hätte , um zu Euch zu fahren oder meinetwegen auch zu Fuß hinzulaufen .
Aber dann würden sie mich ja doch erwischen .
Kinder , denkt an mich - ich habe vielleicht noch schlimmere Zeiten vor mir .
So lebt wohl und vergeßt mich nicht - schreibt mir nicht , ich würde es doch nicht bekommen .
Ellen .
Pfarrhaus Steensby - -
Da bin ich nun als räudiges Schaf mitten unter der Schar seiner Gläubigen - in einem friedlichen Landpastorat - wasche Zimmer auf , putze Lampen und stehe am Herd - » frühmorgens , wenn die Hähne krähen « .
Seit dem ersten Oktober bin ich hier - wurde wie ein sibirischer Sträfling hergebracht - man ließ mich keine Wagenstrecke allein fahren .
- Vorher in Kronsee mußte ich noch eine Art Kontrakt unterschreiben , daß ich keine heimlichen Briefe abschicken , nie allein zur Stadt gehen und mich in die Hausordnung fügen wollte .
Es ist nur gut , daß ich im Seminar von der reservatio mentales gelernt habe .
Am ersten Abend habe ich mir gleich das Haus darauf angesehen , wie man von hier ausreißen könnte - Türen , Fenster , alles .
Ich war eigentlich auf lauter neue Quälereien gefaßt : Verhöre , Bußpredigten , Überwachung - aber nichts von alledem .
Es sind sympathische Menschen , die mir nun mit Takt und Freundlichkeit entgegenkommen , - was ich im Gegensatz zu meiner Familie doppelt wohltuend empfinde .
Ich mag sie alle gerne und es ist eine einfache , heitere Atmosphäre , in der ich mich wohlfühle .
Ja , Lisa , es läuft der Hase manchmal wunderlich - daß ich mich in einem Pfarrhaus zum erstenmal wohlfühlen würde , hätte wohl zur Zeit unserer » Ansichten « niemand gedacht .
Mit letzteren läßt man mich ganz in Ruhe , und ich mache stillschweigend Kirchgänge und Andachten mit .
Ebenso fragt man nicht danach , was ich in meiner freien Zeit anfange und was für Briefe ich bekomme .
Ihr könnt mir also ruhig hierherschreiben , und wie lechze ich nach einem Wort von Euch . - Kinder , wie habe ich diesen Sommer oft nach einem Briefkasten ausgespäht , - hier kann ich meine Briefe ungestört nach der Stadt bringen .
Alles in allem , Lisa , ich dehne mich in einem langentbehrten Gefühl von Frieden nach - und vor dem Sturm .
Denn der schläft ja nur . -
Bis zum Frühjahr bleibe ich hier , dann schreibe ich noch einmal heim , ob sie mich freiwillig gehen lassen .
Dann haben sie die Wahl , ob sie mich zum Äußersten zwingen wollen .
Es wird mir ja auch nicht leicht , mich für immer von ihnen loszureißen , und ich weiß , daß ich ihnen den Rest ihres Lebens zerstöre .
- Ich habe doch manchmal Heimweh nach allen - seit ich von zu Hause fortreiste , habe ich keinen von ihnen mehr gesehen , die anderen Geschwister haben sich ja auch gegen mich gestellt - nur Detlev nicht .
Aber es ist besser , nicht daran zu denken . -
24. März Lisa , nun ist es entschieden .
Papa hat auf meinen Brief hin eine Zusammenkunft mit dem Pastor gehabt .
Als der zurückkam , war seine gute Meinung über mich bedenklich erschüttert .
Mein Vater hat ihm alles erzählt , auch von der Reise mit Senn , und er war ganz entsetzt .
Beinahe drei Stunden hat er auf mich eingeredet , er von seinem Schreibtisch und ich daneben auf dem Stuhl , " wo schon so manche arme gnadenbedürftige Seele gesessen hat " .
Er sähe mich ins Verderben rennen , wenn ich von diesem Menschen nicht lassen wollte , denn die Sünde ist der Leute Verderben und unser Verhältnis ein sündiges und beflecktes . -
Meine Eltern würden es nie zugeben , daß ich mich selbständig machte - aber er , der Pastor , schlüge mir vor , in seinem Hause zu bleiben .
Da sollte ich meine volle Freiheit haben , malen , alles , was ich wollte , und zugleich mich von ihm zu Gott führen lassen , bei dem allein die Wahrheit ist .
Er wüßte wohl , daß viel Gutes in mir steckte ( das finden die Pastoren immer bei mir ) .
- Aber alles das nur unter einer Bedingung - von Senn mich lossagen , weil der mich rettungslos herabzieht .
Wenn ich das nicht täte , könnte ich auch hier nicht bleiben und müßte zu meinen Verwandten zurück .
Denn er wolle sich nicht mit mir im Sumpf wälzen - - . Mir wurde ganz wirblig dabei - ich sah zuletzt nichts mehr wie seinen Kopf , der mir immer größer zu werden schien , und die Augen , die mich unaufhörlich ansahen .
Jetzt kann ich mir einen Begriff machen , wie die armen Seelen hypnotisiert werden und wie man in solchen Momenten nachgibt , einfach , weil man schwindlig wird . -
Schließlich fing ich aus lauter Nervosität an zu weinen , und das hielt er wohl für ein Zeichen , daß die Gnade nun bei mir durchbräche - das tut sie nämlich , wenn der Sünder ganz zermalmt und zerknirscht ist .
Dabei tat es mir auch beinahe weh , er ist trotz aller Verranntheit einer von den wenigen , die es gut mit mir meinen , und als Menschen habe ich ihn sehr gern .
Ich habe mir vierzehn Tage Bedenkzeit ausgebeten , aber die Würfel sind geworfen .
Lisa , es bebt in mir bei dem Gedanken , nun so bald frei zu sein .
Ich möchte in einem_Fort schreien , und meine Hände zittern bei allem , was ich tue .
Jetzt komme ich , Lisa , ich komme - ich komme , und dann soll geschehen , was will .
Ich muß mir selbst etwas Vernunft einreden , - - also : am Ostermorgen brenne ich durch - um halb neun gehen sie alle in die Kirche , da ich sonntags manchmal ausschlafe , fällt es nicht auf , wenn ich vorher nicht erscheine .
- Der Hauslehrer hat mir einen Koffer und das Geld zur Reise geliehen , ich habe ihn in alles eingeweiht .
- Sollte mich jemand sehen , so sage ich , es wäre ein Aprilscherz - Sonntag ist gerade der erste .
Nur noch acht Tage - es ist mir doch auch wieder wehmütig .
Ich erzählte Ihnen von der Kranken , die wir im Hause haben - um die wird es mir ganz schwer .
Ich bin so viel bei ihr , manchmal auch nachts , wir haben uns sehr gerne und hatten viele schöne stille Stunden .
Jetzt ist sie wohl dem Ende sehr nahe , ich sitze frühmorgens bei ihr am Fenster , wenn die Vögel draußen zwitschern , und denke daran , daß ich nun bald in die Freiheit gehe , während hier ein Mensch mit dem Tode ringt .
Dann bilde ich mir ein , sie könnte mich entbehren , und möchte lieber , sie stürbe noch vorher .
Es ist eigentlich schrecklich , Lisa , daß man überall wieder so mit seinem Herzen festhängt .
Aber jetzt leben Sie wohl , ich telegraphiere Ihnen noch , wann ich komme .
Und lassen Sie es Detlev dann wissen .
Ihre Ellen .
Es war die Nacht auf den ersten April , Ellen lag halb angezogen auf dem Bett und daneben brannte die Kerze .
Jede Stunde hörte sie schlagen , dazwischen schlief sie halb ein und fuhr erschrocken wieder in die Höhe - Mitternacht - eins - halb zwei - Sie kämpfte mit der Versuchung , sich in die Kissen hineinzuwühlen und fest zu schlafen - morgen war ja auch noch ein Tag , warum sollte es durchaus gerade heute sein ?
Nachtdunkel und Müdigkeit nahmen ihr den Mut : wenn nun alles fehlschlug , sie eingeholt , festgehalten und mit Gewalt zurückgeschleppt wurde ?
Wieder schlief sie eine halbe Stunde und richtete sich erschrocken wieder auf , die Lider wurden immer schwerer - ihre Kerze war halb heruntergebrannt - halb drei Uhr .
Wie ein wahnsinniger , undurchführbarer Entschluß kam es ihr plötzlich vor , aufzustehen und fortzulaufen - es war kalt und dunkel , sie dachte an ihre Eltern , ihr schien , als ob die ganze Welt da draußen so sein müßte , wie diese finstere Nacht , und da sollte sie nun allein ihren Weg suchen . -
Ah - nur noch etwas schlafen , da schlug die Uhr wieder - , nein , nein , wenn sie sich nicht aufraffte , war es zu spät - jetzt oder nie .
So riß sie sich mit Gewalt empor und kleidete sich an - das kalte Wasser verscheuchte den Schlaf und all die zögernden Gedanken .
Draußen über den Bäumen schien der Mond , und durch die Zweige fuhr ein rascher Morgenwind .
Frühling , dachte sie , und draußen wartet das Leben .
Am Tisch vor dem Fenster schrieb sie rasch ein paar Zeilen an den Pfarrer , und bei jedem Wort durchrieselte es sie wie ein Schluck starker Wein .
Wie oft hatte sie von dem Augenblick geträumt , wo sie solche Worte sagen konnte :
" Ich gehe jetzt .
Ihr seid die Besiegten .
Macht , was ihr wollt , ich gehe . "
Dann machte sie das Fenster auf und ließ ihren Koffer an einem Strick herunter .
Mit Schrecken fühlte sie , wie schwer er war , ein paarmal wäre ihr fast der Strick aus der Hand geglitten , und der Koffer schlug gegen die Hauswand .
Gerade unter ihr lag das Krankenzimmer , wo jetzt eine Pflegerin bei der langsam Sterbenden wachte .
Gott im Himmel , da schlug er wieder an .
Wenn nun plötzlich da unten jemand das Fenster aufmachte und fragte - .
Und nun konnte sie ihre Schuhe nicht finden .
- Alles war wie verhext heute morgen .
Natürlich lagen sie unten in der Küche zum Putzen , sie war ja gestern in Hausschuhen heraufgekommen .
Sie blies das Licht aus , schloß die Tür hinter sich zu und warf den Schlüssel in eine Ecke - ihr Zimmer lag oben auf dem Speicher .
Dann tappte sie die Treppe hinunter , die Stufen knarrten wie noch nie .
Und jetzt in der dunklen Küche aus dem Haufen von Stiefeln die ihren heraussuchen .
Der große Haushund lag auf dem Flur , er erkannte sie nicht gleich und fing an zu knurren , dann wedelte er und wollte mit , als Ellen zum Küchenfenster hinaussprang .
Sie faßte ihn am Halsband und schob ihn zurück , horchte noch einmal , ob alles still wäre , dann schlich sie leise um das Haus und band den Koffer los .
Im Krankenzimmer war Licht , und man hörte gedämpfte Stimmen .
Auf dem Kirchhof blieb Ellen stehen und sah auf das stille , weiße Haus zurück , und dann strebte sie so rasch wie möglich über die Felder der Stadt zu .
Hier und da setzte sie sich auf den Koffer und ruhte aus , er war entsetzlich schwer .
Im Notfall laß ich ihn im Stich , dachte sie , aber es war alles darin , was sie besaß - Briefe und Bücher , die sie nicht preisgeben wollte .
Endlich kamen die ersten Häuser der Stadt , und dort drunten lag der Bahnhof .
Es war höchste Zeit - Ellen warf ihre Last mit einem heftigen Ruck auf die Schulter und fing an , Trab zu laufen , ihre Schritte hallten laut durch die stillen Straßen , und dicke Tropfen rannen ihr von der Stirn .
Im letzten Moment kam sie an , konnte gerade noch das Gepäck hineinwerfen und nachspringen , ehe der Zug sich in Bewegung setzte .
Über dem weiten Flachland wurde es immer heller .
Ellen war allein im Kupee und sang laut in den Morgen hinein .
Sie konnte nicht stillsitzen und nicht stillschweigen , ihr war , als ob sie sonst zerspringen müßte : frei bin ich , frei bin ich , frei - frei !
An dem Wort berauschte sie sich , taumelte fast , lief hin und her , von einem Fenster zum anderen und sang wieder hinaus : frei bin ich , frei - setzte sich einen Augenblick hin und lachte , daß ihr die Tränen kamen .
Als der Schaffner kam , hielt sie ihm ihr Billett hin , als wäre es ein Königreich - und für sie war es auch eines . -
Gott , wenn er nur etwas sagte , der erste Mensch , der ihr heute begegnete - er mußte etwas sagen , sich mit ihr freuen , ihr Glück wünschen .
Sie gab ihm alles Kleingeld , das sie noch in der Tasche hatte , und nun grinste er endlich , und Ellen lachte .
" Na , Sie sind aber vergnügt am frühen Morgen , Fräulein . "
Ellen warf sich in die Ecke und lachte - lachte .
Es war klar , daß der Mann sie für verrückt hielt .
Bei der nächsten Station tat sie eine schwarze Brille und einen dichten Schleier an , es ging ja mitten durch das Land der zahllosen Verwandten , überall konnte sie bekannte Gesichter treffen .
Und dann wußte sie nicht , wie ihre Fassung behaupten , als andere Leute einstiegen mit einem Kind , das sich vor ihr fürchtete und zu schreien begann - und der Schaffner wieder hereinkam und sie immer verdutzter ansah .
Nicht einmal Lisa und Detlev erkannten sie , als Ellen über den Perron auf sie zustürzte .
Der Bruder war heimlich gekommen , um diesen Tag mitzuerleben , sie flogen sich in die Arme und lachten bis zu Tränen .
Durch das stürmische Frühlingswetter gingen sie alle drei zu Lisas Wohnung .
Es war wie der Wahrheit gewordene Traum all ihrer Jugendjahre , daß Ellen jetzt ihre Ketten gebrochen hatte , und tagelang war mit den beiden Geschwistern kein vernünftiges Wort zu reden .
Sie sprangen über Tische und Stühle , erfüllten das ganze Haus mit Lärm und Lachen , gingen Arm in Arm durch die Stadt , verkauften Ellens Schmucksachen , um Rheinwein zu trinken , und kamen abends singend nach Hause , um das fröhliche Gelage fortzusetzen .
" Jetzt wollen wir doch endlich ein ernstes Wort über Ellens Zukunft reden " , sagte dann Detlev , während er die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch stellte - und gleich darauf klangen die Gläser und sie lachten .
Selbst die Freundin schüttelte manchmal den Kopf - sie hatte ein warmes Interesse für diese beiden jungen Menschen und ihr Schicksal lag ihr sehr am Herzen .
Aber was sollte wohl einmal aus ihnen werden , besonders aus Ellen , wenn das Leben sie hart anfaßte ?
Dazwischen erwarteten sie jeden Augenblick , daß plötzlich irgendein Abgesandter der Familie erscheinen , Ellen zurückfordern und gewaltige Szenen und Stürme mit sich bringen würde .
Aber es geschah nichts von alledem , es kam nur ein kurzer Brief von Ellens Vater an ihre Freundin ; er sähe jetzt , daß er seine Tochter nicht mehr zurückhalten könnte , sich ins Verderben zu stürzen .
Als der Bruder fort war , kam Ellen wieder etwas mehr zur Besinnung und fing an , Stellung zu suchen - fuhr hierhin und dorthin , meldete sich auf alle Annoncen oder bei Schulvorsteherinnen und Schulräten .
Aber es vergingen Wochen , ohne daß sich irgendeine Aussicht bot .
Ellen machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck mit ihrem adligen Namen und ihren etwas abgetragenen Kleidern : einmal fand man , sie sähe viel zu jung aus , ein andermal erkundigte man sich nach ihren Familienverhältnissen .
Endlich kam Antwort auf eine Annonce , in der sie sich als Reisebegleitung oder Gesellschafterin angeboten hatte :
sie sollte ihre Photographie einschicken und mitteilen , über welche Sprachen und Kenntnisse sie verfügte .
Der Brief kam aus Straßburg und war mit " Louis Michel " unterzeichnet .
In einem zweiten Schreiben wurde sie aufgefordert , zu einer persönlichen Vorstellung nach Köln zu kommen .
Lisa und Ellen ergingen sich in Vermutungen - vielleicht war es ein kränklicher , älterer Herr oder ein Witwer mit Kindern .
Am Abend vor der Abreise war Ellen allein zu Hause , und es kam ein Bekannter von Lisa - Doktor Laurenz .
Sie hatte ihn während dieser Wochen oft gesehen , denn er wußte von ihrer Lage und nahm französische Stunden bei ihr .
Als sie mit ihren Büchern auf dem Balkon saßen , erzählte Ellen ihm , daß sie jetzt Aussicht auf eine Stellung habe und morgen nach Köln fahren werde .
Doktor Laurenz war ein hochgewachsener Mann mit raschen , jugendlichen Bewegungen und klugen , blauen Augen , die etwas Forschendes im Blick hatten , und Ellen fühlte etwas wie Respekt vor ihm , weil er so überlegen lächeln konnte .
" Ich finde das ziemlich bedenklich für Sie " , meinte er , " so aufs Geratewohl hinzufahren . "
" Aber das ist ja gerade schön - ich habe keine Ahnung , was für Leute das sein mögen und wozu sie mich engagieren wollen - am Ende werde ich noch Kindermädchen . "
" Und was sagt Herr Senn dazu ? "
" Den habe ich gar nicht gefragt , nur geschrieben , daß ich nach Köln fahre . "
Ihm kam das Verhältnis überhaupt etwas merkwürdig vor , es schien sie immer zu bedrücken , wenn sie davon sprach .
Es wurde dunkel , und das Mädchen kam mit der Lampe - Doktor Laurenz nahm den Klemmer herunter und sah Ellen an .
" Ich glaube , Sie lassen sich überhaupt nicht gern dreinreden - aber wollen Sie mich nicht ein wenig als älteren Bruder betrachten , der hier und da raten darf ? -
Nehmen Sie wenigstens einen Revolver mit auf die Reise . "
Ellen versprach es und lachte über seine Bedenklichkeit .
Am nächsten Morgen kam er an die Bahn und brachte ihr Rosen .
" Haben Sie den Revolver ? "
" Ja . "
Lisa fand es auch etwas übertrieben .
Sie gingen zusammen zurück , als der Zug fort war und sprachen über Ellen .
" Ich wollte ihr wünschen , daß sie endlich was fände " , sagte die Freundin .
" Das arme Kind , sie hat wirklich keine frohen Jahre hinter sich und gehört so sehr zu denen , die das Leben mit Jubel genießen möchten . "
" Glauben Sie eigentlich , daß sie diesen Senn liebt ? "
" Ach " , Lisa machte ein Gesicht , " lieben - Ellen tut mit ihm , was sie will , und das ist ihr ganz bequem .
Er hat gar kein Rückgrat - ich glaube auch nicht , daß die Geschichte noch lange dauert .
Ich habe schon oft beobachtet , daß sie ganz ungeduldig wird , wenn ein Brief von ihm kommt . "
Dann trennten sie sich .
Ellen machte ihre ernsthafte Gouvernantenmiene - sie hatte sich ihr Benehmen für solche Fälle mit vieler Mühe einstudiert - zurückhaltend , liebenswürdig , bescheiden - und möglichst weltgewandt .
Jede Bewegung mußte sagen :
ich bin allem gewachsen , verlangt , was ihr wollt .
Innerlich kämpfte sie mit einer fast unbezähmbaren Lachlust - ihr zukünftiger Brotherr hatte sie am Bahnhof abgeholt .
" Wo wünschen Sie abzusteigen ? "
Das wußte sie nicht , da sie hier ganz unbekannt war .
" Dann haben Sie wohl nichts dagegen , mit in mein Hotel zu gehen ? "
" O nein , gewiß nicht . "
Als sie im Wagen saßen , fragte er rasch : " Es ist Ihnen doch nicht unangenehm , wenn ich Sie als meine Frau einschreibe - nur um alles Auffallende zu vermeiden . "
Es kam ihr etwas seltsam vor , aber sie fand es ganz lustig und dachte , es sei am besten zu tun , als ob alles ganz selbstverständlich wäre .
Dann hatte er ein Zimmer mit Salon genommen und ließ das Abendessen heraufbringen , und jetzt saß sie mit dem wildfremden Mann , der etwas gebrochen deutsch sprach , beim Souper .
Er war groß und brünett , sehr elegant und sehr aufmerksam .
Als was mochte er sie wohl engagieren wollen ? -
Er fragte nach allem , was sie gelesen hätte , wofür sie sich interessierte , sprach über Kunst und Bücher .
Als der Kellner wieder hereinkam , duzte er sie - sie galt ja für seine Frau - und darüber fiel Ellen plötzlich aus ihrer Würde und fing an zu lachen .
" Gott sei Dank " , sagte er , als sie wieder allein waren , " Sie können also doch lachen .
Mir war schon Angst , daß Sie immer so ein feierliches Gesicht machten . "
Darauf ließ er Sekt und Zigaretten bringen , sie unterhielten sich immer lebhafter , und es wurde ziemlich spät .
Ellen saß in einem bequemen Liegestuhl und fühlte sich sehr wohl .
Dann fiel ihr wieder ein , weshalb sie hier war , und sie entschloß sich jetzt endlich nach ihrer künftigen Stellung zu fragen .
" Ach , davon können wir morgen noch sprechen . "
Louis Michel ging im Zimmer herum und dann ans Fenster .
" Kommen Sie einmal her . "
Da lag der Rhein im Mondlicht , die alten Häuser am Ufer im tiefblauen Schatten , aus dem viele einzelne Lichter funkelten .
Es war Festtag - drunten in der Straße zogen Trupps von lärmenden Menschen vorbei .
Ellen setzte sich auf die Fensterbank , er stand vor ihr und sah sie an .
" Wollen Sie mit mir auf Reisen gehen ? " fragte er plötzlich .
" Bitte , lassen Sie mich ruhig ausreden . -
Ich habe Ihnen erzählt , was für ein Leben ich führe , heute in Paris , morgen in Monte Carlo , und dann spiele ich wie toll , das ist meine einzige Leidenschaft , und weil ich nicht weiß , was ich anfangen soll .
Irgendeinen Reiz muß das Leben haben .
Dann habe ich einmal gedacht , wenn ich einen Menschen mit mir hätte , eine Frau , die alles mit mir teilt , nicht verheiratet , nur als guter Kamerad - und sah zufällig Ihre Annonce .
Warum können Sie nicht ebensogut mit mir reisen , wie mit einer unangenehmen alten Dame ? -
Ihr Bild gefiel mir - dann habe ich mit Ihnen selbst gesprochen - - "
In Ellen wogte und wirbelte es - reisen , wohin man will - was konnte sich da alles vor ihr auftun !
Aber mit diesem Menschen - irgend etwas in ihr widersprach gegen ihn .
Dann dachte sie an Senn .
" Ich bin an jemand gebunden " , sagte sie .
" So machen Sie sich los - oder wollen Sie etwa heiraten ? "
" Das weiß ich noch nicht - vor allem will ich malen , sowie ich die Mittel dazu habe .
Das bindet mich auch . "
" Aber ich gehe mit Ihnen , wohin Sie wünschen - lasse Sie ausbilden . "
Ellen war so verwirrt von all den Gedanken , die auf sie einstürmten , daß sie schwieg .
Als er sie dann anrühren wollte , wehrte sie sich .
" Nein , nein , haben Sie nur keine Angst .
Ich gehe fort , wenn Sie es verlangen .
Aber Sie sind - - sagen Sie mir , warum Sie nicht mit mir kommen wollen ? "
Sie waren währenddem wieder an den Tisch gekommen , er lehnte sich in seinem Sessel zurück .
" Sehen Sie , ich wollte ganz ruhig mit Ihnen reden , aber das kann ich jetzt nicht mehr . -
Zuerst war es natürlich nur ein Experiment , daß ich an Sie schrieb , Sie kommen ließ .
Als wir hier beisammen saßen , habe ich mich immer mehr in Sie verliebt - und jetzt will ich , daß Sie mit mir gehen .
Sie müssen . "
" Und wenn ich aber nicht will ? "
" Warum wollen Sie denn nicht ?
Ist es denn ein so unmöglicher Gedanke , mit mir zu leben ? "
" Ich könnte nur mit einem Mann leben , wenn ich ihn liebe oder wenigstens in ihn verliebt bin . "
" Lieben Sie denn den anderen ? "
" Das nicht , aber ich bin doch manchmal verliebt in ihn , und vor allem hängt er so an mir , daß ich ihm sein Leben ganz zerstören würde . "
" Gott , das ist alles so pathetisch , so echt deutsch .
Treue bis in den Tod . "
Im Grunde fand Ellen das auch und schämte sich etwas - wie ein Schuljunge , der mit seiner Unschuld geneckt wird .
" Wenn ich mich doch etwas in diesen Mann verlieben könnte " , dachte sie .
Im Gespräch war er nicht unsympathisch , aber sowie er eine Annäherung versuchte , stieß er sie wieder ab .
Und dann wurde er so geschmacklos , fing an zu schauspielern , warf sich vor ihr nieder und sprach davon , wie unglücklich er wäre , sie sollte Mitleid haben .
Und Ellen mußte dabei immer auf seine roten Pantoffeln sehen - vorhin nach Tisch hatte er sie um Erlaubnis gebeten , die Schuhe zu wechseln .
Die Pantoffeln zerstörten alle Illusion und reizten sie zum Lachen .
Dann standen sie wieder am Fenster , er zog mit einemmal einen Revolver heraus und setzte ihn an die Stirn :
" Ich erschieße mich hier vor Ihren Augen , wenn Sie nicht wollen .
Nein , zuerst Sie und dann mich . "
" Schießen Sie nur . "
Ihr wurde doch kalt , einen Augenblick - dann dachte sie an Laurenz , fuhr mit der Hand in die Tasche und umklammerte die kleine Waffe , die sie bei sich trug ; -
wenn er eine Bewegung machte , würde sie ihm zuvorkommen .
" Gott , Sie haben Mut " , sagte er , " aber Mitleid haben Sie nicht .
Sie sind das kälteste Weib , dem ich jemals begegnet bin . "
Damit steckte er den Revolver wieder zu sich .
" Nein , hier nicht - leben Sie wohl , ich gehe jetzt , und Sie sollen mich nie wiedersehen . "
Er nahm den Mantel vom Sofa , den Hut und ging hinaus .
Ellen blieb einen Augenblick mitten im Zimmer stehen , er tat ihr plötzlich so leid .
So lief sie ihm nach , er war schon unten an der Treppe .
" Nein , das will ich nicht , kommen Sie zurück . "
Er folgte ihr hinauf , dann schleuderte er Hut und Mantel in eine Ecke und stürzte auf sie zu .
" Dann hast du mich doch ein wenig lieb !
Haben Sie keine Angst , ich will nichts , was Sie mir nicht freiwillig geben . "
Wieder warf er sich vor ihr am Sofa nieder und legte den Kopf auf ihre Knie . -
Bei all seinen Theaterphrasen war auch wieder etwas Kindliches darin , das sie rührte , wie er so vor ihr lag und bat , daß sie ihn nur auf die Stirn küssen sollte .
Warum sollte sie das nicht tun ? -
Dabei sah sie wie hypnotisiert auf seine roten Schuhe .
Er wollte sie mit Gewalt an sich reißen , und sie rangen miteinander .
" Ich schreie um Hilfe , wenn Sie mich nicht loslassen . "
" Das hilft Ihnen gar nichts .
Sie gelten hier für meine Frau , - aber ich habe Ihnen mein Wort gegeben , daß ich nichts erzwingen will . "
Ellen antwortete nicht , und er zog immer andere Saiten auf .
" Mein Gott , so gehören Sie mir wenigstens für diese eine Nacht - ein paar kurze Stunden - es soll Sie nicht reuen . "
Und er nahm eine Brieftasche heraus , legte einen Schein nach dem anderen auf den Tisch .
" Glauben Sie , daß ich mich verkaufe ? "
Es stieg heiß und kalt in ihr auf , erst der Zorn und dann die Versuchung , Ja zu sagen .
Aber die Versuchung verflog , sobald sie ihn nur ansah .
" Wie Sie wollen - mein Gott , Sie sind ja so kalt , daß man selber zu Eis wird . -
Gehen Sie nur schlafen , ich bleibe hier .
Sie brauchen sich nicht einmal einzuschließen . "
Wieder tat er ihr leid , sie brachte ihm noch ein Kopfkissen aus dem Nebenzimmer , dann legte sie sich aufs Bett und hörte auf jede Bewegung - wie er sich hinlegte , herumwarf , wieder aufstand .
Schließlich klopfte er an .
" Erschrecken Sie nicht , ich kann auf dem Sofa nicht schlafen .
Wenn Sie mir erlauben , mich auf das andere Bett zu legen , verspreche ich Ihnen - "
Ellen lag fast die ganze Nacht durch wach - die Gedanken kamen und gingen , während der fremde Mensch da neben ihr lag und schlief .
War sie es wirklich selbst , die dieses sonderbare Abenteuer erlebte ? -
Sollte sie es Senn erzählen - alles , - daß sie ihn geküßt hatte , Bett an Bett mit ihm schlief und zuließ , daß er seinen Arm um sie legte ? -
Hätten das andere an ihrer Stelle getan ?
Im Halbdunkel sah sie durch die offene Tür ins andere Zimmer - der Eiskübel stand auf dem Tisch und daneben lagen noch die Scheine .
Noch war es nicht zu spät - und dann konnte sie nach München gehen .
Nein , die Treue war es nicht , die sie hielt - der Versucher von damals fiel ihr wieder ein .
- Hätte ich da wohl so lange widerstanden ? -
Dieser Mann hier hatte keinen Reiz für sie , das war die Wahrheit , ihre Sinne sagten nicht ja - sonst wäre sie mit ihm gegangen .
Und dies physische Sträuben , das sie gegen ihn empfand , war ihre Treue und ihre Kraft , - der Instinkt , der redete oder schwieg , wie es ihm gerade einfiel - weiter nichts .
Sie sah ihn an , wie er dalag und schlief .
- Was war er eigentlich für ein Mensch ?
- Wie weit mochte doch vielleicht etwas Echtes an ihm sein , oder war alles nur Komödie ?
Brutal war er nicht gewesen , hatte sein Wort gehalten , denn was hätte es ihr geholfen , wenn sie Lärm schlug .
Es wurde Morgen , ringsum von allen Kirchen läuteten die Glocken , Ellen ging ins andere Zimmer hinüber , bis er kam .
Jetzt war er unliebenswürdig und verstimmt , sah übernächtigt aus - die Unordnung rings umher - alles stieß sie ab .
Und draußen der frische helle Sommermorgen .
Sie wollte gleich zu Senn fahren , ihn wiedersehen , zur Besinnung kommen aus all dem wüssten Durcheinander , das ihr im Kopf wogte .
Da standen sie am Bahnhof :
" Leben Sie wohl , ich wünsche Ihnen viel Vergnügen für Ihr späteres Leben " - damit war er verschwunden .
Ellen hatte nicht darauf gerechnet , wieder zurückzukommen , und ihr Geld reichte nur gerade noch so weit , daß sie an Senn telegraphieren konnte , und für ein Billett vierter Klasse nach dem Ort , wo er sie treffen sollte .
Und Ernst Senn war etwas verwundert , als Ellen ausgehungert und zerschlagen ankam , aber in ausgelassenster Stimmung , und ihm nach und nach ihr ganzes Erlebnis erzählte .
Er war unzufrieden , machte ihr alle die Vorwürfe , die sie schon kannte , und Ellen hörte ungeduldig zu , ohne viel zu antworten .
Mit jedem Tage fühlte sie mehr , daß sie dies nicht weiter ertragen könne , und fand doch nicht den Mut , ein Ende zu machen .
Und jetzt wußte sie auch , daß sie in seinen Armen nie etwas von den geträumten Seligkeiten finden würde , - die Zeit war vorbei .
Sollte sie immer wieder all die verlockenden Möglichkeiten an sich vorübergehen sehen , um jedesmal dieselbe Ernüchterung zu fühlen ?
Es begann sie zu reuen , daß sie den anderen hatte gehen lassen mit allem , was er ihr bot .
Als sie dann zu ihrer Freundin Lisa zurückkam , hatte die inzwischen etwas für sie gefunden , bei Bekannten , die für den Sommer eine Gesellschafterin suchten .
Ellen sagte ja , aber in der ersten einsamen Stunde setzte sie sich hin und schrieb an Louis Michel , sie sei jetzt bereit zu kommen , er möchte ihr nur eine neue Zusammenkunft vorschlagen .
Aber es kam nie eine Antwort .
Während der kurzen Zeit , die sie noch bei Lisa blieb , kam Doktor Laurenz fast jeden Abend und holte Ellen zum Spaziergang ab .
Sie sprach jetzt offen mit ihm über Senn , und wie sie es nur von Tag zu Tag hinausschob , das letzte Wort zu sagen .
Er konnte das alles so gut verstehen , auch ihr Zögern , etwas so Jahrelanges abzubrechen , das doch eine Art fester Punkt war , während alles andere hin und herschwankte .
Eines Abends trafen sie sich vor seinem Büro , und da es regnete , gingen sie in ein nahes Weinrestaurant .
" Mein Gott , Ellen , warum strahlen Sie denn heute so ? " fragte er , als sie am Tisch saßen .
" Ja , es geschehen wirklich noch Wunder - denken Sie nur , ein Freund von Detlev will mir bis zum Herbst eine Summe verschaffen , mit der ich nach München gehen und anfangen kann zu malen .
Ich kann mich noch kaum besinnen , so unerwartet ist das gekommen . "
Er hob das Glas und sie stießen an .
" Glück auf , Ellen " , sagte Laurenz und sah sie froh an .
" Wenn Sie wüßten , wie mich das freut .
Es kränkt mich schon so , daß ich selbst nicht in der Lage bin , Ihnen zu helfen . "
Ellen war zerstreut , sie konnte heute abend nichts anderes denken , als daß ihr brennendster Wunsch in Erfüllung gehen sollte .
" Ich fand es auch zu schrecklich , daß Sie in Stellung gehen wollten . "
" Ja , vorläufig muß ich das wohl noch " , sagte Ellen , " aber nur für die paar Monate , bis ich das Geld bekomme .
Es ist so viel , daß ich ungefähr ein halbes Jahr davon leben kann ; und um das Weitere ist mir nicht bange .
Wenn ich nur erst in München bin .
Ob Sie sich denken können , Reinhard , was für mich davon abhängt ?
Ich könnte alles einschlagen und niedertreten , wenn ich nur malen darf . "
" Ich glaube , dazu neigen Sie überhaupt , wenn sich Ihnen etwas entgegenstellt . "
" Ja , sehen Sie , es ist eine ganz dumme Redensart :
man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand .
Ich schwöre darauf , daß man doch durchkann , und wenn ich wüßte , hinter der Wand ist das , was ich haben will , würde ich immer dagegen rennen .
Entweder komme ich durch , oder mein Kopf geht kaputt .
Darauf kommt es nicht an . "
Reinhard Laurenz lachte , aber im Grunde kam es ihm ernst vor .
In Ellen sah er immer noch ein halbes Kind , von dem man nicht weiß , wie es sich entwickeln wird , und manchmal wachte in ihm der Wunsch auf , ihr Leben in die Hand zu nehmen und es ihr zu gestalten .
Spät abends brachte er sie nach Hause und sie küßten sich zum Abschied vor der Tür .
" Vergiß nicht , daß ich dein Freund bin " , sagte er leise ; " und wenn - .
Ich möchte jetzt nicht noch mehr Verwirrung in Ihr Leben bringen , Ellen , aber wir wollen uns wiedersehen . "
" Papa liegt im Sterben - Detlev . "
Ellen war kaum acht Tage in ihrer neuen Stellung und lag frühmorgens noch im Bett , als man ihr das Telegramm brachte .
- Alle anderen Gedanken loschen aus wie von einem dumpfen , schweren Schlag , sie starrte nur auf das Papier hin , und erst als jemand an die Tür klopfte , begriff sie : ihr Vater lag im Sterben , und sie war weit fort .
Gegen Mittag saß sie in der Bahn , um heimzufahren .
Alles , was zwischen ihr und den Jahren lag , schien ihr wie weggewischt und vergessen , und das Heimweh hämmerte in ihr wie schmerzende Herzschläge .
Es wurde Nachmittag , dann sank die Julisonne langsam nieder , und der Abend kam , die Nacht .
Ellen lehnte die Stirn gegen die kühlen Fensterscheiben : ob er noch leben würde , wenn sie kam ?
Nun war es zehn Uhr , noch eine halbe Stunde , sie kannte jede kleine Station , ihr war , als ob ein innerer Krampf sich löste und die Wirklichkeit wieder zurückkam in langsamen Wellen .
Der Zug fuhr in die Halle - er war fast leer , nur wenige Menschen stiegen aus .
Ellen sah ihren jüngsten Bruder auf dem Perron stehen neben Annita Senn - die beiden wußten , daß sie kam .
Dann kam jemand auf sie zu , ein breitschulteriger Mann mit dunklem Bart .
Es war ein Freund ihrer Eltern - Pastor Bern - den sie früher immer den Hauskaplan genannt hatten .
Er vertrat Detlev den Weg mit einer abwehrenden Handbewegung :
" Hier habe ich das erste Wort zu reden , lassen Sie mich mit Ihrer Schwester allein . "
Ellen war ganz verwirrt .
" Wie geht es Papa ? " fragte sie rasch .
" Ihr Vater lebt noch , aber es ist keine Hoffnung mehr - und ich bin hier , um Sie zu fragen , weshalb Sie gekommen sind ? "
" Weil ich meinen Vater noch einmal sehen will . "
" Ich komme im Auftrag Ihrer Familie , die Ihnen sagen läßt , daß Sie hier nichts mehr zu suchen haben . "
Ellen faßte sich mühsam :
" Dann will ich zu meiner Mutter gehen und mit ihr sprechen . "
" Das werden Sie nicht tun - Ihre Mutter will Sie nicht sehen .
Sie haben genug Schmerz und Schande über Ihre Eltern gebracht , treiben Sie es nicht noch weiter .
Oder wollen Sie auch noch das Totenbett Ihres Vaters und den Schmerz der anderen entweihen ? "
" Weiß er , daß ich hier bin ? "
" Nein , und er wird es auch nicht erfahren .
Man ist ängstlich bemüht , ihm jede Aufregung fern zu halten , und verlangt deshalb von Ihnen , daß Sie gleich wieder abreisen .
Es geht heute noch ein Nachtzug nach Hamburg . "
" Nein , ich bleibe hier , solange mein Vater noch lebt , und wenn er mich rufen läßt - "
" Ich wiederhole Ihnen , Sie dürfen das Haus Ihrer Mutter nicht betreten . "
Der Geistliche erhob mahnend die Hand .
" Und ich will Ihnen nur noch das eine sagen : Sie werden Ihren Vater nicht mehr sehen - und wenn ich mich selbst vor die Tür stellen müßte . "
Ellen wandte ihm den Rücken und ging auf die beiden zu , die langsam auf und ab wanderten ; dann nahm Annita Senn sie mit in ihr Haus .
Die ersten Tage kam Detlev und brachte ihr Nachricht ; der Vater lag im Krankenhaus , und sie waren alle von Morgen bis Abend dort .
Dann blieb er aus .
Als er bis Nachmittag nicht gekommen war , suchte Ellen den Arzt auf , der ihren Vater behandelte und den sie von früher her kannte .
" Sie sollten doch mit Ihrer Mutter sprechen " , sagte dieser .
" Es ist wohl kaum zu hoffen , daß er den Abend überlebt . "
Ellen ging durch die ganze Stadt und weit hinaus bis in den Wald , da lag sie eine Stunde nach der anderen im Gras .
- Nun würde er sterben und sie ihn nie wiedersehen , und was mochte er gelitten haben um sie !
Ihr ganzes Zuhauseleben zog wieder an ihr vorüber - was war es anderes gewesen , als Feindseligkeit und Erbitterung .
Man war hart verfahren mit ihrer Jugend , die nach Freude und Sonne verlangte .
Aber sie wußte doch auch , daß ihr Vater viel Liebe und Weichheit in sich trug , bei aller Schroffheit gegen das , was er nicht anerkennen und nicht dulden wollte .
Eine namenlose Sehnsucht erwachte in ihr nach all der Liebe , die sie einander nie gegeben hatten .
Hätte sie ihm das nur einmal noch sagen dürfen , aber er wußte nicht , daß sie hier war .
Und sie dachte an ihre Mutter - war sie jemals eine Mutter gewesen , diese kalte , fremde Frau , die ihr sagen ließ : gehe , woher du gekommen bist ?
Als Ellen gegen Abend wieder zurückkam , wartete ihr älterer Bruder auf sie : der Vater war gestorben , und nun durfte sie kommen , um ihn noch einmal zu sehen .
Wortlos gingen sie nebeneinander her bis zu dem großen , fahlgelben Gebäude und die stille Treppe hinauf .
Erik ließ sie allein im Zimmer - da drüben auf dem weißen Bett lag er kalt und starr - eingefallen und verändert - .
Das war nicht mehr ihr Vater , es war etwas Furchtbares , Unheimliches , das ihr einen eisigen Schauer nach dem anderen durch die Seele trieb .
Sie kniete vor ihm nieder , versuchte ihn anzusehen , etwas von ihm wiederzufinden - immer wieder stieg das eine Bild vor ihr auf , wie sie ihm zum letztenmal gegenübergestanden hatte im Kampf um ihre Jugend und ihre Freiheit .
Jetzt hatte sie gesiegt , und er lag tot . -
Allmählich kam ein hilfloser Schmerz über sie , sie legte den Kopf auf sein Bett und weinte .
Dann stand der Bruder plötzlich hinter ihr , und der Geistliche war auch wieder da und redete mit schriller Stimme von Vergebung und von dem Herzen , das da ausgeschlagen hatte .
Erik zog sie aus dem Zimmer hinaus und begleitete sie durch die stillen dunklen Straßen zurück .
Am nächsten Abend stand Ellen zu später Stunde vor dem Gartengitter ihres Elternhauses , es hatte sie hergetrieben , ob sie wollte oder nicht , noch einmal Abschied zu nehmen von den letzten Heimatgedanken .
Durch die offenen Fenster , vor denen leichte , weiße Vorhänge hin und her wehten , sah sie alle bei der Lampe sitzen und hörte die Stimmen .
" Wenn Sie umkehren in aufrichtiger Reue , sich willig in alles ergeben , was zu Ihrem Heil beschlossen wird - dann , aber nur dann wird Ihre Mutter Sie wieder als ihr Kind aufnehmen " , so hatte der Hauskaplan heute noch einmal zu ihr gesprochen .
- Wie schneidender Hohn kam es ihr vor , daß diese Mutter jetzt da drinnen unter ihren Kindern saß , mit ihrer gewohnten Stimme sprach - hier und da klang ein Wort zu ihr herüber .
Und sie stand hier draußen und konnte nicht umkehren . -
Aber die ganze Welt schien ihr so weit und leer und tot - wo gehörte sie denn hin , wohin würde sie treiben ?
Jetzt standen sie da drinnen auf , Stühle wurden gerückt , die Stimmen gingen durcheinander , dann wurde es dunkel , die Fenster verloschen .
Ellen stand immer noch unbeweglich und sah starr darauf hin .
Nun ging ein Lichtschein durch die oberen Zimmer und allmählich erlosch auch der .
Im Hof schlug der Hund an , als ein paar Menschen vorüberkamen - ihr alter Nero .
Langsam zog sie die Hände vom Gitter zurück , sie waren wie angefroren an dem feuchten , kalten Eisen , und schauerte zusammen in der Nachtkühle und der leeren Straßeneinsamkeit . -
Tags darauf kam Ellen unerwartet und unangemeldet bei ihrer Freundin Lisa an , und die erschrak beinahe über ihre völlige Teilnahmlosigkeit .
Ellen lag tagelang oben in ihrem Zimmer und schlief , sie dachte nicht mehr daran , in ihre Stellung zurückzukehren , oder was sonst geschehen sollte .
Wenn Briefe kamen , ließ sie dieselben ungelesen liegen , ihr war , als ob alles in das Grab ihres Vaters und ihrer Heimat versunken wäre .
Als Reinhard Laurenz dann hörte , daß sie wieder da war , kam er gleich .
Fast mit Gewalt zog er sie mit hinaus in die Sommersonne , auf weite Spaziergänge und brachte sie allmählich wieder zum Erwachen .
Immer wieder sprach er ihr von der Zukunft , die so Licht und froh für sie werden sollte , daß alle dunklen Schatten weichen mußten .
Sie sollte sich wieder auf ihre Jugend und ihre Ziele besinnen , sich auflehnen gegen den Schmerz , ihn abschütteln und nur an den neuen Morgen denken , der vor ihr lag .
Und er ließ nicht nach , bis sie wieder froh wurde .
Von sich selbst sprach er nicht , aber Ellen wußte seine Liebe wohl , es war nur noch ein leises Zögern in ihr und etwas wie Angst vor jeder innerlichen Erschütterung .
An einem Sonntagnachmittag waren sie beide mit Lisa hinausgefahren , um die Rennen anzusehen .
Das Menschengewühl unter der brennenden Sonne , der Wein und das aufregende Spiel da drunten auf der weiten Sandfläche , wo die dunklen , schimmernden Tiere dahinrasten , brachte sie in seltsame Stimmung - in eine Art von stürmischer Erwartung , als ob jeden Augenblick etwas hereinbrechen , über alles hinfegen könnte .
Auf dem Programmzettel fanden sie heraus , daß eins von den Rennpferden Ellen hieß .
Darüber lachten sie mit Lisa und wetteten untereinander ; aber als die Freundin wieder ganz im Zuschauen versunken war und sich weit vorbog , um besser zu folgen , gingen ernste Blicke zwischen den beiden anderen hin und her .
Reinhard stand hinter Ellens Platz , sie sprachen leise zueinander , fast nur indem sie die Lippen bewegten , und mit den Augen .
Er fühlte all das Schwanken in ihr , seit langem schon :
" Zu mir kommen , Ellen , zu mir , - wir gehören zusammen . "
Dann mußten sie wieder laut sprechen - nun kam das Pferd , das Ellens Namen trug , ins Rennen - und Lisa drehte sich um :
" Was flüstert ihr denn ? "
" Wir machten eine Privatwette ab , ob » Ellen « siegen wird . "
Lisa versank wieder in aufmerksames Zuschauen , und über die beiden kam plötzlich ein gewitterschwüler Übermut .
" Es soll gelten " , sagte Ellen leise .
" Sie wissen doch , daß ich abergläubisch bin , wenn Ellen siegt - - "
" Dann geben Sie mir die Hand , und wir wollen sehen , was unser Schicksal für Sprünge macht . "
" Wer soll Sprünge machen ? " fragte Lisa zerstreut , die zufällig das Wort aufgefangen hatte und etwas in Angst vor Ellens plötzlichen Extravaganzen lebte .
Aber dann merkte sie es nicht einmal , daß keine Antwort kam - denn eben war eins von den Pferden in die Knie gestürzt .
Die anderen lachten und sahen sich verwirrt an , darunter zitterte schwerer Ernst .
Ellen hatte ihre Hand auf die Banklehne gelegt und Reinhard behielt sie fest in seiner , während sie jetzt wie gebannt das Rennen verfolgten und das Schicksalspferd ein Hindernis nach dem anderen nahm , einen Augenblick zurückblieb , sich bäumte , zauderte und dann wieder allen vorankam .
Dann zitterten sie beide , als die " Ellen " Siegerin blieb , eine Welle von murmelnder Aufregung durch die Zuschauer lief und Lisa sich atemlos zurücklehnte .
- Und nun folgte eine Zeit , wo sie nur von ihrer Liebe und von hellem Sommerjubel wußten , nur daran dachten , daß das Leben ihnen jetzt zusammen gehören sollte wie eine endlose Reihe von schimmernden Morgen ohne dumpfe Mittagsstunden und wehmütiges Abenddämmern .
Ellen konnte es manchmal kaum begreifen , daß sie so rasch alles Schwere , was hinter ihr lag , überwinden konnte , aber es schien ihr , als wäre jahrelanges Vergessen dazwischen .
Auf Reinhards Wunsch sollte sie jetzt noch eine Zeitlang an die See gehen , damit sie in seiner Nähe bliebe .
" Ich kann dich doch nicht hergeben " , sagte er .
" Nachher in München verschlingt dich die Arbeit , und wir sehen uns lange nicht wieder .
So kannst du dich auch noch einmal ganz ausruhen . "
Sie lagen zusammen im Wald , die Sonne flimmerte durch das helle Unterholz , die Stadt und die Menschen schienen so weit fort .
" Ja , mit vollen Kräften möchte ich auch an die Arbeit kommen , wenn ich endlich komme .
Was für Jahre habe ich schon verloren . "
" Hast du jetzt an Senn geschrieben ? " fragte Reinhard , und sie wurde etwas verlegen .
" Nein , aber in den nächsten Tagen - sowie ich dort draußen bin . "
" Es muß geschehen - Ellen , manchmal begreife ich dich nicht recht .
Er muß doch erfahren , daß du ihm nicht mehr gehörst . "
" Ach - das weiß er schon lange - er hat die ganze Zeit nur hier und da ein paar flüchtige Worte von mir - und es ist so schwer . "
" Was ist schwer ? "
" So über einen Menschen hinwegzugehen .
Ihm plötzlich sagen : Alles ist aus .
Das quält mich dann wieder , und ich möchte jetzt an nichts Quälendes denken . "
Reinhard richtete sich auf , und sie sah jetzt , daß er ernstlich unzufrieden war :
" Nein , Ellen , darin mußt du noch anders werden , endlich einmal lernen , klar gegen dich selbst zu sein .
Du hast diese sonderbare Neigung , alles Unangenehme von dir fortzuschicken , bis es von selbst über dich kommt , und dann würdest du am liebsten noch fortlaufen , um es los zu sein . "
" Das kommt von meinem ganzen bisherigen Leben .
Denke dir einmal :
wenn man durch Jahre immer in der Erwartung lebt :
was wird morgen geschehen ?
Ich fahre heute noch zusammen , wenn die Post kommt oder die Haustür klingelt . "
" Armes Kind - ich weiß es ja auch .
Und es soll meine Hauptsorge sein , daß dein Leben jetzt wirklich einmal aufblüht .
Aber über dies Letzte mußt du jetzt noch weg - die letzten Hindernisse nehmen , Ellen - . "
Dann sprach er davon , daß sie doch heiraten wollten , über kurz oder lang , denn wann es sein konnte , ließ sich nach seiner unsicheren Praxis noch nicht sagen .
Ellen wurde etwas unruhig dabei , ihr war , als schöbe sich wieder eine graue Wolke über ihren hellen Himmel hin .
" Ach , Reinhard , warum müssen wir denn gleich wieder an Verloben und Heiraten denken ?
Ich habe einen förmlichen Schrecken vor dem bloßen Wort .
Und dann muß ich auch jetzt erst einmal ganz ins Blaue hineinleben - ich muß wenigstens vier , fünf Jahre ganz für mein Studium haben , das geht allem anderen vor . "
" Auch mir und unserem Glück ? "
" Das darf dir nicht weh tun , und du darfst es nicht verkehrt verstehen .
Wenn ich in der Kunst nicht zu dem komme , was ich will , kann ich dich auch nicht glücklich machen und nicht glücklich sein . "
" Ellen , du sollst ja deine Kunst haben und alles , was ich dir schaffen kann .
Und ich werde nie verlangen , daß du sie aufgibst , um eine gute Hausfrau zu werden .
Siehst du , ich habe mir das alles überlegt - vor dem nächsten Frühjahr können wir nicht an Heiraten denken , ich fasse es auch nicht so auf , daß man nun festgeschmiedet ist .
Ich will damit zufrieden sein , wenn du immer ein halbes Jahr bei mir bist und die übrige Zeit dich in Berlin oder München weiterbildest .
- Wie weit denkst du überhaupt mit deinen sechshundert Mark zu reichen , in diesem Jahr werde ich dir so gut wie gar nicht helfen können . "
" Ach , das findet sich alles , wenn ich nur erst dort bindu bist so gut , Reinhard " , - ihr war immer noch etwas beklommen - " aber jetzt wollen wir das noch erst Mal ruhen lassen , nicht wahr ? "
Als Ellen in dem kleinen Badeort ankam , regnete es in Strömen .
Nachmittags kam ein Telegramm von Senn , das Lisa ihr nachgeschickt hatte : " Warum so lange keine Nachricht , bin in Unruhe ? "
So setzte sie sich in der niedrigen Bauernstube an den Tisch und schrieb einen langen Brief an ihn , während schwere Tropfen an die Scheiben schlugen und die Kühe draußen in den Wiesen dumpf gegen den Himmel brüllten .
Sie wurde traurig und nachdenklich dabei - wieder etwas , das sich von ihr loslöste , und es schien ihr eine ewige Wiederholung , daß sie Liebe wollte und Liebe nahm und im Grunde doch immer nur an sich selbst dachte - geliebt sein wollte , aber ohne etwas dafür hinzugeben .
Nun lag auch das hinter ihr , das letzte , was sie an die Vergangenheit band .
Jeden Sonntag fuhr sie in die Stadt zu Reinhard und wohnte jedesmal in demselben Hotel , das seiner Wohnung gegenüberlag .
Die Leute kannten sie schon und lächelten , wenn Ellen mit ernster Miene ein Balkonzimmer nach Norden verlangte .
Reinhart holte sie von der Bahn mit seinem übermütigsten Gesicht , und sie drängten sich zusammen durch das sonntägliche Gewühl , um in den Wald hinauszukommen .
Draußen in ihrem Badeort lebte Ellen anfangs ganz für sich allein .
Ihr war , als ob das Leben jetzt Flügel bekommen hätte , die sie hintrugen , wo es schön und sonnig war .
Malen , den ganzen Tag malen , oder ein Boot nehmen , stundenlang auf den Wellen umhertreiben , ohne sich um Zeit und Stunde zu kümmern , mit dem wundervollen Gefühl , daß kein Mensch auf der weiten Welt ihr mehr dreinredete .
An ihrem Mittagstisch waren meist langweilige Ehepaare und einzelne Damen , dann kam noch ein älterer , kränklicher Herr dazu , mit dem Ellen bald Freundschaft schloß .
Er wußte die ganze Gesellschaft durch seine bissigen Bemerkungen und schlimmen Witze in Spannung zu halten - und sah aus wie ein kranker Teufel mit dem spitzen , grauen Bart und den verglasten , fahlen Augen .
Aber Ellen konnte ihn gut leiden und stimmte zum Entsetzen der übrigen in seinen Ton ein , sie genoß es wie einen Triumph , wenn die ganze Tafelrunde sich still oder laut empörte .
Er fragte die jungen Frauen , wie viele Kinder sie hätten , schlug dann die Augen zum Himmel und legte seine Hand auf die Ellens .
" Haben Sie gehört ? -
Fünf Kinder ! -
Sehen Sie , ich wollte Ihnen schon einen Antrag machen , aber so weit brächten wir es nimmer - ich habe höchstens noch zwei Jahre zu leben . "
" Nein , dieser Zynismus geht doch zu weit " , sagte eine behäbige , blonde Witwe , nachdem er fort war .
" Sie sind noch so jung und können das nicht so verstehen , aber auf solche Scherze sollten Sie wirklich nicht eingehen . "
Und nun erhoben sie alle ihre warnenden Stimmen , sie fanden es schon lange befremdlich , daß Ellen so allein stand , und hätten sie gerne etwas unter ihre schützenden Flügel genommen .
Bald darauf fehlte er bei Tisch .
" Wo ist Herr Markus ? " fragte Ellen .
" Krank - besuchen Sie ihn doch ! " klang es im Chor in einer Tonart , die deutlich sagte :
" Sie werden doch nicht - - "
" Ja , das ist wahr , wo wohnt er denn ? "
Gleich nach Tisch ging sie hin , er lag im Bett , blaß wie die Wand , mit schrecklich verdrehten Augäpfeln .
Von nun an kam sie jeden Tag , brachte ihm Blumen , räumte sein Zimmer auf , das in arger Unordnung war , und ließ sich seine Leiden erzählen .
" Sie sind ein gutes Kind " , sagte er , " aber es bringt kein Glück , wenn man so weichherzig ist .
Was haben Sie davon , wenn Sie einen alten Krüppel besuchen und sich ins Gerede bringen .
Ja , wenn es ein junger Kerl wäre . "
Aber sie verstand sich so gut mit dem kranken Teufel und liebte diese Stunden , wo sie an seinem Bett saß und er über die verdammten Weiber schimpfte und ihr immer wieder die Schwindsucht weissagte , weil sie hustete .
" Aber lachen Sie nur , lachen Sie nur , es vergeht früh genug . "
Inzwischen lernte Ellen andere Menschen kennen .
- Sie ruderte eines Abends in ihrem kleinen weißen Boot aus dem Hafen .
Eben vor ihr war eine größere Segelbarke hinausgefahren , und nun erschien jemand am Kai , der sich verspätet hatte , rief sie an und bat , sie möchte ihn bis zum Segelboot mitnehmen .
Der Wind war schwach , und sie hatten es bald erreicht .
Ellen kannte niemand von der Gesellschaft , aber es schien ein lustiges Volk zu sein .
Alles lachte und lärmte durcheinander und Weinflaschen gingen von Hand zu Hand .
Ihr Begleiter ließ ihr keine Ruhe , bis sie ihr Boot festmachte und mit einstieg .
Aber er schien nicht mehr ganz sicher auf den Füßen zu sein , und beinahe wären sie zusammen ins Wasser gefallen , gaben sich aber noch zur rechten Zeit einen Ruck und stürzten nun über ein paar Schultern und Köpfe weg mitten ins Schiff hinein .
Da lagen sie beide auf den Knien und sahen sich verwirrt an , während die anderen ringsum in die Höhe fuhren , aufschrien oder lachten .
Ein paar Herren sprangen auf , um Ellen zu helfen :
" Sehr liebenswürdig von Ihnen , uns so zu überraschen , darf man fragen , wo Sie so gut springen gelernt haben ?
Das war ja schon mehr geflogen . "
" Von dem da " , sagte Ellen , während sie vorsichtig aufstand , denn der Boden war voller Glasscherben .
" Leonhard " , stellte er sich jetzt rasch vor , immer noch auf den Knien , " ich bitte tausendmal um Verzeihung - aber schön war es doch " , und mit einem andächtigen Blick küßte er ihr die Hand .
Die übrigen hatten sich inzwischen von ihrem Schrecken erholt und stimmten ein lautes Jubelgeschrei an :
" Sehr schön - bravo Leon !
Leon soll leben - die junge Dame soll leben . - Festhalten , sonst springt sie auf der anderen Seite wieder hinaus .
- Wein her - wo ist der Wein ? "
Sie bekamen jetzt einen Platz auf der Bank , und alle stießen mit ihnen an .
" Habe ich es vielleicht nicht gut gemacht ? " rief Leonhard in den Lärm hinein .
" Wir fahnden nämlich schon eine ganze Zeit auf Sie " , wandte er sich zu Ellen , " die alten Hexen aus Ihrer Pension haben uns allerhand erzählt .
- Sie sind hier nur noch » die junge Dame mit dem Herrn Markus « . "
Ellen sah ihn jetzt etwas genauer an - er hatte rötlich blondes Haar , das dicht und wirr um den Kopf stand , und redete alles mit einer Heiterkeit , der nicht zu widerstehen war .
Es sah aus , als lachte der ganze Mensch bei jeder Bewegung .
Und diese strahlende Lebensfreude schien sich seiner Umgebung mitzuteilen , sie lachten alle mit , wenn er anfing zu sprechen .
Er mußte ihr nun erklären , wer die anderen waren .
Ein bunt zusammengewürfelter Kreis war es , der sich hier oben an der See gefunden hatte .
Er selbst , Leonhard , kam vom Rhein her mit zwei Freunden , von denen einer kurzweg als " der Regierungsrat " vorgestellt wurde , der zweite mit dem fliegenden roten Schlips war Opernsänger , und man nannte ihn Harry .
Dann gab es noch ein internationales Ehepaar , das unter sich französisch sprach , mit zwei Töchtern , eine stellenlose Gesellschafterin und ein paar junge Leute , die nicht weiter in Betracht kamen .
Im ganzen wußte man nicht viel voneinander , man vergnügte sich nur zusammen und - damit schloß er seinen Vortrag - Ellen sollte von nun an mittun , da sie jetzt glücklich eingefangen war .
Und das tat sie denn auch .
Das Gelage wurde immer lauter und fröhlicher , je weiter sie auf die See hinauskamen , und anfangs achtete niemand darauf , daß der Himmel sich bezog und leise Donner in der Ferne rollten .
Allmählich ballten die Wolken sich immer dunkler zusammen - die Damen wurden ängstlich und ließen den Schiffer umwenden .
Aber der Wind ließ nach und es ging sehr langsam .
" Wenn Sie jetzt in Ihrem kleinen Ruderboot allein hier draußen wären " , sagte Ellens Nachbar .
" O , ich käme rascher damit vorwärts wie so . "
" Aber so weit hinaus können Sie mit dem Dings doch nicht rudern . "
Das stachelte ihren Ehrgeiz .
" Wollen wir wetten , daß ich eher daheim bin wie Sie ? "
Und ehe er sie zurückhalten konnte , war sie schon beim Steuer und kletterte in ihr Boot hinab .
Wieder gab es Tumult .
" Sie ist des Teufels - halte sie , Leon - fange sie ! "
Aber Leon kam zu spät .
Das Gewitter zog rasch herauf und einzelne heftige Windstöße fuhren in die Segel .
Ellen blieb eine Zeitlang neben der Barke , die dann plötzlich rasch vorwärtstrieb .
Man winkte und rief , aber sie konnte nichts mehr verstehen , denn das Unwetter brach jetzt los .
Schwere Donnerschläge rollten über den Himmel und schienen unten im Wasser zu widerhallen .
Dann folgten sie sich immer schneller , und sie konnte kaum mehr sehen , so blendeten die Blitze , es kam ihr vor , als ob sie rechts und links neben ihr in die Wellen hineinzuckten und wieder aufsprühten .
Dann klatschte der Regen nieder in langen hellen Streifen , in einem betäubenden Gewirr von Ringen und Tropfen .
Das Boot schaukelte vorwärts , rückwärts , legte sich auf die Seite und tanzte wie unter einer Peitsche .
Ellen verlor ein Ruder , fing es glücklich wieder auf , dabei flog der eine Ruderpflock heraus , und nun rutschte es bei jedem Schlag hin und her .
Endlich war sie bei den Büschen angekommen , die am Ausgang des Hafens das Fahrwasser markierten .
Das war eine Strecke , die sie sonst in fünf Minuten zurücklegte , aber jetzt brauchte es fast eine halbe Stunde , bis sie endlich triefend im Hafen ankam - das Boot war halb voll Wasser - die ganze Segelgesellschaft stand unter ihren Schirmen am Ufer und daneben der Fischer , dem das Boot gehörte .
Sie empfingen Ellen mit großem Lärm und zogen sie mit in die Strandhalle , um einen Grog zu trinken .
Leonhard rückte ganz nah an sie heran und schüttelte den Kopf :
" Furchtbar toll -
Sie sind furchtbar toll . -
Sagen Sie Mal , was fällt Ihnen eigentlich ein ? "
Sie war noch ganz berauscht von der wilden Fahrt und von der Gefahr , ihre Augen leuchteten :
" Aber schön war es doch !
Am liebsten möchte ich gleich noch einmal hinaus . "
" Kind , Kind " , sagte er , " spielen Sie nicht so mit Ihrem Leben .
Wir haben Sie schon oft gesehen , wenn Sie sich auf dem Wasser herumtrieben und die Meergreise von Ihrem Mittagstisch am Ufer die Hände rangen .
- Wer sind Sie denn eigentlich ? "
Da legte plötzlich jemand die Hand auf ihre Schulter und Markus stand hinter ihr , schweigend stellte er ein Glas Kognak vor sie hin und sah zu , wie sie es austrank .
" O unglückselige Ellen " , sagte er dann mit seiner schneidenden Stimme .
" Sehen Sie , junger Mann - die Schwindsucht hat sie schon im Leibe und dabei säuft sie wie ein alter Seemann .
Nein , nein , ich würde Sie doch nicht heiraten , obgleich Sie mich kompromittiert haben . "
" Wie schade " , sagte Ellen , " ich gleich . "
Und nun legte er feierlich die eine Hand aufs Herz und reichte ihr die andere : " Heirate mich und sei mein Weib , - damit wie du ich froh und glücklich sei . "
Ellen schlug ein , der lärmende Chor rief Bravo und wollte Markus mit an den Tisch ziehen , aber er schlug seinen Mantel um sich und wandelte stumm hinaus .
" Also Ellen " , sagte Leon wie in tiefem Nachdenken .
" Ellen - die furchtbar tolle Ellen . "
Von nun an war Ellen tagtäglich mit ihren neuen Bekannten zusammen .
Kam sie morgens an den Strand hinunter , so sah sie schon von ferne Leon mit beiden Armen winken und hörte seine jubelnde Stimme :
" Da kommt sie , da kommt meine tolle Ellen " , und dann schwenkte er sie im Kreise rundum , bis sie um Gnade bat und beide sich außer Atem ins Gras warfen .
Für jeden Tag wußte er neue Unternehmungen , sie ruderten und segelten , wanderten zur Ebbezeit weit auf den festen , grauen Schlamm hinaus , spannten des Strandwirts Ackergäule vor einen klappernden alten Leiterwagen , fuhren von Dorf zu Dorf und durchschwärmten nach der Rückkehr die halben Nächte im Freien vor den Gasthäusern .
Es war ein ununterbrochenes Fest ; wo sie hinkamen , gab es Leben und übermütige Lust .
Ellen gab sich diesem stürmichen Sommerleben in gedankenloser Freude hin .
Bald war ja ihre Zeit sowieso abgelaufen - Reinhard war zu seinen Eltern gereist , und wenn er zurückkam , wollten sie noch ein paar Tage zusammensein , dann kam München .
Es lag alles so klar und froh vor ihr , sie schrieb glückselige Briefe an Reinhard und erzählte ihm von ihren Freunden und den tollen Fahrten .
Der Tag ihres Scheidens rückte heran , und es kam hier und da ein wehmütiger Ton in ihr Beisammensein mit dem frohen Gefährten .
" Kind , Kind , nun soll ich dich hergeben " , sagte Leon , " und du gehst ebenso lachend fort , wie du gekommen bist . "
Dann wurde sie wohl einen Augenblick ganz still , aber gleich darauf faßte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn .
" Nein , ich möchte gerne noch bei dir bleiben , aber ich freue mich doch auch so darauf , ihn wiederzusehen .
Kannst du dir nicht denken , wie ich mich freue ? "
Er nahm ihre Hand , mit der anderen fuhr sie ihm langsam durch die Haare .
" Leon , ich darf mich nicht in dich verlieben , das wäre wirklich schlimm . "
" Auch nicht für einen Tag , wenn du doch so bald schon fortgehst ?
Kind , eigentlich waren wir doch alle beide verliebt , diese ganze Zeit , oder glaubst du nicht ? -
Und das Heute gehört uns noch , laß morgen morgen sein . "
Zu guter Letzt waren sie noch einmal alle zusammen nach einer von den kleinen weißen Sandinseln hinausgesegelt .
Es sollte eigentlich eine Seehundsjagd sein , man hatte Flinten mitgenommen und lag den ganzen Nachmittag hinter den großen Strandsteinen auf der Lauer .
Aber die meisten von ihnen hatten noch nie einen Seehund gesehen , und kam eins der runden schwerfälligen Tiere zum Vorschein , dann brachen sie in ein so schallendes Gelächter aus , daß es gleich wie der den Rückzug antrat .
Keiner dachte auch nur daran , ihm einen Schuß nachzuschicken .
Aber das war so vergnüglich , daß der Schiffer mehrfach zur Abfahrt mahnen mußte , und als sie schließlich aufbrachen , war die Flut schon so weit vorgerückt , daß man das Boot nur watend erreichen konnte .
Lachend , schwankend und durchnäßt kamen sie endlich an Bord .
Ellen und Leon wanderten , bis an die Brust im Wasser , noch dreimal um das Boot herum - sie wollten von einem alten Seemann erfahren haben , das sei ein sicheres Mittel gegen alle Seeunfälle .
Dann sprangen sie wie bei Ellens erstem Auftreten mitten in das Schiff hinein , während das Wasser von ihren Kleidern niederrann .
" Ihr beiden " , sagte der Regierungsrat und wiegte seinen schon etwas grauen Kopf hin und her , " was schaut ihr euch denn so an ?
Gebt euch doch lieber einen Kuß . -
Was soll nur aus dir werden , Leon , wenn du sie nicht mehr hast ? "
" Uns hat Gott geschieden " , sagten sie einstimmig in feierlichem Ton und küßten sich vor aller Augen .
Während der langen Heimfahrt senkte sich allmählich eine matte Stimmung über die sonst so unermüdlich frohe Gesellschaft .
Einer nach dem anderen suchte sich einen bequemen Platz auf der Bank oder am Boden und schlief ein . -
Der Schiffer legte die langen Ruder aus , um dem schwachen Wind nachzuhelfen - bei jedem Schlag leuchteten die durchschnittenen Wellen in grünlichem Schimmer auf , und von den Rudern rann es wie flüssiges , vielfarbiges Silber .
Ellen saß mit Leon beim Steuer , er hatte sie in einen großen Mantel gewickelt und hielt sie an sich gedrückt wie ein kleines Kind .
Sie sahen dem Meerleuchten zu und sprachen leise miteinander .
Erst nach Mitternacht kamen sie heim , einige zogen sich gleich zurück , um zu schlafen , die anderen gingen durchfroren und in ihren nassen Kleidern zur Strandhalle .
Sie alarmierten das ganze Haus , gingen selbst in die Küche , wirtschafteten am Schenktisch herum und deckten im großen Saal den Tisch .
Wer wollte wohl an Schlafen denken , heute mußte noch bis zum Morgen gefeiert , Kälte und Müdigkeit weggejubelt werden .
Und sie feierten und jubelten , und die Wellen der Freude gingen immer höher .
Nach Tisch setzte Harry , der Opernsänger , sich ans Klavier und raste wilde Tanzmelodien herunter , die anderen tanzten um die Tische , durch den Saal und zur Tür hinaus durch die Straßen .
Mit gefüllten Gläsern klopften sie an die Fenster derer , die schon zur Ruhe gegangen waren und ließen nicht nach , bis sie wieder herauskamen und mittaten , meist in wunderlichen Kostümen , Schlafröcken oder rasch übergeworfenen Mänteln .
Hier und da öffneten sich auch noch andere Fenster , und scheltende Stimmen wurden laut , denn in dieser Nacht kam keiner von den Badegästen zu einer ruhigen Stunde Schlaf .
Zwischendurch fanden Ellen und Leon sich auf der Bank vor dem Hause zusammen .
" Küsse mich , Kind " , bat er immer wieder , " nur heute , nur heute noch , - laß morgen morgen sein . "
Und sie sagte nicht mehr nein .
" Liebst du ihn denn wirklich so ? " fragte er . Ja ; und sie glaubte , daß sie sehr glücklich mit ihm sein würde .
" Ach , wie können wohl zwei Menschen auf die Länge glücklich miteinander sein ! "
Ellen wußte , daß er verheiratet war , und hörte nachdenklich zu , wie er darüber sprach - auch dieser lachende Mund kannte das Lied von der unausbleiblichen Enttäuschung und Ernüchterung .
Und sie dachte sich noch die Liebe wie einen immerwährenden Rausch - nur mußte es dann wirklich die eine , große Liebe sein . -
Aber das hatte sie ja schon jedesmal geglaubt , wenn sie liebte .
" Und immer kommt wieder ein anderer " , dachte Ellen .
- Sie war so sicher gewesen , daß sie Reinhard liebte und von nun an alle ihre Gedanken nur ihm gehören würden .
Und nun saß sie da in der Sommernacht und wußte dem strahlenden Verlangen , das sie umwarb , nicht nein zu sagen - laß morgen morgen sein .
- Noch als der Festlärm längst verklungen und alle schlafen gegangen waren , gingen die beiden langsam durch dämmernde Straßen und küßten sich wieder und wieder .
Ziemlich bleich und übernächtigt fand sich die wilde Tafelrunde um Mittag wieder zusammen .
Ellen hatte heute nicht den Mut , sich bei Tisch in ihrer Pension sehen zu lassen , denn die ganze Badegesellschaft war nur noch ein einziger Sturm von Entrüstung über das nächtliche Gelage .
Wie sie beim Kaffee saßen und die ermatteten Lebensgeister sich wieder zu regen begannen , kam Markus .
Er hatte eine Drehorgel umgehängt , blieb an der Tür stehen und sang mit hohler Stimme ein altes Leierkastenlied :
" Am Weidenbaum , am Weidenbaum Da fand ich ein Gerippe :
Da zog sie aus den Krinoline Verfluchte sich - und es - und ihn Und hing sich an die Strippe . "
Als der Beifallssturm sich wieder gelegt hatte , kam er an den Tisch und setzte sich neben Ellen und Leonhard :
" Da sitzen sie wieder Hand in Hand und trinken Kognak . -
Ja , lachen Sie nur , in dem Lied steckt tiefe Lebensweisheit .
Hüten Sie sich , Ellen , die Welt hat Fallstricke und Gefahren . "
" Ich reise ja heute abend schon " , sagte sie , " vormittags war ich bei Ihnen , um adieu zu sagen . "
" Ja , ja - deshalb bin ich auch hergekommen " , er faßte ihre beiden Hände und sah sie an , " lieben Sie nur weiter , Kind , so lange es was zu lieben gibt .
Und denken Sie manchmal an den grämlichen , alten Kerl , dem Sie etwas von Ihrem Sonnenschein gegeben haben . "
Ein paar Stunden später sah Ellen vom Kupeefenster aus noch einmal Leons blonde Mähne im Abendlicht flattern und hörte noch einmal seine frohe Stimme : " Lebe wohl , du furchtbar tolles Kind . "
Sie zog wieder in ihr altes Quartier bei Lisa Seebald ein .
Für einen der nächsten Abende hatte die ein kleines Verlobungsfest in Szene gesetzt .
Detlev war gekommen , um seine Schwester noch einmal zu sehen , ehe sie nach München ging , und Reinhard wollte ein paar Freunde mitbringen .
Als Ellen gegen Abend in ihrem Zimmer war und ihren Koffer packte , brachte das Dienstmädchen ihr einen Brief herauf - darin lag eine Karte mit Versen :
Fahr wohl , mein Liebe , der Abend graut - Fahre ' wohl , wir müssen uns trennen .
Das Scheiden ist ein bitteres Kraut , Von heißen Tränen ist_es betaut Und seine Blätter brennen .
Dort drüben am Meer eine Weide steht - Die Äste hängen hernieder -
Ein Blatt sich wirbelnd zur Erde dreht , Wer weiß , wohin es der Wind verweht :
Zurück kehrt es nimmer wieder .
Schau mich noch einmal lächelnd an , Das will ich zum letzten bitten .
Du hast mir viel zulieb getan Und treulich wollte ich zu dir stehen - Die Welt hat es nicht gelitten .
Darum fahr wohl , Ellen , fahre wohl .
Das Glück möge dich geleiten .
Seit unserem Abschied , das weißt du wohl , Ist Leon toller noch wie toll .
Er kann das Scheiden nicht leiden .
Und in ganz kleiner Schrift am Rand :
" Als traurigen Abschiedsgruß von deinem traurigen Leon . "
Ellen saß auf dem Koffer , die Karte in der Hand , und sah abwesend vor sich hin .
Wehmütig lockend zog es wieder an ihr vorüber , die ganze frohe Zeit - sein Lachen , - die Sommernachtsstunde vor dem Wirtshaus .
Dann hörte sie unten die Haustür gehen und viele Stimmen Durcheinandersprechen .
Lisa rief , und sie mußte hinuntergehen .
Das Zimmer sah festlich aus mit Blumen und Weinranken und den grünen Römern auf weißgedecktem Tisch .
Detlev ging herum , stellte sich vor und machte die Honneurs .
Er umarmte Reinhard halb im Scherz als Schwager .
" Daß ihr euch verlobt habt - richtig verlobt .
- Ich finde , Ellen ist ganz aus der Rolle gefallen - aber ich bin sicher , sie kommt doch mit einem Skizzenbuch unter dem Arm zur Trauung .
Und jetzt wollen wir eine gehörige Orgie feiern , um der Sache etwas von ihrem Spießbürgertum zu nehmen .
Nicht wahr , Lisa ? "
" Ja , wenn Detlev Olestjerne nur Weingläser sieht , ist ihm jede Familienfeier recht " , sagte die .
Ellen war dem Bruder von Herzen dankbar , daß er mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit alle ins Gespräch zog und immer wieder zum Lachen brachte , während sie sich um den Tisch sammelten , anstießen , einer von Reinhards Freunden am Klavier den Brautgesang spielte und Lisa sie der Reihe nach mit Weinranken bekränzte .
Ihr gingen immer noch Leons Verse durch den Sinn und sie lächelte etwas mühsam , wenn Reinhard sie ansah und fragte : " Fehlt dir etwas , Ellen , du bist heute so still ? " München , 20. August In München - .
Ich kann immer noch nicht begreifen , daß es kein Traum ist .
Es ist etwas so ganz Neues , allein zu leben und nur mit sich selbst zu reden , und jetzt fühle ich erst , wie mir das Not tat .
Ich möchte mir doch endlich einmal angewöhnen , für mich selbst über mein Leben Chronik zu führen .
Bisher sind solche Versuche immer gescheitert - man bekommt das dumme Gefühl , als ob man vorm Spiegel steht und Monologe darüber hält , wie man aussieht .
Die Malschulen feiern noch bis Oktober , so arbeite ich in einem Atelier , das fünf Malerinnen zusammen haben - vormittags Zeichnen und nachmittags Modellieren .
Meine Wohnung ist nur ein paar Häuser davon , ein großes helles Dachzimmer , freundliche alte Wirtsleute .
Die Luft hat beinahe etwas Südliches in diesen heißen Tagen , die Straßen ganz weiß von dem flimmernden Kalkstaub .
- Und das Arbeiten in unserem großen kühlen Atelier , und dann wieder in die Sonne hinaus , den ganzen Tag sein eigener Herr sein , keinen Moment des Tages sich nach anderen richten zu müssen !
So habe ich mir_es geträumt , das ist endlich die Luft , in der ich leben kann .
Mein Gott , und jetzt muß ich arbeiten , arbeiten bis aufs Blut , und dann faßt mich der Jammer an um all die verlorene Zeit , was für Jahre hätte ich jetzt schon arbeiten können .
Und die Angst , ob meine Kraft doch noch voll ist - manchmal jubelt es in mir , und ich möchte alle Himmel stürmen , aber dann kommt wieder dies sonderbare Gefühl , als ob irgend etwas fehlte - als ob da irgendein toter Punkt wäre , über den ich nicht wegkam .
Da habe ich nun , seit ich halbwegs selbständig denken kann , diesen Heißhunger nach der Kunst gehabt - wie man sich mit allen Gedanken nach einem geliebten Menschen sehnt .
Aber in dem Augenblick , wo er da ist und man mit ihm zusammenschmelzen möchte in jeder Empfindung , da versagt wieder die innere Glut und man tut nur so , als wäre es , was es sein sollte .
Manchmal glaube ich überhaupt , ich bin wirklich mit dem verkehrten Fuß auf die Welt gekommen und werde mich nie zurechtfinden .
5. September Allmählich lerne ich meine Kolleginnen kennen ; sie sind im ganzen ziemlich langweilig , nur mit der Dalwendt Freunde ich mich immer mehr an .
Sie ist aus meiner Heimat , sieht aus wie eine Germania , groß , mit schwerem blonden Haar .
Wir gehen nachmittags zusammen ins Café und dann spazieren .
München ist wundervoll in dieser Sommer-Herbststimmung mit dem blauen Duft .
Gestern lud sie mich den Abend zu sich ein .
Sie lebt mit ihrer Mutter , die den ganzen Tag arbeitet , um ihr das Studium zu ermöglichen .
So etwas greift mich an meiner sentimentalen Seite an .
- Die Erinnerungen sind mir noch zu nah , ich darf nicht daran denken , - an nichts , als daß ich jetzt weiterkomme .
Nach Tisch ließ sie mich ihre Sachen sehen , Federzeichnungen , alle möglichen Kompositionen .
Ich bin ganz in mich zusammengesunken .
Was hat die für ein Können und ist kaum älter wie ich .
Wir gingen noch spät im Mondschein an die Isar hinunter , standen lange auf der Brücke und sprachen von unserem Leben und von der Kunst .
Jetzt ist es nach Mitternacht , ich bin eben erst heraufgekommen , habe die Fenster weit aufgemacht , Mondlicht und Nacht kommen von draußen herein .
Heute habe ich einen Einblick in das ganze , bewußte Schaffen eines anderen Menschen getan und ringe nun darum , das auch in mir zu finden .
Es ist wie Gebetsstimmung in mir .
9. September Früh an der Akademie , um ein Modell zu suchen .
Ich war schlecht angezogen - wie immer , denn ich habe überhaupt fast nichts mehr anzuziehen - und wurde selbst für ein Modell gehalten .
Ein Maler wollte mich mitnehmen , ich hatte die größte Lust , aber ich darf jetzt nur für meine Arbeit leben und keine Kindereien treiben .
14. September In den Bergen gewesen , und da bekam ich Heimweh nach dem Meer , nach dem Freien , Weiten .
Die anderen lachten mich aus , weil ich mir die Berge höher vorgestellt hatte .
Überhaupt bin ich fast immer enttäuscht , wenn ich etwas sehe , das ich mir irgendwie vorgestellt habe .
Es ist nie so überwältigend , wie ich es haben wollte .
Zu Hause Briefe von Reinhard vorgefunden .
Er freut sich über meine jetzige Lebenslust . -
Es kommt mir fast wie Ironie vor -
denn ich bin gar nicht lustig - mir ist , als ob mein Leben in einer Krisis wäre , die vielleicht alles verschlingt .
Ich denke viel über Reinhard und über unser Verhältnis nach .
Wie waren wir glücklich zusammen diesen Sommer - ich war also doch einmal wirklich glücklich und glaubte selbst daran .
Aber mitten im Glück dachte ich wieder an einen anderen - Leon - , es zuckt immer noch etwas in mir nach , wenn ich seine Karte lese , und ich möchte ihn wiedersehen .
Das war noch bei allen meinen Lieben so .
Vielleicht kann ich überhaupt nicht ganz und ungeteilt lieben - das habe ich mir schon oft gesagt - oder wenigstens nicht einen allein .
Wie oft haben Reinhard und ich darüber gesprochen - er glaubt selbst , daß er sehr frei denkt - aber nur da , wo es nicht unser Verhältnis zueinander angeht .
Er ist im Grunde doch ein moralischer Mensch und ich bin es nicht , das ist die ganze Geschichte .
Hätte ich ihm von Leon erzählt , so wäre alles zwischen uns aus gewesen .
Gestern sprach ich mit der Dalwendt darüber - sie ist auch verlobt ; aber noch ganz unschuldig - aus Überzeugung , weil sie es so will .
Bei mir ist es immer nur , daß ich gezwungen bin oder mich zwingen lasse , nach dem Empfinden eines anderen zu handeln .
Mir selbst gegenüber habe ich nie das Gefühl , etwas einzubüßen - im Gegenteil , mich drückt oft nur meine Tugend nieder , dies ewige Vorbeigehen am Leben , und manchmal verlangt mich danach , mich besinnungslos in den Strudel zu stürzen .
20. September Heute haben wir den ganzen Abend in einer Schnapsschenke gezeichnet - eine niedrige , verräucherte Gaststube , wo wahre Banditengestalten an langen Tischen saßen , mit kleinen Schnapskelchen aus dickem gelben oder rotem Glas vor sich .
Die Strolche fühlten sich sehr geschmeichelt und sagten , wir sollten nur bald wiederkommen .
Nachher an der Isarbrücke bis Mitternacht , dann allein an meinem Fenster .
Wie gut ist es , so allein zu leben - ob ich es wohl jemals aushalte , mit jemand anderem immer zusammen zu sein ? -
Wie soll das später werden ?
Auf alle Fälle bin ich entschlossen , erst in mehreren Jahren zu heiraten , wenn wir denn durchaus heiraten müssen .
Nach meinem Gefühl wäre es viel schöner , nur hier und da eine Zeit zusammen leben und dann jeder wieder seinen eigenen Weg gehen .
Ich möchte es immer so haben wie jetzt , nur ans Malen denken und alles tun , was mir einfällt .
30. September Morgen fängt die Malschule an , ich bin in dieselbe eingetreten wie die Dalwendt - für den Nachmittag gehen wir in eine andere zum Modellieren .
Der Auszug aus unserem Atelier ging mit Hindernissen vor sich ; die anderen hatten schon tags vorher ihre Sachen holen lassen , und die Dalwendt und ich standen ratlos vor einer Horde von Dienstmännern und Modellen , die alle Geld haben wollten .
Schließlich luden wir unsere Staffeleien und Modellierböcke selbst auf und trugen sie fort .
Wie es mit dem Geld gehen soll , weiß ich überhaupt noch nicht .
Bei all den Anschaffungen und dem doppelten Schulgeld bleibt mir zum Leben fast nichts übrig .
Ich habe heute alles ausgerechnet , für Kleider , Schuhe , Essen , Trinken und was sonst zum täglichen Leben gehört .
Es ist nicht viel .
4. Oktober Unser jetziges Atelier ist ein " gemischtes " , Maler und Malerinnen zusammen .
Außer uns noch einige Amerikaner , Polen und ein früherer Offizier , von Balder .
Der , die Dalwendt und ich finden uns in den Pausen als Rauchkollegium zusammen . -
Von acht bis elf Uhr arbeiten wir in der Zeichenschule , dann bis eins modellieren , nachmittags noch zwei Stunden zeichnen und dann der Abendakt .
Außerdem skizzieren , soviel es geht .
Gut , daß ich eine solche Gesundheit habe - was andere Leute angegriffen sein nennen , kenne ich überhaupt nicht .
9. Oktober Natürlich mußte wieder etwas kommen - ich wußte es ja .
Die Ruhe konnte nicht dauern , für mich kommt niemals Ruhe . -
Wo war mein Verstand , daß ich eine Zeitlang daran glaubte - an ein volles Glück zu Zwei , " mit Weinlaub im Haar " , wie wir in alten Zeiten sagten , in voller Freiheit , schrankenlosem Verstehen bis ins Letzte hinein - an all das , was es nie für Menschen gegeben hat und nie geben wird .
Ich hatte vergessen und vergessen wollen , daß es unmöglich ist . -
Ich hätte mit allem brechen sollen und für mich allein bleiben .
Weil Senn nach München gekommen ist , um hier weiter zu studieren , verlangt Reinhard von mir , ich sollte nach Berlin zu seinen Verwandten gehen und dort arbeiten .
Wir wechseln endlose Briefe darüber , und diesmal gebe ich nicht nach .
Von München fort , nachdem ich zum erstenmal die Atmosphäre gefunden , in der ich atmen kann , von der ich alles erwarte .
- » Unser Glück muß allem anderen vorangehen « - da liegt es eben - darin fühle ich ganz anders .
Ich kann nicht an Zusammenleben und Glück denken , ehe ich mich selbst gefunden habe , und endlich bin ich auf dem Wege dazu ; aber es ist noch alles so unklar und verworren in mir .
Man soll mich in Ruhe lassen . -
Auf die Höhe hinaufkommen oder daran kaputt gehen , - aber diese beiden Möglichkeiten soll man mir lassen .
Wie kann ich da jetzt nach Glück fragen ?
Und wenn er soweit nicht mit mir gehen kann , müssen sich unsere Wege trennen .
Ich brauche gerade diese Zwanglosigkeit - meine Mutter würde sagen Zügellosigkeit - meines hiesigen Lebens .
Und vielleicht ist das auch das richtigere Wort - ich kann keine Zügel vertragen .
Wenn ich ihm nur begreiflich machen könnte , daß das alles furchtbarer Ernst ist - vielleicht ist es auch meine Schuld , daß mich niemand ernst nimmt .
Sie nehmen mich alle nur von meiner Clownseite , die andere kennt selbst Reinhard nicht - nur ich selbst .
Im Grunde bin ich halb gleichgültig dagegen , was nun werden mag .
Ich stürze mich nur in die Arbeit .
Beim Aufwachen kommt alle Morgen so ein Gefühl , daß irgend etwas Bedrückendes da ist .
Im Bett beim Kaffeetrinken denke ich darüber nach , aber dann wird es abgeschüttelt , mit einem Sprung ins kalte Wasser , und für den ganzen Tag vergessen .
20. Oktober Eine ganze Woche briefliche Auseinandersetzungen .
Er wirft mir rücksichtslosen Egoismus vor - ja , den habe ich auch , wo es sich um dies eine handelt .
" Unser Glück " , immer wieder unser Glück - was einmal auch für mich so schöne volle Worte waren , kommt mir jetzt fast wie eine Redensart vor , wie wenn man bei einem Gottesdienst sitzt , nachdem man längst den Kinderglauben verloren hat .
Und ich bleibe bei meinem Nein . -
22. Oktober Wirklich , ich bin ganz verwandelt , mich erregt nichts , macht nichts mehr traurig , mich läßt alles kalt außer dem Arbeitsfieber , das in mir brennt .
Ich kann mich nicht mehr teilen - aber ich bin froh , daß das endlich gekommen ist .
Durch die Dalwendt lernte ich noch zur Zeit unseres alten Ateliers ein junges Mädchen kennen , sie heißt Marie-Luise und ist sehr eigentümlich und schön mit ihrem gradlinig geschnittenen Gesicht und dem dichten , goldenen Haar .
Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen , er hat dieselben Züge , nur schärfer und etwas Leidendes drin .
Beide leben ganz in Büchern und Ge danken - ich bin oft abends da und kann sie mir nur in diesem halbdunklen Zimmer mit der umschlierten Lampe und den vielen alten Sachen denken .
Es kommen noch allerhand Menschen hin , die auch nicht zur übrigen Welt zu gehören scheinen und von denen man nie recht begreift , wer sie sind und was sie tun .
Alle kommen spät abends , gegen elf Uhr , und meist gehen wir dann noch in der Nacht durch den Englischen Garten .
Manchmal besuchen wir auch einen alten , verwachsenen Pfarrer , der in einer Dachstube wohnt und aussieht wie ein Waldmensch in seinem graugrünen kuttenartigen Schlafrock und dem mächtigen Bart .
Er gibt uns schlechten Wein zu trinken - Maria-Luises Bruder liest " Zarathustra " vor und gibt es für ein apokryphes Buch der Bibel aus .
Zuweilen fällt es dem Alten ein , eine Andacht zu halten , er kriecht in eine Ecke und brüllt zu dem verstimmten Klavier mit furchtbarer Stimme Choräle . " 29. Oktober Neulich abend wollten wir etwas erleben und gingen in möglichst verdächtige Gesindelkneipen , hatten Revolver mit , aber es passierte gar nichts .
Es waren nur die beiden Geschwister und ich , wir gingen nachher noch zu ihnen hinauf und sprachen die ganze Nacht durch , ich erzählte ihnen von meinem Leben .
" Und Sie glauben noch an Glück " , sagte der Bruder .
- Ich dachte an den Sommer und sagte ja - aber ich fühlte wohl , daß er weiß , wie es in mir aussieht .
In der Morgenfrühe brachten sie mich nach Hause , und ich lag den ganzen nächsten Tag mit furchtbarem Kopfweh da .
Es ist ein eigenes Gefühl , so einen langen , hellen Tag im Bett zu liegen und sich nicht recht besinnen zu können .
Ich wußte kaum , ob es Morgen oder Nachmittag wäre .
Dann kam jemand herein , ich sah Marie-Luise neben mir stehen und konnte mir nicht recht klar werden .
Sie beugte sich zu mir nieder , sagte irgend etwas , dann küßte sie - mich auf die Stirn und war wieder fort .
Gegen Abend wachte ich auf und merkte , daß ich etwas in der Hand hatte - ein Zehnmarkstück .
Es fuhr mir förmlich durch die Glieder .
Woher weiß sie , wie schlecht es mir geht .
Vielleicht habe ich gestern abend selbst davon gesprochen , aber ohne an so etwas zu denken .
Von anderen würde ich nie etwas annehmen , aber hier lag etwas darin , was mich tief bewegte . -
Jetzt weiß ich auch , was mir gefehlt hat - sowie ich etwas Vernünftiges zu mir genommen hatte , war ich wieder gesund .
Und ich war so stolz darauf gewesen , daß man ebensogut ohne Mittagessen leben könne .
Und was nun ?
Nach Berlin gehen und mich füttern lassen - meine schöne Freiheit verkaufen ? -
Reinhard darf nichts davon wissen , ich schreibe ihm nur , daß ich ganz gut auskäme .
5. November Das Modellieren aufgegeben - wir sollten diese Woche Halbaktreliefs in Lebensgröße machen , aber ich habe kein Geld , um Modell zu nehmen .
Darüber geriet ich gestern so in Wut , daß ich den Ton herunterriß , die Modellierhölzer in alle Ecken warf und tobend abging .
Die Dalwendt sagte mir nachher , daß unser Lehrer sehr erstaunt gewesen sei .
So habe ich mich jetzt ganz aufs Zeichnen geworfen .
Nachmittags stehe ich der Dalwendt Modell , weil sie auch keins mehr halten kann , und sie muß mir dafür einen Kaffee zahlen . "
8. November Oben im Haus , wo unsere Schule ist , wohnt ein polnischer Maler , mit dem Balder befreundet ist .
Er nahm mich gestern mit hinauf .
Ein junger Mensch , der Maxl genannt wurde , saß auf der Erde ; Zareck , der Pole , lag im Bett , und sie stritten wütend über Shakespeare .
" Entschuldigen Sie , daß ich liege in Bett , ich bin schrecklich krank , aber sind Sie ja freies Weib . "
Dann meinte er , ich sähe noch zu jung aus für ein Bewegungsweib , und ich bestritt auch , daß ich eines wäre .
" Aber die kurzen Haare ? "
Ich sagte , daß ich mir die noch zu Hause hätte schneiden lassen , um nicht immer so rauft von meinen Rendezvous heimzukommen .
Das war noch in der letzten Seminarzeit .
" Sie haben Schatz gehabt , Fräulein ? "
- worauf ich ihnen erklärte , daß ich jetzt verlobt wäre , und das erregte einen förmlichen Sturm von Empörung .
12. November Jetzt bin ich alle Tage droben , in den Pausen und oft auch abends .
Da kommen viele Maler hin , meist Polen und Russen .
- Walkoff hat meine Studien in die Hand genommen , und ich lerne viel durch ihn , muß ihm alle meine Zeichnungen bringen .
Es scheint , daß sie sämtlich nichts zu essen haben - wenn einer etwas Käse mitbringt , gibt es einen Aufruhr .
Aber so habe ich noch nie über Kunst sprechen hören , sie sind alle wie toll , wenn sie davon anfangen .
Bei Zareck hatte sich abends eine Gesellschaft versammelt , die viel zu groß für das enge Atelier war .
Dazu ein kalter Novemberabend , und man fror erbärmlich .
Ellen versuchte , das Feuer in Gang zu bringen , und warf dabei ein paar Holzscheite auf den Boden .
" Kind , bist du ungeschickt " , sagte Zareck , " hast du Hände , wo alles fallt heraus .
Wirst du miserable Hausfrau . "
" Laß mich in Ruhe , dummer Onkel , dein Ofen taugt nichts .
Außerdem bin ich noch lange nicht Hausfrau . "
Sie konnte es nicht leiden , wenn immer auf ihr Verlobtsein angespielt wurde , und sah unwillkürlich zu Walkoff hinüber .
" Nennt sie mich immer Onkel " , sagte Zareck und ging an den Spiegel .
" Schau ' ich wirklich aus wie alter Onkel ? "
Er hatte eine rote wattierte Jacke an , eine Riesennase und struppiges Haar .
" Geben Sie Obacht , der Spiegel zerspringt , wenn Sie hineinsehen " , rief eine russische Studentin , die neben Balder auf einer Matratze saß .
- Außer den beiden war noch ein Bildhauer da mit einem rotblonden Mädel .
Der Maxl schlug vor , man sollte Glühwein machen , um endlich warm zu werden .
So legten sie alle zusammen , und er ging zur Krämerin hinüber , um Wein zu holen .
Dann gab es ein lautes Durcheinander , bis jeder sein Glas oder seine Tasse hatte .
Zareck schnitt mit einem großen Messer Holzspäne , die als Löffel dienen mußten .
Nun wurde es endlich gemütlich ; weil nicht genug Platz war , zogen sie Polster und Kissen aus dem Bett und legten sich damit auf den Boden .
Die Luft füllte sich mit Zigarettenrauch , und es war ein solcher Lärm , daß man sich kaum verstehen konnte .
Balder und die Russin hatten sich auf dem Bett niedergelassen , er spielte Gitarre und sie sang ein Lied nach dem anderen .
Der Maxl , der einzige , der immer nüchtern blieb , saß auf einem Stuhl , die Beine weit von sich gestreckt , und sprach über Rembrandt , Ellen neben Walkoff an der Erde und hörte zu .
Sie hatte den Kopf an ihn gelegt , seine Hand glitt über ihre Haare und ihren Hals - zwischendurch sahen sie sich an und tranken aus demselben Glas .
Das andere Paar flüsterte und küßte sich in der entferntesten Ecke .
Dazwischen wanderte der Onkel unruhig umher und stolperte jeden Augenblick über ein paar Füße - er hatte ein künstliches Bein und hinkte stark ; das machte seine schwerfällige , breite Gestalt noch unbeholfener .
" Seid ihr alle besoffen , pfui , liebe ich nicht Bacchanal . "
" Habe ich kein Weib " , parodierte ihn Balder , " komme her , du kannst abwechselnd bei uns hospitieren . "
" Nicht gemein werden " , sagte die Russin .
" Warum ist die Dalwendt nicht hier , dann seid ihr immer so anständig . "
Zareck setzte sich neben sie und strich ihr eine schwarze Locke aus der Stirn .
" Fräulein , schauen Sie mich an mit glühenden Augenach , sind Sie schön , sind Sie wie Schmetterling . "
Dann wollte er sie fangen und küssen , irgend jemand löschte die Lampe aus , und nun kam eine verworrene Rauferei im Dunklen - die Studentin schrie , der Onkel grollte mit seiner tiefsten Stimme , und das Paar in der Ecke lachte laut .
Walkoff beugte sich zu Ellen nieder und küßte sie auf den Hals , auf den Mund , bei jeder Bewegung durchrieselte sie ein heißer Schauer .
Der Maxl sah ruhig zu , sein schmales Gesicht mit dem blonden , kurz emporgesträubten Haar blieb unbeweglich , während er immer weiter sprach .
Da wurde stark an die Tür geklopft , alle fuhren zusammen , blieben dann aber ruhig in ihrer vorigen Stellung , als eine lange Gestalt , die man nicht deutlich erkennen konnte , in der Tür erschien .
Nur Zareck polterte dem Angekommenen entgegen : " Ach , Fritz !
Grüß Gott , Fritz . "
" Grüß Gott , Fritz " , schrien nun alle im Chor , niemand wußte , wer er war . -
Zareck versuchte vorzustellen :
" Herr Bruhnert - Fräulein ... "
Der neue Gast verbeugte sich aufs Geratewohl ins Dunkel hinein , er war namenlos verlegen und wußte sich nicht hineinzufinden ; obendrein konnte er niemand erkennen , und immer mehr Stimmen kamen aus dem Hintergrund .
" Mache ' doch Licht , Zareck , man kann ja nichts sehen . "
" Ist auch besser , du siehst nicht .
- Ist der Fritz noch sehr unverdorben " , erklärte er dann .
Der setzte sich ergeben auf einen Stuhl und schien peinlich berührt .
Die anderen kümmerten sich nicht viel um seine Gegenwart , schließlich wurde auch die Lampe wieder angezündet .
Etwas mißtrauisch und halb amüsiert sah der Fritz über seinen Klemmer weg . -
Er war sehr gut angezogen und machte einen wohlhabenden Eindruck .
" Du mußt etwas zu trinken haben , Fritzl " , sagte Ellen , " dann wird dir schon besser werden " , worauf er sie mit unbegrenztem Erstaunen ansah .
" Ja , wenn Sie so freundlich sein wollen . "
Sie goß den Rest in die Gläser , während Zareck es noch einmal mit dem Vorstellen versuchte , aber es war umsonst , und er gab es auf .
Dann schlug er mit dem großen Küchenmesser an sein Glas und brüllte : " Ruhe ! -
Sind wir alle Menschen , sind wir alle Brüder - sind wir alle Künstler - haben wir alle Rausch - wollen wir Brüderschaft trinken in Kunst ! "
" Na , dann komme ich Mal doch auch zu einem Kuß " , sagte der stoische Maxl , und das Bruderschaftstrinken begann ; sie waren alle aufgestanden , legten die Arme ineinander , schwenkten sich im Kreise herum und küßten sich .
Der Fritz küßte den Damen nur die Hand .
" Gehen wir jetzt ins Café , Fritz hat Geld . "
Im Café ließen sie sich an ihrem gewohnten Tisch nieder ; man kannte sie dort schon und erschrak etwas , wenn sie kamen , denn für die anderen Gäste war es dann unmöglich , noch ein Wort zu reden . -
Ellen saß dem Fritz gegenüber und war in ihrer seligsten Laune .
" Schaut sie aus wie ein Kind " , sagte Zareck zärtlich .
" Walkoff , nimm dich in acht vor Zuchthaus . "
" Nimm dich selber in acht " , ließ die ruhige Stimme des Maxl sich vernehmen .
" Kuppelei ist auch strafbar . "
Der Fritz hatte bisher nur stumm in sich hineingelächelt , allmählich fing er nun an , etwas berauscht zu werden , sah plötzlich auf und nahm sein Glas .
" Still , still , will der Fritz Rede halten ! "
Er lächelte noch mehr :
" Ich glaube allerdings - nachdem - Sie werden mich nach dem heutigen Abend wohl alle für etwas - "
" Sie ? -
Wir haben doch auf du getrunken ? "
" Ja , du hast recht - das wollte ich ja gerade sagen - also da Sie mich so in Ihren Kreis - aber es ist doch nicht so leicht , sich gleich - ich glaube , ich bin heute abend etwas aus der Rolle gefallen ... "
Das wurde mit einem so schallenden Gelächter beantwortet , daß er alle der Reihe nach verzweifelt anlächelte .
" Sie brauchen mich aber deshalb nicht - ich wußte nur nicht recht , ob es Spaß oder Ernst wäre - " er sah Ellen mit einem tiefen Blick an - , " also nachdem auch diese liebenswürdigen jungen Damen - na , zum Teufel , ich finde nämlich , wenn du Fritz sagst , kann ich auch Ellen sagen .
- Dein Wohl , Ellen . "
Er sank ganz erschöpft wieder auf seinen Stuhl und wurde fast zerrissen vor Beifall und Händeschütteln .
Balder und die Russin stimmten einen Gesang an , Ellen hielt sich an Zareck fest und war nahe daran , vor Lachen ohnmächtig zu werden .
- Aber nun mahnte der Wirt mit nachsichtigem Lächeln zum Aufbruch .
Sie nahmen noch einige Bierflaschen mit , tranken sie draußen vor der Tür aus und warfen sie auf der leeren Straße in Scherben , daß es weithin klirrte .
Zareck ging voran , sein Stock stieß dröhnend gegen das Pflaster , und er sang laut in die Nacht hinaus , während die anderen das Trottoir entlang Galopp tanzten .
Bald darauf kam Zareck eines Abends , um Ellen abzuholen .
Er war auffallend ordentlich angezogen und machte ein geheimnisvolles Gesicht .
" Hat der Fritz uns eingeladen in Ratskeller , mache dich ein bißchen schön , Kind - Ratskeller ist nobel . "
Sie musterten Ellens ganze Garderobe durch und stellten mit vieler Mühe ein Kostüm zusammen , in dem sie zur Not auftreten konnte .
" Schenke ' ich dir ein Kleid , wenn ich mein Bild verkauft habe ' " , sagte Zareck , während er prüfend um sie herumging .
" Sapristi ! - kannst du nicht in alten Tanzschuhen gehen - wird der Fritz dir immer auf Füße schauen . "
" Der Fritz soll schauen , so viel er will " , und Ellen wurde ganz ungeduldig , " meine Stiefel sind entzwei , und ich kann sie mir diesen Monat nicht mehr machen lassen . "
Endlich waren sie fertig , und Zareck polterte an ihrer Seite die vier Treppen hinunter .
- Im Ratskeller wartete Fritz , vornehm angetan und mit einer Blume im Knopfloch .
" Na , Zareck , das sieht dir ähnlich , so spät zu kommen . "
" Ach , der Onkel mußte mich ja erst anziehen " , sagte Ellen , während sie sich setzten .
Fritz warf aus seinen tiefliegenden Augen einen mißtrauischen Blick auf den Onkel .
" Habe ich noch nie solche Garderobe gesehen bei junger Dame .
Sage ich : zieh an blaue Bluse - ist halber Ärmel abgerissen .
Hat sie nur weiße und reibt mit Kreide , daß man Flecken nicht sieht .
Gürtel gibt es nicht , muß man Plaidriemen nehmen . "
Über des Fritz Gesicht glitt ein langsames Lächeln :
" Mir bist du in jedem Anzug schön genug , Ellen . "
Dann stellte er ein auserlesenes Souper zusammen und ließ Wein kommen .
Die Unterhaltung war anfangs etwas einsilbig und geriet mehrfach ins Stocken .
Erst nach dem Essen , als sie beim Sekt angelangt waren , begann der Gastgeber allmählich aus seiner Korrektheit aufzutauen .
Schließlich setzte er sich neben Ellen und sprach von Liebe , erst im allgemeinen - dann wollte er durchaus wissen , ob sie Henryk Walkoff liebte .
" Ach , keine Spur . "
" Aber warum bist du dann neulich abend so zärtlich mit ihm gewesen ? "
" Das ist man bei uns immer , wenn wir alle einen Schwips haben . -
Die anderen waren doch auch zärtlich zusammen . "
" Ja , und dem Maxl hast du auch einen Kuß gegeben beim Schmollistrinken und Balder .
Gibt es denn bei euch gar keine Grenzen ? "
" Doch , dir habe ich ja keinen gegeben , Fritzl . "
" Ach , du bist schlecht , Ellen - bitte , sei einmal ernsthaft - wen liebst du denn eigentlich - deinen Verlobten ? "
" Will ich dir Problem lösen , Fritz " , warf Zareck dazwischen , " mir liebt sie .
Haben wir uns schon manchmal geküßt - sapristi !
Denkst du noch , Ellen ? "
" Ist das wahr ? "
Sie nickte und der Onkel brach in ein unbändiges Gelächter aus : " Schau den Fritz , wie er ist unglücklich ! "
Aber der schüttelte den Kopf und starrte eine Zeitlang in sein Glas :
" Ihr seid doch sonderbare Leute .
- Wollen wir jetzt ins Café ? "
Im Café kam ein Blumenmädchen an den Tisch und Fritz kaufte Rosen für Ellen .
Eine behielt er in der Hand und drehte sie nachdenklich hin und her , dann rückte er seinen Stuhl etwas vor :
" Siehst du , Ellen , die ist noch nicht ganz aufgeblüht - gerade das liebe ich so - halberblühte Rosen , und so kommst du mir auch immer vor . "
" Ach , Fritz , dann kommst du doch etwas zu spät . "
Er beugte sich noch etwas weiter vor :
" Wirklich zu spät ?
Schau nicht immer zum Onkel hinüber , schau mich an , Ellen , wir sind doch beide so jung , und ich habe auch noch nie geliebt . -
Warum hast du dich denn verlobt , willst du wirklich heiraten ?
Du hast mir doch erzählt , daß er zehn Jahre älter ist als du .
Dann kann er dich doch gar nicht verstehen - du wirst nur unglücklich sein mit ihm , und was dann ? " -
Er sprach fort und fort mit dem vergeblichen Bemühen , auch nur ein ernsthaftes Wort aus ihr herauszulocken .
Ellen ließ ihm ihre Hand , die er dann und wann an seine Lippen zog .
Dann wurde es spät , und man mußte heimgehen .
Die beiden versprachen dem Fritz , morgen vormittag auf sein Atelier zu kommen , er wollte ihnen etwas zeigen , was er gemalt hatte .
Ellen erschien denn auch frühmorgens bei Zareck , um ihn abzuholen , aber er lag noch im Bett und wollte nicht mit .
" Mußt du allein gehen , Kleines . "
" Aber wenn er nun wieder von vorne anfängt , um Gottes Willen . "
" Ach , ist nicht so heiliger Ernst - habe ich ihm gesagt , du liebst ihn schon , und wartet er auf dich . "
Der Fritz wohnte weit draußen beim Kirchhof .
Als Ellen kam , fand sie ihn mitten in einem fast leeren Zimmer vor der Staffelei , die Palette in der Hand , in jedem Knopfloch seiner Maljacke und über jedem Ohr steckten Pinsel , und einen hatte er quer im Mund .
Auf dem Fensterbrett stand eine Schnapsflasche und zwei Gläser .
" Ja , da kommst du ja wirklich , Ellen - aber warum kommst du nicht lustig hereingesprungen , - warum lachst du nicht - gibst mir keinen Kuß zum guten Morgen ? "
Dabei machte er ein frivoles Gesicht und befreite sich von seinen Pinseln .
Ellen wußte selber nicht , weshalb sie jetzt nicht wieder lachen konnte und statt dessen ein plötzlicher Zorn in ihr aufstieg .
Sie ging ans Fenster und sah hinaus :
da lag der Kirchhof mit seinen weißen Grabsteinen und kahlen Bäumen .
Regen und Wind fegten darüber hin , alles sah so trostlos melancholisch und verlassen aus .
Als der Fritz , immer noch mit einem leichtsinnigen Lächeln , auf sie zutrat , sah er , daß sie weinte .
" Aber Ellen , was hast du ? "
Sie wußte es selbst nicht , sie fühlte sich nur todunglücklich .
Man sollte nicht so mit ihr umgehen - ja , sie wäre schon leichtsinnig - aber was fiele dem dummen Onkel ein , solche Geschichten zu machen .
Konnte sie sich nicht verlieben , in wen sie wollte ?
Aber deshalb brauchten sie sich nicht einzubilden , daß sie nun jedem von ihnen gleich in die Arme sänke .
Ratlos stand der Fritz neben ihr und wollte sie trösten , aber ihr fielen immer mehr traurige Sachen ein , alle glaubten , daß man mit ihr nur lachen und Tollheiten treiben könnte , aber sie brauchte auch Menschen , die gut gegen sie wären ; wußten sie denn überhaupt , was alles für Kämpfe und Schmerzen hinter ihr lagen ?
Der Fritz ging ganz in Mitgefühl auf ; daß Ellen auch traurig und empfindsam sein konnte , war so überraschend für ihn , daß er alles andere vergaß .
Er streichelte ihre Haare und legte den Arm um sie wie ein guter Bruder , schließlich weinten sie beide zusammen helle Tränen über alles , was es im Leben Schweres und Trauriges gab , - bis zum späten Nachmittag blieben sie droben .
Dann gingen sie in die Stadt zum Essen - und bei Zareck zerbrach man sich den Kopf darüber , warum die beiden sich den ganzen Tag nicht sehen ließen .
Aber von nun an hatte Ellen am Fritz einen treuen Freund gefunden , auf den sie sich verlassen konnte , und der nie mehr von Liebe sprach .
" Das taugt alles nichts " , sagte Walkoff - Ellen war bei ihm im Atelier und hatte einen Haufen Zeichnungen mitgebracht - , " du zeichnest wie verrückt drauf los , aber es liegt nichts darin - gar nichts .
Deine Arbeiten sind ganz wie du selbst :
du taumelst herum , fällst auseinander - ein Stück hierhin , eins dorthin . "
Sie sah ihn an .
Ja , wenn sie reden könnte , warum sie so war , so geworden - alles , was sie drückte - aber davon wollte er nichts wissen - drängte alles in sie zurück .
" Hart sein , Ellen , nicht dies ewige Sichhingebenwollen .
Nur in der Kunst , da gib dich ganz hin , aber im Leben halte dich zusammen .
Ich will dein Freund sein , aber gerade deshalb mag ich dich nicht schwach sehen .
Wenn ich dir helfen soll , darfst du kein Mitleid von mir wollen . -
Lege einmal deine Hand dort hin . "
Er rückte die Lampe zurecht und fing an zu zeichnen :
" Das soll nicht etwa nur wie eine Hand aussehen - das ist kein Kunststück und jeder kann es lernen , einfach etwas nachzumachen - aber fühlen muß man , wie es darin lebt und zuckt .
Sieh Mal , wie es da weich in den Schatten hinübergeht - das herausbringen , die Bewegung , das Leben .
Wozu malst du überhaupt , wenn du nichts dabei fühlst ?
Eine Zeichnung kann noch so schlecht sein , wenn nur eine Linie darin Empfindung hat .
Und arbeiten , Ellen , arbeiten !
Den ganzen Tag davor hinsitzen ist noch kein Arbeiten .
Lieber gar nichts tun , wenn du nicht fühlst , daß alles in dir zittert .
Immer muß man daran denken und sich darauf einstimmen wie zu einer Andacht . "
Erst tief in der Nacht kam Ellen nach Hause und wie in einer großen inneren Erschütterung .
Auf den Knien hätte sie dem Himmel danken mögen , daß sie diesen Menschen gefunden hatte , wenn er ihr auch noch so wehe tat .
Erbarmungslos nahm er das Messer und legte ihre innersten Wunden bloß , schnitt alles hinweg , was darüber wucherte .
" Und nun sieh selber zu , wie du es wieder heil bekommst .
Wenn du keine Kraft hast mitzugehen , so bleibe nur am Wege liegen .
Ich will nicht der sein , der dich aufhebt und tröstet . "
Und dann lächelte er wieder , als wollte er sagen : " Ich weiß schon , was an dir ist , aber zeige es mir .
Hart sein , stark sein , dann zeige ich dir den Weg .
Sonst ist es mir nicht der Mühe wert . "
Fast alle Nachmittage war sie jetzt bei ihm , er ließ sie mit nach seinem Modell arbeiten und lehrte sie sehen .
Bisher war sie nur wie im Finsteren umhergetappt , hatte sich mit verbohrtem , hartnäckigem Fleiß gequält , durch den undurchdringlichen Nebel zu kommen , und es hatte nichts geholfen , bis er ihn mit seinem Zauberstab zerteilte und sich plötzlich eine lichte Weite vor ihr auftat .
Sie saß zu seinen Füßen und ließ sich lehren .
Seit dem Abend bei Zareck war etwas Schwüles in ihr Beisammensein gekommen , das vorher nicht gewesen .
Wenn das Modell fortging , blieb Ellen noch , bis es Zeit zum Abendakt war .
Manchmal zog er sie dann auf seine Knie und sie küßten sich , aber plötzlich beherrschte er sich wieder : " Gehe ' jetzt , Kind , du kommst zu spät . "
Aber die bange Stunde kam jeden Tag wieder , und endlich ein Abend , wo es über ihnen zusammenschlug .
Ihre Zähne gruben sich tief in die Kissen hinein , um den wilden , seligen Aufschrei zu ersticken - ihr war , als läge sie in einem tiefen Abgrund und Sturmswogen von ungeahnter Qual und ungeahnter Wonne brausten über sie hin , bis sie das Bewußtsein von allem verlor - wie tot in seinen Armen lag , die sie eben noch wie glühendes Eisen umklammert hatte .
Henryk war tief erschrocken , es war auch ihm alle Besinnung vergangen , als er den jungen Körper in seiner Gewalt fühlte .
Dann sahen sie sich lange an .
Ihr war , als ob die ganze Welt leuchtete wie ein Weihnachtsabend .
- Früher , in den Träumen ihrer Jugend , hatte sie sich feenhafte Umgebungen ersehnt : leuchtende Farben , schimmernde Gläser mit glühendem Wein - Schleier , durch die rotes Licht und Geheimnisse funkelten , wollüstige Musik in der Ferne . -
Und jetzt lag sie mit weit offenen Augen da , ihr schien , als ob sie noch nie so deutlich gesehen hätte - das verwahrloste Atelier im dämmernden Abendschein - sein unschönes Gesicht mit dem wirren schwarzen Haar - und doch fühlte sie das Leuchten und Schimmern , und das rote Glühen war in ihr .
Es hätte mehr nicht sein können - in keinem Märchentraum .
Er konnte so gut sein , Henryk , er sorgte für sie , ging im Atelier herum und brachte ihr Tee .
Dann saß er neben ihr , und in seinen Augen war etwas , was sie noch nie gesehen hatte .
Als sie dann später gehen wollte , trennten sie sich mit einem ernsten langen Kuß .
" Ellen , und jetzt wollen wir beide arbeiten - schaffen - schaffen ! "
Sie stand im Aktsaal vor ihrer Staffelei unter all den anderen , sprach mit ihnen in der Pause auf dem Korridor und war abends mit den Freunden im Café - wie alle Tage , aber sie dachte nur , es müßte ihr jeder ansehen , wie es in ihr strahlte .
Sie ging im Traume , wie in einer ganz anderen Wirklichkeit - jetzt war der Schleier gerissen , der sie vom Leben und von sich selbst geschieden hatte , und was dahinter sich auftat , war nicht Enttäuschung , nicht Reue um etwas Verlorenes - es war , als wäre ihr ein großes Wunder geschehen , das ihr tiefstes Leben weckte .
Und auch kein Rausch , der wieder in frostige Alltäglichkeit zerrann , ein unendlicher Reichtum drängte sich in jeden Tag zusammen und verwandelte das ganze Leben .
Jetzt konnte sie mit ganzer Seele bei ihrer Arbeit sein und vergaß alle Entbehrungen .
Ihre Kraft erneuerte sich in jeder Liebesstunde und in den langen Gesprächen mit Henryk , im Verkehr mit all diesen Menschen , die nur ihrer Kunst lebten .
Und doch war sie in dieser Zeit nicht eigentlich verliebt in Henryk ; vor allem fühlte sie tiefe Bewunderung für ihn als Menschen und als Künstler , der ihr Meister war .
Das andere gehörte wie von selbst dazu , und sie dachte nicht darüber nach , ob es Liebe war oder nicht , ebensowenig , wie man sich Gedanken darüber macht , warum die Sonne scheint .
Weihnachten sollte sie Reinhard wiedersehen , und nun kam ihr allmählich das Bewußtsein zurück , daß es noch eine zweite Welt gab , die wieder an sie herantrat .
Das hatte sie alles vergessen , nur hier und da klang es wie eine ferne leise Mahnung an ihr Ohr , und dann rang sie mit dem Entschluß , ihm die Wahrheit zu sagen und sich von ihm zu lösen .
Aber als er kam , sie sich nach der langen Trennung wiedersahen , wurde sie wieder schwankend .
Er war so strahlend froh , sie wieder zu haben , fühlte sich ihrer so sicher - und Ellen empfand seine tiefe , große Liebe wie ein Stück ihres Lebens , über das doch nicht so leicht hinwegzugehen war .
Bei ihm überkam sie immer ein Gefühl von Schutz und Heimat , er war der , an den sie sich anschmiegen konnte , der alle weichen und sehnsüchtigen Saiten in ihr zum Klingen brachte .
Und im Grunde fürchtete sie sich auch etwas vor ihm , vor seinem Zorn , seiner geraden , sicheren Klarheit , die solche Wege nie verstehen würde .
Für die Festtage fuhren sie zu Verwandten von Reinhard , dann waren sie noch zwei Tage zusammen in München .
Ellen wohnte mit ihm im Hotel , sie hatte selbst den Anstoß dazu gegeben , denn sie empfand es wie eine Art Ausgleich , wenn sie jetzt auch ihm Angehörte .
Und diese Stunde , vor der sie gezittert hatte , kam und ging vorüber - ihm kam keinen Augenblick der Gedanke , daß Ellen ihn hintergehen könnte .
Als er abgereist war , ging Ellen durch die Winterfrühe vom Bahnhof ihrer Wohnung zu .
Neujahrsmorgen - sie dachte an ferne Zeiten , wo sie diesen Tag mit guten Vorsätzen und frommen Gelübden begann - das war immer etwas Frohes , Klares , Anfangsfrisches gewesen , und jetzt alles so verworren in ihr . -
Wie fingen es wohl andere an , um glatt durchs Leben zu kommen , und warum wurde es einem immer so schwer gemacht durch all dies Binden und Verpflichten .
In ihrem eigenen Gefühl war nichts , was dem widersprach , mit beiden das Leben zu teilen , weil jeder ihr etwas war , was der andere nicht sein konnte .
Henryk war auch über Weihnachten fortgefahren und noch nicht zurück .
So lebte Ellen die nächste Zeit fast ausschließlich in ihrer Arbeit , die war und blieb doch das Erste und Größte und das , worin sie Ruhe fand vor allem , was in ihr stritt und wogte .
Und darin wollte sie Reinhard keinen Schritt weichen .
- Wenn er ihr auch noch so viel Freiheit zugestand , ehe sie wirklich imstande war , allein weiterzukommen , würde sie nicht von München fortgehen .
Ellen hatte ihm deshalb auch ängstlich verschwiegen , wie es mit ihren Mitteln stand .
Schon seit dem Herbst aß sie nur noch ein oder zweimal in der Woche in einer kleinen Garküche zu Mittag , die anderen Tage konnte man sich mit einem Stück Brot behelfen .
Sie legte sich dann , wenn alle fort waren , auf dem Modellpodium schlafen , da merkte man es kaum , ob man etwas im Magen hatte oder nicht .
Zufällig kam Zareck einmal herunter und fragte , warum sie nicht zu Mittag fortginge .
Von da an teilten die beiden sich in eine Portion um vierzig Pfennige , die vom Wirtshaus herübergeholt wurde .
Von Woche zu Woche mußte sie auf neue Ersparnisse sinnen , nahm sich ein ganz kleines Zimmer , wo kaum das Bett Platz hatte , der kostspielige Morgenkaffee wurde abgeschafft , denn beim Onkel gab es ja schließlich immer Tee und Brot , wenn sie in der Pause hinaufkam .
Ellen war überzeugt , daß sie sich ganz gut auf diese Art noch ein paar Jahre durchschlagen könnte ; es waren ja manche unter ihren Bekannten , denen es ebenso ging , und keiner klagte darüber ; sie lachten nur , wenn sie am Monatsende ihre leeren Taschen umkehrten und abends im Café zusammenkamen , um bei einem Glas Bier stundenlang wenigstens Licht und Wärme zu haben .
Wieder und wieder sprach Reinhard in seinen Briefen davon , daß er die Heirat jetzt endgültig auf Anfang des Sommers festsetzen möchte , und jedesmal schrieb Ellen zurück , sie könnte vorläufig noch nicht daran denken , sie brauchte noch Zeit , um nur sich selbst zu leben .
Wollte er das nicht , so müsse er sie freigeben und ihren Weg gehen lassen .
Er warf ihr den grenzenlosen Egoismus vor , mit dem sie ihrer beider Glück gefährdete , und hielt dennoch fest , in der sicheren Überzeugung , daß sich alles ganz wie von selbst ändern würde , wenn Ellen erst bei ihm war .
Aber in ihr hatte sich seit dem weihnachtlichen Beisammensein vieles gewandelt - das unbedachte Hineinleben in all die brausende Lebensfreude , die der erste Rausch und das erste Aufatmen in voller Freiheit mit sich gebracht hatte , war zur unerbittlichen Leidenschaft geworden .
Seit sie nach wochenlanger Trennung zum erstenmal wieder in Henryks Armen lag , wußte sie , daß sie ihn liebte und daß es kein Entrinnen mehr gab .
Sie wußte jetzt auch , daß die Liebe kein Sommerglück sein konnte , kein jubelndes Aufgehen in dem anderen , - nichts von alledem , was sie früher darin finden wollte , - nein , die Liebe war eine blinde , wütende Sturmflut , die alle Dämme niederbrach , und da gab es kein Fragen mehr , kein Überlegen , was mit fortgerissen und was gerettet werden konnte .
Es kam ihr nicht in den Sinn , Henryk für sich besitzen zu wollen , sein Leben mit ihm zu teilen ; er war kein Mann , mit dem man an " Glück " hätte denken können .
Das sah sie alles und wußte es wohl , aber ihre Liebe dachte nicht an Fragen und Verlangen .
- Dabei lernte sie immer tiefer in ihn hineinsehen , fühlte all das zerrissene Schwanken , das auch in ihm war .
Er konnte anderen geben , was er selbst nicht hatte , wonach er in ewiger Unruhe rang und jagte .
Oft fuhr er mitten in der Nacht auf :
" Jetzt muß ich arbeiten ! "
Dann stand sie ihm Modell , stundenlang - , er arbeitete wie ein Wahnsinniger und sprach von seinen Werken , die er schaffen wollte - mit immer glühenderer Phantasie .
- Es war etwas Sinnloses , Ausschweifendes in seiner Art zu malen .
Wenn er über die Skizze hinaus wollte , fing er an :
" Diesmal soll es etwas werden , ich lasse nicht nach , bis es wird . "
Dann wollte er malen , wie noch kein Mensch gemalt hatte , in unerhörten Farben , - und es gelang nicht , gelang nie - , immer wieder begann er von neuem .
Wurde er schließlich müde , so gingen sie zusammen ins Café .
Dort war im Nebenzimmer ein Klavier , und da spielte er endlos - , manchmal wild und leidenschaftlich , dann wieder ganz leise , traurige Melodien .
Ellen saß auf dem harten Ledersofa , in eine Ecke gedrückt , die Töne klangen in ihrer Seele nach , und sie sah ihn an , - er wurde fast schön , wenn er spielte .
Sie lebte alles mit ihm durch , zitterte um jedes Bild und war stillglücklich , daß er das mit ihr teilte , sie in seinem Höchsten mitleben ließ .
Inzwischen kam sie viel mit den anderen Freunden zusammen , es gab Stunden , wo sie all der stürmischen Gefühle müde wurde und nur einmal lachen wollte .
War sie nicht bei Henryk , so traf sie den Zarekkreis in seinem Stammlokal .
Es gab kaum eine Nacht , wo man vor drei Uhr heimkam , und wollte Ellen einmal zu Hause bleiben , um auszuschlafen , so erschien gewiß die ganze Bande noch um Mitternacht unter ihrem Fenster , oder sie schickten den Pikkolo vom Café , dem sie ihren Signalpfiff beigebracht hatten .
Und sobald Ellen den hörte , war es aus mit ihren guten Vorsätzen , sie fuhr rasch in die Kleider und war in ein paar Sätzen die Treppen hinunter .
In ganz München tobte jetzt der Karneval , und sie brannten alle darauf , etwas zu unternehmen .
Aber keiner von ihnen hatte Geld , - Künstlerfeste und Redouten waren unerschwinglich , so gingen sie nur eines Nachts ins Café Luitpold .
Ellen hatte sich ein Clownkostüm geliehen , die Russin war auch maskiert , die übrigen alle in ihren gewöhnlichen Kleidern .
Für Ellen war es alles ganz neu , und sie stürzte sich Hals über Kopf hinein .
Henryk war nicht mit , sie vergaß ihn , vergaß alles , trieb hierhin und dorthin und war völlig willenlos vor Freude .
Ein paarmal fing Zareck sie wieder ein und brachte sie an den Tisch zurück .
Aber da war es heute langweilig , Max und der Onkel gerieten immer wieder in erboste Kunstgespräche und betrachteten das ganze Treiben nur vom malerischen Standpunkt aus , das eine Paar saß weltvergessen in einer Sofaecke , das andere zankte sich - der Fritz wich nicht von Ellens Seite und suchte sie vor allen Anfechtungen zu behüten , wenn andere Masken herankamen .
" Seid ihr alle oberflächlich " , klang plötzlich Zarecks rauhe Baßstimme .
" Karneval ist abscheulich , gehen wir heim zu mir und machen Tee .
Will ich euch Hamlet lesen . "
Die anderen schwankten nach , und Ellen erklärte , daß sie dann alleine dableiben wollte , - als eine Horde weißer Pierrots auf sie eindrang und sie mit fortziehen wollte .
Zareck und Fritz hielten sie jeder von einer Seite fest , da sah der eine von den Weißen sie aufmerksam an .
" Ah , du bist es - ich habe doch gleich gesagt , daß ein Mädel drin steckt . "
Ellen wurde neugierig .
" Laß mich , Onkel , der gefällt mir . "
" Was hast du denn da für einen Onkel ? "
" Gefällst du mir gar nicht " , sagte der .
" Laß ihr - muß ich hüten bezechtes Kind . "
" Nein , ich will mit , weg da , Fritz ! "
" Auch noch ein Fritz , mein Gott , bist du aber gut behütet . "
Ellen war schon auf den Tisch gestiegen und flog in seine Arme .
Gegenüber hatte sich ein Trupp Italiener niedergelassen mit Gitarren und Mandolinen , es war ein ohrenbetäubender Lärm .
Ellen tanzte mit ihrem Pierrot um die Tische und dann oben auf dem Billard zwischen den Kaffeetassen , bis der Wirt kam und sie vertrieb .
Dann brachte er sie an seinen Tisch : " Seht Mal , was ich da gefangen habe - ist das nun ein Bub oder ein Mädel ? "
Die drüben brachen auf und winkten ihr .
" Bleibe du nur bei uns " , sagte einer , " der Johnny läßt dich doch nicht wieder her . "
" Ja , Johnny , ich bleibe bei dir , die anderen wollen heimgehen und Hamlet lesen . "
Er schüttelte sich vor Lachen .
Dann kam Zareck mit ernstem , verantwortungsvollem Gesicht und wollte sie mitnehmen .
Aber Ellen lag in Johnnys Armen , er hielt ihr das Sektglas an die Lippen und ließ sie trinken :
" Bezechtes Kind bleibt bei uns , gehe du nur deinen Hamlet lesen . "
Ellen blieb und trank Sekt und Freude bis in den Morgen hinein mit vollen Zügen .
Allmählich wurden die Räume des Cafes immer leerer , die Kellnerinnen standen gähnend herum zwischen umgestürzten Stühlen und verwüsteten Tischen , hier und da saßen noch vereinzelte Paare und umarmten sich immer bewußtloser .
Johnny schlug vor , man sollte mit ihm auf sein Atelier gehen und dort Kaffee trinken , aber unterwegs fiel einer nach dem anderen ab , sie waren alle müde und hatten genug .
Ellen fiel jetzt erst ein , daß Zareck ihre Schlüssel eingesteckt hatte und sie nicht in das Haus hineinkonnte .
So gingen sie langsam durch den weichen Schnee , der über Nacht gefallen war , die Straße hinauf , wo die Laternen noch müde in der Dämmerung flackerten , und saßen dann in Johnnys Atelier mit den vielen gemütlichen Ecken vor einem kleinen Tisch , auf dem die gelbumschleierte Lampe brannte und die kupferne Kaffeemaschine summte .
Johnny zog sich im Nebenzimmer um und wickelte dann Ellen in einen schweren Seidenmantel - es war eine Atmosphäre von Behaglichkeit , die sie lange nicht mehr gewöhnt war , und sie dehnte sich vor Wohlgefühl .
Nun mußte sie ihm erzählen , wie sie lebte , manchmal lachte er , dann wieder schüttelte er den Kopf :
" Ich habe das ja alles selbst durchgemacht , aber glauben Sie mir , die Boheme kriegt jeder einmal satt und Ihre Gesellschaft da gefällt mir nur halb . -
Aber das verrückteste finde ich doch , daß Sie heiraten sollen . "
Es war jetzt heller Tag , und sie berieten , wie Ellen in ihrem Clownkostüm nach Hause kommen sollte - er brachte alle möglichen Dinge herbei , steckte sie zuletzt in einen Regenmantel von sich , schnürte ihr ein Paar unförmliche Bergstiefel an die Füße und drückte ihr einen Schlapphut ins Gesicht .
Dann stand er da und wollte sich totlachen .
So wateten sie wieder durch den Schnee zu einer nahen Badeanstalt , nahmen Zelle an Zelle ein Brausebad unter vielem Lachen - es war alles so lustig und morgenfrisch und dabei wie ein leichtes Spiel , das sich immer an der Grenze bewegte .
" Ich habe wirklich allen Respekt vor mir " , sagte Johnny , als er sie im Fiaker nach ihrer Wohnung brachte , " nicht einmal um einen Kuß habe ich Sie gebeten , seit wir uns wieder in normale Menschen verwandelt haben - warum sind Sie auch verlobt ? -
Aber hübsch war es doch . "
Das kleine Abenteuer mit Johnny , das ja eigentlich gar kein Abenteuer war , ging Ellen noch ein paar Tage nach wie ein wohliger Traum , bei dem sie immer wieder lächeln mußte .
Sie hätte ihn gerne einmal wiedergesehen , aber die anderen hatten natürlich davon erfahren , Zareck war beleidigt und auch Henryk etwas verstimmt .
So gab sie es auf , und ihre Gedanken waren auch bald wieder ganz in Henryk gefangen , so daß ihr alles andere unwesentlich vorkam .
Der Frühling kam mit schweren Stürmen , und sie wußten nichts mehr wie diese verzweifelte Leidenschaft , die mit jedem Tag wuchs .
In einer Märznacht waren Walkoff und Ellen bis spät mit den Freunden zusammengewesen ; als alles sich trennte , gingen sie in heißer Stimmung zu ihm hinauf . -
Dann faßte ihn wieder die Arbeitswut .
" Oder bist du zu müde , Ellen ? "
Nein , sie war nie müde .
Sie stand vor ihm am Tisch , und er arbeitete , da wurde sie auf einmal blaß und fing an zu schwanken .
Er konnte sie gerade aufs Bett legen , ehe sie ohnmächtig wurde .
Bald nach diesem Abend stiegen bange Ahnungen in ihr auf , sie wollte sich selbst die tödliche Angst nicht eingestehen , die immer banger und beklemmender auf sie herabsank , suchte sie von Tag zu Tag zurückzudrängen und sagte sich immer wieder :
Es kann ja nicht sein , ist zu furchtbar , als daß es sein könnte .
Ihr schien , als sähe sie ein Beil herabfahren , das ihr den Schädel spalten wollte , und sie hätte sich verkriechen mögen , um nur nicht daran zu denken .
So vergingen Wochen , und endlich wußte sie , daß es wohl nicht anders sein konnte .
Und die Gewißheit , der nicht mehr auszuweichen war , verwandelte ihre Empfindungen .
Es war das Schicksal selbst , das dunkel und übermächtig sich vor ihr aufrichtete , und sie beugte sich vor seinem brennenden Blick .
Beinahe wie Freude kam es jetzt über sie :
sie wollte es ja gerne tragen - ein Kind von ihm - ein Kind ihrer Leidenschaft .
Neben all den seltsamen , beängstigenden Gefühlen , die ihrem Körper alle Spannkraft nahmen , erfüllte es sie mit wehmütig ahnender Wonne - ein Kind , ein Wesen , das ganz ihr eigen sein sollte - ihr , der Heimatlosen , die keine Stätte hatte auf der weiten Welt und keinen Menschen , der ihr die Arme auftat .
Als sie es Henryk sagte , konnte sie vor Bewegung kaum sprechen .
Sie saß auf dem Bett und sah ihn an , - aber er schien nur erschrocken , ging rasch auf und ab in dem schmalen Raum und blieb schließlich vor ihr stehen :
" Das ist schlimm genug - was soll daraus werden ? "
" Vor allem will ich jetzt an Reinhard schreiben , daß alles zwischen uns aus sein muß - das wollte ich ja schon lange . "
" Und dann ? "
" Das weiß ich noch nicht - irgendwie wird es sich schon finden . "
Ellen lächelte .
" Du brauchst keine Angst zu haben , Henryk , daß du mich heiraten mußt .
- Du weißt doch , daß ich sowieso hier bleiben wollte , und ich werde mich schon durchschlagen .
Wir haben ja alle nichts und leben doch . "
Henryk setzte sich neben sie , war gut und zärtlich : " Laß uns nur noch abwarten , Kind , vielleicht findet sich ein Ausweg , und es ist ja noch nicht so sicher .
Gehe an die Arbeit und versuche , nicht immer daran zu denken . "
In dieser Zeit kamen wieder lange Briefe von Reinhard , er drängte zur Entscheidung , sie sollte jetzt von München fortgehen , es nicht mehr hinausschieben , denn wenn sie vor dem Sommer heirateten , war noch vieles zu ordnen .
" Was ist mit dir , warum schreibst du nicht ?
Ich begreife nicht , daß du selbst jetzt nichts anderes im Kopf hast wie deine Malerei - auf alles , was ich schreibe , nicht eingehst . "
Ellen hatte ein langes Schreiben an ihn angefangen , schrieb Bogen auf Bogen , immer wieder konnte sie die Worte nicht finden und begann am nächsten Tag von neuem .
Nachts konnte sie nicht schlafen , wenn sie auch todmüde war .
Ihre Gedanken gingen irre durcheinander .
- Henryk mit seinem :
Was soll daraus werden ? -
Die Frage drängte sich auch ihr immer unentrinnbarer auf . -
Von ihm fordern , daß er für sie und ihr Kind sorgen sollte , sein Künstlertum unterbinden , lähmen ? -
Nein , er mußte freibleiben , sie wollte sich nicht wie ein Bleigewicht an ihn hängen .
Aber was dann ? -
Dann stand sie vor dem nackten Elend , vor dem Hunger - sie und ihr Kind .
Ihr Geld war jetzt völlig zu Ende , hie und da lieh sie sich etwas von den Bekannten , aß mit Zareck zu Mittag , weiter brauchte sie nichts .
Noch vor kurzem hatte es ihr ganz einfach geschienen , jahrelang so weiterzuleben , wenn sie sich von Reinhard trennte .
Aber jetzt , wo ihre Kräfte immer mehr versagten , wo sie tagelang mit Ohnmachten und einem entnervenden Schwindelgefühl kämpfte und das kleine Leben in ihr sich immer beängstigender regte - und niemand , der ihr zu Hilfe kam .
Sterben - immer wieder kamen ihre Gedanken darauf zurück - jedes Gefühl in ihr wehrte sich dagegen , aber was blieb ihr sonst ?
Es muß sein - das sagte sie sich immer wieder vor wie eine Lektion , die nicht in den Kopf hinein will .
- Den Brief an Reinhard wollte sie zurücklassen - er war jetzt endlich fertig geworden - und dann von Henryk Abschied nehmen , ohne daß er etwas davon wußte .
Aber er kannte sie zu gut , er wußte immer , was sie dachte , und ihre Angst verriet sich , ohne daß sie es wollte .
" Was hast du vor , Ellen ?
- Du hast doch nicht schon an ihn geschrieben ? "
" Schon ? " sagte sie .
" Mir scheint , es ist höchste Zeit .
Der Brief liegt da und braucht nur noch abgeschickt zu werden . "
" Was hast du vor , Ellen ? "
" Ich weiß selbst nicht - laß mich gehen , ich komme morgen wieder . "
Henryk ließ sie nicht gehen , er schloß die Tür zu .
" Ich weiß , was du willst - ich kann es mir denken - aber ich will es nicht . "
Sie konnte sich nicht länger beherrschen und schrie auf : " Laß mich , Henryk ! -
Es hat ja keinen Sinn , es noch länger hinauszuschieben .
- Was soll ich denn tun ?! "
" Komme , Kind , sei vernünftig - du hast ja doch nicht den Mut dazu . "
Nein , den hatte sie im Grunde nicht , das Grauen vor dem Tod schüttelte sie , wenn sie klar darüber nachdachte .
Aber er sollte sie nur in ihrer Verwirrung lassen , dann würde es schon gehen - irgendwo hinaus ans Wasser und dann besinnungslos hinein , dann war ja alles gut .
So setzte sie sich wieder auf das Bett , die Hände vorm Gesicht und wollte nicht antworten , nicht sehen , nichts mehr hören , nur ganz in sich hineinsinken , sich kalt und gleichgültig machen zu dem , was unabänderlich vor ihr stand .
" Du hast mir gesagt , daß der Brief noch nicht fort ist - du darfst ihn überhaupt nicht abschicken , Ellen . "
" Es geht nicht länger - er wartet immer noch darauf , daß ich komme . "
" Du mußt ihn heiraten , Ellen , es bleibt nichts anderes übrig . "
Es ging ihr eisig durchs Herz - ein Schrecken , der furchtbarer war , wie alles andere .
Einen Augenblick war ihr zumute , als ob die ganze Welt um sie her zusammenbräche und in einem wirren Haufen zu ihren Füßen niederrollte .
Sie sagte kein Wort , während Henryk immer weitersprach :
" Er liebt dich , und ist es nicht besser , wenn einer glücklich wird , als daß wir alle drei zugrundegehen ? -
Wenn du dir etwas antust , ist mein Leben mitzerstört und seines auch .
Oder glaubst du , ich könnte weiterleben mit dem Gedanken , dich in den Tod gejagt zu haben ?
Ellen , und ich kann dich nicht bei mir behalten mit einem Kind , du weißt es selbst - was sollte aus uns allen werden dabei ? "
Nach langer Zeit nahm Ellen die Hände vom Gesicht und sah ihn an .
Sie fühlte nur wieder , wie sie ihn liebte , daß ihre Liebe bis an die Grenzen des Wahnsinns ging .
Mochte er von ihr verlangen , was er wollte , ihr den Kopf abschlagen , den Lebensnerv durchschneiden - sie hätte ja gesagt und stillgehalten .
" Ja , Henryk , ich will tun , was du willst - mache jetzt die Tür auf . "
Er faßte sie bei den Schultern und sah sie an :
" Versprich mir , daß du dir nichts antust . "
" Ja , ich verspreche es dir , aber laß mich gehen . "
Als Ellen nach Hause kam , zerriß sie den Brief an Reinhard und schrieb einen neuen :
" Ich komme , sowie alles in Ordnung ist , und bin mit allem einverstanden . "
- Dann saß sie noch lange am Tisch mit geschlossenen Augen : wenn es möglich war , daß Henryk ihr das vorschlug , dann mußte sie es wohl auch tun können und brauchte nicht zu sterben .
Sie fühlte keinen Groll gegen ihn - jede Empfindung in ihr war wie gelähmt .
Gegen Abend brachte sie den Brief auf die Post und ging zu Zareck hinauf .
Der Fritz war auch da ; die beiden sahen , daß Ellen sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte und legten sie auf die Matratze , die als Sofa diente .
Zareck saß am Kopfende neben ihr und der Fritz zu ihren Füßen .
Später kam noch die Dalwendt mit einer Flasche Wein unter dem Mantel ; sie war zuerst in Ellens Wohnung gewesen und hatte sie dort nicht gefunden .
" Sagen Sie , Fräulein , was ist mit dem Kind ? " sagte Zareck , während er die Gläser füllte .
" Geht sie herum wie Geist , lacht nicht mehr und fällt um jeden Augenblick . "
Der Fritz streichelte ihre Füße und beugte sich etwas vor : " Ja , du bist ganz verändert - wir haben schon oft davon gesprochen die letzte Zeit .
Du mußt krank sein , Ellen , und ich glaube , es wird dir auch arg schwer fortzugehen ? "
Zareck hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt : " Darfst du ihr nicht mehr streicheln , Fritzl , ist sie bald verheiratete Frau mit Baby auf dem Arm und Kochlöffel in der Hand .
- Fräulein , sagen Sie ihr , ist Blödsinn heiraten für solche Ellen . -
Kommt sie nie wieder und vergißt uns alle . "
Ellen begegnete dem Blick ihrer Freundin - sie war die einzige , die von ihrem Verhältnis zu Henryk wußte , und die wohl jetzt auch den ganzen Zusammenhäng ahnte .
Sie hatte ein seltenes Vermögen , mitzuwissen und mitzufühlen , auch das , was man ihr nicht mit Worten sagte , weil Worte zu wehe taten .
" Ich glaube doch , daß Ellen wiederkommt " , meinte sie in ihrer langsamsten Weise , " und warum soll sie nicht heiraten , wenn ihr Mann sie weitermalen läßt . "
Zareck hob feierlich sein Glas :
" Prost , Fräulein , stoßen wieder an auf Kunst .
- Braucht man nicht treu sein Männern , wenn man nur treu bleibt in Kunst .
Seid ihr tapfere Weiber und gute Kameraden . -
Mache nicht so traurige Augen , Ellen - sehen wir uns alle wieder . "
Nein , sie war nicht traurig , - ihr war nur , als ob nichts wieder ein Gefühl in ihr zu lösen vermöchte .
- Da saßen sie , die Freunde , die Kameraden , mit denen sie das Leben so froh geteilt hatte , und sie begriff es selber kaum , daß sie es über sich gewann , ihnen nicht ihr ganzes Elend ins Gesicht zu schreien .
Aber was bedeutete es jetzt noch , daß sie auch die alle verlieren sollte - mochten die Räder über sie hingehen und alles zermalmen , daß nichts mehr übrig blieb .
Ihr Schmerz war keiner , den man ausrasen oder ausweinen konnte , mit eiserner Wucht lag es auf ihr , drängte sich mit tausend glühenden Fangarmen in ihre Seele hinein und preßte sie zu einem fühllosen Etwas zusammen .
- Das einzige , was noch in ihr lebte , war der Gedanke an das Kind - ihr Kind und Henryks - das mußte geborgen werden - dafür geschah ja das alles .
Ihr war wie einem Menschen , der sein Haus brennen sieht und hineinstürzt , um ein Kleinod zu retten , an das er bis dahin kaum gedacht hat .
Aber jetzt in diesem Augenblick weiß er nichts mehr , als daß dies Eine geborgen werden muß , - alles übrige mögen die Flammen verschlingen , mag einstürzen , ihn selbst mitbegraben , darauf kommt es nicht mehr an . -
Ellen wollte jetzt so rasch wie möglich fort von München , - aber jeden Tag , der ihr noch blieb , trank sie in sich ein wie einen Becher mit schwerem Wein - die letzte Wollust und die letzte unergründliche Qual ihrer Liebe - das dunkle Weh ihrer Mutterschaft von diesem Mann , den sie liebte .
Das wenigstens durfte sie mit sich nehmen , wenn sie alles andere hinter sich zurückließ .
Am letzten Tage war Henryk bei ihr - Ellen ging im Zimmer herum und ordnete ihre Sachen - er folgte ihr mit den Augen , bis sie kam und sich neben ihn setzte .
Nun ging eine plötzliche Erschütterung durch ihn und er umschlang sie fast gewaltsam .
" Wirst du mich auch nicht hassen , wenn du fort bist ? "
" Nein , nein " , sagte Ellen und lächelte mit einem starren Blick , der weit in die Ferne ging .
Henryk legte den Kopf an ihre Schulter und weinte . -
Die ganze Unseligkeit ihres Opfers kam über sie , sie fürchtete jetzt , noch ihre Kraft zu verlieren .
" Ellen - Kind - ich glaube , du tust das Ganze nur für mich , und ich wollte , du solltest es für dich selber tun . "
Sie hatte nicht gewollt , daß er das fühlen sollte , es war , als ob sie ihn dadurch beschämen , zu ihrem Schuldner machen würde - das war unerträglich , wo man so liebte .
" Ellen , du wirst mich doch einmal hassen . "
" Nein " , sagte sie noch einmal , " du hast mir zu viel gegeben , Henryk - das vergesse ich nie .
Von dir habe ich erst die Seele bekommen , vorher hatte ich keine .
- Das andere ist Unglück , Schicksal - dagegen kann man nichts machen .
Du hast mir doch oft gesagt , daß es auf das Leben nicht ankommt , ich meine darauf , wie man äußerlich lebt - wenn man nur die Kunst hat und darin - das hätte ich ohne dich vielleicht nie so gefunden .
Das bleibt mir ja - ich werde niemals loslassen . "
" Und das Kind ? "
" Nein , Henryk , ich habe nur Dank für dich - glaube es mir . "
" Ja , wenn wir hätten beisammen bleiben können .
- Denn das will ich dir jetzt noch einmal sagen , Ellen , ein Weib wie dich werde ich nie wiederfinden , nie .
Und du wirst etwas leisten in der Kunst , wenn du treu bleibst .
Willst du dann auch noch etwas an mich denken und an alles , was wir zusammen gelebt und gesprochen haben ? "
Das letzte , was Ellen von München sah , war Henryk , der auf dem Perron stand , unter der dunklen Riesenhalle , im Frühlingsabend , und zu ihr hinaufsah .
- Selbst in dieser Stunde fühlte sie keine Verzweiflung , kein zerreißendes Entsagen , ihr war nur , als ob sie einen Sarg mit sich führte , in dem ihre Jugend , all ihr Glücksverlangen und ihre Liebe lag , während sie dahinfuhr , einer fremden , gleichgültigen Zukunft entgegen - fremd und gleichgültig , weil ja doch alles gestorben war - eine lange , stumme Totenwache , während der Zug rollte und rollte .
Ein paar Wochen später war Ellen Reinhards Frau - und ihr Zusammenleben gestaltete sich vom ersten Tage ganz anders , wie er gedacht hatte .
Er war auf einen langen , schwierigen Kampf gefaßt , auf ihren stets bereiten Widerspruch gegen tausend Dinge , die ihr jetziges Leben und seine Stellung verlangten .
Aber nur einmal , als die Rede davon war , sie wieder mit ihrer Familie zu versöhnen , sträubte Ellen sich so wild gegen jede Annäherung , daß er schließlich nachgab .
Sonst ließ sie alles fast willenlos über sich ergehen , selbst über die kirchliche Trauung verlor sie kein Wort , während sie früher bei dem bloßen Gedanken in Empörung geriet .
Überhaupt fand er sie seltsam verändert - nichts mehr von ihrem alten Übermut und dafür etwas Stilles , in sich Gekehrtes und eine Weichheit , die er früher nicht an ihr gekannt hatte .
Mit Staunen sah er , daß Ellen sich ihrer Häuslichkeit annahm und das äußere Leben sich ohne Schwierigkeiten abwickelte .
Was mochte es sie gekostet haben , sich von ihrem sorglosen , ungebundenen Leben in München loszureißen , und dem wollte er Rechnung tragen , es ihr so leicht machen , wie nur möglich .
Es entsprach ihrer beider Wunsch , still und zurückgezogen zu leben , sich den Tag so einzurichten , daß jeder seiner Arbeit ungestört nachgehen konnte .
Und Reinhard sah auch , wie der Gedanke an ihre Malerei sie mit einem fast verzweifelten Ernst erfüllte - bei ihm sollte sie nicht gehindert und eingeengt sein , er wollte alles in ihr pflegen , in Ruhe und Liebe .
Denn die hatten ihr bisher immer gefehlt , und er fühlte wohl , daß ihre Seele Wunden trug .
Nur kam ihm nie der Verdacht , daß ein anderer Mann ihr die geschlagen haben mochte .
Und für Ellen war es fast überwältigend , all diese umsorgende Liebe zu fühlen , die nur darauf bedacht war , ihr Leben so zu gestalten , wie sie es wünschte und brauchte .
Zuerst , nach ihrer Rückkehr aus München , war sie bei Reinhards Familie gewesen , wo sie vor jedem Blick zitterte und gewaltsam ihre körperliche Schwäche niederzwingen mußte , um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken .
Es schien ihr fast undenkbar , daß niemand ihr Geheimnis erraten sollte .
- Und dann der Hochzeitstag , die Junisonne lachte , und sie sah in lauter strahlende Gesichter , hörte lauter frohe Worte und Stimmen und sollte selbst lächeln und viele heitere Worte sagen , während die beklemmende Angst in ihr immer höher stieg .
Nur eine kurze Stunde vor der Trauung war sie allein in ihrem Zimmer , da warf sie sich aufs Bett und weinte zum erstenmal in all den Wochen bange und verzweifelt - dann kam Reinhard , um sie zu holen , und abends langten sie in ihrem neuen Heim an .
Und jetzt , wo sie mit ihrem Mann zusammenlebte , wuchs die Gefahr mit jedem Tag unentrinnbarer empor .
Immer klarer kam es ihr zum Bewußtsein , wie wahnsinnig und unüberlegt sie gehandelt hatte , es konnte nicht lange mehr dauern , dann war es nicht mehr zu verbergen .
Und wie sollte sie ihn dann täuschen ?
Sie hing wie ein Schiffbrüchiger mitten im Meer an einem Balken , der jeden Moment hinweggespült werden kann - mit der unsinnigen , unmöglichen Hoffnung , daß noch irgend etwas kommen möchte , sie zu retten .
- Dazwischen glaubte sie wieder Henryks Stimme zu hören :
Hart sein , Ellen , stark sein - und sie fühlte sich fast übermenschlich stark in diesem einsamen Kampf .
Reinhard begann allmählich sich um ihre Gesundheit zu sorgen - Ellen hatte gleich wieder angefangen zu arbeiten , aber wenn er nachmittags aus seinem Büro kam , fand er sie meist auf dem Sofa , oder sie saß in dem leeren Zimmer , das ihr als Atelier diente , mitten unter ihren Malsachen und Skizzen und starrte vor sich hin .
Es waren jetzt sechs Wochen vergangen , seit Ellen aus München kam .
Sie saßen sich abends gegenüber an Reinhards großem Schreibtisch .
" Willst du mir etwas helfen ? " fragte er .
" Ich habe heute schon so viel geschrieben . "
Er litt manchmal an Augenschmerzen und liebte es , dann zur Abwechslung zu diktieren .
So setzte Ellen sich an seinen Platz und begann zu schreiben .
" Bist du müde ? " fragte er ein paarmal .
Ellen schüttelte den Kopf .
Sie fühlte seit ein paar Tagen Schmerzen , die jetzt gegen Abend immer heftiger wurden .
Eine Viertelstunde nach der anderen ging vorüber und sie bis heimlich die Zähne zusammen , während eine ratlose Angst durch ihre Gedanken wirbelte .
Inzwischen schob sie die Lampe so , daß ihr Gesicht im Schatten war .
Als die Arbeit zu Ende war , stand Reinhard auf :
" Danke , Ellen , hast du dich auch nicht zu sehr angestrengt ? "
Er sah , daß sie sehr blaß war .
" Gehe nur gleich schlafen . "
Ellen hatte ihr eigenes Zimmer neben dem Atelier .
Was sie während dieser langen Nachtstunden durchlebte , erfüllte sie mit solchem Entsetzen , daß sie glaubte , ihre Haare müßten weiß werden oder eine sichtbare Spur in ihren Zügen zurückbleiben .
Stundenlang lag sie alleine da in der Nachtstille unter unerträglichen Qualen , die nicht laut werden durften , und ließen die Schmerzen nach , so kamen all die Gedanken , die sie fast noch mehr folterten .
- Ihr Kind - Henryks Kind , nun war alles umsonst gewesen ; wie sollte sie jetzt noch weiterleben ? -
Es hatte eine Zeit gegeben , wo sie selbst gewünscht hatte , es möchte so kommen .
Aber seit sie von Henryk Abschied nahm , war all ihr Sehnen zu diesem ungeborenen kleinen Wesen hinübergeglitten , das in ihr schlummerte .
Der Gedanke an ihr Kind war der einzige leuchtende Hoffnungsschimmer gewesen , der ihr blieb , um den sie alles auf sich genommen hatte .
Und nun war auch der verloschen .
Endlich verrann die Nacht , dann lag sie da in der Morgendämmerung , ihre Augen hingen an der Wanduhr gegenüber , deren Zeiger langsam vorrückten .
Ihr schien , als ob sie von Minute zu Minute schwächer würde und ihr Leben in langsamen Wellen zu entfluten drohte .
Gegen neun Uhr klopfte Reinhard leise an :
" Schläfst du noch , Ellen ? "
Sie antwortete nicht , er blieb noch einen Augenblick stehen , sie hörte ihn ein paar Worte mit der Aufwärterin sprechen , die jeden Morgen kam , dann ging er und zog die Haustür vorsichtig hinter sich zu .
Als er nachmittags zurückkam , war Ellen wieder auf - sie hatte ihren gewohnten Spaziergang gemacht und fühlte sich ganz wohl .
So schleppte sie sich noch ein paar Tage hin , dann warf es sie plötzlich nieder .
Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen und schickte erst zum Arzt , wie ihr Mann aus dem Hause war .
Als sie wußte , daß der Arzt schweigen würde , kam zum erstenmal eine tiefe dumpfe Ruhe über sie .
Lange Tage lag sie nun schwerkrank in dem halbdunklen Zimmer , Reinhard saß neben ihr , sorgte für sie in seiner fast mütterlichen Liebe , und Ellen fühlte nun das Unbegreifliche , daß sie gerettet war .
Etwas über ein Jahr war verflossen , als Ellen wieder nach München fuhr .
Sie saß im Zug und dachte an jene lange Fahrt damals , die Totenwache über den Trümmern ihres ersten heißen Jugendlebens .
Und wie dann alles gekommen war , sich von neuem aufgebaut hatte , anders freilich , wie ihre jungen Träume es gewollt hatten .
Mit tiefem Heimweh gingen ihre Gedanken zu Reinhard hin - wie er jetzt so allein war , sie so ruhig hatte gehen lassen , ohne zu ahnen , was alles wieder in ihr aufwachen mußte , und mit wie schwerem inneren Bangen sie sich von ihm getrennt hatte .
Als sie dann den ersten Morgen im Hotel aufwachte und durch die wohlbekannten Straßen ging , kam wieder das alte jubelnde Lebensgefühl über sie , als ob sie eine andere Luft atmete , in der so viel Leichtes , Frohes , Junges lag , und die manche vergangene Schmerzen wegblies .
Ihr erster Gang war zu Zareck , er saß wie einst auf seinem Bett und stritt mit dem Maxl , - es sah aus , als hätten sie sich in all der Zeit nicht vom Platz gerührt .
Beide waren sprachlos erstaunt , als sie Ellen hereinkommen sahen .
Dann faßte Zareck sie um und tanzte mit ihr durchs Atelier :
" Sapristi - ist kleines Ellen wieder da ! "
" Habt ihr mich denn wirklich nicht vergessen ? " sagte sie ganz gerührt .
Nun drehte er sie um und sah sie von allen Seiten an .
" Bist du noch ganz wie früher , aber hast du dir wieder lange Haare wachsen lassen - doch ein bissel Frau geworden . "
" Kinder , Kinder " , sagte Ellen überwältigt , " wie schön , euch wiederzuhaben ! "
" Hast du viel gemalt ? " fragte der Maxl .
" Oh , es geht , ich war meist nicht recht gesund , aber das kommt alles noch . "
" Wie viele Babys hast du denn schon ? "
Einen Augenblick ging es wie ein Schatten durch ihre Augen .
" Was denkt ihr denn ?
Gar keins . "
" Sage Mal , Kind , bist du denn wirklich geheiratet ?
- Glaubt es niemand .
Weißt du noch , wie alte Tanten in der Schule sagten :
Der Mann muß Mut haben .
Dachten alle , würde dein Mann dich nach vier Wochen zurückschicken . "
" Nein " , sagte Ellen auf einmal ganz ernst , " über meine Ehe dürft ihr keine schlechten Witze machen .
Ich habe noch nie einen Menschen gekannt , wie meinen Mann , er will selbst , daß ich jedes Jahr wiederkomme und hier Male . "
" Muß feiner Kerl sein " , sagte Zareck bewundernd , " Hab ' ich so viel Angst gehabt , du würdest Philister .
- Bleibst du jetzt hier ? "
" Noch nicht , ich gehe mit der Dalwendt aufs Land , um mich erst ganz wieder zu erholen . "
Gegen Mitte Mai war Ellen dann mit ihrer Freundin auf dem Land in einem kleinen Gebirgsdorf .
Der Frühling kämpfte noch mit Sturm und Regen , dazwischen kamen warme Tage , wo die Sonne schien wie mitten im Sommer .
Ellen lag in ihrem bequemen Stuhl auf dem Balkon und las einen Brief von Reinhard .
" In sechs Wochen wird er wohl Urlaub nehmen und mir nachkommen " , sagte sie und reckte sich .
Die Dalwendt ließ ihr Buch in den Schoß sinken , sie war groß und kräftig , mit schwerem blonden Haar und etwas trägen Bewegungen .
Ellen fand es sehr angenehm , mit ihr zu leben , sie war wie eine Schatulle , in die man alle Geheimnisse einschließen konnte und nur hervorholte , wenn man eben wollte , niemals sprang sie von selbst auf .
Und dann ließ sie sich jede Stimmung suggerieren , empfand gerade das , was man wünschte .
So wußte sie jetzt auch gleich , daß Ellen an Reinhard und Henryk dachte .
" Dein Mann muß ein seltener Mensch sein " , sagte sie .
" Ja , das ist er -
ich habe ihn eigentlich erst kennengelernt , nachdem wir heirateten , und wir sind doch sehr glücklich zusammen gewesen .
- Siehst du , es war mir etwas so ganz Ungewohntes , ein Heim zu haben .
Reinhard ist fast wie eine Mutter gegen mich , ich weiß nicht mehr , wie ich ohne ihn leben sollte .
- Aber manchmal frage ich mich doch wieder , ob ich überhaupt für ein friedliches Dasein geschaffen bin .
Wenn du mir von München und euch allen schriebst , bekam ich oft rasendes Heimweh nach dem ganzen Leben von damals , als ob das das Eigentliche wäre . -
Man ist doch im Grunde schrecklich feig . "
" Warum feig ? " fragte die Freundin nachdenklich .
" Weil man nie den letzten Mut zu sich selbst hat , wie wir in unserer Ibsenklubzeit sagten .
- Hätte ich den , so würde ich Reinhard alles sagen und mich von ihm trennen . -
Ich meine nicht nur das , was ich damals getan habe , - auch daß ich überhaupt nicht imstande bin , fürs ganze Leben nur einem Menschen zu gehören .
Solange ich bei ihm war , habe ich mir das nie so klargemacht , aber jetzt geht es wieder alles in mir hin und her . "
" Hast du Henryk gesehen ? "
" Nein , er war nicht da , - aber wenn ich das nächste Mal in die Stadt fahre , werde ich ihn wohl sehen .
Übrigens , daß er mit der Anna zusammen ist " - die andere sah sie etwas unruhig an , aber Ellen verzog keine Miene .
" Nein , ich habe nie daran gedacht , daß es zwischen uns wieder anfangen könnte - das ist vorbei .
Es ist doch wohl etwas Wahres daran , daß man nur einmal liebt - wenigstens so , daß man sein ganzes Leben auf eine Karte setzt . "
" Ein paarmal habe ich ihn gesprochen " , sagte die Dalwendt , " als du fort warst - damals war er drauf und dran , dir nachzureisen .
» Ich hätte sie nie heiraten lassen sollen « , sagte er . "
Ellen antwortete nichts , diesmal zuckte doch ein tiefer Wunder Schmerz in ihr auf .
" Nein - aber weißt du , wen ich neulich getroffen habe " , sagte sie nach einiger Zeit , " den Johnny .
Ich ging mit ihm auf sein Atelier , und wir sprachen vom Karneval damals .
Er hat so etwas , was einen in fröhlich frivole Stimmung bringt .
Wir fanden es beide eigentlich schade , daß wir damals nichts weiter zusammen erlebt haben . "
" Das ist es ja immer " , meinte die Freundin bedächtig .
" Es ist ein Gefühl , das mich ganz wild machen kann , wenn man daran denkt , was man alles nicht erlebt und was so vorbeigeht .
Ich möchte mehrere Leben nebeneinander haben - eines dürfte dann meinetwegen tragisch sein und entsagend mit einer großen stillen Liebe - » gut und glücklich « sein - verstehst du , aber das andere - nur hineinstürzen und alles über sich zusammenschlagen lassen . -
So war mir neulich bei Johnny zumute - als ich ging , fragte er , ob ich ihm nicht jetzt den Kuß geben wollte , um den er mich damals nicht gebeten hat . -
Nachher dachte ich wieder an Reinhard . "
" Es ist doch sonderbar " , sagte die Dalwendt langsam und wartete ab , was Ellen sonderbar finden würde .
" Ja , siehst du , das ist es eben , wenn man mit einem Menschen lebt und ihn sehr lieb hat - da ist man immer gezwungen , durch seine Empfindungen zu sehen .
Und das gibt dann diesen fortwährenden Widerspruch .
Für Reinhard würde alles zwischen uns aus sein , wenn ich ihm untreu wäre , und für mich würde es dann vielleicht gerade anfangen - wenn er verstände , daß ich auch anderen gehören kann .
Warum muß man gerade verheiratet sein - Kommen und Gehen , eine Weile zusammenleben und sich dann wieder trennen - mir läge das viel näher , überhaupt das Erotische als etwas Zufälliges nehmen , sonst geht es mit der Zeit auch verloren . "
" Du hältst ja förmliche Reden , Ellen , das ist man an dir gar nicht gewöhnt . "
" Ja , früher habe ich auch über die Sachen nicht viel nachgedacht . - -
Mein Gott , als ich von euch fortging , damals glaubte ich , daß nun alles für mich zu Ende wäre - » die große Entsagung « und die Kunst - auf das Leben kam es nicht an .
Das hatte Henryk mir alles eingeredet , aber wie soll man jemals etwas schaffen können , wenn man nicht sein eigentliches Leben lebt ?
Wir hatten doch recht mit unseren pathetischen Jugendredensarten .
- Und mein Leben muß ich auch wieder leben , wenn es auch noch so viel kostet . "
" Aber diesmal würde es dich viel kosten , Ellen , äußerlich .
Du sagst doch selbst , daß du nicht mehr so eisern kräftig bist wie früher . "
Ellen hatte sich ganz heiß geredet , nun stand sie auf und dehnte sich :
" Siehst du , das ist mir auch ein Wunder Punkt - der Wundeste .
- Fortwährend haben sie mich in München darauf angeredet , daß ich schlecht aussähe - und ich fühle es ja auch selbst , daß mir irgend etwas fehlt , schon seit langem .
Fast das ganze Jahr hindurch war ich immer wieder krank .
Aber ich will einfach nicht krank sein - womöglich noch ein inneres Leiden , - das ist mir von jeher ein schrecklicher Begriff gewesen .
- Laß uns um Gottes Willen nicht mehr davon sprechen . "
Bald nach diesem Gespräch fuhren sie zusammen in die Stadt .
Henryk hatte jetzt eine andere Wohnung .
Als Ellen die Treppe hinaufstieg , kam ihr alles so fremd und öde vor .
Aber sie wollte ihn wiedersehen , vielleicht nur dies eine Mal noch - nicht etwas von ihrer einstigen Leidenschaft wiederfinden , die hatte sie längst ins Grab gelegt und sie sollte nie wieder erwachen .
Nur ihm noch einmal in die Augen sehen und ihm sagen , daß sie nicht unterlegen und zerbrochen war .
Er machte selbst die Tür auf , als sie läutete .
" Ellen . "
Sie war selbst verwundert , daß dies Wiedersehen sie völlig ruhig ließ .
Er wollte sie umarmen , aber sie wich ihm aus .
" Du bist ganz fremd geworden , Ellen . "
" Ja , das bin ich wohl auch . "
Dann saß sie auf dem Sofa und ließ ihre Blicke umhergehen ; es sah nicht mehr so armselig bei ihm aus wie früher .
Henryk stand immer noch vor ihr : " Warum bist du dann wiedergekommen ? "
" Um zu malen , nicht zu dir . "
Beide schwiegen eine Zeitlang , sie suchte etwas von ihm wiederzufinden , von dem alten Zauber , der einstmals von ihm ausgegangen war , - ging im Atelier herum und sah seine Bilder an , es war immer noch dieselbe wilde , unfertige Malerei wie damals .
Dabei antwortete sie halb mechanisch auf seine Fragen .
In der Ecke stand eine größere Leinwand - eine schwarzhaarige Frau mit dem Kind an der Brust , einem ganz kleinen Kind , das beinahe formlos aussah , wie kaum zum Leben erwacht - Ellen erkannte das Gesicht .
" Ist das nicht die Anna , die uns damals Modell stand ? "
Dann drehte sie sich plötzlich um und sah ihn an .
Henryk war sichtlich verlegen und verwirrt .
" Ich dachte , das würden dir die anderen längst erzählt haben . "
" Ist es dein Kind ? "
Ihre Blicke begegneten sich .
Ellen war langsam blaß geworden .
In den wenigen Sekunden war alles wieder in ihr aufgewacht - die ganze Zeit , wo sie hilflos herumging mit seinem Kind unter dem Herzen , nicht wußte , wo sie es bergen sollte und sich selbst - die Heimreise - ihre Hochzeit - all die Todesangst , das Grauen , als es ihr wieder genommen wurde .
Und ihre Schuld war ihr etwas Großes und Heiliges gewesen , das sie aufrecht erhielt .
Jetzt lag plötzlich alles in einem ganz anderen Licht da - warum hatte sie sich so wehrlos dahintreiben lassen von diesem Mann , der ihr Kind nicht wollte , und der ihr jetzt so fremd und armselig vorkam - warum war sie ihm zuliebe über sich selbst hinweggegangen ?
- Ihr Kind nicht gewollt , es kam ihr vor , als sei es seine Schuld und sein Wille gewesen , daß es niemals gelebt hatte .
" Was hast du mit mir gemacht , Henryk ? " sagte sie endlich .
" Wie meinst du das , Ellen , glaubst du , es wäre besser gewesen , du säßest jetzt im Elend wie das Mädchen da ? "
" Tausendmal besser - denn du hast mich Komödie spielen lassen mit meinem Leben und mich glauben gemacht , es wäre ein großes Trauerspiel .
Du konntest so schön reden . "
" Reut es dich jetzt , daß du das damals für mich getan hast ? -
Ich hätte es mir ja denken können . "
" Nein , aber ich finde es jetzt beinahe lächerlich . "
Ellen hatte ein Papiermesser vom Tisch genommen und bog es zwischen den Fingern hin und her , bis es plötzlich durchbrach .
Dann sah sie auf , ihm in die Augen , und warf ihm das Messer vor die Füße : " Siehst du , das ist auch Theater , aber ich habe es von dir gelernt - so hast du es damals mit meinem Leben gemacht . -
Komme , gib mir die Hand , wir können ja das übliche Ende machen und als Freunde scheiden , und dann gehe ich mir einen anderen suchen - ich weiß , wo er zu finden ist . "
Reinhard - ihr stilles heimatliches Glück bei ihm - und auch all das bange vergangene Leid - , das lag irgendwo in weiter Ferne , wo ihre Gedanken nicht hinkamen , - um sie her wogte nur ein taumelnder Rausch , der alles übertäubte , und das Leben leuchtete ihr wieder in ungebrochener Jugend , als ob sie nie von seinen Tiefen gewußt hätte .
Der weite , matterleuchtete Raum , die gelbverschleierte Lampe und das dunkel schimmernde Kupfer - das alles hatte sie schon einmal gesehen in einer fernen Zeit , bei durchwachter Morgenfrühe .
Und er hüllte sie wieder wie damals in einen langen , raschelnden Seidenmantel , während sie ihn aus halbgeschlossenen Augen ansah .
" Du kamst mir immer vor wie ein Kind " , hörte sie seine Stimme ganz leise sagen , " ich hätte es kaum gewagt , dich nur anzurühren , und nun kommst du zu mir wie im Märchen und bist wie ein wirkliches Weib - "
Dann war sie wieder draußen in den Bergen , wo es jetzt immer mehr Sommer wurde .
Ellen hatte ein stilles einsames Unterkommen gefunden in einem abgelegenen Bauernhaus auf der Höhe , und ihre Freundin wohnte noch fast eine Stunde höher in der Almhütte .
Vom frühen Morgen an kletterten sie in den Bergen umher , badeten , wenn es heiß war , unter den Wasserfällen , die hier und da von einer Felswand heruntersprühten , schliefen stundenlang im Freien , abends kehrte jede in ihre Bergklause zurück , und dann kamen die langen Sommernächte , die Ellen fürchtete wie den Tod - oben in der stummen Einsamkeit , wo manchmal rings am Himmel die Gewitter dröhnten oder der Wind an den Fenstern rüttelte .
Da lag sie in quälender Schlaflosigkeit und dachte an Reinhard - sie ertrug es kaum mehr , seine Briefe zu lesen , die sie heim mahnten zu ihm - nun kam er bald und wußte nicht , daß sie sein Glück in Scherben zerschlagen hatte . -
Und noch ein anderes , worüber sie sich bei Tage gewaltsam hinwegzutäuschen , es immer wieder zurückzudrängen suchte , das trat in der Nacht wie ein drohendes Gespenst vor sie hin :
- das Bewußtsein , daß eine hinterlistige schleichende Krankheit langsam und unerbittlich ihre Kräfte zernagte .
- Aber sie wehrte sich immer von neuem dagegen , wollte nichts davon wissen , nur leben , leben .
Und dann wieder kam ein Brief von ihm - von Johnny - meist nur wenige Zeilen , ein kurzer , lockender Ruf .
Der Anblick seiner Schrift allein trieb ihr das Blut zu heißen Wogen , und es litt sie nicht mehr in der sommergrünen Stille da droben .
Beim dämmernden Morgen lief sie den Berg hinunter bis zu der kleinen Station .
Dann stand sie plötzlich vor ihm in seinem Atelier und nächtelang lauschten sie nur der Stimme ihrer Sinne , die unaufhaltsam zusammenfluteten , das Leben jauchzte in ihr , bis es wieder in den einsamen Nächten da draußen aufschluchzte .
Im Juli kam Reinhard , und sie machten zusammen eine weite Fußwanderung nach Tirol hinein .
Die Sommersonne leuchtete , und jeder Tag war eine lange strahlende Zeit .
Ellen schien keine Ermüdung zu kennen , und so lachend heiter hatte er sie selbst in der alten Zeit nie gesehen , sie schien jeden Sonnenstrahl in sich aufzunehmen .
Nur von Zukunftsplänen sprach sie nicht mehr , vom Malen , von ihrer Gesundheit , ging alledem förmlich aus dem Wege .
Es war nur ein Gedanke in ihr : diese wenigen Wochen noch mitsammen glücklich sein , - dann mußte alles zerbrechen .
Und alles Glück , alles Frohe und Schöne , alle tiefste und letzte Freude , was andere während eines ganzen Lebens bedächtig in sich näh men , Zug auf Zug , das sollte er jetzt auf einmal leeren und mit ihr .
Sie hielt ihm den Becher an die Lippen und er trank und trank .
Und wenn der Becher leer war , wollte sie ihm sagen :
" Jetzt ist es vorbei ! "
Aber bis dieser Augenblick kam , sollte nichts die langen Sommertage trüben .
Hier und da blieben sie länger an einem Ort , der sie besonders anzog , und in diesen Ruhetagen kam es oft zu langen Gesprächen wie früher daheim , wenn Reinhard an seinem Schreibtisch saß und Ellen in der halbdunklen Ecke auf dem Diwan lag .
Dann schien es ihm manchmal , als ob ihre Frohheit sich auf Augenblicke verdunkelte , und es durchfuhr ihn plötzlich : sollte nicht irgendeine geheime Angst hinter alledem stecken ?
Vielleicht fürchtete sie , wieder krank zu werden wie im letzten Winter , nicht arbeiten zu können - -
Und Ellen konnte dann so seltsam sein und seltsame Sachen reden , fast wie im Fieber .
" Wenn nun mit einemmal alles vorbei wäre , Reinhard - könntest du das ertragen ? "
" Ertragen - ich weiß nicht .
Aber was sollte denn vorbei sein ?
Solange wir uns haben , gehört uns das Leben , das habe ich noch nie so gefühlt wie jetzt , und du auch , glaube ich . "
" Ja - aber wir wissen doch nie , was kommen kann . -
Sieh Mal , es gibt doch so etwas wie Schicksal , was die Menschen voneinanderreißen kann - gerade so , wie es uns beide zusammengeworfen hat .
Wie kann man das wissen ? -
wenn nun einer von uns sich in jemand anderen verliebte . -
Ob du es zum Beispiel begreifen würdest , wenn ich einmal etwas ganz Wahnsinniges täte - von dir ginge . "
" Warum sprichst du so sonderbar , Kind ?
Willst du mir etwa fortlaufen ?
Wenn du es tätest , müßte es doch einen Grund haben , und wenn deine Liebe aufhörte , würde ich dich niemals halten wollen . "
" Nein , so meinte ich es nicht - ich glaube , das , was zwischen uns beiden ist - wie ich dich liebe - gerade dich , das kann nie zu Ende sein , wenigstens könnte das nie einem anderen Menschen gehören .
Aber anderes könnte vielleicht kommen - ich weiß doch nicht , ob du mich ganz kennst . -
Man fühlt doch manchmal Tiefen in sich , wo nie jemand anders hineinschauen kann , etwas Wildes , das vielleicht immer schlafen bleibt , aber es könnte auch einmal herauswollen und dazu treiben , alles , was schön und gut ist , zu zerstören - daß wir gerade das Unglück wollen - einfach müssen .
Und würdest du das verstehen - bei mir ?
Wenn ich dir sagte , du mußt mich freilassen , weil ich in mein Unglück hineinrennen will ? "
" Ellen , es ist mir beinahe unheimlich , wenn du so redest - was soll das ?
Es sind Phantasien , kranke Gedanken !
Ich glaube , gerade du bist so zum Glück geschaffen wie wenige , und um glücklich zu machen .
Das kannst du nur selbst nicht fühlen - damals wolltest du es auch nicht glauben , und sind wir dann nicht doch glücklich gewesen , so ganz selten glücklich ? "
" Ja , aber vielleicht könnte ich es auch einmal wollen , unglücklicher zu sein , wie alle anderen . "
Sie sah ihn lange an , dann warf sie sich in seine Arme und atmete förmlich auf - es war ja noch Zeit , noch mußte es nicht sein .
" Ach , jetzt wollen wir nicht mehr von solchen Sachen reden , Reinhard . "
Noch eine letzte große Fußtour wollten sie machen und dann , ehe Reinhards Urlaub zu Ende ging , auf ein paar Tage zu seiner Mutter , die auch im Gebirge war .
Ellen fing an die Stunden und Tage zu zählen - noch siebenmal Morgen und Abend - bei jedem Schritt ging es jetzt neben ihr her - noch einen Tag , noch einen - noch war er jeden Morgen da , wenn sie aufwachte , und dann wanderten sie zusammen in die sonnenglühende Bergwelt hinein , übernachteten wieder in einem anderen stillen Dorf .
Noch vier Tage - - .
Eines Nachmittags stiegen sie über einen Paß .
Ellen machte einen ungeschickten Tritt und glitt ein paar Stufen hinunter - die Berge schwammen um sie her , drehten sich , sie fühlte einen heftigen , inneren Schmerz , dann sank sie in die Knie , und ihr wurde schwarz vor den Augen .
Reinhard war gleich neben ihr und half ihr auf :
" Was hast du denn , Ellen ? "
" Ich weiß nicht " , sagte sie , " aber ich glaube , ich kann nicht weiter gehen . "
Dann versuchte sie ein paar Schritte .
" Nein , es geht schon wieder . "
Sie ruhten eine Weile aus und gingen dann weiter , durch Täler im Sonnenuntergang , auf Höhen hinauf und wieder hinunter .
Ellen ging hinter Reinhard her , um ihn nicht sehen zu lassen , wie schwer es ihr wurde .
Der Schmerz von vorhin kam immer wieder , nur im Kopf war ihr so seltsam leicht und klar - das andere war nur noch wie eine fremde , brennende Maße , die ihr folgen mußte , weil sie es wollte .
Es lag eine Art Wollust darin , sich so Herr über seinen Körper zu fühlen .
Sie wollte jetzt nicht krank werden , nicht zusammenbrechen - nur jetzt nicht - , dazu war später noch Zeit .
Spät abends , als es lange dunkel war , fanden sie endlich ein Nachtquartier in einem entlegenen Dorf .
Ellen lag die ganze Nacht wach und hörte auf seine Atemzüge .
Ihr schien , als ob bei dem langen Stilliegen alle Kraft sie verließe .
Wenn sie nun nicht wieder aufstehen konnte ?
Wenn sie hier liegen bleiben mußte in dem niedrigen , moderigen Zimmer , - es nahm ihr den Atem , daran zu denken .
" Können wir nicht fahren ? " fragte sie am Morgen .
" Es geht von hier aus keine Post , aber wir könnten ein paar Tage bleiben und uns ausruhen .
Du sollst dich nicht überanstrengen , fühlst du dich krank ?
Vier Stunden müßten wir noch gehen bis zur Bahn und dann nach Bozen fahren . "
Er ging hinunter , um den Kaffee zu bestellen , und als er wiederkam , war Ellen schon bereit .
" Nein , wir wollen doch lieber gehen . "
Abends waren sie in Bozen und standen zusammen auf dem Balkon , der nach dem Hotelgarten hinausging .
Unten lag ein großes Beet mit Monatsrosen .
Reinhard und Ellen sahen hinaus in die Dämmerung und sprachen , plötzlich fuhren sie beide unwillkürlich zusammen .
Von der Seite , aus dem Gebüsch her , kam ein hinkender , verwachsener Mensch mit seltsam spitzigem Kopf - wie ein Gnom sah er aus - der sich scheu nach allen Seiten umblickte , dann rasch den Beeten zuschlüpfte und ein paar Blumen abriß .
Dann war er wieder im Gebüsch verschwunden .
Reinhard und Ellen sahen sich an .
" Bist du erschrocken ? "
" Was war das ? " sagte sie .
" Das war kein wirklicher Mensch , und was wollte er ? -
Er hat uns so angesehen . "
Reinhard lachte , um sie zu beruhigen , aber er hatte ebenso wie sie einen unerklärlichen Schauder gefühlt .
" Kannst du wieder nicht schlafen , Ellen ? "
" Nein - wenn du nicht müde bist , komme noch etwas her und sprich mit mir . "
Er kam und setzte sich auf ihr Bett : " Wenn sich doch etwas gegen diese Schlaflosigkeit tun ließe - was ist nur mit dir , Ellen ? "
" Ja , es ist schon manchmal arg - , aber ich möchte doch nicht wieder mit den Schlafmitteln anfangen wie letzten Winter .
- Und man denkt so viel dumme Sachen , wenn man immer so daliegt . "
" Woran dachtest du denn jetzt ? "
" Ach , daß ich doch vielleicht krank bin , daran denke ich oft . -
Und dann geht mir gerade heute eine Geschichte im Kopf herum , die mir die Dalwendt erzählte , als wir zusammen auf dem Land waren - wir haben viel darüber gesprochen und ich möchte eigentlich wissen , wie du darüber denken würdest . "
" Was für eine Geschichte ? -
Dann erzähle sie mir doch . "
Ellen lag im Dunklen , er konnte ihr Gesicht nicht sehen , und sie erzählte ihm ihre Geschichte .
Ihr ganzes Fühlen war in einer übermenschlichen Spannung - bei jedem Wort fürchtete sie laut aufzuschreien , aber ihre Stimme klang ganz ruhig und monoton .
Reinhard hörte nachdenklich zu :
" Liebte er sie denn nicht ? -
Ich meine der , von dem sie das Kind hatte ? "
" Gott - er war wohl ein Mensch , der überhaupt nicht lieben konnte , viel zu zerspalten und zu zerfahren .
Und sie sah einen großen Künstler in ihm , einen Menschen , wie er ihr nie wieder begegnen würde , der ihr unendlich viel gab .
Vor allem dachte sie daran , daß er frei bleiben müßte , und dann wohl auch an das Kind - - aber das ist noch nicht alles .
Den Mann , den sie heiratete , kannte sie eigentlich kaum - das ist wohl meistens so . -
Wir haben uns doch auch erst nachher kennengelernt .
- Als sie seine Frau wurde , war er ihr beinahe gleichgültig und fremd , aber dann fing sie an , ihn zu lieben - anders wie den anderen - , vielleicht nicht so leidenschaftlich , aber viel tiefer .
Sie war glücklich mit ihm , und er war sehr glücklich . -
Das Kind kam nicht zum Leben - , ihr Mann war in der Zeit gerade verreist , und niemand erfuhr davon . -
Zuletzt vergaß sie es selbst beinahe , und es kam ihr vor , als ob alles nicht wahr gewesen wäre . "
Ellen meinte , er müßte ihr Herz klopfen hören , es schlug langsam und schwer .
- Die Art wie sie erzählte , hatte für Reinhard etwas seltsam Erregendes .
Ihm wurde immer beklommener zumute , vielleicht ging es wie eine ferne Ahnung durch seine Seele , von der er selbst nicht wußte .
" Dann sah sie den anderen wieder - zufällig - und da hatte er ein Kind mit irgendeinem Mädel - und nun fiel mit einemmal alles in sich zusammen , ihr war , als ob selbst ihre Schuld entwertet sei , die ihr immer wie eine Art Heiligtum vorgekommen war .
Und auch was sie sonst in ihm gesehen hatte , war fort , alles Illusion , die in nichts zerrann .
Wenigstens in dem Augenblick kam es ihr so vor - vielleicht war es auch ungerecht - , aber es tat ihr so entsetzlich weh , daß er ihr Kind nicht gewollt und nun ein anderes hatte .
Und dann fing sie ein neues Verhältnis an , das ihr gerade in den Weg kam .
Und als sie das getan hatte , fühlte sie plötzlich , daß sie nun ihrem Mann alles sagen und sich von ihm trennen müßte . "
Bis tief in die Nacht sprachen sie noch darüber , es schien Ellen , als ob sie nie in ihrem Leben so hätte reden können - bis in die kleinste Einzelheit hinein zwang sie ihn förmlich mitzufühlen , was jene Frau durchlebt hatte .
Er sollte alles verstehen , begreifen , daß es unentrinnbare Gewalten gab , die einen Menschen treiben konnten , so zu handeln und dabei doch so viel zu lieben .
Und sie dachte nicht daran , daß die Erkenntnis , sie selbst sei es gewesen , alles Verstehen wieder hinwegschwemmen würde wie einen Strohhalm .
Eine törichte Hoffnung dämmerte in ihr auf , daß vielleicht ein Wunder geschehen möchte , das unerhörte Wunder , daß einer , der liebt , dem anderen folgen könnte bis in seine dunkelsten weggewendeten Tiefen , und daß er ihr bleiben könnte , welche Wege sie auch ging .
Dann brach der letzte Tag an - die Sommerwärme lag glühend zwischen den Bergen - , Reinhard und Ellen gingen vormittags einen flimmernden , staubigen Weg , an dem roter Mohn blühte und kleine , wie aus Stein geschnittene grüne Eidechsen spielten .
- Sie konnte ihn jetzt nicht länger darüber täuschen , daß sie leidend war , jeder Schritt wurde ihr schwer , und ihre Hände brannten .
" Es braucht ja nichts Schlimmes zu sein " , sagte sie , " aber es ist doch vielleicht besser , wenn du jetzt allein zu deiner Mutter gehst , für die zwei Tage , und ich nach München fahre , um einen Arzt zu fragen . "
So wußten sie nun beide , daß es für lange Zeit das letzte Alleinsein war .
Lange saßen sie auf den weißen Steinen , die in der Sonne schimmerten .
" Aber war es nicht schön ? " sagte Ellen .
" Alle die Wochen jetzt - wie ein ganzes langes Leben voll Sommer .
Sage mir , daß du noch nie so glücklich gewesen bist , Reinhard . "
" Noch nie " , sagte er , so von innen heraus , daß es ihr ins Herz schnitt .
Namenlos traurig sah sie ihn an , und er fühlte plötzlich , daß ihr bange war zum Vergehen .
Und dieser Blick kam noch ein paarmal wieder , während die Sommerstunden verrannen und Ellen wie im Fieber von Glück und Leben sprach .
Und jedesmal fragte Reinhard wieder :
" Was ist dir ? -
Sage mir doch , was dir ist . "
Als sie abends wieder auf dem Balkon standen , war es beklemmend schwül , und schwere Gewitterwolken hingen am Himmel .
" Da ist er wieder ! " , und Ellen faßte unwillkürlich nach seiner Hand .
Derselbe unheimliche Bucklige kam aus dem Gebüsch , sah sich nach allen Seiten um und zu ihnen hinauf , riß Blumen ab und verschwand .
Dann waren sie ins Zimmer zurückgegangen und saßen auf dem Sofa , die Tür stand offen und in der Ferne donnerte es .
Ihre Zeit war um .
" Reinhard , nun ist unser Sommer zu Ende - morgen gehe ich fort von dir . "
" Ja " , sagte er traurig , " aber vielleicht bleibt uns noch ein Tag , wenn du in München gewesen bist .
Eigentlich wäre es mir lieber , selbst mitzufahren . "
" Nein , es bleibt uns kein Tag - ich gehe fort für immer . "
Ellen fühlte plötzlich , daß sie sich verwirrte , und wiederholte es noch ein paarmal , bis sie sein Gesicht dicht vor sich sah und seine Stimme hörte , die fast wie ein Schrei klang :
" Was heißt das ?
Bist du wahnsinnig geworden ? "
" Nein - , Reinhard - , aber es war meine eigene Geschichte , die ich dir gestern erzählte . "
Am nächsten Morgen war Ellen allein in der Bahn , bei glühender Sommerhitze und überfüllten Kupees .
Wie sie dahin gekommen war , wußte sie selber kaum , nur daß sie einen endlosen Tag immer weiterfuhr und fremde Menschen wie in weiter Traumferne sprechen hörte .
Sie fühlte nichts wie einen schweren Druck im Kopf und folternde Schmerzen , die bis zum Hals hinaufstiegen , wie glühende Nadelstiche .
Dann und wann hielt der Zug , und sie schrak aus dem Halbbewußtsein empor , sah ein Stück Tageswirklichkeit vorübergleiten , und verwirrte Gedanken wollten durch die Betäubung brechen .
Dunkle Bilder der vergangenen Nacht zogen an ihr vorbei - schwere Donner rollten draußen im Finsteren , durch die Glastür flammten Blitze und drinnen taumelten zwei Menschen durch Abgründe von Qual . -
Reinhard stand vor ihr , schüttelte sie : " Besinne ' dich doch , sage mir , daß alles Wahnsinn ist . "
Waren sie nicht beide wahnsinnig geworden ?
Saßen sich mit irren Blicken gegenüber und redeten zerrüttete , unmenschliche Dinge ?
Und eine spukhafte , verzerrte Wirklichkeit um sie her ?
Sie hörte seine Stimme , die nur noch wie dumpfes Stöhnen klang , und ihre eigene in gebrochener Klanglosigkeit :
" Nein , es ist wahr , Reinhard , es ist wahr , es ist alles wahr . "
Dann wieder lag sie im Lehnstuhl , er drüben auf dem Bett in betäubtem Schlaf - die Nacht war vorbei , und der Morgen brach durch die Scheiben - : ein blutiger , zerstörter Morgen .
Sie versuchte sich aufzurichten , zu atmen - ihr Körper war wie in glühendes Eisen eingeschnürt .
Wieder hielt der Zug , Menschen kamen und gingen , für einen Augenblick zerrissen die tanzenden Gewebe vor ihren Augen - gegenüber war ein Platz frei geworden und Ellen versuchte , die Füße hinaufzulegen .
" Es geht nicht " , sagte sie ganz laut , und immer wieder schlug ihr Kopf gegen etwas an .
" Sind Sie krank ? " sagte eine fremde Stimme .
Sie sah sich um , da saßen zwei junge Mädchen und ein Mann - große , weiße Strohhüte flatterten wie Vögel .
Jemand schob ihr ein Kissen unter den Kopf .
Ellen schlief und wachte auf , schlief wieder ein , das Kissen verschob sich und wurde zurechtgerückt .
Einmal fiel es ganz hinunter , sie schlug die Augen auf und fragte :
" Ist es schon Abend - gibt es denn kein Wasser ? "
Dabei fühlte sie , wie ihre Zähne aufeinanderschlugen .
Dann gab man ihr etwas zu trinken , aber es war nur Feuer , was sie hinunterschluckte .
" Sie haben ja Fieber " , sagte wieder die Stimme , oder waren es viele Stimmen , und eine Hand legte sich um ihre .
Ellen fühlte , wie ihre Adern gegen die fremden , kühlen Finger hämmerten .
Endlich stand der Zug still - in München .
Über dem Menschengewühl in der Halle strich kühle Nachtluft .
Ellen wußte jetzt plötzlich wieder , wo sie war - , daß jede Bewegung ihr weh tat und der brennende Durst ihr die Sprache raubte .
Ein fremder Herr sorgte für ihre Sachen und brachte sie die wenigen Schritte bis zum Hotel .
" Ich danke Ihnen " , sagte sie und fühlte , daß ihr Tränen übers Gesicht liefen .
Irgendwie kam sie dann die vielen Treppen hinauf in ein Zimmer und lag im Bett .
Wieder war es Nacht , und sie wußte nicht , ob sie schlief oder wachte .
Immer wieder kam derselbe Traum - , als ob sie von einer schwindelnden Höhe hinunterstürzte , ihre Glieder zerrissen und zerschellten , wollten sich wieder zusammenfügen und rieben sich gegeneinander wie mit lauter schmerzenden Stacheln .
Dabei lag sie auf einer wogenden Maße , die sich hob und senkte - , im Kreise drehte .
Das hörte nicht auf , begann immer wieder von neuem , bis alles in Fieberdelirien untersank .
Der Sommer ging zu Ende , und Ellen lag immer noch im Krankenhaus .
Schwer und langsam gingen die Nächte hin , unter quälenden Vorstellungen , die sich immer wiederholten - eine unabsehbare Leiter mit hohen , schmalen Sprossen , die sie hinaufsteigen mußte , und bei der leisesten Bewegung wachten die zerrenden Schmerzen wieder auf und verscheuchten den Schlaf .
Dann lag sie und sah nach der Tür , fühlte etwas wie Erleichterung , wenn sich von draußen ein Lichtschimmer nahte und die Schwester kam in ihrem friedlichen , weißen Schleier , das Nachtlicht in der Hand , und ihr wieder frisches Eis brachte .
- Und so von Stunde zu Stunde , bis es Morgen war , dann wandte sie mühsam den Kopf nach dem Fenster und sah , wie es über Dächern und Bäumen allmählich heller wurde , lauschte auf jedes Geräusch im Hause , wie die Türen gingen , die Schwestern von der Messe die Treppe heraufkamen , alles wieder erwachte aus der tiefen Stille .
Am späteren Vormittag kam der Arzt , manchmal brachte er noch andere mit , sie standen am Bett , stellten Fragen und redeten untereinander .
- Dann war Ellen wieder allein , während die wechselnden Tagesstimmungen vorüberzogen da draußen , die Herbstsonne leuchtete oder Regenwolken tropften , hier und da zog auch noch ein verspätetes Gewitter herauf .
Nachdem die ersten , fieberheißen Tage vorüber waren , hatte sie immer wieder gefragt , wann sie wieder aufstehen könne , und wurde von Woche zu Woche vertröstet .
Jetzt war schon lange nicht mehr die Rede davon , und Ellen fragte auch nicht mehr .
Sie begann , sich an dies stille , weltferne Dasein zu gewöhnen , das ihr ein tiefes , langes Ausruhen brachte und einen milden Schleier über Leid und Freude legte .
Ihr schien jetzt , als läge schon eine unendlich lange Zeit zwischen dem Jetzt und jener Gewitternacht in Bozen - der Aufschrei war verhallt und nur noch ein mattes , sehnendes Weh zurückgeblieben .
Noch einmal hatten sie und Reinhard sich wiedergesehen , er war an ihr Krankenlager gekommen , als er durch den Arzt erfuhr , daß sie wohl hoffnungslos daläge .
Und als er sie dann so wiederfand , in einem engen , heißen Hotelzimmer , sie ihn aus starren , tiefliegenden Augen ansah und kaum erkannte , da schwieg sein eigener Schmerz und sein Groll .
Er brachte sie ins Krankenhaus und blieb bei ihr , bis die erste Gefahr vorüber war , und selbst dann fand er keine harten Worte mehr .
Sie hielten sich lange an der Hand zum Abschied - , es war nicht mehr Ellens Schuld , die sie voneinandergerissen hatte - , sie glaubten beide das Schicksal zu fühlen , das dunkel über ihrem Leben war , eine fremde , unerbittliche Macht , der sie Hand in Hand gegenüberstanden .
Oft gingen jetzt ihre Gedanken zu ihm hin ; ihr Heim war für immer verloren , das wußte sie wohl , aber es war doch wie ein großes Geschenk , daß er so von ihr geschieden war ohne Haß und Zorn .
Und wie ungeheuer mußte seine Liebe gewesen sein , daß er so bis in die letzten Tiefen zu verstehen mochte - und wie einsam lag der Weg jetzt vor ihr ohne ihn und alles , was er ihr gewesen war .
Aber es kamen auch Tage , wo sie daran dachte , wie jung sie noch war , und was noch alles vor ihr lag - , wo sich die Zukunft in goldene Fernen weitete - leben und schaffen .
- Die Gesunden kamen zu ihr herauf in das stille , weiße Zimmer , die alten Freunde , und sprachen davon , wenn Ellen erst wieder mit ihnen arbeiten würde .
Johnny brachte ihr Blumen , alle verwöhnten sie und wunderten sich im stillen , daß Ellen dies lange Krankenlager so ruhig ertrug .
Sie wußte wohl selbst nicht , wie es um sie stand .
So war allmählich fast ein Vierteljahr dahingegangen , und sie war immer noch kaum imstande , sich aufzurichten ; dann standen eines Vormittags wieder die Ärzte um ihr Bett - , sie gingen zur Beratung hinaus , und einer kam zurück , um mit ihr zu reden .
Ellen drang selbst in ihn um volle Wahrheit .
Ihr waren schon lange manche bange Ahnungen gekommen - , aber dann traf es sie doch wie ein Donnerschlag : nur , wenn sie sich einem schwierigen und gefährlichen Eingriff unterziehen wollte , so wäre auf Besserung zu hoffen .
Gewißheit könne man ihr vorher nicht geben - , sie sollte sich alles wohl überlegen .
" Und sonst ? " fragte Ellen .
Ja , sonst hätte sie wohl nur ein unabsehbares Siechtum zu erwarten - ein jahrelanges Krankende sein - vom Bett auf das Sofa und wieder zurück .
Der Arzt sagte das alles so schonend wie möglich - er wußte manches von ihrem Leben und daß sie ganz alleinstand .
Aber sie ahnte wohl , daß es noch nicht die volle Wahrheit war - in seinem Gesicht glaubte sie ihr Urteil zu lesen und etwas von dem Mitleid , das der Arzt nicht sehen lassen darf - Mitleid mit dem Verurteilten .
In dieser Nacht kämpfte sie einen harten Kampf .
Daß sie schwerkrank war , hatte sie wohl gewußt , und anfangs war auch manchmal der Gedanke an den Tod gekommen , an ein langsames Verlöschen bei halbem Bewußtsein .
Aber mit dieser schreckenden Klarheit war er noch nie vor sie hingetreten - sie hatte sich ja nur mit Geduld in das lange Daliegen gefunden , weil sie immer wieder dachte , es müßte doch endlich der Tag kommen , wo sie wieder hinauskönnte ins Leben .
Nein - nicht sterben , nur nicht sterben - sie hatte noch nicht entsagt , hatte noch wieder hinaustreiben wollen auf das ruhelose Meer von Hoffnungen und Möglichkeiten .
Sie - Ellen Olestjerne - mit ihren dreiundzwanzig Jahren , die mehr vom Leben verlangte als viele andere , die noch so viel schaffen und gewinnen wollte - , und das sollte nun das Ende sein von allem . -
Immer wieder sagte sie es laut vor sich hin :
das soll nun das Ende sein . -
Und doch war sterben noch nicht das Schlimmste - , wenn sie sich nicht entschließen konnte , den Kampf zu wagen , dann erwartete sie das andere : jahrelanges Siechtum , hatte er gesagt , das bloße Wort war schlimmer wie zehnfacher Tod - sich herumschleppen vom Bett zum Sofa , vielleicht auch einmal bis ans Fenster - mit den ewig bohrenden und zerrenden Schmerzen - nichts mehr tun , nichts mehr wollen können und dabei verfallen , häßlich werden , Falten bekommen , langsam zum Skelett werden , bis auch das zusammenbrach .
- Der Gedanke schüttelte sie wie etwas Widersinniges , Wahnsinniges , Unfaßliches .
Was hatte sie nicht schon alles hingegeben in dem unbändigen Drang nach ihrem innersten Selbst , das so viel zum Opfer wollte - Heimat , Geschwister , selbst den Bruder , den sie so sehr liebte , denn der war schließlich auch von ihr gegangen zu den anderen - den Mann , dem ihre erste große Leidenschaft gehörte - sein Kind - Reinhard - alles , alles von sich geworfen , ihr war , als ob sie immer nur über Leichen hinweggegangen sei - , um schließlich vor ihrer eigenen anzukommen , und daneben stand das Schicksal und grinste sie eisig an :
Es ist noch nicht genug - jetzt nehme ich dir auch noch deine letzte Kraft , deinen jungen Körper , der noch blühen wollte , deine jungen Jahre , die noch heißes Verlangen trugen - , und schlage dich zum Krüppel .
Ohnmächtig sollst du vor mir daliegen , und es war alles umsonst .
Und sie konnte nicht einmal aufspringen , um sich zu wehren oder zu fliehen .
Was half es ihr , wenn sie die Fäuste zum Himmel ballte und ihrem Geschick fluchte ? - Nein - kraftlos daliegen und warten , bis der Schlag sie traf oder an ihr vorbeiglitt . -
Wie hatte sie nicht schon warten gelernt - auf Gesundheit und auf die Rückkehr zum Leben , aber auf den Tod warten , auf den wirklichen oder den anderen - den Tod bei lebendigem Leibe - , das war eine fürchterliche , verzehrende Geduld , die sie noch zu lernen hatte .
Als der Arzt am nächsten Morgen wiederkam , stand Ellens Entschluß fest , sie wollte nun alles so rasch wie möglich festgesetzt haben .
Aber es hieß noch eine Reihe von Tagen warten und sich zur Ruhe zwingen .
Draußen war immer noch Sonnenschein und goldene Tage .
Ellen meinte noch nie einen so lichten , strahlenden Herbst gesehen zu haben , es schien ihr fast wie eine gute Vorbedeutung , und mit der Entscheidung kam allmählich eine Art Zuversicht über sie .
Manchmal lag sie lange da und betrachtete sich in ihrem Handspiegel - nein , sie sah noch nicht aus wie ein zerstörter Mensch .
- Sonnenkind , so nannte Johnny sie - ja , sie hatte eigentlich immer noch ein Kindergesicht , nur etwas schmaler war es geworden , aber keine Leidenszüge .
Am letzten Tage kamen viele von ihren Bekannten mit dem verborgenen Gedanken , sie vielleicht zum letztenmal zu sehen , Schwester Maria fragte , ob sie nicht doch mit einem Geistlichen reden wollte - und dann Johnny - er legte ihr einen Haufen Rosen aufs Bett , seinen Kopf dazu , und Ellen glaubte zu sehen , daß er weinte .
" Aber Johnny " , sagte sie , " was habt ihr alle ? -
Tut , als ob ihr mich schon begraben wolltet , und ich denke ja gar nicht daran zu sterben . "
Jetzt , wo es so dicht vor ihr war , fand sie beinahe etwas Festliches in der Gefahr und gewann ihre alte Fähigkeit wieder , über alles zu lachen .
Es war ein trüber , grauer Nachmittag , und die ersten Schneeflocken trieben gegen die Fenster , als Ellen aus langer Betäubung wieder erwachte - wie durch einen Nebel sah sie Gesichter um sich her , dann sank sie wieder in den Nebel zurück , und es kam eine lange , halb bewußtlose Nacht - neben ihr die Schwester - ihre weißen Schleier schwankten hin und her wie große Flügel - - noch mehr Tage und Nächte - ein Gewirr von neuen wühlenden Schmerzen , schreckhaften Träumen und sengendem Durst - ein dumpfes , willenloses Ringen gegen unerträgliche Pein und dann wieder Zurücksinken in die milde Morphiumbetäubung .
War das noch Leben oder war es schon Todeskampf ?
Am ersten Morgen , wo sie wieder klar um sich sehen konnte , war ihr zumute , als sei sie schon weit fortgewesen , in dem dunklen Land , aus dem keiner mehr zurückkommt - und ein seltsames Gefühl von Erdenfremdheit durchzog sie , als ginge es sie nichts mehr an , ob sie wieder zu den Lebenden gehören sollte .
Dezember 93 Den ganzen Tag in alten Briefen gelesen und zuletzt in meinem einstigen Münchener Tagebuch - bis dahin , wo es plötzlich abbricht ... Seither habe ich nie wieder geschrieben , es taumelte alles zu überstürzend rasch an mir vorbei und über mich weg , von einer Katastrophe zur anderen , bis zu der langen Ruhezeit im Krankenhaus .
Danach kann ich mich oft noch zurücksehnen -
mein Gott , es war nicht leicht , von der stillen Zeit Abschied zu nehmen und so mit halben Kräften wieder hinaus - sich am Stock herumschleppen wie ein Krüppel .
Und wo mich Bekannte sehen , dies Erstaunen - man hat ja immer nur gehört : mit der ist_es aus .
Es kommt mir beinahe vor , als wären sie enttäuscht , wenn einer wieder aufersteht von den Toten . -
Und diese endlosen Fragen , warum ich immer noch hier bin , nicht bei meinem Mann .
- Das weht einen so kalt und feindlich an , man möchte seine Habe auf den Rücken nehmen und davongehen - Gott weiß wohin . -
Aber ich hätte es mir vorhersagen können .
- Und wenn ich so dasitze und meine Umgebung ansehe , in der ich jetzt lebe - dies kleine , enge Atelier mit dem Feldbett und dem großen Tisch , weiter ist fast nichts darin - , da kommen so allerhand Gedanken . -
Ja , ich bin jetzt nicht mehr die verwöhnte junge Frau , der man jeden Wunsch an den Augen abliest - , und auch nicht mehr die unverwüstliche Ellen früherer Tage , der die größte Misere am lustigsten schien .
Der schwerste Kampf wird jetzt erst beginnen , wo ich ihm eigentlich nicht mehr gewachsen und schon recht kampfmüde bin .
Da steht der Stock neben mir - der Stab Wehe - mein guter Doktor versichert mir , daß ich mit der Zeit wieder würde gehen können wie andere Menschen , aber dann redet er auch von Schonung und Pflege und ist entsetzt , wenn er hier heraufkommt :
" Kann denn niemand etwas für Sie tun ? " -
Aber das kann ich ihm nicht auseinandersetzen - - Reinhard tut immer noch für mich , was er kann , aber die Krankenzeit hat mehr verschlungen , wie ich ihm sagen möchte , und noch Schulden von früher her . -
Es kommt eine ziemliche Misere dabei heraus .
Nur gut , daß wir immer zwei sind , die Dalwendt ist jetzt auch ganz auf sich selbst angewiesen , und wir teilen gute und schlechte Tage wie früher .
Alles in allem bin ich ja gerade dahin gelangt , wo ich wollte , mein Leben gehört nur noch mir , ich kann daraus machen , was ich will .
Ich bin auch noch jung genug - wie viele fangen in meinem Alter erst an hinauszukommen .
Wenn ich daran denke , wie ich mich in ganz jungen Jahren fürchtete , ich möchte nicht genug erleben ! -
Jetzt liegt viel hinter mir in den kurzen Jahren .
Die alten Briefe haben mich heute ganz wehmütig gemacht - Detlev , Friedl und all die anderen .
- Wir waren ja noch halbe Kinder damals , in unserer Begeisterung und unserem Pathos , fühlten uns als die Vorkämpfer einer neuen Zeit - jeden Augenblick wären wir bereit gewesen , uns dafür zu opfern .
Ich weiß wenig davon , was aus ihnen allen geworden ist und wie weit sie dem Damals " treugeblieben " sind . -
Aber wer mag so dafür geblutet haben wie ich ? -
Ja , " der letzte Mut zu sich selbst " - ein blutiger Weg , der dahin führt - , der die Füße wund und müde macht .
Und manchmal möchten Heimweh und Sehnsucht rufen : Komme zurück ! -
Als ich anfing , mich zu erholen , den ganzen Tag im Lehnstuhl am Fenster saß und daran dachte , wie Reinhard jetzt einsam ist und sich vielleicht noch nach mir sehnt - , da haben sie oft nach mir gerufen - -
Aber dann der erste Besuch bei Johnny - , er trug mich die Treppe hinauf , die ich so lange nicht mehr gegangen war - , und da droben , wo alles an unsere wilden Stunden erinnerte - , da fühlte ich wieder den heißen Hauch der Stürme , die draußen wehen , wo man frei ist .
Die am warmen Kamin sitzen , wissen nichts davon - nur wir , die auf der Landstraße gehen .
Januar 94 Endlich kann ich wieder etwas an die Arbeit , und der Stab Wehe ist verbannt .
Allmählich fangen nun die Erfahrungen an , die man mir früher so oft weissagte - , daß wir nie ungestraft vom geraden Wege abweichen dürfen .
- Ich wollte in unsere frühere Malschule eintreten , aber man hat etwas von Ehescheidung gehört und erhebt Bedenken . -
So bin ich denn in eine andere gegangen , wo es nicht so strenge genommen wird .
Und das andere ist dem gleich .
- Bei meinem ersten Münchener Aufenthalt verkehrte ich noch in einigen Familien - trotzdem ich damals doch ein ziemlich extravagantes Leben führte , aber man wußte nicht , wie weit es in Wahrheit ging , und vor allem wußte man , daß ein geachteter Mann in sicherer Stellung mich heiraten wollte .
- Eine Mittelsperson macht mich jetzt schonend darauf aufmerksam , daß man an mir irre geworden sei - aus dem , was sie sagt , fühle ich wohl heraus , daß ein offenes Bekenntnis vielleicht alles wieder gutmacht - man könnte ja vielleicht eingreifen , helfen - tout comprendre et tout pardonner - man weiß ja nichts Genaues .
Aber ich danke schön - ich suche niemand mehr auf , der nicht zu mir kommt .
Es wacht etwas von dem alten Ibsenklubgeist in mir auf .
Wenn mir etwa Steine in die Fenster fliegen sollten , so werde ich sie mit Vergnügen aufsammeln und für meine Kinder aufheben .
- Ich habe eine stille Freude dabei , all diesen guten Leuten in Gedanken die Tür recht weit aufzumachen .
2. Februar Diesen Winter hat sich eine etwas merkwürdige Freundschaft angeknüpft - ich war abends bei strömendem Regen in der Stadt , wollte beim Marienplatz in den letzten Fiaker steigen .
Als ich ankam , stand schon jemand daneben , will mir aber aus Höflichkeit den Wagen überlassen , hält sogar seinen Regenschirm über mich .
Mir machte das so tiefen Eindruck , daß ich sagte , er könne ja mitfahren , wenn wir denselben Weg hätten .
Das Ende war , daß wir dreimal zwischen dem Hoftheater und dem letzten Stück der Theresienstraße hin- und herfuhren und uns noch nicht darüber geeinigt hatten , wer wir eigentlich wären .
Dann trafen wir uns am Weihnachtsabend wieder auf der Straße , hatten beide nichts anderes vor und feierten ihn zusammen in einer Weinstube , gerieten so tief in ein Gespräch über Boheme , Gesellschaft , guten Ton und Etikette , daß wir eine Stunde vor meiner Haustür standen und ich ihn schließlich zu einem Kaffee bei mir einlud .
So ähnlich hat sich unser Verkehr dann weitergesponnen , er kommt oft abends zu mir herauf , und wir schwätzen die halbe Nacht durch - trotz allem guten Ton , an dem wir übrigens aufs strengste festhalten .
Denn unser Benehmen ist tadellos korrekt in Gedanken , Worten und Werken , man könnte es eigentlich nicht einmal Freundschaft nennen , wir verkehren nur wie zwei liebenswerte Eisblöcke , die irgendwelchen Gefallen aneinander finden .
Bel-ami - den Namen hat er bekommen , wie ich seinen wirklichen noch nicht wußte - gehört der sehr guten Gesellschaft an - ist immer sehr elegant und scheint ein ziemlich unruhiges Leben zu führen .
- Jetzt im Karneval , kommt er einmal im Frack , einmal in irgendeiner Maske zwischen zwei Festlichkeiten bei mir angestürzt , um sich auszuruhen .
Wir suchen erst lange nach einem geeigneten Platz für seinen Zylinder , dann sitze ich auf dem Bett , er auf dem einzigen Klappstuhl und erzählt mir seine Erlebnisse .
Einmal schlief er dabei im Stuhl ein - und entschuldigte sich wenigstens drei Stunden lang .
Ich versicherte ihn meiner Nachsicht , und so ist es allmählich Brauch geworden , daß er bei mir seine nächtliche Siesta hält .
Ach , dieser Karneval !
Wenn ich Bel-amis Schlaf bewache oder Johnny zu irgendeinem Fest schminken und kostümieren helfe , da wird es mir doch manchmal arg schwer , immer zu Hause zu bleiben - aber dies Jahr darf ich nicht tanzen - wer weiß , ob später .
März Nun ist bald Frühjahr - und dann geht Johnny fort - vielleicht auf Jahre .
Aber wir sind beide sehr tapfer und machen uns keine Abschiedsschmerzen .
- Eigentlich sind wir überhaupt sehr weise , nehmen das Leben nun von der Sonnenseite , soweit es uns zusammen angeht .
Wir wissen wohl , was der andere an trüben und schweren Sachen zu tragen hat ; aber das behält jeder für sich .
Es gibt keine abgründigen Gespräche zwischen uns über Seelenzustände und dergleichen , aber auch keine Verstimmungen und keine Szenen .
Der Tag gehört jedem allein und der Tagesordnung , die man nie miteinander teilen sollte .
- Wir kennen eben alle Weisheiten .
Und Eifersucht , ich glaube , davon wissen wir auch nichts .
Oder doch - ich fühlte so etwas , weil er ein Kind hat .
Sonntags kommt die Mutter manchmal damit , um es ihm zu zeigen - einmal auch , wie ich da war .
Und dabei wurde mir ganz weh - man hat mir gesagt , daß ich wohl nie eins haben werde .
Und wenn ich dann solche kleine Wesen sehe , schmerzt mich das Gefühl , daß es eine Sehnsucht gibt , die mir nie erfüllt werden kann .
Aber Johnny hat mich furchtbar ausgelacht , als ich ihn bat , er sollte es mir schenken .
August Lange , lange nichts aufgeschrieben - daran kann ich selbst immer messen , ob mein Leben still und einsam gewesen ist , oder ob es mich mitgerissen und durchgeschüttelt hat .
Ich bin viel gesünder , seit ich draußen auf dem Lande bin , Male den ganzen Tag . -
Und doch denke ich immer wieder , daß ich nicht lange leben werde - , daß es mich doch wieder hinwerfen könnte und ich mich eilen müßte .
Dann kommt ein förmliches Fieber über mich , ich möchte in jeden Tag hineindrängen , was er nur fassen kann , an heißer Arbeit und heißem Leben .
Wenn ich mein Tagebuch lese - das klingt alles so , als ob ich immer in tiefer Melancholie herumginge und der dunkle Hintergrund nie ganz wiche .
Und dabei gibt es keinen Menschen , der so viel lacht wie ich - niemand glaubt , daß ich auch nur einen Tag ernst oder traurig sein könnte , oder daß mir irgend etwas tief geht .
Ich begreife es ja auch selbst manchmal nicht völlig , daß ich immer noch ganz dieselbe bin .
Aber immer noch könnte ich für einen Moment der Freude meine ewige Seligkeit verkaufen .
- Ich könnte es nicht nur , ich tue es auch .
Seit Johnny fortging , ist es fast wie das Leben im herumziehenden Zigeunerwagen , das ich mir als Kind träumte - von einem Ort zum anderen und über dem Hier das Dort vergessen .
Nur immer weiter , nicht rückwärts sehen und nicht vorwärts , den Zufall als Gott anbeten und ihm opfern .
Ich denke oft daran , wie ich als Kind war .
Ich dachte mir immer , mein Leben müßte etwas ganz Besonderes werden , und später auch noch :
Ungeheure Dinge leisten , in der Kunst , in allen möglichen Verwegenheiten , am liebsten hätte ich auch Seiltanzen und Akrobatenkünste gelernt , überhaupt alles können , alles beherrschen .
Und vielleicht wäre ja auch allerhand daraus geworden , wenn sich nicht von Anfang an alles dagegen gestemmt hätte .
Zu Hause - ich kann meine Eltern doch heute noch nicht recht begreifen - ; Eltern sollen doch froh sein , wenn ihre Kinder viel wollen , und sie sind immer nur entsetzt .
Ich habe wohl kein Wort so gehaßt wie das :
Es geht nicht . -
Es ist das unwahrste Wort , das es gibt .
Und später , ja , hätte der liebe Gott mir nicht dies Kranksein geschickt , mir wieder eine Kette an den Fuß gehängt - - , denn darüber gibt es wohl keine Täuschung :
Ein ganz gesunder Mensch werde ich nie wieder , wenn ich auch nach außen hin so tue und so lebe .
Und das ist doch das einzige , wirkliche Unglück , das einen treffen kann .
Aber ich habe immer noch nicht gelernt zu sagen :
Es geht nicht .
September Zwischendurch ein paar Tage in der Stadt .
Ein Abend mit Bel-ami .
Der ist wie ein Anker in der Brandung , er weiß wohl ungefähr , wie ich lebe , aber wir reden nicht davon .
Wir zwei verlieben uns nicht ineinander , auch nicht vorübergehend , kommen uns auch freundschaftlich nicht näher , es liegt eine weite Ferne zwischen uns , und die geringste Übertretung würde alles zunichtemachen .
Er schlief wieder ein auf seinem gebrechlichen Lehnstuhl .
Es wurde immer später , und ich versuchte ein paarmal , ihn aufzuwecken .
Es ist etwas Eigenes , jemand schlafen zu sehen - bei diesem ist_es , als ob der wirkliche Mensch dann erst zum Vorschein käme , seine Züge bekommen etwas Zerwühltes , Gequältes , er sieht aus , als ob er nie jung und froh gewesen wäre .
Ich weiß wenig von seinem Leben , aber ich denke manchmal , daß er ebenso ruhelos ist wie ich , sein Gesicht sagt es , wenn er schläft .
Vielleicht hält uns das zusammen - , obgleich wir es uns niemals eingestehen würden .
Schließlich werde ich auch müde , lege mich aufs Bett .
Dann und wann wache ich auf und sehe mich um : dieser elende Raum ohne alle Behaglichkeit - der große , wüsste Tisch , auf dem all meine Sachen liegen , weil ich keine Schubladen habe - die Lampe mit dem zerrissenen , hellgrünen Schirm - aber doch liebe ich das Ganze , und es hat einen gewissen Zauber .
Und drüben im Lehnstuhl schläft der ferne , fremde Mann .
Beim Einschlafen geht mir durch den Sinn , wie schön doch diese unsere stillen Stunden sind - , daß ein Mensch zu mir kommt , um auszuruhen , und all das Schweigen zwischen uns beiden Ruhelosen .
Erst am hellen Sommermorgen wachen wir auf , die Lampe brennt immer noch .
Ich mache Kaffee , und nun kommt erst die Plauderstunde .
Dann begleite ich ihn durch den Englischen Garten , er hat einen weißen Tennisanzug an und ich ein weißes Kleid - draußen ist alles so morgenfrisch und schön .
November Nun wieder zurück von den Sommerfahrten , und der Herbst macht melancholisch .
München verödet immer mehr ; dieses Jahr sind viele gegangen .
Johnny , die Dalwendt - der Zarekkreis hat sich nach und nach aufgelöst , es ist nicht mehr das abenteuerliche Traumland von früher .
Ich komme im Café mit allerhand Leuten zusammen , Malern , Literaten usw. , aber es ist eine ganz an derer Sorte Menschen .
Es scheint mir beinahe , als ob inzwischen eine andere Zeit und eine andere Generation gekommen wäre .
Es ist kein Sturm mehr darin , und all das Neue ist eben doch nicht gekommen .
Diese Kaffeehausmodernen sind schon so mit allem fertig , was wir damals andächtig anbeteten , als ob man nun keine Andacht mehr brauchte , weil man die Kinderschuhe ausgetreten hat .
Und im Grunde haben sie dafür nur Pantoffeln angezogen und bewundern nur mehr sich gegenseitig .
Oh , diese vielen ernsten Gespräche , was der eine als Künstler will und wie der andere das Leben anfaßt usw .
Ich bin doch , weiß Gott , noch nicht so alt , daß mir alles in der Erinnerung anders aussieht , aber diese Leute scheinen mir so abgelebt und greisenhaft gegen die , mit denen ich jung war , sogar auch gegen unsere Zareckboheme vor drei Jahren .
Sie wollen auch nicht mehr Boheme sein , jeder hat seinen schwarzen Rock und geht auf jours , um über Kunst und Kultur zu reden .
Man soll es doch nicht ganz mit der Gesellschaft verderben , denn sie hat die Übermacht behalten , und es ist gescheiter , sich eine Tür offen zu halten .
Ach , wie hätten wir den totgelacht , der auf einen jour gegangen wäre .
Neujahrsabend Wenn doch Bel- ami noch käme , um mir die schwarzen Gedanken etwas zu vertreiben , und wenn er nur ganz ruhig dasäße und kein Wort sagte .
Aber es ist alles still , und ich bin allein .
Seit Tagen schon nicht mehr ausgegangen , es hilft nichts , gegen diese Kraftlosigkeit und Erschöpfung anzukämpfen , es hilft nichts , daß ich mich nicht ergeben will .
Warum man wohl an solchen Tagen immer so sehr zu Betrachtungen aufgelegt ist - , aber es scheint eine alte Gewohnheit , die schwer loszuwerden ist .
Immer wieder muß ich an Reinhard denken , vor zwei Jahren waren wir an dem Abend noch zusammen - , und weiter zurück - zu Hause - die Geschwister .
- Vielleicht denken sie manchmal noch an mich , wie an jemand , der lange gestorben ist .
Und ich sitze hier , halbkrank , in dem elenden Raum , wo das Schneewasser durch die Scheiben läuft , und wo alles zu sagen scheint :
Was führst du für ein Dasein !
Und ich bin noch jung - aber alles , was ich hoffen und wünschen könnte , ist untergraben durch diese elende Kraftlosigkeit .
Es hat längst zwölf geschlagen , lärmende Menschen kommen unten in der Straße vorbei , dann ist es wieder ruhig .
- Mir ist , als ob mein eigenes Leben mir hier in der Totenstille gegenübersäße - so haben wir beide schon oft Zwiegespräche gehalten , mit bangen schweren Fragen .
Wenn ich an die eine Hoffnung glauben könnte , die ganz leise und ganz ferne aufdämmern will , aber ich habe nicht den Mut dazu - , als ob sie dann zerrinnen müßte wie alles andere , wenn ich nur den Blick nach ihr wende oder nur eine Hand rühre .
Mitte Januar Nun schon seit Wochen so hinliegen .
- Wollte ich mir meine ganze Verzweiflung eingestehen !
Wozu immer wieder sich aufraffen , wenn doch alles umsonst ist .
Als ob ein Gespenst mich vor meinen eigenen Augen hinwürgte - ich kann nicht leben und nicht sterben .
Heute habe ich mir mit vieler Mühe den Lehnstuhl ans Fenster geschleppt - es ist ein wahres Ereignis , einmal den Platz zu verändern , in den Hof hinauszusehen , wo ein paar Knechte Holz hacken und der Schnee von den Dächern rinnt .
Alles trüb und grau , weiche , drückende Vorfrühlingsluft , über dem Kohlenschuppen graugelbe Häuserwände - so einer von den Tagen , wo man sehnsüchtig von Luft und Licht träumen möchte wie ein Gefangener .
Ja , was ist das für ein Dasein , wenn man krank ist - morgens liege ich lange im Bett , nur um nicht in den Tag hinein zu müssen .
Dann mit dem Hammer dreimal an die Wand klopfen , bis der alte Hausmeister kommt , um Feuer zu machen .
Er läßt die Tür offen , und sie knarrt , daß ich weinen möchte , dann fliegen die Späne durchs Atelier , und dabei unterhalten wir uns über das Elend im Leben - drüben liegt seine Frau schon seit Monaten krank .
Die beiden Alten sind wie eine Art Familie für mich .
Dann bringt er mir den Kaffee , der auf meinem schwarzen Koffer serviert wird , weil kein anderer Platz da ist .
Ich stehe allmählich auf , alles ist in Unordnung , nichts da , was ich brauche .
Mein roter Schlafrock ist mein einziger Trost , der sieht wenigstens aus , als ob man bessere Tage gekannt hätte , wenn ich die alte Frau drüben besuche , findet sie mich sehr schön .
15. Februar Heute kommt mein Doktor wieder - sieht mich sehr ernst an .
Ich habe doch recht gehabt - , die Hoffnung , an die ich nicht zu glauben wagte - -
Ein Kind , mir ein Kind - , am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen .
- Das war die erste frohe Stunde seit langer Zeit , und ich kann es immer noch nicht begreifen .
März Und nun sind mir alle Stunden froh - der lange Tag und die lange Nacht ; ich möchte immer nur daliegen und auf die leise , ferne Stimme horchen , die mir von einer namenlosen Sehnsucht und einem namenlosen Jubel redet .
Und die Mattigkeit , die Ohnmachten , das stundenlange Augenflimmern morgens beim Aufstehen - all diese fast unerträglichen Gefühle , die ich früher schon einmal gekannt habe , jetzt erkenne ich sie mit Freuden wieder .
- Es ist nicht mehr das Gespenst der Krankheit , vor dem ich mich so entsetzlich fürchtete - jetzt ist es der Ruf zum Leben .
Ich bin wohl ungeduldig , daß bessere Tage kommen , aber sie müssen ja bald kommen .
30. März Wie oft denke ich jetzt zurück - an Henryk .
- Ich begreife es nicht mehr , daß ich mich damals so in Angst und Verzweiflung hineinjagen ließ .
Ich war selbst ein hilfloses Kind , es schlug mir alles über dem Kopf zusammen .
Nach außen hin ist meine Lage vielleicht noch schlimmer - ich weiß keine Hand , die sich mir bietet , nach der ich greifen könnte .
Ich weiß nur , daß ich Mutter werden und daß mein Kind mir ganz allein gehören soll .
Es ist ein seltsames Gefühl , wenn der Körper sich so verändert - etwas schwermütig und süß Geheimnisvolles und wie Andacht , wenn man fühlt , wie das kleine Leben sich von Tag zu Tag deutlicher regt - ich möchte nur darauf lauschen dürfen - nichts mehr tun , nichts mehr denken .
31. März Ich lebe wieder mein gewohntes Leben , die Kräfte kommen wieder , aber damit auch eine körperliche Verzagtheit und Ratlosigkeit , über die ich schwer Herr werden kann .
Ein unaufhörliches Hin- und Herdenken :
Was soll ich nun tun ?
Es dauert nicht lange mehr , so weiß es alle Welt , die Leute im Hause , in den Läden , wo ich täglich einkaufe , an denen ich vorübergehe , alle werden mich anstarren , mein Geheimnis herumzerren .
Mein Gott , bin ich feige - , aber ich möchte nur fort von hier , weit fort , wo mich niemand kennt .
Dabei der ewige Kampf mit der äußeren Not , mit den Schulden , die sich immer höher türmen .
Der Hausbesitzer will mich vor die Tür setzen , denn die Miete steht seit einem Vierteljahr aus .
Alle paar Tage kommt er herüber , in der Soutane und mit seinem Rosenkranz , denn er ist Priester .
Auf meiner Staffelei steht ein angefangenes Porträt vom letzten Winter ; ich vertröste alle , die um Geld kommen , darauf , daß ich für das Bild sehr viel bekommen werde . - -
So geht es von Tag zu Tag .
Inzwischen hat sich auch wieder ein kleiner Kreis von Bekannten gesammelt , denen es ähnlich geht - Ateliernachbarn und andere .
Wir haben einen gemeinsamen Mittagstisch bei mir , sie kommen zu allen Tageszeiten , machen Musik und Lärm und versuchen mich aufzuheitern , wenn ich traurig bin .
Und abends Bel-ami - ich habe es ihm gesagt .
Er sieht sich in meinem Atelier um : " Ja , um Gottes Willen , was wollen Sie denn mit einem Kind anfangen ? "
Dann redet er davon , daß es meine Lage nach allen Seiten hin erschweren würde , und daß es doch eigentlich ein Verstoß gegen den guten Ton sei .
Er hat sich so viel Mühe gegeben , mich etwas zu erziehen .
Ich lache wohl , aber mir ist das Herz so voll , daß ich kein Wort herausbringe von allem , was ich sagen wollte .
2. April An Reinhard geschrieben - ich konnte es nicht lassen .
Bis vor einem halben Jahr haben wir immer noch Briefe gewechselt - jetzt schweigt er schon lange .
Aber es war wie ein vermessener Glaube in mir , daß er vielleicht jetzt wieder mein Freund sein könnte , mir selbst kommt die ganze Welt so verwandelt vor - in einem ganz neuen , weicheren Licht .
Er hat kalt und hart geantwortet ; daß ich doch jetzt bedenken möchte , was ich mir und meinem Kinde schuldig wäre - den Vater zu heiraten .
Mein Kind hat keinen Vater , es soll nur mein sein .
Ich habe es selbst so gewollt - er ist schon lange fort , und ich würde ihn nicht zurückrufen , selbst wenn ich wüßte , wohin er gegangen ist .
Dieser Mann gehört nicht zu meinem Schicksal .
Aber der Brief von Reinhard läßt mir keine Ruhe - ich muß ihn noch einmal sehen , mit ihm sprechen , alles in mir schreit danach .
Kein anderer Mensch hat so tief zu mir gehört und so tief in mich hineingesehen - keiner mich auch wohl so geliebt . -
Ich will ja nicht seine Liebe wiedergewinnen , nur ihn noch einmal sehen und dann meiner Wege gehen . -
Ich weiß ja , daß ich vielleicht sterben muß , wenn das Kind kommt - die Ärzte haben mir früher oft gesagt , daß ich mich der Gefahr nicht aussetzen sollte .
10.
April Gestern abend zurückgekommen . -
Wo war meine Besinnung , daß ich hinfuhr und nur daran dachte : morgen sehe ich ihn wieder und fühle noch einmal seine milde gute Hand .
Und dann sein Telegramm : Wiedersehen ausgeschlossen .
- Es ist wie eine ewige Wiederholung , die durch mein Leben geht . -
Meine Mutter , die mir sagen ließ : Du gehörst nicht mehr hierher - ; dann Henryk - , aber der gab mir wenigstens noch die Hand .
Und nun auch Reinhard , der mich geliebt haben will . -
Das ist also immer das letzte , was Liebe geben kann ! -
Sie wissen alle nicht , was Liebe ist - sind alle hart .
Es war Sonntagmorgen und alle Glocken läuteten , ich wußte nicht wohin , um allein zu sein , und bin in eine von den großen Kirchen gegangen .
Und da habe ich lange hinter einem Pfeiler gesessen und daran gedacht , daß wir beide ganz allein auf der Welt sind - ich und mein Kind .
Wenn es wüßte , wie viel Liebe seiner wartet , mir war beinahe , als ob ich laut zu ihm sprechen müßte .
15. April Jetzt gilt es vor allem Arbeit suchen , mit der ich etwas verdienen kann - es hat sich auch allerhand gefunden - Schreibereien , eine Arbeit , die mir im Grunde nicht liegt und mich nicht freut .
Aber was soll man machen ?
Die Reise hat für diesen Monat alles verschlungen - ich habe nur noch eine Matratze zum Schlafen - alles andere ist ins Leihhaus gewandert .
25. - - Niemand weiß , wo ich bin .
Ganz heimlich bin ich fortgegangen , ohne Abschied .
- Nur Bel-ami war den letzten Abend noch da , wir saßen bis spät in die Nacht in dem leeren Atelier auf zwei Koffern . -
Ob er etwas davon fühlte , wie bange und traurig mir war ?
Und am nächsten Morgen fort , ganz allein .
- Nur die alte Hausmeisterin weinte - ja , nun hätte sie niemand mehr .
Ich sehnte mich so danach , ganz allein zu sein , aber nun weiß ich die Einsamkeit nicht zu ertragen - von einem Ort bin ich zum anderen gefahren , überall kam es mir unerträglich vor , auch nur einen Tag zu bleiben - immer neue , fremde Gesichter , die mir von feindlicher Neugier erfüllt schienen , mich bis in die Träume hinein verfolgten .
Ich will ruhig sein und nur an mein Kind denken .
Aber das Heimweh reißt an mir , Heimweh nach jedem Stückchen Heimat , das ich jemals besessen habe - selbst nach meinem öden Atelier in München .
Nur nach einem Fleck auf der Welt sehne ich mich , wo ich mich still und müde hinlegen könnte und nur ein Mensch um mich wäre , der mir ein gutes Wort sagt .
Mir ist , als hätte ich die letzte Stätte verloren , keinen Boden mehr unter den Füßen - ganz allein auf öder Landstraße , mit dem ungeborenen Leben unter meinem Herzen .
Und wir beide allen Stürmen überlassen - wohin werden wir treiben - wohin geht unsere Straße ?
In einem kleinen abgelegenen Wirtshaus unten am See habe ich mich niedergelassen und gleich angefangen zu arbeiten , um die Gedanken niederzuzwingen .
Dazwischen weite Gänge ins Land hinein oder den See entlang .
Es hilft alles nichts - ich weiß nicht , warum diese rastlose , drängende Schwermut sich immer dunkler auf mich herabsenkt - , als ob alles Leid und Weh , das man jemals erlitten hat und noch erleiden kann , alle Schmerzen , die mir getan wurden , und die ich anderen tat , - jedes unerfüllte und unerfüllbare Sehnen - , als ob jede wehe Erinnerung und jeder ferne Klang sich zusammenballte zu einer unentwirrbaren , unerträglichen Qual , die keinen Lichtstrahl mehr durchläßt .
- Warum es immer finsterer wird in mir , warum ich aufschreien möchte , wenn die Sonne scheint und der Frühling um mich her leuchtet ?
Der Sturm der letzten Tage hat nachgelassen ; ich ging am See hin gegen Abend , und es kam wieder eine etwas mildere Stimmung über mich .
Alles war so still : auf der einen Seite das weite , dämmernde Land mit seinen weißen Obstbäumen und zur anderen die blauen , verschwimmenden Ufer .
Und doch immer wieder die Gedanken , die nicht weichen wollen - : wenn nun auch das Kind mir wieder genommen würde , oder ich selbst sterben müßte und es zurücklassen .
Wäre es denn nicht besser , jetzt noch freiwillig hinabzugehen und es mit mir zu nehmen ?
Manchmal ist mir , als ob ich hellsehend wäre und wüßte , daß es so kommen muß .
Und wie eine Melodie , die mich nicht losläßt , klingt es in mir bei jedem Schritt : nur sterben , nur sterben .
Ich horche in ewiger Todesangst darauf , ob das Kind sich regt in mir , und wenn ich es nur eine Stunde lang nicht fühle , dann glaube ich , nun ist alles vorbei und wir sind beide verloren .
Sonntagnachmittag Der Anblick von Menschen macht mich krank , und heute kommen sie scharenweise hier heraus .
Mir wird dann , als ob ich von Gefahren umringt wäre , mich verteidigen müßte , wenn ich nur ein fremdes Gesicht sehe .
So habe ich mich in mein Zimmer geflüchtet - am offenen Fenster mit dem weiten Blick in sommerliches Grün .
Ich sehe auf den langen , gewundenen Weg zwischen den Bäumen und denke daran - , wenn jetzt auf diesem Weg jemand zu mir herkäme und mich aus meiner einsamen Angst erlöste .
Gegen Abend das Boot losgemacht und weit auf den See hinausgefahren , jetzt wieder oben - der Sonntagslärm schallt zu mir herauf , und da draußen die blütenweiße Sommernacht .
Wenn man nur schlafen könnte , eine einzige Nacht ruhig schlafen .
So kann es nicht weitergehen , oder ich treibe dem Wahnsinn zu - ich weiß es , fühle es , wie er mich immer mehr umfängt .
Nur selten kommt eine klare Stunde wie jetzt , wo ich mir sage , daß das alles krankhaft ist - körperlich .
Aber wenn ich es mir Tag und Nacht vorsagen wollte , es hilft nichts , es ist da , weicht nicht von mir . -
Den ganzen Tag stehen mir die Augen voller Tränen , und meine Stimme versagt bei den gleichgültigsten Worten .
Ich kann nicht mehr auf den See fahren , nicht mehr ans Ufer gehen , ich fürchte mich vor dem Wasser - , daß ich auf einmal die Besinnung verlieren und mich da hineinwerfen könnte , in die Tiefe , die nach mir ruft .
Nein , ich muß mich retten vor diesem Ruf , sonst verschlingt es mich - mich und mein Kind .
München , Juli Aus einer langen Nacht bin ich zurückgekehrt - war es nicht schon , als ob schwarze Totenhände mich umklammert hielten , sich immer fester krallten , bis das Bewußtsein sich unter ihrem Griff allmählich verwirrte ?
Dann ließen sie langsam , langsam wieder los .
Oft geht es noch durch dunkle Tiefen jetzt - , aber ich sehe das Licht wieder , und es scheint in mich hinein .
Ich kann jetzt wieder lächeln über all die Schrecken , wie ein Arzt über die Einbildungen seiner Kranken lächelt .
Das Leben wollte mich doch nicht von sich lassen , und es hat lauter gerufen wie all die schlimmen , dunklen Mächte .
Mein Gott , wie rasch uns etwas Überwundenes in der Erinnerung fremd und unbegreiflich erscheint .
Wer denkt , wenn die Sonne aufgeht , noch an die Gespenster , die ihn in der langen , schlaflosen Nacht marterten ?
Er kann nur noch fühlen , daß die Welt sich in Klarheit verwandelt hat .
Und so geht es mir jetzt - ich weiß nicht , wo die dunkle Angst geblieben ist und woher mir die tiefe Ruhe kommt - Ruhe in mir selbst , die ich nie gekannt habe .
- Ich war der ruheloseste Mensch unter der Sonne , immer im Kampf , in tausend Kämpfen .
Jetzt möchte ich nur still sein , und lauter neue Gedanken treiben in mir , wie Blüten , die man noch nie gesehen hat . -
Wo waren sie vorher ?
Wo war ich selbst und mein Leben ?
Es rannte immer in die Irre und immer wieder durch lauter Stachelhecken , riß sich wund und blutete aus vielen Wunden - und ich stand daneben und sah ratlos zu und war verzweifelt , weil nie die Blumenwiesen kamen , die ich suchte .
Warum haben wir als Kinder keine Lehrmeister , die uns lehren , mit dem Leben eins zu werden , warum haben sie uns immer nur gesagt , daß es Feindschaft und Kampf sein müßte , schwer und hart ?
Das ist es nur , solange wir uns dagegen sträuben , taub und blind dahinrennen und nicht hören , was es uns sagt .
Und wenn wir das einmal dunkel ahnen wollen , dann schreit so viel dagegen an , von außen her und von dem , was man jahrelang in uns hineingelogen hat , daß wir uns immer wieder von dem wirren Lärm betäuben lassen .
Ich glaubte so mutig zu sein , weil ich ein paar Sprünge gemacht hatte , die nicht alle wagen - , aber wie elend verzagt bin ich dann oft dagesessen und habe an der Lektion herumbuchstabiert , die das Leben mir zu lernen gab - wie töricht habe ich gemeint , sie hieße Entsagung , Enttäuschung oder noch alles mögliche andere .
Jetzt kommt es mir vor , als ob mit dem großen Rätsel , das sich in meinem Körper vollendet , auch all die anderen Rätsel sich lösten , als ob ich mit anderen Augen sähe , mit anderen Sinnen fühlte , und endlich fange ich an , lesen zu lernen . - -
Ein kleines , enges Zimmer mit zwei Fenstern nach Süden - ohne Läden , die man gegen die Hitze schließen könnte - mein alter , großer Tisch , der fast den ganzen Raum ausfüllt - gegenüber Schieferdächer , auf denen die Sonne glüht - und schreiben , den ganzen Tag von Morgen bis Abend .
Aber jetzt sage ich nicht mehr :
Was führst du für ein Dasein ?
Ich würde kein anderes Schicksal mehr gegen meines eintauschen , auch das vergangene nicht .
- Wie ich mich all der Verzagtheit schäme - wie konnte ich mich so vor feindlichen Blicken fürchten ?
Einzelne von früheren Bekannten grüßen mich nicht mehr , andere beklagen mich .
Mehr oder minder bin ich in ihren Augen doch jetzt für immer bankrott - entgleist - die Tore der " Gesellschaft " sind für immer hinter mir zugefallen .
Und das Kind ? -
Ich weiß meine Verantwortung wohl - und ich bin froh , ihm gerade dieses Schicksal bieten zu können - ich will es lehren , sein Schicksal zu lieben , wie ich meines lieben gelernt habe .
Zu Hause trage ich nur noch lange , weiße Kleider , die nach verwöhnter Ruhe aussehen , und die träume ich mir dann manchmal dazu .
Wie müßte das sein , jetzt so leben zu können - in großen hellen Räumen mit vielen Blumen und festlichen Dingen - frohe Menschen um mich her , die alles für mich täten , mich verwöhnten - und dann nur daliegen und an das Kind denken .
Wenn ich dann auffahre und mich besinne , laufen mir dicke Tropfen von der Stirn , und die Hände wollen nicht weiter .
Die Hitze ist lähmend - auf meinem Tisch steht immer eine große Schale mit Eis , um Kopf und Hände daran zu kühlen - das ist mein einziger Luxus .
August Die Heimat ist bereit , in der mein Kind erwachen soll . -
Seit vierzehn Tagen kaum ins Bett gekommen , ich lege mich nur ein paar Stunden auf den Diwan , dann ist es wieder vorbei mit dem Schlaf , und ich wandere von der ersten Dämmerung an in der Wohnung herum - von einem Zimmer ins andere .
- Es war so viel Freude darin , alles selbst einzurichten , so viel Stolz , daß man es selbst zusammengearbeitet hat .
Alles scheint zu warten - die kleine Wiege , die neben meinem Schreibtisch steht - armselig ist das Ganze wohl , aber es war alles , was ich geben konnte , und für mich liegt schon der Glanz all der Liebe darüber , die hier zwischen uns beiden leuchten soll .
Nur die letzte Arbeit muß noch getan sein - meine Augen brennen nach Schlaf . -
Ich habe eine Schieblade vom Schreibtisch herausgezogen , um den Rücken dagegenzulehnen , die Schwere im Körper will mich fast zu Boden ziehen .
Und ein Gefühl , als ob man nicht mehr auf der Erde wäre , sondern in einem fremden , durchsichtigen Element , wo ferne Glocken läuten und man nur lächeln und weinen möchte .
September - - Mein Kind - nun ist es aus seinem langen , dunklen Schlaf erwacht , Tag und Nacht liegt es neben mir - Tag und Nacht scheint jetzt die Sonne , und die letzte Finsternis ist hell geworden - die Welt steht still um uns beide , wie ein Tempel , in dem alle Offenbarungen tönen .
Mein Kind - mein schwererkämpftes - nach all dem stillen , frohen Warten noch einmal hinunter in den allertiefsten Abgrund - durch Martern hindurch , wie sie kein Traum zu ersinnen vermag , die alles hinweglöschen , was noch leben will an Furcht und hoffender Erwartung , alles verstummen machen vor dem einen schaudernden Aufschrei , daß solches Entsetzen möglich ist .
Und dann der lichte Morgen , die hellen strahlenden Stunden , wo das Leben in seine Bahnen zurückflutete - , und wo ich zu fassen begann , daß ein Märchenwunder Wirklichkeit geworden war - das Märchenwunder , das neben mir in weißen Kissen lag und mich aus weiten , dunklen Augen ansah .
- Mein Kind - was frage ich jetzt noch , ob es schwer erkämpft war - , mein Kind soll zur Freude geboren sein , nicht die verblaßten Spuren tragen von dem , was ich gelitten habe , und was jetzt mir selber Freude und Reichtum geworden ist .
Mein Weg war wohl oft dunkel und blutig , ich habe den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen und seinen Blick gefühlt , den Wahnsinn und die letzte Verzweiflung - nun sehe ich dem Leben ins Auge und bete es an , weil ich weiß , daß es heilig ist .
Es hat mich all seinen Reichtum gelehrt an Leiden und Lust - ich liebe alle die Schmerzen , die es mir angetan hat , und all die Opferwunden , die es schlug - ich liebe auch die Verlassenheit und die Not , die vor unserer Tür steht . -
Wie konnten wir je Feinde sein ?
Mag es jetzt geben oder nehmen - ich sehe ihm ins Auge , und wir lächeln beide .

License
CC-BY
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Reventlow, Franziska zu. Ellen Olestjerne. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0mb.0