[40r]
Hoch und Wohlgeborner Freiherr!
Hochgebietender Herr Minister,
besonders Hochzuverehrender Herr!

Aus einer vom 22ten April d. J. von dem mir
vorgeordneten Curatorium der hiesigen Universi-
tät
mir zugekommenen Mittheilung ersehe ich, daß
ein Hohes Ministerium zu versuchen geneigt sei
Allerhöchsten Orts die Bewilligung einer angemessenen
jährlichen Summe zu bewirken, wodurch der Professor
der Physiologie in den Stand gesetzt werde, die für die
Bildung der Studirenden der Medizin so wichtigen physi-
ologischen Demonstrationen und Versuche noch ferner
fortzusetzen und ihnen die erforderliche Ausdehnung
zu geben. In dieser huldvollen Äußerung eine Beloh-
nung meiner bisherigen Bestrebungen erkennend
erlaube ich mir, theils die Nothwendigkeit der Errich-
tung eines physiologischen Instituts nach Möglichkeit zu
motiviren, theils wenn zur Realisirung derselben ge-
schritten werden sollte, einige etwa zu berücksichti-
gende Andeutungen über denselben Gegenstand, aus
meinen darüber gehegten Gedanken und gewonnenen
Erfahrungen Ew. Excellenz gehorsamst vorzuglegen.

Die Physiologie ist in unserer neuesten zeit in einer
mächtigen Entwickelung begriffen. Nachdem sie noch
zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein nur etwas
geistigerer Commentar der Anatomie gewesen,
seitdem aber durch die Naturphilosophie zu einem[40v]2.
andern Extreme, einer beinahe überirdischen Selbst-
ständigkeit sich emporgeschwungen, tritt sie nun
mehr von ihren Höhen in ihre ursprüngliche, zwar
irdische und materielle, aber lebendige und organi-
sche Heimath zurück. In diesem Proceß hat sich ihr
vormaliges durch die Länge der Zeit beinahe stabil
gewordenes Verhältniß zur Anatomie gänzlich um-
gekehrt. Sie ist sich in jener geistigen Abgeschieden-
heit ihrer höheren Selbständigkeit inne geworden
und kann nun nicht mehr in dem ihr eigenst zu-
gehörigen Materiale und Geräthe der Anatomie als
aus gelegentlicher Liberalität gelittene und zu belie-
bigem Dienst zugezogene Gehülfing ihr Daseyn ertragen.
Sie muß entweder die Anatomie als eine ihr ei-
genthümliche materielle Beigabe zu andern noch höhe-
ren Besitzthümern völlig in Beschlag nehmen, wie die
nunmehr an einigen Orten mit Glück geschehen,
oder neben ihr und mit ihr in einem legalen Ver-
hältnisse, mit allen von der Forschung des or-
ganischen Lebens geforderten Mitteln und Hülfen
ausgestattet eine selbstständige, auch nach Aussen be-
sthätigte Existenz gewinnen. Daß aber die Physiologie
als ein specielles Fach der Natur- und namentlich der
medicinischen Wissenschaften nicht bloß eine Katheder-
doctrin sei, die einzig mit disputablen Begriffen zu
thun hätte, sondern daß ihr Object und dessen Auf-
fassung, die Erscheinungen des Lebens und ihre Erforschung
größtentheils auf sinnlichen Anschauungen beruhen, de-
ren Erwerbung und Mittheilung verschiedenartige Na-
turobjecte, Apparate, Kunstfertigkeiten, wie nur irgend
eine andere experimentelle Doctrin, in Anspruch neh-
men und somit die Erichtung eines eigenen expe-
riementell-demonstrativen Instituts für dieses Fach[41r]3.
machen; dies ausführlich zu beweisen, ist der
Zweck gegenwärtiger, ergebensten Mittheilungen. Vor-
läufig kann und darf ich jedoch in Beziehung auf je-
ne huldvolle Äußerung eine solche Überzeugung
voraussetzen, um über das reale Verhältniß der
Physiologie zu andern Doctrinen einige allgemeine
Bemerkungen vorauszuschicken.

Wenn man auf den Organismus der Wissen-
schaft, wie er in der Universität mehr oder we-
niger vollkommen realisirt ist, und auf die darin
vorkommenden wesentlichen, oder der dem Wesen
widerstreitenden Verhältniße der einzelnen Fächer
einen alle Möglichkeiten erwägenden prüfenden Blick
wirft, so sieht man insbesondere in Bezug auf Ana-
tomie
und Physiologie einen eigenen combinato-
rischen Cyclus ihrer wechselseitigen Lagen und Be-
ziehungen sich ergeben, welchen auch eine theils
historische theils statistische Übersicht der ehemaligen
und gegenwärtigen wissenschaftlichen Anstalten Eu-
ropas
vielfach erläutert, und seine Richtigkeit
durch Beispiele belegen kann.

1.) Vorerst kann man den Fall setzen, wo das
Fach der Anatomie und Physiologie beide getrennt
neben einander und ohne äußere Wechselwirkung,
stehen; einerseits ganz dem Materiellen zugewendet,
andererseits nur auf das Reich der abstracten Ge-
danken und auf litterarische Hülfen hingewiesen.
Dieses ist das gegenwärtige am häufigsten an den
Universitäten sich vorfindende Verhältniß. Dasselbe
kann nun entweder in ruhiger Geschiedenheit fortbe-
stehen, indem jedes der dem speciellen Fache sich
widmenden Individuen in der Beschränktheit beharrt,
ohne sich zu einem höheren Streben zu erheben, oder[41v]4.
erheben zu wollen um keine Störung in seinen
behaglichen Zustand eintreten zu lassen; oder es fin-
det sich bei äußerer Trennung der beiden Fächer
ein einseitiges Hinstreben des Materiellen zum Geisti-
gen, des Geistigen zum Materiellen, einerseits ma-
teriellen Mittel ohne höheres geistiges Vermögen, anderer-
seits dieses ohne materielle Mittel: ein unseliger
Zustand für die Individuen, obgleich nicht ohne Vortheil
für die Wissenschaft, in wiefern solche Kräftehem-
mungen zu realen Fortschritten führen müssen.

2.) Im andern Falle sind beide Fächer getrennt,
jedes mit eigenen hinreichenden Mittel versehen und
nach dem jedem derselben inwohnenden Begriff, dem
Organismus der Wissenschaft angemessen nach Aussen
dargestellt. Diese Existnzform ist zwar kostspieliger
als die vorige aber dem Wesen der Sache entsprechend,
für die Individuen beruhigend, und kann für1 Wissenschaft,
Schule und Leben nur von den besten Folgen seyn. Da
jedoch Anatomie und Physiologie beide aus dem gemein-
samen Begriffe der Organik hervorgehen, so kann
es nicht anders kommen, als daß sie bei ihrer äußerlich
constituirten Trennung dennoch wieder zu einer wech-
seítigen Vereinigung gravitiren.

3.) Es kann sich nun aus dem unabhängigen Zu-
sammenseyn, der, in Bezug auf wissenschaftliche Bedürf-
nisse, gleichmäßig befriedigten Individuen, ein auf wech-
selseitiger Achtung gegründetes collegialisches, ja freund-
schaftliches Verhältniß, und nur für die Wissenschaft
auf diesem Wege zwar zufällige, jedoch sehr vortheilhafte
und erfolgreiche Vereinigung entwickeln, die nun wie-
der verschiedene Modi giebt, je nachdem die beiden Theile
entweder in geistiger Hinsicht auf gleicher Stufe stehen
oder der eine dem andern aus freier Wahl ganz[42r]4.
oder theilweise sich unterordnet. Hier leisten die
beiden Schwesterwissenschaften einander die benöthig-
ten Hülfen, ohne daß es durch gesetzliche Bestimmun-
gen geboten würde. Dieses ist nun ein, für den
objectiven Geist noch immer sehr unvollkommener
Zustand, wenn auch die Individuen aus subjectiver
Vollkommenheit das organische Verhältniß beider wis-
schenschaftlicher Fächer noch so rein darstellen möchten.
Sie sind zwar in Liebe, aber nicht im Gesetze ver-
eint, wozu noch der Fortschritt geschehen muß.

Eine andere Art der Vereinigung der beiden
mit hinreichenden Hülfsmitteln versehenen Fächer
kann nun dadurch erfolgen, daß beide von einem
und demselben Individuo mit untergeordnetem
Hülfspersonale verwaltet werden. Wenn das Indi-
viduum bei glücklicher Wahl im ausgezeichnetsten
Grade für die beiden Fächer ausgebildet, mit der
humansten Gesinnung erfüllt (was bei einem so
nahen Verhältniß zu den Schülern erfordert wird)
sonst auch geistig höchst rüstig und nach Aussen reg-
sam ist, so läßt sich von dieser Centrirung bedeu-
tendes erwarten. Auch sind keine äußeren ge-
setzlichen Bestimmungen nöthig um die beiden
Fächer in organische Harmonie zu bringen. Ferner
kann mit Ersparung bedeutender Auslagen
das anatomische Locale und ein Theil des ana-
tomischen Apparates zugleich zu den Zwecken
des physiologischen Fachs verwendet werden, ohne daß
Collisionen in den Rechtsverhältnißen eintreten
könnten. So viele Vortheile diese Form gewährt,
und so erspriesliche Folgen sie auch in einzelnen
glücklichen Fällen für die Wissenschaft haben möchte,
so könnte es doch vermöge der angeborenen Beschränk-
ung der Kräfte des einzelnen Individuums wenn[42v]6.
sie als allgemeine Maaßregel Anwendung erhiel-
ten, nur hemmend im Ganzen wirken, und es
bleibt der Natur der Sache angemessener, daß das
was in der Idee zwar verwandt, jedoch seinem Begriff
nach unterschieden ist, auch bei seiner organischen Dar
stellung als geschieden hervortrete und seine wesentliche
Einheit durch die Macht des das Ganze organisirenden
Gesetzes vermittelt werde.

Noch finde ich es nöthig, ehe ich zur speciellen Darstellung
der Nothwendigkeit der Einrichtung physiologischer Institute
hinzutrete, einige wirklich da und dort gemachte und et-
wa noch zu machende Einwürfe zur vorläufigen Be-
leuchtung dieses Gegenstandes vorzuführen und zu be
seitigen.

Die gemeinste, aller Wissenschaft unwürdige aus
höchst beschränkter Ansicht hervorgehende Behauptung
ist die, daß man den Lehrer der Physiologie auf
eine blos litterarisch-philosophische Mittheilung und Aus-
einandersetzung des von Andern auf Treu und Glau-
ben Überkommenen ohne alle experimentale Prüfung
Aufgefaßte und ohne Veranschaulichung Vorgetragene,
verweisen könne. Ein gleiches den Physiker, den Ana-
tomen den Chemikern und andern anzumuthen,
würde lächerlich erscheinen. Diese Doctrinen haben
ihre materiellen Gebiete längst gewonnen, und man
kann sich von denselben, als in blos diskursiver Form
sich darstellend, kaum eine Vorstelung machen. Bei
der Physiologie war man's bis jetzt anders gewohnt, sie
beliebte meist die sogenannte acroamatische Lehrmethode,
und leider ist noch jetzt ein solches hohles Daseyn derselben,
aus Bequemlichkeit der Lehrer und aus Mangel an
Mitteln an vielen Orten des Herkömmliche. Auch macht
das studirende Publikum keine größeren Anforde-
rungen, indem der Zwang der Schule und des practischen
Lebens, ihn, selbst gegen die Ahnung einer besseren[43r]7
Überzeugung andere Doctrinen als viel wichtiger
erscheinen lassen. Auch ist die Wichtigkeit der Physiolo-
gie
für die medicinische Praxis noch lange nicht genug
in die Augen fallend, nicht weil gewöhnlich die Physi-
ologen ex professo keine practischen Ärzte sind,
(denn dann würde die Physiologie nicht immer
zum Besten bestellt seyn), sondern weil die Prac-
tiker sich bald im Drange des Geschäftslebens um
die Physiologie wenig kümmern und bei immerfort
anwachsender Menge neuen Stoffes endlich den Muth
verlieren mit der Wissenschaft gleichen Schritt zu
halten. Doch über dieses Vorurtheil wird die Wissen-
schaft zuletzt durch sich selbst obsiegen, nur billig wäre
es und vortheilhaft, wenn man ihr bei Zeiten auch
äußere Hülfe und Begünstigung angedeihen ließe.

Ein von wohlmeinenden sowohl als solchen Freun-
den dem Physiologen ertheilter Rath war der:

sich bequem in die speculative Sphäre zu be-
geben um nicht mit den Inhabern der ver-
schiedenen Naturwissenschaftlichen Institute
in Collision zu kommen, und sich so das
Leben unnützer weise zu verbittern.

Wenn solcher Rath von höheren, in der Sache
selbst vielvermögenden Staatsbeamten oder von Direc-
toren wissenschaftlicher Institute kömmt, muß
man ihn als Äußerung einer wohlwollenden sonst
beschränkten Gesinnung dankbarlichst annehmen. An-
ders aber sind die Forderungen der Wissenschaft
an die in [ihrem] Berufe arbeitenden Individuen
die allenfalls als Opfer sich hingeben sollen damit
das Ideal seine {Verwirkelung} erreiche.

Eine dieser Angelegenheit nicht wenig nachtheili-
ge, einseitige Ansicht stellt sich unter dem Begriff
der experimentellen Physiologie nur Vivisectionen
und allerhand meist unnütze Thierquälereien vor,[43v]8.
und würde, wenn es auf sie ankäme, Anstand
nehmen, auch nur das Geringste dazu zu thun um
die Physiologen in dergleichen Beginnen zu unter-
stützen, auch schon darum, damit alle mögliche (obgleich
leicht zu verwindende) Beleidigung fein fühlender
Sympathie vermieden werde. Es gehört allerdings ein
heroischer Entschluß dazu und ein kräftiges Ablenken
seines Gemüthes von allen sympathischen Empfin-
dungen, um an {dem} Organismus eines harmlosen
Thieres Lebensfragen zu machen. Aber man bringt
das Opfer der Wissenschaft, mit möglichster Vermin-
derung aller zwecklosen Martern, meist nach vor-
her erzeugter künstlicher Gehirnlähmung, um die
das Bewußtsein überlebenden vegetativ-animalischen
Functionen zu beobachten. Bei Forschungen über
die früheren Epochen der organischen Entwicklung
ist ohnedem noch kein Bewußtsein vorhanden, und
es wird also der sympathetische Sinn gar nicht in
Anspruch genommen. Auch ist es unrichtig, dieje-
nige Sympathie, die wir in Beziehung auf Men-
schen erworben, auch auf das Thier, besonders auf
niedere Thierorganismen übertragen zu wollen.
Doch wird der vernünftige Physiolog alles thun
um sein eigenes und seiner Zöglinge Gefühl so
viel als möglich zu schonen und sie zur Verschwie-
genheit anhalten, damit nicht durch ein unzeitiges
Renommiren das Geheimniß der Wissenschaft der
urtheilsschwachen Menge frei gegeben werde. Zudem
ist aber, um jene beschränkte Ansicht zu berich-
tigen, die Vivisection lange nicht ein Hauptpunct
der experimentellen Physiologie. Nicht nur daß
Entwicklungsgeschichte für sich schon ein sehr reiches
Material abgiebt, ferner anatomische Arbeit immer-
fort gefordert wird, so sind insbesonere vielfache
mechanische- und dynamische-, physicalische und chemische[44r]9
Hülfen, sowohl zu Demonstrationen, als zu
eigenen selbstständigen Forschungen unumgänglich
erforderlich, wie noch späterhin aus einer speciellern
Auseinandersetzung der Objecte der Physiologie zu
ersehen sein wird.

Eine andere, meist nur aus ökonomischen
Gründen gemachte, nicht alle Verhältniße gehörig be-
rücksichtigende Auffassung der Sache, verweist den
Physiologen bei seinen wissenschaftlichen Bedürfnißen
an die schon vorhandenen ohnehin so kostspieligen Insti-
tute der Anatomie, Botanik, Physik und Chemie etc.2
Wenn diese Institute eine ähnliche Einrichtung haben
könnten wie die der öffentlichen Bibliotheken ist,
wo die Natur des Gegenstandes wie3 die Bücher sind,
gestattet, diese, ohne sehr merkbaren Verbrauch und
ohne weitere Unkosten und Zeitverlust von Seiten
der Directoren und Custoden, allgemein brauchbar
zu machen, so dürften wohl die Anforderungen
des Physiologen auf eine bedeutend kleinere Gränze
reducirt werden. So aber erlauben schon die Gegen-
stände jener Institute in der Mehrzahl keine mit den
Büchern zu vergleichende Benutzung, indem sie theils
theils dem Verbrauch theils4 zufälligen Beschädigungen vielmehr unterliegen.
Jeder Instituts-Director hat selbst genug zu thun, um
mit seinem Etat auszukommen, als daß er noch
davon dem bedürftigen Physiologen etwas angedeihen
lassen könnte. Die Aufsicht über den Gebrauch kost-
barer Instrumente, als der Luftpumpe, electrischen
und galvanischen Apparate, größern chemischen
Geräthschaften, kann nicht ohne großen Zeitauf-
wand von Seiten der Directoren und Custoden
Statt finden. Selbst bei näherem freundlichen Ver-
hältniße zu den Individuen würde man sich scheuen
solche Opfer zuzumuthen. Eine nicht geringere Schwie-
rigkeit bringt das Locale mit sich, welches für manche[44v]10
der Institute ohnedem beschränkt genug ist, um noch frem-
de wenn gleich verwandte Waltung zuzulaßen. Außer-
dem ist es eines so wichtigen Zweiges der Naturwissen-
schaft wie die Physiologie und deren öffentlichen Leh-
rers unwürdig, wenn er in eigener Person, höchstens
mit Hülfe eines oder des andern seiner Schüler,
sich in fremden Instituten, Hospitälern, Schlachthöfen &c.
herumtreiben muß, um seinem Lehrbedürfniß, den
Erfordernißen der Wissenschaft gemäß, wenigstens
zum Theil genügen zu können. Ein solcher Zustand
eines so wichtigen Lehrfaches ist wohl wenigsten re-
lativ genommen, durchaus ein barbarischer, und sollte
in unseren Zeiten einem andern bessern Platz
machen. Man könnte zwar dem Lehrer zumuthen,
aus Liebe für sein Fach, so wie es ohnedem bei Anschaffung
der litterarischen Mittel großentheils Statt findet, selbst
für die anderen nothwendig scheinenden Lehrmittel und
für das Locale in eigener Wohnung zu sorgen, oder
auch, wie mir nicht einmal gerathen worden von dem
Interesse der Studierenden für Physiologie selbst, die
erforderlichen Geldmittel zu erlangen. Doch mit dem-
selben Rechte könnte man eine solche Forderung an andere
demonstrative Fächer machen. Denn daß die Physiolo-
gie
später als andere Fächer zum Bewußtseyn des
Bedürfnißes eines experimentellen und demonstra-
tiven Apparats gekommen ist, ist in der Sache
selbst durchaus zufällig. Auch kann man wohl sagen,
daß die Zeit, wo die Wissenschaft den Staatszwecken
ganz fremd und dem Treiben der Privaten nach je-
desmaligen Bedürfniße anheimgefallen war, Gott-
lob, wenigstens bei uns5 längst vorüber ist. Als die Staaten
begannen, sich der Wissenschaft unmittelbarer anzuneh-
men, wurden zuerst solche Doctrinen begünstigt und
unterstützt, welche einen augenfälligen Nutzen für das[45r]11.
practische Leben mit sich brachten z. B. medizinische
und chirurgische Therapie und Geburtshülfe, und Augen-
heilkunde
, Anatomie, Physik, Mineralogie, später die
Chemie; andere gewannen sich Unterstützung weniger
durch ihren Nutzen als durch ihre Annehmlichkeit wie die
scientia amabilils und die Zoologie. Wo beide Motive
nicht genug in die Augen fielen, wie dies bey der Phy-
siologie
der Fall ist, da blieb auch höhere Hülfe und
Begünstigung von Oben bis jetzt noch größtentheils
aus. Ein höherer Fortschritt findet sich dort, wo der
reinen Wissenschaft um ihrer selbst willen, nicht
aus zufälliger Liebhaberei mächtiger Protectoren,
sondern aus nothwendiger Consequenz, aus {all-
allgemeinen}
Prinzipien, die nöthigen Mittel und
Förderungen geleistet werden, und ihr auch eine
würdige Stellung zum äußeren Leben gewährt
wird. Es wäre unschwer zu sagen, welcher von
den {europäischen Staaten Europas} in dieser Ent-
wicklungsstufe des Lebens am meisten fortge-
schritten ist.

Um nun noch specieller die Nothwendigkeit der
Errichtung eines öffentlichen als integrirender Theil
des Organismus der Universität zu betrachtenden phy-
siologischen Instituts zu begründen, erlaube ich mir
Ew. Excellenz einen kurzen Überblick des physiologi-
schen Materials vorzulegen, wie es vom Stand-
puncte der Naturwissenschaftlichen Praxis aufgefasst
werden muß. - Ich habe, seit ich durch die Gnade
Ew. Excellenz in den Stand gesetzt worden, jährlich
ein eigenes experimental-physiologisches Collegium zu
halten, das vorhandene physiologische Material, so viel
als möglich im experimentalen Geiste nach besonderen
Doctrinen vertheilt, und das der Form, und der
wissenschaftlichen Methode nach zusammengehörige auch
unter einem und demselben Gesichtspuncte und ge-[45v]12.
meinsam mit verwandten Anschauungen der
allgemeinen Naturwissenschaft vorzutragen. Die bis-
herige Lehre von den Lebensformen und Functionen
wird als eine Beschreibung und Generalisirung der
Lebensphänomene zur vorläufigen Aufstellung der An-
schauung und des Begriffes des Leben in der I. All-
gemeinen Physiologie abgehandelt. Darauf folgen, jenachdem
eine Lehre die eine oder die andere mehr oder weniger
didactisch und pädagogisch bedingt in der II speciellen Physi-
ologie, 1. Die physiologische Morphologie, welche theils a, den
Gang der Entwicklung des Organismus von der Zeugung
an, durch alle Epochen des Embryolebens, ferner durch die
verschiedenen Altersstufen hindurch beschreibt, die durch
Geschlecht und Raçe gegebenen Eigenthümlichkeiten der
organischen Form auseinander setzt, die Formen des
Menschlichen mit den übrigen Organismen paralleli-
sirt; theils b die allgemeinen Gesetze des organischen
Plastinismus darlegt und die höhere geistige Bedeu-
tung der gnometrischen und ästhetischen Conforma-
tion des menschlichen Organismus aufzufassen
bestrebt ist.

2.) Die physiologische Physik begreift alle diejenigen
physiologischen Lehren, welche mechanisch-physicalische Grund-
sätze zur Voraussetzung haben, und führt anschaulich
alle diejenigen Lebensphänomene vor, welche innerhalb
der Sphäre des Organismus unter den Gesetzen
des Mechanismus stehen. Hierher gehört a. Die Lehre von
den physiologischen Eigenschaften der organischen Thei-
le als der Cohäsions- und Aggregationszustände,
Härte, Weichheit, Zähigkeit Elasticität, Sprödigkeit, fer-
ner der microscopisch erfahrbaren Beschaffenheit der
letzten organischen Elemente und ihre Verbindung
zur Construction der Systeme und Organe, so wie
die Lehre von der Teleologie der organischen For-
men. b. Die physiologische Statik und Mechanik enthaltend[46r]13
die Erklärung der so mannigfaltigen Haltung und Be-
wegung der Organe und Apparate des vegetativen und
thierischen Bewegungs6 Lebens theils indem sie für sich theils in Wech-
selwirkung mit außenkräften thätig sind.

c. Die physiologische Hydrostatik und Hydraulik, welche das
Verhalten der Flüssigkeiten im Organismus, des Blutes
der Se- und Excretionsflüßigkeiten im ruhenden und
im bewegten Zustande zum Gegenstande hat.

d. Die physiologische Pneumatik handelt von den physicali-
schen Wirkungen gasförmiger Stoffe von den Wirk-
ungen des Luftdrucks, des luftleeren Raumes, und er-
klärt den Mechanismus des Athemholens.

e. Die physiologische Akustik handelt theils von der Her-
vorbringung der Stimme und Sprache und verschieden-
artiger Geräusche, durch die Mittel des Organismus
theils von den physicalischen Bedingungen der Auffass-
ung des Schalls durch das Gehörorgan.

f. Die physiologische Optikendlich beschäftigt sich mit
den physicalischen Bedingungen und Gesetzen des
Sehens.

4. Die physiologische Chemie. Dieser Theil hat zum
Object vorerst die genauere Erkenntniß der bisher
durch die Experimentalchemie erforschten Constitution
der thierisch organischen Stoffe, ihren7 Analogien, Übergän-
ge, Gegensätze, Verwandlungen und ihrer Topo-
graphie innerhalb des thierischen Körpers, wozu
namentlich die Hülfe der Microtomie erfordert wird
um die qualitativ verschiedenen selbstständigen Stoffe
in ihrer größten Feinheit zu sammeln, und mittelst
der Microchemie auch bei den kleinsten Quantitäten
ihr chemisches Verhalten zu ermitteln. Ferner ist es
ihre, wenn auch bis jetzt sehr mangelhaft gelöste
Aufgabe, die chemisch-organischen Prozesse im thierischen
Körper, die Verdauung, die Bereitung des Chylus, des
Blutes, die Respiration, die Ernährung und Erzeugung
specifischer organischer Substanzen, die Bildung der[46v]14.
Se- und Excretionsflüßigkeiten, in ihren Phäno-
menen streng zu verfolgen, auf allgemeine Ge-
setze zu bringen und wo möglich künstlich nachzuahmen,
und so immer mehr begreiflich zu machen. Hierher ge-
hört neben der Nahrungsmittellehre auch die Phar-
makodynamik und mit ihr die Toxicologie.

4.) Die physiologische Dynamik. Diese Lehre zerfällt
in zwei Haupttheile, einen niederen und einen höheren.
Der erste handelt von den allgemein physisch-dynami-
schen Agentien (Licht, Wärme, Electricität, Galvanismus)
in wiefern die theils im thierischen Körper in Be-
gleitung des Lebensprocesses von selbst sich entwickeln,
theils von Aussen auf das Leben und seine Func-
tionen eigenthümlich einwirken. b. Der andere Theil
umfaßt die eigentliche organische Dynamik und be-
handelt die Lehre von der Lebenskraft und von
den specifischen Energien derselben. Insbesondere um-
faßt sie die allgemeinen Gesetze der Nerventhätig-
keit, in wieweit sie durch experimentelle Untersuchungen
gewonnen werden können, und auch sonst durch ihre
Analogie mit den allgemeinen physischen Reagentien
eine Aufklärung erlauben. In dieser Lehre finden
auch, wenn gleich nur historisch herwähnt, die wunderbaren
Phänomene des Syderismus- und animalischen Mag-
netismus
ihre Stelle.

5.) Die physiologische Psychologie. Diese ist größtent-
theils auf der Dynamik gegründet, indem die höchste
Lebensentwickelung die Seele sich die Gesamtheit
des zurückgelegten organischen Lebens zum Object
der freisten Thätigkeit des Bewußtseyns und des
Willens macht, und so eine dem Wesen nach geistige
Kraft unmittelbare Causalität in der materiellen
Welt behauptet, mit der sie daher ursprünglich wohl
homogem seyn mag. Diese Doctrin zerfällt auch in
zwei Haupttheile. Der erste umfaßt a, die Physiologie[47r]15.
des thierischen Lebens bis zu seiner höchsten
Entwickelung im Menschen: sie handelt insbeson-
dere von den Zuständen und Vermögen die der
Mensch mit den niedern Thieren gemein hat,
wenn sie gleich bei ihm eine höhere Ausbildung
und eine unendlich vielfachere Anwendung erlangt
haben mögen. Der andere Haupttheil ist b. die Psy-
chologie
des eigenthümlich menschlichen Lebens.

6.) Die physiologische Anthropologie. Wenn die vor-
hergenannten Doctrinen blos das menschliche Indi-
viduum zum Gegenstande hatten, so betrachtet
diese die ganze Gattung, jedoch nicht als bloße
Naturgeschichte der {menschen} Species deren Mate-
rial sie nothwendig in sich aufnimmt, sondern als
Physiologie, deren Gegenstand die ganze Mensch-
heit als ein Totalorganismus ist, an deßen Erhal-
tung und Entwicklung einzelne Individuen und
Volksmassen verschiedenen Antheil haben, je nachdem
sie durch innere organische Entwicklungsgesetze
der Gattung, oder durch äussere Naturverhältniße
bestimmt sind.

Schon diese flüchtige Skizze der mit Hinsicht auf
die besonderen Erfahrungsgebiete hier herausgestell-
ten physiologischen Doctrinen, eröffnet den Blick auf
ein unendlich reichhaltiges Material für eine thäti-
ge in bestimmten Richtungen vorschreitende physi-
ologische Forschung, deren Resultate insofern sie
durch Lehre anschaulich mitgetheilt werden sollen einen
ebenso unerschöpflichen Stoff experimenteller De-
monstrationen darbieten.

Um dieses noch klarer vor die Augen zu
bringen, möge aus jeder der angeführten Doctri-
nen einiges beispielsweise angeführt werden.

1.) Wenn die organische Metamorphose nicht gleich
einem Traume an dem Sinne der Zuhörer vorüber
schwinden soll, wird erfordert, daß wenigstens die[47v]16
Hauptmomente der organischen Entwickelung nach
ihrem Erfolgen vor die Anschauung geführt werden.
Dieses wird zunächst erreicht durch künstliche, continuir-
lich fortgesetze Brütungsversuche mit Vogeleiern,
ferner durch Betrachtung der Entwickelung von Fisch-
und FroschembyonenFroschembryonen8, endlich auch durch Demonstrati-
onen an Reihen von Säugethierembryonen, wozu denn
eine möglichst vollständige Sammlung menschlicher eine
wesentliche Zugabe wäre. Bei allen diesen Demon-
strationen ist die Hülfe eines oder mehrerer gu-
ter Microscope zur Beobachtung der Zeugungsstoffe,
so wie auch der ersten unscheinbaren Bildungsan-
fänge und der allmähligen Entwickelung der Ele-
mentargewebe des thierischen Körpers unumgänglich
nothwendig. Die übrigen Lehren der Morphologie, wel-
che die Verschiedenheit der körperlichen Form nach
den Lebensaltern, Geschlechtern, Raçen u. s. w. zum Ge-
genstande haben, nehmen eine ins Speciellste gehende
Anatomie und eben solche Sammlung in Anspruch.

2. Die organische Physik fordert eben so sehr allge-
meine physicalische Vorkenntniße als Experimentir-
und Demonstrations-Mittel, wenn sie im Geiste
wahrer Wissenschaft gelehrt werden soll. Vorerst
sind die physicalischen Eigenschaften der organischen
Substanzen und Gebilde, die verschiedenen Modi
der Flüßigkei, der Härte und Weiche, der
Elasticität, Zähigkeit, Dehnbarkeit, Brüchigkeit
Zerreißbarkeit, das specifische Gewicht u. a.
streng zu erforschen, in so fern diesen Eigen-
schaften gemäß, theils gegeneinander theils nach
Aussen physisch reagiren, theils in so fern die
organische Natur bei ihren lebendigen Bewegungen
auf ihre Hülfe wesentlich gerechnet hat. Ferner muß
die Structur der Gewebe microscopisch untersucht wer-
den, weil auf ihr zum Theil, die physikalischen[48r]17.
Eigenschaften derselben beruhen. Weiterhin muß
die Lehre von der Zusammensetzung der Bewegungs-
kräfte, von den verschiedenen Arten von Hebeln in
ihren speciellen, äußerst mannigfachen Combinati-
onen, wie sie im thierischen Körper vorkommen
durch anatomische Präparate, und durch Modelle an-
schaulich gemacht werden. Die wesentlichen Momente
des Blutumlaufs fordern zwar zunächst experim-
mentelle Demonstration am lebenden thierischen
Körper, doch müssen sie auch nebenher durch ei-
nen künstlichen hydraulischen Apparat anschaulich
gemacht werden, und ebenso werden hier micro-
scopische Demonstrationen an durchsichtigen Gefäß
membranen lebender Thiere, genauere Beobach-
tungen der normalen Eigenschaften des Pulsschlags
Belauschung der Herzbewegungen mit dem Stethoscop
erfordert. Die physiologische Pneumatik bedarf der
Luftpumpe, des Barometers, eines Gasometers und
anderer Gefäße zu Athmungsversuchen. Modelle zur
Darstellung des Mechanismus des Athmens u. s. w. Die
physiologische Akustik und Optik wie sichs von diesen
besonders versteht bedürfen9 mannigfacher Apparate und
Modelle zur Veranschaulichung des organisch gegebe-
nen.

3.) Die physiologische Chemie hat, nebst dem daß
sie die Mischung der organisch thierischen Substanzen
genauer als es sonst geschieht in Beziehung auf
ihre organischen Zwecke erörtert, noch, wie schon
oben erwähnt, die besondere Aufgabe, die or-
ganisch-chemischen Processe der Verdauung, der
Chylus- und Blutbereitung, des Athmens, der
verschiedenen Se- und Excretionen nicht bloss mit
Gedanken und Worten, sondern mit Experimen-
ten und Demonstrationen zu verfolgen. Welcher
Geheimniße Enthüllung uns hier bevorsteht,
fangen wir erst jetzt an zu ahnen, seitdem[48v]18.
der erste Schritt in experimentaler Auffassung
des Verdauungsprocesses gelungen ist. Daß so wohl die
bisher erwähnten Gegenstände als auch die verwandte
Nahrungsmittellehre, Pharmakodynamik und Toxicologie
in wiefern sie10 einer experimentalen Behandlung von
Seiten der Physiologie bedürfen, einen vollständigen
chemischen Apparat mit zweckmäßigen Locale noth-
wendig machen, geht aus dem innern Nexus zwischen
dem Begriffe des Zwecks und der Mittel von selbst
hervor.

4. Die physiologische Dynamik nimmt einerseits
wieder die allgemeine Physik in Anspruch, indem
theils die im organischen Körper selbstständig erzeug-
ten Agentien, Wärme und Electricität nach ihrem
Vorkommen, ihren Quellen, und nach ihren Größen-
verhältnißen erforscht werden, theils die Wirkungen äußerer
dynamischer Einflüße auf das Leben, und dessen
specielle Reactionen zur Kenntniß gebracht werden
sollen. Andererseits ist der Gegenstand dieser Lehre
die Erforschung der dem Organismus eigenthüm-
lichen meist vom Nervensystem erzeugten, ge-
tragenen, und geleiteten Agentien, wie sie durch
plastische, organisch chemische, phoronomische und sen-
suelle Phänomene am Lebendigen theils in-
mittelbar theils unter künstliche veranstalteten
Bedingungen zur Äußerung kommen. Hier ist
das eingentlichste Feld der Vivisection mit allen
dazu gehörigen Hülfen von zweckmäßigem Locale,
chirurgischem Apparat und gewandter Assistenz.

5. die physiologische Psychologie beruht größtentheils
auf transcendentaler oder ideeller Empirie und
nimmt die Physiologie zu Hülfe um die Innen- und
Aussenwelt in nothwendige Beziehung zu brin-
gen. Sie erfordert als Elementarlehre nur einige
Vorrichtungen zu Versuchen über das passive und[49r]19.
thätige Verhalten der Sinne namentlich zur Far-
benlehre
, Farbenkugel, Vorrichtungen zur Erzeugung
complementärer Farben, Täuschungsapparate zur
Erforschung der objectiven Anschauung u. s. w. Außer-
dem giebt sie practische Anleitung zur Selbstbeobacht-
ung und zur Beobachtung Anderer.

6. Endlich beruht zwar die physiologische Anthro-
pologie
gleichfalls auf mühsam über den ganzen
Erdball gesammelten Erfahrungen und fordert die
größte Anstrengung reisender und Weltumsegelnder
Naturforscher; nimmt also auch ihren experimentalen
Theil für sich. Die Physiologie kann aber davon
nur die Resultate in ihren Gebrauch ziehen, in-
dem das Gebiet der anthropologischen Erfahrungen
über die ganze Menschenspecies sich verbreitend
in die engen Mauern der Schule nicht einge-
schloßen werden kann. Sie nimmt nur die Ana-
tomie in sofern zu Hülfe, als der menschliche
Organismus mit dem der übrigen Thiere ver
glichen und seine wesentliche Gattungscharaktere
zur Anschauung gebracht werden sollen.

Aus dem Gesagten geht von selbst hervor, daß
die Physiologie als Erfahrungswissenschaft mit
demselben Rechte wie andere Naturwissenschaf-
ten einen vollständigen experimentalen und
demonstrativen Apparat, und zweckmäßiges
Lokale zu Experimenten und Demonstrati-
onen, ferner zur Aufbewahrung der Instru-
mente, Modelle und Präparate in Anspruch
nehmen müsse. So wie die Idee des Lebens,
wenn sie in eine materiell bedingte Welt
eingetreten, die vorhandenen allgemeinen Ge-
setze des Mechanismus, Chemismus, der dy-
namischen und Psychischen Daseynsform auf eigene11
Weise in ihre Sphäre zieht, und sie zu speciellen[49v]20.
organischen Zwecken in Anwendung bringt, um
sich darin nach eigenen Gesetzen zu verwirklichen,
so will auch die Wissenschaft des Lebens in eigen-
thümlicher Beschränkung die Apparate und Ope-
rationen der Physik, Chemie und Dynamik, so wie
noch insbesondere eigene Vorrichtungen zur Erforschung
und Erklärung der Lebenserschenungen in An-
wendung bringen und sich so in der Wirklichkeit
darstellen und behaupten. So wie sich's nun heut zu
Tage von selbst versteht, daß für die allgemeinen
Naturwissenschaften allenthalben eigene Institute
zur Mittheilung, Wiederholung und Fortsetzung
der Erfahrungen errichtet, und sie mit den nöthigen
Localitäten, Apparaten und anderen erforder-
lichen Hülfen ausgestattet werden, eben so sollte
auch die Physiologie überall wo man zur Einsicht ihres
eigenthümlichen Standpunctes im Complexe der Na-
turwissenschaften und ihrer dringenden Bedürf-
niße gekommen ist, aus der bisher kümmerlichen, mehr
litterarisch-historischen Form, in jene, einer Expe-
rimentalwissenschaft übergeführt werden, durch Stiftung
eigenthümlich physiologischer Institute.

Daß sie deren nicht nur benöthigt ist, und sehnliche
Wünsche darnach laut werden lassen darf, sondern
daß sie sich das Recht zu einem solchen Anspruch
an die Allgemeinheit erworben hat, zeigen die sich
immer mehr häufenden, wichtigen und auf alle
anderen theoretischen und practischen Doctrinen der
Naturwissenschaft Einfluß übenden Untersuchungen
und Entdeckungen, die bisher größtentheils von pri-
vaten Bemühungen ausgingen, die aber in diesem,
so zu sagen barbarischen Naturzustande wenigstens
von jenen Staaten nicht ferner belassen werden
dürfen, welche sich zu dem Standpuncte erhoben haben,
die Wissenschaft um ihrer selbst willen (nicht bloß wegen[50r]21.
ihrer Nützlichkeit) in die Zahl ihrer wesentlichen
Zwecke zu rechnen.

Wenn es nun zur Gründung physiologischer In-
stitute käme, so ist es keine Frage, daß bey dem
heutigen Stanpuncte dieser Wissenschaft, von Seiten
des Staats an die Individuen, welche sich ihr als ihrem
speciellen Lehrfach widmen die Forderung gemacht
werden kann, daß sie nicht blos eine gelehrte und
historische oder speculative Kenntniß besitzen,
sondern sich als practische Naturforscher mit
experimentalen Sinne der Beobachtung und
Ergründung der Lebenserscheinungen ergeben,
so wie gleiches für das respective Fach vom
Chemiker, Mineralogen, Physiker, Anatom,
Therapeuten u. a. mit vollem Recht von jeher ge-
fordert wird[.]

Aus obiger Darstellung der physiologischen Doc-
trinen vom naturwissenschaftlich-practischem
Standpuncte aus, und aus den {Beispielweise} an-
geführten Requisiten jeder besonderen Lehre gehen
auch die Haupterfordernisse eines zu errichtenden
physiologischen Instituts von selbst hervor. Hieher
gehören:

1.) Ein eigenes recht lichtes Auditorium mit
eingerichteten Sitzen, damit ohne12 alle
Störung für den Lehrer und seine Gehülfen und
für alle Zuschauer hinreichend sichtbar die physio-
logischen Experimente und Demonstrationen vor-
genommen werden können. Es könnten auch in dem-
selben Locale wenn Raum dazu übrig bliebe, phy-
siologisch-anatomische Präparate, zootomische, physi
calische und andere Instrumente, und Modelle
aufgestellt werden. Es dürften überdies13 in demselben Lo-
cale, wenn kein besonderer Raum dazu (was freilig
zu wünschen wäre) eingeräumt werden könnte, die
anatomischen und experimentalen Übungen der Schüler
und andern Liebhaber der Wissenschaft vorgenommen werden.[50v]22
2. Ferner würde erfordert ein eigenes sehr ruhi-
ges gehörig lichtes am besten gegen die Mittagsseite
gelegenes mit wenigstens zwei Fenstern versehenes
Locale zu micrscopischen Beobachtungen, worin wenig-
stens mit zwei Microscopen gearbeitet werden könnte
und wo auch wenigstens ein Zeichner einen angemesse-
nen Platz fände. Jedes Microscop fordert einen festen
Tisch mit mehreren Schubladen, für die nöthigen Hülfs-
geräthschaften. Im Mittelraum könnte ein großer
oder mehrere kleine Tische für anatomische Vorbereitungen
der zu untersuchenden Gegenstände angebracht seyn. An
den Wänden stünden Repositorien zu microtomischen
Präparaten, zu Vorräthen zu Untersuchungen bestimmter
organischer Theile, und zur Aufbewahrung von Instru-
menten und Apparaten. Auch könnten in demselben
Locale die physicalischen und dynamischen Experimen-
te und Untersuchungen vorgenommen werden.

3.) Ein besonderes chemisches Locale mit den erforder-
lichen Geräthschaften, Gefäßen, Reagentien und Vor-
räthen.

4.) Ein eigenes Zimmer für den Aufenthalt des Lehrers14 bei Tage
so wie auch zur Aufbewahrung der nothdürftigsten
litterarischen Hülfsmittel und zu eigenen microtomischen
und anderen Untersuchungen.

5.) Ein zweckmäßiger Hofraum mit Ställen für größere
und kleinere Thiere, ein kleiner Wasserbehälter, alles
so viel als möglich neugierigen Blicken entzogen. Es
versteht sich daß das Gebäude trocken gelegen und ge-
sund seyn müßte, damit den darin beschäftigten
Personen der anhaltende Aufenthalt darin nicht nach-
theilig werde. Auch wäre es zweckmäßig, wenn es nicht
zuweit vom Anatomielocale entfernt läge, wegen
leichterer Benutzung der dortigen Lehrmittel. Übrigens
müßte der Vorsteher ganz nahe an dem Institute[51r]seine Wohnung gewählt haben, damit wenn er
gerade dort nicht anhaltend beschäftigt ist, er
zu jeder Zeit des Tages so schnell als möglich sich hin-
begeben kann, theils um die Arbeiten der Schüler
zu beaufsichtigen, zu leiten, oder ihnen zu folgen,
theils um keine Gelegenheit der Forschung und der
eigenen Aufgelegtheit zu verabsäumen.

6. Ein Locale als bleibende Wohnung eines beson-
deren Gehülfen und Aufsehers, theils zur Aufsicht über
das Gebäude und dessen Inhalt und Zubehör, theils weil
gerade consequente physiologische Untersuchungen die
strengste und beständigste Beachtung erfordern.

7. Von Apparaten sind wesentlich erforderlich: drei
große Microscope von bester Sorte, eine Luftpumpe, eine
feine Wage ein electrischer Apparat, ein Gasometer und
andere pneumatische, ferner hydraulische, acustische und
optische Vorrichtungen und Modelle, anatomische und
chirurgische Instrumente; ferner ein möglichst voll-
ständiger chemischer Apparat von mäßigen Dimen-
sionen, pneumatische Wanne, Quecksilbertrog, Eu-
diometer und andere erforderliche Geräthschaften
von Glas und Holz, so wie auch eine vollständige
Sammlung der unentbehrlichsten Reagentien zur
Prüfung thierisch organischer Stoffe.

8.) Sehr zu wünschen wäre es, wenn überhaupt das
Institut nach Aussen recht fruchtbar gemacht werden
sollte, daß ein eigener Zeichner, der sich besonders mit
der Handhabung des Microscops bekannt machen müßte
zur Disposition des Vorstehers gestellt, und nach Ver-
hältniß seiner Leistungen remunerirt würde. Vielleicht
könnte der schon gegenwärtig an der hiesigen Universität
angestellte Zeichner hierzu verwendet werden, mit an-
gemessener Zulage zu seiner bisherigen Besoldung.

Zur ersten Beschaffung des Erforderlichsten würden
vielleicht 800 rhl. ausreichen. Als fixen Etat für die[51v]24.
Folgezeit würden etwa 200 rhl. jährlich hinlänglich seyn,
nicht gerechnet die Besoldung des Gehülfen und des Zeich-
ners.

Eine noch specieller Angabe der Erforderniße würde
leicht gegeben werden können, wenn Ew. Excellenz,
nach Erkenntniß der Nothwendigkeit und Zweckmäßig-
keit der Errichtung eines physiologischen Instituts sich
Allerhöchsten Orts gewogentlichst verwenden und er-
wirken wollten, daß zur Realisirung eines solchen
geschritten werde.

Wenn nun eine dergleichen Anstalt zu Stande kommen sollte,
so frägt sich noch einmal was nun Alles zu ihrer Be-
stimmung zu rechnen wäre? Dieses läßt sich unter fol-
genden Gesichtspuncten auffassen.

1.) Das Institut soll die Möglichkeit gewähren durch
Demonstrationen und Experimente die academischen Vor-
träge über Physiologie so viel als möglich anschaulich
zu machen.

2.) Es soll den Schülern und angehenden Docenten
Gelegenheit geben, sich in der physiologischen Naturforschung
durch eigene Handanlegung practisch zu vervollkommnen
namentlich sich den Gebrauch des Microscops anzueignen
und den Blick für die feinere Anatomie und Micro-
chemie zu eröffnen, ferner sich das Geschick zur selbst-
ständigen Ausführung der Experimente zu erwer-
ben.

3. Es soll die jedesmaligen neuen Entdeckungen durch
Nachexperimentiren und erneuerte Beobachtungen be-
stätigen oder wiederlegen, berichtigen, erweitern und
die Anstellung neuer Forschungen veranlaßen und
unterstützen.

4.) Es soll überhaupt an der Universität das Fach der
Physiologie repräsentiren, und namentlich außer andern
gelegentlichen Mittheilungen durch jährliche öffentliche Be-[52r]25
richte sich mit der wissenschaftlichen Welt in Com-
munication und lebendiger Wechselwirkung erhal-
ten.

Diese hier aufgestellten Anforderungen werden
wohl Manchem etwas übertrieben vorkommen, und
es schon genügend scheinen, wenn die erste davon, der
Lehrzweck vollkommen erreicht würde. Doch liegen
jene Forderungen im Geiste wahrer Wissenschaftlich-
keit, und auch im Bedürfniß der fortschreitenden Genera-
tion, und es würden bei dem gegenwärtigen Schwunge
des wissenschaftlichen Lebens in Europa sowohl in-
nere als äußere Anregungen und Aufmunterun-
gen nicht ermangeln den Lehrer und seine Mit-
arbeiter zu den geforderten und noch höheren
Leistungen zu spornen, und ihn in seinem Streben
aufrecht zu erhalten.

Und so mögen Ew. Excellenz diesen, lange noch
unvollständigen aber dennoch zeitgemäßen, und wie
ich glaube hinreichend motivirten Entwurf huld-
reichst aufnehmen, und seine Ausführung gewo-
gentlich berücksichtigen. Ich habe nunmehr seit vier-
zehn Jahren, wo ich durch Ew. Excellenz Gnade zum
Lehrer der Medizin an der hiesigen Hochschule
berufen worden, vielfältig Gelegenheit gehabt,
mich von den Bedürfnissen der Physiologie als
Lehre und als selbst ständige Naturforschung zu
überzeugen und ihre realen Verhältniße zu den übrigen
Fächern der Naturwissenschaften, namentlich zu den
vorhandenen Sammlungen und Instituten oft
auf eine sehr unangenehme Weise kennen zu ler-
nen. Es ist natürlich, daß die Wissenschaft der Phy-
siologie
und ihr Interesse durch Beruf und anhaltende[52v]26.
Beschäftigung mit meiner Person und mei-
nem ganzen Leben so genau verwachsen ist, daß
das hier vorgebrachte nicht bloß als meine innig-
ste Überzeugung ausgesprochen wurde, sondern
daß mir auch Alles daran gelegen seyn muß
diese Überzeugung allgemein zu machen,
und vor allem die Aufmerksamkeit Ew. Excellenz
von dessen mächtigen Willen alles Gedeihen
der Wissenschaft, und alle neue Schöpfungen im
Gebiete derselben ausgeht, auf den bisherigen
gedrückten Zustand der Physiologie im Organismus
der Universität, und auf dessen mögliche Abände-
rung hinzulenken.

Es wäre zweifach wichtig, wenn durch den Ent-
schluß Ew. Excellenz gerade in unserm preußischem
Staate der Anfang zu einer solchen würdigeren
Stellung der Physiologie geschähe, theils um der
Wissenschaft und ihrer Lehrer willen, theils wegen
des guten Beispiels, das wie so vieles andere von
hier auch um so wirksamer nach allen Seiten
sich ausbreiten würde.

Indem ich hiermit Ew. Excellenz aus
reinem Interesse für die Wissenschaft, und
aus innigstem Gefühl selbst erlebten drin-
genden Bedürfnißes diese meine wohlgemeinten Vorschläge[53r]27
unterthänigst vorlege und angelegentlichst
zur gewogentlichen Beachtung empfehle, zeich-
ne ich mich mit höchster Ehrerbietung
Ew. Excellenz
unterthänigst ergebenster Diener
Johann Purkinje.
Breslau den 1 Juni
1836.
für]
etc.]
wie]
theils dem Verbrauch theils]
bei uns]
Bewegungs]
ihren]
FroschembyonenFroschembryonen]
bedürfen]
sie]
eigene]
ohne]
überdies]
des Lehrers]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 1. Juni 1836. Purkinje an Altenstein. Z_1836-06-01_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-D195-C