[7r]
Hochwohlgebohrener Herr
Hochverehrter Herr Geheimerrath
und Staatsminister!
 

(Ew.)Euer Excellenz haben durch das hochverehrte Schreiben vom 30sten Januar1 und dessen
Anlagen mich in so hohem Grade erfreut und ermuthigt daß ich mich gedrungen
fühle Hochdenselben dafür meinen lebhaftesten Dank auszusprechen und zugleich
die Versicherung hinzuzufügen daß ich meine ganze Kraft aufbieten werde um
mich des in mich gesetzten Vertrauens würdig zu erweisen. - Da ich während
dieser letzten Wochen gerade eifrig mit den mechanischen und sonstigen Zurüstun-
gen für die angekündigten Vorträge über die Farbenlehre beschäftigt war, so
mußten die mir gnädigst mitgetheilten Apparatsforderungen mir eine um
so willkommnere Gabe seyn, von der ich denn auch bereits mehrfältigen
Gebrauch gemacht habe. - Ich nehme vorerst noch Anstand (Ew.)Euer Excellenz
die von mir aufgestellte Übersicht des gesammten Apparats vorzulegen, da
ich wünsche damit zugleich die Anzeige von der Ausführung des gegenwär-
tig in Arbeit Begriffenen verbinden zu können, wobey sich dann noch Ei-
niges zu bemerken finden dürfte. - Die tabellarische Übersicht der Farben-
lehre
2 habe ich mit lebhaftem Interesse und großer Aufmerksamkeit wie-
derhohlt Punkt für Punkt in Erwägung gezogen und während ich dadurch
in der Überzeugung von der durchgängigen Angemessenheit und Naturgemäß-
heit dieser Anordnung der chromatischen Erscheinungen auf das vollkommenste be-
[7v]stärkt worden bin, so hat sich mir doch dabey gleichzeitig rücksichtlich des bey münd-
licher und experimenteller Darstellung der Farbenlehre einzuschlagenden Weges
ein schon früher gehegter Gedanke aufgedrungen den ich (Ew.)Euer Excellenz zu ge-
neigter Prüfung vorzutragen mir erlaube, indem ich damit die Bitte ver-
binde mir, wenn ich irren sollte, diesfalsige Zurechtweisung angedeihen zu
lassen. Bey Vorträgen wie die von mir bezweckten scheint es mir nämlich vor
Allem darauf anzukommen den Sinn und die Aufmerksamkeit der Zuhörer gleich
von vorn herein durch eine möglichst lebhafte und bestimmte Veranschaulichung der
Erscheinungen in Anspruch zu nehmen; dazu aber dürften wohl die eigentlich phy-
sischen Farbphänomene (nahmentlich die dioptrischen beyder Klassen) vorzugsweise
vor allen übrigen durch ihre eigenthümliche Beschaffenheit geeignet seyn und
es entsteht daher die Frage, ob es in dieser Hinsicht nicht gerathen wäre den
physiologischen Farben, zu deren Wahrnehmung es schon eines einigerma-
ßen geübten Sinns bedarf, anstatt der ersten Stelle, welche sie jetzt ein-
nehmen, gerade die letzte Stelle anzuweisen. Die Stätigkeit des Fortgangs
dürfte übrigens dabey nicht leiden, da der im Chemischen bestimmt hervortre-
tende Gegensatz von Action und Reaction dazu geeignet zu seyn scheint auf
dasjenige vorzubereiten worauf es dann auch bey Ableitung der physiolo-
gischen Farbenphänomene vornämlich ankömmt. Am bestimmtesten wäre dieser
Übergang vielleicht durch jenes galvanisch-physiologische Phänomen nach-
zuweisen dessen Purkinje in seine Schrift über das Sehen (S. 50) Er-
wähnung thut, wo nämlich bey abwechselnder Berührung des Mundes und
der Stirn mit den {entgegesetzten} Polen der galvanischen Säule sich in
der gemeinschaftlichen Gesichtssphäre der geschlossenen Augen, dem Gesetz
der Farbenumkehr gemäß, violette und gelbe Scheine von bestimmter Ge-
stalt zeigen. - An die Betrachtung der physiologischen Farben dürfte sich dann gleich-
falls auf eine einfache Weise dasjenige anschließen was in den übrigen Abschnitten
[8r] des

im Allgemeinen über die Natur der Farben, über
ihre sinnlich-sittliche und über ihre ästhetische Wirkung beygebracht ist. - Da ich es
mir von Haus aus zum Gesetz gemacht habe, mir bey meinem Vortrage keiner-
ley eigenmächtige Abweichung zu erlauben, so stelle ich es (Ew.)Euer Excellenz erleuchte-
tem Ermessen anheim über die Zweckmäßigkeit dieser Anordnungsweise zu entscheiden.
Demnächst fühle ich mich noch gedrungen einen Umstand zur Sprache zu bringen
der mir bisher viel zu schaffen gemacht hat und worüber ich zwar endlich zu einer
Art von Abschluß mit mir gekommen bin, wobey mir indeß eine bestätigende oder
berichtigende Äußerung von Seiten (Ew.)Euer Excellenz im hohen Grade erwünscht seyn
würde. Es betrifft dieß nämlich die Ableitung der dioptrischen Farben zweyter Klasse
aus der Lehre von den trüben Mitteln. Diese Ableitung geschieht in der Farbenlehre
durch Annahme eines bey der Refraction entstehenden Nebenbildes. Die wirkliche
Existenz eines solchen Nebenbildes ist es um welche, wie (Ew.)Euer Excellenz bekannt
seyn wird, von den Gegnern der Farbenlehre vornämlich bestritten worden ist;
nahmentlich findet sich in der in der halleschen Litteraturzeitung enthaltenen Recension die
Behauptung daß nach den Grundsätzen der Dioptrik eine Erzeugung von Nebenbil-
dern der in Rede stehenden Art, als Folge der Refraction auf keine Weise
statt finden könne. Ich habe mir das was bey der Refraction im brechenden
Mittel vorgeht durch die anliegende Zeichnung anschaulich zu machen gesucht, wo-
bey sich mir in der Hauptsache so viel ergeben hat, daß dem brechenden Mit-
tel ein doppelter Einfluß auf die Farbenerzeugung scheint zugeschrieben werden
zu müssen, einmal nämlich daß dasselbe, als durchsichtiges überhaupt, das auf-
fallende Licht in sich aufnimmt und zweytens daß es dasselbe von seinem ge-
raden Wege ablenkt. Beyde Vorgänge, während sie einerseits zusam-
menfallen, scheinen andrerseits auch als getrennt betrachtet werden zu
müssen. Mit der Zeichnung verglichen dürfte sich dieß näher folgenderge-
stalt darstellen: das durch die Oefnung m n in o, p auf das Prisma A B C
auffallende Licht verfolgt, der Durchsichtigkeit des Glases gemäß, seinen Weg in
gerader Richtung nach q r und erleuchtet damit den Raum o p q r. Gleichzeitig
[8v] wird indeß, da das Glas ein dichteres Mittel ist als die Luft, das einfallende Licht von sei-
nem Eintritt in das Prisma an von seinem geraden Wege nach q r abgelenkt
nach s t, ohne daß jedoch dem in Folge der Durchsichtigkeit des Glases erhellte
Raum p s r sein Licht völlig entzogen, so wie andererseits auch der in Folge der
Brechung erleuchtete Raum o t q nur relativ erleuchtet wird. Innerhalb des
Prismas wird also der Raum o t q, der wenn das Glas blos durchsichtig wäre
dunkel bleiben würde, relativ erleuchtet und eben so wird umgekehrt der
Raum p s r, welcher bey gleicher Voraussetzung hell bleiben würde, relativ ver-
dunkelt. Da nun überdieß das Glas überhaupt für ein nicht völlig durch-
sichtiges, somit trübes, Mittel anzusprechen ist, so ergiebt sich im erstern
der erwähnten beyden Fälle ein durch einfallendes Licht erhelltes trü-
bes Medium, wodurch Blau und an der Gränze des Dunkeln Blauroth ent-
steht, während im zweyten Fall über ein erleuchtetes trübes Medium sich Dun-
kelheit herzieht, wodurch Gelb und an der Gränze des Dunkeln Gelbroth ent-
steht. Wird nun das solchergestalt modificierte, von r bis t aus dem Prisma
tretende und hier einer abermaligen Brechung aufwärts (d. h. vom Perpendikel
abwärts) unterliegende Licht durch eine Tafel u v aufgefangen, so stellt sich
auf dieser, je nachdem dieselbe weniger oder mehr vom Prisma entfernt
ist, das bekannte Farbenbild oben blau und blauroth, in der Mitte weiß
oder grün und unten gelb und gelbroth dar. Die auf solche Weise versuch-
te Ableitung der prismatischen Farbenerscheinung betrifft zunächst den objec-
tiven Refractionsfall, wo ein leuchtendes Bild vom Prisma aufgefan-
gen und modificiert wird. In ähnlicher Art würden sich dann auch nicht
nur die subjectiven prismatischen Phänomene, sowohl mit dem hellen als
mit dem dunkeln Bilde, sondern auch die durch Linsen bewirkten Far-
benerscheinungen ableiten lassen. Ich wage es indeß vorerst nicht (Ew.)Euer Ex-
cellenz mit einer diesfalsigen weitern Auseinandersetzung zu belästigen
da ich nicht weiß ob nicht durch das bisherige schon zu viel geschehen
ist; nur dieses erlaube ich mir noch ausdrücklich zu wiederhohlen
daß ich weit entfernt von der Anmaßung bin durch die versuchte Ableitung
[9r] an der Farbenlehre, wie sie von (Ew.)Euer Excellenz dargestellt worden, etwas ver-
bessern oder verändern zu wollen und daß es mir zur größten Beruhigung
gereichen würde von (Ew.)Euer Excellenz zu vernehmen die in Obigem enthaltene
Deduction sey nur eine weitre Ausführung der in der Farbenlehre bereits deut-
lich ausgesprochnen Principien der Chroagenesie.

Bey Durchmusterung des physicalischen Theils der hiesigen königlichen Bibliothek habe
ich einige ältere Schriften gefunden aus denen zum Theil interessante Nach-
träge zur Geschichte der Farbenlehre zu entnehmen seyn dürften. Ich erwäh-
ne davon nahmentlich 1) Vidi Antonii Scarmilioni de coloribus libri 2. vom
Jahre 1600
(dem Kaiser Rudolph II dediciert) und 2) Ludovici Savotii de causis
colorum sententia,
vom Jahre 1609
. Sollten (Ew.)Euer Excellenz diese beyden kleinen
Schriften vielleicht noch nicht zu Gesicht bekommen haben, so bin ich bereit Hochden-
selben demnächst einen summarischen Auszug ihres Inhalts vorzulegen. - Ei-
nen merkwürdigen Beweis dafür daß die newtonsche Farbenlehre jetzt in
England selbst immer mehr zu wanken anfängt, liefret eine neuere Schrift
vom Jahre 1816, die auf eine völlige Umkehr der newtonschen Lehre ausgeht.
Es ist dieß die Schrift des Dr. Med. Joseph Reade zu Cork in Irland, un-
ter dem Titel: Experimental outlines for a new theory of colours, light
and vision, with critical remarks on Sir Isaac Newton's opinions. Lon-
don.
- Der Grundgedanke der ganzen Schrift läuft darauf hinaus, daß
das Licht einfach und unzerlegbar sey und daß dagegen das Dunkle, oder
wie der Verfasser es in der Regel nennt, das schwarze Licht, als aus Farben
zusammengesetzt betrachtet werden müsse. Also auch hier die atomistisch-mechanische
Vorstellung
eines Zusammengesetztseyns. Als Urphänomen stellt der Verfas-
ser an die Spitze seiner ganzen Lehre die einfache Erscheinung, daß wenn
ein Stückchen schwarzes Tuch, welches nicht allzu breit ist, auf eine ge-
gen den fernen Himmel gekehrte Fensterscheibe und durch ein Prisma betrach-
tet wird, das Schwarze verschwindet und an dessen Stelle drey parallele und
in einander übergehende Streifen von blauer, rother und gelber Farbe tre-
ten. - Alles Übrige ist dann wie bey Newton nur gerade umgekehrt; die drey
[9v]Urfarben sind homogen und für alle Mal fertig; eben so sind sie auch verschieden
refrangibel, jedoch gleichfalls in umgekehrter Ordnung, so daß das gelbe Licht
brechbarer seyn soll als das blaue welches als das am wenigsten brechbare
dargestellt wird. - In der Vorrede sagt der Verfasser: „Keine geringe Befrie-
digung gewährt der Gedanke daß die Theorie des schwarzen Lichts, die hier auf-
gestellt wird, mit dem historischen Zeugniß der mosaischen principia (vor-
her war von den newtonschen die Rede) übereinstimmt. Boyle und Newton wa-
ren moralische und musterhafte Christen allein sie wagten es in ihren Schrif-
ten der göttlichen Offenbarung geradehin zu widersprechen. Das erste Buch der
Genesis belehrt uns daß die Finsterniß früher war als das Licht. Die Erzeugung
des weißen Lichts war, wie Herr Hutchinson treffend bemerkt, keine neue Schöp-
fung, sondern nur eine Zulassung für eine schon vorhandene Substanz zu einem
veränderten Zustand modificiert zu werden.“ - In der Schrift selbst die fast
fortwährend und mitunter sehr treffend gegen Newton polemisiert, kömmt
bey Erwähnung der epoptischen Farben unter andern diese Äußerung vor: Sir
Isaac Newton supposed that those rings of opaque colours were produced
from the rays of heterogeneous light, being separated by a thin plate of
air. As one absurd opinion is generally upheld by others yet more
absurd, so our philosopher was obliged to resort to the curious hypothe-
sis (more ridiculous if possible than any advanced in the Aristotelian
school
) that [rays] of light are subject to fits of easy and difficult
transmission,
- und dann an einer anderen Stelle: If any other per-
son had written such musical nonsense it might provoke a smile, but
the [commanding] genius of a Newton forbids such levity and
[elicits] a sigh, that so much precious time and mathematical cal-
culation schould be thrown away to such little [purpose].
- Nach ei-
nem solchen Auf- und Niederwogen zwischen zwey Aeußersten, soll-
te man meinen müßte wohl endlich das Bedürfniß des Wahren
sich dringend hervorthun. -

Ehrerbietigst verharre ich
(Ew.)Euer Excellenz
ganz gehorsamster
Leopold von Henning. Dr. Phil.
CC-BY-SA-4.0

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 19. März 1822. von Henning an Goethe. Z_1822-03-19_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C2F5-1