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Die in Berlin herrschende Tendenz zur Empirie, Mathematik, Atomistik hat ihr altes Uebergewicht über die Wissenschaft, Philosophie, Dynamik durch die Art der Aufnahme des Goethe'schen Werkes zur Farbenlehre abermals siegreich bewiesen. Von diesem Werke können wir in der Kürze sagen, daß es seinen Gegenstand nicht bloß wissenschaftlich, sondern im ächten früheren Sinne durchaus philosophisch behandelt, fortschreitend auf höherer Bahn, indem es aus dem Vorhandenen, Bekannten, wie die Alten aus dem Feuer, Wasser, Erde und Luft, vor unseren Augen das Unbekannte, Unerklärliche aufbaut, und der Künste der Mathematik nicht bedarf, mit einer Würde und Kraft, wie sie im Umfange der neueren Physik bis jetzt nicht erschienen war, gegenwärtig und treffend die Dynamik der Atomistik entgegenstellt, und auf das Lebhafteste den alten, vielleicht uranfänglichen und ewigen Streit zwischen Platonischer und Aristotelischer Schule, Idealismus[46]und Realismus, oder bestimmter Formalismus und Materialismus erneuert, zum Jubel derer, die nicht anders als mit Plato denken und, aller neueren Bemühungen ungeachtet, des Aristoteles Gelehrsamkeit nur für eine Sammlung kostbarer Essenzen ansehen können, aus welchen die Götter in jenes Haupte den Balsam des Lebens bereitet hatten. Wie wir uns auch stellen, es bleibt uns unmöglich, ruhig und kalt zu sein, wo es sich um das heiligste Leben handelt. Und so erkennen wir in Goethe's Werke, wie bei jenen Alten, mit tiefer Rührung jene lichtvolle Umfassung des gesammten Lebens und Wissens, jene wahrhaft religiöse Scheu, den Schleier der göttlichen Spuren auf der Erde zu lüften und über die Gränzen der Menschheit hinauszustreben, die nicht minder die Gränzen aller Wissenschaft sind, zugleich aber auch jene Freiheit, Zuversicht und Keckheit gegen das geringere Geschlecht der Gegner, welches, stets in eitlem Wahne, durch eigenes Verdienst sich unmittelbar an den Thoren der Gottheit zu sehen, seine ängstlich mühevollen Bestrebungen seit Jahrtausenden wiederholt, ein Bild des Sisyphus und des Tantalus, den ewigen Durst zu löschen sich vergebens quälet. Ein so ursprünglicher, ausschließender Gegensatz des innersten Wesens konnte bei seiner Erscheinung in der Welt nicht anders als eine heftige Parteiung erzeugen. Goethe, der den Kampf beider Parteien geschichtlich seit jener Urzeit her erkannt, dem die Widersacher schon früher bei einem Versuch feindlich entgegengetreten, stellt sich hier nicht nur vollgerüstet dar, er überfällt den sorglosen Gegner, den die Zeichen der gewaltigen Zeit nicht genugsam zu warnen vermochten, mit solcher entscheidenden Uebermacht in allen Waffen, von allen Seiten her, daß der Widerstand, wie ernstlich gemeint, doch voraussichtlich nur schwach und unwirksam sein kann. Hier in Berlin, wo alle äußere Bedingungen des gesellschaftlichen Zustandes entschiedener und dauernder, als irgendwo in Deutschland der mathematisch-astronomischen Behandlung der Wissenschaften den Vorzug vor der philosophisch-dynamischen sichern, ist die Zahl der Gegner Goethe's vielleicht die Zahl aller Gelehrten von Profession. Nur unter seines Gleichen und unter den Dilettanten findet er Anhänger, die, je nachdem ihnen die Sache näher oder entfernter liegt, mehr oder weniger lebhaften Anteil an dem Kampfe nehmen, jedoch vor dem absoluten Uebergewicht der Gelehrten nicht aufzukommen vermögen. Damit nun von diesem, in doppeltem und umgekehrtem Verhältnis so ungleichen Kampfe, welcher dem Kampfe der ersten Christen mit ihren Verfolgern nicht unähnlich siehet, einige geschichtliche Spur übrig bleibe, sind wir entschlossen, das, was sich hiesigen Orts in der Sache zuträgt, von Jahr zu Jahr mit einer solchen Ausführlichkeit anzuzeigen, wie sie etwa dem Interesse eines größeren wissenschaftlichen Publikums entsprechen möchte. So sind wir denn hier des Vorsatzes, die Ereignisse des eben abgelaufenen ersten Jahres seit Erscheinung des Werkes vorzutragen, die, wenn sie gleich nicht erfolgreich schei-
[47]nen, doch als vorbedeutende Zeichen der Zukunft nicht unwichtig sind.

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. vor 24. Mai 1811. C. L. F. Schultz, Entwurf. Z_1811-05-23_u.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-B762-4