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Ich bin seit dem 18ten December in Prag und habe es sehr zu
bereuen, daß ich nur so kurze Zeit des Glücks Ihrer per-
sönlichen Gegenwart genossen. [...]

Ich hätte mir längst die Ehre gegeben an Euer Excellenz
zu schreiben, hätten mich nicht einige physikalische Untersuchun-
gen über die Klangwellen, gerade zu der Zeit, als ich
E. E. selbst damit beschäftigt wußte, wie ein neckender
Elementargeist immer hin und hergezogen, wo ich doch einige
Resultate erbeuten wollte, um nicht ganz mit leeren Händen
vor E. E. zu erscheinen. Die beiliegenden Blätter und Gläser
geben Rechenschaft von einigen ärmlichen Versuchen, die ich
mit der Zeit, bei günstigeren äußeren Verhältnissen, und nach allmähliger
Einrichtung eines gehörigen Apparats weiter verfolgen werde.
[7v]Den versprochenen Brief sende ich in seinem crudissimo wie er im ersten
Feuer des Gefühls geschrieben ward. Er war eine andere, geheime
Dedication meines Werkchens, nur schade daß jugendliche Schüchternheit
ihn zurückbehalten. - Gleich in den ersten Jahren meines medi-
zinischen Studiums machte ich [mich] mit Ihrer Farbenlehre bekannt.
Ich habe Ihren Stoff nach Möglichkeit ergründet, an ihrer Form mich
auferbaut. Schon damals faßte ich den Entschluß,
den Wunsch Ihres hochwürdigen Alters was an mir ist zu
realisiren, und den physiologischen Theil der Farbenlehre, dazu
ich schon damals einige merkwürdige Beobachtungen besaß,
zu erweitern. Zwar fand ich später, bei weiterer Bearbei-
tung des Gegenstandes, daß diejenige wissenschaftliche Abstrac-
tion, die der Farbenlehre ihren Kreis zieht viele von denen
Erfahrungen die ich gemacht hatte ausschließen würde, und daß
man in dem empirischen Theile der Physiologie des Menschen
einen eigenen Zweig feststellen könnte, der die einfachen
und zusammengesetzten Phänomene im subjectiven Gebiete
als Anfang einer reformirten Bearbeitung der Psychologie
umfassen sollte. In diesem Sinne habe ich auch in den
folgenden Jahren meine Erfahrungen und Versuche
[8r]im subjectiven Bereiche fortgesetzt, davon ich gelegentlich Einiges
mittheilte, als: über den Sitz der Empfindung des Ekels, bei
Veranlassung einiger Untersuchungen über die Brechen erregende
Eigenschaft der Ipecacuanha
und des Emetins in Pleischels
chem. Laboratorium v. Prag (1820); ferner über den Schwindel
in den med. Jahrb. des österr. Kaiserstaats IV B. 2. Heft.

Sollte mich durch eine Reihe Jahre noch ferner eine ungetrübte
Gesundheit beglücken, so hoffe ich die Empirie des Subjectiven
noch dahin zu fördern, daß eine hinreichende Anzahl Theil-
nehmer ihr zu einem thätigen Organe im Leben der Wis-
senschaft erwachse.

Weil ich weiß daß Ew. Exzellenz besondere Freude an solchen
Erscheinungen haben, welche uns die Natur von selbst unter
freiem Himmel entgegenbringt, so erlaube ich mir in einem
der beiliegenden Blätter einer solchen zu erwähnen.

[...]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 7. Februar 1823. Purkinje an Goethe (Auszug). Z_1823-02-07_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C64D-C