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Das Eigenthümliche der edleren Sinne (Ohr und noch mehr Auge) liegt darin, daß sie so höchst mannigfaltiger, so fein nüancirter, so deutlich verschiedener Empfindungen fähig sind, ohne daß solche den Willen im mindesten unmittelbar anregen, d. h. ohne daß sie an sich irgend angenehme oder unangenehme Empfindungen wären: dieses ist zu bewundern, wenn man erwägt, daß der ganze Leib doch nichts anderes ist als der objektivirte Wille. Jene Eigenthümlichkeit nun macht die besagten Empfindungen geschickt[,] höchst mannigfaltige Data für den Verstand zu werden, aus denen dieser auf der Grundlage von Raum und Zeit die empirische Anschauung hervorbringt. Sie beruht auf der Fähigkeit der retina durch ein so feines agens wie das Licht so stark, mannigfaltig, deutlich afficirt zu werden. Der ästhetische Eindruck den die Farben unmittelbar machen, besonders wann sie sehr lebhaft und transparent sind, z. B. die der Wolken bei Sonnenuntergang (Arebol) muß daraus entspringen, daß wir so starke und deutliche Modifikationen im Sinnesorgan empfinden, also eine sehr deutliche Erregung des Bewußtseins erhalten ohne alle unmittelbare Erregung des Willens: dies eben macht uns zum reinen Subjekt des Erkennens. Denn das Objektive, die Ideen der Wolken und des Lichts sind zu unbedeutend um den mächtigen ästhetischen Eindruck dabei zu erklären.

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. vor 31. Dezember 1825. Schopenhauer: Quartant. Z_1825-12-31_w.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-CAE8-8