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Ewr Excellenz werden mein vor acht Wochen an Sie abgesandtes Manuskript über das Sehn und die Farben, nebst meinem Briefe, gewiß erhalten haben: denn, obgleich Sie meine Bitte um Anzeige des Emp-[10]fangs nicht erfüllt haben, so kann ich doch nicht wohl daran zweifeln, weil ich vom Herrn Dr. Schlosser erkundet habe, daß er es zur Zeit erhalten und Ihnen sogleich überschickt hat. Ewr Excellenz haben indessen mich bisher keiner Antwort darauf gewürdigt, welches ich mir hauptsächlich daraus erkläre, daß die mannigfaltigen Umgebungen Ihres öfter veränderten Aufenthalts, dabei der Umgang mit regierenden, diplomatischen und militärischen Personen, Sie zu sehr beschäftigt und Ihre Aufmerksamkeit einnimmt, als daß meine Schrift anders als sehr unbedeutend dagegen erscheinen, oder zu einem Briefe über dieselbe Zeit übrig bleiben könnte. Es würde thörigt und vermessen seyn, wenn ich mir deshalb die leiseste Andeutung eines Vorwurfs gegen Ewr Excellenz erlauben wollte. Andrerseits jedoch hat mir die Gesinnung, aus der ich meine Schrift Ewr Excellenz übersandte, keineswegs die Verpflichtung auferlegt, mich jeder Bedingung zu unterwerfen, unter der allein Sie diese Schrift zu lesen und zu berücksichtigen geneigt seyn möchten. Ich weiß von Ihnen selbst, daß Ihnen das literarische Treiben stets Nebensache, das wirkliche Leben Hauptsache gewesen ist. Bei mir aber ist es umgekehrt: was ich denke, was ich schreibe, das hat für mich Werth und ist mir wichtig: was ich persönlich erfahre und was sich mit mir zuträgt, ist mir Nebensache, ja ist mein Spott. Dieserhalb ist es mir peinlich und beunruhigend, eine Handschrift von mir seit acht Wochen aus meinen Händen zu wissen und noch nicht einmal völlige Gewißheit zu haben, daß sie dahin gelangt ist, wohin allein ich sie geben mochte, und wenn auch dies gleich höchst wahrscheinlich ist, wenigstens nicht zu wissen ob sie gelesen, ob gut aufgenommen ist, kurz, wie es ihr geht. Mir ist diese Ungewißheit über etwas das zu dem gehört, was mir allein wichtig ist, unangenehm und quälend, ja in manchen Augenblicken kann meine Hypochondrie hier Stoff zu den widrigsten und unerhörtesten Grillen finden. Um allem diesem und der Plage einer täglich getäuschten Erwartung ein Ende zu machen und die Sache mir wenigstens aus dem Sinn schlagen und vors Erste vergessen zu können, bitte ich Ewr Excellenz mir meine Schrift nunmehr zurückzuschicken, mit oder ohne Bescheid, wie Sie für gut finden: in jedem Fall glaube ich jedoch noch diese Bitte[11]mit Zuversicht hinzufügen zu dürfen, daß Sie mir zugleich in zwei lakonischen Phrasen anzeigen, ob außer Ihnen irgend jemand sie gelesen hat, oder gar eine Abschrift davon genommen ist. Sollten Sie indessen wünschen sie noch länger zu behalten, so haben Sie die Güte mir die Gründe dazu anzuzeigen und mir überhaupt durch einigen Bescheid Beruhigung darüber zu verschaffen

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 3. September 1815. Schopenhauer an Goethe. Z_1815-09-03_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-B7DE-9