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[47r]
Seiner Excellenz
den Staatsminister Herrn von Goethe.
Hochwohlgeborner Herr.

Indem ich mich erkühne, als ein Unbekannter mich selbst bey
Euer Excellenz einzuführen, habe ich die Nachträge zur Chromatik in
den Heften zur Naturwissenschaft vor mir, ich ersehe darin, mir selbst
zur nützlichen Auslegung, wie Sie nachsichtig und aufmunternd manches
wohlwollende Bemühen anerkennen und von dem jüngern Geschlecht die
Verkündigung des neuen Bundes erwarten. In dieser freundlichen und
beruhigenden Vorstellung erdreiste ich mich, an Sie zu schreiben, ohne Ihnen
anders als durch mehrjährige Studien der Natur und Ihrer eigenen wissenschaft-
lichen Forschungen verwandt zu seyn. Und so erscheine denn auch ich unter
den Vielen, die Ihnen Zeugniß geben wollen, wie sie des Meisters
Lehre wohl begriffen, aber, was mir ein größeres Vertrauen einflößt, in
Angelegenheiten, die Ihnen sehr am Herzen liegen, in Angelegenheiten der
Farbenlehre und der Lehre von der Metamorphose. Nachdem viele
Jahre lang Ihre naturwißenschaftlichen Forschungen mir Institutionen
gewesen sind sowohl der Methode als des Inhaltes für meine Bestrebungen,
in die Geheimniße der lebenden Natur auf beschaulichem und forschendem
Wege einzudringen, sollte mir am Ende auch das Glück zu Theil werden,
auch öffentlich davon Rechenschaft zu geben, wie eine Aussaat die in allen
Zweigen der Naturwißenschaft die herrlichsten Früchte dem scheidenden
und bleibenden Geschlecht entlockt, noch größere dem kommenden entlocken
wird, auf den Einzelnen gewirkt, und was ich diesen Förderungen Alles
[47v]verdanke. Indem ich nun aber vor Ihnen selbst von mir reden soll,
bin ich viel befangener, als ich es öffentlich seyn konnte. Dazu nahm
ich den Trieb und die Freundschaft zur Wahrheit mit als gutes Geleit;
bey Ihnen kann ich nur bescheidene Anfrage ersuchen. Ich muß es Ihrer Güte
und Nachsicht anheimstellen, ob Ihnen die Lust bleiben wird, diese Weih-
geschenke eines bisher schweigsamen und unbekannten Schülers in der Nähe
zu betrachten und zu prüfen. Wie Sie mit dieser Erscheinung zufrieden
seyn werden, im Fall Sie diese Erläuterungen auf einer von Ihnen selbst
gebrochenen Bahn Ihrer Durchsicht und Prüfung würdigen sollten? Ich
habe einiges Herz {bei} dieser Frage. Ich bin selbst auf eine Bemerkung gefaßt,
die Sie dabey zu machen Gelegenheit haben könnten, wie es nämlich nicht
unter allen Umständen erfreulich sey, die Früchte des Selbstgeleisteten in
einer aufregsamen Mitwelt wiederzusehen, nachdem der Inhalt des zeugenden
Gedankens bis zu den scharfen Spitzen der Vorstellung verfolgt worden.
Auch auf diese Bemerkung bin ich gefaßt; denn ich finde einen so engen
Zusammenhang zwischen dem, was Sie uns gegeben, und dem, was ich
daraus habe weiter bilden können, daß ich so kühn seyn könnte, für
alle Folgen Sie selbst verantwortlich zu machen. Sehr leid thut es mir,
daß die von mir seit längerer Zeit angelegten Untersuchungen über den
Einfluß des farbigen Lichtes auf die Vegetation und die Lebenserscheinungen
der Pflanzen und Thiere nicht auch schon in diesen Kreis von Abhandlungen
haben aufgenommen werden können. Schon während meines frühern
Aufenthaltes in Berlin, wo ich meine Studien in den dortigen Museen
fortsetzte, gieng ich mit mancherlei Versuchen dieser Art um. Ich
lernte die Schwierigkeiten dieser intricaten Untersuchung kennen, verließ
vergebene Wege und entwarf einen Plan zu neuen, für die Wißenschaft,
[48r]wie ich hoffte, sehr ersprießlichen Untersuchungen, deßen Ausführung
auch die Rücksprache mit einem in diesem Felde sehr vertrauten
Gelehrten Herrn Dr. Seebeck hoffen ließ. Der Mangel an einigen
sehr kostbaren Glasarten, besonders des reinen rothen und grünen
Glases, die aus Böhmen verschrieben werden mußten, so wie die
Unzureichbarkeit meiner optischen Apparate setzte der Ausführung bisher
Hinderniß. Doch soll unter Mitwirkung des Präsidenten Nees v. Esenbeck
mit dem kommenden Frühling frische Hand ans Werk gelegt werden.

Auch die Abhandlung zur Physiologie der Insecten werden Sie
nicht lesen, ohne sich mancher von Ihnen selbst gemachter Andeutungen
zu erinnern. Aber in diesem Puncte der Naturwißenschaft ist die Wahrheit
und der Gedanke schon so sehr eins geworden und durchgedrungen, daß
man nicht mehr fragen kann, was des Einen und was des Andern ist,
und nur dankbar in seinen Bestrebungen sich des Urhebers und Helfers
zum Beßern sich erinnern muß. Hat es {bei} einem sicher fortschreitenden
bey dem Alten ängstlich beharrenden Stande auch an feindlicher Begegnung
nicht gefehlt, so wären Sie doch vielleicht gegen die jüngere Mitwelt,
welcher zunächst das Ferment angehört, ungerecht zu glauben, der
Nachwelt nur sey die Stimme über das der Zeit Vorgegriffene vorbehalten.
Nein, Sie müßen es in Ihren Tagen noch erleben, wie man sich auch
im Gebiete der Wißenschaft der unverlornen zeugenden Mittheilung
als an einem schönen heitern Tage der Besinnung allseitig erfreut.
Sie müßen sich überzeugen, wie der Naturforscher auch einem Geschlechte
voranging, das ihn zu begreifen folgte. [...][48v][...]

Daß es nun bald auch in den übrigen Gebieten der Sinnesphysiologie
zu tagen anfangen werde, ist gewiß zu erwarten. Die Aussaat ist
geschehen, wer kann ihre unendlichen Folgen aufhalten? Ich selbst gehe
mit manchen Entwürfen um, auch in der Physiologie des Gehöres
ein wenig zu räumen, habe schon manchen blind sich endigenden
Seitenweg oder ins Weite führende Irrgänge verlassen. Hätten
Sie uns doch auch in diesem Gebiete einige leitende Gedanken mit-
getheilt! Dies bedauere ich um so mehr, als ich durch Dr. Schlosser in Francfurt
weiß, daß Sie auch diesem Gegenstande Ihre Betrachtungen gewidmet
haben. Sind wir aber einmal von den Außenseiten in das Wesen nur eines
Sinnes eingedrungen, so muß der Gedanke ja auch durch die von der Physik
erbauten Zugänge zur Physiologie der andren Sinne führen. An mir soll
nichts verloren seyn und werde ich sogleich getroffen, wenn der Punct berührt wird,
worauf es in der Betrachtung einer Sache allein ankommt.

Dieses ist nun das Einzige, was ich Ihnen zu sagen den Muth habe. Denn
nicht anders kann ich die Beziehung auffaßen, in der mich die vorliegenden
Arbeiten bey Ihnen einführen. Dann bleibt mir noch die ergebene Bitte über,
daß Sie meine unumwundene Anfrage und Anmeldung nach dem Maße Ihrer
Güte und Herablaßung ergreifen mögen.

Mit unbegrenzter Hochachtung und
Ehrfurcht
Euer Excellenz
gehorsamster
Dr. Joh. Müller
CC-BY-NC-SA-4.0

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 5. Februar 1826. Johannes Müller an Goethe. Z_1826-02-05_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-4453-7