[28]

Ewr Excellenz gaben mir vor zehn Wochen die Verheißung, mir baldigst Ihre eigentliche Meinung über meine Farbentheorie mitzutheilen. Ich habe Ihnen darauf am 3ten (Decr.)December noch einen langen Brief geschrieben, der die Vertheidigung meiner Meinung über die Violette Farbe und auch einen neuen sehr artigen Beleg meiner Theorie enthält. Unterdessen scheinen Ewr Excellenz mich und meine Farbentheorie wieder ganz vergessen zu haben. Meine erste, stets ungewisse Hoffnung, daß Sie durch einige Theilnahme jener Arbeit zur Publicität verhelfen würden, ist allmählig zerstöhrt: die gewisse Erwartung welche ich hegte, doch in jedem Fall Ihr Urtheil zu vernehmen, schwindet, nachdem ich beinahe sieben Monat vergeblich darauf warte, nun auch dahin: meine letzte Bitte ist also, daß Ewr Excellenz nunmehr die Güte haben wollen, mir das Manuskript zurückzuschicken, damit diese Sache denn doch zu einem Ende gekommen sei: denn mir ist nun einmal alles Ungewisse, Schwebende, zu Erwartende durchaus zuwider; was vielleicht mit meiner gewiß nicht geheuchelten Liebe zur Wahrheit, Klarheit und Bestimmtheit zusammenhängt: auch habe ich ja jetzt beinahe sie-[29]ben Monate geharrt und gehofft; was mehr ist als ich mir selbst zutraute.

Aufrichtig gesagt, ist es mir gar nicht möglich mir vorzustellen, daß Ewr Excellenz die Richtigkeit meiner Theorie nicht erkennen sollten: denn ich weiß, daß durch mich die Wahrheit geredet hat, - in dieser kleinen Sache, wie dereinst in größern, - und Ihr Geist ist zu regelrecht, zu richtig gestimmt, als daß er bei jenem Ton nicht anklingen sollte. Wohl aber kann ich mir denken, daß ein subjektiver Widerwille gegen gewisse Sätze, die mit einigen der von Ihnen vorgetragenen nicht ganz zusammenstimmen, Ihnen die Beschäftigung mit meiner Theorie verleidet, daher Sie solche stets zurücklegen und aufschieben, und, indem Sie Ihre Beistimmung mir weder geben noch versagen können, ganz schweigen. Im Grunde wundert es mich daß dieses so ist, schon darum, weil ich tausend Mal mehr Ihr Verfechter (und zwar recht aus dem Grunde) als Ihr Gegner bin: doch läßt es sich, nach einigen Ihrer Aeußerungen, begreifen, und ich muß es so denken.

...

Nachschrift.

Beim Abschluß dieser Verhandlungen, kann ich mir noch die Befriedigung nicht versagen, Ewr. Excellenz anzuzeigen, daß ich einen großen Fehler, der im ersten Kapitel jener Abhandlung ist, schon vor längerer Zeit entdeckt habe. Nämlich in Betreff des Einfachsehns habe ich gesagt, es hänge davon ab, daß wir alle Dinge im selbigen Winkel der Augenaxen sähen. Dies ist ganz unmöglich, wenn gleich dieser Winkel, - teils vermöge der Annäherung beider bulbi zu einander bei Betrachtung naher Gegenstände, teils durch die Änderung der innern Konformation des Auges und damit der Brechung, nach Maßgabe der Entfernung, - nicht in dem Maße sich ändert, als die Entfernung. - Aendern muß[30]jener Winkel im Ganzen sich doch mit der Entfernung. - Ich hatte jenen falschen Satz damals ohne sonderlichen Bedacht und ohne besondere Lektüre darüber hingeschrieben, indem ich meinem Hauptgegenstande, den Farben, zueilte. Bald aber lehrten mich Nachdenken und Beobachtung, es sei anders. Ich las darauf alles Bedeutende alte und neue darüber, bis auf die naturphilosophischen Harlekinaden des Dr. Troxler in Himlys ophthalmologischer Bibliothek. Bloß Charles Wells on single seeing with two eyes 1795, das ich aus England verschrieb, habe ich noch immer nicht erhalten, da das oft über 3 Monat dauert. Die befriedigendeste Auskunft fand ich in (Robt)Robert Smith' Optics, dessen Darstellung ich bei der völligen Umarbeitung jener Stelle meiner Arbeit, die ich damals sogleich vornahm, gefolgt bin.

Nicht daß der Winkel der optischen Achsen immer derselbe sei; sondern, dass die Stellen der beiden Netzhäute, auf denen seine Schenkel ruhen, die einander in jedem Auge völlig entsprechenden seien, dies ist das datum, welches der Verstand bei der Anerkennung der Einheit des zweifach wirkenden Objekts zum Grunde legt. Da diese Bedingung nicht eintreten kann bei der Wirkung von Objekten die in verschiedener Entfernung vom Auge stehn, so sehn wir auch von 2 hinter einander stehenden Objekten, das hintere doppelt, wann das nähere einfach, und das nähere doppelt wann das hintere einfach. - Ich setzte dies nun weiter auseinander, bezog mich auch auf Smith und seine Figuren, und berührte auch in der Kürze die andern, besonders neuern Meinungen. Mit dem Hauptsatze jenes ersten Kapitels meiner Abhandlung, nämlich der Darthuung der Intellektualität aller Anschauung, war die gemachte Aenderung in völliger Übereinstimmung, daher ich bei der Umarbeitung jenen Satz noch einleuchtender und lebendiger darstellte. Auch die innere Identität des Schielens und Tastens mit übergeschlagenen Fingern, und Alles übrige blieb völlig stehn

CC-BY-SA-4.0

Editionstext kann unter der Lizenz „Creative Commons Attribution Share Alike 4.0 International“ genutzt werden.


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 23. Januar 1816. Schopenhauer an Goethe. Z_1816-01-23_r.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-B818-7