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[40r]
Hochwohlgeborner Herr,
Hochgebietender Herr Staatsmini[ster]
Gnädiger Herr.

Indem ich Euer Excellenz von meiner jetz[igen]
Wirksamkeit in Kenntniß zu setzen m[ich]
erkühne, bin ich im Begriff, von einer Hu[ld]
Gebrauch zu machen, durch welche mein fa[st]
zweyjähriger Aufenthalt in der Hauptstad[t]
mich zu den größten wissenschaftlichen Genü[ssen]
[40v]und zur Befriedigung der höchsten meinem
ganzen Leben vorgesetzten Zwecke hinführte.
War es mir vergönnt, in jener Zeit mit dem
Ertrag meiner geringen jugendlichen Kräfte
vor Eure Excellenz erscheinen zu dürfen, und
durfte ich Hochdieselben von meinen wissenschaft-
lichen Bedürfnissen in Kenntniß setzen, um
mir die gnädige Erfüllung derselben zu versichern,
warum, dachte ich: sollte ich es nicht wagen, brieflich
einmal vor Hochdenselben zu erscheinen, ohne
alle äussere Veranlassung, ohne alle Zwecke als
aus dem alleinigen Grund einer inneren Nöthigung
meiner selbst. Wenn ich das Maß der Wohl-
thaten überschaue, die durch die gnadenvolle
Aufmerksamkeit Euer Excellenz meinen wissen-
schaftlichen Bestrebungen ertheilt worden sind,
und wenn ich die Art bedenke, wie ich derselben
theilhaftig geworden bin, erfüllt es mich mit
Schmerz, daß ich so wenig Gelegenheit haben darf,
meine tiefdankbaren Gesinnungen auszudrücken
und mehr zu machen, als nur in stiller Verschlossen-
heit sie bescheiden und demüthig zu wiederhohlen,
dann aber bin ich wieder hocherfreut, daß mir
die größte ehrenvollste Laufbahn gegeben ist,
in meiner eigenen Thätigkeit auf eine andere
auch bescheidene Weise dankbar zu seyn, auf welche
[41r]Art der dankbaren Unterwerfung Hochdiese[lben]
auf Ihrem erhabenen Standpuncte allein
hingewiesen sind. Ich bin dann so kühn
gewesen, Euer Excellenz schlicht zu eröffnen
was mir durch Hochderselben gnädiges Wohl-
wollen in Fortsetzung meine Beschäftigungen
in der Hauptstadt möglich geworden ist, und
was mir noch übrig bleiben mag, um höhern
Anforderungen mich zu nähern.

Auf Euer Excellenz gnädigen Befehl habe
ich, nachdem ich bis zum Herbste 1824 mein[e]
bisherigen Studien in Berlin fortgesetzt,
und nachdem so, was in Berlin zu meine[r]
besondern Ausbildung dienen konnte, hinlän[glich]
benutzt war, sofort mich nach der Königlichen
Rheinuniversität zu Bonn zurückbegeben;
worauf ich nach den vorschriftsmässigen Leis[tungen]
am 19. October 1824 mich als Privat-
Docenten der Medicin, und zwar vorläufi[g]
für die Fächer der Physiologie und vergleich[enden]
Anatomie nach dem Euer Excellenz einge-
reichten und von Hochdenselben gebilligten
Plane habilitirte. Von dieser Zeit an
habe ich meine Wirksamkeit auf der (König[.])Königlichen
Rheinuniversität begonnen, indem ich
Vorlesungen über die Physiologie der
Sinne, der Sinnesorgane und des

[41v]Nervensystems, zugleich auch Lateinische
Disputatorien über medicinische und chirurgische
Gegenstände las und fortdauernd lese.

Zu der Physiologie der Sinne hatte ich bisher
mit ganz ausserordentlichem Interesse gearbeitet.
Euer Excellenz waren theilnehmend genug,
einen Theil eigener Arbeiten in diesem Gebiete
Ihrer gnädigen Durchsicht zu würdigen. Ich
hielt keinen Gegenstand für angemessener,
um mir im Anfang meiner academischen Lauf-
bahn Aufmerksamkeit und Theilnahme zu erregen.
Die Physiologie der Sinne ist so ausserordentlich
reich an herrlichen Phänomenen. Die Physiologie
wie sie gang und gebe ist, hat sich einen
grossen Theil derselben entreissen lassen, sie
ist sogar deren unbewußt. Die Psychologie,
die Physik des Lichtes und der Farben, die Theorie der
musicalischen Instrumente haben sich einzelne
Theile der Physiologie der Sinne vindicirt,
die ihnen weniger angehören, und integrirend
zu einem grossen Ganzen, wie es eine durch-
greifende Einsicht in die Physiologie der
Sinne bedingt, mit dem genuin gebliebenen
physiologischen Stoff vereinigt werden müssen.

Es war und ist nun meine Aufgabe, in
jenen Vorlesungen, die mich den größten
Theil der Woche beschäftigen, die ganze
[42r]Sinnenwelt von der physiologischen Seite
zu erschöpfen, meine Zuhörer in alle Phäno[mene]
durch die Anschauung selbst einzuführen
und so mir einen Standpunct zu gewinnen,
auf dem ich nach meiner Weise durch das gesam[mte]
Gebiet der Physiologie und die ihr verbunden[e]
Naturwissenschaft fortzuarbeiten im Stande
wäre. - Ich habe, so viel es meine Mittel
erlaubten, schon in Berlin dafür gesorgt,
das Nöthigste eines Apparates für die Physiol[ogie]
der Sinne, entweder selbst zu verfertigen oder
zum Theil verfertigen zu lassen. Auch habe
ich es nicht fehlen lassen, durch anatomische
Demonstrationen der subtileren Gegenständ[e,]
wie sie die specielle Anatomie für sich, das
Zufällige wie das Beständige, Alles gleich wichtig
behandelnd, nicht geben kann, die hier so sehr
schwierige und doch so sehr nöthige sinnliche
Anschauung überall zu unterstützen. Die Theilnahme
für diese Vorträge, ich bekenne es Euer
Excellenz mit großer Freude, war beständig un-
gemein groß und aufmunternd, und ich ha[be]
mich, was ich auch sonst für ein recht gutes
Zeichen eines mehr wissenschaftlichen Sinnes
unter den Studierenden halte, einer Anzahl
von nicht weniger denn 60 Zuhörern zu
erfreuen. Diese Vorträge wurden, wie
ich glaube, passend eingeleitet durch die
[42v]öffentliche Probevorlesung, welche ich am
19ten October dieses Jahres vor der medici-
nischen Facultät über die innige Verbindung
der Philosophie mit der Physiologie gehalten
habe. Ich habe darin ein Organon der Physiologie
aufzustellen gesucht und von diesem aus jede
einseitige geschichtliche oder überhaupt mögliche
Behandlung der Physiologie bezeichnet, dabey nicht
unterlassen auf die hohe Aufgabe der Physiologie
für die Theorie der Medicin in jener alleinigen
und ausschließlichen Verbindung der Philosophie
mit der vertrautesten empirischen Naturwissen-
schaft
aufmerksam zu machen und vor jeder
andern systematischen und hypothetischen sogenannt
philosophischen Behandlungsweise der Medicin,
welche immer das Unglück haben muß, von
einer umfassenderen Erfahrung widerlegt
zu werden, wie vor der blossen Empirie,
die durch den Sieg über die irrigen Systeme
immer allgemeiner einzureissen droht, zu
warnen.

Was nun die lateinischen Disputatorien über
medicinische und chirurgische Gegenstände
betrifft, so habe ich diese aus dem zweyfachen
Grunde eröffnet, weil sie auf allen
Universitäten, und so namentlich in Bonn
bey der Neuheit so vieler Anforderungen
und der nothwendigen frühern Verwahrlosung
der Sprachbildung bey einer damals unvollkom-
[43r]menen Organisation der Gymnasien
in den Rheinlanden, die immer noch
sichtbar ihre späten Nachwirkungen äusser[t,]
Bedürfniß sind; außerdem aber, weil jene
Disputatorien für Mediciner seit geraum[er] [Zeit]
auf der Königlichen Rheinuniversität nich[t]
1
mehr gehalten worden sind. Wenn der
Staat mit Recht an die Ärzte die Forderung
der Sprachbildung macht, und wenn ihm bey
der Menge der Zöglinge, welche sich den
medicinischen Studien widmen, in einer
gewissen Breite die Befriedigung dieser Forderu[ng]
gesichert ist, so ist doch immer noch eine
Generation in den Rheinlanden, mit der
wir es immer noch zum Theil zu thun habe[n]
im Nachtheil, als welche so unglücklich war
bey der frühern Mässigkeit und Lockerheit d[er]
Anforderungen, theilweise unvorbereitet
oder schlecht vorbereitet, zum Antritt eines
academischen Studiums zu erwachsen. Auch
giebt es, wie es scheint, bis jetzt kein gu[tes]
Mittel, den Unvorbereiteten vor dem An[fang]
eines wissenschaftlichen Studiums zu wehren
und der Mangel wird gewöhnlich erst offenbar
wenn die Einzelnen am Ende ihrer aca[de-]
mischen Bildungsperiode nichts mehr zu
verlieren haben. Dieß sind die Gründe,
welche mich zu jenen Übungen bewogen
[43v]und mit denen ich so kühn war, Euer
Excellenz, denen in allen Dingen meiner
wissenschaftlichen Bestrebungen, Rechenschaft
zu geben, mir eine so freudige Pflicht
geworden ist, in meiner schlichten Darstellung
hinzuhalten.

Ich hatte ausser den öffentlichen Vorlesungen
über die Physiologie der Sinne und den
lateinischen Privatübungen auch Vorträge
über die gesammte specielle Physiologie
angekündigt. Aber meine Habilitation war
zu spät, um eine größere Anzahl von
Zuhörern zu gewinnen, durch welche
allein ich die Kosten der auch hier häufig
anzustellenden Experimente und Demonstra-
tionen in meiner Stellung als Privatdocent
hätte decken können. Ich habe also diese
Vorlesungen aufgegeben, indem ich den
Vorträgen über die Physiologie der Sinne u. s. w.
eine grössere Ausdehnung gab, die mich
nunmehr fast die ganze Woche beschäfftigen.
Auch hielt ich es nicht vortheilhaft, mich
im Anfang mit Vorlesungen zu sehr zu
überhäufen.

Mit der Anatomie, sowohl der menschlichen
als vergleichenden muß ich in immerwährender
Berührung bleiben, so daß, wenn auch die
vergleichende Anatomie und Physiologie meine
Hauptbeschäftigung für jetzt seyn werden,
[44r]ich doch sichern Fuß auf der gesammten
Anatomie dauernd zu erhalten suchen
werde. Ich werde dadurch im Stande seyn,
was mir jetzt fern liegt, später einmal[,]
wenn die Hohe Staatsbehörde meine
Bemühungen ihrer fernern Aufmerksamke[it]
würdigen sollte, einen größern Wirkungs-
kreis mir unter andern Verhältnissen sichern[,]
sobald es Aufgabe seyn würde, auch die
Anatomie überhaupt in meinen Kreis zu zieh[en.]
Demgemäß pflege ich, so viel es meine
sonstigen Arbeiten erlauben, auf dem anato-
mischen Museum in Bonn für dessen Bereiche-
rung zu arbeiten; und ich muß der zuvor-
kommenden Güte meines ehmaligen Lehrers
des Herrn Professors Mayer, mit der mir
alles Nöthige und Wünschenswerthe gern geb[oten]
wird, mit besonderer dankbarer Anerkennu[ng]
erwähnen. Im nächsten Semester bin ich
gesonnen, ausser der speciellen Physiolo[gie]
in ihrem ganzen Umfange auch die vergleichen[de]
Anatomie
mit Zuziehung der Präparate de[s]
anatomischen Museums zu lesen, welche[n]
Gebrauch mir Herr Professor Mayer auf m[eine]
ergebenste Bitte allem Anschein nach, gewiß
erlauben wird. Zu besondern öffentlichen
Vorlesungen gedenke ich die Physiologie der
[44v]Zeugung aber in sparsamen Stunden vorzutragen,
oder wenn es sonst nöthig seyn sollte, statt
dieser die Encyclopädie und Methodologie
der medicinischen Wissenschaften, auf die es
doch so sehr in dem Plane und in der Richtung
der Studien ankommt, abzuhandeln.

Euer Excellenz haben mir vor einem Jahre,
indem Hochdieselben mich mit dem mir ewig
theuren Geschenke Ihrer Gnade, dem 11ten Bande
der Acten der (C.)Caesareae (L. C.)Leopoldino-Carolinae [Akademie der] Naturforscher beglückten,
zugleich einen hohen und grossen Kreis der
Thätigkeit bedeutsam bezeichnen wollen. Ich
kann nicht umhin, im Vertrauen auf dieselbe
ausgezeichnete hohe Theilnahme, Euer Excellenz
gehorsamst mit[zu]theilen, was mir in meinen
Bemühungen nunmehr wie eine Folge und
Fortsetzung Ihrer Huld Erfreuliches geworden
ist. Die (K.)Kaiserliche (L. C.)Leopoldino-Carolina Academie der Naturforscher
die unter Hochderselben gnädigem Schutze immer
Grösseres leistet und ein grosses Institut der
wahren Naturforschung für Deutschland geworden
ist, hat mich am 28. November zu ihrem Mit-
gliede erwählt. Die Abhandlung über die Ent-
wickelung der Eier im Eierstock bei den
Gespenstheuschrecken
und über eine neuentdeckte
Verbindung des Rückengefässes mit den Ovarien
bey den Insecten
, welche ich Euer Excellenz
mit dazugehörigen Abbildungen vor meiner
[45r]Abreise von Berlin vorzulegen die Ehre hatt[e]
ist bereits gedruckt und wird einen grossen
Theil des nächsterscheinenden Bandes der Acten
einnehmen. Ich werde zunächst beschäftigt
seyn, in Musestunden, die in Berlin
entstandenen Arbeiten zur Physiologie
des Sehens, namentlich über das Doppeltsehen
der Menschen und Thiere, über den Unterschied
der Gesichtsvorstellungen der Menschen und Thie[re,]
über das Sehen der Insecten Spinnen und
Krabben und über den menschlichen Blick aus
optischen Bestimmungsgründen, welchen Arbei[ten]
Euer Excellenz zum Theil einer prüfenden
Durchsicht gewürdigt haben, zu vollenden
und zu redigiren. Auch bin ich seit längerer
Zeit mit einer Arbeit über die Entwickelun[g]
und Verwandlung der Farben bey den Glieder-
thieren während der Metamorphosen der Indi-
viduen und unter verschiednene geographi[schen]
Bestimmungen beschäftigt und werde Gelegen-
heit haben durch gefällige Unterstützung [meines]
vielgeliebten ehemaligen Lehrers des Präsid[enten]
Prof. Nees von Esenbeck die schon begonnene[n]
Untersuchungen über den Einfluß des gefär[bten]
Lichtes auf die Generation der Pflanzen un[d]
Thiere, auf Fäulniß und Fermentation un[d]
was besonders von grossem Interesse ist, a[uf]
die Bewegungen der Pflanzen aus der Famil[ie]
der Papilionaceen, wobey ich aber viel
[45v]auf die erwähnte Unterstützung rechnen muß,
fortzusetzen.

Was mir in meiner jetzigen Stellung zur
besonderen Befriedigung und Aufmunterung
gereicht, ist das freundschaftliche Verhältniß, in
welchem ich zu allen meinen frühern hochgeschätzten
Lehrern stehe, und es ist mir zur größten
Beruhigung mit denjenigen Männern in
einem freundschaftlich collegialischen Verhält-
niß zu stehen, gegen die ich als Schüler in so
so hohem Grade verpflichtet bin.

Nachdem ich so lange mit der schlichten Auseinander-
setzung dieser meiner nächsten Angelegenheiten
Euer Excellenz hingehalten habe, erstaune
ich abermals über meine Kühnheit; ich sehe
aber ein, daß ich einmal kein anderes Mittel
habe, die Erinnerung meiner in Hochderselben
Gedächtniß unterthänigst zu erneuern, als in
tiefster dankbarer Verehrung Ihnen dasjenige
vorzuführen, was allein eine Folge Ihrer
Hohen Huld ist. Und so sey es mir denn
vergönnt, bey dem Antritt eines neuen Jahres,
dessen Bedeutung für mich ich recht erkennen
will, vor allem Andern die wärmsten
Wünsche für Hochderselben eignes Wohl, für
ein mir, wie Tausenden, theures Leben
demuthsvoll zu erneuern. Ich bitte zu dem,
der die guten und reinen Gelübde immer erhört
[46r]hat, daß ein so theures unersetzbares Gut
dem Staate, der Wissenschaft, der Kunst
unversehrt erhalten werde, daß Euer
Excellenz in Erfüllung Ihrer höchsten
Aufgabe die bisherige gewohnte Befriedig[ung]
zum Wohl des Staates, zu Unser Aller
finden mögen. Diese hohen Wünsche he[ge]
ich zwar immer; aber bey der lebhaftesten
Erinnerung so vieler von Hochdenselben
empfangenen, in meine eigene geistige Bildu[ng]
ewig unvergeßlich eingeschriebenen Wohlthat[en]
war es mir eine innere Nöthigung so au[ch]
eine Beruhigung für mich selbst, Gedank[en]
und Empfindung in tiefster Ehrerbiet[ung]
auszusprechen. Ich weiß für diese mein[e]
Kühnheit keine andere Entschuldigung al[s]
in Hochderselben eigener Huld und Gnad[e].

Nachdem ich nun dieser meiner angelegensten
und theuren Schuld für die Gegenwart
frey geworden bin, gehe ich mit Freu[den]
wieder zu dem aus meinem innerlichste[n]
Bedürfniß hervorgegangenen und von
Euer Excellenz gebilligten Berufe zurü[ck]
so arbeitend, wie ich es muß und au[f]
welche Weise ich allein die Er-
[46v]füllung aller meiner selbstigen Wünsche
finden zu können glaube.

In tiefster dankbarer Verehrung
und schuldiger Hochachtung
Euer Excellenz
unterthänigster Diener
Dr. Johannes Müller
Notes
1
Am linken Rand durch senkrechten Rötelstrich markiert.

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CC-BY-NC-SA-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2022). Müller, Johannes. 28. Dezember 1824. Johannes Müller an Altenstein. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-43A9-7