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Den ersten ruhigen Augenblick nach meiner Zurückkunft ergreife, um Ihren Aufsatz sowie den ersten und letzten Brief nochmals zu durchgehen und ich kann nicht verbergen, daß es mit großem Vergnügen geschieht. Ich versetze mich in Ihren Standpunct und da muß ich denn loben und bewundern, wie ein selbstdenkendes Individuum sich so treu und redlich mit jenen Fragen befaßt, und das, was gegenständlich daran ist, rein im Auge behält, indem es sie aus seinem Innern, ja aus dem Innern der Menschheit zu beantworten sucht.

Abstrahire ich nun von Ihrer Persönlichkeit und suche das was Ihnen gehört mir anzueignen, so finde ich sehr vieles was ich aus meinem bestimmten Gesichtspuncte gar gern gleichmäßig ausdrücke. Komm ich aber an das, wo Sie von mir differiren, so fühle ich nur allzu sehr, daß ich jenen Gegenständen dergestalt entfremdet bin, daß es mir schwer ja unmöglich fällt, einen Widerspruch in mich aufzunehmen, denselben zu lösen, oder mich ihm zu bequemen. Ich darf daher an diese strittigen Puncte nicht rühren; nur wegen des Violetten sende ich ein Blättchen nach.

Damit jedoch Ihre schöne und dankenswerthe Arbeit nach außen nicht völlig stocke, so thue ich folgenden Vorschlag. Auf meiner Reise hatte ich das Glück[112]Herrn Dr. Seebeck zu begegnen. Dieser sorgfältige, denkende Beobachter hat jene Phänomene nie außer Augen gelassen und ist vollkommen als in seinem Hauptgeschäft darin bewandert. Erlauben Sie es, so sende ich ihm Aufsatz und Briefe oder auch den Aufsatz allein, und es wird gewiß dadurch für Sie und mich erwünschte Theilnahme und Belehrung entspringen. Auch er verhält sich ohngefähr wie Sie gegen meine Farbenlehre, er läßt sie bestehen als Grund und Anleitung, als Fachwerk und Andeutung, und sie hat nie etwas Weiters seyn sollen. Auch er hat verschiednes Vernachlässigte herangezogen, manches Leichtübergangene ausgeführt, Stellen berichtigt, andere bestätigt, manches Neue supplirt und besonders die Gegner nach ihren Stärken und Schwächen sehr schön beurtheilt.

So sehr aber auch die Sache dadurch gewinnt und so sehr es mir Freude machen sollte, das zu erleben, was andern erst lange nach ihrem Hinscheiden aufgespart ist, so erforderte es doch in meiner gegenwärtigen Lage zu große Anstrengung, zu gewaltsamen Anlauf, mich wieder in die sonst so geliebte und betretene Region zu versetzen. Ja ich konnte meinem Freunde kaum, da er von mir einiges zu Förderung der Hauptpuncte begehrte, zu Willen seyn. Mein größter Wunsch wäre daher, daß Sie beide sich näherten und so lange gemeinschaftlich wirkten, bis ich von meinen wunderlichen Geistesreisen, auf denen ich jetzt[112]hin- und hergezogen werde, wieder glücklich in die harmonisch farbigen Regionen zurückkehre. Ihre Antwort soll entscheiden, bleiben Sie meines Antheils versichert

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 23. Oktober 1815. Goethe an Schopenhauer. Z_1815-10-23_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-B7E7-E