Zu Beginn der 1970er Jahre waren die Arbeits- und Wohnbedingungen in den bundesrepublikanischen Einrichtungen für körperbehinderte Menschen noch weitgehend inadäquat und entsprachen nicht der Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe. Darauf machten die jugendlichen Bewohner von ‚Friedehorst‘, einer zentralen Ausbildungs-, Rehabilitations- und Wohnstätte für körperbehinderte Jugendliche im norddeutschen Raum, 1973 aufmerksam. Sie kritisierten die begrenzte Auswahl der ihnen offerierten Ausbildungsberufe und insbesondere die Tatsache, dass die Anstalt lediglich in Berufen ausbilde, die weder zeitgemäß seien noch am Arbeitsmarkt nachgefragt würden. Des Weiteren monierten sie das Fehlen von Berufsberatungen und Hilfestellungen bei der Arbeitsplatzsuche. Ebenso wandten sie sich gegen die fehlende Verrechtlichung der Arbeitsverhältnisse, weigere sich die Heimleitung doch, schriftlich fixierte Ausbildungsverträge abzuschließen. Die geringe Bezahlung und das intransparente Prämiensystem standen ebenso in der Kritik wie die Tatsache, dass es keine Mitarbeitervertretung in Friedehorst gab. Die Liste ihrer Beschwerden richteten die Jugendlichen in Form der Broschüre ‚Heimideologie contra Integration‘ sowohl an politische Vertreter als auch an die örtlichen Zeitungen. Die Vorgänge in Friedehorst sind ein frühes, lokales Beispiel dafür, dass sich seit Anfang der 1970er Jahre Menschen mit Behinderung zur Durchsetzung ihrer Interessen selbst organisierten, ohne dies an Verbände zu delegieren. Es entstanden horizontale Strukturen der Selbstadvokation, die das Ziel hatten, Vorstellungen zur Verbesserung der eigenen Lebenslage zu formulieren, in der Öffentlichkeit zu lancieren und so zu deren Umsetzung beizutragen. Der Konflikt um die Anstalt Friedehorst stand am Beginn einer Entwicklung, die in den folgenden Jahren zur Entstehung der Behindertenbewegung als Neuer Sozialer Bewegung führte. Auch diese hatte die Selbstermächtigung der Betroffenen als Ziel, also das Recht, über alle zentralen Bereichen des eigenen Lebens selbst bestimmen zu können.

Literaturhinweise:
  1. Gabriele Lingelbach/Jan Stoll: Die 1970er Jahre als Umbruchsphase der bundesdeutschen disability history? Eine Mikrostudie zu Selbstadvokation und Anstaltskritik Jugendlicher mit Behinderung, in: Moving the Social 49 (2013), S. 25–52.
  2. Jan Stoll: Neue Soziale Bewegungen von Menschen mit Behinderungen - Behinderten- und Krüppelbewegung in den 1970er und 1980er Jahren, in: Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hrsg.):Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt/Main/New York 2016, S. 214–238.

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TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Arbeit. C2 - Kommentar. Geschichte-MMB. Gabriele Lingelbach. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1C9-6