[EAI:d][EAI:c][EAI:b][EAI:a][RI]

Das
Gesammtgebiet
der
teutschen Sprache,
nach
Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit
theoretisch und practisch dargestellt


von
Karl Heinrich Ludwig Pölitz. ──────

Dritter Band.
Sprache der Dichtkunst.


[figure]

Leipzig, 1825.
J. C. Hinrichssche Buchhandlung.

[RII]

Jnhalt des dritten Theiles. ──────
Das Gesammtgebiet der Sprache der Dichtkunst.

[RIII]
[figure]



  • Einleitung.
    • 1. Vorbereitende Begriffe.S. 1
    • 2. Der eigenthümliche Charakter der Sprache der
      Dichtkunst.4
    • 3. a) Verhältniß des Gefühlsvermögens zur Sprache
      der Dichtkunst.6
    • 4. Fortsetzung.7
    • 5. b) Verhältniß der Einbildungskraft zur Sprache
      der Dichtkunst.11
    • 6. Fortsetzung.14
    • 7. c) Die Technik der dichterischen Form.18
    • 8. Fortsetzung.21
    • 9. Fortsetzung. Ueber Prosodie in der teutschen
      Sprache.23
    • 10. Fortsetzung. Ueber den Reim.28
    • 11. Eintheilung der Dichtungsarten.31
    • 12. Die drei Schreibarten in der Sprache der Dichtkunst.34

    [RIV]
  • 1) Die lyrische Form der Dichtkunst.
    • 13. Charakter und einzelne Theile der lyrischen Dichtkunst.S.
      36
    • 14. a) Das Lied.39
    • 15. Beispiele des religiösen Liedes, von Luther,
      Opitz, Spee, Dach,
      v. Cronegk, der
      Gottschedin, Joh. Andr. Cramer,
      Sturm,
      Fr. Leop. Graf zu Stolberg, v.
      Matthisson, Mahlmann, Tiedge.42
    • 16. Beispiele des weltlichen Liedes vom Kaiser
      Heinrich 6, Markgrafen Otto mit dem
      Pfeile, Joh. Valent. Andreä, Andr. Tscherning,
      v. Canitz, J. Chstn. Günther,
      Lessing, Gleim, Weiße,
      v. Halem,
      v. Salis, Voß, Ludw. Tieck, Kuhn,
      v. Houwald, und Grafen v. Löben (Jsidorus
      Orientalis).58
    • 17. b) Die Ode.79
    • 18. Beispiele der Ode von Paul Flemming, Klopstock,
      v. Gerstenberg, Eulog. Schneider,
      Niemeyer, Heydenreich,
      v. Herder,
      v. Sonnenberg, Starke, Voß und
      einem Ungenannten.85
    • 19. c) Die Hymne.108
    • 20. Beispiele der Hymne von Tscherning, Uz,
      Gleim,
      Mor. Aug. v. Thümmel, Lavater,
      Fr. Leop. Graf zu Stolberg, Kosegarten,
      Seume.
      110
    • 21. d) Die Dithyrambe.130
    • 22. Beispiele der Dithyrambe von Willamov,
      Blum, Kuhn.
      132
    • 23. e) Die Rhapsodie.139
    • 24. Beispiele der Rhapsodie von Ramler und
      Kosegarten.140
    • 25. f) Die Elegie.S. 143
    • 26. Beispiele der Elegie von Drollinger, Albr.
      v. Haller, Hölty, v. Herder, J. Geo.
      Jacobi, Manso, v. Matthisson, Mahlmann,
      Kuhn, Kosegarten.
      147
    • 27. g) Die Heroide.166
    • 28. Beispiel der Heroide von Wieland.170
    • 29. h) Die Cantate.175
    • 30. Beispiele der Cantate von Gottsched, Karl
      Gtfr. Küttner, Fr. Leop. Graf zu Stolberg,
      Ramler.
      183
    • 31. i) Das Sonett.193
    • 32. Beispiele des Sonetts von Paul Flemming,
      Katharina v. Greiffenberg, Andr. Gryphius,
      v. Hoffmannswaldau, Schiebeler,
      Bürger,
      Aug. Wilh. v. Schlegel,
      Baggesen.
      195
    • 33. k) Das Madrigal, Rondeau und Triolet.203
    • 34. Beispiele zu diesen Formen von v. Hagedorn,
      Lessing, Tiedge, Gleim,
      Klamor
      Schmidt, Ernst Schulze, Haug, v.
      Reinhard, Schneider, und einigen Ungenannten.204
  • 2) Die didactische Form der Dichtkunst.
    • 35. Charakter der didactischen Form der Dichtkunst.209
    • 36. Beispiele aus dem Lehrgedichte von Opitz,
      Zernitz, Dusch, Withof, Heydenreich,

      v. Schiller, v. Nostitz und Jänckendorf
      (Arthur vom Nordstern), Manso, Conz,
      Christ. Schreiber, Tiedge, Pölitz.218
  • 3) Die epische Form der Dichtkunst.
    • 37. Charakter und einzelne Theile der epischen Form
      der Dichtkunst.248
    • 38. Fortsetzung.S. 252
    • 39. a) Das ernste Heldengedicht.255
    • 40. Beispiele desselben von v. Schönaich, Klopstock,
      Bodmer,
      v. Sonnenberg, Fr.
      Aug. Müller.262
    • 41. b) Das komische Heldengedicht.284
    • 42. Beispiele desselben von Rollenhagen und
      v. Thümmel.286
    • 43. c) Die Romanze und Ballade.297
    • 44. Beispiele von Seume, Wilh. Aug. v. Schlegel,
      Luise Brachmann, v. Steigentesch.301
    • 45. d) Die Legende.318
    • 46. Beispiele von v. Herder, v. Göthe, Langbein.319
    • 47. e) Die poetische Erzählung.327
    • 48. Beispiele von Burcard Waldis, Hans
      Sachs, Tscherning, Zernitz, Gotter,

      v. Thümmel, Pfeffel, v. Gökingk,
      Aloys Schreiber.330
    • 49. f) Die Fabel.344
    • 50. Beispiele von Bonerius, Burcard Waldis,
      v. Hagedorn, J. Benj. Michaelis,
      Lessing, Pfeffel, Gleim,
      v. Kleist,
      Burmann,
      J. Nic. Götz, Tiedge,
      Zink, Krummacher.
      347
  • 4) Die dramatische Form der Dichtkunst.
    • 51. Charakter und einzelne Theile der dramatischen
      Form der Dichtkunst.363
    • 52. Fortsetzung.365
    • 53. Fortsetzung.371
    • 54. a) Das Trauerspiel.377
    • 55. b) Das Lustspiel.383
    • 56. c) Das Schauspiel.387
    • 57. d) Das Singspiel.S. 390
      1) Melodrama.
    • 58. Fortsetzung.393
      2) Oper. 3) Operette.
  • 5) Die Ergänzungsklasse der vier Hauptformen
    der Dichtkunst.

    • 59. Begriff und einzelne Formen der Ergänzungsklasse
      der Dichtkunst.397
    • 60. a) Die Jdylle.399
    • 61. Beispiele derselben von Sal. Geßner, Reckert,
      Blum, Bronner.
      401
    • 62. b) Die poetische Epistel.410
    • 63. Beispiele von v. Ziegler und Kliphausen,
      Chstn. Gryphius, v. Cronegk, Blumauer,
      Justi,
      v. Thümmel, Tiedge,
      Müchler, Schink.
      412
    • 64. c) Die dichterische Schilderung.426
    • 65. Beispiele von Schwieger, Schottel, v.
      Hoffmannswaldau, v. Lohenstein,
      Joh. Nic. Götz, Gotter, Schubart,
      Jean Paul, Oehlenschläger, Tieck,
      Schink.
      428
    • 66. d) Die Parabel und Paramythie.442
    • 67. Beispiele von Krummacher, Hamann, v.
      Herder.444
    • 68. e) Der Dialog und Monolog.448
    • 69. Beispiele von Kosegarten, v. Schiller,
      Heydenreich.
      451
    • 70. f) Die Satyre.457
    • 71. Beispiele von Rachel, Neukirch, Rabener,
      Falk.
      549
    • 72. g) Die Parodie und Travestirung.471
    • 73. Beispiele von Gittermann, Bretschnei= [RVIII]
      der, Müchler, Blumauer und zwei Ungenannten.S.
      475
    • 74. b) Der Roman, das Mährchen und die Novelle.482
    • 75. Fortsetzung.487
    • 76. Schluß.490
    • 77. i) Das Sinngedicht und Epigramm.491
    • 78. Beispiele von v. Logau, Heydenreich,
      Conz,
      J. Geo. Jacobi, v. Schiller,
      Pfeffel,
      Klam. Schmidt, Klinkicht,
      Mnioch, Flemming,
      Chstn. Gryphius,
      Wernike, Lessing, Bürger, Kretschmann,
      Haug, Buddeus, Herklots,
      Weißer, Bouterwek,
      v. Kyaw und einigen
      Ungenannten.493
    • 79. k) Das Räthsel, die Charade, der Logogryph
      und das Anagramm.499
    • 80. Beispiele von Müchler, Langbein, Kind,
      Heyne
      und einigen Ungenannten.501
[figure]

Berichtigungen.


S. 88 Z. 18 v. o. l. meinen.


─ ─ Z. 6 v. u. l. 3 statt 2.


S. 100 Z. 11 v. o. l. 1805.


S. 176 Z. 1 v. u. l. durch diese.

[E1]

Das
Gesammtgebiet der Sprache der Dichtkunst.
──────────────────

Einleitung.

[figure]


1.
Vorbereitende Begriffe.


Die Begründung und Entwickelung des selbstständigen
Charakters der Sprache der Dichtkunst, nach
der ursprünglichen, im Wesen des menschlichen Geistes
selbst enthaltenen, Verschiedenheit derselben von
der Sprache der Prosa und der Beredsamkeit, ist
nur vermittelst der Philosophie der Sprache möglich,
inwiefern diese von der ursprünglichen Gesetzmäßigkeit
des menschlichen Geistes ausgehet, und in den
Thatsachen des Bewußtseyns die Ankündigung der
drei selbstständigen Vermögen desselben ─ des Vorstellungs=,
des Gefühls- und des Bestrebungsvermögens
─ nachweiset. Denn, wenn gleich im Allgemeinen
jeder Darstellung durch Sprache zunächst
die Vorstellung des dargestellten Gegenstandes, und
also eine Thätigkeit des Vorstellungsvermögens vorausgehen
muß; so stammen doch die verschiedenartigen [2]
Stoffe der Sprachdarstellung nicht blos aus
dem Vorstellungsvermögen. Es sind vielmehr das
Gefühls- und das Bestrebungsvermögen eben so, wie
das Vorstellungsvermögen, ursprüngliche Quellen
des Stoffes, der durch Sprache dargestellt wird.
Weil aber das Gefühl und die Bestrebung nicht
unmittelbar
als Gefühl und Bestrebung in der
Sprache dargestellt werden können, sondern nur
mittelbar
durch Vorstellungen, in welche die Gefühle
und Bestrebungen aufgelöset werden müssen,
bevor sie in den Kreis der Sprachdarstellung übergehen
können; so ergiebt sich auch daraus von selbst,
weshalb der Ursprung der Sprache der Dichtkunst
aus dem tiefbewegten menschlichen Gefühlsvermögen
und der Ursprung der Sprache der Beredsamkeit
aus den zu dem Bewußtseyn gelangten einzelnen
Zuständen des menschlichen Bestrebungsvermögens
so häufig verkannt werden konnte, woraus
die unrichtige Auffassung der Eigenthümlichkeit und
des Grundcharakters der Sprache der Dichtkunst
und der Beredsamkeit für Theorie und Praxis von
selbst hervorging.


Nur erst, nachdem in der Philosophie selbst
die drei geistigen Vermögen nach ihrer ursprünglichen
Selbstständigkeit, nach ihrer Eigenthümlichkeit,
nach ihrer Verschiedenheit von einander, und nach
ihrer Gleichordnung (Coordination) in Beziehung auf
die Ankündigung ihrer Thätigkeit im Bewußtseyn
wissenschaftlich durchgeführt worden waren, konnte
auch in der Philosophie der Sprache (Th. 1.
S. 146 ff.) die ursprüngliche Selbstständigkeit und
Eigenthümlichkeit der Sprache der Prosa, Dichtkunst
und Beredsamkeit ─ in Angemessenheit zu der
im Bewußtseyn vorausgehenden Thätigkeit des Vorstellungs=, [3]
Gefühls- und Bestrebungsvermögens ─
wissenschaftlich entwickelt, und eben so die wesentliche
Verschiedenheit der äußern Ankündigung dieser drei
Sprachen, wie die Gleichordnung derselben in Beziehung
auf den durch sie vermittelten wörtlichen
Ausdruck der innern Zustände des Bewußtseyns durch
Sprache, nachgewiesen werden. Denn so nahe auch
im Kreise der Wirklichkeit die einzelnen Gebiete der
Sprache der Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit
an einander grenzen; so muß doch die Philosophie
der Sprache zwischen diesen Sprachgebieten eben so
scharf unterscheiden, und eben so genau ihren Umfang
ausmessen, ihre Grenzen bezeichnen und ihren
Jnhalt angeben, wie die Philosophie, in ihrem theoretischen
Theile, den eigenthümlichen Charakter jedes
der drei geistigen Vermögen nach seiner Ankündigung
und nach seiner Verschiedenheit von den beiden andern
Vermögen aufstellt, obgleich alle drei Vermögen
Einem und demselben geistigen Subjecte angehören,
und in Einem und demselben Bewußtseyn
wahrgenommen werden. So wie aber die Wirksamkeit
jedes der drei geistigen Vermögen, nach seiner
Ankündigung im Bewußtseyn, in der Wissenschaft
als ein in sich zusammenhängendes und abgeschlossenes
Ganzes dargestellt werden kann und dargestellt werden
muß, so nahe übrigens diese drei geistigen Vermögen
einander verwandt sind und so oft die Zustände
derselben in einander verschmelzen; so muß
auch jedes einzelne Gebiet der Sprache der Prosa,
der Dichtkunst und der Beredsamkeit als ein in
sich abgeschlossenes Ganzes,
nach allen seinen
Gattungen, Arten und Formen, wissenschaftlich aufgestellt
und durchgeführt werden, wenn gleich im
Umfange der Sprache selbst diese Gebiete genau an [4]
einander grenzen und sich nicht selten gegenseitig
berühren.

2.
Der eigenthümliche Charakter der Sprache
der Dichtkunst.


Wenn der eigenthümliche Charakter der Prosa
auf der Darstellung der unmittelbaren Zustände des
menschlichen Vorstellungsvermögens, und der eigenthümliche
Charakter der Beredsamkeit auf der Darstellung
der einzelnen Zustände des menschlichen Bestrebungsvermögens
vermittelst der Sprache beruht;
so beruht der eigenthümliche Charakter der Sprache
der Dichtkunst
auf der Darstellung der
individuellen Gefühle vermittelst der
Sprache, unter der Bedingung der Jdealisirung
dieser Gefühle durch die Selbstthätigkeit
der Einbildungskraft.


Nach dieser Begriffsbestimmung gehört daher
zum Wesen des Dichters zuerst ein lebendiges, tiefes,
sorgfältig und gleichmäßig gebildetes Gefühl,
weil weder der Ausdruck bloßer Vorstellungen, noch
bloßer Bestrebungen das Gepräge der Dichtkunst tragen
kann; sodann eine selbstthätige Einbildungskraft,
welche die individuellen Gefühle zu idealisiren
vermag, weil nur derjenige Dichter ist, der die
ihm einwohnenden individuellen Gefühle im Lichte
des Jdeals darzustellen im Stande ist; und endlich
eine Form der Sprache, unter welcher der idealisirte
Ausdruck der individuelleu Gefühle nicht nur sogleich
erkannt werden kann, sondern die auch wegen ihrer
vollendeten äußern (technischen) Schönheit um ihrer
selbst willen gefällt.

[5]

Wenn also der eigenthümliche Charakter der
Dichtkunst theoretisch begründet und wissenschaftlich
durchgeführt werden soll; so müssen drei Hauptgegenstände
in kurzen Umrissen erläutert werden, wovon
die beiden ersten das innere Wesen der Dichtkunst,
nach ihrer Verschiedenheit von dem ursprünglichen
Wesen der Prosa und Beredsamkeit im menschlichen
Geiste bezeichnen, der dritte aber die äußere Ankündigung
der Dichtkunst in dem Kreise der Sprache
betrifft. Denn wenn, nach der hier aufgestellten
Theorie, ein reiches, tiefes und vielseitig gebildetes
Gefühlsvermögen die unnachlaßliche Grundbedingung
des eigenthümlichen Charakters und des
Wesens der Dichtkunst bildet; so kann doch nur der
als Dichter gelten, dessen Einbildungskraft so reich,
so kräftig und so ausgebildet ist, daß er seine individuellen
Gefühle zu idealisiren und unter der
Hülle des Jdeals in der Sprache darzustellen
vermag. Soll aber das Letzte ihm gelingen; so muß
er auch über die Sprache nach ihrem ganzen Umfange
gebieten, damit unter der von ihm geschaffenen
Form der Sprache die Ursprünglichkeit seines
dargestellten Gefühls und die Jdealisirung desselben
vermittelst der Einbildungskraft bestimmt hervortrete.
Denn nicht blos Sylbenmaas oder Reim, sondern
die unverkennbare Ankündigung eines individuellen,
durch die Einbildungskraft idealisirten, Gefühls vermittelst
der Form der Sprache, entscheidet über die
äußere (technische) Vollkommenheit der dichterischen
Darstellung, während ─ im entgegengesetzten Sinne
─ bei erlangter Fertigkeit in prosodischer Bildung
rhythmischer Reihen, das, was nach seinem
ursprünglichen Wesen nur Prosa ist, und durchaus
nicht in das Gebiet der Sprache der Dichtkunst gehört, [6]
unter der äußern Hülle von Sylbenmaas und
Reim sich ankündigen kann.

3.
a) Verhältniß des Gefühlsvermögens zur
Sprache der Dichtkunst.


Gäbe es im menschlichen Geiste kein selbstständiges,
vom Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen
verschiedenes, Gefühlsvermögen; so gäbe es auch im
Gesammtgebiete der menschlichen Sprache keine selbstständige,
von Prosa und Beredsamkeit ursprünglich
verschiedene, Sprache der Dichtkunst. Die Selbstständigkeit
und der eigenthümliche Charakter der
Sprache der Dichtkunst steht und fällt daher mit
der ursprünglichen Selbstständigkeit und mit der ursprünglichen
Eigenthümlichkeit des menschlichen Gefühlsvermögens
nach seiner Ankündigung im Bewußtseyn.
Denn so unentbehrlich die Thätigkeit der Einbildungskraft
zur Vollendung einer dichterischen Form
bleibt; so liegt doch der im Gedichte darzustellende
Stoff nicht im Kreise der Einbildungskraft, sondern
im Kreise des Gefühlsvermögens. Forschen
wir daher nach allen gelungenen dichterischen Gebilden
vom Homer an bis auf Göthe und Schiller; so
mußte der Stoff der Dichtungen aus ihren Gefühlen
stammen,
obgleich die Einbildungskraft
dieser Dichter den Stoff zu der Form gestaltete,
unter welcher der im Gefühlsvermögen gebohrne
Stoff, als vollendete Form, in den Kreis
der äußern Sprachdarstellung eintrat.


Bei keinem Vermögen des menschlichen Geistes
ist es aber so schwierig, wie bei dem Gefühlsvermögen,
das Ursprüngliche und Eigenthümliche desselben [7]
aufzusuchen, dasselbe von dem Ursprünglichen der
beiden andern Vermögen in ihren Ankündigungen
innerhalb des Bewußtseyns scharf zu unterscheiden,
und jenes Ursprüngliche und Eigenthümliche durch
Sprache bestimmt zu bezeichnen. Denn sobald der
an sich ursprüngliche Zustand des Gefühlsvermögens
durch Sprache bezeichnet wird; sobald hat er auch
bereits den Charakter seiner Ursprünglichkeit verloren,
weil er nur dann in der Sprache durch Worte
ausgedrückt werden kann, wenn er vorher Vorstellung
geworden, mithin das Gefühl in Vorstellung
─ in den Znstand eines andern geistigen Vermögens
─ übergegangen ist. So viel aber auch
von der im Bewußtseyn sich ursprünglich ankündigenden
Jnnigkeit, Tiefe und Gluth der Gefühle,
bei ihrem Uebergange in Vorstellungen, verloren gehen
mag; so wohnt doch diesen aus dem Gefühlsvermögen
stammenden Stoffen für die Sprachdarstellung
noch immer so viel Jnnigkeit und Wärme
bei, daß sie, nach ihrem Ursprunge, nicht mit den
unmittelbaren Zuständen des Vorstellungsvermögens
verwechselt werden können, sondern auf ihre Quelle,
auf das dem menschlichen Geiste zukommende selbstständige
Gefühlsvermögen, zurückgeführt werden
müssen.

4.
Fortsetzung.


Soll das Gefühlsvermögen, völlig gleichmäßig
mit dem Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen,
in der ursprünglichen Gesetzmäßigkeit des geistigen
Wesens begründet seyn (Th. 1. S. 152 ff.); so
muß ihm, wie diesen, theils eine ursprüngliche eigenthümliche
Ankündigung
seiner Thätigkeit, theils [8]
eine eigenthümliche Form dieser Thätigkeit,
theils eine eigenthümliche Richtung auf den
Gesammtzweck des menschlichen Daseyns zukommen.


Die eigenthümliche Ankündigung der
Thätigkeit des Gefühlsvermögens besteht aber darin,
daß das Gefühl nicht, wie die Vorstellung, die Verbindung
und Vereinigung eines Mannigfaltigen
ist, in welcher man jedesmal Stoff und Form unterscheiden
kann, sondern daß jedes Gefühl eine ursprüngliche
Einheit
bildet, die unauflöslich,
unzertrennlich, und in welcher Stoff und Form Eins
(identisch) ist. Durch diese Ankündigung ─ ursprünglich
im Bewußtseyn, und folglich auch in der
Sprachdarstellung ─ unterscheidet sich das Gefühlsvermögen
wesentlich von dem Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen,
bei deren Ankündigung in jedem
einzelnen Falle Stoff und Form getrennt wahrgenommen
werden können.


Sind in jedem Gefühle Stoff und Form Eins
(identisch); so muß zweitens auch die eigenthümliche
Form der Thätigkeit des Gefühlsvermögens

von der Form der Vorstellung
und von der Form der Bestrebung wesentlich
verschieden seyn. Denn beruht die eigenthümliche
Ankündigung des Gefühlsvermögens auf der
Jdentität des Stoffes und der Form; so wird
in der Form des Gefühls nicht erst ein Mannigfaltiges
zur Einheit verbunden, wie bei der Thätigkeit
des Vorstellungsvermögens; es ist vielmehr jene Jdentität
des Stoffes und der Form diejenige Form,
unter welcher jedes Gefühl zum Bewußtseyn gelangt.
Alles also, was zum Gefühlsvermögen gehört,
kündigt sich unmittelbar an. Es giebt
daher von allem, was unter der Form des Gefühlsvermögens [9]
wahrgenommen wird, eine unmittelbare
Gewißheit,
während alle Ueberzeugung
durch Begriffe des Verstandes, und selbst durch die
Jdeen der Vernunft, nur mittelbar ist, mithin durch
entgegengesetzte Begriffe und Jdeen bestritten und
weggeläugnet werden kann. Das Gefühlsvermögen
behauptet in dieser Beziehung den eigenthümlichen
Charakter des unmittelbar Wirklichen (Realen)
in dem gesammten (sinnlichen und geistigen)
Daseyn des Menschen. Durchs Gefühl werden wir
unsers Daseyns, unsers jedesmaligen Zustandes,
des Daseyns der Dinge außer uns, und
unserer Beziehung auf sie, so wie unserer individuellen
Beziehung auf eine übersinnliche Welt unmittelbar
gewiß,
so daß kein logischer Scharfsinn
und keine dialektische Gewandtheit die Ankündigung
dieser unmittelbaren Gewißheit im Bewußtseyn ganz
zu erschüttern vermag.


Das Gefühlsvermögen behauptet aber auch eine
eigenthümliche, von den beiden andern geistigen
Vermögen verschiedene, Richtung auf den Gesammtzweck
des menschlichen Daseyns.

Wenn das Vorstellungsvermögen diesen Zweck als
die höchste Jdee der Vernunft aufstellt, und das
Bestrebungsvermögen diesen Zweck durch freie Handlungen
verwirklichen will; so faßt ihn das Gefühlsvermögen
nach seiner Unermeßlichkeit und Ueberschwenglichkeit
auf, und trägt auf jedes einzelne Gefühl
nach dem Verhältnisse, in welchem das
einzelne Gefühl zu dem Gesammtgebiete des menschlichen
Daseyns steht, diesen Charakter der Unermeßlichkeit
und Ueberschwenglichkeit über. Denn wenn
die Gefühle, nach der Verschiedenheit ihrer Ankündigung
im Bewußtseyn, in sinnliche, intellec= [10]
tuelle, ästhetische und sittliche eingetheilt werden;
so wird auch das Wahrnehmen der Unermeßlichkeit
und Ueberschwenglichkeit des sittlichen Gefühls,
als des edelsten und reinsten von allen, am
höchsten und stärksten seyn, und, nach dieser Gradabstufung,
das sinnliche Gefühl tiefer stehen, als das
sittliche, ästhetische und intellectuelle, weil nur das
sinnliche, nie aber ein geistiges Gefühl völlig befriedigt
werden kann. Kann nun kein geistiges Gefühl
völlig befriedigt, oder, was dasselbe heißt, der
letzte Punct, der höchste Grad desselben erreicht, und
eben so wenig der Jnhalt des Gefühls, als solches,
und die Jnnigkeit und Unermeßlichkeit desselben durch
Sprache völlig und erschöpfend ausgedrückt werden;
so ist auch dieses Unermeßliche und Höchste des Gefühls
ein Etwas, das alle Vergleichung mit den
Zuständen des Vorstellungs- und Bestrebungsvermögens
übersteigt, und als das Höchste und Letzte,
in welchem jedes Gefühl sich endigt, nicht beschrieben
und nicht zergliedert werden kann. Dieses Unermeßliche,
das jedem geistigem Gefühle des Menschen
beiwohnt, und selbst dem sinnlichen Gefühle
eine höhere Stärke, als der bloßen Vorstellung verleiht,
muß daher die unverkennbare Unterlage
von allem bilden, was innerhalb des
in sich abgeschlossenen Sprachgebiets der
Dichtkunst sich ankündigt,
und wodurch sich
ursprünglich die Dichtkunst von der Prosa und
Beredsamkeit unterscheidet. Denn jedes wirkliche Erzeugniß
der Dichtkunst wird daran erkannt, daß der dargestellte
Stoff weder aus bloßen Vorstellungen, noch
aus Bestrebungen, sondern in Gefühlen besteht, weil ohne
Reichthum, Fülle, Kraft und individuelle Eigenthümlichkeit
der Gefühle kein Dichter gedacht werden kann.

[11]

5.
b) Verhältniß der Einbildungskraft zur
Sprache der Dichtkunst.


Jst gleich das Gefühlsvermögen die ursprüngliche
Quelle alles dichterischen Stoffes; so bedarf
doch dieser Stoff bereits innerhalb des menschlichen
Bewußtseyns einer eigenthümlichen Form und Gestaltung,
bevor er durch die Sprache nach außen
dargestellt werden kann. Diese Form und Gestaltung
erhält der dichterische Stoff durch die
Einbildungskraft,
nach der unerklärbaren Verbindung
und Wechselwirkung, in welcher sie mit
dem Gefühlsvermögen in dem Gemüthe des Dichters
steht. Denn obgleich im Allgemeinen die Wirksamkeit
der Einbildungskraft auf bestimmte Begriffe
zurückgeführt werden kann; so bleibt doch das Verhältniß,
in welchem sie zum Gefühlsvermögen bei
jedem einzelnen Dichter (bei Milton, Pope,
Klopstock, Matthisson, Schiller, Göthe

u. a.) steht, unerklärbar. Aus diesem unerklärbaren
Verhältnisse geht aber die dichterische Jndividualität
hervor, die, bei allen classischen Dichtern,
so unendlich verschieden ist, daß jeder wahre
Dichter sogleich an dieser Jndividualität erkannt und
von jedem andern vollendeten Dichter (Lessing von
Joh. Andr. Cramer, Gellert von Haller,
Thümmel
von Hölty, Bürger von Tiedge
u. s. w.) unterschieden wird.


Nach der allgemeinen philosophischen Entwickelung
und Durchführung der drei geistigen Vermögen,
wird die Einbildungskraft als eine besondere
Ankündigung der Thätigkeit (Function) des
Vorstellungsvermögens aufgeführt. Allein sie unterscheidet [12]
sich dadurch wesentlich von dem Verstande
und der Vernunft, daß sie nicht das in der Anschauung
gegebene Mannigfaltige zur Einheit des
Begriffes verbindet, oder solche Vorstellungen hervorbringt,
die wir, weil ihnen kein sinnlicher und
erkennbarer Gegenstand entspricht, Jdeen nennen; sie
erzeugt vielmehr, nach ihrer ursprünglichen Gesetzmäßigkeit,
Bilder, die sie als vollendete Ganze
dem innern Sinne vorhält. So wie aber die Einbildungskraft,
nach ihrer eigenthümlichen Thätigkeit,
Begriffe des Verstandes und Jdeen der Vernunft
in Bilder zu verwandeln, und diese als Jdeale
darzustellen vermag, welche durch freie Handlungen
verwirklicht werden sollen; so vermag sie auch den
ursprünglichen Gefühlen, welche, bevor sie durch
Sprache dargestellt werden können, als Vorstellungen
zum Bewußtseyn gelangen müssen, die
idealische Versinnlichung zu geben, wodurch
sie in der eigenthümlichen und selbstständigen Sprache
der Dichtkunst sich ankündigen. Denn eben diese
Form und dieser Charakter des Jdealischen in
der Sprache der Dichtkunst stammt zunächst aus
der eigenthümlichen Wirksamkeit der Einbildungskraft,
doch so, daß, nach der Unermeßlichkeit und
Ueberschwenglichkeit jedes wahren Gefühls, den vermittelst
der Einbildungskraft identisirten Gefühlen
ein höherer Grad der Jnnigkeit und Wärme innerhalb
der Sprachdarstellung zukommt, als den durch
die Einbildungskraft versinnlichten Begriffen des
Verstandes und Jdeen der Vernunft, obgleich nicht
zu verkennen ist, daß die idealisirte Darstellung der
ursprünglichen Gefühle der idealisirten Darstellung
der Jdeen der Vernunft näher steht, als der idealisirten
Darstellung der Begriffe des Verstandes.

[13]

Die zweite Grundbedingung der dichterischen
Darstellung beruht daher darauf, daß der aus dem
Gefühlsvermögen stammende Stoff für jedes dichterische
Erzeugniß, nach seinem Uebergange ins
Vorstellungsvermögen, vermittelst der Einbildungskraft
eine idealische Bekleidung erhalte, und, mit
dieser Ausstattung, eintrete ins Gebiet der Sprache;
denn nur das Jdealische trägt in der Sprachdarstellung
den Charakter der Dichtkunst. Der bloße
Begriff des Verstandes, und wäre er noch so abgeglättet
in Sylbenmaas und Reim gekleidet, kann
nie als Erzeugniß der Dichtkunst erscheinen; denn
ihm fehlt eben so die Abstammung aus dem Gefühlsvermögen,
wie er der idealischen Haltung durch
die Thätigkeit der Einbildungskraft ermangelt. (So
wird z. B. Kästners Lehrgedicht von den Kometen
nie als Gedicht gelten, ob es gleich im abgemessenen
Sylbenmaase sich bewegt; dagegen sind
viele Erzeugnisse Jean Pauls echt dichterische
Formen, ob sie gleich des Sylbenmaases und Reimes
ermangeln.)


Unter allen Urbildern (Jdealen) der Einbildungskraft
sind aber die Jdeale des Wahren,
des Schönen und des Guten die drei höchsten, die
sie hervorbringt, und welchen sie jede einzelne idealische
Form unterordnet. Wenn das Jdeal des
Wahren der höchste Zielpunct für alle durch das
Vorstellungsvermögen vermittelte Erkenntniß, so wie
das Jdeal des Sittlich-Guten der höchste Zielpunct
für alle durch das Bestrebungsvermögen hervorzubringende
freie Handlungen bleibt; so ist das
Jdeal des Schönen der höchste Zielpunct für
die gesammte Thätigkeit des Gefühlsvermögens.
Denn, was das Gefühlsvermögen rühren und erschüttern [14]
soll, muß sich unter einer ästhetischen d.
h. unter einer schönen Form ankündigen, die
durch ihre vollendete Einheit ein unmittelbares Gefühl
der Lust anregt, und die Einbildungskraft in
ein freies und lebensvolles Spiel versetzt. Dieses
Jdeal des Schönen ist daher die höchste Aufgabe
für alle Werke der Kunst, so wie für alle
Erzeugnisse im Gebiete der Sprachdarstellung.

6.
Fortsetzung.


Ob nun gleich kein menschliches Jndividuum
des Gefühlsvermögens, und eben so wenig der Einbildungskraft
ganz ermangelt, wiewohl beide, nach
der unendlichen Verschiedenheit der Jndividuen, unter
höchst verschiedenen Abstufungen und Graden
der Stärke und Schwäche sich ankündigen; so wird
doch die dichterische Begeisterung nur bei
denjenigen Jndividuen unsrer Gattung angetroffen,
in welchen die höhere Lebendigkeit und Stärke des
Gefühlsvermögens mit einer ursprünglich schöpferischen
und gleichmäßig entwickelten Einbildungskraft
in der innigsten Verbindung steht, so daß der dem
Gefühlsvermögen ursprünglich angehörende dichterische
Stoff von der selbstthätigen Einbildungskraft
zu einer idealischen Form ausgeprägt und erhoben
wird. Jn diesem letztern Sinne ist die dichterische
Begeisterung und Weihe an sich unerklärbar und
ein Geschenk der Natur (poëtae non fiunt, sed
nascuntur
), inwiefern sie nämlich auf einer gleichmäßigen
Stärke und Fülle
des tiefbewegten
Gefühlsvermögens und der schöpferischen Einbildungskraft
beruht. Dieses innere dichterische Leben, [15]
das, unerklärbar nach seinem Ursprunge, nach
seiner Ankündigung aber in einer gleichmäßigen Thätigkeit
des Gefühlsvermögens und der Einbildungskraft
besteht, ist die Bedingung der äußern dichterischen
Darstellung
vermittelst der Sprache.
Wo jenes innere dichterische Leben fehlt; da kann die
Sprachform, ─ sogar bei aller technischen Vollkommenheit,
─ den dichterischen Charakter nicht an
sich tragen; allein eben so wenig darf auch der dichterischen
Darstellung, wenn sie aus jener Fülle des
innern Lebens entsprungen ist, die äußere Vollendung
der Form fehlen, weil sie nur nach dieser
unter das höchste Gesetz für alle stylistische Darstellung,
unter das Gesetz der Form (Th. 1, S.
224), gebracht werden kann. ─ Der Charakter
eines dichterischen Kunstwerkes beruht also darauf,
daß in demselben, als Stoff, reine und unmittelbare
Gefühle
versinnlicht, diese aber, vermittelst
der schöpferischen Thätigkeit der Einbildungskraft,
zu einer idealischen Form für die innere
Anschauung,
und, in Angemessenheit zu diesem
dem Dichter im Bewußtseyn vorschwebenden Urbilde,
sodann in der Sprachdarstellung zu einer
vollendeten äußern Form erhoben werden. Jndem
auf diese Weise das dichterische Erzeugniß entsteht,
erscheint es, wie jedes andere Kunstwerk, als die
Versinnlichung eines im Bewußtseyn vergegenwärtigten
Jdeals,
als unmittelbare Folge
der vorhergegangenen hohen Rührung und Bewegung
des Gefühlsvermögens, und als selbstthätiges Erzeugniß
der Einbildungskraft.


Durch diese Eigenthümlichkeit unterscheidet sich
aber auch der wahre Dichter von dem Prosaiker,
welcher seine unmittelbaren Begriffe und Jdeen darstellt, [16]
und von dem Redner, welcher durch die rednerischen
Formen unmittelbar auf den Willen wirken
und denselben zu Handlungen bestimmen will.
Beide Zwecke liegen außer dem Kreise des Dichters;
denn der Dichter folgt ausschließend dem unermeßlichen
Drange seiner Gefühle und der, nach
ihrem Zusammenhange mit dem Gefühlsvermögen
unerklärbaren, Wirksamkeit seiner Einbildungskraft.
Jn dem Augenblicke seines Erzeugnisses denkt der
Dichter nicht an die Wirkung, die er hervorbringen
wird, und beabsichtigt keine solche Wirkung; allein
indem sein gebildeter Geist eine dichterische Form
ins Daseyn ruft, erhält dieselbe auch sogleich, durch
den erreichten hohen Grad seiner individuelle Reife,
diejenige Gediegenheit, wodurch sie unwiderstehlich
auf Gefühl und Einbildungskraft zu wirken vermag.


Am Wesentlichsten unterscheidet sich aber der
Dichter dadurch von dem Prosaiker und dem Redner,
daß, ob er gleich nur zunächst seine individuellen Gefühle
unter der dichterischen Form darstellt, er doch
dadurch als Repräsentant seines ganzen Geschlechts
erscheint. Denn die Gefühle, welche in
ihm angeregt waren und die Vollendung des Kunstwerkes
bewirkten, entspringen aus den Jdealen,
welche ein Gemeingut der ganzen gebildeten Menschheit
sind*. Er versinnlicht daher die reine [17]
Menschheit in der Unendlichkeit ihrer Gefühle;
seine Begeisterung erhebt ihn über die Schranken
des Jndividuellen, und stellt ihn in den Mittelpunct
seines ganzen Geschlechts. Zu diesem
spricht er; in dem Charakter und in dem Namen
desselben schildert er; so wie er fühlt, können
und sollen alle Jndividuen seiner Gattung fühlen;
denn in ihnen allen ist dieselbe Unermeßlichkeit des
Gefühlsvermögens, und dieselbe Richtung der Einbildungskraft
auf das Jdealische begründet. Mag
daher immer das Jdealische unerreichbar bleiben für
die Verwirklichung desselben in freien guten Handlungen;
so wird es doch nach seiner Unermeßlichkeit
im Gefühle wahrgenommen, und unter der möglichst
höchsten Versinnlichung in der vollendeten schönen
Sprachform dargestellt.


Beruht, nach dieser Ansicht, das Wesen der
Dichtkunst auf den aufgestellten Grundbedingungen;
so ergiebt sich daraus die scharfe Grenzbestimmung
derselben gegen Prosa und Beredsamkeit von
selbst, und wie fehlerhaft es ist, wenn der ursprüngliche
Charakter der Dichtkunst mit den beiden letzten
vermischt wird. Dies kann aber auf zweifache Weise
geschehen. Sind nämlich die individuellen Gefühle
nicht innig und stark, oder ist die Einbildungskraft
nicht thätig genug, um jene Gefühle nach ihrer Unermeßlichkeit * [18]
und im Glanze des Jdeals darzustellen;
so mischt sich der zergliedernde Verstand in die
Darstellung, und die Form trägt das Gepräge einer
Zwittergattung und Mißgeburt: es entsteht die sogenannte
poetische Prosa. Eben so entspringt eine
andere Mißgeburt, die rhetorisirende Dichtkunst,
aus der Vermischung und Verwechselung
von Gefühlen und Bestrebungen innerhalb der
dichterischen Darstellung. Es behauptet daher nur
dann die dichterische Form ihren eigenthümlichen,
von der Sprache der Prosa und Beredsamkeit wesentlich
verschiedenen Charakter, und erhebt sich zum
vollendeten (ästhetischen) Gepräge der Schönheit,
wenn sie das Jdealische in den Zuständen des Gefühlsvermögens
nach seiner ganzen Reinheit, Kraft
und Unermeßlichkeit darstellt, und durch die Sprache
so vergegenwärtigt, daß, vermittelst der Anschauung
der vollendeten dichterischen Form, eine, der dichterischen
Begeisterung verwandte, Stimmung und
Rührung des Gefühlsvermögens und ein ähnliches
freies Spiel der Einbildungskraft bei Andern bewirkt
wird, in welches sich weder eine Thätigkeit
des Vorstellungsvermögens, das dargestellte Jdealische
als Gegenstand des Erkenntnißvermögens zu
behandeln und zu zergliedern, noch ein Trieb des
Bestrebungsvermögens, dasselbe durch Handlungen
zu verwirklichen, einmischt.

7.
c) Die Technik der dichterischen Form.


Soll aber die dichterische Form das Gepräge
der Vollendung an sich tragen; so muß zu den beiden
ersten wesentlichen Erfordernissen derselben, zu [19]
der Abstammung des dichterischen Stoffes aus dem
Reichthume und der Fülle des Gefühlsvermögens und
zu der idealischen Gestaltung dieses Stoffes für den
innern Sinn durch die schöpferische Thätigkeit der
Einbildungskraft, noch ein drittes hinzukommen:
die gediegene äußere dichterische Form in
der Sprachdarstellung.
Bereits oben ward erinnert,
daß über das Erkennen und Wahrnehmen des
Dichterischen
in der äußern Sprachform durchaus
nicht allein und zunächst Sylbenmaas und Reim,
daß vielmehr die wahrgenommene Darstellung individueller
Gefühle unter einer idealischen Haltung und
Umgebung über den dichterischen Charakter eines
stylistischen Erzeugnisses entscheidet. Allein diese
innere Vollendung des dichterischen Geistes und
Wesens muß auch auf die äußere Gediegenheit
der Form in der Sprachdarstellung übergehen, damit
das Gedicht, nach seiner innern und äußern
Classicität, ein unauflösliches vollendetes Ganzes
bilde. Denn wenn gleich die technische Vollkommenheit
eines dichterischen Erzeugnisses den Mangel
des Gefühls und des Jdealischen in demselben nicht
ersetzen kann; so kann doch auch nur dasjenige Gedicht
als vollendet gelten, in welchem mit dem innern
wahrhaft dichterischen Leben des Gefühls und
der Einbildungskraft die äußere Vollkommenheit
der Form zusammentrifft.


Die Grundbedingung der technischen Vollendung
der Form ist der Wohlklang, welcher Melodie
und Harmonie in sich einschließt. Auf ihm beruht
der musikalische Charakter eines Gedichts. Denn
wie in der Tonkunst der Wohlklang auf der Melodie
und Harmonie der unarticulirten Töne beruht;
so in der Sprache auf der Melodie und Harmonie [20]
der articulirten Töne. Wenn daher das Wesen der
Tonkunst in der versinnlichten und veredelten Darstellung
des jedem Gefühle eigenthümlichen Tones
oder lautwerdenden Ausdruckes besteht; so hängt
auch die technische Vollendung des Dichters davon
ab, für die in seinem Bewußtseyn unter einer idealischen
Haltung vergegenwärtigten Gefühle in der
Sprache den rechten Ton zu finden, und die
äußere Vollkommenheit seines Gedichts nach den
Gesetzen der Melodie und Harmonie
zu
gestalten.


Die Melodie besteht aber in der Tonkunst
in dem, von dem Tonkünstler frei dargestellten, Verhältnisse
der Aufeinanderfolge der Töne
des in ihm angeregten Hauptgefühls; so wie die
Harmonie die gleichzeitige Vereinigung verschiedener
Töne, und die mit dem Flusse der Melodie
fortschreitende Folge dieser Vereinigung, nach
den unveränderlichen, in der Natur und in den
Verhältnissen der Töne selbst begründeten, Regeln
ihrer Verbindung zum Gleichgewichte unter
sich selbst und zur Vollendung des musikalischen
Ganzen als einer ästhetischen Einheit, bezeichnet.
Wird dies von der Tonkunst auf die Darstellung
articulirter Töne durch die Sprache übergetragen;
so beruht in derselben die Melodie auf dem von
dem Dichter gewählten Verhältnisse der Aufeinanderfolge
der einzelnen Wörter nach rhythmischen Gesetzen,
und die Harmonie auf dem, theils in den
einzelnen größern Abschnitten, theils in der ganzen
abgeschlossenen äußern Form des Gedichts erkennbaren,
Gleichgewichte der einzelnen rhythmischen Theile
und Wortreihen zur technischen Vollendung der Einheit
des Ganzen. Der Wohlklang in der Sprachdarstellung [21]
wird daher eben so von den gewählten
einzelnen Wörtern, wie von der Stellung, Aufeinanderfolge
und Verbindung derselben zu Perioden
abhängen. Dieser Wohlklang heißt in der Sprache
der Prosa und Beredsamkeit Numerus, hingegen
in der Sprache der Dichtkunst Rhythmus, der
in einer noch höhern Beziehung, als der Numerus,
den musikalischen Charakter an sich trägt, so wie
auch der Gebrauch des Rhythmus ausschließend den
Erzeugnissen der Dichtkunst vorbehalten, und in dem
Sprachgebbiete der Prosa und Beredsamkeit fehlerhaft
ist. Denn wenn der Numerus sich als denjenigen
Wohlklang in der Sprachdarstellung ankündigt,
der von der Ausdehnung der Melodie der einzelnen
Laute und Töne auf die Folge und Verbindung
ganzer Sätze und Perioden, und von der Berechnung
des musikalischen Verhältnisses der Vorder= und
Nachsätze gegen einander abhängt; so steht dagegen
der Rhythmus unter den Gesetzen des Metrums.

8.
Fortsetzung.


Wenn gleich das Gesetz der Form auch für
die äußere Sprachdarstellung der höchste Maasstab
bleibt; so ist doch der mehr oder minder musikalische
Charakter der einzelnen Sprachen ein Ergebniß der
Erfahrung, und die Sprachen des Erdbodens sind,
in musikalischer Hinsicht, sehr wesentlich von einander
verschieden. Jm Allgemeinen gilt aber als
Grundsatz, daß, je musikalischer ein Volk überhaupt
ist, und je früher bei demselben der Sinn für Tonkunst
geweckt und genährt wird, auch die Sprache
desselben um so musikalischer sich ausbildet. Allein [22]
zu dieser musikalischen Fortbildung der Sprache trägt
ebenfalls unverkennbar viel bei, ob das Volk, das
dieselbe spricht, an sich lebhaft und für Tonkunst
empfänglich ist; ob es in der mündlichen geselligen
Unterhaltung (Conversation) und in dem Jugendunterrichte
Werth auf richtige Betonung legt; ob
seine Classiker Sinn für die musikalische Vollendung
der Sprache und gründliche Kenntniß der Lehre von
der Harmonie (vom Generalbasse) besitzen; ob bei
dem Volke, neben der geistlichen Beredsamkeit, eine
politische Beredsamkeit (z. B. in stellvertretenden
Versammlungen, beim mündlichen gerichtlichen Verfahren)
sich entwickelt, und namentlich ob seinen
Rednern (auf Katheder und Kanzel) musikalische
Kenntniß und Bildung zukommt. Für den Kenner
der Regeln der Tonkunst ist es nicht schwer, bei
Prosaikern, Dichtern und Rednern, aus der Art
und Weise der Wahl, der Bildung, der Stellung
und der Verbindung der Wörter zu Perioden und
zu größern stylistischen Ganzen auf die Bekanntschaft
derselben mit den Gesetzen der Tonkunst, und auf
die Anwendung der letzten zurück zu schließen.


Der Rhythmus, nach seiner Verschiedenheit
von dem Numerus in der Sprache der Prosa und
Beredsamkeit, und nach seiner Bestimmung, den
Wohlklang der Sprache in einem Erzeugnisse der
Dichtkunst zu vermitteln, beruht auf der Abtheilung
eines dichterischen Ganzen in seine Glieder, und auf
dem zwischen diesen Gliedern bestehenden Verhältnisse
der Hebung und Senkung. So wird der
Rhythmus die Grundbedingung des Metrums,
unter welchem eine aus abwechselnden Zeitfüßen
in bestimmt abgemessenen Schritten geordnete Folge
und Bewegung der einzelnen Wörter und Wortreihen [23]
innerhalb eines dichterischen Ganzen verstanden
wird.


Alle gebildete Sprachen des Alterthums und
der neuern Zeit können, in Hinsicht des Rhythmus,
in quantitirende oder accentuirte eingetheilt
werden. Der Grundcharakter dieser Verschiedenheit
beruht darauf, daß in quantitirenden Sprachen,
die gewöhnlich unter dem Einflusse der Tonkunst sich
weiter ausbilden, der Accent zu Gunsten des Rhythmus
von seinem Sitze auf der Sylbe verdrängt
werden kann, so daß in diesen Sprachen der
Rhythmus die Grundbedingung des Accents

ist. Dagegen wird in den accentuirten
Sprachen der Sitz des Accents durch den Sinn
und die Bedeutung der Sylben und der Wörter unwiderruflich
bestimmt; folglich ist in ihnen der Accent
die Grundbedingung für den Rhythmus.

Zu den quantitirenden Sprachen gehören die
Sprachen des Alterthums, und namentlich die gebildetste
unter allen, die griechische; zu den accentuirten
Sprachen aber die Sprachen der jüngern
abendländischen Völker, und namentlich die teutsche.

9.
Fortsetzung. Ueber Prosodie in der teutschen
Sprache.


Die Sylbenmessung der Griechen erhielt unter
dem Einflusse der Tonkunst ihre bestimmten Formen
und ihren bezaubernden Wohlklang; sie bildete sich
unter dem Einflusse des allgemein herrschenden Hexameters.
Gewiß würde die ganze Prosodie der Griechen
sich anders gestaltet haben, wenn nicht der
Hexameter, sondern z. B. der Jambus das älteste [24]
künstliche Maas ihrer Sprache gewesen wäre, welches
die begeisterten Laute der Dichter dargestellt hätte.
Die Länge und die Kürze der Sylben darzustellen,
ward daher der Zweck, und zugleich der Charakter
der ältern Prosodie. Mit dem Geiste jener
Völker verschwand aber, seit dem Zeitalter der
Völkerwanderung, die höhere Blüthe ihrer Sprachen,
die Harmonie ihrer Dichtkunst, und der darauf gegründete
rhythmische Mechanismus ihrer Prosodie.
Die Sprachen der in den Stürmen des Mittelalters
siegreichen germanischen Völker waren entfernt
von aller innern und äußern Ausbildung,
und blos das Mittel der gegenseitigen Verständigung,
welche von dem Accente, ohne Rücksicht
auf den Wohllaut, geleitet ward. Diese Herrschaft
des Accents blieb aber selbst in den spätern Zeiten,
wo die Sprachen der germanischen Völker zur höhern
Reife fortgebildet wurden. Der wesentliche
Unterschied der neuern abendländischen Sprachen
beruht also darauf, daß ihre Prosodie nicht
von der Quantität der Sylben, sondern zunächst
von dem Accente ausging, wodurch zugleich die
Dichtkunst der jüngern abendländischen Völker ihren
eigenthümlichen äußern Charakter erhielt.


Allein für den, der teutschen Sprache versagten,
Wohlklang der quantitirenden Sprachen fanden
ihre Dichter einen Ersatz in dem Gleichklange
der Sylben,
mit welchem die einzelnen Zeilen sich
schlossen. Dies ist der Reim in seiner ursprünglichen
Gestalt, der nicht erst, wie Mehrere behaupteten,
von den Arabern zu den Teutschen kam, sondern
viel früher bereits von den Teutschen gebraucht
ward, bevor der Einfluß der Araber auf Europa
begann, wenn gleich das erste auf unsre Zeit gekommene [25]
gereimte teutsche Gedicht, ─ die evangelische
Geschichte des Weißenburger Mönchs Otfried,
─ ins neunte Jahrhundert gehört. Der Reim ist
in der Natur der teutschen Sprache selbst gegründet,
und bereits die Kirchenväter des vierten Jahrhunderts
* reimten, nach Art der neuern Völker,
lateinische Lieder. Allein die altsächsische Dichtkunst,
welche von Holstein nach England gebracht
ward, kannte so wenig den Reim, als die Dichtersprache
des skandinavischen Nordens, in welcher nur
die Alliteration (der Gleichklang in den Anfangsbuchstaben
der Wörter) getroffen wird.


Wenn also auch der Reim einzelnen teutschen
Völkerschaften bereits bekannt war; so verbreitete
sich doch sein allgemeiner Gebrauch erst später mit
der sogenannten Ritterpoesie über Teutschland,
welche von den Arabern zu den Franzosen ins südliche
Frankreich, wo sie die Troubadours ausbildeten,
und von diesen zu den Teutschen kam, die seit
der Mitte des zwölften Jahrhunderts mit glücklichem
Erfolge in derselben sich versuchten. Jn geschichtlicher
Hinsicht darf dabei nicht übersehen werden,
daß die Provence zum burgundischen Reiche
gehörte, das bereits im Jahre 1032, als Nebenreich,
mit Teutschland unter Einem Regenten vereinigt
ward.


Allein der Reim im Mittelalter, so viel auch
durch die lyrischen und epischen Dichter im Zeitalter
der Minnesänger für ihn geschah, konnte im
Ganzen nicht vollkommener seyn, als die Sprache
selbst damals war. Seine freiere und mannigfaltigere [26]
Gestaltung mußte nothwendig von der höhern
Reife der Sprache selbst abhängen, und nur
nach seiner Ankündigung in diesem spätern und gereiftern
Zeitalter kann über ihn entschieden werden,
wenn man nicht ungerecht über diese eigenthümliche
äußere Form der teutschen Dichtkunst absprechen
will. Denn allerdings war die Accentuation
der teutschen Sprache, als prosodischer Charakter
derselben, bereits bestimmt, bevor die ersten Gesänge
teutscher Dichter ertönten. Diese Dichter
waren daher, sogleich bei ihrem ersten Auftreten in
der Mitte des Volkes, in Hinsicht der Länge und
Kürze der Sylben an die vorgefundene Herrschaft
des Accents gebunden, wodurch zugleich die Prosodie
der teutschen Sprache, in ihrer damaligen Gestalt,
von der Prosodie der quantitirenden Sprachen wesentlich
sich unterscheiden mußte.


Nach dem geschichtlichen Charakter der teutschen
Sprache, als einer accentuirten, sind aber, in
der Prosodie derselben, accentuirte Sylben lange,
und accentlose Sylben kurze Sylben. Der Zeit
nach füllen die ersten zwei Theile aus, während
den letzten nur ein Theil zukommt, so daß für eine
jede lange Sylbe zwei kurze, und für zwei kurze
eine lange stehen können. Zugleich erscheint, nach
dem prosodischen Verhältnisse, die rhythmisch accentuirte
Sylbe als Grund, die rhythmisch accentlose
als Folge, und durch die Verbindung beider in
der Rede entsteht eine rhythmische Sylbenreihe. Weil
aber, ihrem Grundcharakter nach, in der teutschen
Sprache der Accent nur auf Sylben gelegt wird,
welchen die Bezeichnung des Sinnes in der Rede
zukommt; so hängt auch in der teutschen Sprache
das Verhältniß der accentuirten und accentlosen [27]
Sylben, oder der Rhythmus, ganz von dem Wortverstande
ab, so daß in derselben der Wortaccent
nie dem rhythmischen aufgeopfert werden darf. Es
stehen aber zwischen den langen und kurzen Sylben
in der Sprache gewisse Sylben gleichsam in der
Mitte, die, unter gewissen Umständen, entweder
gedehnt, oder beschleunigt werden, und deshalb mittelzeitige
heißen. Zweizeitige (ancipites)
werden sie nur im Allgemeinen genannt, weil sie,
bei ihrem Gebrauche, jedesmal sogleich entweder lang
oder kurz sind.


Jst aber in der teutschen Sprache der Rhythmus
abhängig von dem Accente; so ist auch das
Metrum (das Versmaas) davon abhängig; denn
das Metrum besteht (§. 8) in einem rhythmischen
Ganzen aus abwechselnden Zeitfüßen, die zu einem
bestimmten Schritte verbunden werden, und dessen
Umfang, wenn er nicht zu klein ist, in Absätze
und Einschnitte (Cäsur) getheilt, und durch einen
sinnlich hervortretenden Schlußfall geendigt wird.
Vermittelst des Rhythmus wird also ein dichterisches
Ganzes, nach der Ankündigung seiner äußern
Glieder, abgetheilt, und in dieser Abtheilung das
Verhältniß der Hebung und Senkung der einzelnen
Glieder festgehalten; denn Hebung oder
Senkung, Steigen oder Fallen in abwechselnden
Verhältnissen, ist der allgemeinste Charakter
des Sylbenmaases. So einfach dieser Grundsatz
an sich ist; so viele Mannigfaltigkeit und Abwechselung
erhält er doch in der Anwendung auf die
Darstellung der Versfüße. Jede Zusammensetzung
mehrerer Sylben muß sich nämlich entweder mehr
zum Falle, oder mehr zum Sprunge neigen. Zum
Falle neigt sie sich, wenn das Lange vorangeht [28]
und das Kurze nachtönt (Trochäus); zum Sprunge,
wenn das Kurze vorangeht und das Lange nachtönt
(Jambus). Selbst zwei lange Sylben neigen
sich, wegen ihrer Langsamkeit, mehr zum Falle,
als zum Sprunge (Spondeus); zwei kurze Sylben
hingegen neigen sich, ihrer Schnelligkeit wegen,
mehr zum Sprunge, als zum Falle (Pyrrhichius),
ob sie gleich in Hinsicht ihrer Dauer völlig
gleich sind.

10.
Fortsetzung. Ueber den Reim.


Der Reim, als geschichtliche Erscheinung, ist
ein ausschließendes Eigenthum der jüngern abendländischen
Sprachen, die sämmtlich accentuirte Sprachen
sind. Diese Sprachen bedurften eines Ersatzes
für den ihnen ursprünglich fehlenden quantitativen
Rhythmus, und dieser Ersatz liegt in dem
Reime. Da aber der Accent die Bedeutung der
Begriffe und Jdeen bezeichnet; so würde man bei
der Begriffsbestimmung des Reimes nicht ausreichen,
wenn man ihn blos in dem Gleichklange
zweier Sylben am Ende zweier Verse suchen wollte.
Mit diesem Formellen des Reims muß vielmehr
etwas Materielles, das von den dichterisch dargestellten
Vorstellungen abhängt, die in dem Gleichklange
des Reims verbunden werden, vereiniget seyn;
neben seiner äußern Natur muß ihm auch noch
eine innere zukommen. Das Wesen des Reimes
besteht daher darin: eine Reihe von Vorstellungen
so zu ordnen, daß, mit Festhaltung gewisser
Ruhepuncte, bestimmte Sylbenreihen mit solchen
Vorstellungen schließen, die im wörtlichen Ausdrucke [29]
eine sinnlich=gleiche Gestalt annehmen (d. h. im
Gleichklange stehen) können. Der Reim ist also
nichts anders, als das Versinnlichen zweier verschiedenen
Vorstellungen in zwei gleichklingenden Wörtern,
und reimen heißt demnach: zu zwei verschiedenen
Vorstellungen zwei gleichklingende Wörter auffinden,
oder das in der Vorstellung Verschiedene
unter gleichen Klang in sinnliche Einheit bringen.
Soll der Reim ästhetisch wirken; so muß auf
diesem Gleichklange der Wörter, welche verschiedene
Vorstellungen zu einer sinnlichen Einheit verbinden,
die äußere und zufällige (erfahrungsmäßige) Schönheit
der Form beruhen, welche eben so, durch den
Wohlklang der zusammengestellten articulirten Töne,
ein reines Wohlgefallen bewirkt, wie die unter der
Hülle der äußern Laute versinnlichten und idealisirten
Gefühle. Denn nur auf diese Weise kann der
innere und äußere Charakter eines dichterischen
Erzeugnisses als Einheit zusammentreffen, und das
Wohlgefallen an der dichterischen Form durch die
Wahrnehmung gleichmäßiger Haltung und Durchführung
beider Theile bewirkt werden.


Die teutsche Sprache kannte zwar, nach ihrem
ursprünglichen Charakter als accentuirte Sprache,
blos den Reim als äußere Form ihrer dichterischen
Erzeugnisse; allein bei der hohen Bildsamkeit derselben
war es möglich, auch die griechischen Sylbenmaase
in die Mitte derselben zu verpflanzen.
Die ersten Versuche deshalb geschahen bereits im
siebenzehnten Jahrhunderte; doch war es zunächst
Klopstock, welcher, mit tiefer Erforschung der
Technik der griechischen und der teutschen Sprache,
die gelungene Anwendung derselben im Großen durchführte.
Er fand viele Nachahmer, von welchen [30]
manche, aus Reiz der Neuheit und aus Vorliebe
für die fremdher entlehnten Sylbenmaase, den Reim
völlig aus der teutschen Dichtkunst verdrängen wollten,
den doch Klopstock selbst im religiösen Liede
beibehalten hatte. So wenig diese Absicht gelang;
so führte doch der freiere Anbau der neuen Sylbenmaase
zu einer bis dahin nicht geahneten Erweiterung
der teutschen Prosodie. Unverkennbar hat die
teutsche Dichtkunst selbst, so wie die Prosodie, dadurch
an Maunigfaltigkeit, Abwechselung und Reichthum
bedeutend gewonnen; auch ist aus dem fortgesetzten
höhern Anbaue beider, des der teutschen
Sprache ursprünglich einheimischen Reims und der
entlehnten und eingebürgerten fremden Sylbenmaase,
so wie aus dem frühern Kampfe beider mit einander,
das allgemeine Ergebniß hervorgegangen: daß beide
neben einander bestehen können und bestehen werden;
daß durch die Anwendung beider der Reichthum der
äußern Sprachformen vermehrt und eine größere
Mannigfaltigkeit dieser Formen bewirkt worden ist;
daß aber für gewisse Formen der dichterischen Darstellung
mehr der Reim, und für andere wieder mehr
die entlehnten Sylbenmaase sich eignen. Denn so
gewiß das religiöse Lied, das Volkslied, die Cantate,
die Romanze, und mehrere andere dichterische
Erzeugnisse, des Reims nicht entbehren können; so
gewiß hat doch z. B. die Elegie, so wie die epische
und die dramatische Dichtkunst durch die Anwendung
der fremden Sylbenmaase gewonnen. Bei einer
unpartheiischen Würdigung des Charakters und der
Fortschritte der teutschen Dichtkunst seit den letzten
siebenzig Jahren wird man daher gewiß die Ueberzeugung
erlangen, daß weder dem Reime ein Vorzug
vor den fremden Sylbenmaasen, noch den letzten ein [31]
Vorzug vor dem Reime beigelegt werden darf, weil
überhaupt beide nur die äußere und zufällige Schönheit
der Form, nicht aber das wahre Wesen der Dichtkunst
selbst bezeichnen, und der ästhetische Gehalt der
äußern und zufälligen Schönheit der Form zunächst
von dem innern Geiste des Gedichts, und von dem
Verhältnisse des innern dichterischen Lebens zu der
äußern technischen Form abhängt, unter welcher
dasselbe erscheint.

11.
Eintheilung der Dichtungsarten.


Wenn der Stoff jeder dichterischen Darstellung
aus den individuellen Gefühlen des Dichters stammt;
so müssen gleichartige und verwandte Gefühle, die in
dem Gemüthe des Dichters auf das genaueste verbunden
sind, auch in der dichterischen Darstellung
einander ähnlich und verwandt seyn. Darauf beruht
der Grundsatz für die Eintheilung der verschiedenen
Dichtungsarten.


Unter einer Dichtungsart verstehen wir nämlich
eine Klasse von Werken der Dichtkunst, deren
gemeinsamer Charakter aus einer verwandten individuellen
Stimmung im Gefühlsvermögen des Dichters
hervorgehet. Alle in den besondern Gattungen
zusammengestellte einzelne dichterische Formen (z. B.
in der lyrischen Gattung das Lied, die Elegie, die
Ode u. s. w.) müssen daher auf eine ähnliche Bewegung
und Rührung des Gefühlsvermögens, und auf
die Fähigkeit des Dichters sich zurückführen lassen,
sein individuelles Gefühl durch die schöpferische Thätigkeit
der Einbildungskraft zur Einheit der Form
zu erheben. Nach dieser Ansicht muß es so viele
verschiedene Klassen von Dichtungsarten geben, als [32]
es verschiedene Grundtöne des Gefühls für die ästhetische
Darstellung giebt.


1) Diejenigen dichterischen Formen, in welchen
das im Gemüthe des Dichters aufgeregte Gefühl
der Freude und des Entzückens, oder der
Wehmuth und Traurigkeit, als solches, in der
idealisirten Darstellung zur Einheit der Form
erhoben wird, so daß die Darstellung den unmittelbaren
Ton und Ausdruck des
Gefühls
wiedergiebt, bilden den Umfang der
lyrischen Dichtkunst.


2) Der Charakter der didactischen Dichtkunst
hingegen beruht darauf, daß die ästhetische Form
gewisse allgemeine Begriffe und Jdeen
der Vernunft
versinnlicht, die, durch ihre
Verbindung und Vergesellschaftung mit bestimmten
Gefühlen, eine höhere Bewegung des Gefühlsvermögens
und ein freies Spiel der Einbildungskraft
hervorbringen, so wie sie vermittelst
der dichterischen Form als ästhetische Einheit
erscheinen.


3) Die dichterische Darstellung kann ferner einzelne
Handlungen, Thatsachen und Jndividuen,
so wie den Zusammenhang der
menschlichen Handlungen
innerhalb des
bestimmt abgeschlossenen Kreises der menschlichen
Freiheit versinnlichen, diese freie Wirksamkeit
der handelnden Wesen idealisiren, und
die hohe Bewegung des Gefühls, hervorgebracht
durch die Vergegenwärtigung der Wirkungen
der menschlichen Freiheit, vermittelst
einer vollendeten ästhetischen Form bezeichnen.
Dies ist der Charakter der epischen Dichtkunst.


[33]

4) Der Charakter der dramatischen Dichtkunst
besteht darin, daß der Zusammenhang der freien
menschlichen Thätigkeit, vermittelst der ästhetischen
Form, durch die dargestellten handelnden
Personen selbst
(ohne Wahrnehmung
der Jndividualität des Dichters) vor
unsrer Anschauung erscheint. Doch ist es
Grundbedingung bei allen Formen der dramatischen
Dichtkunst, daß das Wesen jedes einzelnen
dramatischen Kunstwerkes nur durch
die künstlerische Darstellung desselben
auf der Bühne
erschöpft und vollendet werde.


5) Endlich giebt es gewisse dichterische Kunstwerke,
deren Charakter zwar bald der einen,
bald der andern der vier aufgestellten Hauptklassen
dichterischer Formen sich nähert, bald
aber auch aus dem Verschmelzen der Eigenthümlichkeit
mehrerer Klassen hervorgehet. Wenn
denn nun auch in dem ersten Falle das einzelne
Gedicht bisweilen unter eine der vier
aufgestellten Klassen gebracht werden könnte;
so wäre dies in dem zweiten Falle ohne Zwang
nicht möglich, und bald würde die einzelne
poetische Epistel, die einzelne Jdylle u. s. w.
zur lyrischen, bald zur epischen Dichtungsart
gehören. Es ist daher zweckmäßiger, weil die
schöpferische Thätigkeit der Einbildungskraft
nicht nach den in der Theorie aufgestellten Klassen
von Dichtungsarten sich richtet, diese Dichtungsarten
vielmehr nach der Wirksamkeit der
Einbildungskraft aufgestellt und geordnet werden
müssen, jene gemischten Formen der Dichtkunst
in einer besondern Ergänzungsklasse
aufzuführen.

[34]

12.
Die drei Schreibarten in der Sprache
der Dichtkunst.


So wie in der Sprache der Prosa und Beredsamkeit
jedes einzelne stylistische Erzeugniß, das
auf den Charakter der Classicität Anspruch macht,
einer der drei Schreibarten ─ entweder der niedern,
oder der mittlern, oder der höhern
(Th. 1. S. 474 ff.) bestimmt angehören muß; so
auch in der Sprache der Dichtkunst. Jedes einzelne
Gedicht, es sey Lied oder Elegie, es sey Ode
oder Hymne, es sey Fabel oder Epos, es sey
Jdylle oder Epigramm, muß entweder in der niedern,
oder in der mittlern, oder in der höhern
Schreibart gehalten seyn, über welche Wahl der
Schreibart zunächst, als innere Ursache, die Jndividualität
des Schriftstellers, nicht selten aber
auch, als äußere Ursache, bald der Charakter des
darzustellenden Stoffes, bald der Zweck entscheidet,
für welchen die stylistische Darstellung berechnet
ist. Denn so wie Gellerts Jndividualität, in
allen seinen dichterischen Erzeugnissen, ihn zunächst
zur Anwendung der niedern und bisweilen der mittlern
Schreibart führte, die höhere aber ganz ausschloß;
so eignete sich wieder die Jndividualität von
Joh. Andr. Cramer, von Klopstock, von Leopold
Graf zu Stolberg, von Kosegarten, mehr
zur mittlern und selbst zur höhern Schreibart, als
zur niedern. Dazu kommt, daß selbst die äußern
Ursachen bei der Wahl einer der drei Schreibarten
in den meisten Fällen durch die innere Ursache, d.
h. durch die Jndividualität des Dichters bedingt
sind, weil die dichterische Jndividualität, ─ nach [35]
den in dieser Einleitung aufgestellten Grundsätzen,
─ auf der unerklärbaren innern Wechselwirkung
des Gefühlsvermögens und der selbstthätigen Einbildungskraft
beruht, so daß, wenn dem Dichter, durch
diese innern Ursachen, der Stoff zu einer Messiade
zugeführt wird, er von selbst für diese die
mittlere Schreibart wählt. Dagegen wird er,
wenn er ein religiöses, oder ein weltliches Volkslied
beabsichtigt, in den meisten Fällen die niedere,
und nur bisweilen die mittlere Schreibart
für seine Darstellung, in der Hymne aber nie die
niedere, sondern die mittlere, ja selbst die höhere
Schreibart wählen.


Es ist übrigens von Wichtigkeit sowohl für die
Theorie und Praxis der Dichtkunst, als auch für
die Kritik der vorhandenen dichterischen Erzeugnisse,
den in jedem vorhandenen dichterischen Erzeugnisse
vorherrschenden Charakter der einen oder der andern
Schreibart auszumitteln, weil nicht blos das Urtheil
über die zweckmäßige Auswahl der Schreibart
für den dargestellten Stoff, sondern auch das Urtheil
über die Festhaltung und Durchführung der
gewählten Schreibart zur Einheit und Classicität
der stylistischen Form, davon abhängt.


Was endlich die sogenannte Manier des Dichters
betrifft; so wird darunter, im guten Sinne,
die erkennbare Jndividualität desselben an allen seinen
stylistischen Erzeugnissen (selbst den anonymen)
verstanden, inwiefern sie in gewissen, eben nur diesem
Schriftsteller eigenthümlichen, Gefühlen, Jdeen,
Bildern, Wendungen, Zusammenstellungen und einzelnen
Ausdrücken, in der ganzen Anlage, dem Baue
und der Vollendung der stylistischen Form besteht.
Jn dieser Beziehung lassen sich die einzelnen Erzeugnisse [36]
von Luther, Klopstock, Göthe, Schiller,
Kosegarten, Matthisson
u. a. sogleich
erkennen und von jedem andern Schriftsteller unterscheiden.
Allein fehlerhaft wird die Manier,
wenn sie nicht aus der Jndividualität des Schriftstellers
selbst hervorgeht, sondern auf der bloßen
Nachahmung eines originellen Dichters beruht. Deshalb
sind denn auch die Nachäffungen der eigenthümlichen
Manier von Göthe, Schiller, Matthisson
und andern so widerlich, während wir dem
selbstständigen Dichter gern die Wiederkehr von Formen
verzeihen, die er einmal aus seiner Eigenthümlichkeit
ausgeprägt und den meisten seiner Werke
ertheilt hat.

1) Die lyrische Form der Dichtkunst.


13.
Charakter und einzelne Theile der lyrischen
Dichtkunst.


Der Charakter der lyrischen Dichtkunst besteht
nicht, wie einige Theoretiker wollen, in der
Erregung, sondern in der idealisirten Darstellung
(Objectivisirung) bestimmter individueller Gefühle
unter der Einheit einer vollendeten ästhetischen Form.
Bei allen einzelnen Erzeugnissen der lyrischen Dichtkunst
beruht daher der dargestellte Stoff auf den
subjectiven Gefühlen des Dichters, welche durch
seine selbstthätige Einbildungskraft unter einer idealischen
Umgebung aufgefaßt, und nach dieser idealischen [37]
Haltung vermittelst einer stylistischen Form
dargestellt werden, die dem Gesetze der Form
vollkommen entspricht, und, als vollendete Einheit,
Richtigkeit und Schönheit der Form unausflöslich
verbindet.


Ob nun gleich die von dem lyrischen Dichter
als Stoff dargestellten Gefühle ihm ganz individuell
angehören, so daß sie, nach dieser Gestaltung
und Ankündigung, in keinem andern menschlichen
Gemüthe entstehen konnten; so erscheinen sie
doch, unter der Einheit der dichterischen Form, nach
ihrem Zusammenhange mit den höchsten Jdealen der
Menschheit, als so geläuterte und rein menschliche
Gefühle, daß jedes gebildete Wesen unsrer Gattung
in denselben, als in seinen eigenen, sich wieder erkennt.



Je verschiedener aber die menschlichen Gefühle
theils an sich nach ihrer Quelle als sinnliche, intellectuelle,
ästhetische und sittliche Gefühle, theils
nach dem Grade ihrer individuellen Stärke seyn
können; desto verschiedener ist auch der Charakter
der einzelnen lyrischen Gedichte, so wie die Stärke
des Tones und der ästhetischen Farbengebung in
denselben. Denn anders äußert sich das sinnliche
Gefühl bei dem Genusse der Liebe und des Weins,
als das intellectuelle Gefühl bei der Wahrnehmung
der Unermeßlichkeit des Weltalls, und das sittliche
Gefühl bei der Vergegenwärtigung unsrer individuellen
Fehler und Verirrungen, oder bei der dichterischen
Darstellung des Glaubens an Gott und
Unsterblichkeit. Wenn daher auch der gemeinsame
Charakter aller lyrischen Gedichte darauf beruht,
daß sie unmittelbare Gefühle unter einer idealischen
Darstellung in einer vollendeten stylistischen Form [38]
schildern; so muß doch, bei der nähern Beurtheilung
der einzelnen Erzeugnisse der lyrischen Dichtkunst,
zunächst dasjenige Gefühl aufgesucht werden,
welches als Stoff dem Gedichte zum Grunde liegt,
und sodann der im Gedichte enthaltene Ton dieses
Gefühls, der, innerhalb der Form, bald als Ton
der Freude, gesteigert bis zur höchsten Stufe derselben,
bis zum Ausdrucke des Entzückens, ─ bald als
Ton der Trauer, bis zur höchsten Steigerung derselben
in der tiefsten Wehmuth, nach sehr verschiedenen
Graden der Stärke und der Fülle des Gefühls
schattirt, erscheinen kann. Jene Verschiedenheit
in dem ursprünglichen Charakter der zum Bewußtseyn
des Dichters gelangten individuellen Gefühle,
und diese Schattirungen in dem Tone der
dargestellten Gefühle, entscheiden über die Verschiedenheit
des Charakters und des Tones in den einzelnen
Untergattungen
der lyrischen Form der
Dichtkunst.


Diese Untergattungen sind:


  • a) das Lied;
  • b) die Ode;
  • c) die Hymne;
  • d) die Dithyrambe;
  • e) die Rhapsodie;
  • f) die Elegie;
  • g) die Heroide;
  • h) die Cantate;
  • i) das Sonett;
  • k) das Madrigal, das Rondeau und Triolet.
[39]

14.
a) Das Lied.


Der Charakter des Liedes beruht auf der Darstellung
nur Eines, aber eines bestimmten Gefühls,
welches zum deutlichen Bewußtseyn gelangt, unter
der Einheit einer vollendeten ästhetischen Form. Jm
Tone des Liedes steht das zum Bewußtseyn gelangte
und durch Sprache dargestellte Gefühl mit sich selbst
im Ebenmaase. Dadurch unterscheidet sich das Lied
von den übrigen einzelnen Formen der lyrischen
Dichtkunst, namentlich von der Ode, der Hymne
und der Dichyrambe, welche, im höhern Schwunge
der dichterischen Begeisterung, das im Gefühle sich
ankündigende Unendliche, bei gleichstarker Vergegenwärtigung
der Schranken der Endlichkeit, darstellen.


An sich ist der Ton des Liedes ein Ton reiner
Freude, Beruhigung und Hoffnung. Dieser Ton
wird angeregt durch die Richtung des Gefühls auf
ein Gut, nach welchem das Gemüth sich sehnt, oder
dessen Besitz und Genuß das Gefühl ergreift und
erhebt, oder das im Allgemeinen dem Gefühle und
der Einbildungskraft lebhaft vorschwebt. Denn dadurch
unterscheidet sich das Lied von der Elegie und
der Heroide, daß der in demselben herrschende Ton
der Freude durch keine Beimischung eines Gefühls
der Wehmuth verdunkelt wird.


Das Lied wird eingetheilt in das religiöse
(geistliche) und weltliche Lied.


Das religiöse Lied enthält den Ausdruck und
die Darstellung der erhabenen Rührung, die den
Menschen bei der im Gefühle wahrgenommenen Allvollkommenheit
Gottes, seiner Allheiligkeit und Allseligkeit,
und bei der Vergegenwärtigung seiner Verhältnisse [40]
zu uns und unserer Verhältnisse zu ihm ergreift,
die für uns die wohlthuendsten und beseligendsten
sind, und die unser ganzes gegenwärtiges und künftiges
Daseyn umschließen. Das religiöse Lied erscheint,
je nachdem ein bestimmtes Gefühl sich in uns ausgebildet
hat, bald als Ausdruck des Dankes gegen
Gott, bald als Ton der Bewunderung desselben, der
Demuth und der Pflichten gegen ihn, der Hoffnung
auf ihn, und der Vergegenwärtigung unsers Abstandes
zu ihm. Zugleich liegt der ganze Kreis der
Lehren der positiven Religion im Umfange des
religiösen Liedes. ─ Doch muß genau zwischen dem
religiösen Liede und der religiösen (geistlichen)
Dichtkunst überhaupt unterschieden werden. Denn
die letzte beschränkt sich nicht blos auf das geistliche
Lied, wenn gleich von jeher innerhalb des Gebiets
der geistlichen Dichtungen der Anbau des religiösen
Liedes am reichsten, vielseitigsten und mannigfaltigsten
gewesen ist. Zur sogenannten geistlichen Dichtkunst
gehören aber, außer dem Liede, auch die religiöse
Ode und Hymne, und die religiöse Elegie.
Denn viele religiöse Gedichte von J. Andr.
Cramer, Klopstock, Balth. Münter und andern
unterscheiden sich von dem Tone und der Farbengebung
des Liedes so, daß sie, der Form nach,
als religiöse Hymnen aufgestellt werden müssen;
auf gleiche Weise gehören alle, zur ästhetischen Einheit
erhobene, Bußlieder in den Kreis der religiösen
Elegie. Besonders sind viele Gedichte, bestimmt
für die Feier der christlichen Feste, nicht blos religiöse
Lieder, sondern Hymnen im eigentlichen Sinne,
worin die Erscheinung des Erlösers in der Welt,
sein irdisches Werk, seine Auferstehung und seine
Himmelfahrt verherrlicht wird; so wie viele sogenannte [41]
Passionslieder, sobald ihre ästhetische Form
classisch ausgeprägt ist, zu den gelungensten Elegieen
gehören.


Jm Gegensatze des religiösen Liedes, enthält
das weltliche Lied die Darstellung eines bestimmten
individuellen Gefühls, das durch die Zustände
und Vorgänge des wirklichen Lebens angeregt wird,
unter der vollendeten Einheit einer ästhetischen Form.
Das weltliche Lied schildert als Lied der Liebe
die Jnnigkeit, Stärke und Glut des Gefühls, das
durch ein geliebtes weibliches Wesen bewirkt wird.
Als Trinklied stellt es die Freuden sinnlich vollkommen
dar, die der Wein gewährt. Als Gelegenheitsgedicht
bezieht es sich auf eine denkwürdige
Begebenheit des häuslichen oder öffentlichen
Lebens, welche das Gefühlsvermögen anspricht und
bewegt. Zu diesen Gelegenheitsgedichten gehören die
Geburts=, Hochzeits=, Neujahrs- und Trauergedichte
u. a., die nur deshalb so selten gelingen, und unter
einer vollendeten Form erscheinen, weil nur selten
das Ereigniß, das sie feiern sollen, ein wahres
und inniges Gefühl in dem Gemüthe des Dichters
aufregt. Denn wo diese Bewegung des Gefühlsvermögens
fehlt; da wird auch das Gelegenheitsgedicht
gerade des Dichterischen ermangeln, das
nur aus dem Gefühlsvermögen stammen und dann
unter der, von der Einbildungskraft geschaffenen,
idealisirten Form erscheinen kann. ─ Es können
aber auch Naturgegenstände und andere Vorgänge
des Lebens, sobald sie den Zustand eines bestimmten
Gefühls in dem Dichter zum Bewußtseyn erheben,
den Stoff zum weltlichen Liede enthalten. ─
Volkslied nennt man das weltliche Lied dann,
wenn die Darstellung desselben, durch das allgemeine [42]
Jnteresse seines Stoffes, so wie durch die höchste
Einfachheit des Ausdruckes, unbeschadet der classischen
Vollendung der Form, für alle Stände und
Klassen des Volkes verständlich, genießbar und anziehend
wird.

15.
Beispiele des religiösen Liedes.


1) von Luther († 1546).


[Nach der Originalausgabe.]


Eine feste Burg ist unser Gott,

Ein gute wehr unnd waffen;

Er hilfft unß frey auß aller not,

Die unns jetzt hat betroffen;

Der alt böse Feindt

Mit ernst ers jetzt meint,

Groß macht und vil list

Sein grausam rüstung ist,

Auff Erd ist nicht seins gleichen.

Mit unser macht ist nichts gethan,

Wir sind gar bald verloren.

Es streit für uns der rechte Man,

Den Got hat selbs erkoren;

Fragst du, wer er ist?

Er heist Jesus Christ,

Der Herr Zebaoth,

Und ist kein ander Gott,

Das Feld muß er behalten.

Und wenn die welt voll Teuffel wer,

Und wolt unns gar verschlingen;

So fürchten wir unns nicht so sehr,

Es soll unns doch gelingen.
[43]
Der Fürst dieser welt,

Wie sawr er sich stelt,

Thut er vns doch nicht,

Das macht, er ist gericht,

Ein wörtlein kan ihn fellen.

Das Wort sie sollen lassen stan,

Und kein Danck darzu haben,

Er ist bey unns wol auff dem plan

Mit seinem geist und gaben;

Nemen sie den leib

Gut, ehr, Kind und Weib,

Laß faren dahin,

Sie habens kein gewin,

Das Reich muß unns doch bleiben.

2) von Martin Opitz († 1639).


Morgenlied.


O Licht, gebohren aus dem Lichte,

O Sonne der Gerechtigkeit,

Du schickst uns wieder zu Gesichte

Die angenehme Morgenzeit.

Drum will uns gehören

Dankbarlich zu ehren

Solche deine Gunst.

Gieb auch unsern Sinnen,

Daß sie sehen können

Deiner Liebe Brunst.

Laß deines Geistes Morgenröthe

Jn unsern dunkeln Herzen seyn,

Daß sie mit ihren Stralen tödte

Der eitlen Werke kalten Schein.

Siehe, Herr, wir wanken;
[44]
Thun und auch Gedanken

Gehn auf falscher Bahn.

Du wollst unserm Leben

Deine Sonne geben,

Daß es wandeln kann.

Verknüpfe mit des Friedens Bande

Der armen Kirche schwache Schaar;

Nimm weg von unserm Vaterlande

Verfolgung, Trübsal und Gefahr!

Laß uns ruhig bleiben,

Unsern Lauf zu treiben

Diese kleine Zeit,

Bis du uns wirst bringen,

Wo man dir soll singen

Lob in Ewigkeit.

3) von dem Jesuiten Friedrich Spee († 1635).


Lob Gottes
aus Beschreibung der fröhlichen Sommerzeit.
(aus seiner Trutznachtigall ─ abgekürzt.)


Jetzt wicklet sich der Himmel auf

Jetzt b'wegen sich die Räder;

Der Frühling rüstet sich zum Lauf,

Umgürt't mit Rosenfeder.

O wie so schön, wie frisch und kraus!

Wie glänzend Elementen!

Nit mögens gnügsam streichen aus

Noch Redner, noch Scribenten.

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn,

O reines Jahr! o schöner Tag!

O spiegelklare Zeiten!
[45]
Zur Sommerlust nach Winterklag

Der Frühling uns wird leiten.

Jn Luft ich hör die Musik schon,

Wie sichs mit Ernst bereite,

Daß uns empfang mit süßern Ton,

Und lieblich hin begleite.

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Für uns die schöne Nachtigall

Den Sommer laut begrüßet,

Jhr Stimmlein über Berg und Thal

Den ganzen Luft versüßet.

Die Vöglein zart in großer Meng

Busch, Heck und Feld durchstreifen,

Die Nester schon seyndt ihn zu eng,

Die Luft klingt voller Pfeifen.

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Wer legt nun ihn'n den Ton in Mund

Dann laut und dann so leise?

Wer zirkelt ihn'n so rein und rund

So mannigfaltig Weise?

Wer misset ihn'n den Athem zu,

Daß mögens vollentführen

Den ganzen Tag fast ohne Ruh

So freudigs Tütelüren?

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Jetzt öffnet sich der Erdenschoos,

Die Brünnlein fröhlich springen;

Jetzt Laub und Gras sich geben blos,

Die Pflänzlein anher dringen.

Wer wird die Kräuter mannigfalt
[46]
Jn Zahl und Ziffer zwingen,

Welch uns der Sommer mit Gewalt

Ans Licht wird stündlich bringen?

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Mein! saget an ihr Blümlein zart,

Und laßt michs je doch wissen,

Weil ihr an euch kein Farb gespart,

Wer hat euch vorgerissen?

Wo nahmet ihr das Muster her,

Davon ihr euch copeiet?

Das Vorbild wollt ich schauen ger',

Welchs ihr habt conterfeiet.

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Wo nur das Aug man wendet hin,

Mit Lüsten wirds ergetzet;

Ergetzet wird fast jeder Sinn,

Und alles Wunder schätzet:

Ohn Maas ist alle Welt geschmückt,

Wer Künstler möchts erdenken?

Wers recht bedenkt, wird gar verzückt,

Das Haupt thut niedersenken.

O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

Drum lobet ihn ihr Menschenkind,

Bei nun so schönen Zeiten;

All Traurigkeit nun schütt't in Wind,

Spannt auf die besten Saiten.

Auf Harf und Lauten tastet frei,

Schneid't an die süßen Geigen,

Mit reiner Stimm' und Orgelschrei

Thut ihm all Ehr' erzeigen.
[47]
O Gott, ich sing von Herzen mein,

Gelobet muß der Schöpfer seyn.

4) von Simon Dach


(† 1659 als Prof. in Königsberg).


Begräbnißlied.


O wie selig seyd ihr doch, ihr Frommen,

Die ihr durch den Tod zu Gott gekommen!

Jhr seyd entgangen

Aller Noth, die uns noch hält gefangen.

Muß man hier doch wie im Kerker leben,

Da nur Sorge, Furcht und Schrecken schweben;

Was wir hie kennen,

Jst nur Müh' und Herzeleid zu nennen.

Jhr hergegen ruht in eurer Kammer

Sicher und befreit von allem Jammer;

Kein Kreuz und Leiden

Jst euch hinderlich in euern Freuden.

Christus wischet ab euch alle Thränen;

Jhr habt schon, wornach wir uns erst sehnen;

Euch wird gesungen,

Was durch Keines Ohr allhier gedrungen.

Ach, wer wollte denn nicht gerne sterben,

Und den Himmel für die Welt ererben?

Wer wollt' hier bleiben,

Sich den Jammer länger lassen treiben?

Komm, o Christe, komm, uns auszuspannen!

Lös' uns auf, und führ' uns bald von dannen!

Bei dir, o Sonne,

Jst der frommen Seelen Freud' und Wonne!
[48]

5) von v. Cronegk († 1758).


Der auferstandene Heiland.


Das Grab zerbricht und Gottes Sohn

Verläßt der Todten Grüfte.

Es dringt ein lauter Jubelton

Siegprangend durch die Lüfte.

Du, den der Engel Loblied preist,

Entreiße, Vater, meinen Geist,

Daß er dir heilig werde,

Den Neigungen der Erde.

Die Menschheit, Herr, erlaubt mir nicht,

Mit dir empor zu steigen,

Bis meines Körpers Grab zerbricht,

Bis sich mein Haupt wird neigen.

Alsdann nimm, nach vollbrachtem Lauf,

Erstandener Heiland, nimm mich auf.

Herr, nimm bei meinem Ende

Den Geist in deine Hände.

Mensch, willst du Gott in seinem Reich

Nach deinem Tode sehen;

So mußt du, deinem Heiland gleich,

Von Todten auferstehen.

Der lebt nicht, den die Lust der Welt,

Den ihre Pracht gefesselt hält;

Nach Gott und Tugend streben,

Nur das heißt wirklich leben.

Wohl dir, wenn du das Laster fliehst,

Dem Frevler dich entziehest,

Und liebst den Gott, den du nicht siehst,

Jm Menschen, den du siehest!

Als schon die nahe Stunde kam,

Als der Erlöser Abschied nahm,
[49]
Da sprach er zu den Seinen:

Hört, Kinder, auf zu weinen!

Jch geh zum Vater in das Reich,

Das auch für euch beschieden.

Geht! meinen Frieden laß ich euch,

Jch geb' euch meinen Frieden.

Nicht geb' ich, wie die Welt ihn giebt;

Daran, daß ihr einander liebt,

Daran will ich erkennen,

Ob ihr auch mein zu nennen.

Erretter! Heiland! Menschenfreund!

Erweck' in mir die Triebe

Durch die man sich mit dir vereint,

Den Glauben und die Liebe!

Mein Leben weih sich dir allein;

Laß mich dem Nächsten nützlich seyn!

Gieb selbsten Geist und Kräfte

Zu jeglichem Geschäfte!

So kann ich leben als ein Christ,

Und als ein Christ erblassen.

Jch weiß, daß du mein Heiland bist,

Jch will von dir nicht lassen.

Herr, segne mich! zu seiner Zeit

Laß mich zu deiner Ewigkeit

Vom Grab empor mich schwingen,

Und heilig! heilig! singen.

6) von der Professorin Gottsched (geb. Kulmus),
(† 1762) ─ abgekürzt ─


Die Ewigkeit.


O Gott! du warst von Ewigkeit,

Bevor noch Himmel, Erd' und Zeit
[50]
Auf deinen Wink entstanden.

Eh noch dein Wink dem Sonnenstrahl

Der Welt zu leuchten anbefahl,

Warst du bereits vorhanden;

Und stürzt einmal der Weltkreis ein,

Wirst du nicht minder ewig seyn.

Der Stunden Dauer scheint uns lang,

Wenn wir voll Kummer, matt und krank,

Fast Augenblicke zählen.

Der Tageslauf verzehrt das Herz,

Wenn wir bei ungewohntem Schmerz

Uns unaufhörlich quälen.

Dann däucht uns ja die bittre Pein,

Ein ganz Jahrhundert lang zu seyn.

Doch, ach! wie kurz ist unser Lauf,

Mit wenig Jahren hört er auf,

Als wären's so viel Stunden.

Und wärest du Methusalah,

Der nah bei tausend Jahren sah,

Wie schnell sind sie verschwunden!

Vor dir, o Herr, ists nur ein Tag,

Ein kurzer Puls- und Herzensschlag.

Der ganzen Welt bestimmte Zeit,

Seitdem die Sonne weit und breit

Luft, Berg und Thal verkläret;

So lange Mond und Sterne sind,

So lange hier ein Adamskind

Und dieser Erdball währet:

Was ist sie gegen dich, o Gott?

Ein kurzes Nun, ein Nichts, ein Spott.

Unendlicher, du alterst nicht,

Dein ewig heitres Angesicht,

Zeigt stets der Jugend Stärke.
[51]
Dein Arm, der alle Wesen schafft,

Bleibt ungeschwächt bei gleicher Kraft,

Wirkt immer größre Werke.

Der Mensch verschleißt wie ein Gewand;

Dein ewig Thun hat stets Bestand.

Könnt' jeder Tropfen in dem See

Und jede Flocke von dem Schnee

Und jedes Blatt auf Erden,

Könnt' jeder Staub von Berg und Thal

Und jeder Stern am Himmelssaal

Ein ganz Jahrhundert werden;

So wäre doch die lange Zeit

Kein Punct von deiner Ewigkeit.

Was ist denn, Herr, vor deinem Thron

Das Menschenkind, der Erdensohn,

Der Staub, der Wurm, die Made?

Ein Augenblick bringt ihn zur Welt,

Ein Augenblick hat ihn gefällt;

Gebricht ihm deine Gnade.

Ja füllt sein Lauf den weit'sten Raum,

Jst doch sein Leben nur ein Traum.

Das wahre Leben ist in dir;

Dein Seyn, o Gott, daur't für und für,

Dein Wesen nimmt kein Ende.

Drum reiß' mich aus der Eitelkeit,

Und scheid' ich einst aus dieser Zeit,

Nimm mich in deine Hände.

So werd' ich ewig vor dir stehn,

Und, frei vom Tode, dich erhöhn!
[52]

7) von Joh. Andr. Cramer († 1788).


Der erste Psalm.


Heil, Heil dem Manne, der dem Rath

Der Frevler sich entzieht;

Dem Manne, der den krummen Pfad

Der Uebertreter flieht!

Der, wo der Gottheit Spötter lacht,

Die fromme Seel' entfernt;

Sich Gottes Recht zur Freude macht,

Und Tag und Nacht es lernt.

Er grünet, wie am Bach ein Baum

Von seinem Segen schwillt,

Sich hebt, und einen weiten Raum

Mit seinem Wipfel füllt.

Er trägt, wann seine Zeit kommt, Frucht,

Stets unentlaubt und grün;

Er tröstet den, der Schatten sucht,

Der Wandrer segnet ihn.

Das ist der Fromme! Was er macht,

Wird Segen und erfreut.

Der Sünder ists, der seiner lacht,

Spreu, die der Wind zerstreut.

Der, der sich gegen Gott empört,

Besteht nicht im Gericht,

Und wo ein Volk ist, das Gott ehrt,

Blühn die Verbrecher nicht.

Der Herr verklärt die edle Bahn,

Die der Gerechte geht.

Er schaut im Zorn den Sünder an:

Des Sünders Weg vergeht.
[53]

8) von Sturm († 1786).


Bruchstück aus einem Weihnachtsliede.


─ Kommt, laßt uns niederfallen

Vor unserm Mittler Jesu Christ,

Jhm danken, daß er Allen

Erretter, Freund und Bruder ist.

Er, gleich der Morgensonne

Mit ihrem ersten Strahl,

Verbreitet Licht und Wonne

Und Segen überall.

Durch ihn kommt Heil und Gnade

Auf diese Welt herab;

Er segnet unsre Pfade

Durchs Leben bis zum Grab.

O du, dem jetzt die Menge

Der Engel und Verklärten singt,

Empfang die Lobgesänge,

Die dir dein Volk im Staube bringt.

Auch du warst einst auf Erden,

Was deine Brüder sind,

Ein Dulder der Beschwerden,

Ein schwaches Menschenkind.

Was du jetzt bist, das werden

Einst deine Brüder seyn,

Wann sie, entrückt der Erden,

Sich deines Anschauns freun.

Bald sind wir zu dem Lohne

Der Himmelsbürger dort erhöht;

Nah sind wir dann dem Throne,

Und schauen deine Majestät.

Nicht mehr aus dunkler Ferne

Schallt dann der Dank zu dir;
[54]
Weit über Sonn' und Sterne

Erhaben danken wir.

Und dann durch jede Sphäre

Schallt unser Lobgesang:

Dem Ewigen sey Ehre,

Dem Menschgewordnen Dank!

9) vom Grafen Friedr. Leop. zu Stolberg
(† 1819).


Danklied (abgekürzt).


Daß unser Gott uns Leben gab,

Deß wollen wir uns freuen,

Und von der Wiege bis ans Grab

Jhm unsern Dank erneuen;

Denn auch zur Freude gab uns Gott

Auf dieser Welt das Leben,

Und hat verheißen, nach dem Tod

Der Wonne mehr zu geben.

Wie fromme Kinder können wir

Jn froher Einfalt leben;

Drum hat der Vater schon allhier

Ein Eden uns gegeben.

Die Frühlingswärme haucht sein Mund,

Und Kühlung wehn die Wogen;

Am Himmel zeugt von seinem Bund

Der schöne Regenbogen.

Und Auen, Berge, Feld und Wald

Verkünden seine Gnade,

Und seines Namens Größe schallt

Am hallenden Gestade.

Jhn singt die kleine Nachtigall.

O, laßt mit ihr uns singen!
[55]
Laßt mit der frohen Lerche Schall

Auch unser Lied erklingen!

Aus freier Gnade hieß der Herr

So schön die Erde werden.

Bedarf zu seinem Wohlseyn Er

Der Früchte dieser Erden?

Drum wollen wir auch geben gern,

Wie wir von ihm vernommen,

Und ähnlich werden unserm Herrn,

Und seyn, wie er, vollkommen.

Wie Aeltern ihrem zarten Sohn

Die Frühlingsblumen weisen;

So zeigt uns Gott auf Erden schon,

Wie seine Sterne kreisen.

Wir schaun die Wunder seiner Hand

Aus unsern tiefen Fernen,

Und wissen, unser Vaterland

Sey über jenen Sternen.

Auf unserm Leben schwimmt, wie Schaum,

Ein wenig Müh und Kummer;

Das Leben ist ein Morgentraum,

Der Tod ein kurzer Schlummer.

Wir sinken freudig in den Staub,

Der unsre Väter decket,

Und gönnen Würmern ihren Raub,

Weil Gott uns auferwecket.

Es töne zu der Saiten Klang,

So lange wir hier wallen,

Sein Lobgesang; und Lobgesang

Soll schon das Kindlein lallen!

Und wenn's nach seinem Namen fragt;

So drückt mit beiden Armen

Das Kindlein fest ans Herz, und sagt:

Sein Name heißt Erbarmen!
[56]

10) von v. Matthisson.


Heiliges Lied.


Dich preißt, Allmächtiger, der Sterne Jubelklang!

Dich preißt, Allgütiger, der Seraphim Gesang!

Die ganze Schöpfung schwebt in ewgen Harmonieen,

So weit sich Welten drehn und Sonnenheere glühen.

Dein Tempel, die Natur, wie deiner Herrlichkeit,

Wie deiner Milde voll! Des Lenzes Blumenkleid,

Des Sommers Aehrenmeer, des Herbstes Traubenhügel,

Des Winters Silberhöhn, sind deiner Allmacht Spiegel!

Was bin ich, Herr, vor dir? Seit gestern athm'

ich kaum!

Es trennt vom Todtenkreuz mich nur ein Spannenraum!

Wohl dennoch mir! Wer sanft entschläft in Vatersarmen,

Darf dem Erweckungswort vertraun! Es heißt: Erbarmen!

11) von Mahlmann.


Lied des Trostes.


Was grämst du dich?

Noch wenig trübe Stunden,

Dann heilen deine Wunden;

Dann blickt dein Auge hell und klar!

Dein Geist, so fest gekettet,

Fliegt dann empor, und rettet

Zum Lande seiner Heimath sich!

Was grämst du dich?

Der große Geist,

Um den die Welten schweben,

Sieht unser kleines Leben

Und unsern Kummer gnädig an.

Er zählt die Thränentropfen;
[57]
Er stillt des Herzens Klopfen.

Er ist es, der uns Trost verheißt,

Der große Geist!

Verzage nicht!

Blick' auf in jene Ferne,

Da glänzen tausend Sterne;

Wie groß ist deines Vaters Haus!

Ach dort, ach dort erwarmen

An seiner Brust wir Armen!

Drum, wenn dein Herz in Thränen bricht;

Verzage nicht!

12) von Tiedge.


Vertrauen auf Gott. (abgekürzt)


Groß ist der Herr! Die Berge zittern

Vor seiner Gottesmajestät,

Wann er in dunkeln Ungewittern,

Der Heilige, vorübergeht;

Doch Liebe strömt aus seiner Hand,

Jn finstern Wolken auf das Land.

Vom Raum, wo sich der Halm entfaltet,

Bis zu der letzten Sonn' hinaus,

Herrscht sein Gesetz; als Vater waltet

Er durch das große Weltenhaus,

Der Leben giebt und Freuden schafft;

Mit Liebe waltet er und Kraft.

Was dich auch drückt, mein Herz: er rettet!

Vertraun zu ihm ist deine Pflicht!

Er, der dem Wurm ein Lager bettet,

Der Gott verläßt den Menschen nicht.

Der so viel giebt, und mehr verheißt ─

Erhebe dankend ihn, mein Geist!
[58]
Vermiß dich nicht, mit ihm zu rechten!

Mit Demuth nahe dich dem Herrn.

Jn trauervollen Mitternächten

Jst dir der Ewige nicht fern;

Mit deinem Frieden, deinem Harm

Wirf seiner Huld dich in den Arm!

Vertraue Gottes Vaterhänden,

Wenn er den frömmsten Wunsch versagt;

Was hier beginnt, wird dort vollenden,

Wo dir ein neues Leben tagt.

Es ruhn im engen Raum der Zeit

Die Keime deiner Ewigkeit.

16.
Beispiele des weltlichen Liedes.


1) Minnelied vom Kaiser Heinrich 6
(† 1197),


aus der Manessischen Sammlung, mit Nassers
Verteutschung *

Ich grueſſe mit geſange die sueſſen

Die ich vermiden niht wil noch enmac.

Doh ich si von munde rehte mohte grueſſen

Ach leides des iſt manig tag.

Swer nu diſü liet singe vor ir

[59]

Der ich so gar unsenfteclich enbir

Es si wib oder man der habe si gegrueſſet von mir.


Mir ſint dü rich und dü lant undertan

Swenne ich bi des minneclichen bin,

Und swenne ich geſcheide von dan

So iſt mir aller min gewalt und richtum dahin.

Wan senden kumber den zelle ich mir danne ze

habe,

Sus kan ich an freuden ſtigen uf und ouch abe,

Und bringe den wechſel als ich wenne dur ir liebe

ze grabe.


Sit das ich si so gar herzeclichen minne

Und si ane wenken zallen ziten trage

Beide in herze und ouch in sinne

Underwilent mit vil maniger clage,

Was git mir dar umbe dü libe ze lone,

* [60]

Da biutet si mirs so rehte ſchone

E ich mich ir verzige ich verzige mich ê der crone.


Er sündet swer des niht geloubet,

Das ich moehte geleben manigen lieben tag,

Ob ioch niemer crone kemme uf min houbet,

Des ich mich an si niht vermeſſen mag.

Verlur ich si was het ich danne,

Da tohte ich ze freuden weder wibe noch manne,

Uns wer min beſter troſt beide ze ahte und ze banne.

2) Bruchstück eines Minneliedes,


vom Markgrafen von Brandenburg Otto mit
dem Pfeile
(† 1308); aus der Manessischen
Sammlung.


Winter was hat dir getan

Dü bluot vil minnecliche

Und der kleinen voglin sueßes singen;

Ich weis vürwar gar ane wan 1

Wil mich dü seldenriche 2,*
[61]
Tröſten was kanſtu mich danne getwingen
3
Ich neme eine lange naht

Fur tuſend hande4bluete

Ich han mich des vil wol bedaht

Mich tröſtet bas 5ir guete

Danne der meie mir kan froide bringen.

3) von Joh. Valentin Andreä († 1654).


Die verborgene Liebe.


Edele Liebe, wie bist du bei uns verstecket,

Daß sich dein Ursprung uns so selten nur entdecket?

Von Gott bist du gebohren,

Gott selbst hat dich erzeugt,

Dem Menschen auserkohren,

Dem die Natur sich beugt.

Liebliche Liebe, wo bist du bei uns verborgen,

Daß wir dein Saft und Kraft nicht schmecken heut, noch

morgen?

Die Welt thust du erfüllen

Mit süßem Honigseim,

Das größte Leiden stillen

Durch deinen milden Schein.

Jnnige Liebe, wo bist du bei uns verschlossen,

Daß wir zu deiner Treu uns schicken so verdrossen?

Alles kannst du verbinden,

Was irgend ist zerstreut,

Jn dir ist alles zu finden,

Was Menschenherzen freut.
[62]
Stetige Liebe, wo bist du bei uns verloren,

Daß du, Standhafteste, nie kommst vor unsre Ohren?

Du mußt den Bund erhalten,

Den Bund der Menschenpflicht;

Denn Liebe mag nicht alten,

Die Treu kann rosten nicht.

4) von Andreas Tscherning († 1659).


Auf einen Ausbund eines lustigen und
possirlichen Hündleins.
(abgekürzt)


Freude des Herren und Liebe der Frauen,

Herzfänger, Zeitendieb, Störer der Pein,

Einer kann dich ohne Lachen nicht schauen;

Käme der Sauertopf Cato herein,

Er würd' in Gebärden

Bald lustiger werden.

Sollte nicht Menschen die Weise behagen,

Wann du, sobald nur die Tafel gedeckt,

Bringest dein' eigene Schüssel getragen.

Lächerlich ists, so sie irgend versteckt,

Das eifrige Suchen,

Das hungrige Puchen.

Raben, die müssen an Augen dir weichen,

Phöbus Geflügel der singende Schwan

Kann sich an Farbe mit deiner nicht gleichen,

Deine, Liebuschlin, die gehet voran,

Du prangest mit Gaben,

Die wenige haben.

Laß dem Catullus den Sperling vor allen;

Statius sey auf die Tauben erhitzt;

Laß dem Petrarca die Katze gefallen,

Welche die Schriften vor Mäusen beschützt.
[63]
Dich müssen die Weisen

Viel rühmlicher preisen.

Lipsius hätte vor seinem Saphire,

Liebes Liebuschlin, dich werther geschätzt.

Alles, was ich dir jetzt dactylisire,

Was mein geringer Verstand dir gesetzt,

Jst für dich, o König

Der Hunde, zu wenig.

Soll ich es sagen, als wie ich gedenke,

Wann du in Fröhlichkeit trunken und geil

Giebest zu sehen die künstlichen Ränke;

Wahrlich, so hat die Natur dir ein Theil

Vom Menschenverstande

Gegeben zum Pfande.

Cerberus muß dich genädig empfangen,

Wann du wirst reisen in Acherons Haus.

Still' aber späte sein heißes Verlangen,

Atheme langsam den Flattergeist aus.

Du wirst mit dem Leben

Viel Freude begeben.

Ehe du werdest gezwungen zu sterben,

Lieber, so denke zuvor auf die Zucht;

Mache dich wieder lebendig durch Erben.

Wo du verlässest dir ähnliche Frucht;

So kann man dein Scheiden

Geduldiger leiden.

Wann du verblichen; so wirst du begraben,

Wo Amarißlein und wo Servitor

Jhre gekammerte Grabestatt haben,

Zwischen der Blumen gestirneten Flor,

Als die in dem Garten

Schon deiner erwarten.
[64]

5) von v. Canitz († 1699).


Lob des Tabaks. (abgekürzt)


Sonn' und Licht hat sich verkrochen,

Und die Nacht ist angebrochen.

Soll ich nun des Tages Last,

Meine Sorgen und mein Grämen,

Auf das Lager mit mir nehmen?

Nein, ich will, um meine Rast

Zu befördern, erst die Pfeifen

Mit Tabak gestopft ergreifen.

Unter allen seltnen Waaren,

Die man uns in vielen Jahren

Hat aus Jndien gebracht,

Wird bei Jungen und bei Alten

Dieses Kraut den Preis behalten,

Weil es frohe Geister macht.

Ja, bis sich die Welt wird trennen,

Wird sein stetes Opfer brennen.

Des Tabakskrauts goldne Blätter

Sind bei manchem Unglückswetter

Ein beliebtes Gegengift.

Wider Pest und Liebeswunden

Sind sie schon bewährt gefunden;

Und wenn uns ein Kummer trifft,

Können wir durch sanftes Hauchen

Sie zu unserm Labsal brauchen.

Daß die Lust und Pracht der Erden,

Und ich selbst zu nichts muß werden,

Hat mich der Tabak gelehrt,

Wenn sein zarter Dampf sich zeiget,

Der hoch in die Lüfte steiget,

Und sich bald in Nichts verliert.
[65]
Daß nun solch ein Kraut entsprossen,

Hat den Satan sehr verdrossen.

Er kann ohnedem nicht leiden,

Wenn ein Mensch in stillen Freuden

Jn sich selbst vergnüget ist.

Drum, des Vaters eitler Grillen

Bösen Wunsch nicht zu erfüllen,

Schmauch ich, als ein frommer Christ.

Er und alle Welt mag toben:

Jch will doch den Tabak loben.

6) von Joh. Chstn. Günther († 1723).


Die Rosen. (abgekürzt)


An Rosen such' ich mein Vergnügen,

An Rosen, die die Herzen ziehn,

An Rosen, die den Frost besiegen,

Und hier das ganze Jahr durch blühn,

An Rosen, die wir bei den Linden

Sonst nirgends leicht so reizend finden.

Man lobt die bräunlichen Violen,

Sie sind auch ihres Lobes werth;

Doch, weil sie nur die Kinder hohlen,

So bin ich nicht für sie erklärt,

Und wähle mir die holden Stralen,

Womit die vollen Rosen pralen.

Erhebt mir nicht die Kaiserkronen,

Die sonder Kraft und Balsam sind.

Entfernt euch mit den Anemonen,

Jhr Nam' und Ruhm ist nichts als Wind.

Narcissen sind im besten Lande

Ein Abriß von dem Unbestande.
[66]
Die Ros' erquickt die blöden Sinnen

Und hat das beste Zuckerrohr.

Jhr goldner Umfang bricht von innen,

So wie die Sonn' aus Nacht, hervor.

Die Rose nährt die süßen Triebe,

Und reizt die Liebe selbst zur Liebe.

Mit Rosen schmück' ich Haupt und Haare,

Die Rosen tauch' ich in den Wein;

Die Rose soll für meine Jahre

Die allerbeste Stärkung seyn.

Die Rose zieret meine Flöten

Und krönt mit mächtige Poeten.

Auf Rosen mach' ich gute Reime,

Auf Rosen schläfet meine Brust,

Auf Rosen hab' ich sanfte Träume

Von still- und warm- und weicher Lust;

Und wenn ich einst von hinnen fahre,

So wünsch' ich Rosen auf die Bahre.

7) von Gotthold Ephraim Lessing († 1781).


Für wen ich singe.


Jch singe nicht für kleine Knaben,

Die voller Stolz zur Schule gehn,

Und den Ovid in Händen haben,

Den ihre Lehrer nicht verstehn.

Jch singe nicht für euch, ihr Richter,

Die ihr, voll spitz'ger Gründlichkeit,

Ein unerträglich Joch dem Dichter

Und euch die Muster selber seyd.

Jch singe nicht den kühnen Geistern,

Die nur Homer und Milton reizt;
[67]
Weil man den unerschöpften Meistern

Die Lorbeern nur umsonst begeizt.

Jch singe nicht durch Stolz gedrungen,

Für dich, mein teutsches Vaterland.

Jch fürchte jene Lästerungen,

Die dich bis an den Pol verbannt.

Jch singe nicht für fremde Reiche.

Wie käm' mir so ein Ehrgeiz ein?

Das sind verwegne Autorstreiche.

Jch mag nicht übersetzet seyn.

Jch singe nicht für fromme Schwestern,

Die nie der Liebe Reiz gewinnt,

Die, wenn wir munter singen, lästern,

Daß wir nicht alle Schmolken sind.

Jch singe nur für euch, ihr Brüder,

Die ihr den Wein erhebt, wie ich,

Für euch, für euch sind meine Lieder.

Singt ihr sie nach; o Glück für mich!

Jch singe nur für meine Schöne,

O muntre Phyllis, nur für dich.

Für dich, für dich sind meine Töne.

Stehn sie dir an; so küsse mich!

8) von Gleim († 1803).


Straflied.


Dumm machen lassen wir uns nicht,

Wir wissen, daß wirs werden sollen!

Vernunft heißt das von Gott uns angesteckte Licht,

Das sie auslöschen wollen!

Wir wissen, daß wir dumm, dumm wieder werden sollen,

Und werdens ganz gewiß mit Gottes Hülfe nicht!
[68]
Wir thun in allem unsre Pflicht;

Mehr kann man nicht von uns verlangen.

Auslöschen wollet ihr das angesteckte Licht,

Jhr heuchlerischen Klapperschlangen,

Jhr Katzen! ihr wollt uns wie dumme Mäuse fangen,

Jhr fangt uns ganz gewiß, wie dumme Mäuse, nicht!

Wir lieben unsern lieben Gott,

Und unsern lieben guten König;

Die beiden schützen uns: wir werden Hottentot

Und Dumrian so wenig,

Als ihr vernünftigen Gesetzen unterthänig,

Gegeben durch Vernunft von unserm lieben Gott!

Vernünftige Gesetze sind,

Daß wir einander lieben sollen,

Wie eine Mutter ihr gebohrnes erstes Kind,

Und daß wir, wie wir wollen

Anbeten den, um welchen Donner rollen,

Und sanfte Winde wehn, und brausen Sturm und Wind.

Der ist uns eine feste Burg!

Dem werden sie schon unterliegen!

Der hilft durch ihre Macht mit seiner Macht uns durch,

Sie mögen heucheln, lügen, trügen!

Das angesteckte Licht wird Finsterniß besiegen!

Gott, aller Götter Gott, ist unsre feste Burg!

9) von Weiße († 1804).


Schuhflickerlied.


„Minister flicken am Staat;

Die Schöppen flicken am Rath;

Die Priester an dem Gewissen;

Die Aerzte an Händen und Füßen.“
[69]
„O Jobsen! was flickest denn du?“

„Jch flicke den Herren Ministern,

Den Schöppen, den Aerzten, den Priestern,

Zerrißne Schuh.“

„Sie flicken, und flicken nicht recht;

Sie flicken, und flicken oft schlecht,

Und reißen unter dem Flicken

Das Gute wieder in Stücken.“

„O Jobsen! wie flickest denn du?“

„Jch flicke den Herren Ministern,

Den Schöppen, den Aerzten, den Priestern,

Zerrißne Schuh

Recht dichte zu.“

10) von v. Halem († 1819).


Trinklied.


Das Leben gleichet der Blume!

So sagen die Weisen. Wohlan!

Das lasset uns, Freunde, bedenken,

Und klüglich mit Weine sie tränken;

Denn frischer blühet sie dann!

Das Leben gleichet der Reise!

So sagen die Weisen. Wohlan!

Füllt, Freunde, die Gläser! Jch meine,

Wir sprengen die Wege mit Weine;

Viel lustiger reiset sichs dann.

Das Leben gleichet dem Traume!

So sagen die Weisen. Wohlan!

Schon will es mich selber so dünken.

Zum Glase! zum Glase! Wir trinken!

Viel herrlicher träumt es sich dann!
[70]

11) von v. Salis.


Das Grab.


Das Grab ist tief und stille,

Und schauderhaft sein Rand.

Es deckt mit seiner Hülle

Ein unbekanntes Land.

Das Lied der Nachtigallen

Tönt nicht in seinen Schoos,

Der Freundschaft Rosen fallen

Nur auf des Hügels Moos.

Verlaßne Bräute ringen

Umsonst die Hände wund;

Der Waisen Klagen dringen

Nicht in der Tiefe Grund.

Doch sonst an keinem Orte

Wohnt die ersehnte Ruh;

Nur durch die dunkle Pforte

Geht man der Heimath zu.

Das arme Herz hienieden,

Von manchem Gram bewegt,

Erlangt den wahren Frieden

Nur, wo es nicht mehr schlägt.

12) von Voß.


Gesang der Teutschen.


Der Geisteswildheit Nacht voll Grauen

Lag öd' auf Teutschlands dumpfen Gauen;

Da wandte Gott sein Angesicht,

Und rief herab: Es werde Licht!

Die Nacht verdämmert; Dämmrung schwindet;

Der Wild', ein kaum belebttr Kloß,
[71]
Wird Mensch, blickt um sich und empfindet,

Was wahr und edel ist und groß.

Chor.


Wir alle! wir alle!

Wir heben Herz und Hand!

Es rufe Mann und Weib, das Kind am Busen lalle;

Heil, Freiheit, dir! Heil, Vaterland!

Vernunft, durch Willkühr erst befehdet,

Doch kühn und kühner, singt und redet

Von Menschenrecht, von Bürgerbund,

Von aller Satzung Zweck und Grund!

Jn Zauberschrift umher geschwungen,

Fliegt tausendfach der weise Schall,

Hat bald des Volkes Herz durchdrungen,

Und schafft Gemeinsinn überall.

Wir alle &c.

Nicht herrscht durch fremder Formeln Düster

Hinfort Gerichtsherr oder Priester;

Das Volksgesetz wägt grad' und gleich

Gerechtigkeit für Arm und Reich.

Nicht mehr verfolgt wird Lehr' und Meinung,

Nicht gilt für Gottesdienst ein Brauch.

Nur Lieb' ist aller Herzen Einung,

Der Tempel und Moscheen auch.

Wir alle &c.

Nur Tugend, nicht Geburt, giebt Würde;

Vertheilt nach Kraft ist Amt und Bürde;

Der bauet Kunst, Gewerb' und Saat,

Der schmückt den Geist, der Heer und Staat;

Der, gegen Feind' und Unterdrücker,

Trägt Obermacht zu treuer Hut,

Und giebt, des freien Volks Beglücker,

Jhm Rechenschaft von Hab' und Blut.

Wir alle &c.
[72]
Was zittert ihr, der Staaten Wächter?

Veredelt strebt das Volk nicht schlechter;

Nur frei vom Mißbrauch wird der Thron,

Vom Wahne die Religion!

Die Fessel strengt ihr an? Vergebens!

Zur Freiheit ruft uns unser Gott!

Dem Geist im Vollgefühl des Sterbens

Jst aller Welten Macht ein Spott!

Wir alle &c.

13) von Ludw. Tieck.


An einen Liebenden im Frühlinge.


Wonne glänzt von allen Zweigen,

Muthig regt sich jedes Reiß,

Blumenkränz' aus Bäumen steigen,

Purpurroth und silberweiß.

Und bewegt wie Harfensaiten

Jst die Welt ein Jubelklang,

Durch der Welten Dunkelheiten

Tönt der Nachtigall Gesang.

Warum leuchten so die Felder?

Nie hab' ich dies Grün gesehn.

Lustgesang dringt durch die Wälder,

Rauschend wie ein Sturmeswehn.

Sieg und Freiheit blühn die Bäume,

Heil dir Vaterland! erschallt

Jubelnd durch die grünen Räume;

Freiheit! braust der Eichenwald.

Hoch beglückt, ja hoch gesegnet,

Wem in diesem Lustgefild

Liebesglück noch hold begegnet,

Und die letzte Sehnsucht stillt.
[73]

14) von Fr. Adolph Kuhn.


Rundgesang.


Durch Teutschlands Gauen schwebt der Rhein

Wie Teutsche stark und frei.

Durch Felsen drängt sich bald der Fluß,

Bald fliegt er schnell, mit leisem Kuß,

Am Rebenland vorbei.

So war im alten Eichenhain

Der Ahnen gut Geschlecht.

Wie Blitze traf ihr starker Arm;

Sie waren noch für Freiheit warm,

Und stolz auf Menschenrecht.

Ha, Jubel! wann der Haingesang

Aus düstern Harfen scholl;

Wann zu der Enkel schönem Sieg

Der Väter Chor aus Wolken stieg,

Und Tod in Strömen quoll.

Das galt dir, stolzer Römerling!

Der, selbst entnervt und Sklav,

Der Despotieen morsches Band

Um unsre freien Berge wand,

Bis dich der Donner traf!

Da sank dein Zeus, dein Capitol,

Vor Teuto's Heldenchor,

Und unsrer Sprache Kraftgesang,

Gezeugt bei Sturm und Schwerterklang,

Flog Götterfrisch empor.

Ja Dank, ihr Väter, opfern wir,

Jhr nahmt die Freiheit auf,

Als sie von Völkern feiger Art

Zur Bettlerin erniedrigt ward,

Jhr schlugt Despotenlauf!
[74]
Daß nicht im bunten Römerkleid

Der Teutschen Sprache lallt,

Daß sie, von eigner Kraft gehegt,

Noch unsrer Väter Züge trägt,

Noch Teutsch in Liedern hallt;

Daß unsrer Bildung freien Strom

Kein enges Ufer zwängt;

Daß sich ein großer Genius

Mit freier Liebe freiem Gruß

Zu jedem Volke drängt;

Und daß ein gutes Vaterland

Reich, an Heroen reich,

Zur Schande nie dem braven Mann

Nerone sog und sängen kann;

Das dankt der Enkel euch!

Zwar stürzten eure Eichen hin,

Und Wodans Dienst verklang;

Allein das Volk lebt immer noch,

Das, nie gebeugt ins Römer Joch,

Einst Legionen zwang.

Der Freiheit hohes Unterpfand,

Das eure Kraft uns gab,

Das erb' auf unsre Söhne hin,

Und weihe sie für teutschen Sinn,

Und für ein freies Grab!

15) von v. Houwald.


Trinklied bei dem akademischen Erinnerungsfeste
der Niederlausitzer.


Ein Gaudeamus soll uns heut vereinen!

Jhr Juvenes der alten Zeit ─ herbei!
[75]
Doch bei des Festes Freude sollt' ich meinen,

Ständ' auch dem Dichter eine Frage frei?

Chor. Auf alles ist heute die Antwort bereit,

Drum frag' er getrost, wir geben Bescheid!

Bringt ihr zur Lust, die aus dem Becher winket,

Wie sonst, noch einen frohen, freien Geist?

Begreift ihr jetzt, warum man: Schmollis trinket?

Und was das tiefe Wort: Fiducit heißt?

Chor. Ja, Schmollis dem ganzen Menschengeschlecht,

Und dann Fiducit auf Gott und Recht!

Der Arm, der sonst den Hieber rasch geschwungen,

Daß er zum Kampf des Lebens sich gestählt,

Hat er auch nun den rechten Kampf gerungen?

Und ernst vertheidigt, was er treu gewählt?

Chor. Wohl hat er gestritten mit Feder und Schwert,

Und segnend und strafend die Kraft bewährt.

Das Burschenherz, im Lieben und im Hoffen,

Bei Mangel selbst, so überselig doch,

Blieb, arm und reich, es immer treu und offen?

Glaubt es an Liebe und an Freundschaft noch?

Chor. Wir fanden die Liebe, wir fanden den Freund,

Wir haben nicht einsam gelacht und geweint.

Wohlan! so lebe denn im Saft der Reben,

Wer die Dogmatik sich im Herzen fand!

Wer Exegese aus Natur und Leben,

Und Homiletik lernt' im Ehestand!

Chor: Ja wer die Menschen zu Menschen erzog,

Wer lehret und tröstet, der lebe hoch!

Es lebe, wer begriffen Kant und Fichte,

Und wessen Herz Jacobi warm gehaucht;

Wer bei dem Aufblick zu der Wahrheit Lichte

Nicht schwarzgefärbte Augengläser braucht.
[76]
Chor. Es lebe, wer ahnet im stillen Gemüth,

Was kein Verstand der Verständigen sieht.

Es lebe, wer da richtet ohne Binde,

Wer Stadt und Land nur nach dem Landrecht mißt,

Wer allerwegen, wo man auch ihn finde,

Ganz durch und durch im Corpus juris ist.

Chor. Es lebe, wer, muthig aufs jus gestützt,

Das Laster bestrafet, die Unschuld beschützt.

Es lebe, wer des Seyns geheimes Walten

Und seiner Pulse stilles Wort vernimmt,

Wer kühn mit Zaubertränkchen weiß zu schalten,

Damit das Lebensflämmchen weiter glimmt.

Chor. Es lebe, wer Leben erquickt und erhält,

Und rastlos dem Tode entgegen sich stellt!

Es lebe, wer, noch eingedenk der Musen,

Für's Vaterland den Degen muthig schwingt.

Es lebe, wer, Natur an deinem Busen,

Sein friedliches: beatus ille singt!

Chor. Es lebe, wer nützt! das sey uns genug!

Mit Wort und mit Feder, mit Schwert und

mit Pflug!

Es lebe alles, was wir einst besessen,

Was uns erfüllt, begeistert und geweckt!

Es lebe, was das Herz nie wird vergessen,

Obgleich es längst ein dunkler Schleier deckt!

Chor. Du holde Erinn'rung der seligen Zeit,

Dir sey ein fröhlicher Becher geweiht!

Und daß wir jene Zeit in Ehren halten,

So bleibe stets der Burschensinn in Kraft!

Ein reines Herz, ein frohes, kräft'ges Walten,

Das sey der Geist der alten Burschenschaft.

Chor. Und Schmollis ihr Brüder, dem Menschengeschlecht!


Und nur Fiducit auf Gott und Recht!
[77]

16) vom Grafen v. Löben (Jsidorus
Orientalis
) († 1825).


Gelegenheitsgedicht*; zur Feier des Tages (6 März
1806), an welchem Professor Schröckh seine
akademische Laufbahn vor 50 Jahren antrat.


Die Zeiten lösen, was die Zeiten banden,

Und flüchtig braust die Lebensflut dahin,

Die vollen Segel brechen, Schiffe stranden,

Ein Meer umschließt des Steuernden Gewinn;

Und die aufsteigend schon in Wolken schwanden,

Ergreift der Tod im Flug' und stürzt sie hin.

Wie weit ihr Ruf auch durch die Welt gedrungen,

Bald ist der Tuba stolzer Gruß verklungen!

Doch wer, wenn Wellen sich auf Wellen gießen,

Und rastlos wechselnd sich die Fluten drehn,

Wer bleibt am Strand, zu dem die Strudel fließen,

Jn immer gleicher Ruhe herrlich stehn,

Und hält, die schönsten Perlen zu umschließen,

Aus jenen Fluten, die zur Tiefe gehn,

Die weite Urne still in zarten Händen,

Dem Durst des Wandrers reich aus ihr zu spenden?

Du Muse bist's, Erfahrene vor allen!

Du, der sein Herz der Herrliche geweiht,

Dem heute, froh vereint, die Stimmen schallen,

Dem sich ein schöner Frühlingstag erneut.

Stets wird Sein Nam' in deinem Tempel hallen,
[78]
Sein Ruhm verklärt sich in Unsterblichkeit ─

Und jenen Kranz, mit dem Jhn Götter krönen,

Kann dieser stille Lorbeer nicht verschönen!

Doch magst Du nicht Dein Ohr dem Dank versagen,

Den Dir die Jugend, greiser Priester, bringt!

Und wenn die Lippen keinen Honig tragen,

Und wenn zu schwach der Sänger Stimme singt;

So mag der Glaub' an unser Herz Dir sagen,

Was zu verschweigen uns die Sprache zwingt,

Und fühl's, wie süß es sey, den Mann zu grüßen,

Jn dessen Brust sich Güt' und Weisheit küssen!

Weit war die Bahn ─ Heil Dir! ─ die Tagesfeier

Des Halbjahrhunderts, wonnebringend, bricht

Wie Abendroth vor aus der Zeiten Schleier,

Bis hieher führt' und weiter führt die Pflicht!

Und schön, wie Deines Lebens Morgenfeier

Sey dieser Abendröthe sanftes Licht,

Und der vergangnen Zeiten goldne Blüthe

Sie lächle dir im innersten Gemüthe.

Erhebend ist's, auf jener Bahn zu gehen,

Wo Luther fest, wo still Melanthon stand,

Die an der Wahrheit reinen Sonnenhöhen

Die Fackel ihres Glaubens angebrannt;

Erhebend, an dem heil'gen Quell zu stehen,

Dem sich der segensreiche Quell entwand:

Und was ihr Muth gepflanzt in jenen Stunden,

Hast Du um ihren Sarkophag gewunden!

Magst Du, auf dem der Beste der Monarchen

Noch jüngst mit kaiserlicher Huld* geruht,
[79]
Wie die Erwählten einst auf sichern Archen,

Noch lange steuern auf der Lebensflut:

Denn, wie die Schaar sich drängt zum Patriarchen,

Sucht Dich der Blick, das Herz in frommer Glut.

Mag sich der Himmel unserm Flehen neigen!

Doch, ─ wo das Herz spricht, muß die Lippe schweigen.

17.
b) Die Ode.


So wie beim Liede, so ist auch bei der Ode
ein aufgeregtes und zum deutlichen Bewußtseyn erhobenes
individuelles Gefühl der Stoff des Gedichts.
Allein die Bewegung und Erschütterung des Gefühlsvermögens
durch dieses zum Bewußtseyn gebrachte
Gefühl ist schon an sich, wegen der Stärke und
Erhabenheit des der Ode zum Grunde liegenden
Gefühls, mächtiger, als beim Liede, weshalb auch
die idealische Form, unter welcher die Einbildungskraft
diesen Stoff als vollendete Einheit darstellt,
einen höhern dichterischen Charakter ankündigt, als
das Lied. Dazu kommt, daß, zugleich mit dem
Bewußtwerden dieses idealischen, im Gefühle
sich ankündigenden Gegenstandes, der unermeßliche
Abstand des Endlichen von demselben im
Gefühlsvermögen wahrgenommen wird und mit derselben
Stärke zum Bewußtseyn gelangt, so daß
zwei einander entgegengesetzte Gegenstände, das Unendliche
und das Endliche, unter irgend einem bestimmten
Stoffe gedacht, im Gefühlsvermögen die
zwei einander entgegengesetzten Gefühle der Lust* [80]
und der Unlust bewirken, die beide die Einbildungskraft
des Dichters so mächtig ergreifen, daß
sie beide, nach ihrem im Gefühle wahrgenommenen
Gegensatze, in den Ton und die Farbengebung des
Gedichts übergehen. Denn je stärker der Dichter
von dem im Gefühle geahneten Unendlichen ergriffen
und zur höchsten Versinnlichung dieses in der Wirklichkeit
Unerreichbaren innerhalb der idealischen Form
des Gedichts fortgerissen wird; desto mächtiger kündigt
sich, in derselben Form der Darstellung, zugleich
auch der im Bewußtseyn wahrgenommene
Abstand des Endlichen vom Unendlichen und die gefühlte
Unmöglichkeit an, den idealisch gedachten Gegenstand
in der äußern freien Thätigkeit zu verwirklichen.
Das im Jdeale wahrgenommene Unendliche
kann aber nur mit einem Gefühle der Lust
vergesellschaftet seyn, so wie die im Bewußtseyn sich
ankündigenden Schranken der Endlichkeit von einem
Gefühle der Unlust begleitet sind. Die hohe Begeisterung
nun, wo der Dichter seine endliche
Kraft an die Unendlichkeit des ihm im Jdeale vorschwebenden
Gegenstandes hält, und, von dessen Erhabenheit
durchdrungen, das Unvermögen der endlichen
Kraft fühlt, jenen idealisirten Gegenstand zu
erreichen oder zu verwirklichen, denselben aber im
höchsten Schwunge der Begeisterung durch Sprache
darzustellen und zu versinnlichen sucht, bewirkt die
Entstehung der Ode. Sie ist daher der Ausdruck
der höchsten dichterischen Bewegung eines endlichen
Geistes, und Hymne, Dithyrambe, so wie in einzelnen
Schilderungen die epische und didactische
Dichtkunst, können nur insofern der Ode sich nähern,
inwiefern sie gleichfalls den Abstand des Endlichen
vom Unendlichen versinnlichen.

[81]

Die Ode unterscheidet sich also, nach dieser
Ansicht, dadurch wesentlich von dem Stoffe und
dem Tone des Liedes, daß ihr ein gemischtes Gefühl
der Lust und der Unlust zum Grunde liegt;
das Gefühl der Lust, aufgeregt durch die Unendlichkeit
des Gegenstandes und durch das Wohlgefallen
an dem Schwunge der Einbildungskraft und des
Gefühls, das Jdeal in der dichterischen Darstellung
zu verwirklichen; das Gefühl der Unlust,
veranlaßt durch die Unmöglichkeit, das Jdeal in
der Wirklichkeit
zu erstreben; doch so, daß bei
dem Uebergewichte des Unendlichen über das Endliche
im Gefühle, und bei der Wahrnehmung der
vollendeten Versinnlichung des Jdealischen vermittelst
der Darstellung, das Gefühl der Lust zuletzt das
Gefühl der Unlust überwiegt, weil, durch den aufgeregten
Schwung des Gefühlsvermögens und der
Einbildungskraft der Gegensatz des Endlichen zu
dem Unendlichen geschwächt und gleichsam verdunkelt,
und das Bewußtseyn ausgefüllt wird von dem
Entzücken über die Verwirklichung des Jdeals in
der dichterischen Darstellung. Ueber der ästhetischen
Haltung und Durchführung der Ode vergißt der
menschliche Geist die Endlichkeit und Beschränktheit
seines Willens in der Erstrebung eines unendlichen
Ziels, weil das Gefühlsvermögen und die Einbildungskraft
von der Unendlichkeit des idealischen Gegenstandes
ergriffen werden. Dieses Gefühl des
Unendlichen, und dieser Wiederschein des Jdealischen
ist es daher, was als Sieg des Gefühls der Lust
über das Gefühl der Unlust in jeder vollendeten
Ode, die dieses Namens würdig ist, sich ankündigt.
Weil aber in dem großen Augenblicke der wahren
dichterischen Begeisterung der idealische Gegenstand, [82]
der dem Dichter vorschwebt, weder logisch zergliedert,
noch metaphysisch durchgeführt, sondern nur unter
starken, ergreifenden Zügen geschildert, und das
dem innern Sinne vorschwebende Bild in eine äußere
Darstellung ─ in das dichterische Ganze einer Ode
─ verwandelt werden kann; so geht, schon aus
dieser ästhetischen Bestimmung der Ode, ihre wesentliche
Verschiedenheit von der philosophischen Behandlung
desselben Gegenstandes hervor, der in der Metaphysik
der Vernunft, in der Dichtkunst aber dem
Gefühlsvermögen und der Einbildungskraft dargeboten
wird.


Da der Charakter der Ode aus der innern
hohen Bewegung des Gefühlsvermögens und aus
der Versinnlichung des Gegensatzes des Endlichen
mit dem im Jdeale dargestellten Unendlichen entspringt;
so ist es vergeblich, eine nähere Classification
der vorhandenen Oden zu versuchen, und namentlich
sie, mit einigen Theoretikern, in philosophische
und heroische Oden einzutheilen, wenn
gleich damit keineswegs abgeläugnet wird, daß eben
so die höchsten Jdeen der übersinnlichen Welt ─
Freiheit, Tugend, Unsterblichkeit, Gottheit, ─ wie
die idealisirte Tapferkeit und die dem edlern Menschen
möglichen Opfer der Entsagung und Aufopferung,
als angemessene Gegenstände von dem Odendichter
behandelt und unter einer vollendeten ästhetischen
Einheit dargestellt werden können.


Viele der in der Philosophie der Sprache aufgestellten
untergeordneten Eigenschaften der Schönheit
der Form (Th. 1. S. 280): die freieste Versinnlichung
des Stoffes, die Mannigfaltigkeit, die
ästhetische Einheit, die Schattirung, die Vertheilung
von Licht und Schatten, das Neue, die Kraft, das [83]
Kühne, das Edle, Würdevolle und Große, besonders
aber das Erhabene und Feierliche, gehören unmittelbar
in den Umkreis der Ode, wenn sie eine
hohe Wirkung auf Gefühlsvermögen und Einbildungskraft
hervorbringen soll; doch wird das Unerwartete,
das Pathetische, das Feierliche, selbst das
Wunderbare nicht ganz von ihr ausgeschlossen.


Wenn übrigens die Ode, in Hinsicht der übrigen
Formen der lyrischen Dichtkunst, von dem Liede
durch Stoff und Stärke des Tones, und besonders
durch das in ihr ausgedrückte gemischte Gefühl
der Lust und Unlust sich unterscheidet; so hat sie
zwar mit der Elegie diese Darstellung der gemischten
Gefühle gemein, erhebt sich aber durch die höhere
Stärke und Kraft des Ausdruckes über dieselbe.
Von der Hymne, mit der sie am nächsten verwandt
und die, streng genommen, nur eine Untergattung
der Ode ist, unterscheidet sie sich dadurch, daß die
Ode jeden als unendlich gedachten Gegenstand versinnlichen
kann, der Gegenstand der Hymne aber
ein als göttlich dargestelltes Wesen ist. Denn wenn
einige Theoretiker der Hymne, im Gegensatze der Ode,
einen stärkern lyrischen Ausdruck beilegen wollen;
so widerstreitet die Praxis dieser Lehre, weil es
Oden giebt, welche viele Hymnen an Kraft des
dichterischen Tones übertreffen, während allerdings
auch Hymnen vorhanden sind, die im höhern lyrischen
Ergusse dahin rauschen, als mehrere Oden.
Nur selten wird, bei Ode, Hymne und Dithyrambe,
die Stärke und Fülle des dichterischen Tones
von dem gewählten Stoffe, in den meisten Fällen
von der Judividualität und dem innern Feuer des
Gefühlsvermögens und der Einbildungskraft des
Dichters abhängen.

[84]

Tragen wir dies über auf die teutsche Sprache;
so giebt es, den Ueberschriften nach, bereits Oden
unter den dichterischen Erzeugnissen mehrerer Dichter
des siebenzehnten Jahrhunderts; denn Opitz, Flemming,
Tscherning, Günther
u. a. haben einzelne
Gedichte mit diesem Namen belegt. Allein
halten wir den innern ästhetischen Charakter dieser
ältern sogenannten Oden an den aufgestellten Maasstab;
so hat die teutsche Literatur vor Albrecht v.
Haller keinen eigentlichen Odendichter. Desto reicher
ist aber ihre Zahl seit J. Andr. Cramer,
Klopstock,
v. Cronegk, v. Gerstenberg u. a.
diese dichterische Form anbauten. ─ Der wesentliche
Grund, daß bei den ältern teutschen Dichtern
keine Oden in dem Sinne der Classiker späterer Zeit
getroffen werden, liegt darin, daß keine Sprache
gediegene Oden- und Hymnen-Dichter aufstellen kann,
bevor nicht die Philosophie, und namentlich die
Metaphysik, bei dem Volke, das diese Sprache
spricht, bedeutende Fortschritte gemacht hat. Denn
erst wenn der philosophische Geist in das Gebiet der
übersinnlichen Welt einzudringen, und über die höchsten
Jdeen der Vernunft ─ über Daseyn überhaupt,
über Seele, Welt und Gott, und über alles,
was mit diesen Jdeen zusammenhängt ─ sich zu
verständigen gesucht hat, wie es bei den Teutschen
in der Zeit der weitern Verbreitung der Leibnitz-
Wolfischen
Philosophie der Fall war; erst dann
kann auch von dieser höhern und lebendigern philosophischen
Forschung eine freiere Beziehung auf die
Behandlung idealischer Stoffe von den Dichtern
und auf die kräftigere Farbengebung derselben in
der Ode und Hymne übergehen. Daß dem so sey,
erhellt sogar geschichtlich daraus, daß nur diejenigen [85]
Völker, welche Philosophen im höhern Sinne des
Wortes hatten, wie Griechen, Teutsche und Britten,
reich im Anbaue des Gebietes der Ode sind,
während andere Völker, ohne eigentliche Metaphysiker
unter ihren Philosophen, mehr den Anbau der
leichtern und gefälligern dichterischen Formen, als
der Ode und der Hymne, in dem Umfange ihrer dichterischen
Literatur besitzen.

18.
Beispiele von Oden.


1) von Paul Flemming*
(† 1640).


Tugend ist mein Leben,

Der hab' ich mich ergeben,

Den ganzen mich.

Tugend will ich ehren,

Tugend wird mich lehren,

Was sie selbst kann mehren,

Sie wächst durch sich.
[86]
Nicht des Weges Länge,

Noch des Pfades Enge

Schreckt mich davon.

Laß dich Dornen stechen,

Füß' und Kleider brechen,

Sie wird alles rechnen

Durch ihren Lohn.

Alles andre alles

Hat die Art des Balles,

Der steigt und fällt.

Schätze haben Flügel,

Ehre läßt den Zügel,

Lust kommt aus dem Bügel.

Die Tugend hält.

Hab' ich Gott und Tugend;

So hat meine Jugend,

Was sie macht werth.

Die schönen Beide

Wehren allem Leide,

Lieben alle Freude,

So man begehrt.

2) von Klopstock († 1803).


Dem Erlöser.


Der Seraph stammelt, und die Unendlichkeit

Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach

Dein hohes Lob, o Sohn! wer bin ich,

Daß ich mich auch in die Jubel dränge?

Vom Staube Staub! Doch wohnt ein Unsterblicher

Von hoher Abkunft in den Verwesungen!

Und denkt Gedanken, daß Entzückung

Durch die erschütterte Nerve schauert.
[87]
Auch du wirst einmal mehr wie Verwesung seyn,

Der Seele Schatten, Hütte, von Erd' erbaut,

Und andrer Schauer Trunkenheiten

Werden dich dort, wo du schlummerst, wecken.

Der Leben Schauplatz, Feld, wo wir schlummerten,

Wo Adams Enkel wird, was sein Vater war,

Als er sich jetzt der Schöpfung Armen

Jauchzend entriß, und ein Leben dastand!

O Feld vom Aufgang bis, wo sie untergeht

Der Sonnen letzte, heiliger Todten voll,

Wann seh ich dich? wann weint mein Auge

Unter den tausendmal tausend Thränen?

Des Schlafes Stunden, oder Jahrhunderte,

Fließt schnell vorüber, fließt, daß ich aufersteh!

Allein sie säumen, und ich bin noch

Diesseits am Grabe! O helle Stunde,

Der Ruh Gespielin, Stunde des Todes, komm!

O du Gefilde, wo der Unsterblichkeit

Dies Leben reift, noch nie besuchter

Acker für ewige Saat, wo bist du?

Laß mich dort hingehn, daß ich die Stätte seh!

Mit hingesenktem trunkenen Blick sie seh!

Der Ernte Blumen drüber streue,

Unter die Blumen mich leg', und sterbe.

Wunsch großer Aussicht, aber nur Glücklichen,

Wenn du die süße Stunde der Seligkeit,

Da wir dich wünschen, kämst; wer gliche

Dem, der alsdann mit dem Tode ränge?

Dann mischt' ich kühner unter den Throngesang

Des Menschen Stimme, sänge dann heiliger

Den meine Seele liebt! den Besten

Aller gebohrnen, den Sohn des Vaters!
[88]
Doch laß mich leben, daß am erreichten Ziel

Jch sterbe! Daß erst, wenn es gesungen ist

Das Lied von dir, ich triumphirend

Ueber das Grab den erhabnen Weg geh!

O du mein Meister, der du gewaltiger

Die Gottheit lehrtest! zeige die Wege mir,

Die du da gingst! worauf die Seher,

Deine Verkündiger, Wonne sangen.

Dort ist es himmlisch! Ach, aus der Ferne Nacht,

Folg' ich der Spur nach, welche du wandeltest:

Doch fällt von deiner Stralenhöhe

Schimmer herab, und mein Auge sieht ihn.

Dann hebt mein Geist sich, dürstet nach Ewigkeit,

Nicht jener kurzen, die auf der Erde bleibt;

Nach Palmen ringt er, die im Himmel

Für der Unsterblichen Rechte sprossen.

Zeig mir die Laufbahn, wo an dem fernen Ziel

Die Palme wehet! Meinem erhabensten

Gedanken lehr' ihn Hoheit! führ' ihm

Wahrheiten zu, die es ewig bleiben!

Daß ich den Nachhall derer, die's ewig sind,

Den Menschen singe! daß mein geweihter Arm

Vom Altar Gottes Flammen nehme!

Flammen ins Herz der Erlösten ströme!

2) von v. Gerstenberg († 1823).


Unsterblichkeit.


Er sprachs! und hervor aus der Tief' und der Nacht

Entsprangen die Ordnungen alle,

Vom Wurme des Sumpfs bis zum ersten Aeon,

Vom Staube der Luft bis zur Sonne.
[89]
Unendlichkeit schied

Von Raum sich und Zeit,

Und von der Verwesung das Leben.

O du, die sich in mir ein Leben begreift,

Und staunt, daß sie ist, und sich ahnet;

Du ahnest Unsterblichkeit, Seele! Dein Traum

Jst Lispel geheimen Erwachens.

Nicht wirst du, mein Geist,

Ein Hauch, der verweht,

Deß leb' ich und sterb' ich, verwehen!

Wann Erden zertrümmern und Sonnen verglühn,

Und Staub sich versammelt zum Staube,

Unsterbliche! schwingst du dich über das Grab!

Was Nacht war, wird Tag und Erwachen!

Was Nacht war, wird Tag!

Dem Schlummer vermählt

Sich Nacht, das Erwachen dem Tage.

Sieh auf! es entschwebet der Wagen des Lichts,

Mit seinen geflügelten Rossen,

Dem spähenden Blick ins Verborgene hinab,

Von Wogen der Meere verschlungen:

Am Morgen der Nacht

Steigt purpurner auf

Zur Feste die Fürstin des Tages.

4) von v. Gerstenberg.


Schlachtgesang.


Feuerbraunes Angesichts,

Jhr Auge blutroth, starr ihr Blick,

So tanzen sie zum Todesreihn,

Zum Todesreihn, zum Rabenmahl,

Die Donnergötter, rasch dahin.
[90]
Die Sonne steigt, und stiller wirds im Thal,

Und Geisterschatten lispeln durch die Luft.

Gegenüber tritt hervor

Aus Wald und Felsenkluft der Feind,

Hervor mit hohem Opferspiel,

Zum Todesreihn, zum Rabenmahl,

Hervor das Opfer, Mann und Roß.

Die Sonne steigt, und stiller wirds im Thal,

Und Geisterschatten lispeln durch die Luft.

Brüllend wälzet sich die Schlacht,

Von Heer zu Heer die Hyder fort.

Und vom Gebrüll ertönt der Hain,

Und der zerrißne Himmel tönt;

Und Raben schweben näher her.

Die Sonne steigt, und stiller wirds im Thal,

Und Geisterschatten lispeln durch die Luft.

Rosse brausen dumpf im Blut,

Und ihre Reiter weinen laut,

Ha! die zu Roß und die zu Fuß,

Hinsturz! Verzweiflung! Wuthgeheul!

Ha! Todesschaur ergreifen sie!

Die Sonne sinkt, und stiller wirds im Thal,

Und Geisterschatten lispeln durch die Luft.

Auf Leichen und auf Sterbenden,

Zerrißnen Gliedern seines Rumpfs,

Schwankt noch einmal der Feind daher;

Umsonst! umsonst! der Donner brüllt,

Umsonst! umsonst! der Rabe schwebt.

Die Sonne sinkt, und stiller wirds im Thal,

Und Geisterschatten lispeln durch die Luft.

Schleunig hebt er seine Schenkel,

Bluttriefend flieht er durchs Gefilde,
[91]
Brüllt aus sein Leben aus der Wunde;

Und Donner rollen hinter ihm,

Und fernher tönt das Opferspiel.

Der Mond steigt auf, und Stille herrscht durchs Thal,

Und Raben lagern sich aufs Leichenfeld.

5) von Eulogius Schneider († 1793).


Ode auf Friedrichs (2) Tod.


Ein Denkmal dir, vergötterter Friedrich!

Unaufgefordert bau' ichs, und unbezahlt.

Die Nachwelt seh' es einst, und spreche:

Friedrichs Denkmal von Priesterhänden!

O, daß es würdig werde des Einzigen!

O, wie es tobt das Meer von Empfindungen

Jn diesem Busen! wie vor meinen

Augen der Riese der Menschheit dasteht!

Jhn schildern will ich. Sterbliche, seht Jhn,

Nicht eingehüllt in flimmernden Dichterschmuck!

Jn seiner Größe, wie er dasteht,

Will ich den Riesen der Menschheit schildern.

Jn seiner Rechten blinket das Siegesschwert;

Die Wage unentweihter Gerechtigkeit

Hängt von der Linken; dies dem Schutze,

Diese der Ruhe der Brennen heilig.

Die Fürstenhüfte zieret, vom Hofgeschmack

Nie aufgelöst, der Gürtel der Mäßigkeit;

Sein Schwert ist der Aberglaube

Und der zertretene Fanatismus.

Wer bebte nicht vor Friedrichs Thatenfaust?

Wer zählte die Trophäen, auf Galliens

Zermalmten Uebermuth gepflanzet,

Prangend auf modernden Sklavenknochen?
[92]
Dort stehn sie am Ufer der Moldau, einst

Gestemmt mit Oestreichs Leichen, bei Lissa dort,

Und dort bei Mollwitz, Roßbach, Breslau

Und auf den Felsen zerstörter Festen.

Groß sind des Riesen Thaten! Mit Russenblut,

Mit Franzenblut, mit Schweden- und Ungarnblut,

Und, ach, mit teutschem aufgezeichnet,

Stehn sie flammend im Buch der Zeiten.

Doch ─ war er Held nur? war er nicht Menschenfreund?

Nicht Vater seiner Tausende? Strömte nicht,

Nachdem er ausgedonnert, Segen

Auf die Gefilde geschützter Brennen?

Sie aßen Brod, und hörten von ferne nur

Des Hungers Brüllen, der Alemanniens

Verdorrten Winzer, und nach Kalchmehl

Lüsternen Pflüger begierig auffraß.

Jn Friedrichs Arme flüchtete sich, verbannt

Von heilig frommen Ländern, die Jndustrie,

Des Reichthums Mutter. Auf Morästen

Säet der Landmann, und Heerden blöken

Auf dürren Haiden. Griechischer Kunstgeschmack

Beseelt den Preußen. Seinen Anakreon

Und seinen Pindar hört Apollo

Staunend in nordischen Wäldern singen.

Aus tausend Quellen strudelt Friedrichs Gold;

Jn tausend Flüssen strömt es ihm wieder zu.

So rollet von und zu dem Herzen

Ab, und zurück, der Saft des Lebens.

Verkriechet euch, Despoten! Was schauet ihr

Jhm ins Gesicht? Er tränkte den Schmeichler nicht

Mit Waisenblut, und feile Dirnen

Mästet' er nicht mit dem Mark des Bürgers.
[93]
Jn seinem Kerker faulte der Denker nicht;

Sein Censor fraß nicht, gleich dem Getreidewurm,

Der Schriften Kern aus, daß die Hülsen

Schmachtenden Lesern den Gaumen ritzten.

Sein Glaube war nicht künstliches Wortgeweb',

Nach keines Wurmes dreistem System geformt,

Nicht millionenfach durchflochten,

Einfach, wie Gott und die Wahrheit, war er.

Das Beste thun, war seine Religion;

Sein Opfer rastlos wirkende Thätigkeit;

Die Welt sein Tempel; seine Priester

Herzberg und Carmer, der Brennen Solon.

Sey Mensch, sey Bürger, sprach er, das Jnnere

Des Herzens und der Meinungen richte der,

Zu welchem Moses, Zoroaster,

Christus und Muhamed rufen: „Vater!

Verheerte Friedrichs Jäger die Hoffnungen

Des Landmanns, spottend? War nicht die höchste Lust

Des Weisen, in der dunkeln Vorwelt

Tiefen bei nächtlicher Lampe graben?

Dort fand er dich, allmächtige Herrscherkunst,

Die auf das Wohl des Ganzen ihr eignes baut,

Bedächtlich eilt, und ihre Wunder,

Wie die Natur, in der Stille wirket.

Groß sind die Wunder Friedrichs, groß und viel!

Wer rüttelte Europa ins Gleichgewicht?

Wer sagte zu dem Erstgebohrnen

Preußens: „Du herrschest dereinst am Mönus?“

Wer schlug von deinem Busen, Bavaria,

Des nahen Buhlers nervigen Arm zurück?

Wer schnitt Sarmatien in Stücke?

Deckte die Weichsel mit freien Segeln?
[94]
Nur fehlte die eherne Kette, die

Er schlingen sollte um Alemanniens

Getheilte Herrscher, daß sie schützten

Graue Gesetze, den Bojerzepter

Bewahrten den Absprößlingen Wittelsbachs,

Die, unbehaucht vom römischen Cölibat,

Dem Mörder teutscher Fürstenstämme,

Blühen am Ufer des Vaters Rhenus.

Er schlang die Kette um Almanniens

Getheilte Herrscher. Als es Allvater sah,

Da sprach er aus: „Sie sind vollendet

Friedrichs Thaten, sie sind vollendet.“

Jetzt eilt der Engel Erster zu Friederich,

Und bringt ihm die Botschaft: „Allvater sprach:

Sie sind vollendet, deine Thaten,

Friedrich Brennus, sie sind vollendet!“

„Komm, wirk' in jenen höhern Gegenden,

Nicht mehr gehüllt ins hindernde Erdgewand,

Nicht mehr bestritten von der Dummheit,

Trotzend dem Gifthauch des blassen Neides!“

Dem Engel folgte Friederich, unverrückt

Die Miene, seines innern Gehalts gewiß,

Entschlossen, ewig fortzuwirken,

Ewig zu streben nach Thatengröße.

Jetzt kam er an. Sein harreten am Jaspisthor

Der graue Ziethen, und der getreue Keith

(Unsterblicher, als er hienieden

Hätte vermuthet), Schwerin und Bevern.

Jhm glänzt der Schwester Friederichs Sohn und Stolz,

Der Held der Liebe, Guelfiens Leopold

Entgegen; laut ertönt die Harfe

Kleistens, des Barden mit hundert Narben.
[95]
Ein Chor verklärter Weisen, von Sokrates

Herab bis zum tiefblickenden Mendelssohn,

Umringet ihn; halblächend reicht ihm

Wilhelm, der Strenge, die Vaterrechte.

So ziehen sie zum Throne Allvaters hin.

Allvater krönet Friedrichs Haupt, und spricht:

„Wirk' ewig! Bald bist Du den Göttern,

Was Du den Söhnen der Erde warest!“

6) vom Kanzler Niemeyer.


Der Sternenhimmel.


Wie gesät sind Tausendmaltausend ins Unermeßliche,

Sonnen und Erden! Gott! Gott! wie herrlich!

Steig' ich hinauf bis zu der Welten letzten,

Dennoch erreicht' ich dich nicht! der Staub den

Unendlichen!

Welches Jauchzen, welcher Triumph schallt, welches Thränengebet


Dir aus den Welten! Hoch tönt's, wo Pole

Schneller sich drehn, sanft, wo der Lüfte Säuseln

Kühlungen weht und der Quell! ─ Wird mit

Entzückungen

Einst vernehmen, staunend mein Ohr, Jubel der Himmlischen?


Werd' ich euch kennen, Mitanbeter, euch?

Wallen zu euch sterblich nicht mehr? Feiern

Dort auf dem Siebengestirn, im Sirius, unter der

Goldnen Aehre Feste der Seligen, werdet, Himmlische,

Unter die Lauben, die aus Himmels Sproß

Dort die Natur, ewig zu blühn, um euch schuf,

Jhr mich begleiten? Komm' ich mit den Geliebteren,

[96]
Dir kein Tod mehr dann mir entreißet, hinauf, wo

lächelnde

Himmelsbewohner mit uns zum Pfalme

Singen dem Herrn, welcher den Staub zum Leben

Schuf, das am Grabe nicht endet, ihn zur Unsterblichkeit.


7) von Heydenreich († 1801)


Der erste Mai.


Willkommen, Erstgebohrner des schönen Mais!

Tag heil'ger Wonne! werth, daß der edelste

Der Weine fließe, und des Liebreiz

Göttinnen scherzend im Chortanz schweben!

Sey mir willkommen, Liebling und Stolz des Jahrs!

Willkommen, die du wieder erwachend jetzt

Uns lächelst, holde Lebensblüthe

Unsrer zum Alter schon flieh'nden Erde!

Einst, da des ersten Frühlings milder Geist

Die neugebohrne schmeichelnd umsäuselte,

Und jugendlich im heii'gen Strale

Goldner Jahrhunderte sie sich wiegte;

Da schwebte dieser freundliche Frühlingswind

Mit nimmer müden Fittigen um die Flur,

Und ohne Saat und Menschenpflege

Glänzten die Felder von reichen Früchten.

So fanft durchwehn die Jnseln der Seligen

Wohlthät'ge Lüfte, wehn und verwehen nie;

So wallen ewig laue Weste

Jn der Unsterblichen heil'gen Fluren.

So säuselts durch den dämmernden stillen Hain

Der stummen Schatten, lispelt mit Zauberhall
[97]
Um der Vergessung holde Quelle,

Spielt in der Trauerzipressen Zweigen.

Und wann einst Gott mit heiliger Flammenglut

Die Erde läutert, und die Jahrhunderte

Des goldnen Friedens und der Unschuld,

Jugendlich prangend, ihr wiederkehren;

Dann wallet, ahn' ich, eben der sanfte Geist

Um die verjüngte, wallt und verwallet nie,

Und unsrer Seelen Aetherhüllen

Laben des ewgen Frühlings Lüfte.

O sey gegrüßt mir, Erster des schönen Mais!

Tag hoher Ahnung! Sey mir gegrüßt, du Bild

Des Jugendlebens unsrer Erde,

Und der verjüngenden heiligen Zukunft!

8) von v. Herder († 1803).


Die Tonkunst. (abgekürzt)


Die du droben den Reihn der Sterne

Und der Unsterblichen führst,

Jn ewig jungem, schwebendem Jubeltanz,

Nah und näher hinan des Allvollkommnen Thron,

Und tief hienieden im Erdenthal,

Unter des Himmels heiligem Blau,

Jn leisen Tönen, im verlornen Laut

Der Ahnung, unser Herz

Jn die Chöre der Himmel erhebst:

Ewige Harmonie!

Kling' ein in meine Saiten!

Heilige Harmonie!

Kling' ein in meine Seele!

Sie fühlt dich; sie will, sie wird dich fühlen!
[98]
Des Wohllauts ew'ge Kette zieht

Auch meinen Geist. Es wallt mein Herz

Jm Strome der Melodie zum hallenden Ocean

Der Allvollkommenheit.

Wach auf in mir, du leiser Himmelston,

Der meine Seele ward.

Aus keiner Engelsharf' entquollest du. Dich hauchte

Der Ewige selbst mir ein.

Du bist mir Ewigkeit,

Bist Gottesgefühl in mir, der unendlichen Harmonie

Vorahnende Verkünderin.

Wann einst mein Geist

Vom Erdenstaube sich hebt empor,

Und seiner Fesseln sanft sich windet los;

Zu Hülfe komm' ihm dann, du heil'ger Strom,

Von Tönen andrer Welt,

Umström' ihn ganz, und trag' ihn sanft hinüber!

Des Himmels Gabe bist du uns,

O Tonkunst! bist ein Tropfen

Von jenem hellen melodischen Wollustmeer,

Jn dem das Weltall schwimmt,

Ein Meer von Zahl und Maas und Lieb' und Tanz

und Leben!

Wann in des Lebens Labyrinth,

Jm dunkeln Hain der bangen Mitternacht,

Umringt von Thiergeheul und Höllenstimmen,

Mein Herz erbebt,

Und über sich verzagt,

Und nirgends Ausgang findet:

Des Himmels Tochter, süße Zauberin,

Nicht mit Sirenen=, nicht mit Feenklang

Erscheine mir; ein Lied der Andacht flöße

Mir Ruh' ins Herz.
[99]
Wie wird mir? Hör' ich nicht

Jhr Kommen? Fühl' ich nicht

Jhr sanftes Schweben wie im Mondesstral?

Sie spricht mir zu; ein Engel spricht zu mir,

Ein Himmelswesen, das unmittelbar

Mein Herz berührt, die weinende

Gerührte Laute, und den Klageton

Schnell in Triumph verwandelt.

„Verlassener, was zagest du,

Jn trüber Einsamkeit?

Gott, der den Gang der Sterne kennt,

Kennt auch der Menschen Herz.

Er giebt dem Schiffe seinen Weg,

Den Winden ihre Bahn;

Er wird auch dir im Weltenmeer

Des Lebens Weg verleihn.

Was zagest du? Der Erde Noth

Geht wie ein Traum vorbei,

Und was dir heute Mißlaut dünkt,

Jst morgen Harmonie.“

„Schau gen Himmel, und sieh! Am hohen Tempelgewölbe


Funkeln Sterne, da glänzt Gottes unsterbliche Schrift.

Kann dein Auge sie zählen? dein Ohr die Stimme vernehmen,


Die des Erschaffenden Ohr ewig und ewig vernimmt?

So tönt alles um dich! Ein Stral der Sonne erklingt dir

Sieben Töne des Lichts, golden und heilig im Klang.

Allenthalben strömet dir zu das große Geheimniß

Deiner Vollendung; du lernst ewig und ewig daran.

Maas, Bewegung und Zahl im Kampf der liebenden

Eintracht

Spricht in Tönen dir zu: Eines in Allem ist Gott!“
[100]
O Harmonie, ich flehe dir,

Du Seele meiner Seele! Rufe mir,

Aus jedem Wesen rufe

Den reinen Ton hervor, zu dem es klingt.

O Führerin durchs Leben! Freundschaft ist

Der Seelen Einklang. Lieb' und Güte sind

Der süße Wohlklang, der in Allem tönt;

Der immer reiner, immer höher steigt.

Wohin? wohin? zu welcher Symphonie

Der Symphonieen?

9) von v. Sonnenberg († 1806).


Die Phantasie. (abgekürzt)


Phantasie, schöner Traum der ersten Unschuld

Unterm Baume des Lebens, der in Eden

Mit des Wipfels Säuseln in mondheller

Lenznacht herabsank!

Und nun eröffnest du den großen Tempel

Der Natur; an der Sonnen Feu'rgestaden

Hallt dein Flug; verweht in den Sternenwelten,

Welche dort glänzen!

Träumest an Edens stillen Blumenhügeln

Nicht blos, hörest in tiefer, blauer Ferne

Auch den ernsten Baum der Erkenntniß fei'rlich

Rauschen im Winde!

Phantasie, ja dich schuf in ihrer schönsten

Stunde fröhlich die Gottheit, die Natur wand

Einen Regenbogen zum Kranze dir aus

Blüthengelock her;

Gab dir der Schönheit reine Schwanenflügel,

Adlereile dann ihrem Silbersturme,

Kleidete hell dich in der Morgenröthe

Rosengewande!
[101]
Ewige Jugend trankest du, o Göttin,

Aus dem Strome des Lebens, und der Liljen

Silberschnee umglänzte deines Busens

Wallende Reize!

Grazienkönigin! auch über Gräbern

Blühest du; dir dampfet aus den Thälern

Das Gebirg, vom ganzen Altar der Erde

Nebel zum Opfer!

Tief in des Haines dichten Laubgewölben

Wallst du, lächelnd im wilden Sturm des Abends,

Sieh, er bringt nur duftende Blüthenopfer

Hin dir zu Füßen.

Deinen Altären dampft der erste Weihrauch,

Durch die ganze Natur, und ihrer Kinder

Jubelchöre huldigen dir in dem schönen

Frühe- und Spätroth!

Einst, wann du auch im leisen Abendlüftchen,

Unter säuselnder Eichen Schattenkühle,

Mir am mondbeschimmerten Blumenhügel

Rosig erscheinest;

Sollen der Saiten reinste Silbertöne

Mit dem Säuseln der Eichen Dank dir schallen,

Bis ich endlich unter dem Blumengrase

Ruhiger schlummre!

10) von Starke (Hofpred. zu Ballenstedt).


Gefühl und Hoffnung der Menschheit.
(abgekürzt)


Entzücken ström' aus meinem Munde,

Wie Flammen steig' empor mein Lied;

Jch feire meine schönste Stunde

Von süßem Hochgefühl durchglüht.
[102]
Wie friedevoll des Stromes Wellen

Jn Eine Flut zusammenschwellen;

So laßt, im innigsten Verein,

O Menschen, laßt uns Menschen seyn!

Wir theilen auf der Bahn zum Ziele

Des Lebens Schmerz, des Lebens Lust,

Der Menschheit Ernst, der Menschheit Spiele;

Wie meine, hebt sich eure Brust.

O fühlet, wie mein Herz sich reget,

Jch fühle, wie das eure schläget;

Auch euch durchströmet Blut, wie mich,

Und was ihr alle seyd, bin ich.

O kommt, und kniet voll Andacht nieder,

Und betet weinend mit mir an;

Denn wir sind Menschen, wir sind Brüder,

Und wandeln all' auf Einer Bahn.

Der König in des Glanzes Fülle,

Der Bettler in zerrißner Hülle,

Der Mann der Weisheit und des Lichts,

Der Mann im Schweis des Angesichts.

Jch finde mich in Allen wieder;

Verdammet selbst den Bösen nicht,

Wir sind ja Menschen, wir sind Brüder,

Es fehlt dem Armen nur an Licht.

Ach wir sind Menschen; ─ Menschen bleiben!

Was uns umhüllet, mag zerstäuben;

Was in uns Menschheit heißt, besteht,

Wann alles um uns her vergeht.

Und sänk' in Millionen Trümmer

Der Welten Heer, in Nacht ihr Lauf;

Wir gehen neu mit Sternenschimmer

Noch manchen Tag des Daseyns auf!
[103]
Triumph! und jeden Tag verschwindet

Die Thierheit mehr, und mehr entbindet

Das Edle sich, das Zeit und Welt

Hienieden noch gefesselt hält. ─

Mit Beben blickt nach deinen Kämpfen,

Bedrängte Menschheit, wer dich liebt,

Und wendet oft von deinen Krämpfen

Die nassen Augen tiefbetrübt.

So weint ein Weib mit Mutterherzen

Den kranken Sohn und seine Schmerzen,

Und zaget, wenn er stöhnend bebt,

Und wann der Krampf ihn zuckend hebt.

Entsage, Mutter, deinem Leide,

Jetzt ruht dein Sohn in Schlaf gewiegt,

Jndeß sein Geist mit junger Freude

Sich warm um holde Bilder schmiegt;

Genesung und Gedeihn und Leben

Muß ihn im Traume jetzt umschweben,

Er lächelt süß, und horch, er spricht,

Und deutet uns sein Traumgesicht:

Jhm däucht in seinen sel'gen Träumen,

Er wall' im rosenfarbnen Licht

Jm Frühling unter Blütenbäumen,

Durch die des Morgens Röthe bricht.

Wie Blumenduft umweht ihn linde

Der Zephyrathem kühler Winde,

Jndeß sein Haupt an Blüten streift,

Und seine Hand nach Blüten greift.

Er träumt, es hüben Adlerflügel

Jhn in ein jugendliches Chor

Von höhern Wesen über Hügel

Und Hain und Wolken leicht empor. ─
[104]
Entsage, Mutter, deinem Leide,

Dein Liebling träumt von Kraft und Freude;

Sein wonnevolles Traumgesicht

Jst Bürge: du verlierst ihn nicht. ─

Jch hänge trunken an dem Bilde;

Es ist der Menschheit schöner Traum!

Jch weide mich an seiner Milde

Und fasse mein Entzücken kaum.

Noch kämpfet sie, ─ doch, Heil den Kämpfen!

Jm Kriege lernt sie Kriege dämpfen;

Jm Streit mit Dunkel siegt das Licht,

Jm Zwist mit Sinnlichkeit die Pflicht.

Die Menschheit hofft; ─ in süßen Träumen

Empfindet sie sich stark und groß,

Erblicket Blüten in den Keimen

Und Freiheit in des Dranges Schoos.

Entsaget, Brüder, euerm Leide,

Die Menschheit träumt von Kraft und Freude,

Die Menschheit unterlieget nicht;

Das bürget uns ihr Traumgesicht!

Was reget sich in ihrem Sehnen

Nach Wahrheit, Recht und Würdigkeit

Und in dem Flehen heißer Thränen

Nach höherer Vollkommenheit?

Was hebt den Helden, Lehrer, Richter,

Den Philosophen und den Dichter?

Was glüht in jeglichem Gefühl

Und adelt unsrer Künste Spiel?

O das ist Ahnung, leises Wehen

Entzückungsvollen Vorgefühls

Von ihrer Würde höchsten Höhen

Und Schimmer von dem Glanz des Ziels.
[105]
Vor vollem Aufschwung ihrer Flügel

Bedeckt uns zwar des Grabes Hügel;

Doch sehn wir schon, sie strebt hervor,

Sie schwingt sich siegend einst empor!

Auf ihres Tempels Altar glühet

Dann hell der Geistesfreiheit Licht,

Und wer die Flamme lodern siehet,

Erbebt vor ihrem Lodern nicht.

Drum drückt sie nicht voll Jrrsinns nieder!

Der ganze Tempel leuchtet wieder,

Jn welchem Brüder auf den Knien

Von heiligen Gefühlen glühn!

Einst führt in starker, fester Rechte

Vernunft den hohen Herrscherstab;

Dann schwinden jedes Wahnes Nächte

Und alle Fesseln fallen ab.

Wie Harmonie vom schönsten Liede

Beseligt jeden milder Friede,

Ein Friede, den kein Schicksal bricht,

Jhn schützt der Demantschild der Pflicht. ─

Triumph! zum Ziele laßt uns ringen,

Zum Ziel, uns stralet schon sein Glanz,

Und einst verschwindet, was die Schwingen

Der Menschheit jetzt noch hemmet, ganz.

Sie hebt sich dann mit kühnem Flügel

Und segnend über unsre Hügel;

Wir sehn auf lichter Sternenbahn

Sie schön sich unsern Sternen nahn.

O namenloses, süßes Beben!

Wir stammen aus der Menschheit Schoos.

Die Menschheit wird sich höher heben,

So warf der Schöpfer ihr das Loos.
[106]
O Brüder, Brüder, seht sie ringen;

Triumph! sie dehnt, sie hebt die Schwingen;

Wir sehn, auf lichter Sternenbahn,

Sich kühn dereinst den Sternen nahn!

11) von Joh. Heinr. Voß.


Die erneuerte Menschheit.


Stille herrsch', Andacht, und der Seel' Erhebung,

Rings umher! Fern sey, was befleckt von Sünd' ist,

Was dem Staub anhaftet, zu klein der Menschheit

Höherem Aufschwung!

Dem die Weltkreis' all' in den Sonnenhimmeln

Staub sind, dem Weltjahre wie Augenblicke;

Dem, gesammt aufstrebend, der Geister Tiefsinn

Nur Ein Gedank' ist;

Dessen Macht kein Maas der Erschaffnen ausmißt;

Dessen fernhin dämmerndes Licht Begeistrung

Kaum erreicht, hochfliegend: den Geist der Geister!

Betet ihn an! Gott!

Nicht der Lipp' Anbetung ist werth der Gottheit,

Nicht Gepräng' abbüßenden Tempeldienstes,

Nicht Gelübd' und Fasten; nur That geklärter

Menschlichkeit ehrt ihn!

Dich allein, Abglanz von der Gottheit Urlicht,

Menschlichkeit, dich sah der entzückte Denker,

Bebt' in Wollust, rang, wie zur Braut der Jüngling,

Ach! und umschloß dich!

Ob wie todt auch starre der Geist der Menschheit

Durch der Willkühr Zwang und gebotnen Wahnsinn;

Doch erringt siegreich auch der Geist der Menschheit

Neue Belebung.
[107]
Zwar er schlief Jahrhunderte, dumpf in Fesseln,

Todesschlaf, seit himmelempor die Freiheit

Vor den Zwingherrn floh, und des Götzenpriesters

Lauerndem Bannstral.

Luther kam; auf schaudert' im Schlaf der Geist ihm,

Blickt umher, schloß wieder das Aug' in Ohnmacht,

Und vernahm leis' ahnend den Laut aus Trümmern

Attischer Weisheit.

Bald, wie Glut fortglimmt in der Asch', am Windhauch

Fünkchen hellt, roth wird, und in Feuerflammen

Licht und Wärm' ausgießt; so erhob der Menschheit

Schlummernder Geist sich,

Lebensfroh! Hin sank die verjährte Fessel,

Sank der Bannaltar, und die Burg des Zwingherrn;

Rege Kraft, Schönheit, und des Volks Gemeinsinn

Blühten mit Heil auf!

12) von einem Ungenannten.


(aus dem Merkur, von Philippi redigirt, Jahrg.
1824. St. 131.)


Dem 31. October.


Jsts doch still um mich her? Nebel der Frühlingszeit

Wähn' ich aufsteigen dort an dem Gebirgsabhang,

Wo der feiernde Chorus

Oft unsterblichen Jubel sang.

Und ein mahnender Geist, einsam und fürchterlich

Steigt aus jenem Gewölk'! Hör' es, Thuiskons Volk,

Worte strafender Predigt

Ruft der einsame Geist dir zu.

Lichthell flammet der Nord, als er die Red' beginnt,

Und zum östlichsten Gau dringt der Erleuchtung Stral,
[108]
Meerflutgegenden zittern,

Als er drohend die Rechte hebt.

„Wunderträumendes Volk! siehst du die Finsterniß

Dort den Süden umziehn, furchtbar wie Höllennacht?

Jst des schrecklichen Traumes

Unglückseliger Schau'r dir fremd?“

„Jrrthum hüllte dich lang', grause Verwüstung schritt

Kühn einher in der Nacht, und im Gefolg' der Tod.

Da nahm göttlich Erbarmen

Sich der armen Verirrten an.“

„Und ein heiliges Licht nahete dir, ein Trost

Jn der Finsterniß Tief'. Kennst du nicht mehr dies Schwert

Hoher göttlicher Wahrheit,

Das des Satanas Seele traf?“

„Und ihr liebet nunmehr wieder die Finsterniß,

Stellt das heilige Licht unter den Scheffel hin,

Während ihr in der Dämm'rung,

Leere Träume des Himmels träumt.“

„Evangelisches Volk! denk der Vergangenheit.

Geistertödtender Wahn steht aus den Gräbern auf.

Wehe dir, wenn er waltet ─

Fluch verkündet dir Luthers Geist ─!“

19.
c) Die Hymne.


Keine andere Form der lyrischen Dichtkunst ist
der Ode so nahe verwandt, als die Hymne; denn
auch in ihr wird der Gegensatz des Unendlichen und
Endlichen durch die erhöhte Stärke der Einbildungskraft
lebhaft versinnlicht; auch in ihr wogen die
durch diesen Gegensatz aufgeregten Gefühle der Lust [109]
und Unlust mächtig gegen einander an; auch in ihr
erscheint der dargestellte Hauptgegenstand im hohen
Glanze des von dem Dichter gezeichneten Jdeals;
auch in ihr steht die Wirklichkeit tief unter der von
dem Dichter zur ästhetischen Einheit erhobenen idealischen
Welt; auch in ihr siegt zuletzt das Jdeal
über die Wirklichkeit, so wie das Gefühl der Lust
über das Gefühl der Unlust. Dies alles hat die
Hymne mit der Ode gemeinschaftlich; selbst nach der
Fülle und Stärke des Tones, und nach dem Reichthume
und der Mannigfaltigkeit der dichterischen Farbengebung,
kann, wie schon bei der Ode bemerkt
ward, zwischen Ode und Hymne kein wesentlicher
Unterschied aufgestellt werden, weil die Kraft der
dichterischen Darstellung und die Hochglut ihrer Farben
weniger von dem Hauptgegenstande des Gedichts,
als von der Jndividualität des Dichters,
und von seinem ganz subjectiven Ergriffenseyn von
dem darzustellenden Stoffe abhängt.


Behalten wir aber die gelungensten dichterischen
Erzeugnisse, welche zunächst als Hymnen bezeichnet
werden, im Auge; so wird die dichterische Eigenthümlichkeit
der Hymne, im Gegensatze der Ode,
zunächst dadurch bestimmt, daß theils zum Gegenstande
der Hymne nicht, wie bei der Ode,
jede metaphysische Jdee überhaupt sich eignet, sondern
entweder Gott selbst, oder ein allegorisches,
als Gottheit personificirtes Wesen (z. B.
die Sonne, die Tugend), wenigstens ein durch die
Darstellung aus der Reihe des Endlichen herausgehobenenes,
und nach seiner höhern, übersinnlichen Kraft
gefeiertes Wesen; ─ theils daß, nach dem in der
Hymne vorherrschenden dichterischen Grundtone,
weniger der Gegensatz des Unendlichen und Endlichen [110]
und der das Gefühl bestürmende und erschütternde
Abstand des letzten von dem ersten versinnlicht,
als vielmehr ein Gleichgewicht in der Schilderung
und Durchführung des vorherrschenden Gefühls
der Lust festgehalten, und das ─ durch die
Schranken der Endlichkeit zum Bewußtseyn gebrachte
─ Gefühl der Unlust minder stark gezeichnet wird,
als das Gefühl der Lust. Wenn daher auch, der
höhern dichterischen Schattirung wegen, das Gefühl
der Unlust, veranlaßt durch den Abstand der Wirklichkeit
von der Unermeßlichkeit des Jdeals, in der
Hymne nicht ganz fehlen darf; so wird es doch
nicht mit solcher Kraft emporgehoben und dem Gefühle
der Lust gegen über gestellt, wie das Gefühl
der Lust, so daß nicht nur in der ganzen dichterischen
Haltung der Ton der Lust vorherrscht, sondern auch
im Voraus der ästhetische Sieg des Gefühls der
Lust über das Gefühl der Unlust entschieden ist.


Was den Anbau der Hymne von den frühern
teutschen Dichtern betrifft, wohin namentlich
Opitz und Tscherning gehören; so gilt dasselbe
davon, was bei der Ode erinnert ward, daß die
von den ältern Dichtern gewählte Aufschrift
nicht über den innern Charakter ihres Gedichts entscheiden
konnte, und daß, erst nach den Fortschritten
der Philosophie im achtzehnten Jahrhunderte, der
dichterische Aufschwung in der Hymne, wie in der
Ode, möglich war.

20.
Beispiele von Hymnen.


1) von Tscherning († 1659).

[111]

Lob des Weingottes (Bruchstück).*


O Vater Bacchus komm, mein Geist der reget sich

Zu fliegen in dein Lob. Komm her, ich singe dich,

Du edles Blitzen-Kind. Jch mag nicht letzter bleiben,

Da Teutschland diesen Tag sich unter dir läßt schreiben,

Und stellt die Feier an. Du Geber aller Lust

Giebst meiner Zunge Kraft, erquickest mir die Brust.

Jch singe noch so gut, wann du mir in die Stirne

Mit rechtem Maaße zeuchst. Ein nüchternes Gehirne

Singt etwas, so doch nicht in langer Zeit besteht,

Das mit dem Meister lebt, mit ihm auch untergeht.

Was wäre doch das Pfand des Lebens ohne dich?

Was hätten wir für Lust? Mit Weinen hebet sich

Dies kurze Leben an, mit Hoffen und mit Zagen

Vollführt man seine Zeit, mit Seufzen, Ach und Klagen

Gesegnen wir die Welt. Da hilft kein Widerstehn!

Jm Fall ich gut nicht will, so muß ich böse gehn.

Drumb handelt dieser wohl, der seiner Zeit gebraucht,

Der Zeit, die als ein Dampf in freier Luft verraucht,

Und reißt uns mit sich hin; der auch mit großem Herzen

Bleibt immer, wie er ist, verlachet Noth und Schmerzen,

Stirbt ab der Sterblichkeit, und härtet seinen Muth.

Hierzu, du Hüfte-Kind, sind deine Reben gut.

Du starker Liber, du entzückst uns von der Erden,

Du weckst die Sinnen auf, daß sie voll Geistes werden,

Gehn allzeit über sich, bestehn wann alles fällt,

Und schlügen auf sie zu auch Stücke von der Welt.
[112]
Stets nüchtern seyn betrübt und martert das Gehirne,

Der Sinnen edles Haus. Erhitzest du die Stirne

Da gehn die Sorgen fort, da wandert alle Pein,

Da wird der Knecht ein Herr, wie schlecht er auch mag seyn.

Gefangne gehen los, und greise Köpfe jüngen;

Dann ist man reich genug, und hat an allen Dingen

Noch satten Ueberfluß, sorgt ganz für morgen nicht,

Wie mancher für sein Geld den Hals ihm selber bricht.

O Evan Evoe, laß jenen nüchtern bleiben,

Dem Geld und Gut den Durst und Hunger muß vertreiben,

Der dich ein ganzes Jahr auf seinen Tisch nicht kauft,

Und wie das dumme Vieh das liebe Wasser sauft.

Man weiß, wie mancher ist zu einem Weibe kommen,

Auf die er nie gedacht, der deinen Saft genommen.

Wo der in Gläsern springt, da thut das Lieben wohl,

Da geht das Weibesvolk noch weiter, als es soll.

Bei der kein Kuß verfängt, kein Bitten statt will finden,

Läßt oftmals durch den Wein, wie keusch sie war, sich

binden.

Wo aber du nicht bist, da läßt die Liebe nach,

Sie schöpfet ihre Lust aus deiner Reben Bach. ─

Was grämet man sich viel? Die Sorgen, so mich

kränken,

Die will ich allzumal heut in das Weinfaß senken.

Nicht lebe morgen erst, wer heute leben kann.

Herum, trinkt eines her, die Zunge klebt mir an.

2) von Uz († 1796).


Gott der Weltenschöpfer. (abgekürzt)


Zu Gott, zu Gott flieg' auf, hoch über alle Sphären

Jauchz' ihm, weit schallender Gesang,

Dem Ewigen! Er hieß das alte Nichts gebähren;

Und sein allmächtig Wort war Zwang.
[113]
Jhm, aller Wesen Quelle, werde

Von allen Wesen Lob gebracht,

Jm Himmel, auf der Erde,

Lob seiner weisen Macht.

Von ihrer hohen Bahn, in jener lichten Ferne,

Jauchzt ihm die Sonne freudig zu.

Du machtest mich, du Gott! Und rings umher die Sterne,

Das Heer des Himmels, machtest du!

Sein Lob, ihr schimmerreichen Schaaren,

Tönt auf der dunkeln Erde nach,

Von Wesen, die nicht waren,

Und wurden, als er sprach.

Jhr Himmel, öffnet euch, daß ich bewundernd preise,

Wie Sonn' an Sonne friedlich glänzt,

Und, ewig unverwirrt im angewies'nen Kreise,

Doch weit gebietend, jede glänzt.

Umsonst, die schwindelnden Gedanken,

Verloren in dem großen Blick,

Entfliehen in die Schranken

Der niedern Welt zurück.

Hoch über Sonnen stand der Schöpfer, dem sie leben,

Und eine sah er an und sprach:

Der Erde hab' ich dich zur Königin gegeben;

Zeuch sie durch sanfte Bande nach,

Daß du, ihr leuchtend, sie erfreuest,

Und sanfte Klarheit in der Nacht

Dem stillen Monde leihest,

Den ich für sie gemacht.

Wie war dir Erde nun, da dich zum erstenmale

Der Sonne glänzend Antlitz fand,

Da deine Königin, auf einem lichten Strale,

Den liebreizvollen Tag dir sandt?
[114]
Er kam; die goldnen Locken flogen

Gezähmt durch einen Blumenkranz;

Die jungen Stunden zogen

Jhn auf zum Frühlingstanz.

Du hast mit reichem Strom das Leben ausgegossen,

Bis in die kleinste Felsenkluft!

O Schöpfer! Gütigster! wie viele Stimmen flossen

Dir dankend in der heitern Luft,

Und drängten sich, in tausend Weisen,

Ein lieblich wild vermischtes Chor,

Dich, ihren Herrn zu preisen,

Zu deinem Thron empor.

Bald kam zur frohen Schaar der Zeuge deiner Größe,

Der Mensch, den du zuletzt gemacht,

Damit ein Wesen wär', das mit Vernunft genösse,

Was deine Huld hervorgebracht.

Geschaffen, daß er vor dir wandle,

Dir unterwürfig, aber frei

Nach weisen Pflichten handle,

Dich lob' und glücklich sey!

Er stammelte dein Lob mit dankbarem Gemüthe,

Sobald er dacht' und froh empfand,

Und überall dich sah, dich, o du höchste Güte,

Dich am bestralten Himmel fand,

Dich auf der blumenvollen Fläche,

Dich im gewürzten Myrrhenduft,

Jm Murmeln kühler Bäche,

Dich in der Frühlingsluft.

Dich loben, Herr, ist Pflicht! Dein Ruhm schallt

ungezwungen

Von meinem dankbarn Saitenspiel,

Dein Ruhm erschalle laut von aller Menschen Zungen
[115]
Bis an der Erde letztes Ziel,

Jn ewig trauernden Gefilden,

Und wo die Sonne sanft regiert,

Und wo verbrannte Wilden

Sie zu dem Schöpfer führt!

3) von Gleim († 1803).


Die Sonne.


Hast du die Morgendämmerung gesehn?

Hast du das sanfte Roth betrachtet, das

Die Wiederkunft der großen Sonne dir

Verkündigt? War's in deinem Herzen still?

Jn deiner Seele heiter? da du sie

Die große Sonne sahst, was dachtest du?

O welche Wunder meines Gottes dort

Jn dieser einen Sonne! Herz, bet' an!

Du, meine ganze Seele, voll von ihm,

Sing' ihm ein Lied! Jn jedem Sonnenstral,

(Und jeder Staub empfängt den seinigen)

Jn jedem glänzt und leuchtet seine Macht

Und seine Gnade! Singet, Menschen, ihn,

Den mächtigen und guten Gott! Wenn ihr

Jn ihrem herrlich schönen Aufgang sie

Betrachtet, dann, ihr Menschen, singet ihn,

Den mächtigen und guten Gott! Er hat

Mit dieser Schönheit sie geschmückt; er läßt

Das sanfte Roth, das euch gefällt, so sanft

Aus ihren Stralen fallen, daß es euch

Gefallen muß. Jhr Menschen, singet ihn,

Den mächtigen und guten Gott! Er stellt

Dies helle Thaugewölk vor ihren Glanz,

Daß euer Auge, nicht geblendet, sie

Aufsteigen seh' in ihrem Pomp! Sie geht
[116]
Vor euern Augen ihren stolzen Gang,

Und alles Finstere wird Licht. Sie steigt

Jm Unermeßlichen empor, und thut

Den Willen ihres Gottes; Leben fließt

Mit ihrem Licht in alles um sie her!

Jn alles strömt die Gotterschaffene

Wohlthaten ihres Gottes. Blickt empor!

Sie stehet da! Hat eines Menschen Hand

Sie hingestellt? Hat eines Königs Macht

Die ebne Bahn, aus welcher sie nicht weicht,

Jhr angewiesen? Fraget sie! Sie geht

Vor euern Augen ihren stolzen Gang,

Und predigt ihren Schöpfer schweigend, thut

Den Willen ihres Gottes, Tag für Tag

Und Jahr für Jahr! Jhr Menschen, singet ihn,

Den mächtigen und guten Gott! Sie geht

Vor euern Augen ihren stolzen Gang.

Und wenn es scheint, sie gehe niedriger

Vor euern Augen ihren stolzen Gang;

Dann deckt ein Purpurmantel ihr Gesicht

Dann ist ein Stralenmeer um sie; dann sinkt

Sie nieder, aber ruhet nicht! Sie geht

Vor euern Augen ihren stolzen Gang,

Und um den eurigen ist Finsterniß;

Dann ruhet ihr. Jhr Menschen, singet ihn,

Den mächtigen und großen, guten Gott!

4) von Moritz Aug. v. Thümmel († 1817).


An die Sonne. (abgekürzt)


Staub, der, zu Gott empor gedrungen,

Am Fußtritt seines Thrones glimmt,

Ziel meines Psalms, im Chor gesungen,

Das jubelnd, dich umschlungen,

Jn deinem Aether schwimmt.
[117]
Seit du, der leeren Nacht entsunken,

Dein stolzes Licht von ihm gehohlt,

Sah' es in dem Gewühl der Funken,

Die durch den Lichtraum prunken,

Schon manchen Stern verkohlt.

Nur deinem Urgestirn veraltet

Kein Reiz! Mit gleicher Kraft beflammt,

Treibt es sein großes Rad, entfaltet

Die Zeiten, und verwaltet,

Wie sonst, sein Mittleramt.

Und lenken aller Erden Psalmen

Gleich nicht den Ausfluß deines Strals;

Doch überkleidest du die Palmen

Des Athos, wie die Halmen

Des rauhsten Schweizerthals!

Juwel in des Erschaffers Kranze,

Und erstes Wunder seines Hauchs,

Du leitest, schmückst, vereinst das Ganze;

Eins fehlt nur deinem Glanze:

Bewußtseyn des Gebrauchs.

Du stehst im größten Wirkungskreise

Als Sklave, der im Joche prangt.

Beherrscher seiner kurzen Reise

Durchs Leben, dringt der Weise,

Wohin sein Herz verlangt.

Sey größer noch! Um deine Würde

Vertauscht, selbst auf dem Weg ins Grab,

Der Staubbewohner einer Hürde

Nicht seines Lebens Bürde,

Nicht seinen Wanderstab.

Denn bald zu höhern Geistesproben,

Entrückt den Prüfungen der Zeit,
[118]
Schwingt ihn die Hand, die dich erhoben,

Von diesem niedern Globen

Auf zur Unsterblichkeit.

Durch diesen heitern Blick ins Freie

Verliert im Nebel meiner Bahn

Sich keine Stunde mir; ich weihe

Dem Ausgang sie, und reihe

Sie meiner Zukunft an;

Daß, wenn ich einst zu höhern Sphären

Auf deinem Lichtweg übergeh',

Der Fruchtstaub vieler guten Aehren

Noch in dem Thal der Zähren

Um meinen Hügel weh'!

5) von Lavater († 1801).


Anbetung des Unendlichen. (abgekürzt)


Jn stille Einsamkeit entflieh' ich!

Entflieh', entreiße mich den holden Winken

Der reizevollen Sterblichkeit ─ entfliehe

Der Gattin und dem Freund'; entfliehe

Der Kinder freudevollem Lächeln;

Von allem weg zu dir, verborgner Vater!

Gedanken weicht! Begierde flieh'! Steh' still

Für alles Sterbliche, mein Athem!

Denn leiser Freud' und tiefer Demuth voll

Gelüstet's meine Seele, anzubeten

Den Einzigen, der ewig ist,

Dich, aller Geister Vater!

Mit jedem Athem meines Mundes,

Mit jedem Blicke meines Auges,

Mit jeder Regung meiner Menschheit anzubeten

Dich, meines Geistes Vater.
[119]
Nicht war ich! Nicht! Du wolltest, und ich ward!

O aller Wesen Wesen!

Jch war ─ ja Jch auch war ein ewiger Gedanke

Von dir! Du sprachst ihn aus! Da war

Mein Jch mit jeder Kraft, mit jedem Leben,

Die jede Zukunft, auch die fernste,

Entwickeln wird! Jch ward, und mit mir ward

Der Ewigkeit von dir mein ganzes Wesen

Mit allen seinen Künftigkeiten

Unsterblich ausgesprochen...

Wie bet' ich an? wo find' ich Worte

Den anzubeten, der mich werden hieß!

Du bist, o Wesen aller Wesen,

Denn ich, ich bin!

Bin! Unergründlichstes von allen

Geheimnissen, und doch gewissestes

Von allem, was ich weiß!

Sey aller meiner Lustgedanken Erster!

Sey letztes aller meiner Lustgefühle!

Du Gott, du bist! ich bin!

Du warst eh' meine Mutter mich gebahr!

Eh' mich mein Vater zeugte;

Eh' meines Vaters Vater ihn gezeugt;

Eh' einen Sohn gezeugt der Erste aller Väter!

Nicht ewig waren wir! Nicht Einer ist's,

Der ist, der war, ─ der Frühste ward,

Da du sprachst: „Werde! sey der Vater

Von Millionen Vätern und von Söhnen!“

Du bist, nur du bist ewig! Erster! Erster!

Denn ewig ist von uns nicht Einer!

Du warst ─ du Undenkbarer! warst,

Eh' aller Sterblichkeit urerster Vater

Dem Rufe da stand: „Werde! Sey!“
[120]
Jch sinke tiefer vor dir hin! ─ Du warst,

Eh' aller deiner Stralensöhne frühester

Mit unnennbaren Wonnen: „Liebe! Liebe!“

Mit jedem Stral des Augs, mit jedem Schlage

Des lebensvollen Herzens,

Erstaunet über sich, und jede Regung seiner

Natur dir „Liebe! Liebe!“ rief ─ ─

Da aller Thronen Erster aufzustreben

An deiner Herrlichkeiten Saum

Vor Milliarden Sonnenjahren

Die kühnen Schwingen schwang ─

Und im Gefühle seines Seyns,

Und deines undurchdringlichen Vorherseyns,

Von Wonne trunken niedersank und schwieg;

Da warst du ewig schon! Nur Jünglinge, nur Knaben sind

Vor dir, du Ewiglebender,

Nur Embryonen sind der Leben frühste;

Sie, die den Erdball werden sahn,

Jhn blühen sahn mit tausend neuen Leben;

Verblühen wieder, wieder aufblühn sahn

Den Erdenball, der mich im Unermeßlichen

Vor deinem Angesicht vorüberträgt. ─

Was bin dann ich, was ich vor dir?

Unreifer Staub bin ich! Ein Tropfen nur

Vom Meere hingespritzt ans Ufer

Der Wesen, bin seit gestern nur!

Kaum lebend! Staub! noch kaum entsunken

Der Nichtempfindung!

Kaum sichtbar, Wesen kaum, ein Hauch,

Der erst hinüberzittert an die Grenze

Des Seyns, des Menschenlebens oder Todes.

Was bin ich dann? was ich vor dir?

Vor dir, der ist, der war, der seyn wird!

Wer bin ich, daß mit dir ich reden,
[121]
Dir meine kindlichen Gedanken,

Dir meine bebenden Empfindungen

Jn Menschensprache niederlegen darf;

Mit meinem mir selbst unerforschten Wesen

Mich nahen darf zu dir! Zu dir,

Jch Athmender der Erdenluft? ─ Wie darf ich

Dich, Ewiger, dich Vater nennen?

Doch darf ich es; o Wonne, daß ich's darf!

Dein Athem schafft und hält,

Dein Athem tödtet, trennt, zernichtet

Jetzt Sonnen, Funken jetzt! Jetzt Stern'! Jetzt Stäubchen!

Mit Einem Hauche hauchest du zehntausend Sonnen

Mit hunderttausend Erden aus!

Ziehst du des Athems Hauch zurück;

So ist der Sonnen all' kein Lichtstral mehr!

Kein Stäubchen mehr der Erden all'!

Wie Blumen an der Sonne welken,

Verwelken Weltsysteme dir!

Du nur, nur du bleibst, der du bist!

Dir selber ewig gleich, Jehova, namenlos!

Und was, Unendlicher, sind meine Preisgesänge

Der tiefsten Ewigkeiten,

Was gegen alle Geister, aller

Unsterblichkeiten Jubelharmonie?

Was gegen aller Lebenden und Athmenden

Gesänge? gegen ihrer Jubel Summe?

Vom höchsten aller Himmel ─ nieder

Durch alle tief're Himmel,

Herab durch alle Reihn von Sonnenwelten,

Bis auf den Erdensäugling,

Den Embryo, der athmet;

Bis auf die unsichtbaren

Bewohner jener tief verschloßnen Ströme

Jn jedes Laubes tausendfachen Adern!
[122]
Was gegen dieser aller Lobgesänge,

Die Summe aller, was mein himmelvollstes Lied

Jn fernen Ewigkeiten?

Was diese ungeheure Summe,

Was gegen dich, Unendlicher!

Der Wesen Wesen! Erster! Letzter!

Dich, Ewigeinziger!

Dich, Ewigunerschöpfter!

Jch stehe still, und sink' unmächtig!

Denn ein Gedanke trifft, ein Lichtstral Gottes

Ein Pfeil der Wahrheit

Trifft die erstaunte Seele! ─

Jch neige tiefer mich;

Die Stirne flammt; das Herz schlägt glühender;

Du, Namenloser, du, bist jetzt schon der,

Den mein erhabenstes, mein kühnstes Himmelslied

Nach keinen hingeflohnen Milliarden

Aeonen je erschöpfen, je erreichen wird;

Den, wenn auch nach Jahrtausenden

Noch immer höher, herrlicher,

Noch unaussprechlicher, unendlicher,

Undenkbarer sich meine Seele denken,

Unausempfindbarer mein Herz empfinden wird ─

Du, du bist jetzt, bist jetzt schon,

Da ich mit tiefer Ehrfurcht still,

Jch Staub vom Staube, deinen Namen nenn',

Mein ganzes Wesen sich vor dir, der Wesen Wesen,

Ein Opfer niederlegt auf dem Altar der Erde ─

Du bist schon jetzt, der du mir seyn wirst

Nach tausendmal Jahrtausenden;

Du Ewigunerreichter bist mein Vater!
[123]

6) von Fr. Leop. Graf zu Stolberg († 1819).


An die Erde. (abgekürzt)


Erde, du Mutter zahlloser Kinder, Mutter und Amme!

Sey mir gegrüßt! sey mir gesegnet im Feiergesange!

Sieh', o Mutter, hier lieg' ich an deinen schwellenden

Brüsten,

Lieg', o Grüngelockte, von deinem wallenden Haupthaar

Sanft umsäuselt, und sanft gekühlt von thauenden Lüften.

Ach du säuselst Wonne mir zu, und thauest mir Wehmuth

Jn das Herz, daß Wehmuth und Wonn', aus schmelzender

Seele

Sich in Thränen und Dank und heiligen Liedern ergießen!

Erde, du Mutter zahlloser Kinder, Mutter und Amme!

Schwester der allerfreuenden Sonne, des freundlichen

Mondes,

Und der stralenden Stern' und der flammenbeschweiften

Kometen,

Eine der jüngsten Töchter der allgebährenden Schöpfung.

Erde, dich liebt die Sonne, dich lieben die heiligen Sterne;

Dich der himmelwandelnde Mond! Sobald du vom

Schlummer

Dich erhebst, und Thau aus düftenden Wolken dir träufelt,

Sendet die Sonne dir Purpur und Gold und glänzenden

Safran,

Daß du bräutlich geschmückt erscheinst im Morgengewande.

O wie schimmerst du dann im rosigen Schleier, mit tausend

Jungen Blumen umkränzt, von silbernen Tropfen umträufelt,


Und mit glänzender Binde des blauen Meeres umgürtet!

Erde, wie bist du so schön, mit Gottes Strömen gewässert!

Wer vermag sie zu singen? Die Zwillingshelden, den Ganges

Und den Jndus? wer die rauschenden Wasser des Euphrats?

Wer den segnenden Nil, der aus ungesehener Urne
[124]
Seine schwellenden Fluten durch sieben Mündungen ausströmt?


Wer die herrschende Tiber? den heldenberühmten Eurotas,

Welcher früh die nervige Jugend Lakoniens stählte?

Ach, wer bringt mich hinüber auf Adlers Flügeln zu deinen

Rollenden Meeren, du mächtigster Orellana? du Riese

Unter den Flüssen! Dir staunen die heiligen Fluten des

Weltmeers,

Wenn du, stark wie ein Gott, in den Ocean dich ergießest!

Aber vor allen seyd mir gegrüßt im steigenden Liede,

Vaterländische Ströme! Du edle Donau! dem Morgen

Strömst du erröthend entgegen, und grüßest die kommende

Sonne,

Wann sie flammend ihr Haupt aus purpurnen Wogen

erhebt.

Wankende Saaten umrauschen dich jährlich, und freudiges

Landvolk

Tanzet, mit blauen Blumen umwunden, an deinem Gestade,


Wenn der Abend auf dir mit falben Fittigen ruhet,

Und die glänzenden Sicheln dem winkenden Abendstern

weichen!

Dir gebührt ein eigner Gesang, o Rheinstrom! vor

allen

Flüssen Teutschlands bist du mir werth! Dich sah ich als

Knabe,

Wo, mit umwölkter Hand, die Natur am gängelnden

Bande,

Ueber Nebel und stürmenden Winden und zückenden Blitzen,

Deinen wankenden Tritt auf zackiger Felsenbahn leitet!

Zahllos sind, o Erd', und edel deine Geschenke!

Deinen Kindern geben sie Kraft und Nahrung und Freude!

Sieh', ich hoff' es zu dem, aus dessen segnendem Fußtritt

Sonnenstralen und Rosen blühn: erlöschenden Sonnen
[125]
Und hinwelkenden Rosen verleiht er ewige Jugend,

Wann dereinst die Ströme des Lebens dem himmlischen

Urborn

Werden entfliehn', in Flüß' und Bäch' und Quellen

vertheilet,

Und die ganze Schöpfung, verklärt, Ein Himmel, ihm

lächelt!

Erde, harre ruhig der Stunde des besseren Lebens!

Samml' indessen in deinem Schoose die harrenden Kinder!

Siehe, noch werden dich oft die wechselnden Stunden

umtanzen,

Dich mit blendendem Schnee und blühendem Grase noch

kleiden!

Nimmer wirst du veralten! Jm lächelnden Reize der Jugend

Werden plötzlich erbleichen die Sonnen, die Monde, die

Erden,

Wann die Sichel der Zeit in der Rechten des Ewigen

schimmern

Und hinsinken wird, in Einem rauschenden Schwunge,

Diese Garbe der Schöpfungen Gottes, die Wölbung des

Himmels,

Den wir sehn mit tausendmal tausend leuchtenden Sternen.

7) von Kosegarten († 1818).


An die Natur.


Ruhst und rastest du dann nimmer, erhabene

Große Mutter? Versiegt nimmer der Lebensquell,

Der den Schoos dir befruchtet,

Der die säugende Brust dir schwellt?

Von dem mattesten Stral, welcher den Morgen färbt,

Regt die Rüstige sich, schafft und zerstört, und wirkt,

Bis die blasseste Rose

Jn den Locken des Abends welkt.
[126]
Auf thauduftender Flur schlummert die Mitternacht.

Seine wolkige Bahn wandelt der müde Mond,

Ringsum gähnet die Schöpfung;

Rastlos waltet die Schöpferin;

Schwirrt im flüsternden Schilf, plätschert im Rohr des

Sumpfs,

Tränkt die Saaten mit Thau, duftet im Fliederbusch,

Gurgelt heiser im Frosche,

Flötet gellend im Wachtelschlag;

Summt im blühenden Baum aus den Zehntausenden

Goldner Käfer, beseelt Völker von gaukelnden

Mücken, schrillt in der Grille

Flügel, donnert im Wasserfall;

Thürmt am Saume des Süd Wolken wie Berg' empor,

Wälzt die Berge daher, prasselt aus kämpfenden

Wolken, zückt in der Leuchtung,

Stürmt im brausenden Wirbelwind.

Die du, heilige Kraft, brünstig das All umschlingst,

Alles Leben gebierst, alles Gebohrne nährst,

Unbekannte, wer bist du?

Nie erlauschte, wo wirkest du?

Durch die Adern des All spritzest du flammend Blut,

Kochst in Schachten das Gold, rüttelst den Ocean,

Wölbst Basalte zu Domen,

Höhlst kristallne Grotten aus.

Aus dem Staube herauf rufst du die Pflanzenwelt.

Säuselnd wallet die Saat, sausend der Eichenwald.

Sonnan rauschet die Ceder,

Würzig duftet das Veilchenthal.

Stoffen giebst du Gestalt, giebst dem Atom Gefühl;

Jubel füllen den Busch, Jubel die blaue Luft.

Schau, es wimmelt im Tropfen;

Schau, das Sandkorn bevölkert sich.
[127]
Leben, nimmer gezählt, preisen dich, Künstlerin,

Leben jeglicher Art, Kondor und Kolibri,

Straußpolype und Flußpferd,

Riesenmuschel und Räderthier.

Aber lauter als sie preißt dich des Menschen Geist,

Dich der Kante Vernunft, dich der Gesang Homers,

Dich der Cirkel des Newton,

Dich der Pinsel des Raphael.

Ahn' ich Wahrheit? Bist du jenes unendliche,

Unergründliche Ding, welches des Denkers Loth

Zu ergründen, der Hymne

Flug umsonst zu erfliegen strebt?

Bist du Gottheit? bist du's, welche die Myrias

Menschenzunge besingt, den der Mäander Zeus,

Den der Jordan Jehova,

Den Jsuren der Ganges grüßt?

Schwindelnd steh' ich am Saum deiner Unendlichkeit!

Eines ahn' ich: ich bin deiner Unendlichkeit

Mitgenosse, bin Tropfe

Deines stiebenden Flammenborns.

Jn des flammenden Borns Silbergeriesel fließt

Einst der Tropfe zurück, freut sich der Einigung,

Und verschmilzt in der Welten

Allumgürtenden Ocean.

8) von Seume († 1810).


Gebet. (abgekürzt)


Gott, Gott, den Mönch und Bonze nennet,

Und weder Mönch noch Bonze kennet,

Den man von Nation zu Nation,

Durch schleichenden Betrug geblendet,
[128]
Jn frömmelnder Verehrung schändet,

Hier bet' auch ich, des Staubes Sohn.

Des Weisen forschender Gedanke

Bebt ehrfurchtsvoll in seiner Schranke,

Und blickt mit Ahnung in dein Heiligthum,

Und stehet, wenn in ihren Kreisen

Dich Myriaden Welten preisen,

Anbetend still zu deinem Ruhm.

Du säest Welten aus wie Saaten,

Und das Geheimniß deiner Thaten

Jst blendend Licht und Harmonie und Sturm!

Und in der Kette deiner Wunder

Jst eine Sonne nur ein Zunder,

Und eine Erde nur ein Wurm.

Wer kann, o Wesen aller Wesen,

Des Schicksals große Rolle lesen,

Auf welche du der Himmel Ordnung schreibst?

Wer hat mit dir im Rath gesessen,

Das ewige Gesetz zu messen,

Nach welchem du die Sphären treibst?

Gott, in den Glanz des Lichts gehüllet,

Gott, dessen Hauch das Weltall füllet,

An dessen Kleid die Sonnen funkelnd stehn;

Auf dessen Wink die Welten fallen,

Und aus den Trümmern neue wallen,

Und jubelnd sich in Sphären drehn:

Gott, Vater, Schöpfer, Ordner, Walter,

Des Cherubs und des Wurms Erhalter,

Laß nichts mir, wann die Bosheit teuflisch glotzt,

Laß nichts mir meinen Kinderglauben

An deine Vatergüte rauben,

Der aller Bosheit Giften trotzt.
[129]
Jch bin, kann ich in Hypothesen

Gleich nicht das große Räthsel lösen,

Jch bin ein Funke deiner Ewigkeit;

Und mein Gefühl mit Feuerschwingen

Kann auf zu deiner Größe dringen

Jn seines Werthes Trunkenheit.

Laß mich nicht, wenn mein Busen wüthet,

Und Lästerung und Wahnsinn brütet,

Jm hohen Wahnsinn deine Weisheit schmähn;

Jch stehe blind am großen Spiele,

Und kann hinab zum fernen Ziele

Nicht mit dem schwachen Auge sehn.

Laß mich nicht, wenn mit Hohngelächter

Des Rechtes rechtliche Verächter

Der Tugend kaum den Götterwerth verzeihn,

Laß mich nicht, wenn des Elends Knaben

Umsonst nach Futter schrein, wie Raben,

Durch Lästerung die Zung' entweihn.

Laß mich nicht, wenn Hyänenhorden

Provinzen zur Verwüstung morden,

Und jubelnd über Menschentrümmern gehn,

Laß mich nicht unter Menschenteufeln

An deiner Vaterhuld verzweifeln,

Wenn Höllengeister mich umwehn.

So laß den Zweifel in mir stürmen,

Und Nacht auf Nacht sich um mich thürmen,

Und alle Sinne sich im Schwindel drehn;

Jch will, o Gott, die Hände falten,

Und mich an dich im Sinken halten;

Und sinkend werd' ich nicht vergehn.

Es sollen mich nicht Widersprüche,

Nicht infulirter Männer Flüche,
[130]
Nicht Edda, Vedam, und nicht Alkoran,

Nicht Bibel, und nicht irre Weisen

Von meiner Felsenwarte reißen,

Auf der ich sicher harren kann.

Aus deiner Hand gehn Orionen;

Du hauchst der Geister Millionen

Mit Götterkräften hin in ihre Bahn,

Und zündest, wann die Geister zagen,

Aus Mitternacht zu Sonnentagen

Gewiß die Fackel wieder an.

Aus Tod und Grab bricht meinen Blicken

Dann unter himmlischem Entzücken,

Gewiß der Ordnung Morgenlicht zuletzt;

Dann tauch' ich mich in jene Kreise

Der Welten, wann zur Weltenreise

Aurora mir die Füße netzt.

21.
d) Die Dithyrambe.


Die Dithyrambe gehört zu der dichterischen
Form der Hymne, unterscheidet sich aber von derselben
durch zwei wesentliche Merkmale, theils in
Hinsicht des Gegenstandes, theils in Hinsicht des
lyrischen Tones und der ganzen Haltung und Durchführung
desselben. Denn wenn die Hymne die Gottheit
selbst, oder jeden als göttlich gedachten Gegenstand
feiert; so ist der Gegenstand der Dithyrambe
ausschließend der Wein und der Gott des Weines;
kein anderes, unter göttlichen Eigenschaften
dargestelltes, Wesen kann der Stoff der Dithyrambe
werden. Allein noch schärfer unterscheidet sich
die Dithyrambe von der Hymne durch den in ihr [131]
vorherrschenden eigenthümlichen Ton des Gefühls,
und oft selbst durch die regellose Form der Darstellung.
Denn es ist der Ton einer trunkenen,
oder nahe an die Trunkenheit hinstreifenden Begeisterung,
welcher in der Dithyrambe vorherrscht,
und als Folge einer vorhergegangenen sinnlichen Berauschung
durch den Genuß des Weines sich ankündigt,
woraus von selbst die kecke Auswahl üppiger
Bilder, der Gebrauch gewagter Gleichnisse, ungewöhnlicher
Ausdrücke, und das Vorhandenseyn kühner
Sprünge in Hinsicht der Folge und Verbindung
der aufgestellten Jdeen, Bilder und Gefühle sich
erklären läßt. ─ Obgleich Ursprung und Benennung
der Dithyrambe griechisch ist; so haben sich
doch keine Gesänge dieser Art aus dem Alterthume
erhalten, und nur die Nachrichten davon sagen aus,
daß die Dithyramben bestimmt waren zur Verherrlichung
des Bacchus an den ihm geheiligten Festen,
so wie sie an diesen Tagen während eines wilden
und regellosen Tanzes abgesungen wurden. ─ Bei
der Wiedererweckung der Dithyramben von den neuern
Dichtern mußte nothwendig der Anstrich der griechischen
Oertlichkeit und Eigenthümlichkeit wegfallen.
Willamov, Blum, Mahler Müller, Joh.
Heinr. Voß, Schiller, Kuhn u. a. haben unter
den Teutschen gelungene Dithyramben aufgestellt.
Sie haben gefühlt, daß die Betrunkenheit an sich
nie ästhetisch seyn, mithin auch nicht in einer schönen
Form dargestellt werden kann, daß aber wohl
der Uebergang von dem völlig nüchternen Bewußtseyn
zu dem Zustande des begeisternden Rausches
eine ästhetische Darstellung verstattet, wodurch Gefühl
und Einbildungskraft mächtig bewegt werden,
ohne doch dadurch im Leben selbst die Mittellinie [132]
des Schicklichen und in der dichterischen Schilderung
die ästhetische Einheit der Form zu verletzen.


Soll daher die Dithyrambe dem Gesetze der
Form entsprechen; so darf sie zwar die schulgerechte
Form eines bestimmten Sylbenmaases überschreiten,
und mit Willkühr, selbst ohne die innere nothwendige
Folge des dargestellten Gefühls, sich bewegen,
weil dieses Gefühl durch den Genuß des
Weins über die Ankündigung der Gefühle im nüchternen
Zustande hinaus gesteigert wird; nie darf sie
aber gegen die Richtigkeit und gegen die Schönheit
der Form überhaupt verstoßen, weil sie sonst auf
Gefühl und Einbildungskraft des wohlthuenden Eindrucks
nothwendig ermangelt.

22.
Beispiele der Dithyrambe.


1) von Willamov († 1777).


Bacchus und Ariadne. (abgekürzt)


Jubel, Jubel, Jubel!

Jn wilder wüster brausender Fröhlichkeit

Dir von uns gesungen, Vater Evius

Unter orgischen Hochzeitfesten!

Da hüpfen die weingebirgigen Jnseln alle

Unsern hohen Gesängen nach,

Und rauhe Felsen in Wonne.

Die Nereiden in gesalzner Fluth

Tanzen uns nach in Hochzeitreigen,

Und Aeols tausendstimmige Heere

Singen trunkne Hymenäen.

Welche Taumelfeste, ihr Faunen!

Er, auf dessen Stirn
[133]
Ewige Jugend aufblühet,

Und auf der vollen Wange

Götterglanz purpurfarbig

Um die Honiglippen sich ergießt,

Drückt an die Götterbrust voll Glut,

Eine süße Belohnung schwerer Thaten,

Ariadnen, von Cytheren ihm erkohren,

Seit er mit uns von den Triumphen

Ueber die östliche Welt zurücke kam.

Jubel, Jubel ihm! ─

Ho! ihr Faunen, wo sind wir?

Wo die Naxischen Weinhügel? ─

Schöpferisch erhebt sich sein Thyrsus.

Plötzlich hochgewölbte Lauben an Lauben

Von Jasmin und Myrthen- und Rosengebüschen

Kunstreich ein weiter Pallast um uns

Mit Brautteppichen rund umzogen.

Weite Schläuche vom Rebensafte schwellend

Und Kelch an Kelch auf Purpurdecken

Alle mit frischen Blumengehängen bekränzt.

Er, Bacchus, unser Vater will so

Sein Hochzeitmahl feiern!

Schaut, Bacchanten, das lockre Rosengewölke

Und den lazurn purpurbekleideten

Goldumstralten Wagen

Von zärtlichen Tauben leichtschwimmend gezogen!

O! der unnennbaren Wonne,

Die schnell durch alle Empfindung rauscht

Bei diesem unausbildlichen Anblick

Der Paphischen Fröhlichkeitsstifterin,

Die mit ihrem lachenden Gefolge

Ambraduftend herabschwebt.

Die Amorn flattern vor ihr her,
[134]
Und gaukeln lüstern

Um die buntfarbigen Lauben

Und fröhliche Rosen- und Rosmaringebüsche.

Kommt in unsre Reigen,

Götter der Fröhlichkeit, kommt!

Seht ihr, wie Vater Lenäus

Wollustlächelnd von Aphroditens Hand

Die schöne Braut empfängt,

Und Hochzeitfackeln ihm festlich lodern?

Ein Sternendiadem setzt Paphia

Der Götterbraut aufs stralende Haupt,

Und ewig zu ihrer Vermählung Gedächtniß

Wird von des hohen Aethers Gewölben

Diese Sternenkrone schimmern.

Auf dem furchtbaren Adler sanft daher gewiegt,

Majestätischer Ernst im schwarzen Auge

Und auf der gebieterischen Stirn, ─

Neigt euch zur Erde, ihr Bacchanten und Mänaden! ─

Der Donnrer erscheint, unsers Vaters

Freudenfeste zu feiern;

Und mit ihm auf Silbergewölkewagen

Die blauäugigte Panzerbegürtete Pallas,

Und der Kriegsempörer im eisernen Gewande,

Und Phöbus der Gesängegebieter,

Und alle Himmlischen kommen hernieder.

Zehnfach, zehnfach laßt

Eure Jubellieder schallen, Faunen, Satyrn und Nymphen!

Dem kommenden Götterchor

Und Lyäens Liebe heilig!

Um die Myrthen umflochtenen Ufer

Mit Amorn und Grazien Hand in Hand

Tanzen wir, tanzen wir, Evoe!

Lauter müßt ihr Pauken lärmen!
[135]
Feierlicher ihr Zinken und Pfeifen tönen!

Höher ihr brausenden Meereswogen toben! ─

Aber ─ laßt mich,

Süßlächelnde Amors, laßt mich

Meine trunknen Rundetänze vollenden!

Faunen, helft mir! helft mir, ihr Nymphen!

Mit Blumenketten gefesselt

Werde ich euern Kreisen entrückt. ─

Wunderthätige Götter!

Wo ─ wo bin ich hin?

Vom Mänadentaumel erwacht

Fühl' ich mein Herze nicht mehr. ─

Ho! Cypern! ─ Sey mir gegrüßt!

Wollustathmendes Cypern!

Der schaumgebohrnen Entzückungsschafferin

Dreimal glückliches Vaterland!

Wonneduftend um und um

Aus tausend Blumengefilden,

Die Busch an Busch der Liebesgöttin

Jhre Opfergerüche weihen! ─

O diese Holdin, die ihr da

Mit Rosen geschäftig umflechtet,

Laßt mich von eurer wohlthätigen Hand,

Holde Liebesgötter, empfangen!

Bei Paphos und Knidos Heiligthum,

Und eurer Mutter mächtigem Zaubergürtel selbst,

Schwör' ich, euch Göttern der Zärtlichkeit

Geweihet zu seyn! ─ Da ward mir

Von der Amorn freudeberauschter Schaar,

Feierlich mit Brautblumen geschmückt,

Daphne unter Gesängen zugeführt.

O des süßen Zärtlichkeitstaumels,

Als ich sie also empfing!
[136]
An ihrer Hand will ich, ─

Verzeih' es mir, trunknes Getümmel

Epheu- und Rebenbekränzter Bacchanten ─

Jn süßerer Trunkenheit

Den Göttern der Zärtlichkeit heilig seyn.

Und du, Vater Dionysus, der selbst,

Von Ariadnens Reizen bezwungen,

Der Schönheit und Liebe huldigt,

Verzeih, ich kann nicht,

Jch kann nicht mehr euch folgen.

Hier ist mein Thyrsus

Und die Epheukrone zurück!

Rosen und Myrthen und Jasmin

Wallen jetzt um das gesalbte Haar!

2) von Blum († 1790).


Jch fühl', ich fühle deine Feuer,

Du göttlicher Tokayer,

Du königlicher Wein!

Reicht mir die mächt'ge Leier;

Es sollen seine Feuer

Unsterblich seyn!

Unsterblich seyn? ─

So nehmt sie nur zurück die Leier,

Und schenkt noch einmal ein;

Es sollen seine Feuer

Durch Thaten ewig seyn!

Jch will, ich will verliebte Kriege,

Mir sagt die Hoffnung süßer Siege:

Jch werd' ein Cäsar meiner Zeiten seyn!

Ja, seht, dort taumeln Liebesgötter,

Berauscht von meinem Wein,

Und streuen Rosenblätter,
[137]
Und pflanzen einen Myrthenhain,

Soll dies mein Schlachtfeld seyn;

So eilt nicht, blanke Waffen,

Jhr Knaben, mir zu schaffen,

So bringt nicht Schild und Speer;

Bringt rasche Kämpferinnen her,

Bringt mir die braune Doris,

Die kriegerische Chloris,

Und Lauren und Nerinen,

Und alle, die mein Herz verdienen!

Denn fonst, ihr süßen Kinder,

Kann ich auf solchen Wein

Kein würd'ger Ueberwinder,

Kein Cäsar meiner Zeiten seyn!

3) von Fr. Adolph Kuhn.


Vor dem Rausche.


O goldne, süße Reben,

Jhr träufelt Himmelslust,

Ein neues beßres Leben

Jn froher Zecher Brust.

Was Weise nicht erringen,

Was Dichter nicht ersingen,

Erfliegt auf Sonnenschwingen

Der Adler: Trunkenheit.

Was kümmert seine Flügel

Des Ruhmes Gängelband,

Der Wünsche steiler Hügel,

Der Zukunft Nebelland;

Was kümmert seine Lippe

Der Wissenschaften Krippe,

Wo ärmliche Gerippe

Bei Folianten stehn.
[138]
Er fliegt durch Orionen

Mit glühendem Gesicht,

Und buhlt um Myrthenkronen

Der Alltagsliebe nicht.

Jm Taumel höh'rer Wonne

Umarmt er Baum und Sonne,

Und hohlt aus voller Tonne

Sich Lieb' und Sympathie.

Jn Einem langen Zuge

Trinkt er Vergessenheit,

Und löscht vom Aschenkruge

Das Wort: auf Ewigkeit.

Bekränzt mit Rebenblättern

Wird er den Mond erklettern,

Und über Donnerwettern

Mit frohem Auge sehn.

Drum trinkt die goldnen Reben,

Die uns zu Adlern weihn,

Und laßt uns höher schweben,

Und mehr als Menschen seyn.

Laßt uns das arme Denken

An Aermere verschenken,

Und hin den Fittig lenken,

Wo Denken Thorheit wird.

Dort necken keine Berge

Des Wandrers raschen Gang,

Dort modern keine Särge,

Lauscht kein Sirenensang;

Der Freude vollste Trauben,

Die Götter uns erlauben,

Darf uns kein Bonze rauben,

Der Götter mißverstand.
[139]
Dort rauschen Himmelsbäume

Mit Blüthen überschneit,

Dort blüht am zarten Keime

Die Allzufriedenheit.

Dort sind der Väter Hallen,

Und ihre Schatten wallen

Mit frohem Wohlgefallen

Den frohen Söhnen zu.

23.
e) Die Rhapsodie.


Die Rhapsodie, die als besondere Form der
Dichtkunst wenig angebaut worden ist, unterscheidet
sich von der Ode und der Hymne weder durch die
Verschiedenheit des dargestellten Gegenstandes, noch
durch die Verschiedenheit des in der Rhapsodie vorherrschenden
Tones des Gefühls; denn alle Gegenstände,
welche in der Ode und Hymne dargestellt
werden können, eignen sich auch als Stoffe für die
Rhapsodie, und dieselbe Stärke, Jnnigkeit und
Glut des Gefühls kann eben so in der Rhapsodie
geschildert werden, wie in der Ode und Hymne.
Allein dadurch unterscheidet sich die Rhapsodie wesentlich
von der Ode und Hymne, daß in derselben
entweder der dargestellte Gegenstand, wegen seiner
Unermeßichkeit und wegen der durch ihn hervorgebrachten
allzustarken Erschütterung des Gefühlsvermögens
und der Einbildungskraft, nicht gleichmäßig
und erschöpfend durchgeführt, sondern blos in
allgemeinen, unter sich nicht streng zusammenhängenden
Umrissen verzeichnet, oder, eben wegen der
aufgeregten Fülle des Gefühls und der Einbildungskraft,
kein bestimmtes Metrum in der dichterischen [140]
Form festgehalten wird. Jn dieser letzten Hinsicht
nähert sich die Rhapsodie der Dithyrambe, die ebenfalls
nicht selten in einem willkührlichen Sylbenmaase
sich bewegt; doch hat die teutsche Literatur
auch Rhapsodieen mit bestimmt festgehaltenen Sylbenmaasen.

24.
Beispiele der Rhapsodie.


1) von Ramler († 1798).


Allgemeines Gedicht


(von Ramler selbst in der Ueberschrift: Rhapsodie
genannt).


Zu dir entfliegt mein Gesang, o ewige Quelle des

Lebens!

O du von den Lippen danksagender Wesen Jehova gegrüßet,

Und Oromazes und Gott! gleich groß im Tropfen des

Thaues,

Der hier vom Grase rollt, gleich groß in der Sonne,

die rastlos

Rund um sich an goldnen Seilen glückselige Welten herumführt;


Jm Wurm, der einen bestäubten Erntetag lebt, und im

Cherub,

Der alle Naturen durchforscht seit seiner undenklichen

Jugend,

Und viele Glieder bereits an der Kette der Wesen verknüpft

sieht,

Er selbst der oberste, doch in deiner Größe versinket,

(Wie soll ich in menschlicher Rede den Kindern der Erde

Dich nennen?)

O deines unendlichen Weltraums allbelebende Fülle! ─
[141]
Mit Schaudern versenkt sich in ihn mein Geist in den

Tempeln der Wälder,

Auf himmelanstrebenden Felsen, am Rande der brausenden

Tiefe;

Und o, wie verschwindet mir dann die sinnliche Freude!

wie werden

Mir alle Begierden erhöht! ─ Du Weltgeist, hier steh'

ich, verloren,

Auf einem Staube des Ganzen, und breite die Hände

zu dir aus;

Erhältst Du, wann einst dies zarte Gewebe des Leibes

sich auflöst,

Ein höheres Antheil von mir; so soll die Bewundrung deiner

Mein langes Geschäfte verbleiben, mein langer Gesang. ─

2) von Kosegarten († 1818).


An die untergehende Sonne.


Sonne du sinkst!

Sonne du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Still und ruhig ist deines Scheidens Gang,

Rührend und feierlich deines Scheidens Schweigen.

Wehmuth lächelt dein freundliches Auge;

Thränen entträufeln den goldenen Wimpern;

Segnungen strömst du der duftenden Erde.

Jmmer tiefer,

Jmmer leiser,

Jmmer ernster und feierlicher

Sinkst du die Lüfte nach.

Sonne du sinkst!

Sonne du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Es segnen die Völker,
[142]
Es säuseln die Lüfte,

Es räuchern die dampfenden Wiesen dir nach;

Winde durchrieseln dein lockiges Haar;

Wogen kühlen die brennende Wange;

Weit auf thut sich dein Wasserbett ─

Ruh' in Frieden!

Schlummr' in Wonne!

Die Nachtigall flötet dir Schlummergesang.

Sonne du sinkst!

Sonne du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Schön sinkt sich's nach den Schweißen des Tags,

Schön in die Arme der Ruhe,

Nach wohlbestandenem Tagewerk.

Du hast dein Tagewerk bestanden,

Du hast es glorreich vollendet,

Hast Welten erleuchtet und Welten erwärmt,

Den Schoos der Erde befruchtet,

Die schwellenden Knospen geröthet,

Der Blume Kelch geöffnet,

Die grünen Saaten gezeitigt,

Hast Welten gesäugt und Welten erquickt ─

Geliebt und Liebe geerntet,

Gesegnet, und rings mit Segnungen

Dein rollendes Haar bekränzt.

Schlummre sanft

Nach dem Schweiße des Tags;

Erwache freudig

Nach verjüngendem Schlummer!

Erwach' ein junger freudiger Held!

Erwach' zu neuen Thaten!

Dein harrt die lechzende Schöpfung;

Dein harren Au'n und Wiesen;
[143]
Dein harren Vögel und Heerden;

Dein harrt der Wandrer im Dunkeln;

Dein harrt der Schiffer in Stürmen;

Dein harrt der Kranke im Siechbett;

Dein harrt der Wonnen seligste:

Die Wonne zu lieben und zu werden geliebt;

Der Seligkeiten unaussprechlichste,

Die hohe vergötternde Seligkeit: wohlzuthun.

Sink' in Frieden!

Schlummr' in Ruhe!

Erwach' in Entzückungen, Sonne!

25.
f) Die Elegie.


Wenn die Elegie dadurch der Ode sich nähert,
daß in ihr, wie in der Ode, das gemischte Gefühl
der Lust und der Unlust, der Wonne und der Wehmuth,
sich ankündigt, bis zuletzt, im Augenblicke
der ästhetischen Vollendung des dichterischen Erzeugnisses,
das Gefühl der Lust über das Gefühl der
Unlust triumphirt; so unterscheidet sie sich doch wesentlich
von der Ode theils durch die Art und
Weise, wie sie den Gegenstand auffaßt und darstellt,
der das gemischte Gefühl der Wonne und Wehmuth
in dem Gemüthe des Dichters anregte, theils
durch die Milde des in der Elegie vorherrschenden
Tones der dargestellten Gefühle, so wie durch die
sanftere Farbengebung in Hinsicht der von dem Dichter
gezeichneten Bilder. Der ästhetische Charakter
der elegischen Begeisterung ist nämlich die süße Wehmuth,
welche aus der Verschmelzung der gleichmäßig
aufgeregten Gefühle von Lust und Unlust entsteht.
Jn diese wehmüthige Stimmung wird aber das Gemüth [144]
versetzt, wenn es mit ungetheiltem Jnteresse
ein Gut sich vergegenwärtigt, das es entweder nie
zu erreichen befürchtet, oder dessen Besitz und Genuß
es vergeblich erstrebte, oder bereits wieder verlor,
und wo dennoch, durch die von der Einbildungskraft
bewirkte idealische Versinnlichung dieses
Gegenstandes, das Entzücken bei der Betrachtung
desselben, oder die Sehnsucht nach demselben, oder
die Erinnerung an die ehemals im Besitze desselben
genossene Seligkeit, das Gefühl der Lust, freilich
bald stärker, bald schwächer, ein Uebergewicht über
das Gefühl der Unlust behauptet, wodurch die dichterische
Begeisterung vermittelt wird, in welcher die
Elegie entsteht. Die hohe dichterische Wirkung der
Elegie beruht daher auf dem Verschmelzen der Gefühle
der Wonne und der Wehmuth bis zum endlichen
Uebergewichte des Gefühls der Lust über die
Unlust, ein Uebergewicht, das entweder aus der
erhöhten Vergegenwärtigung und idealischen Versinnlichung
des Gutes selbst, oder aus der von der
Einbildungskraft bewirkten Erneuerung der ehemals
im Genusse desselben gefühlten Seligkeit, oder aus
der Thätigkeit der Einbildungskraft, den Genuß und
Besitz desselben in die Zukunft zu versetzen, oder
aus dem mächtig aufgeregten Bewußtseyn, dieses
Gut verdient, und ohne eigene Schuld verloren zu
haben, oder aus dem zur ästhetischen Einheit erhobenen
Bilde von der Größe des mit dem idealisch
gezeichneten Gute verbundenen Genusses entspringt.
Nur in dieser Stimmung des Gemüths entsteht
die bezaubernde Form der Elegie, an deren Hervorbringung
die Jdeale der Einbildungskraft eben so
vielen Antheil haben, als die erhöhte Sinnlichkeit
und die im Gefühlsvermögen gegen einander ankämpfenden [145]
und allmählig mild in einander verschmelzenden
Gefühle der Wonne und der Wehmuth. Deshalb
herrscht auch im Tone der Elegie die Wehmuth
des Unvermögens, den ersehnten Gegenstand entweder
in der Gegenwart überhaupt nicht zu besitzen,
oder ihn bereits verloren zu haben, oder ihn nie
besitzen zu können. Diese Wehmuth des Unvermögens
ist Ton der Trauer, allein nicht von der Art
und Stärke, wie in der Ode, wo das Gefühl der
Unlust aufgeregt wird von dem wahrgenommenen
Gegensatze der Beschränkungen des Endlichen gegen
das Unendliche. Zugleich vergesellschaftet sich mit
diesem Tone der Trauer der Ton der Freude an dem
Gegenstande selbst, der nicht, wie in der Ode, als
unendlich, wohl aber unter dem milden Glanze des
Jdeals erscheint, welches jedesmal das gebildete
Wesen mit hoher Sehnsucht und mit dem Verlangen
nach dessen Erreichung und Verwirklichung erfüllt.
So kündigt sich im Tone der Elegie eine
milde Schattirung der Gefühle an, wodurch für
das Bewußtseyn zwar keine bleibende (weil ein gemischtes
Gefühl kein bleibender Zustand seyn kann),
aber eine unendlich süße Stimmung vermittelt wird.


Der in der Elegie in den Mittelpunct gestellte
Gegenstand kann entweder sittlich und religiös
seyn, oder er kann, in den Schilderungen der
Liebe, der Freundschaft und der irdischen
Güter
überhaupt, die Farbe der geläutertsten und
vollendetsten Sinnlichkeit an sich tragen. Von
selbst versteht es sich, daß die grobe Sinnlichkeit
von der Elegie ausgeschlossen wird, weil sie keiner
idealischen Darstellung fähig ist; allein alle, mit den
Gesetzen der Vernunft und mit den geläutertsten
Gefühlen der Sittlichkeit vereinbaren Gegenstände [146]
des wirklichen Lebens eignen sich für die Darstellung
in der Elegie. (So z. B. Schillers Jdeale;
Matthissons Elegie in den Ruinen eines Bergschlosses
geschrieben; seine Kinderjahre; sein Genfersee
&c.) Gleichmäßig gebietet die Elegie über
die Kreise der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft;
oft findet sie die Gegenwart zu arm, wenn
sie dieselbe mit Vergangenheit und Zukunft zusammenstellt;
oft hält sie die Zukunft an den Spiegel
der Vergangenheit, und erhebt die letztere über die
erste; oft vergleicht sie auch die Armuth der Vergangenheit
mit den in der Zukunft bevorstehenden
Genüssen, die sie im Zauber ihrer Bilder im Voraus
zum Daseyn ruft. Nur die Gegenwart verliert jedesmal
in der Elegie bei der Zusammenstellung mit
Vergangenheit und Zukunft; in der Gegenwart hat
nichts Reiz, als die eben aufgeregte individuelle
Stimmung des Dichters selbst, dessen Wehmuth
entweder an den Farben der Vergangenheit, oder an
den Bildern der Zukunft hängt.


Daß die Elegie zur lyrischen Dichtkunst gehört,
ist dadurch entschieden, daß die Gegenstände, die sie
schildert, unmittelbare Gefühle, und weder Gefühle,
durch Jdeen der Vernunft veranlaßt, noch
Gefühle sind, die durch Thatsachen und Vorgänge
in der Wirklichkeit angeregt werden. Vom Liede
unterscheidet sich die Elegie, daß jenes den Ton einer
reinen Freude, diese den Ton einer mit Wehmuth
gemischten Freude enthält, weshalb denn auch, aus der
religiösen Dichtkunst, alle sogenannten Bußlieder,
Sterbelieder
u. a. (§. 14.), nach ihrem dichterischen
Charakter zur Elegie, und nicht zum Liede
gehören. Wie die Elegie, dem Stoffe und dem
Tone nach, verschieden von der Ode sich ankündige, [147]
ist bereits erinnert worden; desto mehr nähert sie
sich aber der Heroide, theils nach der Darstellung
des gemischten Gefühls der Lust und Unlust,
theils nach der beiden gemeinschaftlich milden Farbengebung
und nach der Durchführung des in ihnen
vorherrschenden Grundtones des Gefühls. ─ Zur
Einseitigkeit würde es führen, wenn man die äußere
Form der Elegie
entweder an abwechselnde
Hexameter und Pentameter, oder, wie bei den ältern
teutschen Dichtern, an das schwerfällige und
ermüdende alexandrinische Versmaas binden wollte;
vielmehr eignet sich jedes, dem Charakter der lyrischen
Form überhaupt angemessene, Metrum auch
zur Darstellung der Elegie. ─ Wenn gleich bereits
griechische und römische Dichter die Elegie anbauten;
so stehen doch, unter den gebildeten Völkern
der neuern Zeit, die Teutschen, in Hinsicht
der Elegie, über den Britten, Franzosen und Jtalienern,
theils nach der Mannigfaltigkeit und dem
Reichthume der elegischen Form, theils nach der
Jnnigkeit, Wärme und Zartheit des idealisirten
Gefühls. (v. Haller, v. Kleist, v. Göthe,
v. Schiller, Klopstock, Hölty, v. Herder,
Heydenreich, Jacobi,
v. Stolberg, Kosegarten,
Voß,
v. Matthisson, v. Salis,
Manso, Tiedge
u. a.)

26.
Beispiele der Elegie.


1) von Drollinger († 1742).


Herbstgedanken.


Der schwüle Sommer ist verschwunden,

Die Sonne läuft der kühlen Wage zu;
[148]
Die Erde neiget sich zur Ruh

Nach ihren arbeitsvollen Stunden.

Jhr bunter Schmuck wird blöd' und alt,

Und, was sich nächst im Flor befunden,

Verändert Farben und Gestalt.

Der Himmel trübet sich. Es haucht ein frischer Duft

Gleich einer kühlen Abendluft,

Und will des Jahres Abend kühlen.

Der Bäume Zierath weicht; die leichten Winde spielen

Mit dem entlaubten Schmuck! O welch ein Unbestand!

Doch nein, ich kenne deine Hand,

Du großer Schöpfer und Erhalter!

Des Laubes Schirm, die schattenvolle Wand,

Die ihrer Früchte zartes Alter

Vor Hitz' und Sturm in Sicherheit beschloß,

Hat nun die treue Hut vollendet,

Da der verwahrte Schutz gezeitigt und geendet;

Drum fällt sie weg, und stellt ihn frei und bloß.

O reicher Schatz, den wir bewundern müssen!

Schau, wie die süße Last die schwanken Aeste beugt!

Es scheint, als wollten sie die werthe Mutter küssen,

Die Mutter, welche sie gezeugt.

Der Blätter Schmuck, der allgemach verfleugt,

Erscheinet nun noch eins so prächtig.

Die schlanke Rebe steht an Frucht und Zierath trächtig.

Schau, wie sie ihre grüne Pracht

Mit Gold und Purpur ausgesticket;

Wie sich ihr sterbend Laub zu guter Letzte schmücket,

Und seinen Abschied herrlich macht.

Wie aber? welch betrübtes Bild

Erblick' ich voller Scham und Schanden!

Jch Armer, ach! mein Herbst ist auch vorhanden,

Mein Sommer ist bereits erfüllt!
[149]
Wie darf ich, Höchster, vor dir stehn,

Und mein beschämtes Haupt zu deinen Wolken strecken?

Jch bin ein kahler Baum, gleich einer dürren Hecken,

Von keinen Früchten reich, von keiner Zierath schön.

O wehe mir! Die Axt der Rache blinket schon,

Und dräut mir schnödem Holz mit dem verdienten Lohn!

Erbarme dich! erwecke meine Kraft,

Du Wesen voller Huld und Liebe;

Und fülle mich mit neuem Saft,

Mit einem gnadenvollen Triebe,

Eh mich dein Grimm zur Straf' und Flamme rafft!

Herr, laß mich noch in dieser Zeit,

Obgleich mit später Frucht, zu deinem Ruhme dienen!

So werd' ich dort in Ewigkeit

Bei dir im Paradiese grünen!

2) von Albr. v. Haller († 1777).


Beim Absterben seiner geliebten Mariane.
(gedichtet 1736; ─ abgekürzt)


Soll ich von deinem Tode singen?

O Mariane, welch' ein Lied!

Wann Seufzer mit den Worten ringen,

Und ein Begriff den andern flieht.

Die Lust, die ich an dir empfunden,

Vergrößert jetzund meine Noth;

Jch öffne meines Herzens Wunden,

Und fühle nochmals deinen Tod.

Jch seh dich noch, wie du erblaßtest,

Wie ich verzweifelnd zu dir trat,

Wie du die letzten Kräfte faßtest

Um noch ein Wort, das ich erbat.

O Seele, voll der reinsten Triebe!
[150]
Wie ängstlich warst du für mein Leid?

Dein letztes Wort war Huld und Liebe,

Dein letztes Thun Gelassenheit.

Ach, herzlich hab' ich dich geliebet,

Weit mehr, als ich dir kund gemacht,

Mehr, als die Welt mir Glauben giebet,

Mehr, als ich selbst vorhin gedacht.

Wie oft, wann ich dich innigst küßte,

Erzitterte mein Herz und sprach:

Wie, wenn ich sie verlassen müßte!

Und heimlich folgten Thränen nach.

Jm dicksten Wald, bei finstern Buchen,

Wo niemand meine Klage hört,

Will ich dein holdes Bildniß suchen,

Wo niemand mein Gedächtniß stört.

Jch will dich sehen, wie du gingest,

Wie traurig, wann ich Abschied nahm;

Wie zärtlich, wann du mich umfingest;

Wie freudig, wann ich wieder kam.

Auch in des Himmels tiefer Ferne

Will ich im Dunkeln nach dir sehn,

Und forschen, weiter als die Sterne,

Die unter deinen Füßen drehn.

Dort wird an dir die Unschuld glänzen

Vom Licht verklärter Wissenschaft;

Dort schwingt sich aus den alten Grenzen

Der Seele neu entbundne Kraft.

Dort lernst du Gottes Licht gewöhnen,

Sein Rath wird Seligkeit für dich;

Du mischest mit der Engel Tönen

Dein Lied und ein Gebet für mich.

Du lernst den Nutzen meines Leidens,
[151]
Gott schlägt des Schicksals Buch dir auf;

Dort steht die Absicht unsers Scheidens

Und mein bestimmter Lebenslauf.

Vollkommenste! die ich auf Erden

So stark, und doch nicht gnug geliebt;

Wie liebenswürdig wirst du werden,

Nun dich ein himmlisch Licht umgiebt.

Mich überfällt ein brünstigs Hoffen;

O, sprich zu meinem Wunsch nicht nein;

O, halt die Arme für mich offen!

Jch eile, ewig dein zu seyn.

3) von Hölty († 1776).


Die Mainacht.


Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt,

Und sein schlummerndes Licht über den Rasen streut,

Und die Nachtigall flötet,

Wandl' ich traurig von Busch zu Busch.

Selig preis' ich dich dann, flötende Nachtigall,

Weil dein Weibchen mit dir wohnet in Einem Nest,

Jhrem singenden Gatten

Tausend trauliche Küsse giebt.

Ueberhüllet von Laub, girret ein Taubenpaar

Sein Entzücken mir vor; aber ich wende mich,

Suche dunklere Schatten,

Und die einsame Thräne rinnt.

Wann, o lächelndes Bild, welches wie Morgenroth

Durch die Seele mir stralt, find' ich auf Erden dich?

Und die einsame Thräne

Bebt mir heißer die Wang' herab.
[152]

4) von v. Herder († 1803).


Das Grab des Heilandes*.


So schläfst du nun den Todesschlaf im Grabe,

Du junger Held, gefärbt mit schönem Blut,

Dein Leben war für tausend Lebensgabe,

Dein Tod erquickt auch Sterbende mit Muth.

Ruh' dann, erlößt von jedem Jammer,

Womit dich Menschenhärte traf,

Jn deiner stillen Kammer

Den schwer errungnen Schlaf.

Du aber, Freund, an diesem bittern Tage,

Komm, schau mit mir der Menschheit Scenen an.

Sieh, welch' ein Mensch! betracht' ihn still, und sage:

Wer Menschen segnender je werden kann.

Komm, laß an seiner Gruft uns denken,

Was uns im Tod allein erfreut;

Aus Liebe sich zu kränken,

Jst süße Dankbarkeit.

Jn Nazareth, am Galiläermeere,

Wer gab dem Jünglinge den hohen Geist,
[153]
Der wie entkommen schon der Erden Schwere *,

Sein Reich den Himmel, Gott nur Vater heißt,

Und schaut, wie seine Sonne leuchtet

Auf Bös' und Gute, wie sein Thau

So Ros' als Dornen feuchtet

Auf Einer Gottesau.

„Auf, laßt uns Kinder seyn der Vatergüte,

Vollkommen, wie der Herr vollkommen ist!“

So pflanzt' er in der Sterblichen Gemüthe

Unsterblichs Wesen, das sich selbst vergißt,

Und im Verborgnen schafft und flehet **,

Für Menschen schafft, für Feinde fleht,

Still für die Zukunft säet,

Und still von dannen geht.

„Glücksel'ge Armen! glücklich, die da leiden,

Jn sanfter Unschuld, die Erbarmenden,

Die, reines Herzens, Menschen Fried' und Freuden

Und Mitleid reichen, und den Haß bestehn.

Seyd fröhlich und getrost! euch lohnet

Jm Himmel ew'ger Trost und Lohn;

Der Staub, den ihr bewohnet,

Jst bald dem Staub entflohn ***.“

„Auf, seyd der Zeiten Licht, das Salz der Erde,

Ein Stern der Nacht, ein Keim der Fruchtbarkeit.

Jn euch ist Licht, damit Glanz um euch werde;

Jn euch ist Gold, das ihr den Menschen leiht.
[154]
Auf! dringet durch der Sieger Pforte!

Eng ist die Pforte, schmal der Weg,

Zum höchsten Freudenorte

Ein unbetretner Steg *!“

Er sprachs, und ging voran die Donnerpfade
**
Die noch dem Sterbenden sein blutig Haupt

Jm Kranze schmückten. Haupt, du lächelst Gnade,

Als hätte Ros' und Lorbeer dich umlaubt.

Entschlummre! ─ Bald wird deine Krone,

Siegprangend, wie der Sterne Glanz,

Dem Menschengott zum Lohne,

Ein ew'ger Gotteskranz.

Denn, sanft wie Gott, gefällig gleich den Engeln,

War Güte nur und Huld sein Königreich.

Mitfühlend unsrer Last und unsern Mängeln,

Nur sich allein an Kraft und Würde gleich.

Einsam im lauten Weltgetümmel

Jn seine Größe still verhüllt.

So stralt am hohen Himmel

Die Sonne, Gottes Bild ***.

Und konnten dem ein Unheil Fromme stiften?

Die Priester, ach, ergrimmte sein Bemühn.
[155]
Sie riefen ihn aus ihren alten Schriften,

Und als er kam, erwürgten Priester ihn.

Zu schwer der Heuchelei geworden,

Entging er ihrer Tücke nicht.

Jhn riß der Segensorden

Jns ärgste Blutgerüst *.

Wie? hatt' er nicht schon lebend viel gelitten?

Er, dessen Herz das Mitleid selber war.

Ein zarter Sproß, um den die Stürme stritten,

Ein Arzt, dem fremdes eignes Leid gebahr.

„Laß diesen Kelch vorübergehen!

Doch Vater, du hast ihn gefüllt.

Dein Wille soll geschehen;

Nicht ich, wie du, Herr, willt!“

Er trank den Kelch, und als nun seine Glieder

Gefühl der Gottverlassenheit durchdrang;

Schon drückte Nacht die matten Augenlieder,

Des schweren Hohnes schwarze Wolke sank.

Zerrissen war der letzten Schmerzen

Geliebter Knote, der den Freund

Mit Freund- und Mutterherzen

Jm Tode noch vereint;

Da blickt' er auf und sah die schönen Auen,

Die er dem Sünder Mitleidsvoll verhieß.

„Gedenk' an mich, und laß dein Reich mich schauen;

„Heut sollst du's schaun, der Freuden Paradies.“

„Empfang' in deine Vaterhände

Den matten Geist ─ es ist vollbracht!“

Da kam sein stilles Ende,

Sein Auge brach in Nacht. ─
[156]
Nicht Thränen, Freund, ein Leben ihm zu weihen,

Wie seines, das nur ist Religion.

Was ihn erfreute, soll auch uns erfreuen,

Was er verschmähte, sey uns schlechter Lohn.

Mit Güte Bosheit überwinden.

Undank der Welt, wie er, verzeihn,

Jm Wohlthun Rache finden,

Soll Christenthum uns seyn!

5) von Joh. Georg Jacobi († 1814).


Die Linde auf dem Kirchhofe.


Die du so bang den Abendgruß

Auf mich herunter wehest,

Zur Wolke schwebst, und mit dem Fuß

Auf Todtenhügeln stehest,

O Linde! manche Thräne hat

Den Boden hier genetzet,

Und Menschenjammer, blaß und matt,

Auf ihn sein Kreuz gesetzet.

Die auf dem einen Hügel hier

Geweint um ihre Lieben,

Die birgt ein andrer neben dir;

Und ihrer wenig blieben.

Sie schlafen. Ach! um ihr Gebein

Verhallet schon die Trauer;

Du Linde rauschest ganz allein

Jn athemlose Schauer.

Vergebens läßt auf kühles Grab

Dein Zweig die Blüthe fallen;

Vergebens tönt von dir herab

Das Lied der Nachtigallen;

Sie schlummern fort; du aber schlägst

Jn modervolle Grüfte
[157]
Die Wurzel, schmückest dich, und trägst

Empor die Blüthendüfte.

Auf Erden sieht man immer so

Den Tod ans Leben grenzen;

Doch ewig kannst du, stolz und froh,

Die Aeste nicht bekränzen.

Es trocknet schon der Jugend Saft

Jn dir; Verwesung winket,

Bis endlich deine letzte Kraft

Dahin auf Gräber sinket.

Wann aber dein Geflüster auch

Verstummt an diesen Hügeln;

So bringet neuen Frühlingshauch

Der West auf Rosenflügeln.

Damit die Felder wieder blühn,

Umwallt er Berg' und Gründe;

Will deinen Sprößling auferziehn,

Und krönt die junge Linde.

Wohl uns! der große Lebensquell

Versiegt dem Geiste nimmer.

Das Kreuz auf Gräbern, wie so hell

Jn dieser Hoffnung Schimmer!

O Linde! gern an deinem Fuß

Hör' ich des Wipfels Wehen;

Dein feierlicher Abendgruß

Verkündet Auferstehen!

6) von Manso.


Was sie mir nahm und gab.


Auch mich hat einst der Wahn argloser Seelen,

Der schmeichelnde, geliebt zu seyn, beglückt,

Und unterm Schlag tonreicher Philomelen
[158]
Ein Schwanenarm ans volle Herz gedrückt.

„Nimm, sprach zu mir, am schönsten meiner Tage,

Die lieblichste der Grazien,

Nimm diesen Kuß, daß man, dich neidend, sage:

Auch er war in Arkadien!“

Jch nahm den Kuß, und von mir selbst geschieden,

Fühlt' ich für nichts, als für die Schmeichlerin.

An sie verlor mein Herz den goldnen Frieden,

Jhr opfert' ich den sorgenfreien Sinn.

Mein Leben war Gedanke an die Traute,

Mein kleinster Wunsch ihr Eigenthum,

Und jedes Lied in die gewölbte Laute

Ein süßes Lied zu ihrem Ruhm.

Oft fragt' ich sie, wenn meine Silbertöne

Jhr Ohr verschlang: „Was schenkst du mir dafür?“

„Nimm diesen Kuß, erwiederte die Schöne,

Und sey mir treu, mein Herz gelob' ich dir!“

Und ich, berauscht von ihren Nektarküssen,

Ließ ruhig in ihr Netz mich ziehn.

So hat sie schlau, was mein war, mir entrissen,

Und von dem Jhren nichts verliehn.

O tief hinab in Lethens Strom versenken

Möcht' ich das Bild, das meinen Jammer nährt ─

Und doch, und doch ist mir das Angedenken

An ihre Huld und meine Qual so werth;

Und doch gewann ich, in der wunderbaren,

Mir täglich süßern Dienstbarkeit,

So manches, was mein Herz sich zu bewahren,

Mein Geist sich zu erneuern freut.

Wer sonst, als sie, gab mir das süße Sehnen,

Das bald mit Lust, und bald mit Schmerz erfüllt?

Wer lehrte mich, was aus der Duldung Thränen
[159]
Für himmlisches Entzücken niederquillt?

Was zog mich zu der Freude Melodieen,

Und band mich an der Schwermuth Ach?

Was gaukelt noch in bunten Phantasieen

Mir in vertraute Schatten nach?

Vergiß dein Wort und mich, Adelaide,

Vergiß den Kuß, mein theures Unterpfand!

Jch werde nie dein zu gedenken müde,

Und ehre gern, was ich für dich empfand!

Das Saitenspiel, das mir im Busen tönet,

Jst deiner Liebe Wiederklang;

Was heute noch mich mit der Welt versöhnet,

Der Traum, der schmeichelnd mich umschlang.

7) von v. Matthisson.


Wunsch. An Salis.


Noch einmal möcht' ich, eh' in die Schattenwelt

Elysiums mein seliger Geist sich senkt,

Die Flur begrüßen, wo der Kindheit

Himmlische Träume mein Haupt umschwebten.

Der Strauch der Heimath, welcher des Hänflings Nest

Mit Kühlung deckte, säuselt doch lieblicher,

O Freund, als alle Lorbeerwälder

Ueber ber Asche der Weltbezwinger.

Der Bach der Blumenwiese, wo ich als Kind

Violen pflückte, murmelt melodischer

Durch Erlen, die mein Vater pflanzte,

Als die blandusische Silberquelle.

Der Hügel, wo der jauchzende Knabenreihn

Sich um den Stamm der blühenden Linde schwang,

Entzückt mich höher, als der Alpen

Blendender Gipfel im Rosenschimmer.
[160]
Drum möcht' ich einmal, eh' in die Schattenwelt

Elysiums mein seliger Geist sich senkt,

Die Flur noch segnen, wo der Kindheit

Himmlische Träume mein Haupt umschwebten.

Dann mag des Todes lächelnder Genius

Die Fackel plötzlich löschen; ich eile froh

Zu Xenophons und Platons Weisheit,

Und zu Anakreons Myrthenlaube!

8) von Mahlmann.


Das Grab.


Selig die Todten!

Sie ruhen und rasten

Von quälenden Sorgen,

Von drückenden Lasten,

Vom Joche der Welt und der Tyrannei;

Das Grab, das Grab macht allein nur frei.

Ueber der Erde,

Da walten die Sorgen; ─

Jm Schooße der Mutter

Jst jeder geborgen!

O Nacht des Todes, du bettest weich; ─

Das Grab, das Grab macht allein nur gleich.

Land der Verheißung,

Du führest die Müden

Nach brausenden Stürmen

Zum seligen Frieden.

Wann Freude verschwindet, wann Hoffnung verläßt;

Das Grab, das Grab hält den Anker fest.

Wieder sich finden,

Und wieder umarmen,

Und wieder am Herzen
[161]
Geliebter erwarmen!

Und ewig zu leben im süßen Verein! ─

Das Grab, das Grab wird uns all' erfreun!

Kränzet die Thore

Des Todes mit Zweigen!

Und tanzt um die Gräber

Den fröhlichen Reigen!

Und steuert muthig zum Hafen hinein,

Das Grab, das Grab soll Triumphthor seyn!

9) von Fr. Adolph Kuhn.


Elegie an einen Wahnsinnigen.


Vergieb, mein Bruder, daß der Harfe Saiten

Den Klaggesang der Wehmuth nicht begleiten,

Den mancher Mund dir noch entgegenträgt;

Daß ich im Kerker deiner Mißgeschicke

Noch einen Stral, noch Labungen erblicke,

Die Sonnenlicht in keinem Busen hegt.

Zwar beut kein Licht dir seine sanfte Rechte,

Dein Leben ist wie dumpfe Mitternächte,

Dein Herz ein auferstehungsloses Grab;

Du bist nur dir dein ewiger Genosse,

Erspähst vom Leben nur die nächste Sprosse,

Und taumelst wie ein Jrrlicht dann hinab.

Kein lichter Tag entzückt aus deinen Grüften

Dich Modernden zu seinen Rosenlüften,

Wenn Lenz Natur wie seine Braut umfängt;

Kein halber Schimmer jubelnder Gefühle,

Kein Odem aus der Schöpfungen Gewühle

Hat sich in deine Felsenbrust gedrängt.
[162]
Der bessern Erdenliebe Schmeichelworte

Zersprengten nie für dich die goldne Pforte

Des Allerheiligsten, das Geistern prangt;

Und nie hast du, an Menschen hingesunken,

Aus vollem Kelch die Wollust dir getrunken,

Die eine Welt für ihren Kuß verlangt!

Beweint von Keinem, wie nur wenig sanken,

Wirst du allein, allein zum Grabe wanken,

Allein und unbegrüßt dort auferstehn;

Und wenn sich dort die Freunde jauchzend winken,

Sich glühend Seelen in die Arme sinken,

Dich freudelos und ewig einsam sehn.

Von Weihestunden nimmer aufgefordert,

Hat nie dein Geist zu Gott emporgelodert,

Und nimmer dich sein Odem mild umrauscht,

Und nimmer hat im Reiche der Naturen,

Jm Sternenflug, auf lichten Sonnenfluren

Dein matter Blick Unsterblichkeit belauscht.

Vergieb, mein Bruder, daß der Harfe Saiten

Den Klaggesang der Wehmuth nicht begleiten,

Aus deren Blick dir manche Zähre dringt,

Und höre mich, für den in hellen Stunden

Gefühl und Geist wohl einen Kranz gewunden,

Wie er nicht alle Locken hier umschlingt.

Ha juble! von der Menschheit losgerissen

Wirst du auch nie vom grausen Schicksal wissen,

Wo Edle wild den Adelsbrief entweihn;

Wo die, die Göttlichkeit im Busen tragen,

Gleich Rasenden dem Sonnenlicht entsagen,

Um in der Finsterniß sich fremd zu seyn.

Kein Freund wird dich zum frohen Gotte lügen,

Und dich zuletzt um jenen Schwur betrügen,

Der in dem Bruder Brudersinn erblickt.
[163]
Kein Liebeskuß wird mit entflammten Zügeln

Dich in der Träume Feenland beflügeln,

Aus dem ein Blitz dich in die Hölle schickt.

Kein Kraftgefühl wird unter seinen Fahnen

Um hohe That, um Heldenkampf dich mahnen,

Jn dem zerknickt so oft der Arm erliegt,

Und Phantasie wird nie mit ihren Stralen

Ein Aetherbild aus dir und Träumen malen,

Das deiner spottend über Sterne fliegt.

Aus wildem Sturm, aus abgerißnen Aesten,

Aus Hütten, aus verzweifelnden Pallästen,

Aus Wogentrümmern, aus der Rasengruft

Wird nie dein Ohr in dumpfen Trauerchören

Das bange Sterbelied der Trennung hören,

Das fürchterlich durch unsre Jubel ruft.

Was nie ein Thor, ein Weiser nie errungen,

Das ist nur deiner schwachen Hand gelungen,

Die nimmer solchen Würfen nachgestellt.

Emporgehoben über alles Sehnen,

Und über alle Freuden, alle Thränen,

Bist du allein dir ewig deine Welt.

Drum zürne nicht, daß meiner Harfe Saiten

Den Klaggesang der Wehmuth nicht begleiten,

Jn deren Wimper manche Zähre bebt;

Und du, o Geber mancher schwülen Tage!

Vergieb, daß ich den Mann nicht ganz beklage,

Den Wahnsinn auf in kühle Zonen hebt!

10) von Kosegarten († 1818).


Der Maalstein.


Wen haben sie hier in den Staub gebettet?

Wen in die Nacht, die eiserne, verscharrt?
[164]
Aus der kein Hahnenschrei, kein weckend Frühroth rettet,

Auf die kein Sonnenaufgang harrt?

Jn jene Nacht, in die kein Laut des Lebens,

Kein leiser Hoffnungslispel niederwallt;

Für die der Freude Sturm, der Angst Geheul vergebens

Empor zum blauen Bogen hallt.

Jn jene Nacht, in die der Wittwe Stöhnen,

Der Waisen Klage nicht hinunterdringt;

Jn jene Fernen, draus kein Flehen und kein Sehnen

Den theuren Flüchtling wiederbringt.

Bist du es, Edler, der in unserm Kreise

So würdig und demüthig wandelte?

So friedlich und so still, so schlecht und recht, so weise

Und christlich dacht' und handelte?

Geschlossen ist dein freundlich Aug' auf immer?

Verriegelt ewig dein mitleidig Ohr?

Du liegst und schläfst, und schlägst die schweren Wimper

nimmer

Aus deinem Todesschlaf empor?

Und Herzensgüte, Herzensreinheit wäre

Nicht besser, als das Gras, das Wiesen schmückt

Und in der Sonne dorrt? nicht edler, als die Aehre,

Die halbgereift der Sturmwind knickt?

Nein, Menschenfreund, in diesem engen Hause

Wohnt nicht dein beßres Selbst, dein wahres Du!

Dein wahres Du, verschmähend dieser Welt Karthause,

Flog jenen schönern Welten zu.

Nur dein Gewand, zerrissen und zertrümmert,

Vertrauten wir der großen Mutter Schoos, ─

Ein Samenkorn, dem einst der Menschheit Blum' entschimmert,


Unkränkbar, schmerzlos, todeslos.
[165]
Du selbst, Verklärter, schwangst mit Lichtstralsschnelle

Dich über Erdengram und Sargesnacht

Und Grabeseng' empor zu deines Edens Schwelle,

Wo dir ein mildrer Himmel lacht;

Wo eine schön're Sonne dich umlächelt,

Wo eine schön're Erde dich umglänzt,

Wo linde Kühlung dir die heißen Schläfen fächelt,

Und der Vollendung Kranz dich kränzt. ─

Wie war dir, Sel'ger, als die neue Sonne

Dir Staunenden entgegen funkelte?

Als dich des Paradieses namenlose Wonne

Hochwogig überflutete?

Als Er, der Menschenretter Erster, Größter,

Als Jesus Christus lächelnd zu dir sprach:

„Sey mir gegrüßt, Geliebter, sey getrost, Erlöster!

Dir folgen deine Thaten nach.“

„Mich hungerte, und du hast mich gespeiset!

Mich schauderte, und du hast mich erwarmt!

Nackt war ich und entblößt, verlassen und verwaiset,

Und du hast meiner dich erbarmt!“

„Jch ward verklagt, und du hast mich vertreten;

Krank lag ich, und du nahmst dich meiner an;

Gefangen saß ich hart, du hast mich losgebeten,

Und mich befreit von Acht und Bann!“

Da sprachst du: „Herr, mein Heiland, Quell des Guten,

Wann hätt' ich jemals hungernd dich erblickt,

Dich, der die Raben speist? dich durstig, der mit Fluten

Lebend'gen Wassers uns erquickt?

Dich nackend, der die Frühlingsanger kleidet,

Dich eingekerkert, der die Himmel füllt,

Dich heimlos, der in Eden neue Rosen weidet,

Dich krank, dem alle Kraft entquillt?
[166]
Doch liebend schaute Jesus auf dich nieder,

Und: „Wahrlich, sprach er, Freund, ich sag' es dir:

Was du gethan hast Einem meiner kleinsten Brüder,

Das thatest du, mein Bruder, mir.“ ─

O süßes Wort! So hoch lohnt Jesus Christus

Dem Mann, der wie sein Jch die Brüder liebt!

Der, schauend auf sein großes Vorbild Jesus Christus,

Barmherzigkeit an Brüdern übt.

Barmherzigkeit, du Zarte, Klare, Milde,

Einfältig, anspruchslos, voll Kraft und Ruh,

Du allerschönster Zug aus Gottes Ebenbilde,

Barmherzigkeit, wie schön bist du!

Barmherzigkeit, du träufst in Todeswunden

Des Mitleids Oel, der Hoffnung Labewein;

Die schauerliche Nacht der letzten bangen Stunden

Erhellt dein sanfter Mondenschein.

Barmherzigkeit, du führst uns stracks und grade

Zum Vater der Barmherzigkeit empor,

Kniest an des Richters Stuhl, und flehest Gnade,

Gnade,

Und sprengst des Paradieses Thor.

Barmherzigkeit, du flichtst in stiller Schwermuth

Um unsre Todten diesen Rosmarin,

Der blühn und duften soll, bis Rosmarin und Wermuth

Nicht mehr auf Leichenhügeln blühn!

27.
g) Die Heroide.


Die Heroide ist eine Elegie, doch mit der
Eigenthümlichkeit, daß in derselben der Dichter nicht
in seiner Person, sondern im Charakter einer abwesenden [167]
Person, gewöhnlich eines Verstorbenen,
spricht, und auf diesen den Ausdruck seiner Gefühle
überträgt. Die Benennung gehört dem Ovid,
welcher in 21 Heroiden ausgezeichnete und bereits
vollendete Jndividuen aus dem heroischen Zeitalter
unter der lyrisch=epistolischen Form vergegenwärtigte.
Denn dadurch eben gehört die Heroide, obgleich ihr
äußeres Gewand epistolisch ist, zunächst zur lyrischen
Form der Dichtkunst, daß in ihr weder
Thatsachen, noch Grundsätze und Lehren versinnlicht,
sondern individuelle Gefühle unter einer idealischen
Haltung dargestellt werden. Enthielte die Heroide
gleichmäßig oder abwechselnd die Schilderung von
individuellen Gefühlen, Thatsachen und Lehren; so
müßte sie, in der Theorie, als Untergattung der
poetischen Epistel unter der Ergänzungsklasse dichterischer
Formen aufgeführt werden.


Sie wird aber, durch den in ihr vorherrschenden
Grundton eines aus Wonne und Wehmuth gemischten
Gefühls, eine Untergattung der Elegie. Die
bald stärkere, bald schwächere Farbengebung in der
Darstellung dieses gemischten Gefühls beruht theils
auf dem in der Heroide versinnlichten Stoffe, theils
auf der Lebendigkeit und Stärke der in dem Dichter
aufgeregten Gefühle. So wie die einzelnen
Elegieen an Fülle der Bilder und Kraft des Tones
sehr von einander verschieden sind; so auch die Heroiden.
Die dichterische Literatur der Britten, Franzosen
und Jtaliener erscheint verhältnißmäßig reicher
im Anbau der Heroide, als die teutsche, in welcher
unter den Dichtern des siebenzehnten Jahrhunderts
Hoffmannswaldau und Lohenstein, und unter
den Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts
Dusch, von Trautzschen, Schiebeler und [168]
Eschenburg sehr mittelmäßige Heroiden schrieben,
und nur Wielands acht Briefe der Verstorbenen
an hinterlassene Freunde (im zweiten Supplementbande
seiner sämmtlichen Werke, S. 201 ff.)
sich auszeichnen. Eine nicht unbrauchbare Sammlung:
Heroiden der Teutschen, erschien von
Fr. Raßmann, Halberst. 1824, wo, außer einer
aufgenommenen Heroide von Wieland, auch eine
von Bürger (frei nach Pope), eine von Tiedge,
Kosegarten,
Aug. Wilh. Schlegel, und von einigen
minder wichtigen Dichtern, mitgetheilt worden sind.


Weil übrigens jedesmal der Theorie, in Hinsicht
der einzelnen Formen der Sprachdarstellung, der vielseitige
Anbau dieser Formen durch die Classiker vorausgehen
muß, bevor die Theorie derselben umschließend
und erschöpfend entwickelt werden kann;
so darf es nicht befremden, daß die Theorie der
Heroide hinter der theoretischen Darstellung der übrigen
lyrischen Formen zurücksteht, weil eben diese
Form von ausgezeichneten Dichtern verhältnißmäßig
am wenigsten angebaut worden ist. Unverkennbar
ist der dichterische Stoff der Heroide weit beschränkter,
als der Stoff der Elegie überhaupt; denn es
sind Verstorbene, es sind vollendete Wesen, die in
derselben redend, und nach dem ihnen von dem Dichter
beigelegten Tone des Gefühls, eingeführt werden.
Doch würde das Gebiet des Stoffes der Heroide
noch mehr beschränkt werden, wenn die von einigen
Theoretikern aufgestellte Bedingung gelten sollte, daß
die aufgeführten Jndividuen und ihre Verhältnisse
allgemein bekannt seyn, und von dem Dichter nach
ihrem geschichtlichen Charakter geschildert werden
sollten. Dies ist allerdings in einzelnen Heroiden
der Fall, nicht aber eine unerläßliche Forderung an [169]
die Heroide überhaupt. Denn warum soll die schöpferische
Einbildungskraft des Heroidendichters in
Erfindung des Stoffes beengter seyn, als des Dichters
der Elegie, der Ode, der Epopöe und andrer
dichterischer Formen? Nicht der geschichtlich vorhandene,
nicht der von dem Dichter idealisch geschaffene
Stoff, sondern die vollendete Form der Darstellung
entscheidet über den ästhetischen Gehalt der
Heroide. Wohl aber muß der Heroidendichter,
der einen geschichtlichen Stoff wählt (z. B. Brutus,
Cäsar
u. a.), dem in Thatsachen ausgeprägten
Charakter seines Helden treu bleiben.


Nach den besseren, in der teutschen und ausländischen
Literatur vorhandenen, Heroiden unterscheiden
sich dieselben von den Elegieen weniger
durch den in beiden vorherrschenden Grundton des
gemischten Gefühls der Wonne und Wehmuth,
als durch eine größere Ausführlichkeit der
Darstellung, welche eine vollständigere Schilderung
der individuellen Gefühle, und der diese Gefühle
veranlassenden Verhältnisse, verstattet. Doch eben
in dieser lyrischen Mahlerei muß der Dichter nach
der ganzen Lebendigkeit und nach dem Reichthume
seiner Einbildungskraft sich ankündigen, damit nicht
Einförmigkeit und Eintönigkeit die Form der Heroide
drücke, und den ästhetischen Eindruck derselben
vermindere und verdunkle. Wird aber diese
Klippe von dem Dichter vermieden; so beruht unverkennbar
das hohe Jnteresse, das die Heroide als
lyrische Form gewährt, auf der stillschweigenden
Annahme einer fortdauernden Verbindung zwischen
den Vollendeten und ihren auf Erden zurückgebliebenen
Geliebten, einer Verbindung, die von allen
Mängeln der Sinnlichkeit, von allen auf Erden bestehenden [170]
Ungleichheiten der persönlichen und bürgerlichen
Verhältnisse befreit, und von der Ruhe und
Seligkeit des Zustandes vollendeter Geister umflossen
ist.

28.
Beispiel der Heroide.
Alexis an Dion,
(abgekürzt)
von Wieland († 1813).


Freund, die Liebe, die uns im irdischen Leben vereinte,

Hat mein Sterben erhöht. Wie könnt' ich mein irdisches

Glück dir

Länger verhehlen, da einst uns jede Freude gemein war?

Billig weih' ich die Erstlinge dir der himmlischen Früchte,

Deiner göttlichen Freundschaft, die ich mit Seraphim

breche.

Doch du genießest sie schon, indem dein Freund sie genießet,


Und durch dich sie genießt. Welch eine himmlische Wollust

Muß es durch dein Jnnerstes athmen, das süße Bewußtseyn,

Einen Engel gebildet zu haben! So lohnet die Weisheit!

Dion, du weißt, wie freudig der Tod mich fand, ihm

zu folgen,

Ja ganz thränenfrei, hätte mich nicht mein Dion gehalten,

Und die Klagen der zärtlichen Schwester. ─ Jch hoffte

vom Tode,

Was mir ein nächtliches Leben verweigert hatte; still

lauschend

Horchte mein Ohr dem Rauschen des Todesengels entgegen,

Dem ich flehte zu eilen. Er kam. Sein kältender Anhauch

Schauerte sanft durch jede Ader; nur flatternden Lüftchen

Aehnlich, berührte mein Ohr die weinende Stimme der

Freundschaft,
[171]
Und jetzt sank ich in süße Betäubung, so sanft, wie der Abend

Jn die Arme der Nacht auf weiche Blumen dahin sinkt.

Als ich erwacht', o Wunder, so schwebt' ich, vom Körper

entfesselt,

Und von ätherischem Schimmer umflossen, über dem Lager,

Wo ich die irdische Hülle gelassen, um die ihr im Kreise

Sprachlos standet. Mit schüchternem Blick voll froher

Verwund'rung

Sah ich zweifelnd umher, und des Lichts noch ungewohnt,

schlossen

Jmmer die Augen sich wieder, wiewohl der irdische Mittag

Einem ätherischen Auge nur matter dämmernder Glanz

scheint.

Eine Göttergestalt trat aus dem eröffneten Lichtkreis

Majestätisch hervor, und löschte der irdischen Schönheit

Dunklere Bilder aus meinem Gemüth', wie die steigende

Sonne

Schnell das Morgengewölk und die flüchtigen Schimmer

der Dämmrung

Löscht, und in triumphirendem Glanz den Himmel erfüllet.

Mein zu junges Gesicht ertrug den Anblick des Engels

Einen Augenblick kaum; ich sank in sanfter Betäubung

Jhm in die zärtlich eröffneten Arme. Die himmlischen Lüfte,

Die sein duftender Fittig verweht', erweckten bald wieder

Mein entschlafnes Gefühl. Er hatte mit schwächeren

Farben

Seine zu göttliche Pracht gemildert. Jetzt sah ich ihn kühner

Und bald unverrückt an; die Liebe, die mir sein Lächeln

Eingoß, stärkte mein Auge zum überirdischen Anblick.

Er hieß mich folgen. Mein Blick zerfloß in der blendenden

Aussicht

Durch den ätherischen Raum. Sein unermeßlicher Umfang

War noch glänzendes Chaos für mich; ich schaute verwundernd

[172]
Jn die ätherischen Felder. Da flammten unzählbare Sterne

Um mich in grenzlosen Weiten; die einen schossen wie Blitze

Jn das geblendete Auge; die andern, dem Abendstern

ähnlich,

Hauchten ein sanfteres Licht. Jn weiten helleren Kreisen

Ruhten die Sonnen in göttlicher Pracht, in kreisendem Fluge

Drängten sich, zahllos, die Erden zu ihrem beseelenden

Lichte.

Dreimal sank ich entzückt auf mein Antlitz; erhabene

Gedanken

Schwellten in meiner Seele sich auf, und strebten gen

Himmel

Hin zu dem göttlichen Licht, von dem die Funken hier

schwammen.

Auch der Engel, wiewohl des göttlichen Schauspiels gewohnet,


Theilte mein Entzücken, und sah mit denkenden Augen

Bald in die sternvolle Tiefe, bald auf mein Antlitz,

das heller

Schimmert'. Jetzt blickt' ich behend in den glänzenden

Abgrund zurücke,

Athmete geizig die himmlische Luft, und fühlt' es, o Dion,

Daß hier mein Vaterland sey. Wir flogen weiter. Die

Freude

Ueber mein neues Leben gab meinem Fluge des Lichtes

Schnelligkeit. Ganze Himmel entflohn mit ihren Gestirnen

Unter uns weg. Schon schaut' ich mit festern, geübteren

Blicken,

Jn den ätherischen Ocean hin. Wie staunt' ich auf's neue,

Da ich, was ich für Wüsten gehalten, voll Wesen erblickte.

Freund, ich erstaunte noch mehr. Doch könnt' ich, was

ich gesehen,

Jn der irdischen Sprache dir mahlen? Die Sprache der

Engel
[173]
Selber ist noch zu arm, die Wunder des Schöpfers zu

nennen.

Mein Begleiter sah meinen Geist in Bewund'rung versunken,


Ob ich gleich schwieg. Er sagte: wie billig entzückt dich

der Anblick

Einer dir neuen Schöpfung! Du glaubst, die Gottheit

zu sehen,

Die du vorher nur geahnt. Du fühlst sie dir näher,

und schmeckest

Still in dir selbst die Seligkeiten des großen Gedankens,

Daß, der diese Himmel ins Leben hauchte, dich liebet.

Hier, hier wachsen die Flügel der Seele, die göttliche

Liebe,

Liebe zum einzigen Wesen, dem alle Herzen gehören.

Nur der thierische Mensch, versunken im Schlamme

des Stoffes,

Hat kein Auge, das Licht, das ihn durchleuchtet, zu sehen,

Hat kein Ohr, zu vernehmen, was jeder Laut in der

Schöpfung,

Was ihm der mächtige Einklang von allen Welten verkündigt.


Während mein Führer dies sprach, entdeckte sich endlich

die Sphäre,

Die ich bewohne, dem suchenden Aug'. Aus hundert

Gestirnen

Stralte sie prächtig hervor. Mit dreimal schnellerem

Flügel

Flohn wir ihr zu; ein süß erquickender zirkelnder Lichtstrom

Ging von ihr aus; nie gefühlte Wollust durchstralte

mein Wesen.

Jch empfand, daß der Leib, womit mein himmlischer

Schutzgeist

Mich im Tode bekleidet, für diese Sphäre geschaffen,
[174]
Seine Geburtsluft hauchte, er schien mir verklärter und

leichter.

Sieben saffirne Monde gehn mit harmonischen Schritten

Um sie herum. Mit der sanften Dämm'rung des fernsten

Begleiters

Sanken wir auf die schönste der Welten. ─ Doch, Dion,

hier schweigen

Alle Menschenbegriffe; was ich gefühlt und gesehen,

Wirst du alsdann erst fühlen und sehn, wann die einzige

Hoffnung,

Die der Tugend auf Erden erlaubt ist, der Tod dich

mir zuführt.

Hier, wo ich wohn', ist Sitz der Schönheit. Die übrigen

Sonnen

Scheinen nur Schatten von ihm. Ein Engel, der tausend

Olympe

Durchgeflogen, verweilet sich hier; sein Fuß, wie geheftet,

Säumt auf den lazurnen Hügeln, und fast vergißt er

im Anschaun

Seines Fluges erhabenen Zweck. ─ Hier herrschet die

Weisheit

Schattenfrei, einfach, göttlich, die Schöpferin ewiger

Wollust.

Jeglicher Blick ist Wahrheit, in jeder Empfindung der

Himmel,

Jede Minute schwingt sich, mit Lobe der Gottheit beladen,

Zum benachbarten Himmel der Himmel. Die heiligen

Geister,

Die hier wohnen, umarmen mich irdischen Fremdling so

zärtlich,

Als sie einander umarmen. Jch ruh' an der reinsten

Freude

Ewigem Brunnen. Jch bet', in Entzückungen ausgegossen,

Jhn, den Unendlichen, an, der mich durch Tiefen von Liebe
[175]
So beseligt hat. ─ O Freund, zu welchem mein Herz sich

Mitten aus diesen Freuden nach deiner Erde gezogen

Fühlet, mein ähnlichster Freund, wann kommst du, die

Früchte der Tugend

Mit mir von Bäumen des Lebens zu brechen? Wann werd'

ich dich wieder

Sehen, mit dir das Glück, das ich dir danke, zu theilen?

29.
h) Die Cantate.


Die Cantate gehört zur lyrischen Form der
Dichtkunst, weil sie Gefühle darstellt; allein ihre
Eigenthümlichkeit und ihre Verschiedenheit von allen
übrigen Formen der lyrischen Dichtkunst beruht auf
ihrer Bestimmung zur Darstellung vermittelst
der Tonkunst.
Es ist daher die Cantate ein Erzeugniß
der lyrischen Dichtkunst, dessen Stoff der
Darstellung durch die Tonkunst fähig, und dessen
Form auf diese Darstellung und Durchführung durchgehends
berechnet ist. Aus diesem Gesichtspuncte
betrachtet, ist der eigenthümliche Charakter der Cantate
mehr ein äußerer, als ein innerer; doch muß,
eben weil die Cantate erst durch die Verbindung der
Dichtkunst und der Tonkunst Ein ästhetisches Ganzes
bilden soll, die ganze dichterische Form derselben
mit Beziehung auf das ihr zu ertheilende tonkünstlerische
Gewand behandelt werden.


Jm Kreise der lyrischen Dichtkunst bildet aber
die Cantate nicht blos nach dieser ihrer äußern Eigenthümlichkeit,
sondern auch nach dem in ihr vorherrschenden
Tone der dargestellten Gefühle eine
selbstständige, von den übrigen Formen der lyrischen
Dichtkunst verschiedene, Form. Denn, nach [176]
den im Gebiete der teutschen Sprache vorhandenen
Mustern in der Cantate ist sie durchaus nicht blos
eine Untergattung des Liedes, wie die Dithyrambe
von der Hymne, und die Heroide von der Elegie;
sie kann sich vielmehr, nach dem Ausdrucke, der
Fülle und Stärke des Tones der Gefühle, eben so
der Ode, der Hymne und der Elegie, wie dem Liede
nähern; es können in ihr reine Gefühle der Freude
und Wonne, wie reine Gefühle der Wehmuth und
Trauer, und gleichmäßig auch gemischte Gefühle der
Lust und Unlust, bald in der Milde der elegischen
Stimmung, bald in dem kühnen Schwunge der
Ode und Hymne aufgestellt werden; bald können
die Gefühle des Unendlichen und Endlichen in der
Cantate in einem stark versinnlichten Gegensatze sich
ankündigen, bald aber auch mit sich im Gleichgewichte
stehen. Dazu kommt, daß in längern Cantaten,
oder sogenannten Oratorien, eine große Abwechselung,
Mannigfaltigkeit und Schattirung des
lyrischen Tones in den Arien und Chören statt finden
kann, besonders wenn durch die Recitative die
Uebergänge aus dem einen Gefühle in das andere
gehörig geleitet werden. Doch müssen, ungeachtet
dieser Abwechselung und Schattirung der dargestellten
Gefühle, die sämmtlichen einzelnen Theile der Cantate,
deren Aufeinanderfolge gleichmäßig von
dichterischen und tonkünstlerischen Rücksichten abhängt,
überhaupt Ein ästhetisches Ganzes bilden, dessen
Vollendung auf der innern Einheit und auf
dem psychologischen Zusammenhange aller in der Cantate
im Einzelnen verzeichneten und dargestellten Gefühle
beruht. Weil aber die Cantate zunächst und
durchgehends auf die tonkünstlerische Darstellung berechnet
ist, und nur diese erst als Kunstwerk vollen= [177]
det wird (nach demselben Verhältnisse, in welchem
die Oper, in der dramatischen Form der Dichtkunst,
zu den übrigen Gattungen und Arten des Drama
sich ankündigt); so muß auch der Dichter dem
Tonkünstler vorarbeiten.
Er darf daher die
tonkünstlerische Behandlung weder bei der Wahl des
Stoffes und des Metrums, noch bei dem Wechsel
und der Aufeinanderfolge der einzelnen Recitative,
Arien und Chöre, ja selbst nicht bei der Anwendung
und Stellung der einzelnen Vocale aus dem
Auge verlieren. Daraus folgt für die technische
und ästhetische Gestaltung der Cantate, daß der Dichter
und Tonkünstler auf halbem Wege sich begegnen
müssen; daß aber auch der Dichter der Cantate die
Grundsätze der Tonkunst verstehen und sich aneignen,
so wie der Tonkünstler der dichterischen Begeisterung
zu folgen im Stande seyn soll.


Dem Stoffe nach, den die Cantaten behandeln,
sind sie entweder religiöse oder weltliche. Die
religiösen Cantaten versinnlichen, unter der vollendeten
Einheit einer ästhetischen Form, bald die Eigenschaften
und die Größe Gottes, die Verhältnisse,
in welchen er zu uns stehet, und in welchen wir zu
ihm stehen; bald die Tugenden, zu denen wir berufen
sind, so wie die Verirrungen, durch welche
wir uns von dem Ziele unsers Daseyns entfernen;
bald den dunkeln und wundervollen Gang der menschlichen
Schicksale auf Erden; bald die Unsterblichkeit
und Vergeltung, die uns jenseits des Grabes erwartet;
bald aber auch die Thatsachen und Lehren der
jüdischen und christlichen Religion nach ihrem ganzen
Umfange. (Dahin gehören viele treffliche Oratoria in
teutscher Sprache: z. B. Ramlers Tod Jesu; die
Auferstehung und Himmelfahrt; die Hirten bei der [178]
Krippe zu Bethlehem; ─ Niemeyers Lazarus;
Abraham auf Moria; Thirza und ihre Söhne; ─
Patzke's Tod Abels [nach Geßner]; Saul, oder
die Gewalt der Musik; Davids Sieg im Eichthale;
Schiebeler's Jsraeliten in der Wüste;
und mehrere Cantaten von v. Gerstenberg, Zachariä,
Lavater,
Karl Gtfr. Küttner, Mahlmann,
Rochlitz, Krummacher, Dolz
u. a.) ─
Jm Gegensatze der religiösen, feiern die weltlichen
Cantaten entweder wichtige Vorgänge und Gegenstände
des wirklichen Lebens (z. B. bei Geburtstagen,
bei Vermählungen, bei Einweihungen gewisser
Anstalten, nach gewonnenen Schlachten), oder
Gegenstände der Wissenschaft und Kunst (z. B.
Meißners Lob der Musik), oder Stoffe der Mythologie
(z. B. Ramlers Pygmalion) u. s. w. ─
Beide, sowohl die religiösen, als die weltlichen Cantaten,
können von dem Dichter dramatisch behandelt
werden, so daß er die handelnden Personen,
zur größern Versinnlichung des Gegenstandes, selbst
aufführt (so z. B. Niemeyer im Lazarus, im
Abraham auf Moria; Patzke im Tode Abels &c.);
doch ist diese Dramatisirung des Stoffes keine wesentliche,
sondern nur eine zufällige äußere Form
der Darstellung, wodurch selbst nicht einmal die höhere
Jdealisirung und gesteigerte Versinnlichung des
Stoffes, im Verhältnisse zu den nicht dramatisirten
Cantaten und Oratorien, bewirkt wird. Denn
kein Urtheil der ästhetischen Kritik wird Ramlers
allgemein bekannten Tod Jesu in ästhetischer Hinsicht
irgend einer andern ältern oder neuern Cantate
nachstellen, ob er gleich nicht dramatisch behandelt
ist. Der ästhetische Gehalt der Cantate hängt
nicht ab von solchen außerwesentlichen Merkmalen,
sondern von der wahren Begeisterung des Dichters [179]
von seinem Stoffe, von der gleichmäßigen idealisirten
Durchführung desselben, von der vollendeten ästhetischen
Einheit der Form, und von der durchgängig
festgehaltenen Rücksicht auf die tonkünstlerische Darstellung
aller einzelnen Theile, aus welchen die Cantate
besteht.


Diese einzelnen Theile der Cantate, auf deren
Abwechselung und gegenseitiger Verbindung der
äußere Charakter derselben beruht, sind ursprünglich:
das Recitativ, die Arie und der Chor. Alle
übrige Formen und Benennungen der einzelnen Theile
der Cantate (z. B. Arioso, Cavatine, Duett,
Terzett
u. s. w.) sind blos nähere Schattirungen
einer dieser drei wesentlichen Bestandtheile
jeder Cantate. ─ Das Recitativ hat nämlich
die Bestimmung, die in den Arien und Chören darzustellenden
Gefühle, und die Wirkungen, welche diese
Gefühle hervorbringen sollen, zu veranlassen und
vorzubereiten; überhaupt soll das Recitativ in die
Stimmung versetzen, welche die Cantate als vollendete
ästhetische Form zu bewirken beabsichtigt. Dagegen
muß die Arie Ein bestimmtes Gefühl der
Wonne oder Wehmuth, oder die Schattirung eines
gemischten Gefühls, als ein in sich abgeschlossenes
Ganzes im menschlichen Bewußtseyn, versinnlichen,
so daß auch in der tonkünstlerischen Behandlung die
Einheit des Gefühls sorgfältig festgehalten wird.
Die ältern Dichter der Cantate befolgten bei der
Arie gewöhnlich mit Strenge und Sorgfalt die Abtheilung
derselben in zwei Abschnitte, wovon der
zweite gewöhnlich ein, dem in der ersten Abtheilung
dargestellten Gefühle entgegengesetztes, Gefühl vergegenwärtigte,
wofür auch der Tonkünstler eine andere
Tonart (z. B. die Dominante, oder die Molltonart), [180]
bisweilen selbst ein anderes Zeitmaas (Mensur)
wählte *, doch so, daß nach der kurz ausgeführten
zweiten Abtheilung die erste wiederhohlt
ward. Die neuern Dichter aber haben weniger
streng diese frühere äußere Gestaltung der Arie befolgt.
─ Das Duett, Terzett, Quartett
u. s. w. sind an sich blos erweiterte Gestaltungen
der Arie, und stehen nur dann an ihrem Platze
in der Cantate, wenn mehrere Gefühle nach und
neben einander individualisirt werden, die aber in
Einem Gesammtgefühle ihren gemeinschaftlichen Mittelpunct
haben, weil ohne diese Bedingung sowohl
die dichterische, als die tonkünstlerische Behandlung
der Einheit der Form unmöglich wäre. Allein wenn
wirklich im Duett, Terzett u. s. w. ein Wechsel
und ein Gegeneinanderhalten mehrerer Gefühle versinnlicht
wird; so ist auch, bei gleicher dichterischen
Behandlung, das ästhetische Jnteresse am Duette [181]
noch höher, als an der Arie, weil der Wechsel der
dargestellten Gefühle eine mannigfaltigere Schattirung
und eine höhere Farbengebung für den Dichter
und Tonkünstler möglich macht. ─ Die sogenannte
Cavatine ist eine Arie im verjüngten Maasstabe,
die theils, in Hinsicht auf die dichterische Darstellung
Eines Gefühls, gewöhnlich von kürzerm Umfange,
theils in Hinsicht auf die Erfindung der Melodie
und auf die ganze tonkünstlerische Durchführung,
der Arie größtentheils ähnlich, nur aber ihrem
Umfange nach beschränkter und kleiner ist, weil die
Cavatine die in der Arie (wenigstens ehemals) übliche
Abtheilung in zwei oder mehrere Haupttheile,
und die derselben eigenthümliche Wiederkehr und weitere
Ausmahlung des dichterischen und tonkünstlerischen
Hauptgedankens von sich ausschließt. ─ Das
Arioso, das entweder in der Mitte, oder am
Schlusse eines Recitativs eintritt, kann nicht einmal
als eine Arie im verjüngten Maasstabe gelten,
weil der Dichter nur dann diese Benennung wählt,
wenn ein angeregtes Gefühl stark genug wird, die
ruhige Betrachtung, die im Recitative vorherrscht,
zu unterbrechen, und sich unter dem Ausdrucke einer
höhern innern Bewegung anzukündigen (z. B. bei
der Darstellung eines Wunsches, einer Bitte, oder
des raschen Ueberganges von einem Gefühle zu einem
andern), wo denn auch der Tonkünstler die declamatorische
Behandlung des Recitativs mit der Aufnahme
und Vergegenwärtigung einer Melodie und
dem Eintritte eines bestimmt festzuhaltenden Zeitmaases
vertauscht, wodurch unmittelbar angeregte Gefühle,
aber nicht in der Fülle und in dem Umfange
der für eine Arie gewählten Melodie, bezeichnet
werden. ─ Der Chor endlich hat die Bestimmung, [182]
das Gesammtgefühl zu vereinigen und
auszudrücken, das durch die einzelnen Theile der
Cantate, und namentlich durch die in den Arien,
Duetten u. s. w. einzeln dargestellten und durchgeführten
individuellen Gefühle vorbereitet worden ist. Namentlich
müssen die Schlußchöre der einzelnen Theile
einer längern Cantate die in den einzelnen Abtheilungen
vergegenwärtigten Gefühle zu Einem kräftigen
Ganzen bringen, besonders aber muß der Schlußchor
(Finale) der ganzen Cantate das durch sie vermittelte
Gesammtgefühl in der ganzen Fülle und Kraft
desselben aussprechen, und sowohl die dichterische,
als die tonkünstlerische Einheit der Form vollenden;
denn der Chor vertritt die ganze als anwesend gedachte
Gemeine, es sey in der religiösen oder in
der weltlichen Cantate, und soll ihr Wortführer
seyn, indem er den in Allen mächtig aufgeregten
Gefühlen Sprache, Wohlklang, Ebenmaas und Einheit
giebt *

[183]

30.
Beispiele der Cantate.


1) von Gottsched († 1766).


Bruchstück aus der Cantate auf das (1723) eingefallene
Jubelfest der roßgärtischen Kirche zu Königsberg.



Arie.


(Tochter Zion)


Auf, ihr jauchzenden Gedanken!

Derer Gottgeweihte Kraft

Mich fast selber aus mir rafft.

Alles Aechzen muß jetzt schweigen,

Da sich Freudenstunden zeigen,

Die der Herr mir selber schafft.

Auf ihr &c. Da Capo.

Recitativ.


Komm, frohes Christenvolk!

Der Höchste läßt dich rufen,

Betritt jetzt deines Tempels Stufen,

Worin er dich ein Jubelfest

Nach hundert Jahren feiern läßt.

Chor.


(Gemeine)


Dies ist der Tag, den der Herr machet. Lasset uns
freuen und fröhlich darin seyn.

[184]

Recitativ.


(Gottes Stimme)


Du höchstgeliebte Schaar!

So wird denn die Verheißung wahr,

Die ich dir längst gethan:

Dies Haus soll meine Rechte schützen,

Des Höllenfeindes Blitzen

Soll dir nicht schädlich seyn,

Denn du bist mein.

Arie.


(Tochter Zion)


Nie empfundne Süßigkeit

Tränkt mich jetzt mit vollen Schalen,

Gott, ich kann dir nicht bezahlen,

Deine Huld ist täglich neu,

Meiner Lippen Dankgeschrei

Preiset dich zu tausendmalen;

Denn ich schmeck' jetzt auf das Leid

Nie empfundne Seligkeit.

Recitativ.


(Gottes Stimme)


Sag an, o kleine Heerde,

Hat dir bisher auch irgend was gefehlt?

Hat dich, nachdem ich dich erwählt,

An deiner Seelenweide

Ein Hunger oder Durst gequält?

Hab' ich dich nicht im Leide

Mit Quellen süßes Trosts getränkt,

Und dieses Haus mit Sicherheit beschenkt?

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der
Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der
Herr, dein Erbarmer.

[185]

Arie.


(Tochter Zion)


Mischet euch, rinnende Freudenkrystallen,

Mischet euch mit Lob und Dank.

Seufzer und Lachen

Müssen jetzt ein Bündniß machen.

Denn wir verknüpfen ein thränendes Lallen

Mit Saiten und Klang.

Mischet euch &c. Da Capo.

2) von Karl Gtfr. Küttner (Sup. in
Pirna, † 1789).


Cantate bei der Einweihung einer neuen
Orgel.

Chor.


Kommet herzu, lasset uns dem Herrn frohlocken, und
jauchzen dem Hort unsers Heils. Lasset uns mit Danken
vor sein Angesicht kommen, und mit Psalmen ihm
jauchzen.


Recitativ.


Ja strömt herzu im fröhlichen Gedränge,

Jhr, denen heut die Brust vor Freude schwillt,

Zum Tempel, der durch feiernde Gesänge

Jed' Herz und Ohr mit heißer Andacht füllt.

Mit lautem Jubel sey der Herr der Welt gepriesen,

Der sich an uns nicht unbezeugt erwiesen.

Jn rührender erhabner Einfalt stand

Zwar längst ein Tempel hier, der durch des Meisters Hand

Mit reizender lichtvoller Schönheit prangte.

Eins fehlte noch, was Aug' und Ohr verlangte, ─

Jetzt ist es da; ─ vor unsern Augen steht

Der neuen Orgel Pracht in edler Majestät,

Und schallt für jedes Ohr, das zum Gefühl des Schönen
[186]
Nicht ganz verstimmet ist,

Zum Lobe deß, der dreimal heilig ist,

Jn ernsten feierlichen Tönen.

Sein triumphirender gebieterischer Klang

Herrscht kühn, und überstimmt die größten Dissonanzen,

Und zwingt den tausendstimmigen Gesang

Des Volks zur Harmonie im Ganzen.

Arioso.


Doch soll die süße Harmonie

Jm Himmel Beifall finden;

So muß sich mit der reinen Melodie

Des Herzens Reinigkeit verbinden.

Recitativ.


Kalt, wie ein Marmorbild, von keinem Geist beseelt,

Jst jedes Lied, dem Glaub' und Liebe fehlt,

Umsonst erweckt's den Wiederhall,

Es ist und bleibt ein leerer Schall.

Nie wird es durch die Wolken dringen,

Nie werden Engel es zum Thron der Allmacht bringen.

Durch Gottesfurcht belebe den Gesang;

Dann wird des Herzens wärmster Dank

Aus meinem Liede singen.

Arie.


Wann auf heißer Andacht Schwingen

Unsre Jubel aufwärts dringen,

Quelle süßer Harmonie,

Orgel, dann begleite sie.

Schwebt, von Gram und Schmerz zerrissen,

Unser Geist in Finsternissen,

Thränt aus uns der Buße Schmerz;

O, dann schmelze Aug' und Herz!

Durch dein schauervolles Schweben

Zittre sanft in unser Ach!

Um uns wieder zu erheben,
[187]
Ahme durch ein süßes Beben

Tröstend unsre Wehmuth nach.

Wann auf heißer &c.

Chor.


Erhebt den Herrn, ihr weiten Himmelskreise!

Jhr Erden singt, ihr Sonnen flammt sein Lob!

Jhr Engelsharfen tönt zu dessen Preise,

Den Assaph einst voll heil'ger Glut erhob.

Jhn preist der Christ mit freudigem Entzücken,

Stets eingedenk, was Gott an ihm gethan,

Er ists, durch den sich Berg' und Thäler schmücken,

Jhm jauchzt der Wald, ihn rühmt der Ocean.

Jhn lobt im Lenz die duftende Viole,

Jhn ehrt der Sturm in schauervoller Nacht;

Jm Donner rollt sein Ruhm von Pol zu Pole,

Und jeder Stern verkündigt seine Macht!

Er, dessen Ruhm durch tausend Welten schallet,

Verdient er wohl, ihr Christen, euern Dank?

Jhr, die ihr heut zum Tempel feiernd wallet,

Auf bringt ihm Preis, Anbetung und Gesang!

Recitativ.


Ja preist den Herrn, Bewohner dieser Stadt,

Die seine Huld so hoch begnadigt hat!

Wer schafft, daß Krieg und mörderische Seuchen,

Und Hungersnoth von unsern Grenzen weichen?

Wer flößt zur bösen Zeit uns Muth und Hoffnung ein?

Wer krönt des Handels Fleiß mit Segen?

Wer schenkt zur rechten Zeit uns Sonnenschein und Regen?

Wer giebt dem Bürger Brod, den Früchten ihr Gedeihn?

O eilt, ihm heut den wärmsten Dank zu weihn!

Chor.


Den bringen wir

Empfindungsvoll, allgüt'ger Vater, dir!
[188]

Recitativ.


Ja, ihm sey Preis und Dank und Ehre;

Noch wirkt durch seinen Geist die Kraft der reinen Lehre,

Licht für den Geist, Gottseligkeit fürs Herz,

Für Sünder Angst, und süßen Trost im Schmerz

Für alle, die dem Wort nicht widerstreben.

Den gottesdienstlichen Gesang zu heben,

Gab seine Vorsicht uns der Orgel Majestät,

Gebaut von Meisterhänden.

Wer gab den Künstlern Kraft, sie rühmlich zu vollenden?

Der Gott, zu dessen Ruhm sie heute festlich geht.

Chor.


Froh weihen wir

Dies edle Werk, o Gott, zum Dienste dir!

Recitativ.


Laß unter uns dein Wort im Segen wohnen!

Mit Heil erfüll' die Priester dieser Stadt!

Für unsre Schulen sey ein Gott von Rath und That!

Mit Brand wollst du dies Gotteshaus verschonen,

Und segensvoll der Künstler Fleiß belohnen,

Durch den es sich so sehr verschönert hat.

Dem Magistrat und jedem Bürger dieser Stadt,

Der diesen Bau, der dieses Tempels Zierde

Durch edle Mildigkeit

Zu deiner Ehr' und sich zum Ruhm vollführte,

Sey du ein Segensgott in Zeit und Ewigkeit!

Chor.


O du, durch den die Thäler blühen,

Zu dir jauchzt unser Lied empor.

O du, durch den die Sonnen glühen,

Dir schallt ein jubelvolles Chor:

Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!

Erdkreis, sey fröhlich dem Schöpfer zu Ehren!

Freut euch, ihr Himmel, frohlocket ihr Sphären!
[189]
Hymnen voll Dankbarkeit höret er gern!

Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!

3) vom Grafen Fr. Leopold zu Stolberg
(† 1819).


Wechselgesang.


Einer.


Wer spannet den Bogen

Jm dunkeln Gezelt?

Wer schwärzet die Wogen?

Wer schrecket mit Blitzen die zagende Welt?

Chor.


Er spannet den Bogen

Jm friedlichen Zelt;

Er stillet die Wogen,

Er tränket mit Labsal die lechzende Welt.

Einer.


Wer fähret auf Wettern

Jm Wagen der Nacht?

Wer dräut zu zerschmettern

Den Fels und die Ceder, die wankend erkracht?

Chor.


Es trägt Jhn im Sturme

Der Wagen der Nacht.

Dem Menschen, dem Wurme,

Verkündet sich segnend des Herrlichen Macht.

Einer.


Wer schaute die Rosse

Von Seinem Gespann?

Mit welchem Geschosse

Durcheilt er, mit Wettern umgürtet, die Bahn?

Chor.


Die Kraft und die Eile,
[190]
So heißt Sein Gespann!

Des Mächtigen Pfeile

Sind Flammen! Unendlichkeit heißet die Bahn!

Einer.


Ach höret ihr rollen

Den Wagen daher?

Er nahet! Ach, sollen

Die Berge zerschmelzen, versiegen das Meer?

Chor.


Des Mächtigen Nähe

Beseele die Welt!

Hier ist Er! O, spähe

Nach ihm nicht von ferne durchs Wolkengezelt!

Einer.


Wie soll ich ihn kennen?

Wer zeiget mir ihn?

O dürft' ich ihn nennen,

Und zitternd vor ihm in den Staub hinknien!

Chor.


Sein Nam' ist Erbarmen,

Und Liebe sein Thun!

Wir sollen erwarmen

Von Lieb', und im Schooße, wie Kinder, ihm ruhn!

4) von Ramler († 1798).


Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu.
(abgekürzt)

Chor.


Gott, du wirst seine Seele nicht in der Hölle lassen,
und nicht zugeben, daß dein Heiliger die Verwesung
sehe.


Recitativ.


Judäa zittert! seine Berge beben!
[191]
Der Jordan flieht den Strand! ─

Was zitterst du, Judäens Land?

Jhr Berge, warum bebt ihr so?

Was war dir, Jordan, daß dein Strom zurücke floh? ─

Der Herr der Erde steigt

Empor aus ihrem Schoos, tritt auf den Fels, und zeigt

Der staunenden Natur sein Leben. ─

Des Himmels Myriaden liegen auf der Luft

Rings um ihn her; und Cherub Michael fährt nieder,

Und rollt des vorgeworfnen Steines Last

Hinweg von seines Königs Gruft.

Sein Antlitz flammt, sein Auge glühet.

Die Schaar der Römer stürzt erblaßt

Auf ihre Schilde: „Flieht, ihr Brüder,

Der Götter Rache trifft uns, fliehet!“

Arie.


Mein Geist, voll Furcht und Freude bebet;

Der Fels zerspringt, die Nacht wird Licht.

Seht, wie er auf den Lüften schwebet!

Seht, wie von seinem Angesicht

Die Glorie der Gottheit stralt!

Rang Jesus nicht mit tausend Schmerzen?

Empfing sein Gott nicht seine Seele?

Floß nicht sein Blut aus seinem Herzen?

Hat nicht der Held in dieser Höhle

Der Erde seine Schuld bezahlt?

Mein Geist &c.

Choral.


Triumph! Triumph! des Herrn Gesalbter sieget!

Er steigt aus seiner Felsengruft.

Triumph! Triumph! ein Chor von Engeln flieget

Mit lautem Jubel durch die Luft.

Recitativ.


Freundinnen Jesu! sagt, woher so oft
[192]
Jn diesem Garten? Habt ihr nicht gehört, er lebe?

Jhr zärtlichen Geliebten hofft

Den Göttlichen zu sehn, den Magdalena sah? ─

Jhr seyd erhört. Urplötzlich ist er da,

Und Aloen und Myrrhen düftet sein Gewand:

„Jch bin es! seyd gegrüßt!“ Sie fallen zitternd nieder.

Sein Arm erhebt sie wieder:

„Geht hin in unser Vaterland,

Und sagt den Jüngern an: Jch lebe,

Und fahre bald hinauf in meines Vaters Reich;

Doch will ich alle sehn, bevor ich mich für euch

Zu meinem Gott und eurem Gott gen Himmel hebe!“

Arie.


Jch folge dir, verklärter Held!

Dir, Erstling der entschlafnen Frommen!

Triumph, der Tod ist weggenommen,

Der auf der Welt der Geister lag.

Dies Fleisch, das in den Staub zerfällt,

Wächst fröhlich aus dem Staube wieder.

O, ruht in Hoffnung meine Glieder

Bis an den großen Erntetag!

Jch folge dir &c.

Chor.


Tod! wo ist dein Stachel? dein Sieg, o Hölle, wo

ist er? ─

Unser ist der Sieg! Dank sey Gott! und Jesus ist

Sieger!

Recitativ.


Auf einem Hügel, dessen Rücken

Der Oelbaum und der Palmbaum schmücken,

Steht der Gesalbte Gottes. Um ihn stehn

Die seligen Gefährten seiner Pilgrimschaft.

Sie sehn erstaunt von seinem Antlitz Stralen gehn;

Sie sehn in einer lichten Wolke
[193]
Den Flammenwagen warten, der ihn führen soll;

Sie beten an. ─ Er hebt die Hände

Zum letzten Segen auf: „Seyd meines Geistes voll;

Geht hin, und lehrt,

Bis an der Erden Ende,

Was ihr von mir gehört:

Das ewige Gebot der Liebe! ─ Gehet hin,

Thut meine Wunder! Gehet hin,

Verkündigt allem Volke

Versöhnung, Frieden, Seligkeit!“

Er sagts, steigt auf, wird schnell emporgetragen;

Ein stralendes Gefolg umringet seinen Wagen.

Arie.


Jhr Thore Gottes, öffnet euch!

Der König ziehet in sein Reich.

Macht Bahn, ihr Seraphimenchöre,

Er steigt auf seines Vaters Thron.

Triumph! werft eure Kronen nieder!

So schallt der weite Himmel wieder:

Triumph! gebt unserm Gott die Ehre!

Heil unserm Gott und seinem Sohn!

Jhr Thore Gottes &c.

Chor.


Gott fähret auf mit Jauchzen, und der Herr mit heller

Posaune.

Lobsinget, lobsinget Gott! Lobsinget, lobsinget unserm

Könige.

31.
i) Das Sonett.


Das Sonett gehört, wie das Madrigal, Rondeau
und Triolet, nach seinem Umfange, zu den
kleinern, und, seinem äußern Mechanismus nach,
zu den bestimmt berechneten metrischen Formen. [194]
Sein dichterischer Charakter ist lyrisch; denn es
stellt Gefühle, und zwar, in den meisten vorhandenen
Erzeugnissen, die Gefühle der Liebe, nach ihrer ganzen
Jnnigkeit und Zartheit, dar, welche, in Hinsicht
auf den vorherrschenden Grundton, mehr mit
milden und sanften, als mit starken Farben gezeichnet
werden. Doch verschmilzt in mehrern Sonetten
das Gefühl der Liebe in die verwandten Gefühle
der Freundschaft, der Sympathie, der Religion, und
der stillen Feier tiefer Gemüthsbewegungen überhaupt.
Da übrigens der genau berechnete, kleine
Umfang des Sonetts die weitere Entwickelung des
angeregten dargestellten Gefühls von sich ausschließt;
so muß das im Grundtone des Sonetts vorherrschende
Gefühl unter der Form einer vollendeten
ästhetischen Einheit sich ankündigen.


Die äußere Eigenthümlichkeit des Sonetts
beruht auf dem ursprünglichen und festbestimmten
Mechanismus seiner Form. Dieser besteht in vierzehn
gleich langen Versen (zwei Quadrainen und
zwei Terzetten), wovon die ersten acht in zwei vierzeilige
Strophen, die letzten sechs in zwei dreizeilige
Strophen eingetheilt sind. Nach der frühern Gestaltung
dieser äußern Form wechselten in den ersten
zwei Strophen nur zwei Reime, und vier männliche
mit vier weiblichen Endsylben ab, worauf in den
sechs folgenden Zeilen wieder drei Zeilen männliche
Reime, und drei Zeilen weibliche Reime enthielten,
mit der Rücksicht, daß am Schlusse jedes Quadrains
und jedes Terzetts ein dichterischer Gedanke
geschlossen ward. Allein neuere Dichter haben, nicht
ohne Erfolg, diese ängstliche Berechnung der äußern
Form des Sonetts im Einzelnen verlassen, und nur
den allgemeinen Mechanismus des Sonetts in [195]
Hinsicht auf die vierzehn gleich langen Zeilen, so
wie in Hinsicht der zwei Quadraine und zwei Terzetts
beibehalten.


Das Sonett ist nicht teutschen, sondern italischen
Ursprungs, und erhielt zunächst durch Petrarca's
118 Sonette eine weitere Verbreitung; denn
diese wurden in die meisten gebildeten Sprachen
übersetzt, und von italienischen und ausländischen
Dichtern nachgeahmt. Von den teutschen Dichtern
des siebenzehnten Jahrhunderts bauten Opitz, Flemming,
Gryphius, Lohenstein,
v. Hoffmannswaldau
und andre das Sonett an; doch,
im Ganzen, ohne auf ihre Sonette das höhere dichterische
Leben überzutragen. Weit gelungener war
der Anbau desselben seit dem dritten Viertheile des
achtzehnten Jahrhunderts von Schiebeler, Bürger,
Aug. Wilh. Schlegel, Manso u. a.; nur
daß theils die Unzahl mißlungener Sonette, theils,
selbst bei den gelungenen Formen in dieser Dichtungsart,
die Einförmigkeit des Mechanismus und
die Eintönigkeit des Ganzen demselben Abbruch gethan
haben.

32.
Beispiele des Sonetts.


1) von Flemming († 1640).


Klage über die Furchtsamkeit der Teutschen.
(während des 30jährigen Krieges.)


Jetzt fällt man ins Confect, in unsre vollen Schalen,

Wie man uns längst gedräut. Wo ist nun unser Muth?

Der ausgestählte Sinn, das kriegerische Blut?

Es fällt kein Ungar nicht von unserm eitlen Prahlen.
[196]
Kein Busch, kein Schützenrock, kein buntes Fahnenmahlen


Schreckt den Croaten ab. Das Ansehn ist sehr gut,

Das Ansehn mein' ich nur, das nichts zum Schlagen thut.

Wir feigsten Krieger wir, die Phöbus kann bestralen.

Was ängsten wir uns doch, und legen Rüstung an,

Die doch der weiche Leib nicht um sich leiden kann;

Des großen Vaters Helm ist viel zu weit dem Sohne.

Der Degen schändet ihn. Wir Männer ohne Mann,

Wir Starken auf den Schein, so ist's um uns gethan,

Uns Namens-Teutsche nur. Jch sag's auch mir zum

Hohne.

2) von Flemming.


Grabschrift, von ihm selbst kurz vor seinem Tode
niedergeschrieben.


Jch war an Kunst und Gut und Stande groß und reich,

Des Glückes lieber Sohn; von Aeltern guter Ehren;

Frei; meine; kunnte mich aus meinen Mitteln nähren.

Mein Schall flog über weit. Kein Landsmann sang mir

gleich.

Von Reisen hochgepreist; für keiner Mühe bleich;

Jung, wachsam, unbesorgt. Man wird mich nennen hören,

Bis daß die letzte Glut dies alles wird verstören.

Dies, teutsche Klarien, dies Ganze dank' ich euch.

Verzeiht mir, bin ichs werth, Gott, Vater, Liebste,

Freunde;

Jch sag' euch gute Nacht, und trete willig ab.

Sonst alles ist gethan, bis an das schwarze Grab.

Was frei dem Tode steht, das thu' er seinem Feinde.

Was bin ich viel besorgt, den Athem aufzugeben?

An mir ist minder nichts, das lebet, als mein Leben.
[197]

3) von Katharina v. Greiffenberg, geb.
v. Seyßenegg.


(Jhre Gedichte erschienen 1662.)


Die Gott lobende Frühlingslust.


Das schöne Blumenheer geht wiederum zu Feld,

Um Ruh und Farbenpracht recht in die Welt zu streiten,

Des Laubes Lorbeersträuch' bekränzen's aller Seiten;

Dryaden schlagen auf die kühlen Schattenzelt.

Es ist mit Lieblichkeit verguldet alle Welt;

Die Freudengeister sich ganz in die Luft ausbreiten.

Die Welt=regierend Kraft will all's in Freud verleiten.

Die süße Himmelsfüll' sich etwas erdwärts hält.

Es weißt die Ewigkeit ein Fünklein ihrer Schöne,

Ein Tröpflein ihres Safts, ein Stäublein ihrer Zier.

Dies lieblich Kosten macht, daß ich mich erst recht sehne,

Und lechz' mit dürrer Zung' und heißer Gier nach ihr.

O Frühling, Spiegelquell, du netzest und ergötzest;

Aus Erd' in Himmel-Lust die Seele schnell versetzest.

4) von Andr. Gryphius († 1664).


Es ist alles eitel.


Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;

Wo jetzo Städte stehn, wird eine Wiese seyn,

Auf der ein Schäferskind wird spielen mit der Heerden.

Was jetzo prächtig blüht, soll bald zertreten werden;

Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch' und Bein;

Nichts ist, das ewig ist, kein Erz, kein Marmorstein.

Jetzt lacht das Glück uns an, bald dauern die Beschwerden.

[198]
Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.


Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?

Ach, was ist alles das, was wir so köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und

Wind,

Als eine Wiesenblum', die man nicht wieder findt! ─

Noch will, was ewig ist, kein einz'ger Mensch betrachten.

5) von Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau
(† 1679).


Beschreibung vollkommner Schönheit.


Ein Haar, so kühnlich Trotz der Berenice spricht,

Ein Mund, der Rosen führt und Perlen in sich heget,

Ein Zünglein, so ein Gift für tausend Herzen träget,

Zwo Brüste, wo Rubin durch Alabaster bricht;

Ein Hals, der Schwanen-Schnee weit weit zurücke

sticht,

Zwei Wangen, wo die Pracht der Flora sich beweget,

Ein Blick, der Blitze führt und Männer niederleget,

Zwei Arme, deren Kraft oft Löwen hingericht;

Ein Herz, aus welchem nichts als mein Verderben

quillet,

Ein Wort, so himmlisch ist, und mich verdammen kann,

Zwei Hände, deren Grimm mich in den Bann gethan,

Und durch ein süßes Gift die Seele selbst umhüllet,

Ein Zierrath, wie es scheint, im Paradies gemacht,

Hat mich um meinen Witz und meine Freiheit bracht.

6) von Schiebeler († 1771).


Du forderst ein Sonett von mir?

Du weißt, wie schwer ich dieses finde,
[199]
Darum, du lose Rosalinde,

Versprichst du einen Kuß dafür.

Was ist, um einen Kuß von dir,

Das sich Myrtill nicht unterstünde?

Jch glaube fast, ich überwinde;

Sieh, zwei Quadrains stehn ja schon hier.

Auf einmal hört es auf zu fließen.

Nun werd' ich doch verzagen müssen!

Doch nein, hier ist schon ein Terzett.

Nun beb' ich doch ─ wie werd' ich schließen?

Komm, Rosalinde, laß dich küssen!

Hier, Schönste, hast du dein Sonett!

7) von Bürger († 1794).


Die Unvergleichliche.


Welch Jdeal aus Engelsphantasie

Hat der Natur als Muster vorgeschwebet,

Als sie die Hüll' um einen Geist gewebet,

Den sie herab vom dritten Himmel lieh?

O Götterwerk! mit welcher Harmonie

Hier Geist in Leib, und Leib in Geist verschwebet!

An allem, was hienieden Schönes lebet,

Vernahm mein Geist so reinen Einklang nie.

Der, welchem nie der Adel ihrer Mienen,

Der Himmel nie in ihrem Aug' erschienen,

Entweiht vielleicht mein hohes Lied durch Scherz.

Der kannte nie der Liebe Lust und Schmerz,

Der nie erfuhr, wie süß ihr Athem fächelt,

Wie wundersüß die Lippe spricht und lächelt.
[200]

8) von Bürger.


Auf die Morgenröthe.


Wann die goldne Frühe, neu geboren,

Am Olymp mein matter Blick erschaut;

Dann erblaß' ich, wein' und seufze laut:

Dort im Glanze wohnt, die ich verloren!

Grauer Tithon! du empfängst Auroren

Froh aufs neu, sobald der Abend thaut;

Aber ich umarm' erst meine Braut

An des Schattenlandes schwarzen Thoren.

Tithon! deines Alters Dämmerung

Mildert, mit dem Glanz der Rosenstirne,

Deine Göttin, ewig schön und jung;

Aber mir erloschen die Gestirne,

Sank der Tag in öde Finsterniß,

Als sich Molly dieser Welt entriß.

9) von Aug. Wilh. v. Schlegel.


An Bürger.


Süßer Sänger, willst du mir vertrauen,

Wo sie wohnt, die dein Gesang erhebt?

Wo sie wandelt, wo ihr Athem webt,

Muß Gedeihn und Lust die Flur bethauen.

Wie? du winkst mir da hinauf zu schauen,

Wo der Feiertanz der Sterne schwebt?

Die im Liede lieblich blüht und lebt,

Weilt sie schon auf Paradiesesauen?

Sänger, deine Müh' wird doch belohnt;

Einsam klagst du nicht am Grabeshügel,

Jedem Laute gabst du Seraphsflügel.
[201]
Wo bei Laura deine Molly wohnt,

Hören beide, zart, wie Tauben girren,

Durch die Amaranthenlaub' ihn irren!

10) von Aug. Wilh. v. Schlegel.


Laura's Thränen.


Jch sah der höchsten Schönheit zarte Blüthe,

Den Reiz, der meine Sinne so verwirrt,

Daß alles sonst mir Traum und Schatten wird,

Gepaart mit Seelenhuld und Engelsgüte.

Und sah, von stummer Wehmuth wie berauscht,

Jhr helles Aug' im Thau der Thränen schwimmen;

Ach, Wald und Waldstrom hätte wohl gerauscht

Bei ihren Reden, ihren Klagestimmen!

Denn Weisheit, Seelenadel, Lieb' und Gram

Verbanden da harmonisch sich zu Weisen,

Die nimmer noch die Welt so süß vernahm.

Es hallte nach in allen Himmelskreisen;

Es säuselte kein Blatt an Busch und Baum,

Nur Melodie durchfloß der Lüfte Raum.

11) von Baggesen*.


An Kanne.


Du sahst Europa's Söhne traurig darben,
[202]
Als stammdurchsägte, gottentfallne Splitter;

Da zogest du gen Osten, edler Ritter,

Wo junger Morgen stralt mit alten Farben.

Bald ziehst du heim. Wie froh zum Fest der Garben

Der Schnitter zieht, umwallt von goldner Flitter,

Jm Freudenschall der Festposaun' und Zitter,

So voll Triumph gehst du zum Fest der Narben.

Denn unsrer Wunden Arzt bist du erkohren,

Und bannst des blinden Heidenthums Gespenster,

Die uns umflattern gräßlich, klassisch=schaurig.

Aus dir denn werd' Europa neugebohren,

Und schaue durch des Ostens offnes Fenster,

Die süße Himmelsbraut, nicht länger traurig!

12) von Baggesen.


Jndische Ost-West=Erlösung.


Jch seh', ich seh' herleuchten von den Anden

Des neugebohrnen Lebens Gottverklärung.

Des ostgekehrten Herzens Wunschgewährung

Erlößt uns aus der Griechenhölle Banden.

Europa's Völker, die sich trostlos wanden

Jn abgestandner Lutherthums Verjährung,

Erstehen neu, durch Orients Gebährung

Zu Wonne, die sie nimmer noch empfanden.

An Brama's Busen werden sie erwarmen;

Vom herben Schmerz der alten Vaterschläge

Wird indisch=gottversöhnt ihr Herz gesunden.

Jch seh' ihn schon, mit beiden offnen Armen,

Auf indisch=südamerikan'schem Wege.

Wohl mir! Bald werd' ich aller Noth entbunden!

33.
k) Das Madrigal, Rondeau und Triolet.

[203]

Madrigal, Rondeau und Triolet sind dem Sonett
dadurch verwandt, theils daß sie, weil in ihnen
Ein vorherrschendes Gefühl in einer vollendeten
ästhetischen Form dargestellt wird, wie das Sonett,
zur lyrischen Dichtkunst gehören; theils daß der
kleine Umfang ihrer äußern Form auf einen bestimmten
technischen Mechanismus berechnet ist, der
aber in frühern Zeiten sorgfältiger, als gegenwärtig
festgehalten ward. Ob nun gleich jedes zur ästhetischen
Einheit erhobenes Madrigal, Rondeau und
Triolet, nach seinem Grundcharakter, ein innerhalb
der Form oft mehr nur angedeutetes, als durchgeführtes
Gefühl aussprechen muß; so hat doch, in
den meisten Fällen, der Witz einen eben so großen
Antheil an der Hervorbringung und Festhaltung der
kleinen dichterischen Form, als das Gefühl und die
Einbildungskraft. Denn, nächst dem Ausdrucke
eines milden und wohlthuenden Gefühls, verlangt
auch die Vollendung der ästhetischen Form dieser
kleinen Gedichte ein leichtes Spiel des Witzes, um
ein augenblickliches Jnteresse zu erregen, weil sie
weder nach Stoff noch nach Form geeignet sind,
einen ähnlichen bleibenden Eindruck hervorzubringen,
wie die größern Formen der lyrischen Dichtkunst:
das Lied, die Ode, die Hymne, die Elegie u. a.


Der vormals genau festgehaltene äußere Mechanismus
dieser kleinen dichterischen Formen (beim
Madrigal nie unter sechs, und nie über eilf Zeilen
─ beim Triolet acht Zeilen) ist von neuern
Dichtern wenig berücksichtigt worden, so daß man
alle kleinere lyrische Ergüsse, die weder Sonett, [204]
Rondeau, noch Triolet sind, in denen aber Zartheit des
Gefühls, Feinheit der Wendungen und leicht tändelnder
Witz ausgedrückt wird, Madrigale nennt. Dagegen
ist das Rondeau eine dichterische Tändelei,
wo in jeder Strophe nur zwei Reime abwechselnd
vorkommen, die erste Zeile nach der dritten wiederhohlt
wird, und der Refrain die ersten zwei Zeilen
wiederhohlt, auf welche, vor dem Refrain, fünf
Zwischenzeilen folgen. Das Triolet, das in neuerer
Zeit bei den Teutschen mehr, als das Rondeau
angebaut ward, ist, der Form nach, ein abgekürztes
Rondeau, wo gewöhnlich nach der dritten Zeile
die erste, und nach der sechsten die erste und die
zweite Zeile wiederhohlet werden.

34.
Beispiele zu diesen Formen.


a) Beispiele des Madrigals.


1) von Fr. v. Hagedorn († 1754).


Der Wettstreit.


Mein Mädchen und mein Wein,

Die wollen sich entzwein.

Ob ich den Zwist entscheide,

Wird noch die Frage seyn.

Jch suche mich durch beide

Jm Stillen zu erfreun.

Sie giebt mir größ're Freude,

Doch öft're giebt der Wein.

2) von Lessing († 1781).


Der alte und der neue Wein.


Jhr Alten trinkt, euch jung und froh zu trinken;
[205]
Drum mag der junge Wein

Für euch, ihr Alten, seyn.

Der Jüngling trinkt, sich alt und klug zu trinken;

Drum muß der alte Wein

Für mich, den Jüngling, seyn.

3) von Tiedge.


Die Welle.


Wohin, du trübe Welle?

Wohin mit solcher Schnelle,

Als trügst du einen Raub? ─

Jch bin des Lebens Welle,

Befleckt mit Uferstaub;

Jch eil' aus den Gewühlen

Des engen Stromes, weit

Zur Meerunendlichkeit,

Um ab von mir zu spülen

Den Uferschlamm der Zeit.

4) von einem Ungenannten.


Der Singsang des Lebens.


Das Knabenalter ist Jdylle;

Der Jüngling braust des Herzens Fülle

Jn Oden aus und Dithyramben;

Der Mann schwankt hin und her in Jamben;

Der Greis beklagt in Elegien

Der guten Zeiten schnelles Fliehn;

Der Tod macht auf den ganzen Kram

Ein bittres Epigramm.

b) Beispiel des Rondeau.
von Fr. v. Hagedorn.

[206]

Die Empfindung des Frühlings.


Du Schmelz der bunten Wiesen!

Du neubegrünte Flur!

Sey stets von mir gepriesen,

Du Schmelz der bunten Wiesen!

Es schmückt dich und Cephisen

Der Lenz und die Natur,

Du Schmelz der bunten Wiesen,

Du neubegrünte Flur!

Jhr schnellen Augenblicke

Macht euch des Frühlings werth!

Daß euch ein Kuß beglücke,

Jhr schnellen Augenblicke!

Daß uns der Kuß entzücke,

Den uns die Liebe lehrt.

Jhr schnellen Augenblicke,

Macht euch des Frühlings werth!

c) Beispiele des Triolets.


1) von Gleim († 1803).


Ein Triolet soll ich ihr singen?

Ein Triolet ist viel zu klein,

Jhr großes Lob hinein zu bringen!

Ein Triolet soll ich ihr singen?

Wie sollt' ich mit der Kleinheit ringen,

Es müßt' ein großer Hymnus seyn!

Ein Triolet soll ich ihr singen?

Ein Triolet ist viel zu klein.

2) von Klamer Schmidt († 1824).


Willkommen, alle kleine Freuden!

Die großen sind für mich zu groß.

Jch sitz' auf meines Liebchens Schoos;
[207]
Willkommen, alle kleine Freuden!

Hier könnt' ich Fürsten nicht beneiden.

Hier heiß' ich ─ o wie anspruchslos ─

Willkommen alle kleine Freuden;

Die großen sind für mich zu groß.

3) von Ernst Schulze († 1817).


Willst du den losen Amor fangen;

So werde keck und wild, wie er;

Kein Wagestück sey dir zu schwer,

Willst du den losen Amor fangen!

Denn stille Treu und leises Bangen

Die reizen jetzt den Schalk nicht mehr.

Willst du den losen Amor fangen;

So werde keck und wild, wie er!

4) von Tiedge.


An das Leben.


Fließ' hinab, mein stilles Leben!

Hier ist nicht das Thal der Ruh.

Trüb' und schleichend zitterst du,

Von Zypressennacht umgeben,

Deinem Wasserfalle zu.

Fließ', o fließ' hinab, mein Leben!

Wo die Segnungen der Ruh

Um sein still'res Ufer schweben.

Fließ', o fließ' hinab, mein Leben!

Dort, wie still, was zögerst du?

5) von Haug.


An Luisen.


Ein schnelles Triolet

Belohnst du mit drei Küssen?
[208]
O Wonne, mir geräth

Ein schnelles Triolet.

Wie könnt' auch ein Poet

Cytherens Gabe missen!

Mein schnelles Triolet

Belohne mit drei Küssen!

6) von Karl v. Reinhard.


Man liebt nur Einmal.


Einmal, einmal liebt man nur!

Einmal nur in seinem Leben

Kann man ganz sein Herz vergeben.

Einmal, einmal liebt man nur.

Und die Huldgöttinnen weben

Einmal in der Liebe Schwur

All' die Seligkeiten nur,

Die zu Göttern uns erheben;

Einmal, einmal liebt man nur!

7) von K. A. Schneider.


Die flüchtige Freude.


Die Freude flieht wohl über Thal und Hügel,

Und nirgends bleibt der luft'gen Sohle Spur!

Die Freude flieht wohl über Thal und Hügel,

Kein Locken hemmt die nimmer lassen Flügel,

Kein Goldpallast und keine Rosenflur.

Nur Mäßigkeit, nur Weisheit ist ihr Zügel;

O merkt euch das, ihr Söhne der Natur.

Die Freude flieht wohl über Thal und Hügel,

Und nirgends bleibt der luft'gen Sohle Spur!

8) von einem Ungenannten.


Nolo, nolo Florus esse.


Jch mag, ich mag nicht Cantor werden!
[209]
Jn Kirchen schweig' ich sittsam still.

Man muß sich wunderlich gebährden,

Wenn man den Cantor machen will;

Jch mag, ich mag nicht Cantor werden!

Es recht zu seyn, macht viel Beschwerden,

Und Plärren ist kein Kinderspiel.

Jch mag, ich mag nicht Cantor werden!

Jch trinke, leider, schon zu viel.

2) Die didactische Form der Dichtkunst.


35.
Charakter der didactischen Form der
Dichtkunst.


Wenn der eigenthümliche Charakter der lyrischen
Form der Dichtkunst auf der idealisirten Darstellung
unmittelbarer Gefühle unter der Einheit
einer ästhetisch=vollendeten Form beruht; so unterscheidet
sich die didactische Form der Dichtkunst,
oder das sogenannte Lehrgedicht, dadurch
wesentlich von derselben, daß der unmittelbare
Stoff
des Lehrgedichts in Begriffen des Verstandes
und Jdeen der Vernunft
besteht.
So wenig aber diese eigenthümliche Quelle des Stoffes
im Lehrgedichte verkannt werden kann; so wenig
folgt doch auch daraus, daß die Darstellung von
Begriffen des Verstandes und Jdeen der Vernunft,
blos vermittelst eines dichterischen Sylbenmaases
oder vermittelst des Reims, solche metrische Formen
zu Gedichten erheben könne, sobald sie des eigentlichen [210]
Wesens der Dichtkunst ─ der idealischen Darstellung
individueller Gefühle ─ ermangeln. Denn
so gewiß der Stoff zu allen Gebilden und Erzeugnissen
der didactischen Form der Dichtkunst ursprünglich
aus Begriffen und Jdeen des menschlichen
Geistes besteht; so gewiß müssen doch diese
Begriffe und Jdeen aus dem Kreise des Vorstellungsvermögens
heraus- und in den Kreis des
Gefühlsvermögens
eintreten, und in demselben
bestimmte, mit jenen Begriffen und Jdeen
unmittelbar vergesellschaftete, Gefühle veranlassen,
bevor von einer didactischen Form der Dichtkunst
die Rede seyn kann. Nicht Metrum und Reim
entscheiden über den eigenthümlichen Charakter der
Dichtkunst; dies ward bereits in der Einleitung erwiesen.
Denn könnten diese äußern und zufälligen
(übrigens nichts weniger, als zu vernachlässigenden)
Kennzeichen der Form über den aus dem innern
Wesen des Menschen stammenden dichterischen
Charakter eines ästhetischen Erzeugnisses entscheiden;
so würden mehrere der ältern Dichter
des siebenzehnten Jahrhunderts, die den Anbau
der didactischen Dichtkunst bei den Teutschen erneuerten,
in der That Gedichte aufgestellt haben,
während ihre Formen nur metrisch behandelte
Prosa
enthalten. Wenn nämlich die Begriffe des
Verstandes und die Jdeen der Vernunft blos als
solche,
ohne Vergesellschaftung mit reinen und starken,
durch sie aufgeregten, Gefühlen, im Metrum
oder Reim dargestellt werden; so gehören sie nicht
ins Gebiet der Dichtkunst, sondern der Prosa, weil
nur das den dichterischen Charakter ankündigt, was
zunächst, bevor es in die Form der Sprachdarstellung
übergeht, aus rein menschlichen Gefühlen [211]
stammt, wenn gleich diese Gefühle zu ihrem Bewußtwerden
der Anregung durch Begriffe und Jdeen
bedurften.


Jst diese Ansicht im Wesen des menschlichen
Geistes, in den Ankündigungen des Bewußtseyns,
und in der unverkennbaren Verschiedenheit zwischen
der Sprache der Prosa und der Sprache der Dichtkunst
begründet; so folgt von selbst, daß diejenigen
Dichter ─ gelind zu urtheilen ─ einen Pleonasmus
sich zu Schulden kommen lassen, welche ihre
unter die Form der didactischen Dichtkunst gehörenden
Erzeugnisse lyrisch=didactische nennen, sobald
nämlich durch das erste Prädicat die Vergesellschaftung
individueller Gefühle mit Jdeen der Vernunft
bezeichnet werden soll. Denn jedes didactische Gedicht
muß, sobald es überhaupt Gedicht seyn, und
also unter die Form der didactischen Dichtkunst gebracht
werden soll, den Ton und die Farbe des Lyrischen,
d. h. den Ton und die Farbe zum Bewußtseyn
gebrachter und zur Einheit der ästhetischen Form
erhobener Gefühle an sich tragen.


Nach dieser, im Wesen des menschlichen Geistes
und in dem gegenseitigen Verhältnisse des Vorstellungs-
und Gefühlsvermögens begründeten, Ansicht
beruht der Charakter der didactischen Form
der Dichtkunst auf der idealisirten Darstellung
von Begriffen des Verstandes und Jdeen der Vernunft,
mit welchen bestimmte Gefühle vergesellschaftet
sind, in der Einheit einer ästhetisch=vollendeten
Form. Die Aufgabe und der Zweck der didactischen
Form der Dichtkunst ist daher nicht Belehrung, wie
dies die Bestimmung des prosaischen didactischen
Styls ist; sondern ästhetische, d. h. aus dem Gefühlsvermögen
stammende Darstellung und lebensvolle [212]
Versinnlichung gewisser Wahrheiten und Lehren
aus den Kreisen der Wissenschaften und der Künste,
welche, durch ihre Bedeutsamkeit, Größe, Tiefe
und Fülle, eine kräftige Bewegung des Gefühlsvermögens,
und, vermittelst dieser Bewegung, die dichterische
Darstellung ihrer Gegenstände bewirkten.
Nur solche Erzeugnisse der didactischen Form der
Dichtkunst werden dem Gesetze der Form entsprechen,
sobald der Dichter ─ was sich von selbst in Hinficht
einer vollendeten dichterischen Form versteht ─
die übrigen Bedingungen dieses Gesetzes an jede
ästhetisch vollendete stylistische Form erfüllt.


Wenn daher in dem Lehrgedichte Gefühle vorherrschen
und zur Einheit der Form erhoben werden,
welche durch vorausgegangene Jdeen der Vernunft
zum deutlichen Bewußtseyn gelangen; so folgt
von selbst, daß das Lehrgedicht diese Jdeen der
Vernunft nicht nach ihrem Verhältnisse zum Gebiete
der menschlichen Erkenntniß (wie z. B. in der Metaphysik,
in der Sittenlehre &c.), sondern nach ihrer
Wirkung auf das Gefühlsvermögen darstellt. Deshalb
darf auch weder die Darstellung des Lehrgedichts
im Ganzen, noch im Einzelnen die Aufeinanderfolge
der ästhetisch behandelten Jdeen der Vernunft
den Anstrich einer systematischen Abhandlung oder
einer logisch streng berechneten Entwickelung enthalten,
weil beides dem naturgemäßen Ergusse mächtig
aufgeregter Gefühle widerstreitet. Eben so wenig
wird von dem didactischen Dichter eine die dargestellten
Jdeen planmäßig erschöpfende ─ oder gegen jeden
Einwurf polemisch durchführende ─ Behandlung verlangt;
dagegen versinnlicht der Dichter die zu seinem
Bewußtseyn gelangten Jdeen der Vernunft unter
der idealisirten Einheit eines Bildes, das um seiner [213]
ästhetischen Vollendung willen in der Anschauung
gefällt, und durch welches jene Jdeen aus dem
Gebiete des Vorstellungsvermögens herausgehoben,
und in den Kreis des Gefühlsvermögens und der
Einbildungskraft versetzt werden.


Als unnachlaßliche Bedingung wird aber die
ästhetische Darstellbarkeit jener Begriffe des
Verstandes und jener Jdeen der Vernunft dazu erfordert,
weil nicht alle und jede Begriffe und Jdeen,
als Theile der menschlichen Erkenntniß, zur Vergesellschaftung
mit menschlichen Gefühlen sich eignen.
Denn schwerlich dürften die Lehren der Logik über
Begriffe, Urtheile und Schlüsse, und über die Kategorieen,
oder die Grundsätze der Größenlehre, der
Sprachlehre u. s. w. als Stoffe des Lehrgedichts
behandelt werden können, weil sie, ihrem Wesen
und ihrer Ankündigung nach, mit dem Gefühlsvermögen
in keiner Berührung stehen, und eben so wenig
die Einbildungskraft zu einer idealischen Form begeistern
können. Dagegen aber werden die Jdeen
der practischen Vernunft ─ die Jdeen der Freiheit,
der Sittlichkeit, der Tugend, der Unsterblichkeit,
der Vergeltung, der Gottheit, des Weltalls und der
ewigen Weltregierung ─ die an sich schon im Bewußtseyn
mit einer höhern Stärke, als andere Begriffe
und Jdeen des Vorstellungsvermögens, sich
ankündigen, wegen ihres Zusammenhanges mit den
geläutertsten und erhabensten Gefühlen des menschlichen
Geistes, der dichterischen Darstellung am meisten
fähig seyn. Nur auf diesem Wege wird die
eigentliche dichterische Ansicht der Welt, des menschlichen
Lebens und der menschlichen Erkenntniß nach
ihrer abgeschlossenen Gesammtheit gewonnen, welche
der Prosa, nach ihrem eigenthümlichen, von der [214]
Dichtkunst wesentlich verschiedenen Charakter, abgeht.
Dies ist daher auch der Standpunct, aus welchem
theils das Verhältniß der didactischen Form der
Dichtkunst zur didactischen Prosa richtig aufgefaßt,
theils die Stellung der didactischen Form der
Dichtkunst gegen die lyrische, epische und dramatische
Form derselben ausgemittelt wird.


Unter diesen einzelnen Formen der Dichtkunst
nähert sich aber die didactische am meisten und häufigsten
der lyrischen Form, weil die Jdeen, welche
den Stoff der didactisch=ästhetischen Darstellung
enthalten, noch inniger mit dem durch sie angeregten
Gefühle verschmolzen erscheinen, als in der epischen
und dramatischen Dichtkunst die, der Außenwelt
angehörenden, Thatsachen mit den durch sie erweckten
Gefühlen. ─


Wenn einige Theoretiker das Lehrgedicht in
das philosophische und scientifische einzutheilen
versuchten; so ist dazu kein Grund vorhanden,
weil keine ursprüngliche, in einem Vermögen
des menschlichen Geistes enthaltene, Verschiedenheit
zwischen beiden statt findet; denn die Stoffe von
beiden sind gemeinschaftlich in den Begriffen
und Jdeen des menschlichen Vorstellungsvermögens
enthalten, so daß zwischen den einzelnen Lehrgedichten,
nach der Verschiedenheit ihres Stoffes innerhalb
der Jdeen der Vernunft, nur eine Steigerung von
dem Höhern zum Höchsten statt finden kann, inwiefern
die Jdeen der Vernunft selbst einander, dem Grade
nach, untergeordnet sind, und Seele, Welt und Gott
eben so die höchsten metaphysischen Jdeen bilden, wie
Wahrheit, Schönheit und sittliche Güte die höchsten
Jdeale der schöpferischen Einbildungskraft. ─


Was die einzelnen Untertheile der didactischen [215]
Dichtkunst betrifft; so giebt es keine
solchen
in dem Sinne, wie in der lyrischen Dichtkunst
das Lied, die Ode, die Hymne, die Elegie
u. a. als Untertheile von einander verschieden sind,
welche durch den Grundton eines dargestellten einfachen
oder eines gemischten Gefühls, so wie durch
die mildere Farbengebung, oder durch die höhere
Stärke des lyrischen Ausdruckes, von einander sich
unterscheiden. Denn nur nach dem zufälligen äußern
Umfange der Form kann das ausführliche
Lehrgedicht (z. B. Tiedge's Urania, Schillers
Künstler) von dem kürzern (z. B. der Theodicee
von Uz u. a.) unterschieden werden, weil die Abwechselung
und Mischung der in dem Lehrgedichte
vorherrschenden und dargestellten Gefühle von den
Jdeen der Vernunft abhängt, welche die mit ihnen
vergesellschafteten Gefühle in dem Gemüthe des
Dichters zum Daseyn rufen, und von der Einbildungskraft
unter dem Glanze des Jdeals aufgestellt
werden. Selbst die im dichterischen Gewande dargestellten
Gnomen sind nicht besondere Untertheile,
sondern nur kürzere Formen des Lehrgedichts, das
eigentliche Lehrgedicht im verjüngten Maasstabe,
und müssen, in ästhetischer Hinsicht, eben so
nach dem Gesetze der Form beurtheilt werden, wie
die größere didactische Form, welche einen Gesammtkreis
von Vernunftideen durchführt und umschließt.


Was endlich die Satyre, die sogenannte poetische
Epistel
und das Epigramm betrifft, welche
von einigen Theoretikern der didactischen Dichtkunst
zugetheilt werden; so werden sie in diesem
Gesammtgebiete der Sprache der Dichtkunst unter
der Ergänzungsklasse, oder unter den gemischten Formen
der Dichtkunst aufgeführt, weil (wie ihre Theorie, [216]
weiter hinten, im Einzelnen zeigt,) durchaus nicht alle
Satyren, nicht alle poetische Episteln, und nicht alle
Epigramme nach Einem Maasstabe beurtheilt, und in
Eine und dieselbe Klasse von Dichtungen gebracht werden
können. Denn zugestanden, daß einzelne in
der Sprache vorhandene Satyren, einzelne poetische
Episteln und einzelne Epigramme der Theorie des
Lehrgedichts untergeordnet werden könnten; so würde
dies, im Verhältnisse zur Gesammtheit aller ästhetisch
vollendeten Satyren, poetischen Episteln und
Epigrammen, nur ein kleiner Theil seyn, weshalb
es gerathener scheint, die Theorie dieser Formen nach
der Mehrheit der in ihnen vorhandenen classischen Erzeugnisse
zu bestimmen, und ihnen den Platz in der
Ergänzungsklasse dichterischer Formen anzuweisen.
Denn unverkennbar ist das Satyrische keine wesentliche
und ursprüngliche Eigenschaft des Lehrgedichts,
sondern, wo es in denselben angetroffen
wird, nur ein zufälliges Merkmal des Didactischen,
weil unzählige Stoffe der didactischen Dichtkunst
ohne den Beisatz des Satyrischen bestehen, und
dieser Beisatz ─ oder die Darstellung der Jdeen der
Vernunft mit der Rüge der Verirrungen der menschlichen
Freiheit von denselben ─ blos in der Jndividualität
des Dichters ihren Grund hat, der durch
die ästhetische Versinnlichung dieser Verirrungen das
Jdeal von seiner indirecten Seite vergegenwärtigt.
So sind die Sermonen des Horaz an
sich Lehrgedichte mit satyrischer Haltung und Einkleidung,
und versinnlichen allgemeine Wahrheiten durch
den Kontrast des Ungereimten und Unsittlichen mit
denselben. Eben so zufällig ist es, wenn, vermittest
der epistolischen Einkleidung, allgemeine
Wahrheiten auf die Verhältnisse eines bestimmten [217]
Jndividuums bezogen werden; denn die poetische
Epistel
ist, nach den vorhandenen classischen Formen
in derselben, weder ausschließend eine Untergattung
der didactischen, noch ausschließend eine Untergattung
der lyrischen oder der epischen Form der
Dichtkunst. Sobald sie unmittelbare Gefühle in
Beziehung auf eine bestimmte Jndividualität schildert;
so gehört sie der lyrischen Form der Dichtkunst
an. Versinnlicht sie Gefühle, veranlaßt durch Thatsachen
und Vorgänge des wirklichen Lebens; so
müßte sie der epischen Form untergeordnet werden.
Vergegenwärtigt sie aber Gefühle, erregt durch
Jdeen und Wahrheiten der Vernunft; so würde sie,
nur in diesem letztern Falle, zur didactischen
Dichtkunst, mit dem zufälligen Merkmale der unmittelbaren
Beziehung der dargestellten Jdeen auf
eine bestimmt gedachte Jndividualität, gehören. ─
Auf gleiche Weise verhält es sich mit dem Epigramm,
das gleichmäßig unmittelbare Gefühle und
Thatsachen des Lebens, wie Jdeen und Aussprüche
der Vernunft als Stoff behandeln kann, mit dessen
Vergegenwärtigung im Bewußtseyn rein menschliche
Gefühle sich vergesellschaften, deren idealische Darstellung
die dichterische Form des Epigramms vermittelt.


So reichhaltig von den frühern teutschen
Dichtern die Form des Lehrgedichts angebaut ward;
so gilt doch für den ästhetischen Charakter dieser
Form dasselbe, was bereits in der Theorie der Ode
ausgesprochen ward, daß nur erst mit den Fortschritten
der Philosophie auf teutschem Boden, und namentlich
mit dem tiefern Erforschen und Verbreiten
der höchsten metaphysischen Jdeen, und den mit denselben
in unmittelbarer Verbindung stehenden sittlichen [218]
Gesetzen, das Lehrgedicht, nach seinem Stoffe,
einen höhern dichterischen Gehalt behaupten, und
unter gediegenern Formen sich ankündigen konnte,
als dies im siebenzehnten und in der ersten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts möglich war.

36.
Beispiele aus dem Lehrgedichte.


1) von Opitz († 1639).


Lob des Feldlebens. (Bruchstück)


O wohl, und mehr als wohl, dem, welcher weit von

Kriegen,

Von Sorgen, Müh' und Angst, sein Vatergut kann

pflügen,

Lebt sicher und in Ruh, noch wie die alte Welt

Zu Zeiten des Saturns, und pflügt sein kleines Feld;

Spannt Roß und Ochsen vor, darf seinen Sinn nicht

kränken

Um armer Leute Schweis, weiß nichts von Wechselbänken,


Von Wucher und Finanz, ist alles Kummers frei,

Daß nicht sein Haab' und Gut im Meer ertrunken sey.

Er denkt nicht, wie er komm' hoch an das Bret vor

allen,

Und könne Königen und Herren wohlgefallen;

Steht nicht in Furcht und Trost, hält vor der Reichen

Thür

Sein Hütlein in der Hand, und kommt doch selten für.

Das Alles darf er nicht, er hat, was er begehret,

Sein Gut wird ihm von Gott, auch wenn er schläft,

bescheret,

Hat mehr, als der sein Herz auf bloßen Reichthum stellt,
[219]
Besitzt nicht was er hat, ist arm und hat viel Geld.

Er gehet fröhlich hin, führt jetzt die süßen Reben

An Ulmenbäumen auf, daß sie beisammen kleben,

Als ehelich vermählt; jetzt, weil die Schösse klein,

Bricht er, was wild ist, ab, impft gute Sprößlein ein;

Nimmt bald die Schaufel her, macht Furchen frei zu

fließen

Dem Wasser übers Feld; die Wiesen zu begießen,

So dürr und durstig stehn, spaziert bald in das Gras,

Das durch den Silberthau des Morgens noch ist naß.

Bald stützt er einen Baum, der, von der Frucht gebeuget,


Vor Last zerbrechen will, und sich zur Erden neiget;

Und etwa sieht er gehn dort um das grüne Thal

Die Schafe, Kälber, Küh' und Ochsen überall.

Schaut er dann über sich; so sieht er seine Geißen

Das Laub von dem Gestäud an einer Klippe reißen;

Dabei ihr Mann, der Bock, vor Lust und Freuden

springt;

Hört, wie der Hirte wohl von seiner Phyllis singt,

Die hinter einen Baum sich hatte nächst verkrochen,

Als er ihr schönes Obst und Blumen abgebrochen;

Hört, wie die braune Kuh im nächsten Thale brüllt,

Daß ihre rauhe Stimm hoch über Feld erschüllt.

Bisweilen leert er aus den Honigmacherinnen

Jhr wächsern Königreich, das sie mit klugem Sinnen

Sehr artlich aufgebaut, nimmt auch zur rechten Zeit

Den feisten Schafen ab ihr dickes Wollekleid.

Kommt dann, nachdem er hat den Sommernutz empfangen,

Der Obst- und Traubenmann, der reiche Herbst, gegangen;

Wie freut er sich so sehr, wenn er die Birnen ropft

Vom Baume, den er selbst vor dieser Zeit gepfropft,

Und lieset Aepfel auf, die selber abgefallen,

Nimmt ihm hernachmals vor die schönsten unter allen,
[220]
Beißt ungeschälet an; geht dann, besieht den Wein,

Bricht reife Trauben ab, die purpurähnlich seyn.

Jst er vom Gehen laß; so kann er sich fein strecken,

Dort in den Schatten hin, wo ihn die Bäume decken;

Der Vögel leichtes Volk macht seinen Lobgesang,

Schreit überlaut, und wünscht den Sommer noch so

lang.

Die schöne Nachtigall läßt sonderlich sich hören,

Schwingt ihre Stimme hoch dem Meyer wie zu Ehren.

Die Frösche machen auch sich lustig an der Bach,

Und ihr Coax Coax giebt keinem Vogel nach.

Nicht weit von dannen kommt aus einem nahen Brunnen,

Ein Bächlein durch das Gras gleichwie Krystall gerunnen,

Draus schöpft er mit der Hand, eh er sich schlafen legt,

Wozu der Bach Geräusch und Murmeln ihn bewegt. &c.

2) von Christ. Fr. Zernitz († 1745).


Von den Endzwecken der Welt. (Bruchstück)


Es herrscht ein Gleichheitsrecht bei aller Kreatur,

Von Mensch und Thieren ist die Mutter die Natur,

Das Leben hauchet sie in allen Blutgefäßen;

Von ihr sind jedem Geist und Glieder zugemessen;

Umsonst wirkt Weisheit nie. Mit Kräften ausgerüst't,

Wirkt jede Seel' ihr Heil, so weit sie fähig ist.

Nachdem sie Gutes kennt, wird ihr die Wahl gelingen,

Und Wollust findet sie in sich und andern Dingen.

Nur zu der Einrichtung der großen Harmonie

Empfing der Mensch sein Theil, und auch sein Theil

das Vieh,

Es liegt in Aller Seyn ein solcher Geist verborgen,

Der jede Art es lehrt, für ihren Zustand sorgen.

So weih' denn zum Altar der Gottheit, Mensch, dein

Herz;
[221]
Es steige deine Lieb' in Flammen himmelwärts!

Verehr' mit Jnbrunst Gott, knie hin, weil, uns zu

lieben,

Die Welt kein leeres Nichts, kein wüstes Rund geblieben.

Erwäge, wie Natur zur Menschen Glück entstand,

Und merk' das wohl, wozu Gott Sittlichkeit erfand;

O welch ein groß Geschenk der Werth so vieler Welten;

Wie kann der Menschen Dank doch Gottes Huld vergelten!


Ja, Heiliger, es glaubt der Weise dir zum Ruhm,

Die Welt, dein Werk, ist nicht des Todes Eigenthum;

Aus Liebe hast du sie einst wollen zubereiten,

Und deine Lieb' ist hier ein Vorbild künft'ger Zeiten.

Der Tod, der unsern Leib mit Fäulniß einst durchdringt,

Macht, daß der edle Theil, der Geist, sich höher schwingt;

So wie vom Samenkorn die Staude sich erhebet;

Wird auch zuerst der Mensch im dunkeln Stand belebet,

Er keimt in der Geburt, wächst durch die Lebenszeit,

Und seiner Blüthe Frucht ist die Unsterblichkeit.

3) von Joh. Jac. Dusch († 1787).


Die Wissenschaften. (Bruchstück)


─ Die Weisheit stieg vom Himmel im goldnen Siegeswagen,


Von sanften Frühlingswinden auf Fittigen getragen.

Um ihre Schläfe blühte ein frischer Lorbeerkranz,

Und eine Morgenröthe umstrahlte sie mit Glanz.

Jhr folgt' in einem Zuge der Chor der jungen Töchter,

Erhabne Wissenschaften, die geistigen Geschlechter.

Von ihrer ernsten Stirne sprach Tiefsinn und Verstand,

Und eine helle Fackel in der erhabnen Hand

Umleuchtete ihr Antlitz mit einem Kreis von Klarheit.
[222]
Du bahntest ihr die Wege, Erfinderin der Wahrheit,

Die du den Geist erheiterst, der dann, durch dich gelenkt,

In Schlüssen und Verbindung nach deinen Regeln denkt.

Dein starker Geist enthüllet der Wahrheit sichre Zeichen,

Durch richtiges Zergliedern, Zertheilen und Vergleichen.

Du zogst an ehrnen Ketten den Jrrthum hinter her,

Die Brut der Vorurtheile, ein unzählbares Heer;

Des Witzes Erstgeburten, phantastische Geschlechter,

Den Wahn, die blöde Meinung, und ihre blinden

Töchter.

Den frechen Sekteneifer, der unterm Sklavenjoch,

Gezerrt vom alten Jrrthum, noch stolz im Staube kroch;

Die bauten Hypothesen, geflügelte Chimären,

Den dummen Aberglauben mit seinen finstern Heeren.

O Wahrheit, wo ihr Flügel das forschende Gesicht

Der Sterblichen umflattert, stralt deine Fackel nicht;

Da werden dich die Füße der Priester niedertreten,

Vor deinem dunkeln Altar den Jrrthum anzubeten.

Der Haß wird dich verfolgen, und der Zeloten Zunft

Aus frommem Grimme rufen: Verflucht sey die Vernunft!

Mit Flammen wird der Pöbel sich an den Weisen rächen,

Und wer nicht gläubig irret, wird dann den Tod verbrechen!


Jhr folgte das Naturrecht im fliegenden Gewand;

Ein heiliges Gesetzbuch trägt ihre rechte Hand;

Gesetze, die der Schöpfer in unläugbaren Trieben

Den denkenden Geschöpfen tief in die Brust geschrieben,

Die auch der Malabare, der ohn' Erkenntniß irrt,

So sehr er sie verläugnet, nie ganz vertilgen wird.

Sie hat die Welt versöhnet, sie hat den Zwist vertrieben;


Von ihr lernt beßre Nachkunft Gerechtigkeit zu üben;

Der Frevel geht an Ketten, und ihre größte Pflicht

Lehrt: Menschen seyd verträglich, beleidigt Andre nicht!
[223]
Tyrannen, die voll Herrschsucht die Völker unterdrücken,

Und mit beglückten Waffen der Freiheit Fesseln schicken,

Gekrönten Straßenräubern, die mit kostbarem Blut

Verächtlich Gold bezahlen, und, gleich der wilden Glut,

Wenn sie den Wald ergreifet, begierig um sich fressen,

Hat sie die ersten Grenzen der Herrschaft abgemessen. ─

Mit Ernst im Angesichte folgt ihr die Geisterlehre;

Jhr Flug steigt über Körper zu einer höhern Sphäre,

Sie stürzt der Gottesläugner entsetzliches Gebäu,

Wenn Gottes Donner säumet. Sie reißt die Tyrannei

Des blinden Wahns vom Throne. Jhr heil'ger Zorn

zerschmettert

Die angebetnen Klötze, die sich Betrug vergöttert.

Sie schrecket Wunderthäter, macht die Orakel stumm,

Stürzt feigem Aberglauben sein blutig Altar um;

Zerbricht sein eisern Zepter, und führt durch beßre Lehren

Die Welt von fürchterlichen zu heiligen Altären.

Du unumschränktes Wesen, das alles schuf und trägt,

Das in der starken Rechten die Morgensterne wägt;

Gott, der du ewig warest, eh aus des Chaos Tiefen

Die jauchzenden Gestirne zu deinen Füßen liefen;

Eh diese niedre Erde den ersten Trieb empfing,

Und feiernd vor dem Schöpfer der Welt vorüberging;

Wo ohne dich ist Ruhe, du aller Freuden Quelle?

Dich läugnen, Gott, verwandelt die Welt in eine Hölle.

Verzweiflung ist das Leben, o Schöpfer, ohne dich;

Die Sonnen werden traurig, und glänzen fürchterlich.

Doch, Gott, du bist wahrhaftig, und meine Seele fliehet

Beruhigt zu dem Schöpfer, den sie in allem siehet!

Allein wer bin ich selber? Das weiß ich, dieser Staub,

Der meine Glieder bildet, wird einst des Todes Raub.

Dies sterbliche Gebäude wird einst die Pflanzen nähren,

Eiu Theil von Andern werden, und mir nicht zugehören.

Die Erde, seine Mutter, nimmt ihn bald wieder hin;
[224]
Nichts werd' ich endlich bleiben, wenn ich ganz Körper bin.

So will es eine Ordnung; so wechseln die Gestalten;

Der Untergang des ersten muß stets das Neu erhalten.

O Abgrund voller Schrecken, worin zurück geführt,

Sich alles Leben endigt, und die Natur verliert;

Wird denn die Nacht auf ewig, wenn sie herabgestiegen,

Verbreitet auf dem Moder der ganzen Schöpfung liegen?

Wie, oder führt beständig der alte Cirkellauf

Das Alternde hinunter, das Neuere herauf?

Ach! und ich hoffe Leben, zum Untergang erschaffen?

Wo? an des Abgrunds Rande, wo meine Väter schlafen?

Jetzt tret' ich ihre Hügel; sie waren, was ich bin!

Bald wandelt eine Nachwelt auf meinem Grabe hin.

Dann lieg' ich, aufgelöset, ins stille Nichts verloren,

Und, was auch nach mir auftritt, ich werde nie geboren.

Jn jedem Lenz ermuntert der Sonne warmer Stral

Die Blumen aus dem Schlafe, und weckt ein schlummernd

Thal;

Die Pflanzen auferstehen, die schon begraben schienen;

Der todte Baum erwachet, und seine Blätter grünen;

Der jugendliche Frühling stellt alles wieder her;

Für mich nur, schlaf' ich einmal, ist keine Widerkehr;

Allein auf meine Asche, verscharrt im kleinen Hügel,

Streckt ewig unerbittlich der Todtesschlaf den Flügel.

Der Vorhang wird geöffnet. Nicht alles ist hier aus;

Jch seh' in weitre Felder der Ewigkeit hinaus.

Nicht ganz darf mich auf ewig der Schoos der Erden

rauben;

Wo nicht; so muß ich lästern, und keinen Schöpfer glauben.

O jetzt erwach' ich wieder; der Leib wird Moder seyn,

Doch das, was in mir denket, ist nicht, wie er, Gebein.

Unsterblich ist das Wesen, das in mir will und denket;

Nicht theilbar, wie sein Körper, den Form und Dau'r

umschränket;
[225]
Jn ihm besteht mein Leben; doch seiner Hütte Staub,

Sey, wenn mein Schicksal winket, der Elemente Raub!

4) von Joh. Phil. Lorenz Withof († 1789).


Sokrates, oder von der Schönheit.
(bereits 1755 erschienen.)


─ ─ Licht! Schönheit! höchster Plan! Natur!

Selbstständig Wesen!

Geist! oder was du dir für Namen auserlesen;

Beweger! Tugend! Kraft! Du, die in allem lebt!

Wie stark bist du? wie groß? wie vielfach ausgegossen?

Auch ich bin deiner Art und aus dir ausgeflossen,

Und fließ' in dich zurück, wann sich mein Geist erhebt.

Ach, ich bescheide mich und decke meine Blöße;

Um dich allein gefall' ich mir,

Nur blos ein Theil der ungeheuern Größe,

Ein Theil, jedoch ein Theil von dir.

Ganz herrlich, ewig jung, nie fähig zum Veralten

Jn täglich sterbenden, stets werdenden Gestalten,

Bleibst du das, was du warst, stets voll und immer neu.

Hier treten Wesen auf, dort gehen Wesen unter;

Du tilgst und zeugest stets; stets wirkend und stets munter,

Sorgst du, daß jeder Tod ein Brunn des Lebens sey.

Dort schwind't die flücht'ge Pracht der abgelebten Floren;

Doch Floren folgt Pomona nach;

Und jene wird von dieser neu gebohren,

Das Grabmal wird ein Brautgemach.

Wann unsre Geister sich mit reiner Tugend gatten,

Verschwind't der Liljen Glanz gleich überstralten Schatten,

Und lüstern lauschen sie nach unsrer Herrlichkeit.

Die stille Majestät vollkommen guter Thaten,

Die mehr durch Tugend uns, als sich mit Stolz berathen,
[226]
Jst gleich verehrungswerth an Pracht, an Seltenheit.

Wie kann ein Geist doch so der Schönheit sich entwöhnen?

Und jauchzt noch, wann er sie verdrängt.

Das thut der Wahn, der sich in allen Scenen

Mit dummem Eigennutz vermengt.

Ja, Phädon, wisse du: ein Geist, den Tugend kleidet,

Kann nimmer schöner seyn, und wird mit Recht beneidet;

O, Tugend ist ein Schatz, der Kronen überwiegt.

Geuß, ew'ge Schönheit, doch, geuß du doch starke Fluten

Jn meines Phädons Brust; sie sind ein Theil vom Guten,

Warum allein mein Geist sich betend vor dir schmiegt.

Wie Licht und Wärme nur aus jener Flammensphäre,

Quillt wahre Tugend nur aus dir;

Und kehrt zurück, wie Flüsse zu dem Meere,

Und fließt in dich und ich mit ihr.

5) von Heydenreich († 1801).


Das Selbstbewußtseyn.


O Selbstbewußtseyn, meiner Unsterblichkeit

Trugloser Bürge! Urquell der Hoffnungen,

Die durch des Staubes Moderhülle

Jn die umdämmerte Seele leuchten!

Du bist mir heilig, weil noch wie Epheu sich

Um meine Glieder Leben und Jugend schlingt;

Dich werd' ich einst im Todeskampfe

Noch mit den starrenden Lippen segnen. ─

Kaum fragt' ich sehnend, heiliger Ahnung voll,

Nach jenem Land, das jenseits des Lebens liegt;

(Viel hatt' ich von ihm durch die Sage,

Viel durch die Lieder des Volks vernommen;)

Wird, fragt' ich selbst mich, wann in den ängstenden

Entbindungsqualen sterbend dein Wesen seufzt,
[227]
Wird in des Todes Schweis die Seele

Hin mit der Flamme des Lebens sterben?

Wie, oder wird sie, wann nun die Flamm' erlischt

Des matten Lebens, siegend der Asch' entfliehn;

Und wird sie dann ein Zephyr Gottes

Säuselnd in schönere Welten tragen?

Da traten zu mir, Treue im Angesicht,

Der Bürger viele, die in der Ewigkeit

Nachtvollen Thälern meiner Seele

Schon ihre lachende Stätte wiefen.

Doch Heuchler waren's, Heuchler mit Freundes Blick,

Trug ihre Rede, schimmernd im Fabelschmuck,

Und eh' ichs wähnte, war die ganze

Täuschende Rotte von mir geflohen.

Da nahtest du dich, schuldlosen Angesichts,

Der ungeschminkten göttlichen Wahrheit gleich,

O Selbstbewußtseyn, ewig treuer

Bürge der Hoffnungen meiner Seele.

Jn dieser Hülle, künstlich von Staub gewebt,

Zur Nahvertrauten eines Unsterblichen,

Jn dieser Hülle, lehrtest du mich,

Welch ein unsterblicher Fremdling wohne.

Hin, in die ferne schattende Dämmerung

Verlebter Leben, zogest du den Staunenden;

Jch sah' im Geist mein ewiges Daseyn

Wandern durch mancherlei Erdenhüllen.

Und leise Laute tiefer Erinnerung

Aus grauer Vorzeit lispelten wieder auf;

Dich kannt' ich wieder, meines Daseyns

Treusten Gefährten vom ersten Keim an. ─
[228]
Ha, daß vom Schlummer, welcher dich fesselte,

Da du begannest, durch der Erwachungen

Zahllose Grade, bis zum hellen

Traumlosen Mittage deines Daseyns,

O Selbstbewußtseyn, ich dich verfolgte, daß

Von irgend einem schwindelnden Hügel her

Mein Blick ihn schaute, deinen Lichtstrom,

Wie er allmählig begann zu wogen,

Jetzt dunkel dämmernd sich durch die Nächte wand,

Jetzt immer heller, heller sich breitete,

Und jetzt, zu vollem Glanz ergossen,

Hell, wie der Mittag, sich auf mich senkte!

Dich gab der Vater, da er mich wandern hieß,

Mir zum Geleiter meiner Unsterblichkeit;

Dich mit dem Staube nicht verwandten

Kann die Zerstörung mir nicht entreißen.

Von Jahr zu Jahr wandelt die Hülle sich,

Staub mit dem Staube, wechselt und wechselt stets,

Und doch im Wandeln meiner Hülle

Stehst du mir fest, wie im Sturm die Eiche.

Und o Triumph, Triumph! Wann die morsche fällt,

Dann folgst du sicher deiner Unsterblichen;

Wann ihre Trümmer Sturm verwehet,

Folgst du ihr traulich in ferne Welten.

O Selbstbewußtseyn, meiner Unsterblichkeit

Trugloser Bürge, Urquell der Hoffnungen,

Die durch des Staubes Moderhülle

Jn die umdämmerte Seele leuchten!

Du bist mir heilig, weil noch wie Epheu sich

Um meine Glieder Leben und Jugend schlingt;

Dich werd' ich einst im Todeskampfe

Noch mit den starrenden Lippen segnen.
[229]

6) von v. Schiller († 1805).


Die Künstler. (abgekürzt)


Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige

Stehst du an des Jahrhunderts * Neige,

Jn edler stolzer Männlichkeit,

Mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle,

Voll milden Ernsts, in thatenreicher Stille,

Der reifste Sohn der Zeit;

Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze,

Durch Sanftmuth groß, und reich durch Schätze,

Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg;

Herr der Natur, die deine Fesseln liebet,

Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet,

Und prangend unter dir aus der Verwild'rung stieg!

Jm Fleiß kann dich die Biene meistern,

Jn der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer seyn;

Dein Wissen theilest du mit vorgezognen Geistern,

Die Kunst, o Mensch, hast du allein!

Nur durch das Morgenthor des Schönen

Drangst du in der Erkenntniß Land;

An höhern Glanz sich zu gewöhnen,

Uebt sich am Reize der Verstand.

Was bei dem Saitenklang der Musen

Mit süßem Beben dich durchdrang,

Erzag die Kraft in deinem Busen,

Die sich dereinst zum Weltgeist schwang!

Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,

Die alternde Vernunft erfand,

Lag im Symbol des Schönen und des Großen,

Voraus geoffenbahrt dem kindischen Verstand.

Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,
[230]
Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,

Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben,

Das matte Blüthen langsam treibt.

Eh vor des Denkers Blick der kühne

Begriff des ew'gen Raumes stand;

Wer sah hinauf zur Sternenbühne,

Der ihn nicht ahnend schon empfand?

Die, eine Glorie von Orionen

Ums Angesicht, in hehrer Majestät,

Nur angeschaut von reineren Dämonen,

Verzehrend über Sternen geht,

Geflohn auf ihrem Sonnenthrone,

Die furchtbar herrliche Urania,

Mit abgelegter Feuerkrone

Steht sie ─ als Schönheit vor uns da.

Der Anmuth Gürtel umgewunden,

Wird sie zum Kind, daß Kinder sie verstehn;

Was wir als Schönheit hier empfunden,

Wird einst als Wahrheit uns entgegen gehn.

Glückselige, die sie ─ aus Millionen

Die reinsten ─ ihrem Dienst geweiht,

Jn deren Brust sie würdigte zu thronen,

Durch deren Mund die Mächtige gebeut,

Die sie auf ewig flammenden Altären

Erkohr, das heil'ge Feuer ihr zu nähren,

Vor deren Aug' allein sie hüllenlos erscheint,

Die sie in sanftem Bund um sich vereint.

Freut euch der ehrenvollen Stufe,

Worauf die hohe Ordnung euch gestellt;

Jn die erhab'ne Geisterwelt

Wart ihr der Menschheit erste Stufe!

Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,

Je höh're schön're Ordnungen der Geist

Jn einem Zauberbund durchflieget,
[231]
Jn Einem schwelgenden Genuß umkreis't;

Je weiter sich Gedanken und Gefühle

Dem üppigeren Harmonieenspiele,

Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan ─

Je schön're Glieder aus dem Weltenplan,

Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,

Sieht er die hohen Formen dann vollenden;

Je schön're Räthsel treten aus der Nacht,

Je reicher wird die Welt, die er umschließet,

Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,

Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht,

Je höher streben seine Triebe,

Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe,

So führt ihn, in verborg'nem Lauf,

Durch immer rein're Formen, rein're Töne,

Durch immer höh're Höhn und immer schön're Schöne

Der Dichtung Blumenleiter still hinauf ─

Zuletzt, am reifen Ziel der Zeiten,

Noch eine glückliche Begeisterung,

Des jüngsten Menschenalters Dichterschwung,

Und ─ in der Wahrheit Arme wird er gleiten.

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben;

Bewahret sie!

Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!

Der Dichtung heilige Magie

Dient einem weisen Weltenplane,

Still lenke sie zum Oceane

Der großen Harmonie!

Der freisten Mutter freie Söhne,

Schwingt euch mit festem Angesicht

Zum Stralensitz der höchsten Schöne;

Um andre Kronen buhlet nicht.

Die Schwester, die euch hier verschwunden,

Hohlt ihr im Schoos der Mutter ein;
[232]
Was schöne Seelen schön empfunden,

Muß trefflich und vollkommen seyn.

Erhebet euch mit kühnem Flügel

Hoch über euern Zeitenlauf;

Fern dämmert schon in euerm Spiegel

Das kommende Jahrhundert auf.

Auf tausendfach verschlungnen Wegen

Der reichen Mannigfaltigkeit,

Kommt dann umarmend euch entgegen

Am Thron der hohen Einigkeit.

Wie sich in sieben milden Stralen

Der weiße Schimmer lieblich bricht;

Wie sieben Regenbogenstralen

Zerrinnen in das weiße Licht:

So spielt in tausendfacher Klarheit

Bezaubernd um den trunknen Blick;

So fließt in Einen Bund der Wahrheit

Jn Einen Strom des Lichts zurück!

7) von v. Nostitz und Jänckendorf (Arthur
vom Nordstern);


aus s. Anregungen für das Herz und das
Leben
(Leipz. 1825).


Gott.


Gott ist uns das, wofür uns beim Gedanken

Das Wort gebricht; was Ziel nicht kennt, nicht Schranken,

Was kein Begriff bestimmt und lehrt;

Wo Gleiches mangelt, um es zu vergleichen;

Was durch Beschreibung nimmer zu erreichen,

Was, forscht man nach, im Forschen stets sich mehrt.

Bahn zu Gott.


Die Bahn zu Gott kann die Natur dir zeigen;

Doch kannst du bis zu ihm empor nicht steigen,
[233]
Die Endlichkeit schließt dir das Thor.

Nur durch die Menschheit, geistig einberufen

Zum Heiligthum, eilst du zu höhern Stufen;

Der Geist schwebt nur durch Geistiges empor.

Werth der Beobachtungen.


Ob richtig deine Uhr die Zeit dir zeige?

Dein Wetterglas ob's sinke? ob es steige?

Du hast drauf Acht, deß nimmst du wahr.

Merkst du auch drauf: wie du die Zeit verwaltet?

Ob dein Gefühl erwärmt sey? ob erkaltet? ─

Von Außen nicht, von Jnnen droht Gefahr!

Verschiedenheit im Wachsthum.


Der Weisen Zahl ─ wie klein! ─ Wie klimmt zum

Hohen

Der Mensch gemach! ─ Schnell wächst die Zahl der rohen

Gemeinheit, die sich trotzig zeigt. ─

Giftpflanzen wuchern üppig, fast unzählig,

Auch Pilz und Schwamm gedeihn ─ indeß allmählig

Der Eichbaum kraftvoll zu den Wolken steigt.

8) von Manso.


Zukunft.


Was harret unsrer hinter jenen grauen

Gebirgen dort, die feuchter Nebel drückt?

Sinds Wüstenein ohn' Ende? Sind es Auen,

Von Licht umstralt, mit ew'gem Reiz geschmückt?

Wir möchten gern ins Land der Zukunft schauen,

Und fühlen uns durch nichts so hoch beglückt.

Der Geist versucht, aufstrebend, sein Gefieder;

Allein, ermattend, kehrt er immer wieder.

Was er zurück von seiner Wallfahrt bringet,

Es ist ein Bild, halb Schatten, halb Gestalt;
[234]
Ein Vorgefühl, das, schmeichelnd, ihn umschlinget,

Ein Ton, der leicht im Jnnern wiederhallt.

Je kühner er sich in die Wolken schwinget,

Um zu erspähn, was droben wogt und wallt;

Je mehr verwirren, wie im bunten Traume,

Jhn die Gestalten aus dem fernen Raume.

Er hört, erstaunt, vom Wesen sonder Schranken,

Das rastlos schafft, und wirket und erneut;

Vom Samenkorn unsterblicher Gedanken,

Das, wuchernd, in der Erde Schoos gedeiht;

Von Zeugnissen, die wir der Vorwelt danken;

Vom Tugendsinn, der seines Lohns sich freut!

Doch alles wird der Zweifelsucht zum Raube;

Nichts bleibt ihm, als der Einfalt frommer Glaube!

Ja, glauben soll, nicht wissen, nicht ergründen,

Der Sterbliche, so lang' er diesseits lebt.

Jst Licht sein Theil; er wird es jenseits finden,

Wo sich gewiß auch eine Sonn' erhebt.

Was mangelt uns in diesen Dämmergründen,

Um die der Hoffnung milder Schimmer schwebt?

Sie bietet uns Beruhigung und Frieden.

Zum Glück bedarf das Herz mehr nicht hinieden!

9) von Conz.


Das Orakel der Weisheit. (abgekürzt)


Unbegreifliches,

Wenig begreifendes Geschlecht der Sterblichen!

Ausgesät über die unendliche Erde,

Unendlich für dich,

Aber der Schatten eines Puncts

Vor dem, der das Unendliche selbst ist.

Du kommst, weißt nicht woher?

Gehst, weißt nicht wohin?
[235]
Stückwerk dein Wissen, Arbeit dein Thun. ─

Ueber dir kreisen Sonnen und Planeten

Jn ewiger Jugend,

Scheiden, und kommen, und kennen ihre Zeit,

Und du, unaussterblich in deiner Gattung,

Lebst nur in der Gattung fort,

Und findest kein Mittel,

Dem Alter und dem Tode zu entgehn.

Jmmer entgegenreifend der Zerstörung;

Jm Kern des Lebens

Trägst du den Wurm des Todes.

Ueber dir hin

Wandelt ihren ehrnen Gang die Nothwendigkeit.

Du aber über deinen geschmückten Gräbern,

Ueber deinen blumigen Trümmern,

Weilest flüchtige Tage.

Vor allen Kindern der grüngelockten Erde

Gab dir der Schaffende

Den Blick vorwärts ins Kommende,

Und den Blick rückwärts ins Vergangne;

Und zwischen zwei Welten,

Der sichtbaren und der unsichtbaren,

Stehest du da.

Aber nur Dämmerung ist die Aussicht,

Und einzelne Stralen der Morgenröthe

Schwimmen in der weiten Ferne.

Jch hörte viele Fragen

Vom Orakel der Weisheit;

Jahrtausende fragen sie,

Jahrtausende streiten sie über der Antwort:

„Was kann ich wissen, was glauben, was thun?

Wo ist das Orakel der Weisheit?

Jch will den Fels hinanklimmen,

Und engten Dornen und Klippen den Pfad;
[236]
Jch will durch die Dornen und Klippen

Den steilen Gang hinauf,

Wo das geheiligte Becken ertönt,

Und mir Kunde der Weisheit

Durch den Spruch der Weihe wird.

Nicht im Dunkel des Hains,

Nicht über klippigten Höhen,

Wo magischer Bezauberung Gestalten

Dich umwehn,

Jn dir, Mensch, ist das Orakel der Weisheit.

Höre dich selber!

Genieße und leide!

Dulde und entbehre!

Liebe, hoff' und glaube!

Suche den Ewigen nicht,

Du möchtest ihn desto weniger finden,

Vielleicht verlieren, wenn du ihn suchest.

Glaub' ihn!

Er ist dir nahe, um dich, über dir, in dir!

Und seine schönste Tochter, die Liebe,

Mit ihrer Schwester, der Hoffnung,

Gab er dir zur Braut und Gespielin!

Jhn singt dir die ganze Natur,

Und sein feurigster Psalm ist dir der wandelnde Sternenhimmel.


Such' ihm zu gleichen durch Liebe, so viel du kannst.

Ringe nach Tugend.

Und geböte der Unbekannte nicht;

Pflicht ist für dich

Der Vollkommenheit Gesetz,

Der ewig unwandelbaren,

Vor allem vorhandenen;

Und die Harmonie des Weltalls

Deutet auf sie!
[237]
Und lohnte kein Jenseits;

Und strafte kein Jenseits;

(Nur irrende Leiter sind Lohnsucht und Furcht;)

Gehorche der Pflicht!

Bewahre die Krone, die du hast,

Der Menschheit Würde!

Fürchte den Tod nicht!

Aber verachte ihn nicht!

Den großen Lehrer,

Den Heiland aus vieler Noth,

Der dir die Bande lös't,

Der's mit dir endet, oder vollendet!

Glaube, er wird es vollenden!

Glaub' an dich und Unsterblichkeit!

Was drüben seyn wird,

Wenn du Weisheit und Tugend

Ehrtest und übtest;

Wohl dir! du hast dich!

10) von Christian Schreiber.


Die Sprüche des Lebens.


Es regt sich die Menschheit in ewiger Fülle;

Das Göttliche ruht in erhabener Stille! ─

Und wie auch gebietet der Wechsel der Zeit,

Sie ist nur ein Bild der Unendlichkeit;

Und wirst du auch nimmer das Leben ergründen,

So strebe, dich selbst in dem Leben zu finden.

Es schauet dein Blick nur die endliche Scene,

Es höret dein Ohr nur verrauschende Töne;

Das Leben ist Schatten, die Ewigkeit Licht,

Die Sinne erforschen das Göttliche nicht.

Doch was dir vertrauen die innern Gefühle,

Dem folge, du nahest dem ewigen Ziele! ─
[238]
Es giebt eine Ahnung, ein heiliges Glauben!

Wer wollt' es der Menschheit, der Hoffenden, rauben? ─

Denn wie auch die Meinung der Völker getrennt,

Eins ist, was ein jeder im Herzen bekennt;

Daß ein Höheres ist, als das Leben im Staube,

Und das ist der wahre, der einzige Glaube!

Es giebt eine Liebe zum Hohen und Schönen,

Nach stiller Verklärung ein inniges Sehnen;

Denn wie auch der Wüstling die Liebe entehrt,

Die Reine hat stets ihre Würde bewährt;

Und sänken ermattet die feurigsten Kräfte,

Die Liebe belebt sie zum neuen Geschäfte.

Es giebt eine Hoffnung zu glücklichern Stunden,

Ein heilender Balsam für blutende Wunden;

Und wie auch die Täuschung, der Trug uns umflicht,

Die tröstende Hoffnung verlässet dich nicht.

Sie läßt dich nicht sinken im Strome der Zeiten;

Durch sie erst gewinnet das Leben Bedeuten.

Die Räthsel des Lebens, ─ wer lös't sie dem Auge? ─

Wer ist, der hinab in die Tiefe sich tauche,

Die Perle zu suchen auf trüglichem Grund? ─

Wer thut uns den Urquell des Göttlichen kund? ─

Tief unter den Bildern, da lieget die Wahrheit,

Und über dem Scheine nur findest du Klarheit!

11) von Tiedge.


Unsterblichkeit und Gottheit.
(Bruchstück aus der Urania.)


─ Zwei Stunden Zeit, zu werden und zu schwinden,

Und eine Sehnsucht, die an Ewigkeiten hängt:

Kannst du den Widerspruch ergründen,

Daß ans Unendliche das Endliche sich drängt?
[239]
Die Rose fällt, die Duftgestalt geht unter! ─

Der Staub, der sich durch tausend Formen treibt,

Verwes't, verwittert, und in bunter

Verwandlung wiederkehrt ─ er bleibt!

Und ist der Mensch, der, selbstgebietend,

Ein freies, lichtes Seyn in seinem Busen pflegt,

Er, der in sich die Welt, in sich die Gottheit trägt,

Jst er nur Form, nur Staub? ein Blumenkelch, den

wütend

Der letzte Sturm herab von seinem Lenze schlägt?

Doch warum muß der Mensch durch tausend Tode

gehen?

Weil tausendfaches Leben ihm gehört.

Das ganze Weltall ist ein großes Auferstehen,

Das ewig, ewig wiederkehrt.

Durch Tode soll der Mensch erst leben lernen;

Die Erd' entsinkt, das Reich der Seelen thut sich auf;

Die Sonn erlischt, ─ zu tausend Sonnenfernen

Winkt uns die dunkle Nacht hinauf!

Verlaß den Laubesitz voll abgefallner Blätter!

Tritt auf den Jura hin! Vernimm dort die Natur,

Dies große Lied von Gott, dies Heldenlied für Götter;

Und fühle deine eigne Götterspur.

Wohin das Auge blickt, wie sich die Aussicht weitet,

Wir ahnen einen tiefen Sinn;

Die ganze Gegenwart, die uns umwogt, sie deutet

Auf eine große Zukunft hin.

Vom Schimmerlicht am Sumpf, bis zu dem Kranz von

Tagen,

Der blühend durch den Himmel kreis't;

O welche Flut des Seyns! Die tiefen Wogen schlagen

Bedeutungsvoll an deinen Geist.

Es spiegelt in dem Geist, der so erhaben waltet,

Weissagend mehr als Eine Welt sich ab,
[240]
Wenn sie das Heiligthum der Nacht vor dir entfaltet;

Und weihend steigt ein Genius herab,

An deine Hoheit dich zu mahnen,

Zu der du feierlich berufen bist.

Unendlichkeit kann nur das Wesen ahnen,

Das zur Unendlichkeit erkohren ist.

Wie? oder ist es eines Traumgesichtes

Verirrung nur, die uns ein hell'res Seyn verspricht?

Jst dieser Drang nach höherm Licht

Nicht Weissagung des höhern Lichtes?

Dann sprich, warum, warum ward uns der Drang verliehn,

Der tiefe Wahrheitssinn, der feierlich und kühn,

Wie ein erhabner Seher, zu den Räumen

Der Unermeßlichkeit hinüber reißt?

Woher der immer rege Geist,

So über sich hinaus zu träumen,

Um dort zu fordern, was ihm hier gebricht? ─

Aus Licht ist er zum Licht gebohren;

Zu einem höhern Loos' erkohren,

Jst seine Heimath hier auf Erden nicht.

Hier ist der Vorsabbath der lichten Sonnenfeier;

Die Morgenstunde, die den Späher weckt,

Hinauf zu schauen zu dem Schleier,

Der uns das Heiligthum versteckt.

Und sieh! des Dulders finstern Horizont

Umzittert, wie ein rother Morgenschimmer,

Ein stilles Leuchten, das die Trümmer

Des Lebens freundlich übersonnt.

Der Wolkenvorhang war hinweggezogen;

Wie eine junge blühende Natur

Umarmte sanft ein schöner Friedensbogen

Die Stille seiner Lebensflur;

Da war's, als spräch' ein Geist zu ihm die Worte:

„Kein Funken einer Göttlichkeit verglüht!
[241]
Zu höherm Glanz führt diese Blumenpforte;

Sie ist aus Thränen aufgeblüht!“

Vom Seyn zum Seyn geht alles Leben über;

Gestaltung reift zur Umgestaltung nur,

Und die Erscheinung schwebt vorüber;

Zum Nichtseyn ist kein Schritt in der Natur.

Zwar überschattet Nacht den Urquell unsrer Tage;

Wir wissen nicht, woher? wir wissen nicht, wohin

Der große Strom die kleine Welle trage;

Doch mein Triumph ist, daß ich bin!

Seyn werd' ich, weil ich bin! des Daseyns höchste

Blüthe,

Des Daseyns Bürgschaft ist die Kraft in meiner Brust,

Die Kraft, daß ich die Tugend mir gebiete;

Durch mich bin ich mir dieses Seyns bewußt.

Wie Geist und Körper ist, und wie sich Eins hinüber

Jns Andre tief zu Einem Seyn verflicht,

Zu einem solchen Seyn! der Mensch erforscht es nicht;

Es ruhet Gottes Hand darüber!

Erforschten wir es auch; sprich, was gewönnen wir?

Genug, die Tugend bürgt dafür,

Daß nicht in der Natur ein Quell versiegen werde,

Der jenseits der Natur entrann.

Was irdisch ist, gehört der Erde,

Das Heilige gehört dem Himmel an! ─

Unsterblichkeit, auf hehren Schwingen

Erflieget der Geist dein lichteres Reich,

Und hinter ihm, wo die Gewalten ringen,

Verrauscht der Sturm am dürren Gesträuch.

Jhr, vom Naturgesetz gehalten,

Jhr Sonnen, durchstralt den ewigen Raum;

Mein Geist fliegt auf von den Naturgewalten,

Und leuchtender stralt sein ahnender Traum!
[242]
Es ist von ihm hinweggesunken

Der irdische Druck; das Göttliche nur,

Den heiligen, den reinen Aetherfunken

Entwinket ein Gott dem Schoos der Natur!

Uns ward ein Tugendsinn und Trieb nach Lebenswonne;

Sie sind der Doppelstral, der in dies Leben fällt.

Woher der Stral? Er zeigt von einer höhern Sonne,

Und deutet mächtig hin auf eine Geisterwelt,

Es ist ein Gott! und sieh, die Nebel sind zerflossen

Vor diesem Sonnenstral; ein großer Lebenstag,

Ein Auferstehungstag ist ausgegossen,

Wo dumpfe Mitternacht voll Todesgeister lag!

O Mensch, vermisse diesen Glauben,

Und fühle, was dein Heiligstes vermißt.

Du würdest die Vernunft selbst ihres Lichts berauben;

Gott ist, weil eine Tugend ist!

Und Heil und Heiligkeit sind zwei verwandte Flammen;

Sie flammen hoch durch das Gebiet der Zeit,

Und neigen ewig sich durch die Unendlichkeit,

Und fallen dort in Einen Geist zusammen;

Und dieser Geist ist Gott, kann Gott nur seyn.

Kein Endlicher kann sich zu dieser Höh' erheben;

Die höchste Seligkeit, das reinste Geistesleben,

Sind in sich, durch sich eins; Gott fasset sie allein!

Das wär' ein Wahn, ein Traum, was ich so warm

umfasse?

Was vor dem Geiste sich so dunkelhell enthüllt?

Was meinen reinsten Sinn so rein, so tief erfüllt?

Nein, jenes Weltall ist die große Körpermasse,

Wohinter eine Welt der Geister sich verhüllt.

Und diese Geisterwelt ist die erhab'ne Seele,

Der Sinn des großen Alls, voll Gott und Götterart;

Was göttlich ist, gehört zu dieser großen Seele,

Die sich dem stillen Sinn der Ahnung offenbahrt.
[243]
Du kannst dich dieser Ahnung nicht berauben;

Dein Zweifel selbst verräth dir ihre leise Spur.

Sie spricht durch die Natur zum Glauben,

Der Glaube spricht von ihm zu der Natur.

Du zweifelst nicht an jenen Himmelskerzen;

Du ahnest Größe dort, und schaust entzückt hinan.

Jst denn die Geisterwelt entfernter deinem Herzen?

Jn deinem Geiste fängt das Reich der Geister an.

Der höchste Geist ist Gott, und du wirst seiner inne,

Wann tief der reine Sinn der Tugend dich entzückt;

Hier ist sein Heiligthum, und dort im Reich der Sinne

Jst er durch Weltnatur und Weisheit ausgedrückt.

Jch war dem Tropfen Zeit entronnen;

Und offen lag vor meinem Geiste nun

Der Ocean, an dessen Ufer Sonnen,

Wie ausgeworf'ne Kiesel, ruhn.

Die Milchbahn streckte weit durch unermeßne Fluren

Die tausend Arme wundervoll hinaus;

Dort drückte seine hellen Spuren

Verweilender das Wandeln Sottes aus.

Da blitzten, wie von Götteridealen,

Unsterbliche Gedankenstralen

Jn meinem tiefsten Leben auf.

Verklärter schwebten Monden hin und Erden,

Aus Schattenhallen gingen sie herauf;

Zu Morgensternen sah ich Abendsterne werden;

Die Schatten blühten selbst zu Lichtgestalten auf.

Gestirne zogen dort in weit entfernten Gleisen,

Sie drangen bleich herauf mit ihren Nebelaun,

Wie Geister, die aus öden Lebenskreisen

Nach einer hellern Sonne schaun.

So schwang mein Geist sich auf zum Gottesdienst der

Sphären.
[244]
Ha, welch ein Gottesdienst der Nacht! und doch kein

Gott? ─

Bei jenen flammenden Altären

Jm Tempel der Natur! Hier ist, hier waltet Gott!

Sein Odem weht durch diese Stralenlaube;

Dort betet die Vernunft: Erhabener, du bist!

Bist nahe dem beseelten Staube!

Ja, wenn den Heiligen die Grübelei vermißt;

Dann findet ahnend ihn der Glaube,

Der die Vernunft der Tugend ist.

Es sey kein Gott! und todt sind diese Himmelsflammen;

Sie haben hin durch deine Nacht geblitzt,

Und Trümmer baun den wüsten Thron zusammen,

Auf welchem einsam nur und stumm der Tod noch sitzt.

Es sey kein Gott, von dem die Welten stammen;

Jm Schoos des Zufalls ist der Lichttag aufgewacht;

Der weise Zufall rief in aller ihrer Pracht

Die tausend Sonnen hin in diese Glanzgefilde,

Damit aus tausend Sonnen ─ Eine Nacht,

Des Nichtseyns große Nacht sich bilde?

Und die Natur, die holde Pflegerin,

Auf deren Schoos wir einst in Schlummer fallen,

Sie fragt umsonst: woher? wohin?

Nein, Gottes Finger schrieb an diese Aetherhallen

Mit heller Sternenschrift: ich bin!

So find' ich denn im großen Weltenstrome,

Wo Schöpfung sich an Schöpfung knüpft,

Und im lebendigen Atome,

Der, kaum gesehn, im Lichtstral hüpft:

Ein Gott bevölkerte die unermeßnen Weiten

Mit Geistern, angestralt von seiner Göttlichkeit;

Vor ihm ist keine Zeit, uns gab er Raum und Zeiten;

Er wandelt still dahin durch seine Ewigkeiten,

Sein großer Schatten fällt durch das Gebiet der Zeit.
[245]
Es herrscht sein unbeschränktes Walten

Durch die Unendlichkeit in aller Kraft des Seyns;

Gedanken Gottes sind die hehren Weltgestalten;

Gott ist das All, das All ist Eins!

Jhn preißt dein Leben mehr, als alle Huldigungen

Der ewigen Natur, die kein Gedank' ermißt;

O glaub' es dir, und den Versicherungen

Von tausend Welten, daß Gott ist!

Sey denn mit Dunkelheit des Pilgers Pfad umschleiert;

Natur und Tugend, hin zur Gottheit führen sie!

Der Tugend öffnet sich das Reich der Harmonie;

Gott ist das hohe Lied des Tempels, wo sie feiert,

Und die Natur die Melodie!

Es ist ein Gott! der Tugend verbürgendes Leben

Verkündigt ihn; sie wäre nicht, wäre kein Gott.

Jhr ist das Wort der innigsten Weihe gegeben;

Sie spricht es aus: es ist ein Gott!

Sie zeuget laut, sie ruft es hinaus in die Ferne,

Hinaus in die mit Welten umblühete Flur.

Es ist ein Gott, antworten die ewigen Sterne

Durch das Gewölbe der Natur.

Der stille Geist, der innerste, seligste Friede

Vertraut dem Hain das hohe Geheimniß von Gott.

Und leise spricht im flötenden Nachtigallliede

Der Hain es nach: es ist ein Gott!

Der Erde Druck, die heiligen Leiden des Lebens,

Erhöhn den Geist, erheben die Seele zu Gott;

Die Tugend kämpft, und fordert den Sieg nicht vergebens;


Sie triumphirt: es ist ein Gott!
[246]

12) von Pölitz.


Die zehn Gebote vom Hirschensteine*.


Ein zweiter Sinai, erhebet in die Lüfte

Sein graues Haupt der Hirschenstein,

Und Gottes Allmacht grub in diese Granitklüfte

Zehn heilige Gebote ein.

Von Allem, was da lebt im Staube, fühlet Keiner

Jn sich des ewgen Daseyns Spur;

Unendlich ist im ganzen Geisterreich nur Einer,

Der waltet groß in der Natur.

Jhn sucht dein sehnend Herz; ihm beugt sich dein Gewissen;


Du sollst ihn lieben, ihm vertraun.

Du sollst des Vaters Segen rings um dich genießen;

Doch wähne nicht, ihn selbst zu schaun.

Du sollst das Gute um des Guten willen üben;

Denn dann nur ist dein Wille rein.

Du sollst dich selbst, doch mehr noch deine Brüder lieben,

Und einig mit dir selber seyn!

Zur Herrschaft soll schon hier das ew'ge Recht

gelangen,

Der Sultanismus untergehn;

Jm Frieden soll die mütterliche Erde prangen,

Und hoch der Freiheit Fahne wehn!

Der Zwingherrn Fesseln, und der Diplomaten Sünden,

Sie sollen einst, noch wär's zu früh,

Jns Grab, das sie sich selbst bereiten, niederschwinden;


Denn Gottes Kraft zerschmettert sie.
[247]
Du sollst als freier Geist nach höchster Reife

streben,

Kein Sklave fremder Meinung seyn;

Denn nur die selbsterrung'ne Wahrheit führt zum Leben

Und zu dem innern Frieden ein.

Du sollst das Reich des Lichts auf Erden weit

verbreiten;

Gott wohnt im Licht, und schuf das Licht,

Und er erzieht uns hier zum Licht der Ewigkeiten ─

Was auch des Bonzen Jrrsinn spricht.

Doch störe nie den Bruder, der nach andrer

Meinung

Dem Weltenurgeist schüchtern naht;

Wir alle harren jenseits erst des Lichts Erscheinung,

Und gehn hier einen dunkeln Pfad.

Du sollst, willst du dem Vater in den Höhen gleichen,

Sein Ebenbild auf Erden seyn;

Dem Strauchelnd-Fallenden die Hand der

Liebe reichen,

Und selbst dem Sünder gern verzeihn.

Du sollst nicht angstvoll zweifeln, nicht im Glauben

wanken,

Wann sich das letzte Licht verliert;

Der Vorsicht Plan stammt nicht aus irdischen Gedanken;

Genug, daß dich ein Vater führt!

Du bist unsterblich! Lüfte kühn des Geistes

Schwingen

Jm Vorhof seines Heiligthums!

Wann Geist und Leib sich trennen, wirst du siegreich

dringen

Zu höhern Tempeln seines Ruhms.
[248]
Es wird ─ mag auch des Hirschensteins Geklüft verwittern,


Die Glut des Sprudels untergehn,

Des Kreuzbergs wilde Höh' im Sturme niederzittern, ─

Dies heilige Gesetz bestehn!

3) Die epische Form der Dichtkunst.


37.
Charakter und einzelne Theile der epischen
Form der Dichtkunst.


Wenn der Character der didactischen Form der
Dichtkunst auf der zur ästhetischen Einheit erhobenen
Darstellung von Gefühlen beruht, die durch
Begriffe des Verstandes, oder durch Jdeen der Vernunft
aufgeregt und hervorgebracht werden; so beruht
der Charakter der epischen Form der Dichtkunst
auf der zur ästhetischen Einheit erhobenen Darstellung
von Gefühlen, die durch Gegenstände
in der Naturwelt, oder durch Vorgänge
im Reiche der menschlichen Freiheit angeregt
und erzeugt werden.


Denn ob es gleich der allgemeine Charakter
der Dichtkunst, und die Grundbedingung jedes einzelnen
dichterischen Erzeugnisses ist, daß Gefühle
dargestellt, und diese, vermittelst der idealischen Gestaltung
des Stoffes, zur Einheit der Form verbunden
werden; so unterscheiden sich doch die einzelnen
Hauptklassen der Dichtkunst dadurch von einander,
daß der darzustellende Stoff in der lyrischen [249]
Form in unmittelbaren Gefühlen des Dichters,
in der didactischen Form in Gefühlen, hervorgebracht
durch Begriffe des Verstandes oder durch Vernunftideen,
und in der epischen Form in Gefühlen,
vermittelt durch die Wahrnehmung von Naturgegenständen
oder durch die Thatsachen und Wirkungen
der menschlichen Freiheit, besteht. So wie also beim
Lehrgedichte ein Begriff des Verstandes oder eine
Jdee der Vernunft die Gefühle im Gemüthe des
Dichters aufreget, welche, unter der Thätigkeit der
idealisirenden Einbildungskraft, zur vollendeten Einheit
der Form verbunden werden; so sind es im
epischen Gedichte entweder Gegenstände und Erscheinungen
in der Naturwelt, oder Jndividuen, Thatsachen
und Vorgänge in der Welt der Freiheit,
welche Gefühle anregen, denen die Einbildungskraft,
vermittelst des freien Spieles ihrer Thätigkeit, die
idealische Hülle ertheilt.


Die Stoffe der epischen Dichtkunst unterscheiden
sich daher von den Stoffen der geschichtlichen
Prosa, bei aller übrigen Verwandtschaft mit denselben,
theils dadurch, daß sie Gefühle, welche
durch Thatsachen und Ereignisse veranlaßt werden,
und nicht zunächst und ausschließend Thatsachen und
Vorgänge schildern, wie die geschichtliche Prosa;
theils dadurch, daß kein reingeschichtlicher Stoff
als episch betrachtet und behandelt werden kann, der
nicht an sich geeignet ist, Gefühle zu erregen, und
der nicht in dem Gemüthe des epischen Dichters die
aufgeregten Gefühle zur ästhetischen Einheit erhebt.
Es werden also nicht alle geschichtliche Stoffe, ohne
Ausnahme, der epischen Darstellung fähig seyn.
Denn so wie es Begriffe, Jdeen und Gegenstände
der menschlichen Erkenntniß giebt, welche keine Gefühle [250]
für die ästhetische Darstellung in der didactischen
Dichtkunst zu vermitteln vermögen; so giebt es auch
Naturgegenstände und Vorgänge in der Wirklichkeit
(z. B. ein stinkender Sumpf, ein verwesender thierischer
Leichnam, eine Lazareth-Amputation, eine Section
u. s. w.), die sich nicht für die dichterischen Darstellungen
eignen, weil sie das Gefühl zurückstoßen, statt
daß es für die dichterische Behandlung mächtig aufgeregt,
so wie, durch diese Aufregung, die Einbildungskraft
in eine freie Thätigkeit zur Hervorbringung
einer idealischen Form versetzt werden soll.


Allein für diese Beschränkung der epischen Dichtkunst
von der einen Seite in Hinsicht des Stoffes,
wird sie von der andern wieder hinreichend entschädigt,
daß sie, was dem Geschichtschreiber in der
Prosa nie verstattet ist, theils die wirklichen Naturgegenstände
und Thatsachen der Geschichte, nicht
nach ihrer geschichtlichen Wahrheit, sondern nach
ihrer ästhetischen Darstellbarkeit, d. h. nach den Gesetzen
des Jdeals behandeln, theils daß sie sogar,
nach der Aehnlichkeit wirklicher Erscheinungen und
Vorgänge, Naturerscheinungen, Jndividuen und
Thatsachen, die nie im Kreise der wirklichen Welt
bestanden, durch die schöpferische Einbildungskraft
ins Daseyn rufen darf, unter der einzigen Bedingung,
daß der darzustellende Stoff einen ästhetischen
Charakter trägt, und daß er von dem Dichter
zur vollendeten Einheit der Form erhoben wird.


Durch dieses freie Schaffen einer idealischen
geschichtlichen Welt unterscheidet sich daher der epische
Dichter wesentlich von dem Geschichtsschreiber
in der Prosa. Es heißt den Charakter der epischen
Dichtkunst, nach der Unermeßlichkeit ihrer Stoffe
und Gebilde, ganz verkennen, wenn man z. B. dem [251]
Dichter eines Romans vorwirft, er habe einen
Marc Aurel, einen Karl den Großen, einen Attila,
einen Tamerlan, eine Jungfrau von Orleans, eine
Maria Stuart, u. a. nicht mit geschichtlicher Treue
gezeichnet. Dies war weder sein Beruf, noch seine
Aufgabe. Allein wenn er diesen, im Allgemeinen
aus der wirklichen Welt entlehnten, Stoff durch
seine Behandlung nicht zu idealisiren, wenn er ihm
nicht die ästhetische Einheit der Form zu ertheilen,
wenn er nicht innerhalb dieser Form tiefe, innige
und warme Gefühle auszuathmen vermochte; dann
hat er freilich den Stab über sich selbst gebrochen,
weil er weder Historiker, noch Dichter war, indem
er das erste nicht seyn wollte und zu seyn nöthig
hatte, das zweite aber, aus Mangel an Tiefe
des Gefühls und aus Mangel an schöpferischer, die
Einheit der ästhetischen Form erzeugenden, Einbildungskraft
nicht zu seyn vermochte. Sobald aber
der epische Dichter mit schöpferischer Kraft über den,
der wirklichen Geschichte entlehnten, Stoff waltet,
und denselben für ästhetische Zwecke in idealischen
Formen ausprägt; sobald darf ihn das Urtheil der
strengen Historiker nicht kümmern, wenn sie über
den Eingriff in ihr Gebiet Klage führen. Denn
kommt ihnen die Kraft des Geistes zu, den rein
geschichtlichen Stoff zu einer vollendeten Form des
prosaischen Styls, nach allen Bedingungen des
Gesetzes der Form, zu gestalten; so werden sie innerhalb
ihres Gebietes eben so classisch erscheinen, als
der epische Dichter in dem seinigen, und Niemand
wird Bedenken tragen, Schlözer, Spittler,
Johannes Müller, Wachler, Luden u. a. auf
gleiche Linie, innerhalb der gediegenen Form der geschichtlichen
Prosa, mit den classischen Dichtern in [252]
den Formen der epischen Dichtkunst zu stellen, so
verschiedenartig auch die Art und Weise ist, wie der
Prosaiker, und wie der epische Dichter dem Gesetze
der Form Genüge leistet.

38.
Fortsetzung.


Unverkümmert bleibt daher dem epischen Dichter
das Recht, gleich dem Geschichtsschreiber in der
Prosa, über alle Stoffe der beiden geschichtlichen
Kreise: der Vergangenheit und der Gegenwart,
unter der einzigen Bedingung zu gebieten, daß diese
Stoffe ästhetisch darstellbar sind. Allein vorzugsweise
vor dem Geschichtsschreiber in der Prosa
behauptet der epische Dichter auch das Recht, eine
idealische Vergangenheit und Gegenwart,
als reines Erzeugniß seiner schöpferischen Einbildungskraft
zu gestalten, sobald er den frei ins
Daseyn gerufenen Stoff theils nach dem Gesetze
der logischen und ästhetischen Möglichkeit, theils
nach dem Gesetze der Form, als eine in sich gediegene
und vollendete Kunstform, behandelt. Unter
diesen Bedingungen gehört die ganze Zauber= und
Geisterwelt in den Kreis der Stoffe des epischen
Dichters, die er in den meisten einzelnen Formen
der epischen Dichtkunst, in dem ernsthaften und komischen
Epos, in der Romanze, Ballade, in der
Legende u. s. w., mit dichterischer Freiheit anwenden
kann; nur daß alle, der wirklichen Welt nicht
einheimische, Wesen (z. B. Engel, Teufel, Feen,
Sylphen, Nixen u. a.) nach dem Gesetze der logischen
Möglichkeit und der ästhetischen Darstellbarkeit
sich ankündigen müssen. Gegen die logische Möglichkeit [253]
verstößt aber blos der Unsinn, d. h. was nach
dem Gesetze der formellen Wahrheit, ohne innern
Widerspruch, nicht gedacht werden kann; so wie gegen
die ästhetische Darstellbarkeit das verstößt, was
keine Schönheit der Form verstattet, was mithin
nie unter das Gesetz der Form ─ das höchste für
alles durch Sprache Darstellbare und Dargestellte ─
gebracht werden kann.


Weil aber unzählige einzelne vollendete Formen
der epischen Dichtkunst ohne diese Beimischung einer
Zauber- und Geisterwelt bestehen; so darf diese
sogenannte Maschinerie nicht als zum Wesen
der epischen Dichtkunst selbst erforderlich

betrachtet werden, wie einige Theoretiker gethan
haben. Denn so gewiß diese Maschinerie,
nach den vorhandenen classischen Dichtern in der
epischen Form, zu den Eigenthümlichkeiten der epischen
Dichtkunst gehört; so gewiß darf sie doch nur
zum Luxus, und nicht zum ursprünglichen Wesen
dieser dichterischen Form gerechnet werden, weil
sonst die Maschinerie bei keinem einzelnen classischen
Erzeugnisse der epischen Dichtkunst fehlen dürfte. ─


Noch aber gehört es zu der Erweiterung des
reichen Gebietes der epischen Stoffe, daß der epische
Dichter ─ nächst den Thatsachen und Erscheinungen
in der Wirklichkeit, sie heiße Vergangenheit
oder Gegenwart, und nächst den durch die Einbildungskraft
ästhetisch umgeschaffenen wirklichen
Vorgängen, oder vermittelst der Einbildungskraft,
nach dem Gesetze der logischen Möglichkeit und ästhetischen
Darstellbarkeit, völlig neugestalteten Jndividuen,
Begebenheiten und Naturerscheinungen,
─ eben so gut auch abwärts von dem Menschen
(z. B. in der Fabel) seine Stoffe aus dem Kreise [254]
der unbelebten und der thierischen Organisationen,
wie aufwärts aus den Kreisen der übersinnlichen
Welt entlehnen, und beide Kreise mit dem
unmittelbaren Kreise der menschlichen Freiheit in
Verbindung und Wechselwirkung bringen kann,
doch jedesmal nach einem festbestimmten
Verhältnisse beider Kreise zum Kreise der
menschlichen Freiheit.
Denn das in der Fabel
dargestellte Thier erscheint so wenig um seiner
selbst willen, als das höhere Wesen in dem Epos
und in der Ballade; beide sind des Menschen
wegen
da, um entweder den thierischen Jnstinkt
in einer ästhetischen Verhüllung an den Wirkungskreis
der menschlichen Freiheit zu halten, oder ein
übersinnliches Wesen, nach seiner geistigen und überirdischen
Kraft, in Gegensatz und Widerstreit, oder
auch in Verbindung und Unterstützung mit den geistigen
und physischen Kräften der handelnden Jndividuen
zu bringen.


Die dramatische Form der Dichtkunst, die
der epischen nahe verwandt ist, unterscheidet sich dadurch
wesentlich von derselben, daß in der epischen
Form der Dichter in seinem eignen Namen spricht
und wirkt, während der dramatische Dichter seine
Jndividualität ganz aufopfert, und die Personen,
die er schildert, selbst in die Mitte der Darstellung
versetzt, um durch dieselben die Handlung durchführen
und die ästhetische Einheit der Form vollenden
zu lassen.


Die einzelnen Formen der epischen Dichtkunst
sind:


a) das ernste Heldengedicht;


b) das komische Heldengedicht;


c) die Romanze und Ballade;

[255]

d) die Legende;


e) die poetische Erzählung;


f) die Fabel.

39.
a) Das ernste Heldengedicht.


Der Charakter des ernsten Heldengedichts beruht
auf der zur ästhetischen Einheit vollendeten
Darstellung des Kampfes der menschlichen
Kraft überhaupt,
besonders aber der Kraft des
freien Willens mit der Macht des Schicksals.

Das Heldengedicht versinnlicht daher zwei
einander gegen über stehende Größen: Freiheit
und Naturnothwendigkeit; die erste vergegenwärtigt
in der Thätigkeit eines menschlichen Wesens,
die zweite in einer auf den Menschen eindringenden
äußern Macht und Gewalt, so daß die
ästhetische Aufgabe des Epos und die Wirkung desselben
in der Darstellung dieses Anwogens zweier
feindlicher Kräfte gegen einander sich ankündigt, wodurch,
bei der Anschauung dieses Kampfes, das gemischte
Gefühl der Lust und der Unlust
angeregt
wird, bis zuletzt im Augenblicke der ästhetischen
Vollendung der Form ─ es siege nun
der Held über das feindliche Schicksal, oder er unterliege
demselben ─ das Gefühl der Lust das Uebergewicht
über das Gefühl der Unlust behauptet.
Das Heldengedicht verlangt also Handlung, und
zwar Handlung eines menschlichen d. i. eines, neben
der physischen Kraft, mit geistiger Kraft und mit
Freiheit des Willens ausgestatteten, aber unter den
Schranken der Endlichkeit stehenden, und gegen die [256]
Macht der Naturnothwendigkeit, oder gegen die
Vernichtung drohende Freiheit Andrer, anstrebenden
Wesens. Denn im Epos wird unter dem Schicksale,
das der Kraft des Helden feindlich sich entgegenthürmt,
bald die in ihren Ankündigungen unaufhaltbar
wirkende äußere Natur, bald die mit
allem Nachdrucke berechneter Klugheit und abgemessener
Bosheit anstrebende feindliche Freiheit andrer
Wesen seiner Gattung, bald beides zusammen in
abwechselndem Kampfe, bald aber auch der Antheil
überirdischer Wesen an diesem mächtigen Kampfe
verstanden. Von selbst folgt daraus, daß ─ sobald
der Dichter seines Stoffes völlig mächtig ist ─ die
ästhetischen Eigenschaften der Kraft, des Kühnen,
des Edlen und Würdevollen, des Unerwarteten und
Wundervollen, des Großen, des Erhabenen und
Feierlichen, des Pathetischen und Rührenden (vgl.
Th. 1. §. 51. 53─59), für die Aufnahme in das
ernste Heldengedicht besonders sich eignen, so wie,
durch die Vergegenwärtigung dieser Eigenschaften
innerhalb der vollendeten epischen Form, in dem
Gemüthe des Anschauenden der Kampf des Gefühls
der Lust mit dem Gefühle der Unlust veranlaßt wird,
der, nur in dem Augenblicke der Entscheidung der
epischen Handlung, in den Sieg des Gefühls der
Lust über das Gefühl der Lust übergeht.


Ob nun gleich der im Epos dargestellte Held
eben so nach seiner physischen Kraft, und nach
seinen geistigen Vermögen, namentlich nach der
Größe seiner Vernunft und nach der Jnnigkeit seines
Gefühls, wie nach seiner sittlichen Freiheit
im Kampfe mit dem auf ihn eindringenden feindlichen
Verhängnisse erscheinen kann; so erfüllt doch
der Kampf der sittlichen Kraft gegen die Macht [257]
des widrigen Schicksals mit einem erhöhtern gemischten
Gefühle der Lust und der Unlust, als die bloße
Wahrnehmung der Aeußerung der physischen oder
intellectuellen Kräfte, obgleich die ästhetische Wirkung
des Heldengedichts zunächst auf dem idealisirten
Anstreben gegen große, während des Kampfes
fortdauernd gesteigerte, Schwierigkeiten beruht, in
deren Besiegung die dem Helden einwohnende Kraft
sich bewährt.


Unter dieser Bedingung darf es auch nur Ein
Jndividuum
seyn, das im Mittelpuncte der
dichterischen Darstellung steht. Auf diesen Helden
muß sich alles im Epos beziehen; alles muß um
seinetwillen da seyn; nichts darf in die Darstellung
aufgenommen werden, das nicht in näherer oder
entfernterer Verbindung mit ihm, und zwar nach
dem Verhältnisse
stände, in welchem er seine
Kraft thätig beweiset. Das Erste daher, worauf
es im Epos ankommt, bleibt die versinnlichte Darstellung,
Haltung und Durchführung des Helden
und der Aeußerung seiner durch das Schicksal aufgebotenen
Kraft. Das Zweite ist die dichterische
Schilderung der Macht des Schicksals, gegen
welche er kämpft. Zwischen seiner Kraft und der
Macht des Schicksals muß aber in der epischen
Kunstform das sorgfältigst berechnete Verhältniß
herrschen. Denn wäre die Macht des Schicksals
ursprünglich stärker, als die Kraft, die gegen sie
ankämpft; so wäre der Sieg des Schicksals im
Voraus entschieden. Wäre hingegen die Kraft des
Helden, als solche, sogleich in ihrer ersten Ankündigung
überwiegend über die Gewalt des Schicksals,
das sie zum Kampfe anregt; so könnte der Held
nicht der Gegenstand unsrer Theilnahme und Bewunderung [258]
werden, weil nur die Gleichmäßigkeit
der Kraft des Andranges und des Widerstandes die
hohe Bewegung und den innern Kampf der Lust
und Unlust im Gefühlsvermögen hervorbringt. Nur
dadurch also, daß, bis zum Schlusse des Epos,
gleichmäßig mit der sich verstärkenden Macht des
Schicksals auch die Kraft des Helden in einer unverkennbaren
Steigerung sich ankündigt, wird das
Jnteresse an der Darstellung erhalten und erhöht.
Mag übrigens der Held zuletzt siegen oder unterliegen;
so streitet beides nicht mit dem Charakter
des Epos; nur muß der Held, wann er unterliegt,
als ein Wesen fallen, das bis zum letzten Augenblicke
den Anspruch auf Achtung, Theilnahme und
Bewunderung behauptet. Selbst der überirdische,
der göttliche Held muß, sobald er im Epos erscheint,
als sittlich vollendeter Mensch, im Vollgefühle
und in der Vollkraft aller höhern geistigen
Vermögen, nach der höchsten Reife der Vernunft,
nach der größten Jnnigkeit, Reinheit und Stärke
des Gefühls, und nach der unwiderstehlichen Kraft
der geläutertsten sittlichen Freiheit sich ankündigen,
um, ausgestattet mit dieser Gesammtheit vollendeter
Eigenschaften, den großen Kampf mit der andringenden
Macht des feindlichen Schicksals zu bestehen;
denn der Knoten, dessen Schürzung auf der
Steigerung dieses Kampfes beruht, soll nicht durch
überirdische Kräfte zerhauen, sondern durch die Kraft
des freien Willens gelöset werden.


Der Dichter des Epos ist, wie die Theorie der
epischen Dichtkunst überhaupt (§. 37 und 38.) zeigte,
wenn er auch geschichtliche Thatsachen zur Unterlage
seiner Darstellung wählt, nicht an das Gesetz der geschichtlichen
Wahrheit gebunden; wohl aber muß [259]
er die dichterische Wahrheit, die innere Nothwendigkeit
in den Handlungen des Helden, und
den innern Zusammenhang zwischen der Freiheit
des Helden und der Macht des Schicksals festhalten,
weil ohne diese innere Nothwendigkeit keine
Einheit der ästhetischen Form möglich ist. Aus
dem Festhalten dieser innern Nothwendigkeit ergiebt
sich die Eintheilung des Epos in die einzelnen
Acte oder Gesänge, so daß jeder einzelne Gesang
ein in sich abgeschlossenes Ganzes des dargestellten
Kampfes zwischen der Freiheit des Helden und der
Macht des Schicksals bildet, obgleich jeder einzelne
Gesang mit den vorhergehenden und nachfolgenden
Gesängen im nothwendigen Zusammenhange stehen
muß. Selbst die Aufnahme des Wunderbaren
und Uebersinnlichen in das Heldengedicht (§.
38.) steht unter diesem Gesetze der innern ästhetischen
Nothwendigkeit, so daß es keinen zufälligen
und außerwesentlichen, sondern einen nothwendigen
Bestandtheil der ganzen Handlung bildet.


Die künstlerische Anlegung, Haltung und Durchführung
des Epos, der darin vorherrschende Ton
des Gefühls, und die wechselnde Farbengebung in den
einzelnen dargestellten Gruppen und Schilderungen,
ist eine Wirkung der Begeisterung und der schöpferischen
Einbildungskraft des Dichters, und wird deshalb
─ im ganzen Umfange der ästhetischen Form ─
das Gepräge der Jndividualität des Dichters an sich
tragen. Je größer seine dichterische Kraft ist, den
Helden nach allen seinen Handlungen und Ankündigungen
im Glanze des Jdeals, und, ihm gegen
über, die Macht des Schicksals in ihrem ganzen
Umfange darzustellen; je bestimmter das Gesetz des
innern Zusammenhanges und der Nothwendigkeit [260]
zwischen allen einzelnen Theilen herrscht, und je mehr
es ihm gelingt, das Jnteresse an der Darstellung
bis zu dem Schlusse hin zu steigern; desto umschließender
und sicherer wird die Wirkung des Epos
seyn.


Wenn man in neuerer Zeit den ästhetischen
Charakter des Epos beinahe zu überschätzen und
die epischen Dichtungen über die lyrischen zu
stellen suchte; so darf man, um beide gehörig zu
würdigen, den wesentlichen Unterschied zwischen beiden
nie übersehen. Die lyrische Form der Dichtkunst
versinnlicht nämlich die höchste Kraft des intensiven
Lebens der Gefühle, die epische Form
die möglichst höchste extensive Ankündigung dieser
Gefühle in Handlungen, welche rückwärts in dem
menschlichen Gefühlsvermögen begründet und mit
den Aeußerungen dieser Gefühle vergesellschaftet sind.
Die Aufgabe und der Zweck der lyrischen Dichtkunst
ist daher die sinnlich vollendetste Subjectivität,
so wie die Aufgabe und der Zweck der epischen Dichtkunst
die sinnlich vollendetste Objectivität.
Ungeachtet dieser ursprünglichen Verschiedenheit ihres
ästhetischen Charakters, stehen aber doch die lyrische
und epische Form der Dichtkunst einander gleich
in Hinsicht des ästhetischen Gehalts; denn dieser
beruht nicht auf der Wahl des dichterischen Stoffes,
sondern auf der Gediegenheit und ästhetischen
Vollendung der Form, so wie das größere Wohlgefallen
entweder an der lyrischen, oder an der epischen
Form ─ bei gleicher Classicität derselben ─
von der individuellen Stimmung dessen abhängt, der
bei der Betrachtung dieser Kunstformen verweilt.


Man darf übrigens den modernen Epos nicht
mit dem griechischen verwechseln; denn mehr, als [261]
die lyrische und didactische Form der Dichtkunst,
trägt die epische die Farbe und das Gepräge
der einzelnen Völker und Zeiten,
weil ihr
Jndividuen, Ereignisse und Thatsachen
zum Grunde liegen, die nur im Lichte ihrer Zeit
ganz richtig aufgefaßt werden können. So viel daher
auch der epische Dichter von der geschichtlichen
Wahrheit in seiner Darstellung abgewichen seyn mag;
so wird er doch das Zeitalter, mit seinen Vorstellungen
und Ansichten von Religion und Staatsleben,
so wie das Volk nicht verläugnen können, aus dessen
Geschichte mehr oder weniger in die einzelnen
Schilderungen ─ vielleicht selbst nur in die Episoden
─ des Epos übergeht. Dies gilt von der
Jlias und Odyssee, wie von dem Heldenbuche und
dem Niebelungenliede. Kein Dichter der griechischen
und römischen Vorzeit hätte des heiligen Grals, oder
des Ezels und Siegfrieds gedenken können, und
Dante in seiner göttlichen Komödie, Tasso in
seinem befreiten Jerusalem kündigen nicht nur sogleich
sich als christliche Dichter, sondern auch ─
im Gegensatze der Ritterdichtkunst des eigentlichen
Mittelalters ─ als epische Dichter im ausgehenden
Mittelalter an. Eben so tragen Miltons
verlornes und wiedergefundenes Paradies theils den
Charakter eines brittischen Dichters, theils die Farbe
der religiösen und kirchlichen Ansichten seiner Zeit.
Dies gilt selbst von dem vollendetsten Epos in teutscher
Sprache, von Klopstocks Messiade. ─
v. Schönaichs Hermann, oder das befreite
Teutschland, Bodmers Noachide, und Joh. Elias
Schlegels Heinrich der Löwe stehen, in Hinsicht
der ästhetischen Haltung, weit hinter dem Messias.
Kräftig war der Ton in Zachariä's Schöpfung [262]
der Hölle; sein Cortes aber, und Wielands
Cyrus
blieben Bruckstück. Geßners Tod Abels
und Voß Luise müssen als idyllisches Epos aufgeführt
werden. Allein v. Sonnenberg schwang
sich im religiösen Epos ─ im (unvollendeten) Weltende,
und in Donatoa ─ dem Sänger des Messias
am nächsten; so wie v. Alxinger im Doolin
von Mainz und im Bliomberis, und Fr. Aug.
Müller
im Richard Löwenherz, Alfonso, Adelbert
dem Wilden ─ mit wenigen andern ─ im ernsten
weltlichen Epos nicht ohne Achtung genannt zu werden
verdienen, wenn auch der ästhetische Gehalt ihrer
Epopöen nicht überfeiert werden darf.

40.
Beispiele aus dem ernsten Heldengedichte.


1) vom Freiherrn v. Schönaich († 1807;
81 Jahre alt).


(aus s. Hermann, oder das befreite Teutschland;
neue Aufl. Leipz. 1753. ─ Bruchstück
aus dem zwölften Buche, wo Hermann die
Teutschen den unter Varus sich nähernden Römern
entgegen führt.)


„Jauchzet Brüder, rufet Hermann, daß sie so vermessen

sind;

Daß die längst gehemmte Rache endlich Platz nnd Feld

gewinnt;

Gold und Purpur gleißen zwar auf den aufgeputzten

Waffen;

Aber was kann Gold und Glanz wider Stärk' und Tugend

schaffen?

Marsen! schaut! das sind die Feinde, die euch Joch und

Ketten dräun;
[263]
Schaut doch die vergoldten Waffen! Sollten die euch

schrecklich seyn?

Friesen, Sachsen, dämpft die Welle, die von jenem

Hügel braust!

Folgt Cherusker, und ihr Katten, thut, wie eures

Fürsten Faust!

Es wird keine Kunst doch seyn, Weichlinge zu überwinden;


Und der Stolzen Lager muß heut in Rauch und Dampf

verschwinden.

Rastolf, nimm dort jenes Adlers, der so prächtig

schimmert, wahr;

Stell' ihn, Herzog, nach dem Treffen im geweihten

Haine dar!

Wer des Varus Scheitel wird vor des Hermanns Füße

bringen;

Dem soll unsrer Barden Mund Lob und Dank und Lieder

singen.“

Säng ich gleich mit Götterstimmen, würde doch mein

Lied zu schwach;

Welche Göttin folgt den Helden unter Schwert und

Spieße nach?

Zwar die Zwietracht schürt die Glut, und Bellonen

sieht man toben;

Und Morbona selber hat ihre Schwingen frech erhoben.


Krachend bricht sie aus der Hölle, bringet Tod und

Schrecken mit;

Das bewegte Teutschland zittert, wenn die Göttin niedertritt.


Aus den Wüsten treibt sie Volk; sie entzündet Süd'

und Norden;

Und die stets beeiste Welt ist zur Schlacht gerufen

worden.
[264]
Hier spannt Mavors seinen Bogen, und sein Ruf erhitzt

die Schlacht;

Römer und auch Teutsche gleiten, weil das Blut sie

gleiten mache.

Varus, den die Schlacht nunmehr, Noth und Schand'

und Ruhm entflammen,

Sammlet seinen ganzen Muth in der stolzen Brust zusammen.


Römer, ruft er, denkt an Cäsar, denkt an Rom und

an die Welt,

Die nun ihre scheuen Blicke nur auf euch gerichtet hält.

Folget mir!“ und also bricht er der Ketten feste Glieder;

Rastolf selber wird gehemmt; Teutsch' und Römer sinken

nieder;

Diesen flammen Ruhm und Ehre, und die goldnen Adler an;

Jenen treibt die Freiheit wieder, die er nicht verlieren

kann. ─

Varus, der sich von dem Sande unterdessen aufgemacht,


Schweigt, und sieht mit bittern Schmerzen seines Heers

gebrochne Kraft.

Zähren voller Blut und Staub dringen von bestaubten

Wangen,

Die Verzweiflung zwinget ihn, nach dem Tode zu verlangen,


Rasend greift er nach dem Schwerte, das zerknicket vor

ihm liegt;

Stößt es wütend in den Busen, daß sich Griff und

Klinge biegt.

Sprudelnd springt das Blut und fleußt auf die grauserfüllten

Matten;

Seine schwarze Seele fleucht zu der Väter edlen Schatten.

Haubold, ein verwegner Teutscher, nimmt der Römer

Feldherrn wahr;
[265]
Gleich trennt er mit einem Hiebe seinen Kopf vom

Rumpfe gar,

Eilt zum Helden, ruft und spricht: „Fürst, hier liegt der

Feind im Staube!“

Hermann siehts, und giebt ihm gleich den vergoldten

Helm zum Raube.

Edmund aber wird berufen. „Freund, so klingt des

Herzogs Wort,

Bringe diesen Kopf dem Marbod!“ Augenblicklich eilt

er fort,

Dieses Zeichen des Triumphs, da hier Teutschland Rom

geschlagen,

An der Marcomannen Hof zur Beschämung hinzutragen.

So erfocht der Held die Freiheit; so bezwang er die

Gefahr,

Die der ganzen Erde schrecklich, und den Teutschen

rühmlich war.

Des beeisten Nordens Meer sah die frechen Adler glänzen;

Nur der lorbeerreiche Tag setzte Rom den Rhein zu

Grenzen.

Rom erschrack; Augustus bebte; und man hielt den

Feind so nah,

Daß der Bürger ganz erschrocken Hermanns Schwert entgegen

sah.

Blut von tausend Opfern floß, wie das Fett von den

Altären;

Wahn und Andacht sollten nun den erzürnten Schwertern

wehren.

Doch der Held war seinen Völkern lang ein Fels, und

starker Schild;

Und ist noch den spät'sten Enkeln der vergeßnen Pflichten

Bild.

Bei den Teutschen hörte Rom endlich auf, zu überwinden;

[266]
Endlich mußte diese Macht durch der Väter Arm verschwinden.


Ach, wo lebt nun wohl ein Hermann? Holder Himmel,

schaff' ihn doch!

Teutschland heget ja wohl Helden; aber keinen Hermann

noch.

Jst es möglich, o, so laß meinen heißen Wunsch gelingen;


Und du, Muse, sollst alsdann mit erhabnerm Tone

singen!

2) von Klopstock († 1803).


Jesus in Gethsemane.
(aus dem fünften Gesange des Messias.)


─ Jetzt denkt Gott sich selbst, und das Geisterheer,

das ihm treu blieb,

Und den Sünder, das Menschengeschlecht! Da zürnet

er. Ruhend

Hoch auf Tabor, hält er den tieferzitternden Erdkreis,

Daß der Staub nicht vor ihm in das Unermeßliche stäube!

Wendet gegen Eloa darauf sein schauendes Antlitz,

Und der Seraph versteht die Red' in dem Antlitz Jehovah's;


Steigt von dem Tabor gen Himmel. So hub von der

Hütte des Bundes

Sich die Führerin weg, die himmelstützende Wolke,

Wenn das Volk, der sichtbare Zeuge von Bethlehems Sohne,

Seine Gezelte von Oede zu Oed' auf Moses Gebot trug.

Und der Gesendete stand auf einer Mitternacht stille,

Schaute zum Oelberg nieder, erhub die Donnerposaune,

Tönte des Weltgerichts Entsetzen aus der Posaune,

Rufte gegen die Erd', und sprach: Bei dem furchtbaren

Namen
[267]
Dessen, der ewig ist, und seiner Gerechtigkeit Dauer

Mit Unendlichkeit maß; der hält die Schlüssel des Abgrunds,


Der mit rügender Flamme die Hölle, den Tod mit Allmacht,


Und mit Gericht bewaffnet! Jst einer unter den Himmeln,

Welcher, statt des Menschengeschlechts, im Gericht will

erscheinen,

Dieser komme vor Gott! So ruft Eloa vom Himmel.

Und der Gottmensch schaute dem hohen Seraph ins

Antlitz,

Hörte den Klang der Posaune! Da ging er mit schnellerem

Schritte

Jn Gethsemane fort. Noch folgten ihm drei von den

Jüngern

Jn die schreckende Nacht. Er entriß sich ihnen, und eilte

Ganz in das Einsame hin. Jehovah hub das Gericht an.

Jn das Heiligste hast du mich zwar, Sionitin, geführet,

Aber nicht in das Allerheiligste. Hätt' ich die Hoheit

Eines Propheten, zu fassen die ewige Seele des Menschen,

Und mit gewaltigem Arm sie fortzureißen; und hätt' ich

Eines Seraphs erhabene Stimme, mit welcher er Gott

singt;

Tönete mir von dem Munde die schreckensvolle Posaune,

Die auf Sina erklang, daß unter ihr bebte des Bergs

Fuß;

Sprächen der Cherubim Donner aus mir, Gedanken zu

sagen,

Deren Hoheit selbst der Posaune Ton nicht erreichte:

Dennoch ersänk' ich, du Gottversöhner! dein Leiden zu

singen,

Als mit dem Tode du rangst, als unerbittlich dein Gott war.

Ueber den Staub der Erde gebückt, die, im Graun

vor dem Richter,
[268]
Gegen sein Antlitz herauf mit stillem Schauer erbebte,

Und im Beben den Staub zahlloser Kinder von Adam,

Alle verdorrten Gebeine der todten Sünder, bewegte,

Lag der Messias, mit Augen, die, starr auf Tabor gerichtet,


Nichts Erschaffenes sahn, des Richtenden Antlitz nur

schauten,

Bang, mit Todesschweiße bedeckt, mit gerungenen Händen,

Sprachlos, aber gedrängt von Empfindungen! Stark,

wie der Tod trifft,

Schnell, wie Gottes Gedanken, erschütterten Schauer

auf Schauer,

Auf Empfindung Empfindung, des ewigen Todes Empfindung


Den, der Gott war, und Mensch. Er lag, und fühlt',

und verstummte.

Aber da immer bänger die Bangigkeit, heißer die Angst

ward,

Dunkler die Nacht, gewaltiger klang die Donnerposaune;

Da stets tiefer bebte der Tabor unter Jehovah;

Statt des Todtesschweißes, vom Antlitz des Leidenden

Blut rann:

Hub er vom Staube sich auf, und streckte gen Himmel

die Arm' aus;

Thränen flossen ins Blut; er betete laut zu dem Richter:

Vater, die Welt war noch nicht. Bald starb der Erste

der Menschen;

Bald ward jede der Stunden mit sterbenden Sündern

bezeichnet!

Ganze Jahrhunderte sind, von deinem Fluche belastet,

Also vorübergegangen. Nun ist sie, Vater, gekommen;

Da die Welt noch nicht war, da noch kein Todter verwes'te,


Wurde sie schon die selige Stunde des Leidens erkohren!
[269]
Und nun ist sie gekommen! O seyd mir, Schlafende

Gottes,

Seyd mir in euren Grüften gesegnet! Jhr werdet erwachen!


Ach wie fühl' ich der Sterblichkeit Loos! Auch ich bin

geboren,

Daß ich sterbe! Der du den Arm des Richters emporhältst,


Und mein Gebein von Erde mit deinen Schrecken erschütterst,


Laß die Stunde der Angst mit schnellerem Fluge vorbeigehn!


Vater! es ist dir alles möglich, ach laß sie vorbeigehn!

Ganz von deinem Zorn, von deinen Schrecken gefüllet,

Hast du mit ausgebreitetem Arm den Kelch der Leiden

Ueber mich ausgegossen. Jch bin ganz einsam, von allen,

Die ich liebe, den Engeln, den Mehrgeliebten, den

Menschen,

Meinen Brüdern, von dir, von dir, mein Vater, verlassen!


Schau, wo du richtest, ins Elend herab! Jehovah! wer

sind wir,

Adams Kinder, und ich! Laß ab, die Schrecken des Todes

Ueber mich auszugießen! Doch nicht mein Wille geschehe!

Vater, dein Wille gescheh'! Mein hingeheftetes Auge

Schauet aus in die Nacht, und kann nicht weinen; mein

Arm bebet,

Starrt nach Hülfe gen Himmel empor; ich sink' auf

die Erde:

Sie ist Grab! Es ruft, durch alle Tiefen der Seele,

Laut ein Gedanke dem andern: Jch sey von dem Vater

verworfen!

Ach, da der Tod noch nicht war! da noch die Stille

des Vaters
[270]
Ruht' auf dem Sohne! da Adam ward, daß er ewig

lebte.

Aber mein Erdegebein trägt auch die Gottheit! Jch leide!

Jch bin ewig, wie du! Es gescheh', o Vater, dein Wille!

Also sprach er, und richtete sich von seinem Gebet auf,

Stützt' auf die wankende Rechte sich nieder, und schaut'

in die Nacht hin.

3) von Bodmer (1783).


Bruchstück aus dem achten Gesange der Noachide.
(nach der umgearbeiteten Auflage vom J. 1781).


─ Als der Komet den Grenzen der Erde so nahe gekommen,


Daß er kaum seinen Durchschnitt von ihrer Kugel entfernt

flog,

Sieh, da verließen die Wasser des Oceans ihre Gestade,

Hoben den Rücken empor, und schwollen gegen den

Stern auf.

Lange schon streifte die Atmosphäre des fremden Gestirnes

An die Grenzen der Erde, die beiden vermengten sich

kreuzend,

Seltsam verflochten; mit Arbeit und Müh rangen Stern

und Erdball

Einen Pfad durch den andern, damit er unaufgehalten

Seinen verordneten Kreis in des Aethers Gefilden vollbrächte.


Von der Gewalt im Grund unwiderstehlich erschüttert,

Fielen die Thürme zu Trümmern, die Tempel und hohen

Paläste,

Hügel fielen auf Hügel, und Klippen stießen an Klippen.

Als die Planeten so kämpften, zerriß der Dunstball des

Schweifsterns.

Eine Nacht hing über der andern an ehernen Ketten,
[271]
Schwärzere Schatten, als welche sich über Cimmerien

hängen.

Oefters erhellte die tödtlichen Schatten ein schlängelndes

Blitzen,

Breit, wie ein Strom, und kreuzend vom Aufgang zum

Untergang, Donner

Brüllten mit schmetternder Stimm', und unter die

Stimme des Donners

Heulte Verzweiflung. Der Tod war in allen Gestalten

vorhanden;

Hing in der Luft, und wühlt' in der Erd', und stürmte

vom Meer her;

Wo man hinsah, da droht' allgegenwärtig sein Antlitz,

Aber jetzt rissen die Bande der Wolken; die Urnen und

Schläuche

Thaten sich auf, und gossen kometische Meere herunter.

Wen nicht die Erde begrub; den ergriff die Flut, o sie

schleppte

Unerbittlich zum Tod Nationen von Menschen und Thieren.

Von der gehörnten Flut gespart, auf Berge geflohen,

Standen da blasse Schaaren, den Tod nur länger zu schmecken,

Keuchten nach Luft, und umschlangen mit beiden Armen

die Bäume,

Eine Frist von drei Athemzügen vom Tod zu gewinnen.

Ueber sie rauschte die Flut mit Riesenschritten, nicht müde,

Bis sie die Erde durchwandert hatte von Pole zu Pole.

Ach, sie erhaschte die Sünder in ihrer sichersten Stunde,

Eingeschläfert, im Schwindel der Lüst' und des Unsinns

begraben;

Denn sie kam wie ein Feind, der in der Mitternacht

einbricht.

Jn dem gestadlosen Meer, mit den Leichen der Sünder

vermischet,

Schwammen die Körper der Edlen, zur Seite der Thiere

des Feldes,
[272]
Alles Fleisch, das sich von der Speisetragenden Erde

Nähret, verfolgte der Tod weltherrschend von Zone zu

Zone.

O wie war die Gestalt des Landes verkehrt, wie verwandelt!


Wo nur jüngst noch der Lenz in seinem blumigten Kleide

Zwischen der duftenden Ros' und dem Liede der Nachtigall

lachte,

Schmachtet' er unter den Banden, womit die Flut ihn

gebunden.

Schweflichte Dämpfe von finstern und groben Erzen

des Abgrunds

Flogen empor, und mischten mit Gift die Luft und das

Wasser.

Unterdeß floh der Komet, und rühmt', ihm hätte die Erde

Nichts als die äußersten Ecken der Durstgebirge genommen.

Vor dem Antlitz der Menschen, die Gott in die Arche

beschlossen,

Brüllten nicht ungehört die verschlossenen Donner im

Erdreich,

Wankte nicht unempfunden in ihrer Feste die Erde.

Auch sie hatten den eisernen Himmel, gepeitscht von den

Winden,

Kommen gesehn, und über das Land sich breiten gesehen,

Bis er aus seinen Cavernen die Meere Gewässers herabgoß.


Aber den feindlichen Stern, der das Uebel der Erde gebracht

hat,

Sahn sie nicht mehr; er nahm, gehüllt in cimmerische

Schatten,

Seinen Lauf zu dem Kreis des Mercurs mit geflügelter

Eile.

Aber noch reichte die Flut nicht hinauf zur schirmenden

Arche.
[273]
Wo sie ein Fels umwölbend in Schutz nahm; über dem

Haupt hin

Fiel von der Höh' das Getös der Flut in schäumenden

Wogen.

Jnnerhalb schien ein nächtlicher Tag, die eisernen Wolken

Hemmten das Licht, und vermischten die Tag' und die

Nächte zusammen.

Also flossen die Tage vorüber, zweideutige Tage,

Die ein entkräftetes Licht nur mit welken Zügen bezeichnet.

Unterdeß war die Flut beständig gewachsen, sie trat jetzt

Ueber die Pforte des Paradieses, sie stieg in das Thal ein,

Wo die Arch', an die Klippe gelehnt, dem Verderben

entflohn war.

Aber indem die Wolken mit jedem Tage zerflossen,

Reinigte sich der Himmel, das Licht brach durch und

besiegte

Seine schwebenden Wässer, sie waren jetzt alle vergossen;

Auf das Silber der Flut fiel die Sonn' im güldenen

Glanze,

O wie erstarrten die Menschen, als sie die gestadlose Wüste

Sahn, allgegenwärtig die Flut, die Meere nach Meeren.

Diese Gefilde von Wassern, die nur der Himmel begrenzte,

Setzten sie lang aus sich selbst; sie standen und sahen

erstaunet,

Als in Gedanken bemüht, die Weiten der Meere zu messen;

Aber verloren sich über dem Anblick, und hatten Mühe

Jhre verirrten Sinne zu sich zurücke zu sammeln.

Dann erhoben vor ihrer Stirne sich tödtliche Bilder,

Eine Wahlstatt des Todes; sein Tummelplatz, seine Gerichtsstatt,


Allgemeine Vertilgung, der Untergang aller Geschlechter,

Aller Geschöpfe, die kürzlich den Athem des Lebens gehauchet;

[274]
Aber vornämlich der Menschen, unzähliger, welche der

Schöpfer

Halb nur von Staub und halb von himmlischer Flamme

gemacht hat,

Die der Tod jetzt auf einmal in ihren Sünden ergriffen,

Jüngling' und Greise, die Kinder und Väter, die Mütter

und Bräute,

Alle gemäht, und zugleich in Einem Grabe vermischt hat.

Was für Hoffnung noch war, den Riß in der Schöpfung

zu heilen,

Kaum auf die Wenigen an, die der enge Kasten beschlossen.

4) von v. Sonnenberg († 1805).


Bruchstück aus Donatoa, oder das Weltende.


Anfang des vierten Gesanges.


Sey mir, o Morgensonne, gegrüßt in deinem Erwachen;

Rosiger Jugend noch, schwingst du dich heiter vom Lager

des Aufgangs

Wie die gekrönete Lieb' empor, an den Busen der Erde,

Schmückst die Erde, wie dich, mit junger Herrlichkeit,

lächelst

Allem Leben und Tode mit Einer Liebe, und freust dich

Ueber den Jugendspielen der Welt ─ auch dort, wo ins

Kühle,

Weich in die Blumen, mich einst zu meiner Kindheit

Gespielen

Niederbettet der Tod, ─ in der Hoffnung anderer Welt

schon.

Sonne, du steigst auch einst wie der Jüngling hinab,

und dein Auge

Schließt sich in Nacht, und schlägt es nun aus, dein

Herz der Freude,

Sinkest du mit im großen Zubettgehn aller Naturen.
[275]
Aber, wann einst du aus Wolkengräbern in hoher Verklärung


Wieder erwachst, und das Erstlings Lächeln des himmlischen

Lebens

Dir um die Morgenwange, wie ewiger Frühling, emporschwebt,


Du, mit dem Sterne der Lieb' hochzeitlich geschmückt an

dem Busen,

Braut in der Jugend Gefühl, in deiner Göttlichkeit

jauchzest,

Und im Triumph mit dem jubelschlagenden Herzen dich

vorschwingst,

Ach, an die Erde dich schmiegst, die kalte Mutter erwärmend,


Trunken vor Liebe und Licht, mit dem Kuß der Liebe

sie aufweckst;

Sonne, wann dann du dich froh in deiner Herrlichkeit

umschaust,

Alle Gräber sich dir aufschließen, wie Rosen dem Frühstral,

Alle du kränzest, sie alle noch kennst, und nun auch des

Jünglings

Schlummerhügel besuchst, der gern einst deiner sich freute,

Wann du ihn siehst, den noch schlummernden Sänger, und,

gern ihn noch hörend,

Nun ihm die Aschenlippen mit Edens Jugend umröthest.

O der Wonne, dich wiederzusehn, und in deiner Umstralung,


Weit um die Erde hinab, vom Niedergang bis zum

Aufgang,

Alles voll hoffender Auferstehungen, die in die Hymne

Deines stillen Triumphs ihr lautes Entzücken nun mischen;

Wann die Lieben jetzt all' aus ihren Gräbern heraufgehn,

Alle die Trauten der Wiegenjahre, die ersten Umarmten,

Meiner Kindheit Gespielen und meiner Jugend Gefährten,
[276]
Du auch, Vater! und dir an der Hand, mit dem lieben

Geschwister,

Und mit den beiden hinübergeschlummerten Kleinen, die

Mutter,

Zwischen ihnen der Große, der, Mensch zu werden, mich

lehrte,

Alle in Mitte mit hochaufbebendem Busen, mit heißer

Glühender Wange, mit stralendem Auge, die künftig der

Jüngling

Findet, die Jhn mit findet, vor dir, o Sonne, ihn

findet!

Wann von den Schlummerhügeln empor, an den stralenden

Händen

Aller dieser Verklärten zum Richter ich eil', und, den

Arm jetzt

Streckend zu ihm, sie all' um mich her, aufjauchze:

„Hier komm' ich,

Vater, mit meinen Geliebten, nun komm' auch, Vater,

dein Reich uns!“

O wann er dann von dem Liebethron in unsre Umarmung

„Meine Kinder!“ nun ruft, der große Lehrer der Liebe

Unsre Umarmung umarmt, und Vaters Reich sich uns

öffnet;

Sonne, dann will ich mein Lied auf der neuen Erde

dir singen!

Bruchstück aus dem zwölften Gesange; der

Schluß des Epos.

─ ─ Und der Engel der Lieb' enthüllte das Räthsel

des Schicksals,

Lichter und lichter; da klärte des Allerheiligsten Nacht sich

Rings im Unendlichen auf, die Nacht war lauterstes Urlicht


O wie glänzten sie hier, wie stralte jede der Thaten
[277]
Ein in den göttlichen Plan der unendlichen Seligkeit

Aller!

Sieh, so löste das ewige Schicksal aller Natur sich

Jn die unendliche Harmonie auf: Gott ist die Liebe!

Ach, da sank nun aufs Knie das Universum des Lebens,

Hob die Arme zu Gott, und tief aus dem schlagenden

Herzen,

Aller Schöpfungen riefs mit der Stimme des höchsten

Erstaunens,

Schauernden Wonneerstaunens aus Allen mit einmal:

Allvater!

Und jetzt schwebten im All der Entzückung die Wiederverklärten


Jauchzend empor, es jauchzeten alle Naturen im Umkreis

Alle Schöpfungen auf; des Lebens unendliches All ward

Eine Jubelumarmung, und sieh' die Jubelumarmung

Sank an die große Jehovabrust, an den Busen der Liebe.

Und Jehova blickt' auf das All; da drängten der Welten

Unermeßliche Heere sich all' um die große Umarmung,

Eine Welt nur zu seyn, und allgegenwärtiger Himmel

Ward die unendliche Welt, und ihre Sonne Jehova.

Ach! da lag jetzt alle Natur, die Engel und Menschen

Und der Dämonen Geschlecht an der Brust Allvaters

Jehova,

Alle wunde geblutete Herzen; da wurden jetzt alle

Zugedeckt von der großen Allvaterhand, und die Thränen

Jedes müde geweineten Augs von Jhr getrocknet;

Und da blühten um sie die Paradiese der Liebe,

Unter der Ewigkeit Morgenröthe mit allen Olympen,

Jn der unendlichen Gotteswelt um alle vereinet.

Ach da bebte, da zitterte selig an jeglichem Herzen

Alles, was je es umschlang in allem Großen und Schönen,

Alles in jeder Umarmung umarmte, in jeglicher Freude,

Jn der Wonne umarmte, in allen Gespielen der Kindheit,
[278]
Allen Jugendgeliebten, und kindlich in Vater und Mutter,

Brüderlich traut in allen Geschwistern, und väterlich

liebend

Jn der Unschuld des Kindes und Enkels, am Busen

umschlungen,

Alles in höheren Wonnestunden des Lebens Umfaßte,

Mitten im Jubel Erweinte, in jedem Schlagen des Herzens

Heiß Ersehnte, in jeglicher Thräne vom Himmel Erflehte,

Und in jeder süßen Beklemmung Erahnete, Alles,

Ach in aller Liebe Geliebte, in allen Gebeten

Je nur Erhoffte, und selbst im Olymp; ach alles, wornach

nur

Thränen gerufen, und ewige Sehnsucht von erster Geburt

an

Hatte geweint, da lags jetzt allen am Herzen, was je nur

Junge seraphische Thränen, von Edens verjüngter Aurora

Liebend gesättigt, je lächelten; da das All des Geliebten,

Ach das Alles fassende Herz, wornach vom Beginn an

Alle unsere Wünsche, und unsere Hoffnungen alle,

Jedes liebende Ach, und jedes heiße Verstummen,

Unser ewiges Greifen hinauf von Sterne zu Sterne,

Ueber die Morgenröthen hinauf und über die Himmel,

Jedes brechende Herz und jedes gewendete Auge,

Alle Leben nur ewige Armausstreckungen waren:

Sieh das Urideal, das nur für jegliches Wesen

Einmal in der Jehovaschöpfung Unendlichem athmet,

Und im engsten Vereine mit ihm nur Eine Natur ist;

Endlich, endlich ruht es ja nun, ach endlich, Allvater,

Allen im Arm, am schlagenden Herzen, mit schlagendem

Herzen

Mit umschlingendem Arm an seinem Urideale,

Lächelte, Wonne weinete, jubelte, zitterte Liebe.

Weint' in des Anderen Seligkeit laut das innere Eden,

Aller Himmel Himmel aus überwallendem Herzen!
[279]
Gott! da jubelt' die ganze lebendige Schöpfung im

Einlaut

Unser Vater, der du im allgegenwärtigen Himmel

Ueberall bist, nun sind wir endlich vom Uebel erlöset,

Hast nun den Fall uns verziehn, wie wir einander verziehen;


O, wir fallen durch alle unendliche Ewigkeit nie mehr,

Hast jetzt Allen Alles gegeben, dein Will' ist geschehen,

Wie im Reiche der Engel vordem, in aller Natur jetzt,

Allen gekommen dein Reich, dein Nam' in allen geheiligt,

Ewig und überall bist du im allgegenwärtigen Himmel

Unser Vater!!!

5) von Fr. Aug. Müller († 1807).


Bruchstück aus seinem: Richard Löwenherz in
7 Büchern. (Berl. 1790. 8.)


Die fromme Wuth, fürs Heil der Christenheit

Durch einen Schwur zum Kreuz sich zu verbinden,

Und im Geruch der Heiligkeit,

Für ein erlog'nes Glück, erträumte Seligkeit

Und vollen Ablaß aller Sünden,

Das heim'sche Land, die Ruh' am eignen Heerd zu fliehn,

Zum heilgen Grabe nach Jerusalem zu ziehn,

Sein Schwert mit Bruderblut zu färben,

Und endlich hart getäuscht im Arm des Grams zu sterben:

Die fromme Wuth war noch nicht abgekühlt.

Ein starker Wind aus Süden unterhielt

Die Flammen immer noch, und fachte neues Feuer

Jn jedem Christenherzen an.

Vom Herrscher bis zum niedern Unterthan

War Keiner, dem der Ruhm, Befreier

Der Christenwelt im Orient zu seyn,

Nicht preißlicher erschienen wäre,
[280]
Als häuslich Glück, als Glück des Bürgers, und die Ehre

Ein guter Fürst des guten Volks zu seyn.

Wer fromm und heilig war, trat in den Bund mit ein;

Und wer sein Lebelang ein böser Mann gewesen;

Der schwor zum Kreuz, der schiffte sich mit ein,

Und sieh', sein Haupt umstralt' ein goldner Himmelsschein,

Und seine Seele war vom Sündentod genesen.

So zog noch jedes Jahr ein immer größ'res Heer

Gekreuzter Heiligen und Thoren über's Meer;

Oft, um zu büßen, oft, für Gottes Ruhm zu streiten,

Doch öfter, wuchs kein Glück im Vaterlande mehr,

Jn jener Welt die Gunst des Schicksals zu erbeuten.

Ein rein'rer Trieb und ein Gelübde hieß

Auch Richard, Englands Fürst, in jenem Paradies

Für Gottes Ruhm und seinen Glauben kämpfen.

Der Heiden Uebermuth zu dämpfen,

Und seinen Vater, dessen Fluch

Er brennend auf dem Haupte trug,

Durch heiße, reuevolle Thränen

Am Grabe Christi zu versöhnen:

Dies war sein frommer Schwur, und den

Mit aller Treu' erfüllt zu sehn,

Mußt' er sein neues Reich, noch kaum gekrönt, verlassen,

Jn Rom auf seinen Knie'n des Himmels Huld erflehn,

Vom Papst sich segnend weihen lassen,

Und dann mit Frankreichs Fürst nach Palästina gehn.

Er zog, umjauchzt von seinem tapfern Volke,

Als Held und Büßender, zum mühevollen Streit.

Und wie, in herbstlich später Zeit,

Wann sich auf einer goldnen Wolke

Des Tages Königin am Abendmeere senkt

Und ihren Segenslauf nach andern Welten lenkt,

Wie, wann ihr letzter Stral erbleichet,

Der Schatten schwarzes Heer aus seinen Höhlen schleichet,
[281]
Giftschwang're Nebel aus den See'n

Und aus dem Bauch der Erde sich erheben,

Und von den finstern Wolkenhöhn

Mit starren Fittigen Orkane niederwehn;

So sah man jetzt in dem verwaisten Staate

Des Schicksals friedliche Gestirne untergehn

Und Wetterwolken schwarz sich über ihm erhöhn.

Verwirrung regte sich; der kühne Aufruhr nahte

Dem unbewachten Königsthron;

Die Zwietracht hob ihr Haupt, mit ihr Rebellion

Und Elend bürgerlicher Kriege.

Nur Einer blieb noch seinem König treu,

Und war bereit, selbst Blut und Leben

Mit Freuden für ihn hinzugeben.

Und diesen kühnen Mann, der den gewagten Streit

Für Richard oft beging, wer sucht' ihn in dem Stande

Der Jünger Ossians, im friedlichen Gewande

Der frohen Schaar, der Scherz und Freude nur gefiel?

Ein Sänger war es, Blondel nannte

Er sich. Schon früh entbrannte

Sein edles Herz beim frohen Saitenspiel

Für Tugend, Freundschaft und der Liebe Hochgefühl;

Früh wählt' er schon, bestimmt von höherm Drang, das

Ziel

Der edlen, hohen Kunst, zu der er sich bekannte,

Die Fürsten selbst geübt ─ das ehrenvolle Ziel:

Ein Sänger unschuldsvoller Triebe,

Erhab'ner Freundschaft, reiner Liebe,

Der Fürsten Günstling und der Schönen Freund zu seyn.

Jhn weihte Rollo selbst zu dieser Würde ein,

Und England sah die ersten Früchte

Von diesem früh genährten Drang.

Er zeigte sich im schönsten Jugendlichte

Am königlichen Hof. Sein göttlicher Gesang,
[282]
Sein männlich schöner Bau, die Reize seiner Jugend

Gewannen bald des jungen Richards Herz,

Und seine liebenswürd'ge Tugend,

Sein männlicher Verstand, sein Witz und edler Scherz

Erhielten ihm das königliche Herz,

Trotz der Verläumdung Gift, selbst auf dem stolzen Throne.

O wohl dem reichen Erdensohne,

Der auf dem Lebensweg ─ nicht eine Krone,

Nicht Ehr' und Gut, nicht göttlichen Verstand, ─

Der einen Freund, wie diesen Jüngling, fand.

Er ziehe hin zu der entfernt'sten Zone,

Wo ew'ger Nebel schwebt, wo in dem Sonnenbrand

Noch nie ein Baum gegrünt, er wohne

Tief im verwachsenen Wald, auf Fels und dürrem Sand,

Er traue Flut und Sturm, ─ des Glückes Unbestand

Verfolg' ihn ohne Rast auf jeder Erdenstelle;

Sein Freund hängt fest an ihm und weicht nicht einen

Schritt,

Und stieg' er selbst hinab zum Schwefelpfuhl der Hölle,

Sein Freund blieb' immer treu und schritte herzhaft

mit.

Zwar wär' auch Blondel seinem Freunde

Mit Freuden nachgefolgt, wohin sein Schwur ihn rief;

Doch Richards übermüth'ge Feinde,

Jhr Haß, der niemals starb, nur gleich dem Löwen

schlief,

Um fürchterlicher zu erwachen,

Bedurfte nie so sehr den aufmerksamen Blick

Der Redlichkeit, als jetzt, und Blondel blieb zurück,

Um jeden Schritt der Bosheit zu bewachen,

Und dem entfernten Freund' durch Briefe kund zu machen.

Viel litt er schon in diesem schweren Amt',

Auch hatt' er das Verderben mancher Streiche

Von Richard und dem steuerlosen Reiche
[283]
Durch Klugheit abgewehrt. Allein von neuem flammt

Jetzt der Empörung Glut; mit schändlichen Gerüchten,

Von Richards Tugend ausgesprengt,

Sucht man den letzten Rest von Treue zu vernichten,

Womit das irre Volk an seinem König hängt,

Und schon entreißt es sich, von Neurungssucht gedrängt,

Den Banden zugeschworner Pflichten.

Umsonst hofft Blondel, seinem Freund

Die drohende Gefahr durch Boten zu berichten;

Kein Bote kommt zurück, und Richard selbst erscheint

Noch immer nicht, obgleich die Zeit bereits verflossen,

Nach welcher man die frohe Wiederkehr

Jn das verwaiste Reich beschlossen.

Nun sieht der treue Freund kein Rettungsmittel mehr,

Als selber über Land und Meer

Nach Asien zu ziehn. „Nur Richard kann der Retter

Des schon verlornen Volkes seyn,

Nur seine Gegenwart das aufgethürmte Wetter,

Das seinem Reich' und ihm Verderben droht, zerstreun!“

So denkt der edle Mann; fest steht in seinem Herzen

Der eiserne Entschluß, den keine Furcht entmannt;

Ja, eh' der Morgen noch des Tages goldne Kerzen

An Titans Fackel angebrannt,

Tritt er, in Talifers Gewand,

Trotz Frühjahrsluft und rauhen Stürmen,

Der Freundschaft große Wallfahrt an;

Und als der neue Tag den trüben Lauf begann,

Schwand schon die stolze Stadt mit ihren hundert

Thürmen

Vor seinem oft gewandten, nassen Blick

Jn undurchdringlich Grau der Morgenluft zurück.
[284]

41.
b) Das komische Heldengedicht.


Das komische Heldengedicht ist dem ernsten
Epos dadurch verwandt, daß es, wie dieses, ein
im Mittelpuncte der Darstellung erscheinendes Jndividuum
im Kampfe mit einem widrigen Geschicke
versinnlicht, und durch die ästhetische Anlage, Haltung
und Durchführung dieses Kampfes das gemischte
Gefühl der Lust und der Unlust anregt, bis
endlich, im Augenblick der Entwickelung und Entscheidung
des Kampfes, der Held des komischen Epos
als Sieger aus dem Kampfe hervortritt, und gleichfalls
das Gefühl der Lust den vollständigen Sieg
über das Gefühl der Unlust behauptet. Denn das
ist eine nothwendige Bedingung des komischen Epos,
daß das in den Mittelpunct des Ganzen gestellte
Jndividuum zuletzt glücklich wird, und nicht dem
widrigen Schicksale erliegt, wie dies im ernsten Heldengedichte
eben so oft, als der Sieg des Helden
über die Macht des auf ihn einstürmenden Schicksals,
eintreten kann.


Ob nun gleich das komische Heldengedicht, wie
das ernste, eine sehr vielseitig durchgeführte und vielfach
verwickelte Handlung, nicht selten auch eine
Mischung von ernsten und komischen Scenen, darstellen
kann; so ist doch weder das in die Mitte des
Ganzen gestellte Jndividuum ein Held in dem
höhern Sinne des Wortes, wie er in dem ernsten
Heldengedichte (z. B. der Messias, Noah, Hermann
der Cherusker, Richard Löwenherz u. a.) erscheint;
noch ist das feindliche Geschick, das seine
Kräfte in Thätigkeit setzt, von der Art und Weise,
daß man eine völlige Vernichtung des Helden von [285]
ihm befürchten dürfte. Wenn denn also auch das
Gefühl der Unlust durch die ästhetische Schilderung
dieses widrigen Geschicks oft angeregt wird, und mit
dem Gefühle der Lust in dem Gemüthe des Anschauenden
abwechselt; so ist doch durchgehends im
komischen Epos das Gefühl der Lust vorherrschend,
weil der Dichter des komischen Epos die Widerwärtigkeiten
seines Helden nur als Schatten zum Lichte
gebraucht, nicht aber um, bis zur Auflösung des
Ganzen, einen mächtigen und immer höher steigenden
Gegensatz des Schattens und des Lichtes aufzustellen.
Jm komischen Heldengedichte schimmert, bei
allen neueintretenden Schwierigkeiten, doch im Voraus
der Sieg und das Glücklichwerden des vielfach
versuchten und geprüften Helden hindurch, so daß
die Hauptaufgabe des Dichters bleibt, seinen Helden
gegen alle Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten so
ankämpfen zu lassen, daß er nicht nur unsre Theilnahme,
sondern auch unsere Achtung behält, und
daß wir ihn, am Schlusse des Ganzen, deshalb
mit einem hohen Gefühle der Lust, als Sieger und
belohnt erblicken, weil er den Kampf mit dem widrigen
Geschicke ehrenvoll und durch seine eigne geistige
Kraft bestand. Dieses Gefühl der Lust kann
aber nur dann rein und vollständig seyn, wenn die
Form des komischen Heldengedichts, als solche, eine
in sich vollendete ästhetische Einheit bildet, die auch
als bloße Form, noch abgesehen von dem dargestellten
und glücklich gewordenen Helden, um ihrer selbst
willen gefällt.


Die teutschen Dichter des Mittelalters bauten
das komische Heldengedicht vielfach an; allein allen
fehlt die ästhetische Einheit und Vollendung der
Form, und vielen der rein epische Charakter, weil [286]
das Didactische und Satyrische zu oft eingemischt
ward. Doch gehört die vielfach in beiden teutschen
Hauptdialecten gestaltete Fabel vom Reinecke dem
Fuchs
zu den gelungensten Formen des komischen
Heldengedichts, neben welcher Rollenhagens sinnreicher
Froschmäuseler seinen Platz verdient. ─ Unter
den teutschen Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts
versuchte sich besonders Zachariä in dem
Renommisten (wovon der erste Theil dieses
Werkes S. 409 ein Bruchstück enthält), in dem
Schnupftuche, im Phaeton, im Murner in
der Hölle
nicht ohne Erfolg im komischen Epos.
Jhm folgten Uz, Löwe und Dusch mit geringerm
Werthe. Allein v. Thümmels Wilhelmine, obgleich
nicht in die äußere Form des Metrums gekleidet,
von dem Dichter selbst „ein romantisches
Heldengedicht“ genannt, dürfte, nächst Wielands
Oberon, unter allen diesen jüngern komischen Heldengedichten
den Vorzug behaupten, wenn gleich
Prätzels Feldherrnränke nicht ohne einzelne gelungene
Schilderungen sind.

42.
Beispiele aus dem komischen Heldengedichte.



1) von Rollenhagen († 1609).


Bruchstücke aus dem sinnreichen Froschmäuseler,
vorstellend der Frösche und Mäuse
wunderbare Hofhaltung.


α) Anfang des ersten Capitels.


Das Hofhalten, die Feind' und Macht,

Das Blutbad und erschrecklich' Schlacht
[287]
Der mannhaften Frösch- und Mäuse-Helden,

Will ich in diesem Buch vermelden.

Gott verleih dazu Rath und Gnad,

Daß es zur Lehr und Lust gerath.

Jhr freien Schulkünst' allgemein,

So der Poeten Muſae seyn,

Tret' auch herzu, und steht mir bei,

Daß ich, was nütz' und lieblich sey,

Weißlich bedenk', künstlich aufzeich,

Das euch zu Ehren auch gereich.

Denn weil ihr seyd Jungfräulein zart;

So bleibt ihr stets fröhlicher Art,

Seht nicht ernstlich saur alle Stund,

Sagt oft wahr mit lachendem Mund,

Damit im Scherz die gute Lehr

Bei der Jugend schaff desto mehr.

Lasset die auch etwas Weisheit

Allhie lesen in Fröhlichkeit,

Und an Fröschen und Mäusen sehen,

Wie es pflegt in der Welt zu gehen.

Wie kanns besser seyn, denn daß Musen

Einmal reden von den Frösch und Mäusen.

Und ihr junge lustige Knaben,

Die Lust zu ehrbar Kurzweil haben,

Und suchet gern bei allen Sachen,

Daß ihr in Freuden habt zu lachen,

Wollt den Reimen ohn Beschweren

Mit gutem Nachdenken zuhören.

Soll euch ohn Zweifel mehr Nutz schaffen,

Denn alles Narrenspiel der Affen,

Der man auch wohl zu lachen pflegt,

Obs gleich nicht viel in Beutel trägt.
[288]

β) aus dem 7ten Capitel, wo Ulysses seine Diener
wieder zu Menschen machen läßt.


Ulysses sprach aus großem Grimm:

Es betreugt mich denn all mein Sinn.

So beraubt euch der Circe Kunst

Aller Witz und der Menschen Gunst.

Es ist umsonst, daß man euch fragt;

Das sey Gott im Himmel geklagt.

Und ging damit wieder zum Schloß.

Bald vom Dach zu ihm abher schoß

Ein' wunderbare Vogelrott,

Ein' graue Taub', war eh sein Bot'.

Ein Papagoy war sein Orator,

Ein Geyer war sein Procurator.

Ein weiße Gans war sein Mundschenk,

Ein Aff sein Schösser wohlgelenk.

Ein hurtig Pferd sein Postlakai,

Ein großer Bär und starker Leu,

Die waren von sein' Kriegeshelden,

Und sich gar sehr bekümmert stellten.

Ein bunte Katz, zween kleine Hund

Regten den Schwanz, leckten den Mund,

Und legten sich für sein Füß.

Bellten, schnarchten, winselten süß,

Waren sein Edel Kammerknaben,

Er wollt' aber ihren Dienst nicht haben,

Und sprach: Geht hin zu euern Orden,

Jhr seyd am mir zu Schelmen worden.

Jch will mit euch nicht disputiren,

Der Teufel mag euch sämmtlich führen,

Und trieb sie mit der Ruthen abe.

Also ward getroffen ein Knabe,

Der bat: Ach Herr, hör' zuvor recht,

Ehe du verläßt dein' arme Knecht.
[289]
Wider unsern Willen ist geschehn,

Daß wir also müssen hergehn.

Wenn du wollst bei Circen erhalten,

Daß sie uns gäb' unsre Gestalten,

Ewig wir dir dankbar seyn wollten,

Auch thun und leiden, was wir sollten.

Das ist mir eine Wunderstimm,

Sprach Ulysses, die ich vernimm.

Wohlan, so tret zur rechten Hand,

Der mich für seinen Herrn erkannt,

Der Menschen Gestalt wieder begehrt,

Mit mir in sein Vaterland fährt.

Sie traten zu der Rechten all,

Mit ein'm demüthigen Fußfall,

Daß Ulysses vor Freuden weint,

Und sprach: Das hätt' ich nicht gemeint.

Jhr seyd mein treue liebe Knecht,

Jch sorg für euch billig und recht.

Jch will euch Menschen-Sprach erst geben,

Die Menschen Gestalt auch darneben,

Sollt ihr allsammt wieder empfangen.

Circe kommt auch schon zu uns gangen.

Damit rührt er sie mit der Ruth';

Sie dankten ihm mit Herz und Muth.

Und Circe fragt: Mein lieber Gast,

Sag an, wen du gefunden hast,

Der gern mit dir heim reisen wollt,

Den ich zum Menschen machen sollt?

Ulysses sprach: Jn der Gemein

Sagt einer Ja, der andre Nein.

Jch weiß auch nicht, wie ich sie richt,

Ob sie mein' Leut seyn, oder nicht?

Darum bitt' ich vor allen Dingen,

Wollst du sie all zusammen bringen,
[290]
Und ihn'n ihr Gestalt wieder geben,

So kann ich sie ausfragen eben.

Darauf pfiff sie in einen Ring,

Der an ihrer Halsketten hing,

Daß es durch Haus und Wald erschallt,

Und die Thiere herzu kamen bald.

Und sprach: Nun tret auf diesen Ort,

Wer vor zum Ulysses gehort,

Daß ich ihm eine Verehrung geb',

Der er gedenkt, so lang er leb.

Sie traten zusamm auf ein Ecken;

Circe ließ sie was Süßes lecken

Aus einer großen silbernen Schaal,

Und schenkt neu ein auf jedesmal,

Und schlug sie mit verwandten Stecken;

Da fiel auf all ein großes Schrecken.

Das Haupt richt' sich wiederum empor,

Der Rück' ward gerad, wie zuvor;

Zween Füß traten beständig nieder,

Die Händ wuchsen urplötzlich wieder.

Die Haar und Federn gingen abe,

Der ward ein Mann und der ein Knabe,

Wie sie zuvor gewesen waren,

Stärker, schöner, jünger von Jahren.

Und Circe gab jedem ein Kleid;

Das war ein'm lieb, dem andern leid.

Einer lacht, der andre weint,

Einer war Freund, der andre Feind,

Schämten sich doch zu widersprechen,

Fürchten, Ulysses würd' es rächen.

Allein der Koch trotziglich pocht,

Daß man ihn aus dem Dreck gesocht,

Aus einer Sau zum Mensch'n gemacht;

Darüber Circe selber lacht,
[291]
Und sprach: Seht ihr nun, lieben Kind,

Woher sich euer Elend findt?

Daher, daß Niemand jeder Frist

Mit seinem Stand zufrieden ist.

Was Gott und die Natur uns geben,

Das ist uns nimmer gut und eben.

Man muß stets nach ein'm andern gaffen,

Das macht die ganze Welt voll Affen.

2) von Moritz Aug. v. Thümmel († 1817).


Bruchstück aus s. Wilhelmine.


─ Nah an der glänzenden Residenz eines glücklichen
Fürsten, nicht fern von der schiffbaren Elbe, verbreiteten
sich in dem anmuthigsten Thale zwanzig kleine Wohnungen
fröhlicher Landleute. Junge Haselstauden und wohlriechende
Birken verbauten dieses Landgut in Schatten,
und versüßten dem fleißigen Bauer die entkräftende Arbeit,
wenn der Hundsstern wütete, und, entblättert
vom Boreas, flammte dieß nutzbare Gebüsch in wohlthätigen
Oefen, wenn der Winter das Thal mit Schnee
füllte, und nun ein Nachbar zum andern schlich, um die
langen müßigen Stunden durch schlaue Gespräche zu verkürzen.
So lebten diese Hüttenbewohner ruhig und mit
jeder Jahreszeit zufrieden.


Nur der Pastor des Dorfes allein, der gelehrte Sebaldus,
hatte seit vier unglücklichen Jahren die ländliche
Munterkeit verloren, die auch sonst auf seiner offenen
Stirne gezeichnet war. Ein geheimer Kummer peinigte
sein Herz. Wenn er die ganze Woche hindurch in der
Einsamkeit seiner verrußten Klause getrauert hatte; dann
winselte er am Sonntage der schlafenden Gemeinde unleidliche
Reden vor, und selbst bei dem theuer bezahlten
Leichensermone verließ ihn seine sonst männliche Stimme. [292]
Die Klügsten der Gemeine marterten sich umsonst, die
Ursachen seines Leidens zu entwickeln. Was fehlt unserm
Magister? fragte einer den andern. Wir lieben
ihn ja; er ist der Vornehmste im Dorfe, und wird auch
nicht etwa, wie dieser und jener, von einem hochmüthigen
Junker geplagt, denn der unsere lebt, Gott sey es
gedankt, fern von uns, und verbrauset seine Renten in
Frankreich. So klagten die Bauern den Kummer ihres
Magisters! Aber umsonst blieb ihr mitleidiges Nachforschen;
der tiefsinnige Pastor verbarg seine Sorgen der
Neugier, und außer Sonntags, wo sein Amt ihm gebot,
schien seine Sprache verloren. Vier Jahrgänge
finsterer Predigten hatte er also geendiget. Mit zitternden
Händen geschrieben und auf einem Haufen gesammlet,
lagen sie in einem verriegelten Schranke, oft von
andächtigen Würmern besucht, die alle Buchstaben zerfraßen.



Aber die komische Muse hüpft ängstlich über den
heiligen Staub und über die traurigen Scheduln des
Pastors. Sie beschäftige sich nur mit seinem Glücke,
und erzähle den wunderbaren Traum, der ihn bewillkommend
an der letzten Stufe des Jahres, mit dem
Ende seines schwindsüchtigen Kummers schmeichelte. Jn
der zwölften Stunde der Nacht erschien Amor dem eingeschlummerten
Pastor, der über das Zudrängen dieses
kleinen Unbekannten heftig erschrack; denn bisher hatte
er ihn nur aus dem großen Rufe seiner Verwüstungen
gekannt. Doch der freundliche Amor ließ ihn nicht lange
in seinem ungewissen Erstaunen, schüttelte seinen Köcher,
und sprach also zu ihm: Entschuldige den Amor, theurer
Sebaldus, wenn er bisher wider seinen Willen dein
Feind gewesen ist, und erschrick nicht über seine Erscheinung,
die dir dein Glück verkündiget. Wilhelmine ─
bei diesem Namen durchströmte ein leuchtendes Roth die [293]
verfallenen Wangen des Pastors, und Amor fuhr lächelnd
fort: Jch sehe, du erinnerst dich noch dieser lebhaften
Schönen, die einst, in diesen Fluren geboren, nur von
der unschuldigen Natur erzogen ward, die dir oft in der
feurigsten Predigt, durch einen einzigen Blick ihrer hellblauen
Augen, ein langes verhaßtes Stottern, ─ und,
wenn du allein warest, manchen lauten Seufzer erregte.
Ach, sie hätte dich gewiß zum Glücklichsten deines Standes
erhoben, wenn nicht die Jntrigue eines neidischen
Hofes sie deinem Kirchspiele entführt, und unter die
fürstlichen Zofen versetzt hätte. O wie traurig hast du
diese Zeit ihres Hofdienstes hinschleichen lassen! Doch
das Ende deiner Leiden ist da! Wie leicht wird dir es
werden in Wilhelminens tröstenden Armen, oder an ihrem
wallenden Busen, der vergangnen traurigen Tage
zu vergessen. Ermuntere dich also und höre meinen liebreichen
Rath. Morgen wird die reizende Wilhelmine
den graubärtigen Verwalter, ihren Vater, besuchen; ─
von keinem Höflinge begleitet, wird sie des Mittags zu
ihm fahren. Welch ein bedeutender Wink, den das
Schicksal dir giebt! Folge ihm; suche Wilhelminens Gesellschaft,
und eröffne ihr, so rührend als du vermagst,
deine brennende Neigung!


Die neue Sonne rollte den jungen Tag des Jahres
herauf. Ein Heer vorausbezahlter Gratulanten jauchzte
ihr entgegen; andere, unglücklicher, zerrissen das Neujahrsgedicht,
seit dem September geschmiedet; denn ihr
alter Mäcen ist den heiligen Abend vorher gestorben, und
hinterläßt geizige Erben. Verjährte Rechte, drohende
Wechselbriefe, erfüllte Hoffnungen und erseufzte Majorennitäten
drängten sich auf den Stralen des neuen
Lichts in das beunruhigte Herz der erwachten Sterblichen.
Und der voll Hoffnung erwachte Pfarrherr ging
in der Frühe zu Niclas, dem Verwalter; wünschte ihm [294]
ein fröhliches neues Jahr, und ließ sich wieder eins
wünschen; dann erzählte er ihm seinen nächtlichen Traum
bündig und kurz; denn die gebietenden Glocken hatten
schon zum drittenmale geläutet, und die geputzte Gemeinde
sah sehnlich ihrem Herrn Pastor mit seinem Neujahrswunsche
entgegen. Ach wie fröhlich klopfte Niclas
dem Herrn Magister die Achsel, und zweifelte gar nicht
an der Erfüllung des Traumes. Hurtig bestellt' er die Küche;
auch bat er den werthesten Träumer zur Tafel, und
ging an seiner rechten Seite mit ihm vertraulich in die
Kirche. Der künftige Herr Schwiegersohn hielt eine erbauliche
Predigt, bis unter Singen und Beten die Mittagssonne
hervortrat. Schon eilte die buntschäckige Gemeinde
mit gesättigter Seele und hungrigem Magen
nach Hause, als der erwartete Wagen zur Höhe des
Dorfes hereinschimmerte. Mit weiten Schritten und
fliegendem Mantel eilte der hagere Magister den sechs
Schimmeln vorzukommen, um seine Schöne aus dem
Wagen zu heben. Keuchend schmälte er auf sich, daß
er so lange gepredigt; aber dennoch überhohlte er die
rollende Kutsche, und empfing die holde Wilhelmine
an der Thüre ihrer vormaligen Wohnung. Von dem
Zurufe ihrer herzugelaufenen Bekannten begrüßt, reichte
sie, nicht mehr als eine Nymphe des Dorfes, ihrem unerkannten
Liebhaber die Hand mit kostbaren Ringen gezieret,
und sagte höflich zu ihm: Wie geht es, werther
Herr Pastor? Darauf umarmte sie ihren alten weinenden
Vater, der vor der Hofstimme der Tochter erschrack,
und nicht wußte, ob er mit seiner bäuerischen Sprache
ihre Ohren beleidigen dürfte. Noch scheuer und in einem
unaufhörlichen Bücklinge stand ihr Liebhaber vor
ihr, und hustete immer, und sprach ─ nichts, ─ lange
getrauete er sich auch nicht, sie anzublicken; denn ihr
hüpfender Busen, von keinem ländlichen Halstuche bedeckt [295]
, war ein zu ungewöhnlicher Anblick für ihn, und setzte
seine Nerven in ein fieberhaftes Erzittern. Mit zufriedenem
Mitleiden beobachtete Wilhelmine den Einfluß ihrer Person,
und riß endlich Vater und Liebhaber aus ihrer Betäubung.
Jhre harmonische Stimme belebte manche vertraute
Erzählung, bald von den Freuden des Hofes, von
englischen Tänzen und überirdischen Opern, und von den
unnützen Verfolgungen ihrer lächerlichen Amanten; bald
aber auch bejammerte sie mit nachdenkender Stimme den
steten Wechsel des Hofes und den Ekel, der hinterlistig
dem taumelnden Höflinge nachschleicht, und da wünschte
sie sich ─ welch ein Vergnügen für den horchenden Priester
─ einst wieder mit Ehren zur glücklichen Stille des
Landes zurück.


Unter diesen anmuthigen Gesprächen, wovon meine
Muse nicht die Hälfte verräth, setzte sich die liebe Gesellschaft
vertraulich und ohne Gebet zu Tische. Erschrocken
dachte zwar der Magister daran; doch durfte er es jetzt
nicht wagen, sich wider die Gewohnheiten des Hofes
zu empören. Um das Mittagsmahl zu verherrlichen,
hatte die schöne Tochter des Hauses vier Flaschen köstlichen
Weins mitgebracht. Sie öffnete eine davon, und
schenkte mit wohlthätigen Händen ihrem Liebhaber und
Vater schäumende Gläser ein. Lange besah der Magister
das unbekannte Getränk, kostete es mit der Miene des
Kenners, und ließ doch sein Feuer verrauchen. Endlich
fragt' er pedantisch: Liebe Mansell, für was kann ich
das eigentlich trinken? Lächelnd antwortete sie: es ist
von unserm Burgunder. Nach ihm setzte man auch eine
langhälsichte Flasche des stillscheinenden bleichen Champagners
auf die Tafel. Schon ganz freundlich durch
den Burgunder, reichte sie der Magister den befehlenden
Händen der Schönen. Aber er wäre bald vor Schrecken
versunken, als der betrügerische Wein den Stöpsel an [296]
die Wand warf, und wie der vogelfreie Spion, der
sich einsam und sicher in dem Walde geglaubt hat, durch
den Mörser eines feindlichen Hinterhalts aus seiner Ruhe
geschreckt wird ─ so betäubte der schreckliche Knall die
Ohren des zitternden Pastors. Erst auf langes Zureden
und hundert Betheuerungen der Schönen trank er den
tückischen Wein, und empfand bald dessen feurige Wirkung;
denn nun öffnete der laute Scherz und der wiederkehrende
Witz seine geistlichen Lippen. Antithesen und
Wortspiele jagten einander; und da gewann er auf einmal
den ganzen Beifall der artigen Wilhelmine, wie
ihm sein Traum vorher verkündigt hatte. Jetzt erschrack
er nicht mehr vor dem erhabenen Busen, den er selbst
belebender fand, als den brausenden Champagner. Dreimal
hatt' er mit lüsternen Augen hingeschielt; da ward
er so dreist und wagte es, von dem alten Verwalter unterstützt,
das Herz der englischen Kammerjungfer zu bestürmen.
So viele Waffen der Liebe, als nur seine unerfahrne
Hand regieren konnte; so viele zärtliche Blicke,
so ein gefälliges Lächeln, als ihm nur zu Gebote stehen
wollte, verwendete er auf die Hoffnung einer geschwinden
Eroberung. Welch eine Verschwendung von süßen
rührenden Worten! Erstaunt sah Wilhelmine ihren dringenden
Freund an, und dreimal wankte sie, ─ aber, ein
geheimer Stolz und die Rücksicht auf den prächtigen
Hof erhielt sie noch ─ bis ihr endlich Vater und Liebhaber,
immer einander unterbrechend, das Wunder des
Traumes entdeckten. Denn da erkannte sie selbst in allem
die sichtbaren Wege des Himmels und ihren Beruf, und
durch die Beredsamkeit des Pastors bekehrt, entfernte
sie allen Zwang des Hofes von ihren offenherzigen Lippen.
Wohlan! sagte sie, nachdem sie in einer kleinen freundlichen
Pause die Beschwerden und die Vortheile des Hymen
gegen einander gehalten, und noch die reife Ueberlegung [297]
auf ihrer Stirne saß. ─ „Wohlan! ich unterwerfe
mich den Befehlen meines Schicksals; ja, ich will
selbst mit Vergnügen das unruhige Leben des Hofes mit
den stillen Freuden meines Geburtsortes vertauschen;
und da Sie mich einmal lieben, Herr Pastor, so würde
es unzeitig seyn, spröde zu thun. Jch sehe die Ungeduld
Jhrer Neigung auf Jhrem Gesicht! Kommen Sie her,
mein Geliebter, und ─ welch ein Triumph für einen
Unerfahrnen, der nie den Ovid gelesen ─ küssen Sie
mich, und nehmen Sie zum Zeichen unsrer Versprechung
diesen Ring an!“ Und mit unaussprechlichem Vergnügen
kam der schwerfällige Liebhaber gestolpert, küßte sie
dreimal, und machte es zur Probe, recht artig. Sie
steckte ihm einen Demant, in Form eines flammenden
Herzens, an das kleinste Glied seines Fingers, und Er
─ welcher Tausch! ─ überreichte ihr einen ziegelfarbnen
Karniol, worein ein Anker gegraben war. Nun brachte
jede Minute neuen Zuwachs von Liebe und Vertrauen in
ihre verbundene Gesellschaft, und frohe Gespräche von
ihrer baldigen Hochzeit beschäftigten ihre unermüdeten
Lippen.

43.
c) Die Romanze und Ballade.


Wie in der lyrischen Form der Dichtkunst die
Elegie zur Ode und Hymne sich verhält; so ungefähr
verhält sich in der epischen Form der Dichtkunst
die Romanze und Ballade zum eigentlichen Epos.
Denn wie im Epos die Freiheit des im Mittelpuncte
der Darstellung stehenden Helden zu dem ihn bestürmenden
widrigen Schicksale sich ankündigt; so in
der Romanze und Ballade die Thätigkeit und Kraftäußerung
des aufgestellten Jndividuums in Beziehung
auf die widrigen Schicksale, die auf dasselbe eindringen. [298]
Wie im Epos der Held entweder siegt,
oder der Macht des Schicksals unterliegt; so wird
er auch in der Romanze und Ballade entweder sein
Ziel erreichen, oder dasselbe verfehlen. Wie endlich
im Epos die gemischten Gefühle der Lust und Unlust
gegen einander anwogen und um das Uebergewicht
im Bewußtseyn des Anschauenden streiten, bis,
am Schlusse der Form, bei der Wahrnehmung der
ästhetischen Entwickelung, Auflösung und Entscheidung
des Ganzen, und bei dem vor die Seele tretenden
vollendeten Bilde von der Einheit der dichterischen
Form, das Gefühl der Lust den Sieg über
das Gefühl der Unlust feiert; so muß auch, am
Schlusse der Romanze und Ballade, das Wohlgefallen
an der Entwickelung der dargestellten Handlung
und an der vollendeten dichterischen Form, den
Sieg des Gefühls der Lust über das Gefühl der
Unlust vermitteln.


Die Romanze und Ballade gehört, dem Stoffe
nach, zur epischen Dichtkunst; denn er schildert
zunächst Jndividuen, nach ihren Handlungen und
Schicksalen. Oft ist es nur Ein Jndividuum, dessen
Begebenheiten und Handlungsweise der Dichter
vergegenwärtigt; oft aber wird eine Mehrzahl von
Jndividuen in der Darstellung der Romanze geschildert,
unter welchen jedesmal Ein Jndividuum als
Hauptperson sich ankündigt. Doch nach der Form
und dem Tone, der in der Romanze und Ballade
vorherrscht, ist sie unter allen einzelnen Formen
der epischen Dichtkunst der lyrischen am
nächsten verwandt,
weil nicht nur, wie in den
übrigen epischen Formen, tiefe Gefühle durch die
Darstellung menschlicher Handlungen und menschlicher
Schicksale aufgeregt werden, sondern in den meisten [299]
Fällen die innigsten Gefühle des menschlichen Herzens,
die Gefühle der Liebe, der Zärtlichkeit, der
Freundschaft und der Theilnahme, den in der Romanze
und Ballade versinnlichten Handlungen und
Begebenheiten zum Grunde lagen. Der Stoff der
Romanze und Ballade, er sey nun entweder aus
der wirklichen Geschichte entlehnt und nur von dem
Dichter für seinen ästhetischen Zweck gestaltet, oder
er sey ein reines Erzeugniß seiner schöpferischen
Einbildungskraft, kann bald der Mythologie, bald
dem heroischen Zeitalter der Völker, bald den religiösen
Vorstellungen und Ansichten, bald dem Klosterleben,
bald auch den Vorgängen des gewöhnlichen
Lebens angehören; nur muß ein höheres Gefühl
als Grundton des Ganzen sich ankündigen, und
die ästhetische Vollendung der Form auf der Haltung,
Durchführung und Steigerung dieses Gefühls
beruhen. Denn selbst bis zur Stärke der Leidenschaft
kann dieses Gefühl von dem Dichter erhoben werden,
je mächtiger entweder dieses Gefühl ursprünglich
erscheint, oder je größer der Kampf ist, den die
einwohnende Kraft des handelnden Jndividuums mit
den Schwierigkeiten und Hindernissen eines widrigen
Geschicks bestehen muß. Die Maschinerieen,
die, wie in der Epopöe, in mehrern Romanzen und
Balladen vorkommen, gehören nicht zu ihrem eigentlichen
Wesen; denn es sind viele, der Form nach
vollendete, Romanzen vorhanden, die der Maschinerie
ermangeln (z. B. Schillers Bürgschaft;
Seume's Opfer u. a.). Wo sie aber aufgenommen
wird (z. B. in Bürgers Leonore u. a.), muß
sie als ästhetisch = nothwendig erscheinen, und zur
Schürzung und Entwickelung des Knotens der Hauptbegebenheit
gehören. Die Kürze oder Länge der [300]
Form der Romanze und Ballade wird durch die
gleichmäßige ─ weder abgebrochene, noch gedehnte ─
Haltung aller einzelnen Theile des ästhetischen Ganzen
bedingt; so wie die Schlußentwickelung der Handlung
oder der Schicksale des Jndividuums erfreulich
(z. B. in Schillers Bürgschaft) oder traurig
(z. B. in des Pfarrers Tochter von Taubenhain
von Bürger) seyn kann, ohne daß dadurch die
Forderungen des Gesetzes der Form an die ästhetische
Vollendung der Romanze und Ballade verändert
werden.


Ohne hinreichenden Grund bestimmten einige
Theoretiker die Bezeichnung Romanze für die frohe
und heitere Einkleidung und Durchführung, das
Wort Ballade aber für die traurige und erschütternde
Darstellung dieser epischen Kunstformen.
Denn die Benennung Romanze stammt aus der
verderbten lateinischen (romanischen) Sprache, in welcher
man seit dem zehnten Jahrhunderte dichterische
Schilderungen von kriegerischen und verliebten Abenteuern
niederschrieb; und Ballade bezeichnete ursprünglich
ein Lied, das man zur musikalischen Begleitung,
ja selbst zum Tanze, sang. Jn theoretischer
Hinsicht kann zwischen beiden Benennungen
kein wesentlicher Unterschied ausgemittelt und
durchgeführt werden; auch haben die classischen Dichter
nie ausschließend an die eine oder die andere
Bezeichnung sich gebunden. ─ Auf gleiche Weise
verhält es sich mit der von einigen Theoretikern aufgestellte
Forderung, daß der Ton der Romanze dem
Volksliede
sich nähern müsse. Zugestanden, daß
dies bei einzelnen gediegenen Romanzen und Balladen
─ namentlich bei den Bürgerschen, Stolbergischen
und Langbeinischen ─ wirklich der [301]
Fall ist; so liegen doch auch andere treffliche Gedichte
aus dieser Gattung (besonders die von Schiller,
Göthe, Seume, Schlegel, Tiedge, Kosegarten

u. a.) nicht geradezu in dem Gesichtskreise
der Kenntnisse, Meinungen und Ansichten des Volkes,
sondern verlangen, um verstanden und ganz gefühlt
zu werden, einen höhern Grad von geistiger
und ästhetischer Bildung, als man gewöhnlich in der
Mitte des Volkes antrifft.

44.
Beispiele aus der Romanze und Ballade.


1) von Seume († 1810).


Das Opfer.


Noch strömte von den Thermopylen

Der Perser Blut herab ins Meer,

Die durch das Schwert der Griechen fielen,

Als Sparta's Held sein kleines Heer

Entschlummern hieß, und um die zweite Wache

Gewaffnet seyn zu heißer Rache.

Die Würger ruhn am Fels im Thale;

Der Herold weckt um Mitternacht

Zum feierlichen Todtenmahle.

Sie stehn; das Opfer wird gebracht;

Der König folgt, den Lorbeer in dem Haare

Und schweigend, ihm zu dem Altare.

Der Priester schlägt; das heilge Feuer

Erhellt den Berg; Megist besprengt

Mit einem grünen Lorbeerweiher

Der Kämpfer Haupt, die dicht gedrängt

Mit hohem Muth sich um die Flamme reihen,

Zum Tod im Kampf sich einzuweihen.
[302]
Leonidas sah, wie Alcide,

Sein Ahnherr, als er Riesen zwang,

Mit Götterblick von Glied zu Gliede

Die Krieger an, und plötzlich drang

Ein Flammenstral, als käm' er von dem Gotte,

Jn jedes Herz der Heldenrotte.

Der König sprach: „Gefährten, Brüder,

Eßt jetzt der Freiheit letztes Mahl,

Und trinkt den Wein; denn wenn wir wieder

Zusammenkommen, ists im Thal

Elysiums, wo glühend vor Verlangen

Die Väter stehn, uns zu empfangen.“

„Denkt an die Männer, die im Streite

Des Vaterlandes starben! Denkt,

Jhr Heldengeist schwebt euch zur Seite,

Und wägt der Enkel Werth und lenkt

Des Schwertes Stahl, den östlichen Barbaren

Mit tieferm Druck ins Herz zu fahren.“

„Das Weib mit ihren kleinen Knaben

Beim Abschiedskuß, und jedes Pfand

Der Liebe und der Freundschaft haben

Sich uns vertraut. Das Vaterland,

Die Freiheit ruft: wir sind der Freiheit Erben!

Brauchts mehr zum Siegen oder Sterben?“

Er sprachs und aß; die Krieger zehrten

Das Mahl, auf Schild und Speer gelehnt,

Jn stiller Feier auf, und leerten,

Des Landes Göttern ausgesöhnt,

Die Schalen aus bei des Altares Dampfe,

Und stärkten sich zum Todeskampfe.

Der Zug geht, gleich dem Zug der Götter,

Der vom Olymp die Rache trägt,
[303]
Und wie vereinte Donnerwetter

Der Erde Brut zu Trümmern schlägt;

So trägt ihr Schwert, der Tyrannei zu lohnen,

Den Tod in Xerxes Millionen.

Tief ist die Nacht; aus Wolken blicket

Selene mit dem jüngsten Stral,

Und von des Helmes Spitze nicket

Die Feder durch das Felsenthal,

Jndeß im Schlaf mit tiefen Athemzügen

Die Sklaven und Despoten liegen.

Durch stumme Nationen schreitet

Der kleine Heldenzug, zum Zelt

Des großen Königs, und bereitet

Verderben für die Morgenwelt.

Schon glaubt im Traum mit taumelndem Vergnügen

Der Stolz sich im Triumph zu wiegen,

Stracks donnert ihn aus den Gefühlen

Der Vorhof wach, wo schon in Blut

Der Herakliden Dolche wühlen,

Wo, mit gereizter Löwen Wuth,

Die Griechen hoch dem Unterdrücker fluchen

Und ihn mit Rächerstahle suchen.

Der Droher flieht durch dunkle Gänge

Vor seinem Tod; der Griechen Schwert

Frißt hungrig in die reiche Menge

Der goldnen Sklaven, und zerstört

Den Schmuck des Jochs, dem sich mit krummen Rücken

Die Schmeichler bis zum Staube bücken.

Die Flamme steigt wie Nebelwolke

Vom Lager zu dem Himmel auf;

Der Schrecken wälzt von Volk zu Volke

Laut heulend seinen Schlangenlauf;
[304]
Die Opfrer mähn die zitternden Barbaren

Zum Styx hinab bei langen Schaaren.

Die Gegend raucht, die Kriegswuth brüllet,

Verwirrung herrscht, bis Titans Licht

Die todtenvolle Nacht enthüllet

Und durch den dunkelnSchleier bricht;

Leonidas ruft nun aus Blut und Flammen

Sein göttergleiches Heer zusammen.

Des Orients Entflohne schauen

Mit Schaam nunmehr ihr Lager an;

Der Anblick füllt mit Furcht und Grauen.

Doch des Tyrannen Busen kann

Das Todtenfeld und ein geheimes Zittern

Noch nicht in seinem Stolz erschüttern.

Die Sparter ruhn in Oeta's Grotten,

Mit Herzen, die nach heißer Schlacht

Des nahen Todes kühner spotten;

Als schnell, wie mit Gewitternacht,

Das ganze Heer in Stürmen auf sie dringet,

Und sie zum neuen Treffen zwinget.

Das Volk auf Wagen und auf Rossen

Schwoll rund wie Meeresflut heran;

Die Sparter standen, und beschlossen,

Der Freiheit heilig, Mann für Mann

Den Todeskampf, im Stolz gerechter Rache,

Für ihres Vaterlandes Sache.

Noch lange hielt der Heraklide

Leonidas, mit Schwert und Speer,

Gleich einer Felsenpyramide,

Und gab Verderben um sich her,

Bis, Mann auf Mann, die Seinen, ohne Wanken,

Mit ihm im Wogenschwall versanken.
[305]
Jhr Edlen, leuchtendes Exempel!

Bewundrung jeder Nation,

Und hohes Lob und Ehrentempel

Sind durch Aeonen euer Lohn;

Und, was euch mehr als alle Lorbeer kröne,

Jhr seyd der Freiheit Lieblingssöhne!

2) von Aug. Wilh. v. Schlegel.


Pygmalion.


Festlich duften Cypriens Altäre,

Vom Gesang ertönet Paphos Hain.

Schön geordnet ziehn geschmückte Chöre

Jn den Myrthumkränzten Tempel ein.

Rosig blüh'nde Mädchen, zarte Knaben;

Alle bringen sie Gelübd' und Gaben,

All' erflehn, Verlangen in der Brust,

Liebe, Reiz und Jugendlust.

Wollust athmet aus den Rosenlauben,

Wo sich willig manches Paar verirrt;

Wo ein Paar von buhlerischen Tauben

Jhrer Ankunft süß entgegen girrt.

Küsse hört man flüstern in den Büschen,

Wo sich Licht und Dunkel lieblich mischen,

Wo der Grund, mit Moosen überwebt,

Sich zum Lager schwellend hebt.

Aber einsam, in sich selbst verschlossen,

Schaut Pygmalion dem Feste zu;

Das Frohlocken muthiger Genossen

Weckt ihn nicht aus seiner ernsten Ruh.

Suchtest du denn von den Schönen allen,

Holder Jüngling, keiner zu gefallen?

Oder hat, für die dein Sinn entbrannt,

Spröde sich dir abgewandt?
[306]
Ach, ihm kam wohl mancher Gruß entgegen,

Mancher Wink verhieß ihm Gunst und Glück,

Und es hob von schnellen Herzensschlägen

Mancher Busen sich vor seinem Blick.

Doch umsonst! nie öffnet er die Arme,

Daß davon umstrickt ein Herz erwarme;

Dieser Mund, wo frisch die Jugend blüht,

Wird von Küssen nie durchglüht.

Zur Geliebten hat er sich erlesen,

Die noch nie ein sterblich Auge sah;

Nur ein Schatte, doch ein mächtig Wesen,

Jst sie fern ihm, und doch ewig nah.

Tief in seines Jnnern heil'ger Stille

Pflegt die Dichtung sie mit reger Fülle,

Und umarmt das göttlich schöne Bild,

Halb von eignem Glanz verhüllt.

Jn erstauntes Anschaun so versunken,

Fühlt er sich allein, wann er erwacht.

„Götter! seufzt er dann, nur Einen Funken,

Einen Funken eurer Schöpfermacht!

Bin ich blos zu eitlem Wahn gebohren?

Meine Lieb' an einen Traum verloren,

Der, von ihrem Odem nie beseelt,

Liebevoll sich mir vermählt?“

„Oder thronet, die ich lieb', im Saale

Des Olymps mit sel'ger Allgewalt?

Trinkt sie jeden Tag aus goldner Schale

Jugend und ambrosische Gestalt?

Wird sie zürnend den Vermeßnen tödten,

Der in Lieb' entbrennt, statt anzubeten?

Oder lächelt sie, voll Größ' und Huld,

Seiner hoffnungslosen Schuld?“
[307]
„Göttin, deren neugebohrne Schöne

Einst das Meer in Purpurglut getaucht;

Du, die in die Brust der Menschensöhne,

Wie der Götter, linde Wonne haucht!

Sieh mit unaussprechlichem Verlangen

Mich am Schatten deines Bildes hangen;

Diese Züge hoher Anmuth lieh

Nur von dir die Phantasie.“

„Zwar dich darf kein Sterblicher erblicken

Wie du bist, wie dich der Himmel kennt;

Kaum durchblitzen würd' ihn das Entzücken

Einen schnell vernichtenden Moment.

Aber laß, wie Frühlingswehn, dein Lächeln

Eine jungfräuliche Stirn umfächeln,

Wie die Sonn' im Bache sich beschaut:

Und ich grüße sie als Braut!“

Also fleht er oft, doch aus den Sphären

Steigt Erhörung niemals ihm herab.

Nur die Kraft kann seinen Wunsch gewähren,

Die zuerst dem Wunsche Flügel gab.

Hoffst du Labung außer dir? Vergebens!

Jn dir fließt die Quelle schönes Lebens.

Schöpfe da, und fühle froh geschwellt

Deine Brust, dein Aug' erhellt.

Jener Zaubrer wandelnder Gestalten,

Dädalus, erzog ihn einst für sie,

Lehrt' ihn Bildung aus dem Stoff entfalten,

Bis sie schön zum Ebenmaas gedieh.

Gern besiegt von seines Meisels Schlägen,

Schien der starre Felsen sich zu regen,

Und er ward auf seines Lehrers Spur

Nebenbuhler der Natur.
[308]
Wie Prometheus Menschen, seine Brüder,

Bildet er der Götter ganzes Chor;

Zog zur Erde nur den Himmel nieder,

Nicht die Erde zum Olymp empor.

Edle Wesen, irdische Heroen,

Doch nicht groß wie die unnennbar hohen,

Schien ihr mildres, nicht umstraltes Haupt

Der Unsterblichkeit beraubt.

Aber seit ein namenloses Sehnen

Süß und quälend seine Brust entzweit;

Seit der Wahn des nie erblickten Schönen

Jhn berauscht mit Allvergessenheit,

Ließ er ruhn die Kunstbegabten Hände,

Unbesorgt, ob er ein Werk vollende,

Das nur halb, mit zweifelhaftem Sieg,

Aus dem Stein ins Leben stieg.

Nun, da zu der holden Unsichtbaren

Jhn hinan des Muthes Fittig trägt,

Will er seinen Augen offenbaren,

Was sein Busen heimlich längst gehegt.

Jn der Flut begeisternder Gedanken,

Die entbunden um die Sinne schwanken,

Liebeglühend, tritt Pygmalion

Jn der Werkstatt Pantheon.

Und, o Wunder, in verklärtem Lichte

Stehen rings die stolzen Bilder da.

Es enthüllt dem staunenden Gesichte

Gottheit sich, wie er sie nimmer sah.

Wie von reinem Nektarthau durchflossen,

Wonnevoller Ewigkeit Genossen,

Schön und furchtbar, scheinen sie erhöht

Zu des Urbilds Majestät.
[309]
Freudig, doch mit ahnungsvollem Schweigen,

Blickt er auf der Himmelsmächte Kreis;

Richter sind sie ihm und heil'ge Zeugen,

Wie er ringt nach der Vollendung Preis.

Nicht zu ruhn, noch feige zu ermatten,

Schwört er, bis er den geliebten Schatten,

Einen Fremdling in der niedern Welt

Seinen Göttern dargestellt.

Schöner Stein! in Paros kühlen Grüften

Hat die Oreade dir gelacht;

Ja, du wurdest aus den Felsenklüften

Jn beglückter Stund' hervorgebracht!

Von der Hand Pygmalions erkohren,

Reiner Marmor, wirst du neugebohren.

Was sein Stahl dir liebend raubt, vergilt

Tausendfach das holde Bild.

Wann Aurora kaum noch deine Weiße

Röthet, eilt der Künstler schon herzu,

Und ihm winkt von immer süßerm Fleiße

Nur die Nacht gebieterisch zur Ruh.

Wann des Schlafes Arm' ihn leis' umfangen,

Spielt um ihn das schmeichelnde Verlangen,

Zeichnet sein gelungnes Werk der Traum

Dämmernd in des Aethers Raum.

Endlich geht die freundlichste der Sonnen

Ueber ihm, Vollendung bringend, auf.

Endlich, endlich ist das Ziel gewonnen,

Und die Palme kühlt des Siegers Lauf.

Vor ihm blüht das liebliche Gebilde,

Gleich der Rose, die der Frühlingsmilde,

Welche webend, athmend um sie floß,

Kaum den Purpurkelch erschloß.
[310]
Hüllenlos, von Unschuld nur umgeben,

Scheint sie sich der Schönheit unbewußt;

Jhre leicht gebognen Arme schweben

Vor dem Schoos und vor der zarten Brust.

Reine Harmonie durchwallt die Glieder,

Deren Umriß, von der Scheitel nieder

Zu den Sohlen, hingeathmet fliegt,

Wie sich Well' in Welle schmiegt.

Selig festgezaubert im Betrachten

Schaut Pygmalion, und glüht und schaut.

Bald verstummt er, aufgelöst in Schmachten,

Bald erschallt des Herzens Hymne laut.

Mit des Steines nachgeahmtem Leben

Strebt er sich so innig zu verweben,

Daß sein Herz, von Lieb' und Lust bewegt,

Wie in beider Busen schlägt.

Was ersann er nicht, ihr liebzukosen?

Welche süße Namen nannt' er nicht?

Das Gebüsch verarmt an Myrth' und Rosen,

Die er sorgsam ihr in Kränze flicht.

Aber ach! wann wird ihr holdes Flüstern

Seinen Liebesreden sich verschwistern?

Wann besiegelt der erwärmte Mund

Wiederküssend ihren Bund?

Lächelnd einst, wie mildes Frühlingswetter,

Schaut Urania vom lichten Thron;

Von der Menschen Vater und der Götter

Fordert sie der reinsten Treue Lohn:

Sieh, allein von allen Erdensöhnen

Hat Pygmalion, dem höchsten Schönen

Huldigend, und frei vom Sinnenbrand,

Sich zu meinem Dienst gewandt.
[311]
Nicht aus Trotz, zu eitlem Schöpferruhme;

Folgsam lauschend nur dem innern Ruf,

Stellt' er im verborgnen Heiligthume

Uns die Göttin dar, die er sich schuf.

Jenen Funken, den Prometheus raubte,

Zum Verderben seinem stolzen Haupte,

Gieb ihn mir für den bescheidnen Sinn

Meines Künstlers zum Gewinn.

So die Göttin, und mit Wohlgefallen

Winkt ihr Zeus, und neigt den Herrscherstab;

Locken, den Olymp erschütternd, wallen

Auf die Stirn ambrosisch ihm herab.

Ein gewohntes Opfer darzubieten,

Stand Pygmalion in Duft und Blüthen,

Als es wie ein Blitz sein Mark durchdrang,

Daß er zagend niedersank.

Doch ihn locken ferne Melodieen

Zauberisch ins Leben bald zurück.

Rosenfarbne Morgenschimmer fliehen

Um das Bild und laben seinen Blick.

Wie von eines Aetherbades Wogen

Wird sie sanft gewiegt und fortgezogen.

Soll sie eures Himmels Zierde seyn?

Götter! Götter! sie ist mein!

Und er fliegt hinzu, und schlingt die Arme

Kühn und fest um das geliebte Weib.

Glühend, schauernd fühlt er, sie erwarme;

Seinem Drucke weicht der Marmorleib.

Und es schlägt ihr Herz die ersten Schläge,

Und die Pulse werden hüpfend rege,

Und das Drängen junger Lebenslust

Schwellt die ungeduld'ge Brust.
[312]
Und ihr Auge ─ Wonne würd' ihn tödten,

Schloß' es sich dem fremden Tage nicht.

Ach, sie drückt mit schüchternem Erröthen

An des Jünglings Busen ihr Gesicht.

Liebe! Liebe! stammeln beider Zungen,

Und die Seelen, ganz in eins verschlungen,

Hemmt ein Kuß im schwesterlichen Flug

Mit geheimnißvollem Zug.

3) von Luise Brachmann († 1822).


Columbus.


„Was willst du, Fernando, so trüb' nnd bleich?

Du bringst mir traurige Mähr!“ ─

„Ach, edler Feldherr, bereitet Euch:

Nicht länger bezähm' ich das Heer.

Wenn jetzt nicht die Küste sich zeigen will;

So seyd ihr ein Opfer der Wuth;

Sie fordern laut, wie Sturmgebrüll,

Des Feldherrn heiliges Blut.“

Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn;

Da drängte die Menge sich nach.

Da stürmten die Krieger, die Wüthenden, schon,

Gleich Wogen, ins stille Gemach.

Verzweiflung im wilden, verlöschenden Blick,

Auf bleichen Gesichtern der Tod: ─

„Verräther! wo ist nun dein gleisendes Glück?

Jetzt rett' uns vom Gipfel der Noth!“

„Du giebst uns nicht Speise; so gieb uns denn

Blut!“ ─

„Blut!“ ─ riefen die Schrecklichen, ─ „Blut!“

Sanft stellte der Große den Felsenmuth

Entgegen der stürmenden Fluth.
[313]
„Befriedigt mein Blut euch; so nehmt es und lebt!

Doch, bis noch ein einzigesmal

Die Sonne dem feurigen Osten entschwebt,

Vergönnt mir den segnenden Stral.“

„Beleuchtet der Morgen kein rettend Gestad;

So biet' ich dem Tode mich gern.

Bis dahin verfolgt noch den muthigen Pfad,

Und trauet der Hülfe des Herrn!“ ─

Die Würde des Helden, sein ruhiger Blick,

Besiegte noch einmal die Wuth.

Sie wichen vom Haupte des Führers zurück,

Und schonten sein heiliges Blut.

„Wohlan dann, ─ es sey noch! ─ doch hebt sich

der Stral,

Und zeigt uns kein rettendes Land;

So siehst du die Sonne zum letztenmal!

So zittre der strafenden Hand!“ ─

Geschlossen war also der eiserne Bund;

Die Schrecklichen kehrten zurück. ─

Es thue der leuchtende Morgen uns kund

Des duldenden Helden Geschick. ─

Die Sonne sank, der Schimmer wich,

Des Helden Brust ward schwer;

Der Kiel durchrauschte schauerlich

Das weite, wüste Meer.

Die Sterne zogen still herauf,

Doch, ach, kein Hoffnungsstern;

Und von des Schiffes ödem Lauf

Blieb Land und Rettung fern.

Sein treues Fernrohr in der Hand,

Die Brust voll Gram, durchwacht,

Nach Westen blickend unverwandt,

Der Held die düstre Nacht.
[314]
„Nach Westen, ─ o, nach Westen hin,

Beflügle dich mein Kiel!

Dich grüßt noch sterbend Herz und Sinn,

Du meiner Sehnsucht Ziel!“

„Doch mild, o Gott, von Himmelshöhn

Blick' auf mein Volk herab!

Laß' es nicht trostlos untergehn

Jm wüsten Flutengrab!“ ─

Er sprachs, der Held, vom Mitleid weich;

Da horch, welch eiliger Tritt?

„Noch einmal, Fernando, so trüb' und bleich?

Was bringt dein bebender Schritt?“

„Ach, edler Feldherr, es ist geschehn!

Jetzt hebt sich der östliche Stral.“ ─

„Sey ruhig, mein Lieber, von himmlischen Höhn

Entwand sich der leuchtende Stral.

Es waltet die Allmacht von Pol zu Pol,

Mir lenkt sie zum Tode die Bahn!“ ─

„Leb' wohl dann, mein Feldherr, leb' ewig wohl!

Jch höre die Schrecklichen nahn!“

Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn,

Da drängte die Menge sich nach;

Da strömten die Krieger, die Wüthenden, schon,

Gleich Wogen, ins stille Gemach.

„Jch weiß, was ihr fordert, ich bin bereit,

Ja, werft mich ins schäumende Meer!

Doch wisset, das rettende Ziel ist nicht weit;

Gott schütze dich, irrendes Heer!“

Dumpf klirrten die Schwerter, ein wildes Geschrei

Erfüllte mit Grausen die Luft;

Der Edle bereitete still sich und frei

Zum Wege der fluchenden Gruft.

Zerrissen war jedes geheiligte Band;
[315]
Schon sah sich zum schwindelnden Rand

Der treffliche Führer gerissen, und ─ „Land!“ ─

Land!“ ─ rief es und donnert' es, ─ „Land!!

Ein glänzender Streifen, mit Purpur gemalt,

Erschien dem beflügelten Blick;

Vom Golde der steigenden Sonne bestralt,

Erhob sich das winkende Glück.

Was kaum noch geahnet der zagende Sinn,

Was muthvoll der Große gedacht; ─

Sie stürzten zu Füßen dem Herrlichen hin,

Und priesen die göttliche Macht.

4) vom Freih. v. Steigentesch.


Der Troubadour.


Am Quell, vom Tage matt beschienen,

Saß Ritter Raymond, kalt und wild;

Blaß, wie der Burggeist in Ruinen,

Schwamm auf dem Felsenquell sein Bild.

Da lispeln sanft der Harfe Saiten,

Jm Liede weht ein weicher Sinn,

Und des Gesanges Töne gleiten

Wie Wellen über Blumen hin.

Die Vorzeit flüstert durch die Lieder,

Ein Geisterlaut umschwebt sein Ohr;

Der Schrecken sträubt sein Haar empor,

Und drückt den Blick zur Erde nieder.

Die sanfte Sprache der Gefühle

Wird jetzt auf jeder Saite wach,

Des Morgens Traum, der Kindheit Spiele,

Ahmt schwach und stark die Saite nach.

Die halbgedämpften Töne beben,

Wie durch das Laub der West im Mai;
[316]
Der Kindheit goldne Träume schweben

Jm Spiegel des Gesangs vorbei.

Der schöne Traum, zu früh vergangen,

Hat sanft des Ritters Herz erweicht;

Ein mattes, kaltes Lächeln schleicht

Auf die vom Gram gebleichten Wangen.

Jetzt klagt hier, wie der Welle Tosen,

Bald schwach, bald stark, mit leisem Schwung,

Die Sehnsucht um verblühte Rosen,

Jm Echo der Erinnerung.

Der Ton, gleich scheidenden Gewittern,

Verhallt nun sterbend, dumpf und schwach;

Die Saite ahmt mit leisem Zittern

Den süßen Ton der Freude nach.

Der Vorzeit blasse Nebel sinken;

Der Freude heitres Bild erwacht;

Die Liebe ruft, das Leben lacht,

Und des Genusses Horen winken.

Dem Arm der Freude schnell entrissen

Erhebt sich dumpf das Lied der Schlacht;

Die Erde wird des Todes Kissen,

Das Blut und Wunde schrecklich macht.

Die Harfe schweigt. Jn ihren Pausen

Verblutet röchelnd sich der Held,

Und, wie des Meeres Wogen, brausen

Die Töne durch das Leichenfeld.

Des Ritters blasse Wangen färben

Sich brennend, wie das Abendroth;

Sein Auge rollt, es sucht den Tod,

Umdonnert von der Schlacht, zu sterben.

Der Harfe Stürme rauschen wilder,

Das Siegel springt am Grab der Zeit,

Der Sturm des Sängers weckt die Bilder
[317]
Jm Nebel der Vergangenheit.

Dumpf rauscht in jedem Grabe Leben,

Wie in der Felsenkluft der Nord.

Des Sängers blasse Lippen beben,

Sein Stammeln malt den Brudermord.

Die Wangen, wild entbrannt, verglühen;

Jm Auge rollen Schuld und Haß.

„Laß, ruft der Ritter leichenblaß,

O laß das Bild vorüberfliehen!“

Da flüstern leise durch die Saiten

Der Hoffnung süße Töne hin.

Sanft, wie des Schicksals Fäden, leiten

Sie in den Arm der Trösterin.

Kühn trotzt der Mörder den Gesetzen,

Jhn lenkt das ewige Geschick;

Auf seinen Wink hält das Entsetzen

Des Frevels, Dolch und Arm zurück.

Der Ritter schlägt um die Gestalten

Der Möglichkeit den Arm voll Kraft,

Am Busen ohne Leidenschaft

Das süße Traumbild festzuhalten.

Der Sänger schweigt. Des Finstern Miene

Wird wieder kalt und wolkenschwer;

Da flüstert's leise durch das Grüne:

„Erkennst du Erichs Ton nicht mehr?“

Er blickt empor. Die Augen wenden

Sich ab, von Schuld und Schaam gepreßt;

Er klammert sich mit kalten Händen

An seines Bruders Knieen fest.

Das Band des Schreckens löst sich wieder,

Das seine Kraft gefesselt hält,

Und auf die blassen Lippen fällt

Die Thräne der Verzeihung nieder.
[318]

45.
d) Die Legende.


Die Legende steht in demselben Verhältnisse
einer Untergattung zur Romanze und Ballade, wie
die Dithyrambe zur Hymne. Denn sie enthält die
Darstellung von Gefühlen, welche durch die Vergegenwärtigung
von Jndividuen, Handlungen und Begebenheiten
erregt werden, unter der Einheit einer
vollendeten ästhetischen Form. Allein der eigenthümliche
Charakter der Legende, wodurch sie von der
Romanze und Ballade sich unterscheidet, beruht
darauf, daß ihr Stoff aus der religiösen Mythologie,
und, wenn der Stoff der christlichen
Religion angehört, aus der kirchlichen Ueberlieferung
entlehnt ist. Mag nun der Stoff aus
der indischen, oder der ägyptischen, aus der griechischen,
oder der christlichen, oder der mahomedanischen
Sagenwelt entnommen seyn; so hängt doch sein
dichterischer Gehalt ab von seiner ästhetischen Darstellbarkeit
in einer vollendeten Form. Enthält daher
die kirchliche Sage, als Stoff, Handlungen und
Thatsachen, welche entweder große Aufopferungen
im Dienste der Tugend und den Heldensinn der
Märtyrer bezeugen, oder welche angebliche Wunderthaten
der sogenannten Heiligen und selbst manche
lächerliche Ueberlieferung versinnlichen; so berücksichtigt
der Dichter der Legende nicht die geschichtliche
Beglaubigung
dieser Stoffe; denn seine Aufgabe
ist keine geschichtliche, sondern eine ästhetische,
und diese wird erreicht, sobald er den ihm dargebotenen
Stoff, inwiefern er einen wohlthuenden
Eindruck auf sein Gefühlsvermögen vermittelte, zur
Einheit der ästhetischen Form erhob.

[319]

Nach den verschiedenartigen, bald ernsthaften,
bald belustigenden, Stoffen, welche der Dichter der
Legende zur Einheit der Form gestaltet, erscheint die
Legende, wie auch die Romanze und Ballade, bald
unter einer ernsthaften, bald unter einer komischen
Einkleidung. Jn der ersten liegt das Außerordentliche,
Uebernatürliche und Wunderbare in den
Aeußerungen eines gesteigerten sittlich=religiösen Gefühls,
dessen Bestrebung mit einem alle Erwartung
übertreffenden Erfolge gekrönt wird. Jn der zweiten
wird das Wunderbare in der Begebenheit, unter
der Voraussetzung, daß die Begebenheit selbst
der Erfolg eines sich verirrenden Gefühls war, als
ein Gegenstand dargestellt, der vermittelst der vollendeten
ästhetischen Hülle unser Lachen erregt. Die
ernsthafte Legende ward mit Erfolg von v. Göthe,
Aug. Wilh. v. Schlegel, v. Herder, Kosegarten,
Justi, Krummacher, Uhland
u. a.,
die komische besonders von Pfeffel und Langbein
angebaut.

46.
Beispiele der Legende.


1) von v. Herder († 1803).


Der Tapfere.


Ein edler Held ist, der fürs Vaterland,

Ein edlerer, der für des Landes Wohl,

Der edelste, der für die Menschheit kämpft.

Ein Hoherpriester, trug er ihr Geschick

Jn seinem Herzen, und der Wahrheit Schild

Auf seiner Brust. Er steht im Felde, Feind

Des Aberglaubens und der Ueppigkeit,
[320]
Des Jrrthums und der Schmeicheleien Feind,

Und fällt, der höchsten Majestät getreu,

Dem redlichen Gewissen, das ihm sagt:

Er suchte nicht, und floh nicht seinen Tod.

„Was tödtet ihr die Glieder? (rief die Wuth

Des Heidenpöbels,) sucht und würgt das Haupt.“ ─

Man sucht den frommen Polykarpus, ihn,

Johannes Bild und Schüler. Sorgsam hatten

Die Seinen ihn aufs Land geflüchtet: ─ „Jch

Sah diese Nacht das Kissen meines Haupts

Jn voller Glut (so sprach der kranke Greis);

Und wachte mit besondrer Freude auf.

Jhr Lieben mühet euch umsonst; ich soll

Mit meinem Tode Gott lobpreisen.“ ─ Da

Erscholl das Haus von stürmendem Geschrei

Der Suchenden. Er nahm sie freundlich auf.

„Bereitet, sprach er, diesen Müden noch

Ein Gastmahl, ─ ich bereite mich indeß

Zur Reise auch.“ ─ Er ging, und betete,

Und folgete mit vielen Schmerzen ihnen

Zum Consul. Als er auf den Richtplatz kam,

Rief eine mächt'ge Stimm' im Busen ihm:

„Sey tapfer, Polykarp!“ ─ der Consul sieht

Den heitern, schönen, ruhig sanften Greis

Verwundernd. „Schone (sprach er) deines Alters,

Und opfre hier, entsagend deinem Gott!“ ─

„Wie sollt' ich meinem Herrn entsagen, dem

Zeitlebens ich gedienet, und der mir

Zeitlebens Gutes that?“ ─ „Und fürchtest du

Denn keines Löwen Zahn?“ ─ „Zermalmet muß

Das Weizenkorn doch einmal werden, sey's

Wodurch es will, zur künft'gen neuen Frucht.“

Der Pöbel rief: „Hinweg mit ihm! Er ist

Der Christen Vater! Feuer, Feuer her!“
[321]
Sie trugen Holz zusammen und mit Wuth

Ward er ergriffen. ─ „Freunde, sprach er, hier

Bedarfs der Bande nicht. Wer dieser Flamme

Mich würdigte; der wird mir Muth verleihn.“

Und legte still den Mantel ab, und band

Die Sohlen seiner Füße los, und stieg

Hinauf zum Scheiterhaufen. ─ Plötzlich schlug

Die Flamm' empor, umwehend rings um ihn,

Gleich einem Segel, das ihn kühlete,

Gleich einem glänzenden Gewölbe, das

Den Edelstein in seine Mitte nahm,

Und schöner ihn verklärte, bis ergrimmt

Jhm eine freche Hand das Herz durchstieß.

Er sank; es floß sein Blut; die Flamm' erlosch;

Und eine weiße Taube stieg empor.

Du lachst der weißen Taube? Soll einmal

Ein Geier dir dem Sterbenden die Brust

Durchbohren? Dem Gestorbenen das Aug'

Ein Rab' aushacken? Aus der Asche sich

Molch oder Natter winden? ─ Spotte nicht

Des Bildes, das die Sage sich erschuf;

Nur Einfalt, Unschuld, giebt im Tode Muth.

2) von v. Göthe.


Der Gott und die Bajadere.


Eine indische Legende.


Mahadöh, der Herr der Erde,

Kommt herab zum sechstenmal,

Daß er unsers Gleichen werde,

Mit zu fühlen Freud' und Qual.

Er bequemt sich hier zu wohnen,

Läßt sich Alles selbst geschehn.

Soll er strafen oder schonen,

Muß er Menschen menschlich seyn.
[322]
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,

Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,

Verläßt er sie Abends, um weiter zu gehn.

Als er nun hinausgegangen,

Wo die letzten Häuser sind,

Sieht er, mit gemahlten Wangen,

Ein verlornes schönes Kind.

Grüß' dich Jungfrau! ─ Dank der Ehre!

Wart', ich komme gleich hinaus ─

Und wer bist du? ─ Bajadere,

Und dies ist der Liebe Haus.

Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen;

Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,

Sie neigt sich und biegt sich, und reicht ihm den Strauß.

Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,

Lebhaft ihn ins Haus hinein.

Schöner Fremdling, lampenhelle

Soll sogleich die Hütte seyn.

Bist du müd', ich will dich laben,

Lindern deiner Füße Schmerz.

Was du willst, das sollst du haben,

Ruhe, Freuden oder Scherz.

Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden;

Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden

Durch tiefes Verderben, ein menschliches Herz.

Und er fordert Sklavendienste;

Jmmer heitrer wird sie nur,

Und des Mädchens frühe Künste

Werden nach und nach Natur.

Und so stellet auf die Blüthe

Bald und bald die Frucht sich ein;

Jst Gehorsam im Gemüthe,

Wird nicht fern die Liebe seyn.
[323]
Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,

Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen

Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

Und er küßt die bunten Wangen,

Und sie fühlt der Liebe Qual,

Und das Mädchen steht gefangen,

Und sie weint zum erstenmal;

Sinkt zu seinen Füßen nieder,

Nicht um Wollust noch Gewinnst,

Ach! und die gelenken Glieder,

Sie versagen allen Dienst.

Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier

Bereiten den dunkeln behaglichen Schleier

Die nächtlichen Stunden das schöne Gespinnst.

Spät entschlummert, unter Scherzen,

Früh erwacht, nach kurzer Rast,

Findet sie, an ihrem Herzen,

Todt den vielgeliebten Gast.

Schreiend stürzt sie auf ihn nieder;

Aber nicht erweckt sie ihn,

Und man trägt die starren Glieder

Bald zur Flammengrube hin.

Sie höret die Priester, die Todtengesänge,

Sie raset und rennet, und theilet die Menge.

Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?

Bei der Bahre stürzt sie nieder,

Jhr Geschrei durchdringt die Luft:

Meinen Gatten will ich wieder!

Und ich such' ihn in der Gruft.

Soll zu Asche mir zerfallen

Diefer Glieder Götterpracht?

Mein! er war es, mein vor allen!

Ach, nur Eine süße Nacht!
[324]
Es singen die Priester: wir tragen die Alten,

Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,

Wir tragen die Jugend, noch eh' sie's gedacht.

Höre deiner Priester Lehre:

Dieser war dein Gatte nicht.

Lebst du doch als Bajadere,

Und so hast du keine Pflicht.

Nur dem Körper folgt der Schatten

Jn das stille Todtenreich;

Nur die Gattin folgt dem Gatten;

Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.

Ertöne, Trommete, zu heiliger Klage!

O, nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,

O, nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!

So das Chor, das ohn' Erbarmen

Mehret ihres Herzens Noth;

Und mit ausgestreckten Armen

Springt sie in den heißen Tod.

Doch der Götter-Jüngling hebet

Aus der Flamme sich empor,

Und in seinen Armen schwebet

Die Geliebte mit hervor.

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;

Unsterbliche heben verlorene Kinder

Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

3) von Langbein.


Der Substitut des heiligen Georgs.


Jn einer dunkeln Dorfkapelle,

Dem heiligen Georg geweiht,

Stand er in Lebensgröß' auf einer hohen Stelle

Zum Trost des Volks seit langer Zeit.
[325]
Der Priester sorgte stets aufs Beste

Für des verehrten Schutzherrn Ruhm,

Und reinigt' einst zu seinem Feste

Mit eigner Hand das Heiligthum.

Um dieses gute Werk zu krönen,

Wollt' er ihn selbst ─ den Herrn Patron ─ verschönen,

Und säubert' ihn vom Fuße bis zum Schopf;

Der Besen aber stieß zu hart ihn an den Kopf,

Und dieser ─ der vielleicht schon immer

Ein wenig schwach gewesen war ─

Brach knacks vom Hals, und fiel in Trümmer.

Der Priester raufte wild sein Haar.

O ich Unglücklichster auf Erden!

Was fang' ich an? Das Dorf wird rasend werden!

Jch stehe morgen in Gefahr,

Daß es in Rotten sich vereinigt,

Und mich aus Christeneifer steinigt. ─

So klagend trat er an die Thür,

Und seufzte Himmel an: Jhr Engel,

Jhr guten Engel, helfet mir!

Es kam nicht Einer; ─ doch dafür

Erschien ein alter Galgenschwengel,

Der weit und breit das Land durchzog,

Theils betteln ging, und theils betrog.

Er schlich gebückt an einem Stabe,

Und bat um eine kleine Gabe.

Mit Staunen sah der Capellan

Vom Fuße bis zum Kopf ihn an,

Und murmelte hinweg gewendet:

Den haben mir die Engelein gesendet!

Er gleichet, schwarzbraun wie ein Mohr,

Dem Heil'gen, der sein Haupt verlor,

So Zug für Zug, als wärens Zwillingsbrüder.

Der Kerl ist mir ein wahrer Schatz;
[326]
Jch stell' ihn an Georgens Platz,

Und alles Volk fällt vor ihm nieder!

Ein kluger Einfall! Der Vagant

War in der Gegend nicht bekannt,

Und nah und fern ließ sich kein Lauscher spüren.

So hemmte nichts den Capellan,

Das kühne Wagstück auszuführen,

Und leise fühlt' er stracks dem Bettler auf den Zahn:

Ob er des nächsten Tags der Rolle

Des heiligen Georgs sich unterziehen wolle.

Der Gauner hätte wohl, für ein Glas Brantewein,

Sich nicht bedacht, der Teufel selbst zu seyn.

Was sollt' er lange sich besinnen,

Als Heiliger ein Trinkgeld zu gewinnen?

Er sagte Ja, verschlief die Nacht

Jn einem Winkel der Capelle,

Und blähte sich bei früher Tageshelle,

Bekleidet mit der Gallatracht

Des Heiligen, an seiner Stelle. ─

Bald fanden sich viel fromme Seelen ein,

Und strömten hin zum Könige des Festes.

Er that, wie ihm befohlen war, sein Bestes,

Und stand wie ein gebohrner Stein.

Sie warfen sich mit flehenden Gebärden

Zu seinen Füßen auf die Knie,

Und glaubten fest, von ihm gehört zu werden,

Seht, wie er lächelt, riefen sie, ─

Er blickt uns an, als lebt' er noch auf Erden!

Der Afterheilige vernahm

Mit Schrecken diese Schmeichelworte,

Verwünschte still den bösen Kram,

Und sehnte weit sich weg von seinem Orte,

Wo bald das Ding noch schlimmer kam. ─

Ein Teufelchen, das ─ ohne Zweifel
[327]
Beordert von dem Oberteufel ─

Jn einer Wespe Körper fuhr,

Stach, wie mit einem Dolch, ihn tückisch in die Nase,

Fast platzte er heraus mit einer Flucherphrase,

Doch blieb's bei den Gedankenschwur:

Flugs nach dem Gottesdienst der Rache zu genießen,

Und jenen Plagegeist zu fangen und zu spießen.

Jndessen nahm die schwellende Blessur

Der Fliegengott selbst in die Cur,

Und eilte, Balsam drauf zu gießen.

Das war brühheißes Wachs, das an des Altars Wand,

Drei Spannen über'm Kopf des Substituten,

Von einer Kerze floß, die dort hellflammend stand,

Und, schief gebeugt von Satans Hand,

Nicht geizig war mit ihren Perlengluten.

Dies Tropfbad hielt der Patient

Nur zwei Secunden aus: „Kreuz tausend Element!“

Schrie er, und sprang mit Schmerzgrimassen

Herab von seinem Postament.

Ha, welcher Aufruhe in des Kirchleins Gassen!

Die sämmtliche Gemeinde floh

Zur Thür' mit Zetermordio,

Als würd' ein Leu von Ketten losgelassen,

Der Bettler, stürzend durchs Gewühl,

Rief laut: „Schön Dank für solch ein Spiel!

Nein, lieber ein Verdammter in der Hölle,

Als so ein Heiliger in dieser Angstkapelle!“

47.
e) Die poetische Erzählung.


Je allgemeiner der Begriff des Erzählens ─
der mündlichen oder schriftlichen zusammenhängenden
Mittheilung des Geschehenen ─ überhaupt ist; desto [328]
weiter ist auch, in der Reihe der epischen Formen,
der Begriff der poetischen Erzählung. Denn alles,
was aus dem Kreise des Wirklichen und Möglichen
ästhetisch dargestellt, d. h. als aus den Gefühlen
des Dichters stammend und als Gefühle anregend
geschildert, und zur Einheit der Form verbunden
werden kann, eignet sich zum Stoffe der poetischen
Erzählung. Dadurch aber unterscheidet sich die
poetische Erzählung vom Epos, daß in der erstern
die dargestellte Handlung oder Begebenheit, in
dem letztern hingegen das handelnde Jndividuum
den Mittelpunct der ästhetischen Darstellung
bildet. Jn der poetischen Erzählung erscheint nämlich
das handelnde Jndividuum nicht als ein eigentlicher
Held, der in noch unentschiedenem Kampfe
mit dem auf ihn eindringenden widrigen Schicksale
wahrgenommen wird; auch können die verwickelten
Verhältnisse und Ereignisse, welche die poetische Erzählung
schildert, nicht in der höhern Beziehung, wie
im Epos, Schicksal genannt werden, weil es zunächst
eine mehr oder weniger in sich fassende Thatsache
ist, die der Dichter der poetischen Erzählung
in den Mittelpunct des Ganzen stellt.


Bei dieser Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit
des Stoffes für die poetische Erzählung bleibt es
die Hauptaufgabe für dieselbe, vermittelst der Vollendung
der ästhetischen Form dieselben Gefühle anzuregen,
welche in dem Gemüthe des Dichters das
Entstehen der ästhetischen Form bewirkten, und zugleich
die Einbildungskraft in ein freies Spiel
zu setzen, um durch beides gemeinschaftlich ein reines
Wohlgefallen an der Form hervorzubringen. ─
Je häufiger aber der erzählende Dichter mit der Darstellung
freier Handlungen sich beschäftigen muß; [329]
desto mehr bedarf er des psychologischen Urtheils
und Tactes. Zwar darf er die psychologischen Erscheinungen
und Ergebnisse nicht philosophisch verarbeiten;
allein er behandelt sie dichterisch, d. h.
sein psychologischer Sinn und Tact unterstützt seine
schöpferische Einbildungskraft, wenn diese, für die
im Mittelpuncte der Erzählung darzustellende Handlung,
einen ästhetischen Zusammenhang von Ursachen
und Wirkungen vermittelt, der mit derselben Nothwendigkeit
sich ankündigt, wie der Zusammenhang
von Ursach und Wirkung im wirklichen Leben der
Menschen. Selbst das, was aus dem Kreise der
physischen Welt in die poetische Erzählung aufgenommen
wird, erscheint nach seiner Verbindung und
nach seinem Zusammenhange mit der geistigen und
sittlichen Kraft der handelnden Jndividuen, weil es
nicht um seiner selbst willen, sondern zur Versinnlichung
gewisser Thatsachen und Handlungen freier
Wesen, in die poetische Erzählung gehört.


Die poetische Erzählung kann entweder im
ernsthaften, oder im komischen Gewande erscheinen.
Die ernsthafte poetische Erzählung stammt
aus Gefühlen, welche theils durch ernsthafte und
wichtige Ereignisse des Lebens, theils durch ergreifende
Handlungen des freien Willens angeregt, und
vermittelst der Einbildungskraft zu einem lebensvollen
dichterischen Ganzen gestaltet werden. Dagegen
entspringt die komische poetische Erzählung aus
dem, durch die Vergegenwärtigung menschlicher
Schwachheiten, Thorheiten und Fehler, im Bewußtseyn
des Dichters aufgeregten, Gefühle der Lust, das
seine schöpferische Einbildungskraft in der ästhetischen
Form der poetischen Erzählung in einem so hohen
Grade versinnlicht, daß dadurch bei Allen dasselbe [330]
Gefühl der Lust veranlaßt wird. Doch muß der
Dichter der komischen poetischen Erzählung, bei aller
Lebendigkeit seiner Darstellung, sich innerhalb der
Grenzlinie der Erzählung halten, und nicht ins Gebiet
der eigentlichen Satyre hinüber streifen, welche
die Unvollkommenheiten der intellectuellen Welt und
die Gebrechen in der sittlichen Ordnung der Dinge
mit aller Schärfe geiselt, die, durch den stark versinnlichten
Abstand der wirklichen Welt zu der Höhe
des dem Menschen gebotenen Jdeals der Wahrheit
und sittlichen Güte, in dem Gemüthe des Satyrikers
erzeugt wird. Von der Fabel, die häufig mit der
poetischen Erzählung verwechselt wird, unterscheidet
sie sich bestimmt dadurch, daß der Fabel ausschließend
die Versinnlichung der Eigenschaften der Thierwelt
zusteht.


Die wesentlichsten Bedingungen der poetischen
Erzählung sind Leichtigkeit und Natürlichkeit in der
Darstellung. Eine gewisse Ausführlichkeit wird in
dieser epischen Form eher, als in den übrigen, dem
Dichter verziehen, sobald nur nichts eingemischt
wird, was als entschieden überflüssig und außerwesentlich
sich ankündigt; die unverkennbare Breite der
Darstellung aber ist unvereinbar mit der Festhaltung
des ästhetischen Charakters der Form. Reim
und Metrum sind, wie bei allen dichterischen Erzeugnissen,
auch in der poetischen Erzählung keine
wesentlichen, sondern nur zufällige Eigenschaften
der äußern Schönheit der Form.

48.
Beispiele der poetischen Erzählung.


1) von Burcard Waldis († nach 1554).

[331]

Vom Bischoff und einem Lotterbuben.


Zum Bischoff kam ein Lotterbub,

Sein Bengel gegen jm auffhub,

Vnd bat jn, das er jm da bar

Ein gülden geb zum neuwen Jar.

Der Bischoff war ein karger Mann,

Den Freihart sah er scheußlich an,

Sprach: bist vnsinnig hab den Ritten

Darffst umb ein gülden neuw Jar bitten?

Der Bub sprach, schont gnediger Herr,

Ob denn ein güld zu viele wer,

Gebt ein Batzen, ich nem jn an,

Daß jr ein gut neuw Jar müßt han.

Er sprach, du bittest ja zu viel;

Er sprach, ein kleines nemmen wil,

Das ich mag haben euwre Gnad;

Zuletst jn umb ein Pfenning bat.

Denselben er jm auch nicht gab.

Er sprach, das ich dennoch was hab,

Von euwern gnaden beger sonst nit,

Denn theilt mir euwern Segen mit.

Er sprach: knie nieder lieber Son,

Das du denselben magst entpfahn.

Da sprach der Bub: behalt euwrn Segen,

Jr dörfft jn zwar auff mich nicht legen;

Ja wenn er wer eins Pfennings wehrt,

Würd er mir nicht von euch beschert.

2) von Hans Sachs († 1576).


Warum die Bauern nicht gern Lanzknecht
herbergen.


Mich thät eines Tages ein Pfaff fragen,

Ob ich nicht warhaft wüßt' zu sagen,
[332]
Warum die Bauern unwillig wär'n,

Und herbergten die Lanzknecht nicht gern.

Jch sagt: es liegt im Schwabenland

Ein Dorf, Gersthofen ist genannt,

Da hat die Ursach sich angefangen,

Jm kalten Winter nächst vergangen.

Da loff ein armer Lanzknecht hart

Zerrissen, frostig auf der Gartt

Jn großer Kält für einen Galgen,

Darauf hört er die Raben balgen,

Und sah einen Dieb hangen daran,

Der hätt' zwei gute Hosen an.

Da dacht ihm der arme Lanzknecht,

Die Hosen kommen mir gleich recht;

Und streift dem Dieb die Hosen ab,

An Füßen wollten sie nicht rab,

Wann (denn) sie waren daran gefroren.

Der Lanzknecht flucht und thät im Zoren (Zorn)

Und hieb dem Dieb ab beide Füß',

Sammt den Hosen int (in den) Ermel stieß.

Nun war es etwas spät am Tag,

Gersthofen das Dorf vor ihm lag;

Da trabet er gar frostig ein,

Zu suchen da die Nahrung sein.

Als er nun herumgartet spat,

Zuletzt er dann um Herberg bat

Ein Bauren, der sagt' ihm zu willig,

Gab ihm ein Schüssel voll warmer Millich,

Trug ihm in die Stuben ein Schütt Stroh,

Deß war der frostig Lanzknecht froh.

Nun hätt diesem Bauren dazu

Diesen Abend kälbert eine Kuh;

Nun war es eine grim kalte Nacht,

Drum wars Kalb in die Stuben bracht,
[333]
Daß es in Kält keinen Schaden empfing.

Als jedermann nun schlafen ging,

Und still wars in dem ganzen Haus,

Zog der Lanzknecht die Hosen raus,

Die er dem Dieb abzogen hätt,

Die Füß' er ledig machen thät,

Und zog des Diebes Hosen on (an),

Und machet sich vor Tag davon,

Ganz still, daß sein kein Mensch wahrnahm,

Ließ liegen die Diebsfüß' beisam.

Als früh die Bauermäd' aufston

Und ward hinein die Stuben gon,

Trug mit ihr ein großes Spanlicht.

Als sie den Lanzknecht nicht mehr sicht,

Allein das Kalb dort in der Ecken

Höret gar laut schreien und blöken,

Jndem sie die Diebesfüß' ersicht,

Vermeinet gänzlich anders nicht,

Denn das Kalb hätt' den Lanzknecht fressen.

Erst wurd mit Furchten sie besessen,

Säumt in der Stuben sich nicht lang,

Und zu der Stubenthür aus sprang,

Schreit am Tennen Zeter und Mord.

Der Bauer ihr Mordgeschrei erhort,

Erschrack und aus der Kammer schrier:

Was ist dir? Sie antwort: weh mir

O Bauer, es hat unser Kalb

Den Lanzknecht fressen mehr denn halb;

Allein liegen noch da seine Füß'.

Der Bauer zucket sein Schweinspieß,

Fuhr in rostigen Harnisch sein,

Und wollt' zum Kalb in die Stuben nein.

Die Bäurin schrie: o lieber Monn,

Mein und deiner klein Kinder verschon;
[334]
Das Kalb das möcht zerreißen dich.

Der Bauer trat wieder hinter sich,

Die Kinder weinten alle sam.

Der Knecht auch aus dem Stadel kam;

Sie konnten des Lanzknechts nicht vergessen,

Meinten, das Kalb das hätt' ihn fressen.

Jn sie kam ein solch Furcht und Graus,

Und loffen alle aus dem Haus.

Der Bauer zum Schultheiß sagt böse Mähr,

Wies mit seinem Kalb ergangen wär

Des Lanzknechts halb; darob wurd heiß

Dem Schultheiß ging aus der Angstschweis,

Hieß bald läuten die Sturmglocken.

Die Bauern liefen all' erschrocken

Auf den Kirchhof zitternd und frostig

Mit ihrer Wehr und Harnisch rostig.

Da sagt der Schultheiß in (ihnen) die Mähr,

Wie daß ein grausames Kalb da wär,

Das hätt' einen großen Mord gethon,

Es hätt' ein Lanzknecht gefressen schon

Bis an die Füß. Mit diesem Wurm

Da müssen wir thun einen Sturm,

Daß man es von dem Leben thu;

Wann würd' das Kalb groß wie ein Kuh,

So fräß' es uns all nach einander.

Die Bauern erschracken allsander,

Und zogen für das Haus hinan.

Der Schultheiß, der war ihr Hauptmann,

Der sprach zu ihnen: Nun stoßets auf.

Die Bauern stunden all zu Hauf

Und sahen das Haus alle an;

Doch wollt' ihr keiner voren dran,

Furchten, das Kalb möcht' ihn zerreißen;

Deshalb thäten sie sich all' spreißen.
[335]
Ein alter Bauer den Rath gab:

Jch rath', wir ziehen wieder ab,

Und fristen vor dem Kalb unser Leben.

Wir wollen eine g'meine Steuer geben

Jn dem ganzen Dorfe durchaus,

Dem guten Mann bezahlen sein Haus,

Und wollen darein stoßen ein Feuer,

Verbrennen sammt dem Kalbungeheuer.

Die Bauern schrien: fürwahr, jo, jo,

Das ist der beste Rath also!

So zündten an das Haus die Bauern,

Mit gewohnter Hand stunden die Lauern

Darum fürchten, das Kalb möcht' entrinnen,

Und in dem Feuer nicht verbrinnen.

Doch lag das Kalb, konnt noch nicht gehn;

Das wollt kein närrischer Bauer verstehn.

Jetzt nahm das Feuer überhand,

Daß ihm das ganze Dorf abbrannt;

Deß kamen die Bauern zu großem Schaden.

Haben seit die Lanzknecht kein Gnaden,

Und vermeinen des Tages noch heut:

Lanzknecht sind unglückliche Leut.

Deshalb herbergens die Bauern nicht gern,

Thun ihr Beiwohnung sich beschwern,

Daß ihnen nicht weiter Schaden wachs;

Von solchen Gästen spricht Hans Sachs.

3) von Tscherning († 1659).


Ein junger Hirte war zu schreien oft beflissen:

Kommt, Brüder, helft! Der Wolf hat mir ein Schaf

erbissen.

Wenn nun das Hirtenvolk gesammt zur Stelle war;

Da sprach er: seyd zur Ruh, es hat noch nicht Gefahr,

Jch habe nur versucht, ob ihr auch wachsam wäret.
[336]
Nachdem er aber sie auf andre Zeit begehret,

Als Ernst vorhanden war, und jetzt vom Wolfe schon

Ein Schaf war hingewürgt; da blieben sie davon,

Wie laut er immer rief. Jetzt ward der Narr erst inne,

Wie thöricht er gethan, und zog ihm stracks zu Sinne,

Daß einem hier die Welt, der einmal Lügen liebt,

Auch wenn er Wahrheit redt, nicht leichtlich Glauben giebt.

2) von Zernitz († 1745).


Der Satz des nicht zu Unterscheidenden.


Ein Philosoph, der Witz und seine Schöne liebt,

Jm Scherz nur nicht der Wahrheit Beifall giebt,

Gerieth, doch sonder Zorn, mit seinem Freund ins Streiten,

Und sprach: Es ist nach hundert Logiken

Der Satz des nicht zu Unterscheidenden

Ein leerer Ton, und hat nichts zu bedeuten.

Denn höre, fuhr er fort, und prüfe nur den Schluß:

Ein jeder glaubt, es sey ein Kuß, ein Kuß;

Mit der Erklärung ist man selbst beim Kuß zufrieden,

Und sie spart mir jetzt zum Beweise Zeit.

Ruht nun in dem Begriff kein Unterscheid;

So ist kein Kuß vom andern unterschieden.

Ja, sprach sein Gegner, ja du hast zum Theile Recht,

Du nennest nur von Küssen das Geschlecht;

Allein, dabei ist auch der Satz nicht anzuwenden.

Doch gieb nur auf die Art der Küsse acht;

Ein Kuß, geschickt auf Lippen angebracht,

Entscheidet sich von dem auf zarten Händen.

Noch mehr, kein einz'ler Kuß ist je dem andern gleich;

Freund, sey einmal im Geist an Bildern reich,

Sieh ein verliebtes Paar, so ist dein Schluß bestritten;

Es wird, wenn man den Mund zum Kuß erwählt,
[337]
Beim zweiten schon der erste Fleck verfehlt,

Den Wangen nach küßt man nicht in der Mitten.

Was Bilder? nein! ward hier von jenem eingewandt,

Mit Augen seh' ich zwar, mehr mit Verstand.

Wer nur den Sinnen traut, macht wenig starke Schlüsse.

Der Unterschied im Kuß hat schlechten Grund,

Es ist zudem ein rother Mund, ein Mund,

Und Küsse sind im Wesen doch nur Küsse.

Gut, rief bei diesem Streit der dritte Kaffeegast,

Freund, aber sey zum Einwurf nur gefaßt;

Denn sonst reichst du die Hand zum ersten zum Versöhnen,


Den Satz des nicht zu Unterscheidenden

Erweis ich dir mit deiner Lesbien,

Die küssest du in einer Welt voll Schönen.

5) von Gotter († 1797).


Der reisende Virtuose.


Ein Virtuos aus jenem Lande,

Wo, nächst der Weihe, keine Bahn

So leicht zum Reichthum führet, als ─ o Schande! ─

Ein Messerschnitt, erwies dem teutschen Vaterlande

Die Ehr' und setzt' es einst in Contribution.

Die Wochenblättler (Ehrenmänner,

Und aller Künste tiefe Kenner,

Und Schöpfer mancher Reputation!)

Verglichen seinen Silberton

Der ersten Sängerin in Vater Zeus Orchester.

Zwar kenn' ich jene Primadonna nicht;

Doch wett' ich gleich mein glücklichstes Gedicht:

So göttlich, als der Musen zehnte Schwester,

Als unsre Mara, sang er nicht.

Er kam an einen Hof (ein Höfchen wollt' ich sagen,
[338]
Das meine Chronika nicht nennt)

Und, ob die Außenwerk' ihm gleich nicht sehr behagen,

So nöthigt ihn doch ein zerbrochner Wagen,

Der Appetit, sein Element,

Und ach! ein Ding, noch leerer, als sein Magen,

Sein Beutel, sich beim Marschall anzusagen;

Beim Marschall, der auch Kanzler, Präsident,

Und General, und Haupt der Jägereien,

Der Kirchen, hohen Schulen, Stutereien,

Und Secretär des Luftballordens war;

Ein Orden, der so fein zum Staatssysteme paßte,

Daß er so Hof, als Stadt und gar

Die Nachbarschaften in sich faßte;

Mit Ausschluß der Montur und Liverei,

Stand (Hungers stürbe sonst die arme Kanzelei)

Der Eintritt jedermann für zehn Ducaten frei.

Seit lange war für Geiger und Kastraten

Dies Ländchen das Schlaraffenland.

Kein Wunder, daß, so vortheilhaft bekannt,

Ein gnädigstes Gehör auch Bellavoce fand.

Die Durchlaucht, die im Zirkel der Magnaten,

Umwölbt von einem Plüschsammt-Himmel, stand,

War so begeistert, daß das Klatschen ihrer Hände

Den Baß zum Schweigen zwang, und sie, noch vor

dem Ende

Der schmelzenden Cadenz, ihm in die Arme lief,

Aus voller Kehle, die noch von Champagner rauchte:

Bravo! bravissimo! vortrefflich! himmlisch! rief,

Und in ein Meer von Lob ihn untertauchte.

„Beim Teufel! schloß das Lied, und müßt' ich Sie mit

Gold

Aufwiegen, großer Mann, ich nehme Sie in Sold;

Was fordern Sie? Jhr' ist die erste Stelle,

Mit Jntendantenrang in meiner Leibcapelle,
[339]
Empfangen Sie zum Pfand den Ring ─ und diese

Uhr!“

Mein Sänger, dem nichts als die Schelle

Zum Narren fehlt', bläst zur Karrikatur

Sich auf, und küßt den Rock, und pfeifet: „Monseigneur,

Suis à vos ordres, für fünftausend Gulden.“

Betäubt, als sah' er schon, zur Geisel seiner Schulden,

Sich den Sequester nahn, erwiedert in C dur

Der Fürst: „Wie? was? Jhm Gurgler! Jhm? fünftausend

Gulden?

Mein Kanzler hat fünfhundert nur!“

„Mag seyn, spricht der Sopran mit unverschämtem

Lachen,

Die Kanzler können Sie auch Dutzendweise machen;

Doch ein Talent, wie meines, macht Natur.“

6) von v. Thümmel († 1817).


Die Frau Gemahlin und ihr Gemahl.


Der Frau Gemahlin ihrem Mann

─ Jch wollte dir den Namen sagen,

Allein er geht uns hier nichts an;

Wozu auch das in unsern Tagen? ─

Ward eine Sache vorgetragen.

Er sprach: die Sach' ist von Gewicht;

Jch müßte mich des Ausgangs schämen,

Und kurz ─ ich kann sie nicht auf meine Hörner nehmen.

Hier sah ihm Frau Gemahlin ins Gesicht: ─

Mein Schatz, Sie kennen ihre Stärke nicht.“

7) von Pfeffel († 1809).


Der Bußprediger.


Der wilde Pater Chrysolog,

Der täglich neue Ketzer machte,
[340]
Und täglich neue Wunder log,

Die selbst der Pöbel oft belachte,

Stieg einst, es war zur Faschingszeit,

Auf einen Eckstein, um zu lehren,

Und von dem Dienst der Eitelkeit

Das Volk zur Buße zu bekehren.

Schon hatte der erhitzte Streit

Mit Sünd' und Teufel angehoben,

Als ein Hannswurst mit lautem Toben

Der Hörer dichten Damm durchbrach.

Schnell ward der Prediger verlassen;

Janhagel lief durch alle Gassen

Dem bunten Pickelhering nach.

Der Mönch ergrimmte. Welche Schmach,

Rief er, ein Auswürfling der Hölle,

Ein Narr entlocket euch der Quelle

Des Heils, und tödtet euern Durst

Nach Weisheit! Ach, ihr seyd verloren!

Bin ich, ihr Gottvergeßnen Thoren,

Denn nicht so gut, als ein Hannswurst?

8) von Pfeffel.


Die zwei Griechen.


Zwei Griechen, welche durch das Band

Der Sympathie verbrüdert waren,

Verließen jung ihr Vaterland

Und suchten Glück bei den Barbaren.

Das Schicksal trennte sie. Porphyr

Kam nach Jllyrien, ward Kriegsknecht, Officier,

Spion, Feldmarschall, Großvezier,

Und kurz, in zwei und zwanzig Jahren

Bestieg er, als der Schwiegersohn

Des Königs, den ererbten Thron.
[341]
Aret, der nichts von ihm erfahren,

Kam als ein armer Philosoph,

Vom Unglück stets verfolgt, an seines Freundes Hof,

Der eben Audienz ertheilte.

Was seh ich, Himmel, rief Aret,

Der weinend ihm entgegen eilte,

Porphyr, mein Bruder! ─ Was? fiel seine Majestät

Erröthend ihm ins Wort; hinweg mit diesem Tollen,

Der unsern Stand vergißt! Vielleicht hat gar ein Feind

Sich hinter ihm verbergen wollen. ─

Vergieb mir, sprach Aret, ich hätte keinen Freund

Auf einem Throne suchen sollen!

9) von Pfeffel.


Die Jnjurienklage.


Vor einem edlen Magistrat

Erschien Herr Maß, ein neugebackner Rath,

Und sprach: Hochweise Herrn, ein frecher Zeitungsschreiber


Beschimpfte mich; da lesen Sie sein Blatt,

Und rächen mich an diesem Ehrenräuber.

Er sagt: ein teutscher Titus hat

Jüngst einen Schöps zu seinem Rath erhoben.

Herr, sprach der Präsident, wir haben keine Proben;

Sie sind ja nicht genannt. ─ Ei, Sie befremden mich,

Rief Matz, wer kann der Schöps wohl anders seyn,

wie ich?

10) von v. Gökingk.


Predigt am Magdalenentage.


Ein Priester predigte am Fest der Magdalene

Vom Gräuel ihrer ersten Lebensart;
[342]
Doch ward hernach das Lob der Schöne,

Ob ihrer Reu' und Buße, nicht gespart.

Nun, fuhr der Redner zu den Damen,

Die vor ihm saßen, eifernd fort:

Wie viel sind unter Euch, die mehr an diesen Ort

Sich zu belustigen, als zu erbauen, kamen!

O, sonderlich ist Eine unter Euch,

Bei der hilft weder Drohn noch Bitten;

An unverschämten lüderlichen Sitten

Bleibt sie vielmehr sich immer gleich.

Wie heilig hat sie alle Jahr

Jm Beichtstuhl Besserung versprochen!

Allein wie bald ward dies Gelübd' gebrochen!

Und da sich ihre Frechheit immerdar

Noch gar vermehrt: wer kann uns übel nehmen,

Wenn endlich wir sie öffentlich beschämen?

Denn, sagt die Bibel, wenn dein Bruder fehlt,

Erinnr' ihn ein= auch zweimal dran;

Doch wenn er dann den Weg der Besserung nicht wählt,

So zeig's nach Pflicht der Kirche an.

Das will auch ich jetzt thun. Es ist ─ es ist ─

Was meint ihr? Soll ich namentlich sie nennen?

Jch sollte billig wohl; doch wißt ─

Allein, warum nicht? Gut, ihr sollt sie kennen!

Vielleicht bringt dies zu ihrer Pflicht

Sie noch zurück, so leid mir's thut, sie zu beschämen.

Es ist ─ doch ohne Makel könnt' ich nicht

Den Namen nur einmal auf meine Zunge nehmen.

Jch will sie denn auf andre Art der Welt

Kund machen, und einmal an ihr das Strafamt schärfen.

Dort sitzt sie! Wie sie sich nicht stellt!

Jetzt werd' ich mein Gebetbuch nach ihr werfen;

Gebt Acht! gebt Acht! auf welch' es fällt! ─
[343]
Jndem er nun empor mit seinem Buche fuhr,

War jede bange vor dem Falle,

Und jede bückte sich. ─ „Verdorbene Natur,

Jch dacht', es wäre Eine nur;

Nun seh' ich erst, sie sind es Alle!“

11) von v. Aloys Schreiber.


Der Bramin.


Zu einem alten weisen Bramen,

(Die Zeit verlor uns seinen Namen!)

Der, ferne von der Thorheit Spiel,

Jn einer stillen Klause lebte,

Und da durch guten Rath, so viel

Er konnte, noch zu nützen strebte,

Kam einst ein junger Biedermann,

Und redet ihn bescheiden an:

Mein Vater, bange Zweifel quälen

Schon lange, lange meine Brust;

Der Tugend Bahn ging ich mit Lust;

Doch welch System soll ich erwählen?

Als Knabe schon saß ich im Staub

Der Schule zu der Weisen Füßen,

Und horchte ihren strengen Schlüssen,

Und blieb doch stets der Zweifel Raub.

Der eine rief: geh meine Wege!

Der andre: näher führ' ich dich!

Ein dritter sprach Sanscritt für mich.

Der Brame lächelt: O, die Rege

Zum Guten gibt die Schule nicht!

Dein eignes Herz kennt jede Pflicht,

Mein Sohn; bewahre seine Lehren,

Und folge ihnen stets mit Muth.

Das übrige sind taube Aehren,

Nur für gelehrte Scheunen gut.
[344]

49.
f) Die Fabel.


Je häufiger der eigenthümliche Charakter der
Fabel verkannt, und die poetische Erzählung mit
der Fabel verwechselt wird; desto nöthiger ist es,
die unterscheidenden Merkmale der Fabel von jeder
andern Form der epischen Dichtkunst aufzufassen,
und die Eigenthümlichkeit derselben, im Sinne der
eigentlichen äsopischen Fabel, herzustellen. Denn
nur die äsopische (die Thier=) Fabel verdient ausschließend
diesen Namen, weil durch sie eine selbstständige,
von jeder andern verschiedene, dichterische
Form in den Kreis der epischen Dichtungsarten eintritt,
in wiefern nämlich das Eigenthümliche der
Fabel darauf beruht, menschliche Jndividuen,
Zustände und Handlungen in dem, der
menschlichen Freiheit verwandten, Kreise
des Jnstinkts in der Thierwelt,
unter der
Einheit einer vollendeten ästhetischen Form darzustellen.
Jn der Fabel erscheint daher der Mensch
nicht selbst, nach seiner Jndividualität und nach den
Wirkungen seiner Freiheit; er wird aber unter der
symbolischen Hülle des Jnstinkts versinnlicht. So
gewiß also, nach dieser Ansicht, nie ein menschliches
Jndividuum, sondern nur ein, nach seinen Eigenschaften
und nach seiner Ankündigung bekanntes,
Thier in den Mittelpunct einer Fabel gestellt werden
darf; so gewiß wird doch auch die Fabel nicht
der Darstellung des Thieres selbst wegen

gedichtet. Es soll vielmehr der Mensch im Spiegel
des Jnstinkts, eben so wohl nach den Ankündigungen
seiner Freiheit überhaupt, wie nach den Verirrungen
derselben, sich wieder erkennen, weil ─ [345]
ungeachtet aller ursprünglichen Verschiedenheit des
Kreises der menschlichen Freiheit und des thierischen
Jnstinkts ─ doch zwischen beiden theils eine Aehnlichkeit
in Hinsicht auf die Hervorbringung einer
äußern Wirkung in Angemessenheit zu einem vorausgegangenen
innern Antriebe, theils sogar eine
Verwandtschaft statt findet, da der Mensch,
neben der seiner übersinnlichen Natur zustehenden
Freiheit, in seiner sinnlichen Natur ebenfalls einen
thierischen Jnstinkt wahrnimmt, und dieser nicht
selten, in den äußern Handlungen des Menschen,
ein Uebergewicht über die Ankündigung der sittlichen
Freiheit behauptet. Der Mensch soll nämlich, im
ästhetisch vollendeten Gegenbilde, sein eignes Bild,
nach seinen guten Seiten, so wie nach seinen Fehlern
und Mängeln, unter der Hülle der Dichtung
erkennen. Sobald daher in der Darstellung der
Fabel an die Stelle der Thiere entweder Menschen
oder Gegenstände der leblosen Natur treten,
verdient die ästhetische Form nicht mehr den
Namen der Fabel, obgleich, in einzelnen Fällen,
gleichsam als Ausnahme von der Regel, Gegenstände
der leblosen Natur,
gleich den
Thieren, in den Mittelpunct der Fabel gestellt werden
können, sobald, in einer allerdings sehr starken
Personification, diesen leblosen Gegenständen Wirkungen
beigelegt werden, die sich nach einer gewissen
Verwandtschaft und Aehnlichkeit mit den Wirkungen
der menschlichen Freiheit ankündigen. Denn die eigenthümliche
Versinnlichung des Kreises der menschlichen
Freiheit innerhalb des in sich abgeschlossenen
Kreises des thierischen Jnstinkts beruht eben darauf:
daß der Charakter der als handelnd aufgestellten
Thiere allgemein bekannt ist, und daß man bei der [346]
Anschauung der ästhetisch vollendeten Form der Fabel
stillschweigend voraussetzt, der Dichter schildere
die Thiere nicht um ihrer selbst willen, sondern gebe
eine menschliche Jndividualität unter der glücklich
ergriffenen Aehnlichkeit derselben mit einem thierischen
Wesen.


Ob nun gleich im Kreise der Thierwelt keine
Freiheit und Sittlichkeit angetroffen wird; so folgt
daraus doch keinesweges, wie einige Theoretiker
wollen, daß die Fabel blos Klugheitsregeln, nicht
aber sittliche Ankündigungen ─ Tugenden und Verirrungen
der Freiheit ─ versinnlichen könne. Denn
nicht nur, daß der für die Fabel geeignete Kreis
darstellbarer Stoffe durch diese Forderung sehr beengt
werden müßte; es haben auch die ausgezeichnetsten
Fabeldichter nicht blos Klugheitsregeln, sondern
auf gleiche Weise sittliche Erscheinungen und
sittliche Vorschriften vergegenwärtigt. Dies folgt
von selbst aus der Bestimmung der Fabel, die Ankündigungen
und Wirkungen der menschlichen Freiheit
unter der Hülle des Jnstinkts zu versinnlichen,
so, daß wenn auch den Thieren nicht Freiheit des
Willens zukommt, doch in Angemessenheit zu den
Antrieben des Jnstinkts nicht selten Wirkungen geschildert
werden, welche die sittlich entarteten Wesen
unsrer Gattung zu beschämen vermögen; z. B. in
der Kindesliebe; in der Treue; in der Anhänglichkeit,
in der Aufopferung für seinen Herrn u. s. w.
Denn wenn das Thier, geleitet vom Jnstinkte, in
seinen Aeußerungen naturgemäßer, unverdorbener
und edler sich ankündigt, als der in sittlicher Hinsicht
ausgeartete, von seinem Eigennutze und von
seinen Leidenschaften fortgerissene Mensch; so muß
durch die Versinnlichung dieses Kontrastes zwischen [347]
dem sicher führenden Jnstinkte und der sich von ihrem
Ziele entfernenden Freiheit eine große Wirkung
hervorgebracht werden.


Doch gehört als unnachläßliche Bedingung dazu,
daß die Fabel in ästhetischer Hinsicht nach der Einheit
ihrer Form vollendet sey, so daß diese Form
um ihrer selbst willen, auch abgesehen von dem im
Stoffe enthaltenen Jndividuum, gefällt. Die Fabel
soll nämlich die höchste Anschaulichkeit und Lebendigkeit
der in ihr verhüllten Wahrheit bewirken, und
deshalb soll die Hülle, welche das Gegenbild des
wirklich gemeinten Gegenstandes enthält, das Gepräge
der möglichst höchsten ästhetischen Vollendung
an sich tragen. Daraus folgt von selbst, daß nur
diejenige Fabel den Charakter eines dichterischen
Kunstwerkes
behauptet, welche in ästhetischer
Einheit vollendet ist, so wie viele sehr gut gemeinte
Fabeln (z. B. für Kinder berechnet) in pädagogischer
Hinsicht brauchbar seyn können, ohne doch die Forderungen
des gereiften Geschmacks an die ästhetische
Gediegenheit der Form zu befriedigen.

50.
Beispiele der Fabel.


1) von Bonerius (der in der zweiten Hälfte
des 14ten Jahrhunderts lebte).


Ein Fuchz hungern began,

Unter einen hohen Boum er kan,

Uf den ein rapp kam gepflogen

Mit einem Kes gezogen,

Den er geroubet hatte do;

Des was der Fuchz unmassen fro.

Do in der Fuchz erst an sach,
[348]
Mit glatten worten er do sprach:

Got gruez dich lieber Herre min,

Uiwer diener wil ich sin,

Und iemer wesen niwer knecht,

Das dünkt mich billich unde recht.

Jr sind so edel wnd so rich,

Kein vogel mag sin niwer glich

Jn allen kuinierichen;

Jch wên uich (euch) muos entwichen

Der sperwer und das faelkelin,

Der habk und ouch des pfawe schin.

Sueß ist uiwer (eurer) kêlen schal,

Uiwer stim hoert man überal

Jn dem walt erklingen,

Wen ir geraten singen;

Des hab ich wol genomen war.

Der rapp sprach, das sol sin an alle var.

Er liez sin stim us und sang,

Das es dur den walt erklang.

Jn dem gesang enpfiel im do

Der kês; das wart der Fuchz vil fro

Des muost der rappe schamrot stân,

Darzuo muost er den schaden hân.

2) von Burcard Waldis († nach 1554).


Von den schwangern Bergen.


Jn alten zeiten, vor tausent Jarn

Begab sichs, wie ich hab erfarn,

Ein Landtgeschrey kam vnder die leut,

Wie die Berge zur selben zeit

Schwanger waren vnd solten geberen.

Alls Volck lieff zu, mit grossem begeren,

Vnd kam zusamen ein grosse schaar
[349]
Auß vielen Landen gelauffen dar,

Vnd schauwten an die Berge groß;

Sie waren bauchet über dmoß,

Ein lange zeit sie da erharten

Mit grosser forcht theten erwarten

Wenn sich nun offne würd die Erden

Was seltzams dings darauß solt werden,

Ein Dromedari oder Elephant,

Oder sonst ein wunder vnbekannt.

Zu letst kroch zu dem Berg herauß

Ein kleine lecherliche Mauß;

Als sie heraus lieff' und sich regt,

Ward alles Volk zu lachen bewegt.

3) von v. Hagedorn († 1754).


Der Bauer und die Schlange.


Ein Ackersmann fand eine Schlange,

Die fast erstarrt vor Kälte war.

Sein Arm entriß sie der Gefahr

Und ihrem nahen Untergange.

Er nahm sie mit sich in sein Haus,

Und sucht' ihr einen Winkel aus,

Wo noch ein Rest von Reisern glühte.

Doch, als ihr Frost und Noth entwich,

Erhohlte, regt' und hob sie sich,

Und lohnte dem mit Biß und Stich,

Den ihre Rettung so bemühte.

Betrogne Huld und Zärtlichkeit,

Die Frevlern blindlings Hülfe beut.

Hier folgt der Schade stets der Güte.

4) von Löwen († 1771).


Ein Esel trug des Volkes größten Götzen,

Und jederman ging in Prozession.
[350]
Nun kennt man ja die guten Esel schon,

Wie wichtig sie sich immer schätzen.

Auch dieser Esel war so kühn,

Und meinte: alle die Gesänge,

Das Niederknien, der Weihrauch, das Gepränge,

Kurz, alles sey für ihn.

Ein klüg'res Thier, das dieser Dummheit lachte,

Rief ihm ins Ohr: Herr Esel, glaube mir,

Der Reverenz, den jetzt der Pöbel machte,

Galt deinem Götzen, und nicht dir.

Was hier die Fabel spricht, gehöret

Für manche Excellenz und manche Herrlichkeit.

Was auch der Pöbel oft an Jhro Gnaden ehret,

Wovor er tief sich bückt, was ist es wohl? ─ sein Kleid!

5) von Joh. Benj. Michaelis († 1772).


Die Buße der Wölfe.


Zwei Wölfen kam bei sattem Magen

Einmal die liebe Buße ein.

Zwei Wölfen? wird mein Leser fragen. ─

Genug die Fabel sagts; ─ soll denn bei sattem Magen

Nicht auch einmal ein Wolf die Missethat bereun;

Da mancher wohl in unsern Tagen,

Der noch um eins Gesetz und Recht verdreht,

Um zwei Uhr in die Beichte geht!

Sie fingen also an, ihr Leben zu beklagen.

Ach, heulte Jsegrimm, wir haben viel gethan!

Viel, hob der andre Sünder an.

Ach, fuhr der erste fort, wie viel, das ich verschweige,

Sah dieser fürchterliche Zeuge,

Der Wald und unsre Höhle an.

Wie manche Mutter sucht noch jetzt ihr Kind mit Aengsten!

Wie manches Schaf beweint die Frucht!
[351]
Allein von nun an sey die Grausamkeit verflucht;

Denn ehrlich, Bruder, währt am längsten.

So heulten sie, und weinten bitterlich

Aus inn'rer Reue über sich.

Allein im allerbesten Beten

Zeigt sich ein Schaf ─

Ein jeder war betreten.

Die Buße ─ und ein fettes Schaf!

Je, fing drauf einer an, weil uns das Glück so traf,

Wer weiß, wenn's wieder kommt! Komm, Bruder, friß

das Schaf;

Wir können morgen weiter beten.

6) von Michaelis.


Die Hähne und der Marder.


Die Herrschsucht, die mit jedem Ei gebohren

Und mit der Zeit genährt, von Hahn zu Hahne stammt,

Die Herrschsucht, sag' ich, war's, durch die, zur Wuth

entflammt,

Zwei Hähne sich den Tod geschworen.

Sieg oder Sterben, ihr Entschluß,

Stieß Brust auf Brust, und Fuß auf Fuß.

Ein Schnabel prallte von dem andern.

Ein Marder saß unfern in Ruh,

Und sah dem Spiele lange zu.

Nu, nu, sprach drauf der Schelm mit Lachen,

Jch will geschwinde Friede machen.

Gleich sprang er einem ins Genick,

Und wanderte mit ihm zurück.

Der andre flatterte indeß zum Hühnerhause,

Und krähte zehnmal wohl dem Friedensstifter zu:

Wie schmeckt das Morgenbrod? ─ So gieb dich doch

zur Ruh,
[352]
Erwiederte der Dieb; du sollst, ich schwör' dir's zu,

Sowahr ich ehrlich bin! gewiß zum Abendschmause.

7) von Lessing († 1781).


Der Rabe.


Der Rabe bemerkte, daß der Adler volle dreißig Tage
über seinen Eiern brütete. Daher kommt es ohne Zweifel,
sprach er, daß die Jungen des Adlers so scharfsehend
und stark werden. Gut, das will ich auch thun!
Und seitdem brütet der Rabe wirklich ganze dreißig Tage
über seinen Eiern; aber noch hat er nichts, als elende
Raben, ausgebrütet.


8) von Lessing.


Der Dornstrauch.


Aber sage mir doch, fragte die Weide den Dornstrauch,
warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden
Menschen so begierig bist? Was willst du damit?
was können sie dir helfen?


Nichts, sagte der Dornstrauch. Jch will sie ihm
auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.


9) von Pfeffel († 1809).


Der Bandwurm.


Der Sultan Leu war krank; ihn plagte

Ein Hunger, der mit steter Wuth

An seinem Eingeweide nagte.

Sein Leibarzt rieth ihm kurz und gut

Zu essen. Der Monarch vollstreckte

Die Vorschrift so gewissenhaft,

Daß er das Land mit Knochen deckte,

Und selbst die hohe Dienerschaft
[353]
(Er fing schon an) verschlungen hätte,

Wenn ihn der Tod nicht weggerafft.

Nun ward, nach alter Etikette,

Der Leichnam durch den Arzt secirt.

Er fand mit schauderndem Erstaunen

Jn den durchlauchtigen Kaldaunen

Den größten Bandwurm einquartirt.

Nach der Bestattung des Erblaßten

Berief der Divan alle Kasten;

Und man befahl durch ein Decret

Dem Mufti, seinen Litaneien

Die fromme Formel einzustreuen:

Behüt', o mächtiger Prophet,

Vorm Bandwurm Seine Majestät.

10) von Pfeffel.


Die Beförderung.


Des Löwen rauher Majestät

Ward von der weisen Facultät

Einst eine Cur von Eiern angerathen;

Des Tags ein Schock. Die Cur schlug trefflich an;

Doch eh die Herren sichs versahn,

Gebrach es an Arznei. Dem siechen Potentaten

Ging dieser Mangel nah. Als dies der Fuchs erfuhr,

Erbot er sich mit einem hohen Schwur,

Jhn bis zum Ueberfluß mit Eiern zu versehen;

Und, wie man leicht errathen kann,

Bedachte sich der Großsultan

Nicht einen Augenblick, den Vorschlag einzugehen.

Nun streifte Reinecke mit Paß durch Stadt und Land,

Und wo er eine Henne fand,

Verschlang er sie. Dem hohen Potentaten

Bracht' er den Eierstock. „Vortrefflich, lieber Sohn,
[354]
Rief der Monarch, was geb' ich dir zum Lohn?

Wohlan, ich mache dich zum ─ Kammerpräsidenten.

11) von Pfeffel.


Der Pelikan.


Gesengt vom heißen Wittagswind

Erstarb die Flur. Die Nymphe klagte

Am trocknen Quell; und täglich jagte

Der Hunger und sein Mordgesind,

Die Seuchen, ganze Hekatomben

Von Thieren in die Katakomben

Der alten Nacht. Ein Pelikan

Am Jda litt mit seinen Jungen

Des Orcus Durst. Der Hyderzahn

Des Tods, mit dem er lang gerungen,

Durchwühlt ihr Mark. Von Harm durchdrungen,

Sieht er verstummt die ganze Brut,

Mit hohlem Aug' und heiserm Aechzen

Nach einem Tropfen Wassers lechzen.

Jetzt bricht sein Herz; voll schöner Wuth

Reißt er mit der gestählten Spitze

Des Schnabels eine tiefe Ritze

Sich in die Brust, und spritzt sein Blut

Den Kindern in die dürre Kehle.

Sie trinken froh den Purpursaft

Und schöpfen, wie vom frischen Oele

Die seichte Lampe, neue Kraft.

Nur folgt dem schaurigen Befehle

Das jüngste nicht. Sein starrer Blick

Klebt auf der Wunde; seine Seele

Zerreißt ihr Band; es sinkt zurück,

Verhüllt sein Haupt mit seinem Flügel ─

Und stirbt. ─ Von dem geweihten Hügel
[355]
Schaut Vater Zeus mit stiller Lust

Jn dieses Heiligthum der Liebe.

Er weint. Der göttlichste der Triebe,

Das Mitleid, schwellt des Rächers Brust;

Er wischt den Tod vom Augenliede

Des Martyrers. Der Pelikan

Wacht glänzend auf, und der Chronide

Nimmt ihn zum zweiten Vogel an;

Doch nicht als Diener seines Zornes,

Der mit dem Blitz bewaffnet ist;

Als Träger jenes Segenshornes,

Das er auf fromme Kinder gießt.

12) von Gleim († 1803).


Zum Löwen sprach der Fuchs: Jch muß

Dir's endlich nur gestehen, mein Verdruß

Hat sonst kein Ende;

Der Esel spricht von dir nicht gut;

Er sagt: was ich an dir zu loben fände,

Das wiss' er nicht; dein Heldenmuth

Sey zweifelhaft; du gäbst ihm keine Proben

Von Großmuth und Gerechtigkeit;

Du würgetest die Unschuld, suchtest Streit;

Er könne dich nicht lieben und nicht loben.

Ein Weilchen schwieg der Löwe still;

Dann aber sprach er: Fuchs, er spreche, was er will;

Denn was von mir ein Esel spricht,

Das acht' ich nicht.

13) von Ewald Christian v. Kleist († 1759).


Der gelähmte Kranich.


Der Herbst entlaubte schon den bunten Hain

Und streut' aus kalter Luft Reif auf die Flur;
[356]
Als am Gestad' ein Heer von Kranichen

Zusammenkam, um in ein wirthbar Land,

Jenseits des Meers, zu ziehn. Ein Kranich, den

Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, saß

Allein, betrübt und stumm, und mehrte nicht

Das wilde Lustgeschrei der Schwärmenden,

Und war der laute Spott der frohen Schaar.

Jch bin durch meine Schuld nicht lahm, dacht' er

Jn sich gekehrt, ich half so viel, als ihr,

Zum Wohl von unserm Staat. Mich trifft mit Recht

Spott und Verachtung nicht. Nur ach, wie wird's

Mir auf der Reis' ergehn, mir, dem der Schmerz

Muth und Vermögen raubt zum weiten Flug'!

Jch Unglückseliger! Das Wasser wird

Bald mein gewisses Grab. Warum erschoß

Der Grausame mich nicht? ─ Jndessen weht

Gewogner Wind vom Land' ins Meer. Die Schaar

Beginnt geordnet jetzt die Reis' und eilt

Mit schnellen Flügeln fort, und schreit vor Lust.

Der Kranke nur blieb weit zurück, und ruht'

Auf Lotosblättern oft, womit die See

Bestreuet war, und seufzt vor Gram und Schmerz.

Nach vielem Ruhn sah er das beß're Land,

Den mildern Himmel, der ihn plötzlich heilt.

Die Vorsicht leitet ihn beglückt dahin;

Und vielen Spöttern ward die Flut zum Grab.

Jhr, die die schwere Hand des Unglücks drückt,

Jhr Redlichen, die ihr mit Harm erfüllt,

Das Leben oft verwünscht, verzaget nicht,

Und wagt die Reise durch das Leben nur;

Jenseits des Ufers giebt's ein beß'res Land;

Gefilde voller Lust erwarten euch!
[357]

14) von Burmann († 1805).


Der Esel und der Fuchs.


Auf unschätzbare Lasten stolz ─

Denn Esel tragen oft sehr große Säcke Golds ─

Tappst einer bei dem Fuchs vorbei.

Herr Esel, rief der Fuchs, warum so aufgeblasen;

Wiewohl die Zeiten sind nicht immer einerlei,

Jch weiß doch sonst, wie demuthsvoll Sie grasen!

Sind die Juwelen Schuld, die heut' Jhr Buckel trägt?

O lassen Sie den Kitzel sich vertreiben.

Gesetzt, daß man halb Peru auf Sie legt;

Sie werden doch ein Esel bleiben!

15) von Joh. Nic. Götz († 1781).


Die gegenseitige Räucherung.


Auf einer blassen Haide

Von Lethe still durchflossen,

Erblickt' ich, vor einander

Auf ihrem Steiße sitzend,

Die Schatten zweier Esel.

Mit einem Vorderfuße

Schwang jeglicher ein Rauchfaß

Voll Ambra vor der Nase

Des Bruders hin und wieder,

Den Bruder zu verehren.

Als ich erstaunet da stand,

Sprach Minos: Siehe, Jüngling,

Zwei alte Schulmonarchen,

Die sich in ihrem Leben,

Weil sie die Welt nicht lobte,

Einander selber lobten.
[358]

16) von Tiedge.


Das Privilegium.


Der Vogel Zeus, der, wie ihr wißt,

Der Großsultan der Vögel ist,

Hatt' einen Landtag ausgeschrieben.

Die Vögel kamen all' herbei;

Und ward auch wohl nicht viel betrieben,

So gab es doch viel Schmauserei.

Mitunter wurden denn auch Klagen

Dem hohen Sultan vorgetragen.

Es war ein Sprosser, der begann.

Hart klagte der die Melodramen

Des unbescheidnen Kukuks an.

„Der Kukuk schreit, so hub er an,

Bis zum Betäuben seinen Namen

Jm ganzen, weiten Wald herum.

Erhabner Adler, mach' ihn stumm!

Wir alle hören lieber Raben,

Als diesen Narrn, den Wald durchschrein.“ ─

Der Adler sprach: „Ein Narr zu seyn,

Die Freiheit muß ein jeder haben!“

17) von Zink.


Der Affe.


Ein alter Affe setzte sich

Zu seiner Lieblingskost, zu reifen Haselnüssen.

Nachdem er Eine kümmerlich

Mit stumpfen Zähnen aufgebissen,

Sprach er voll Unzufriedenheit:

Wie Alles doch sich ändert mit der Zeit!

Die Nüsse selbst; auch diese waren

Bei weitem nicht so hart in meinen Jugendjahren!
[359]

18) von Pfeffel.


Der Phönix.


Der Phönix lag auf seinem Sterbebette

Von Myrrhen, Aloe und Zimmetreis.

Minervens Kauz, ein Denker, wie man weiß,

Erspähte die geweihte Stätte,

Und sprach zum Einzigen: So, glaubst du, blöder Greis,

Daß, hat die Glut zur Asche dich verzehret,

Dein Jch verneut ins Leben wiederkehret?

Der Phönix schwieg. Der Kauz fuhr fort: Erkläre mir,

Was gründet deinen Wahn von einem andern Leben?

Jch fordre stets Beweis. Den kann ich dir,

Versetzt der Phönix, wohl nicht geben;

Denn was man fühlt, beweist sich nicht,

Und ein Gefühl, das laut, wie ein Orakel, spricht,

Sagt mir: ich werde nicht vergehen.

Drauf stecket er mit heit'rer Zuversicht

Den Holzstoß an, und ruft: Auf Wiedersehen!

Der Phönix, lieber Freund, philosophirte schlecht,

Allein er wußte froh zu sterben,

Und wer nicht fühlt, wie er, hat, wie mich dünkt, kein

Recht,

Jhm seine Freude zu verderben.

19) von Krummacher.


Die Raupe und der Schmetterling.


Dicht an der Erd' auf dunkelm Strauche saß

Eine rauchbehaarte Raup' und fraß

Das herbe Laub. Da schwebte auf leichtem Gefieder

Vom bläulichen Himmel ein Schmetterling hernieder:

Jhn trugen die spielenden Wellen der Lüfte

Zur Blume, da trank er die würzigen Düfte.
[360]
Die Raup' erhob erstaunt vom dunklen Strauch

Jhr thierisch Haupt und seufzt: Auf niederm Bauch

Muß ich mich kriechend im Staube plagen,

Jndeß den Vogel dort durch die heitre Luft

Vier goldgeschmückte Schwingen tragen.

Jhn nährt der Blumen Saft und Duft,

Und ich muß herbes Laub zernagen! ─

Der Sommervogel sang: Getrost, mein verkleideter

Bruder, nicht immer

Wirst du dich plagen im rauhen Gewand;

Bald wird auch dich die freundliche Hand

Der Mutter bekleiden mit Schimmer:

Bald wird ein doppeltes Flügelpaar

Auch dich zum fröhlichen Leben erheben,

Den Staub abschüttelnd, verjüngt wie ein Aar,

Wirst du in den Lüften und Düften dann schweben.

Drum glaube und harre der besseren Zeit,

Und trage geduldig dein staubiges Kleid!

20) von Pfeffel.


Die Kirchenvereinigung.


Jn einer griechischen Abtei

Am Fuß des hohen Tabors, nährte

Der Prior einen Papagei,

Den er das Ave singen lehrte.

Der Prior starb. ─ Die Reis'lust wacht

Jm Virtuosen auf; er kehrte

Mit leisem Flug, bei dunkler Nacht,

Jns alte Vaterland zurücke.

Er stellte sich dem Hofe dar.

Der Adler, der zu gutem Glücke

Ein Freund der edlen Tonkunst war,

Erhob, als er in der Kapelle
[361]
Sein Lied begann, ihn auf der Stelle

An des verstorbnen Mufti Platz.

So hohe Würden hatte Matz

Sich auch im Traume nicht versprochen.

Doch Ehre bläht, Gewalt macht kühn!

Das neue Haupt des Sanhedrin

Gebar gleich in den ersten Wochen

Die Grille: seine Psalmodie

Bei allen Vögeln einzuführen.

Der frohe König billigt sie.

Der Waldgesang, die Liturgie

Des Herzens, konnt' ihn nicht mehr rühren;

War für sein Ohr Kakophonie.

Zudem ist ja das Reformiren

Der Fürsten Steckenpferd. Sogleich

Ließ er in seinem ganzen Reich

Den neuen Kanon publiciren. ─

Nun schützte zwar der Vögel Chor

Die hergebrachten Rechte vor;

Allein da half kein Protestiren.

Der Mufti drohte mit dem Bann,

Der Sultan sprach vom Stranguliren;

Und kurz, das neue Lied begann.

Die Sänger wetzten sich den Schnabel,

Und orgelten mit Angst und Pein

Das tollste Wirrwarr durch den Hain,

Das seit der Symphonie zu Babel

Auf unserm Erdenrund erscholl.

Den Vorsang führte, andachtsvoll,

Der Storch, der wälsche Hahn, die Eule,

Die Gans, der Kukuk und der Pfau.

Sie kollerten sich braun und blau,

Und füllten durch ihr Klaggeheule

Das Land auf eine halbe Meile.
[362]
Ein weißer Rabe, lahm und grau

Vor Alter, saß bei dem Monarchen

Und schwieg. Mit zornigem Gesicht

Sprach der Despot zum Patriarchen:

„Rebelle, warum singst du nicht?“ ─

„Weil dein Gebot mein Herz empöret,“

Versetzt der Alte, „glaube mir,

Der Schöpfer hat ein jedes Thier

Sein eigenes Gebet gelehret,

Das ihm gefällt. Ein Lobgesang,

Den Furcht erpreßt, ist Uebelklang,

Jst Lästerung, die ihn entehret.

Befiehl nur meinen Tod!“ ─ Er schwieg.

Der Sultan auch. Wie Meereswogen

Erschäumt sein Blut. ─ Noch schwankt der Sieg!

Doch schnell rief er: „Jch ward betrogen.

Heil dir, o Freund, du zogst mir ab

Den Schleier, der mein Aug' umgab.

Und ihr empfangt die Freiheit wieder,

Jhr Vögel; singet eure Lieder

Jn euerm angebohrnen Ton!“

Jetzt drangen sie in dichten Kreisen

Entzückt um des Monarchen Thron,

Und lobten Gott nach tausend Weisen.

Der majestätische Choral

Steigt wallend in die lichten Sphären.

Der Sultan staunt. Zum erstenmal

Hört er, was keine Mufti's hören:

Jn der verschied'nen Melodie

Die feierlichste Harmonie.
[363]

4) Die dramatische Form der Dichtkunst.


51.
Charakter und einzelne Theile der dramatischen
Form der Dichtkunst
*
.


Wenn gleich die dramatische Form der Dichtkunst
der epischen näher verwandt ist, als der lyrischen
und didactischen, weil sie, wie die epische, Gefühle
darstellt, welche in dem Gemüthe des dramatischen
Dichters mit der Vergegenwärtigung gewisser
Jndividuen, Handlungen und Thatsachen sich vergesellschaften;
so unterscheidet sie sich doch durch zwei
wesentliche Puncte von der epischen Dichtkunst, und
behauptet, nach denselben, einen eigenthümlichen Charakter.
Denn erstens darf in keinem Erzeugnisse
der dramatischen Dichtkunst die Jndividualität des
Dichters selbst wahrgenommen werden, wie dies in
der epischen Dichtkunst geschieht; vielmehr muß der
dramatische Dichter die ganze Handlung durch die
von ihm aufgestellten Personen beginnen, fortführen
und beendigen lassen, so daß das in sich zusammenhängende
und abgeschlossene Ganze des dramatischen
Gedichts als ein nothwendiges Ergebniß der menschlichen [364]
Freiheit erscheint, hervorgebracht durch die
äußere Wirksamkeit der von dem Dichter in den Mittelpunct
der Handlung gestellten Jndividuen. Daran
schließt sich die zweite, jedem dramatischen Gedichte
eigenthümliche, Bedingung, daß es durchgehends
für die Bühne berechnet
sey, und daß es durch
die theatralische Darstellung als schöne Form vollendet
werde. Durch diese zweite Bedingung erhält
das dramatische Gedicht eine äußere Aehnlichkeit
mit der Cantate in der lyrischen Form der
Dichtkunst, die zwar, als Gedicht, ein in sich zusammenhängendes
ästhetisches Ganzes bilden muß,
die aber, nach ihrer durchgängigen Berechnung für
die tonkünstlerische Darstellung, erst durch die Verbindung
mit einer gleichmäßig gediegenen musikalischen
Kunstform das Gepräge der ästhetischen Vollendung
erhält. ─ Ob nun gleich jede dramatische
Form, inwiefern sie blos als Gedicht, ohne theatralische
Darstellung, betrachtet wird, unmittelbar
nach ihrem dichterischen Gehalte ein reines
Wohlgefallen an der Einheit der ästhetischen Form
bewirken kann und soll; so würde doch die Unmöglichkeit
der theatralischen Darstellbarkeit derselben sie
von der Reihe aller derjenigen classischen dramatischen
Erzeugnisse ausschließen, deren Vollendung auf der
gleichmäßigen dichterischen Einheit und theatralischen
Darstellbarkeit beruht.


Fassen wir, nach diesen Vordersätzen, den Charakter
der dramatischen Dichtkunst auf; so beruht er
auf der vollendeten ästhetischen Form, welche, berechnet
für die theatralische Darstellung, eine in sich
nothwendig abgeschlossene Handlung versinnlicht, die,
nach ihrem Ursprunge, aus der tiefen Bewegung und
Erschütterung des menschlichen Gefühlsvermögens [365]
stammt. Denn obgleich die dramatische Dichtkunst
von der lyrischen dadurch wesentlich sich unterscheidet,
daß sie nicht unmittelbare Gefühle, sondern Handlungen
darstellt, welche aus der mächtigen Anregung
menschlicher Gefühle stammen, und deren Vergegenwärtigung
innerhalb der vollendeten Form unmittelbar
auf das Gefühlsvermögen wirkt; so muß doch
jedes dramatische Gedicht, wie das lyrische und epische,
eine in sich abgeschlossene Einheit, sowohl nach
dem Stoffe als nach der Form, bilden, und durchgehends,
nach ihrer eigenthümlichen Wirkung, für
die Darstellung auf der Bühne berechnet seyn.

52.
Fortsetzung.


Nach diesen Grundsätzen müssen die sogenannten
drei Einheiten des Aristoteles, die er
von jedem dramatischen Gedichte verlangt, beurtheilt
werden: die Einheit der Handlung, der Zeit
und des Ortes, welche namentlich von den ältern
französischen dramatischen Dichtern nicht selten mit
Aengstlichkeit festgehalten wurden.


Unerläßlich für die Vollendung eines dramatischen
Gedichts ist allerdings die Einheit der
Handlung.
Sie verlangt, daß der Stoff des
Drama ein in sich nothwendiges und bestimmt abgeschlossenes
Ganzes bilde. Es dürfen daher weder
Personen, noch Handlungen und Ereignisse in den
Stoff aufgenommen werden, die nicht in den Zusammenhang
der darzustellenden Handlung in irgend
einer Beziehung wesentlich gehören. Denn selbst
das, was in einem dramatischen Gedichte, bei dem
ersten Anblicke, zufällig zu seyn scheint, muß, am [366]
Schlusse des Ganzen, als nothwendige Bedingung
in dem Zusammenhange des ganzen Stoffes sich ankündigen.
Es darf daher kein Act, keine Scene,
selbst keine Stelle in den einzelnen Scenen, überflüssig
und müßig dastehen; es muß vielmehr ihr
Verhältniß zu dem sich allmählig bildenden und ründenden
Ganzen mit Sicherheit nachgewiesen werden
können. Dasselbe gilt auf gleiche Weise von der
Form des Drama. Sie muß, in Beziehung auf
die Forderungen des Gesetzes der Form, ein in sich
abgeschlossenes und vollendetes Ganzes bilden, so
daß die Sprachdarstellung im Drama gleichmäßig
den einzelnen Eigenschaften der Sprachrichtigkeit, wie
den untergeordneten Eigenschaften der Sprachschönheit
Genüge leistet.


So gewiß daher ohne Einheit der Handlung
kein dramatisches Gedicht auf Gediegenheit und ästhetische
Vollendung Anspruch machen kann; so gewiß
dürfen doch die beiden andern vom Aristoteles
geforderten, Einheiten ─ die Einheit der Zeit
und des Ortes
─ nicht als gleichgeltende Grundbedingungen
mit der Einheit der Handlung aufgestellt
werden. Denn, wenn gleich zugestanden wird,
daß die Einheit der Zeit, und selbst die Einheit des
Ortes in vielen dramatischen Erzeugnissen festgehalten
worden sind, und, nach dem Wesen des darzustellenden
Stoffes, auch in vielen derselben festgehalten
werden müssen; so stehen sie doch mit der
Einheit der Handlung nicht auf gleicher Linie der
Bedeutsamkeit, und treffliche dramatische Dichter haben
sie nicht festhalten wollen und festhalten können.


Soll aber das dramatische Gedicht als Einheit
in der Form sich ankündigen; so muß in dem
Mittelpuncte desselben eine Hauptperson, nach [367]
ihrem Thun und Leiden, erscheinen, von deren Verhältnissen
die ganze dargestellte Handlung ausgeht
und abhängt, und auf deren Schicksale, in den einzelnen
Theilen und Gruppirungen des Drama, alles
sich bezieht. Diese Hauptperson im Drama muß
daher der Einbildungskraft immer gegenwärtig seyn,
selbst wenn sie von der Bühne, in den einzelnen
Scenen, abgetreten ist; auch muß die Verwickelung
und Entwickelung des dramatischen Knotens
entweder von diesem Jndividuum selbst ausgehen,
oder doch ─ in Angemessenheit zu seiner freien
Thätigkeit ─ auf sein Schicksal den entschiedensten
Einfluß behaupten. Nach dem Verhältnisse, in welchem
der Dichter diese Hauptperson in den Mittelpunct
des Drama stellt, muß er, mit künstlerischer
Gewandtheit und ästhetischem Tacte, alle übrige im
Drama auftretende Personen, so wie die gesammte
Umgebung der Hauptperson, in Hinsicht auf den
Gang ihrer Wirksamkeit und ihres Schicksals, behandeln.



Die äußere Form des Drama, nach der Eintheilung
in Acte (Aufzüge) und Scenen (Auftritte),
hängt ab von der ästhetisch berechneten Folge
in der Handlung selbst, um vermittelst derselben die
innere Einheit des Ganzen fortzuführen und zu
vollenden, zu welcher die gleichmäßige Behandlung
der einzelnen Theile, und das innere und äußere
nothwendige Verhältniß derselben gegen einander,
wesentlich gehört. Die Anordnung, Verbindung
und Folge dieser Aufzüge und Auftritte ─
als der einzelnen nothwendigen Glieder und Theile
eines größern Ganzen ─ darf daher nicht der Willkühr
und dem Zufalle überlassen bleiben; sie muß
vielmehr aus dem Gesetze der innern Nothwen= [368]
digkeit hervorgehen, die theils in den Charakteren
der handelnden Personen, theils in dem Verhältnisse
der aus der Verwickelung des Knotens hervorgehenden
Entwickelung desselben, zur Ausmittelung der
ästhetischen Einheit des Ganzen, begründet ist. Denn
nach diesem Gesetze der innern Nothwendigkeit muß
jede Scene in Beziehung auf den Act, zu welchem
sie gehört, und jeder Act nach seinem Verhältnisse
zu der gesammten dramatischen Form ─ mithin nach
dem Verhältnisse der einzelnen Theile zu dem vollendeten
Organismus des Ganzen ─ erkannt werden
können, so daß durch die Menge der handelnden
Personen so wenig, wie durch die Mannigfaltigkeit
der einzelnen Handlungen und Scenen, welche in
dem dramatischen Gedichte angetroffen werden, die
Einheit der Handlung und die ästhetische Vollendung
der ganzen Darstellung gestört, sondern vielmehr
auf die sicherste Unterlage zurückgeführt wird. Aus
diesem Gesichtspuncte gefaßt, darf keine Person,
die im Drama erscheint, keine Scene, am wenigsten
ein ganzer Act, müßig dastehen und als überflüssig
erscheinen; vielmehr muß Ein Geist das
Ganze durchdringen, und dieser Geist muß, nach
seiner Kraft, gesteigert sich ankündigen, je mehr der
verflochtene Knoten der Handlung seiner Auflösung
und Entwickelung, ─ und zugleich das dramatische
Gedicht dem letzten Puncte seiner ästhetischen
Vollendung sich nähert. ─


Die Form der Sprache in dem dramatischen
Gedichte muß, im Allgemeinen, der dargestellten
ästhetischen Handlung angemessen seyn; sie wird
deshalb, nach Ton, Haltung und Farbengebung im
Einzelnen, im Trauerspiele anders, als im Schauspiele
und im Lustspiele sich ankündigen, obgleich in [369]
jeder Gattung und Art der dramatischen Dichtkunst
das einzelne dramatische Gedicht dem Gesetze der
Form,
nach seinen beiden Grundbedingungen, der
Wahrheit und Schönheit der Form, entsprechen
muß. Je verschiedener daher die einzelnen Stoffe
für das Trauerspiel, Schauspiel und Lustspiel sind;
desto verschiedener wird auch der stylistische Ausdruck
seyn; denn anders muß die Sprache im Wallenstein,
als im Egmont, anders in Müllners
Schuld,
als in Klingers Medea auf dem
Kaukasus,
anders in Werners Weihe der
Kraft,
als in Klingemanns Luther sich ankündigen,
obgleich die beiden letzten Dichter im Ganzen
denselben Stoff behandelten. Dazu kommt,
daß, obgleich der dramatische Dichter nicht selbst,
wie der epische, in der Darstellung seines Gedichts
erscheint, doch die Sprache im Drama, nach ihrer
Kraft und Fülle, nach ihrer Klarheit und Gediegenheit,
so wie nach der ganzen Farbengebung und
Haltung im Einzelnen, von seiner Jndividualität
ausgeht, die er nicht verläugnen kann. Nach
dieser psychologischen Nothwendigkeit erkennen wir
im Dichter der Jungfrau von Orleans, den Dichter
des Dom Karlos, des Fiesko, des Wallenstein und
der Maria Stuart, ─ im Dichter des Clavigo
und der Jphigenia den Dichter des Tasso und des
Egmont, ─ im Dichter der Albaneserin den
Dichter der Schuld, ─ im Dichter des Moses
den Dichter des Luther, ─ im Dichter der Freunde
den Dichter der Erdennacht (Raupach) wieder.
Denn so schöpferisch auch die Einbildungskraft des
dramatischen Dichters walten, und so vielseitig sein
Gefühl sich ankündigen mag; so liegt doch diejenige
nothwendige Beschränkung in jedem endlichen ─ [370]
selbst hochgebildeten ─ Geiste, daß er nicht aus
seiner Jndividualität ganz heraustreten, und seiner
eignen, bereits früher angekündigten, Classicität nach
allen ihren individuellen Eigenthümlichkeiten untreu
werden kann. Diese Einheit und Gleichmäßigkeit
in der Wahrnehmung der Jndividualität des classischen
Dichters ist aber, unter dem Reichthume und
der Mannigfaltigkeit der einzelnen dramatischen Formen
eines und desselben Dichters, eine sehr willkommene
Erscheinung. Denn nicht das Wiedererkennen
derselben Eigenthümlichkeit eines classischen
Dichters in der Behandlung eines neuen dramatischen
Stoffes, sondern nur die Nachahmung einer
entlehnten Manier stößt uns zurück, weil diese Nachahmung
als Armseligkeit des Geistes sich ankündigt,
bei welcher der Aufschwung zu einer eigenthümlichen
Gestaltung der dramatischen Form, und zur
Festhaltung und Durchführung dieser Eigenthümlichkeit
in allen einzelnen dramatischen Erzeugnissen
Eines und desselben Dichters unmöglich ist.


Die Hauptklippen, welche der dramatische Dichter
in Hinsicht der stylistischen Form vermeiden muß,
sind: daß er weder ins Gebiet der Sprache der
Prosa, noch ins Gebiet der Sprache der Beredsamkeit
hinüberstreife, außer in den äußerst seltenen
Fällen, daß der Stoff einen kurzen Uebergang
in diese beiden Sprachgebiete verlangt. Denn
selbst wenn der dramatische Dichter die Vorgänge
und Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens schildert,
muß doch die stylistische Form die Ergreifung dieser
Vorgänge von dem Gefühlsvermögen und die Wirkung
jener Erscheinungen auf das Gefühlsvermögen
überall hindurch schimmern lassen, weil jede Sprachdarstellung
des dichterischen Charakters ermangelt, [371]
die ohne irgend eine Verbindung mit dem
Gefühlsvermögen sich ankündigt. ─ Jn Hinsicht
auf die äußere Gestaltung der stylistischen Form
ist es aber der Dialog, in Abwechselung mit dem
Monologe, an welchen die Folge und Fortführung
der dramatischen Handlung geknüpft ist. Je
schärfer daher die Zeichnung der einzelnen, in dem
Drama auftretenden Charaktere, und je bestimmter
die Haltung und Durchführung dieser Charaktere
von Seiten des Dichters seyn wird; desto vielseitiger,
mannigfaltiger und abwechselnder wird das innere
Leben und die ästhetische Farbengebung im
Dialog seyn, weil ─ selbst bei der übrigen Gediegenheit
der dramatischen Sprachform ─ es Mangel
an Reichthum des Geistes und der Einbildungskraft
ankündigt, wenn entweder alle, oder doch die
meisten Personen in Einem und demselben Drama
ganz einerlei Sprache reden, und so die Mannigfaltigkeit
im Gepräge des Jndividuellen nothwendig
verloren geht.

53.
Fortsetzung.


Einer der ersten dramatischen Dichter des teutschen
Volkes, und was noch mehr sagen will, einer
der edelsten Männer dieses Volkes, hat die Schaubühne
als eine moralische Anstalt
* betrachtet [372]
und dargestellt. Dies macht eine kurze Erklärung
nothwendig.


Nach unsrer Ansicht und Ueberzeugung ist
weder der Zweck und die Bestimmung der dramatischen
Dichtkunst im Besondern, noch der Dichtkunst
überhaupt, der Zweck der Sittlichkeit. Der
Zweck der Schönheit ist vielmehr der höchste
Zweck aller Kunstwerke, mithin auch der gesammten
einzelnen Formen der lyrischen, epischen, didactischen
und dramatischen Dichtkunst. Die Bestimmung der
Dichtkunst beruht daher auf ihrer völligen Angemessenheit
zum Gesetze der Form, nicht aber zum Sittengesetze.
Daraus folgt aber weder, daß sie sittliche
Handlungen von sich ausschließen, noch daß sie vielleicht
gar das Unsittliche als Gegenstand des Wohlgefallens
auf die Bühne bringen soll. Nur so viel
ergiebt sich aus dem höchsten Gesetze der Schönheit
der Form, daß selbst das Sittliche,

das die Bühne zeichnet, unter der Form der
Schönheit sich ankündigen muß,
wenn es
unter die Stoffe der dramatischen Dichtkunst aufgenommen
werden soll; denn, unter Festhaltung
dieser Bedingung, wird allerdings der aus dem
Kreise der sittlichen Welt entlehnte Stoff das Gemüth
weit stärker ansprechen, als ein Stoff, der
blos dem Kreise der intellectuellen Welt ─ z. B.
der Vergegenwärtigung von Schwächen und Mängeln
des menschlichen Verstandes, oder von Wirkungen
des menschlichen Eigennutzes und der individuellen
Eitelkeit, ─ angehört. Mag immer in
Kotzebue's Lustspielen und Possen ein Langsalm,
ein Herr von Püffelberg, oder der Page in den
Pagenstreichen ein Gefühl der Lust in uns anregen,
und unsre Einbildungskraft in ein freies und [373]
lebendiges Spiel versetzen; so wird doch die sittliche
Kraft und Haltung des Marquis von Posa,
des Max Piccolomini, und des Klingemannischen
Luthers unser Gefühl stärker und mächtiger ergreifen,
als die bloße Versinnlichung menschlicher Schwächen,
Lächerlichkeiten und Verirrungen. Deshalb ist auch
das Sittliche dem Schönen nahe verwandt, und
wirkt unaufhaltbar, sobald es unter einer vollendeten
schönen Form erscheint. Nur darf weder das
dramatische Gedicht, noch die Bühne, an die Stelle
der Sittenlehre und der Religion auf dem Katheder
und der Kanzel treten und diese beiden geistigen
Bildungsanstalten ersetzen sollen, weil sie dies, nach
ihrer ursprünglichen Bestimmung, das Schöne
in vollendeten Formen darzustellen,
weder
zu leisten vermögen noch dürfen. Nur also unter dieser
Voraussetzung, und mit Festhaltung dieser Einschränkung
unterschreiben wir folgende Sätze Schillers
*: „Welche Verstärkung für Religion und
Gesetze, wenn sie mit der Schaubühne in Bund
treten, wo Anschauung und lebendige Gegenwart
ist, wo Laster und Tugend, Glückseligkeit und
Elend, Thorheit und Weisheit in tausend Gemälden
faßlich und wahr an dem Menschen vorübergehen,
wo die Vorsehung ihre Räthsel auflöset, ihren Knoten
vor seinen Augen entwickelt, wo das menschliche
Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten
Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke
verfliegt, und die Wahrheit, unbestechlich wie Rhadamanthus,
Gericht hält. Die Gerichtsbarkeit der
Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze
sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold [374]
verblindet, und im Solde der Laster schwelgt; wenn
die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten,
und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet;
dann übernimmt die Schaubühne Schwert und
Wage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen
Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und
Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem
Winke zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst
schon im Staube vermodern, werden durch den allmächtigen
Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und
wiederhohlen zum schauervollen Unterrichte der Nachwelt
ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den
Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken
ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei,
und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr
Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird;
keine Religion mehr Glauben findet; wenn kein Gesetz
mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch
anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter
wankt, und der Kindermord geschehen ist.
Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen,
und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen
preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche
Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche
Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch
zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung
mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung;
so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und
dauernder, als Moral und Gesetze. ─ Aber der
Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter
aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter
ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten,
ist sie für unsre Bildung noch geschäftig.
Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den [375]
Spiegel vorhält, und die tausendfachen Formen derselben
mit heilsamem Spotte beschämt. Was sie
oben durch Rührung und Schrecken wirkte, leistet
sie hier durch Scherz und Satyre. Die Schaubühne
allein kann unsre Schwächen belachen, weil
sie unsre Empfindlichkeit schont, und den schuldigen
Thoren nicht wissen will. Ohne roth zu werden,
sehen wir unsre Larve aus ihrem Spiegel fallen,
und danken im Geheimen für die sanfte Ermahnung.
─ Aber ihr großer Wirkungskreis ist noch lange
nicht geendigt. Die Schaubühne ist mehr, als jede
andere öffentliche Anstalt des Staates, eine Schule
der practischen Weisheit, ein Wegweiser durch das
bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den
geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. Jch
gebe zu, daß Eigenliebe und Abhärtung des Gewissens
nicht selten ihre beste Wirkung vernichten, daß
sich noch tausend Laster mit frecher Stirne vor ihrem
Spiegel behaupten; aber wenn wir auch diese
große Wirkung der Schaubühne einschränken, ─
wie unendlich viel bleibt noch von ihrem Einflusse
zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder
tilgt noch vermindert; hat sie uns nicht mit denselben
bekannt gemacht? Mit diesen Lasterhaften, diesen
Thoren müssen wir leben. Wir müssen ihnen
ausweichen, oder begegnen; wir müssen sie untergraben,
oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen
sie uns nicht mehr. Die Schaubühne hat uns das
Geheimniß verrathen, sie ausfindig und unschädlich
zu machen. ─ Zugleich ist die Schaubühne der
gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden
bessern Theile des Volkes das Licht der Weisheit
herunterströmt, und von da aus in mildern
Stralen durch den ganzen Staat sich verbreitet. [376]
Richtigere Begriffe, erläuterte Grundsätze, reinere
Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volkes;
der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens
verschwindet; die Nacht weicht dem siegenden
Lichte ─ Unmöglich darf auch der große Einfluß
übergangen werden, den die Bühne auf den Geist
einer Nation haben kann. Nationalgeist eines Volkes
nenne ich die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung
seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen,
worüber eine andere Nation anders meint und empfindet.
Was kettete Griechenland so fest an einander?
Was zog das Volk so unwiderstehlich nach
seiner Bühne? Nichts anders, als der vaterländische
Jnhalt der Stücke, der griechische Geist, das
große überwältigende Jnteresse des Staates und
der bessern Menschheit, das in derselben athmete.“


Zugestanden, daß alle diese Stoffe, insofern
sie ästhetisch darstellbar sind, im Bereiche der
dramatischen Dichtkunst liegen, und daß durch die
dichterische Gestaltung derselben viel auf das Gemüth
der Jndividuen und der Völker gewirkt werden
kann; so hängt doch diese Wirkung selbst zunächst
ab von der Vollendung der dramatischen
Form,
unter welcher diese Stoffe versinnlicht
werden, und deshalb bleibt, ─ ohne die sittliche
Wirksamkeit der Bühne zu verkennen oder abzuläugnen,
─ das Gesetz der Form, und nicht das
Sittengesetz, der höchste Maasstab für die Würdigung
der ästhetischen Vollendung dramatischer Dichtungen.



Die einzelnen Formen der dramatischen Dichtkunst
sind:


a) das Trauerspiel;


b) das Lustspiel;

[377]

c) das Schauspiel;


d) das Singspiel.

54.
a) Das Trauerspiel.


Das Trauerspiel ist, in vielfacher Hinsicht,
eben so dem ernsthaften Epos, wie das Lustspiel
dem komischen Epos verwandt; nur daß bei dem
Trauer- und Lustspiele als allgemeiner Grundzug
des Dramatischen vorwaltet: die Haltung und Durchführung
der Handlung durch die handelnden Personen
selbst, ohne Wahrnehmung des dramatischen
Dichters, und die Berechnung der dramatischen Form
für die Darstellung auf der Bühne.


Das Trauerspiel ist eine ästhetisch vollendete
Form, welche durch die Versinnlichung der
Art, wie die Freiheit des im Mittelpuncte der Handlung
erscheinenden Helden gegen die Macht des auf
ihn eindringenden Schicksals anstrebt, und durch die
Versinnlichung des endlichen Unterliegens
des Helden unter der Macht des Schicksals,

das gemischte Gefühl der Lust und Unlust
anregt und lebendig erhält, bis, in dem Augenblicke
der Vollendung der Handlung, das Uebergewicht
der Lust über das Gefühl der Unlust bewirkt wird
durch das reine Wohlgefallen an der selbst in ihrem
Unterliegen hohen geistigen oder sittlichen Kraft des
Helden. ─ Denn, wie im ernsten Epos, steht
im Mittelpuncte des Trauerspiels ein Jndividuum,
das durch die ihm einwohnende geistige und sittliche
Kraft gegen das auf ihn eindringende widrige
Schicksal ankämpft, so daß, unter dem fortgesetzten
Kampfe der Freiheit und des Schicksals, die Kräfte [378]
beider gesteigert und verstärkt erscheinen, und das
handelnde Jndividuum, nach der von ihm entwickelten
Kraft, der Held der Handlung genannt zu
werden verdient. Soll aber das gemischte Gefühl
der Lust und Unlust nicht nur aufgeregt, sondern
auch während der Betrachtung des Kampfes der
Freiheit des Helden mit der Macht des Schicksals
erhöht und gesteigert werden; so müssen, in den
einzelnen Acten und Scenen des Trauerspiels, die
Kraft der Freiheit und die Macht des Schicksals in
einer fortgesetzten gleichmäßigen Haltung erscheinen,
weil das Gefühl der Lust nur durch die
lebhafte Versinnlichung der entwickelten und gesteigerten
hohen Kraft des Helden, das Gefühl der
Unlust hingegen durch die auf ihn eindringende
und ihn überwältigende Macht des Schicksals genährt
wird, bis endlich, wenn der Held unterliegt,
das Wohlgefallen an der erhabenen geistigen oder
sittlichen innern Nothwendigkeit in der Handlungsweise
des Helden, im Gegensatze der äußern
Nothwendigkeit in der Macht des ihn zermalmenden
Schicksals, so wie zugleich das Wohlgefallen
an der Vollendung der ästhetischen Form, in uns
das Uebergewicht des Gefühls der Lust über das
Gefühl der Unlust hervorbringt.


Der Held des Trauerspiels, wie er in der
Kraft seiner Freiheit dargestellt wird, erscheint entweder
als ein Edler, der ohne seine Schuld leidet
und gegen ein widriges Verhängniß ankämpft (so
Wilhelm Tell; die Jungfrau von Orleans;
Ferdinand Walter
in Kabale und Liebe; Egmont),
oder
als ein Verirrter, dessen sittliche
Kraft zwar eine fehlerhafte Richtung genommen hat,
die aber selbst in der eigenthümlichen Ankündigung [379]
ihrer Verirrungen eine hohe Theilnahme zu erregen
vermag (so Karl Moor in den Räubern; so
Fiesko; so Wallenstein; so Maria Stuart;
so Klingers Medea; so Leisewitzens Julius von
Tarent
u. a.). Allein je mehr sittlich und rein
menschlich der Held des Trauerspiels erscheint; je
weniger er durch eigene Schuld, je mehr er um seiner
sittlichen Größe und Erhabenheit willen leidet;
oder, wenn er die Schuld eigener Verirrungen trägt,
je öfter die sittliche Kraft in ihm sich ermannt, je
entschiedener das Uebergewicht der Lichtseiten in seinem
Wesen über die Schattenseiten ist, und je gereinigter
er von seinen Verirrungen in dem Augenblicke
seines Unterganges erscheint; je mehr überhaupt
die Kraft, die er entfaltet, aus seinem innersten
Wesen hervorgehet, und mit der Steigerung
der auf ihn eindringenden Leiden und Gefahren ebenfalls
immer höher steigt; je fester und gehaltener
er, bis zum letzten entscheidenden Augenblicke, die
Kraft der Freiheit gegen die Macht des Schicksals
behauptet und geltend macht; desto mehr werden
auch in dem Anschauenden alle edlere Gefühle der
Theilnahme und der Bewunderung aufgeregt, und
von dem dramatischen Dichter die Eigenschaften des
Großen, des Erhabenen, des Rührenden und des
Pathetischen angewendet. Die hohe Kunst des
Trauerspieldichters besteht also zunächst darin, die
Freiheit des Helden und die Macht des Schicksals,
selbst während der ununterbrochenen Steigerung ihres
Kampfes, im gleichmäßigen Gegengewichte bis
zum Augenblicke der Entwickelung im letzten Acte
des Trauerspiels zu erhalten, so daß die Theilnahme
an diesem Kampfe ununterbrochen genährt und befriedigt
wird, bis sie in dem entschiedenen Siege [380]
des Gefühls der Lust über das Gefühl der Unlust
endigt.


Die Frage über die Wiedererneuerung
des Chors im Trauerspiele
erhielt durch
Schiller ein lebhaftes Jnteresse, als er in der
Braut von Messina diese Wiedererneuerung
practisch versuchte, und in dem Vorworte zu diesem
Trauerspiele sie theoretisch rechtfertigte. Zugestanden,
daß diese Anwendung des Chors in der
Braut von Messina, schon wegen der Neuheit der
Erscheinung und wegen der gelungenen Haltung des
Chors, zu den interessantesten Erscheinungen der
tragischen Dichtkunst gehören; so hat doch derselbe
Dichter in dem später erschienenen Wilhelm Tell
keinen wiederhohlten Gebrauch von dem Chore gemacht,
und selbst Göthe hat in seiner Jphigenie,
einem Trauerspiele völlig griechischen Ursprungs,
desselben sich enthalten. ─ Gehen wir aber auf den
Ursprung des Chors bei den Griechen zurück;
so beruht die Anwendung des Chors auf dem ganzen
örtlichen Charakter ihrer dramatischen Dichtkunst.
Bei ihnen wurden die Feste der Gottheiten mit der
dramatischen Darstellung einer Nationalbegebenheit
beschlossen, an welcher das Volk, nach seiner republikanischen
Souverainetät, Antheil genommen hatte.
Deshalb erhielt es auch, wegen dieses seines Antheils,
in der dramatischen Darstellung (der Kopie
der Wirklichkeit) den Platz, den es im Urbilde eingenommen
hatte. Der Chor ward der Repräsentant
des ganzen Volkes im Trauerspiele, und Dichter,
die ihren Vortheil verstanden, legten dann dem Chore
öfters Gesinnungen und Urtheile bei, durch die sie
die Meinung des Volkes leiten und bestimmen wollten. [381]
─ Allein gleich nothwendig war bei den Griechen
der Chor in Hinsicht auf das Locale der
dramatischen Darstellung.
An jenen Festen
war nämlich eine Masse von Zuschauern anwesend,
die oft über zwanzigtausend stieg. Kein Schauspielhaus
in unserm Sinne faßte sie, und die Stimme
der einzelnen Schauspieler würde zu oft verschollen
seyn, wenn nicht der Chor, verbunden mit Musik
und Tanz, die Handlung fortgeführt hätte. Nicht
also zunächst eine ästhetische, sondern eine politische
und locale Ursache, die aus dem Charakter eines
Volksschauspieles und zwar bei einem republikanischen
Volke hervorging, war es, was in der Tragödie
der Griechen die Anwendung des Chors, der
Musik und des Kothurns nöthig machte, wozu noch
kam, daß die alte Tragödie keine Pause zwischen
den Acten kannte, sondern der Chor den Faden der
Handlung fortführte.


Einen von der Tragödie der Griechen völlig
verschiedenen Charakter trägt das Trauerspiel der
Neuern. Handlung, sinnlich vollkommen und idealisirt
dargestellt; eine innere Nothwendigkeit in der
Verkettung und Folge der Verwickelung und Entwickelung,
die durch nichts Fremdartiges unterbrochen
werden darf; fortdauernde Thätigkeit aller wesentlich
zum tragischen Kunstwerke nöthigen Personen,
die durch keine Reflexion über sie zerstört wird, um
die allmählig sich bildende ästhetische Einheit der Form
in der Einbildungskraft des Anschauenden zu vollenden,
und dann ihnen selbst die Reflexion darüber
zu überlassen; dies ist der Charakter der neuern
Tragödie. Der Chor wird nun beinahe in den meisteu
Fällen das alles hindern, was man von dem
modernen Trauerspiele, als einem vollendeten Kunstwerke, [382]
verlangt. Denn er unterbricht die nothwendige
Folge der Handlung; er trägt weder zur Verwickelung,
noch zur Entwickelung etwas bei; er unterbricht
den Genuß an den idealisirten Charakteren,
weil er selbst nichts Jdealisches darzustellen vermag,
das nicht bereits in dem allgemeinen Grundrisse der
innerhalb der ästhetischen Form durchzuführenden
tragischen Handlung läge; er tritt vielmehr als etwas
Fremdartiges in die Mitte der Handlung, und
wenn er auch das erstemal bei seiner Erscheinung
durch Ueberraschung, so wie durch die Gediegenheit
der Sprachform interessirt, so spricht doch das tragische
Gefühl gegen ihn, das in seiner freiesten Bewegung
durch ihn sich unterbrochen fühlt. Selbst
wenn man ihm (mit Schiller) die Bestimmung
beilegt, die Reflexion von der Handlung zu sondern,
und Ruhe in die Handlung zu bringen; so ist dies
eben dem Charakter des Trauerspiels geradehin zuwider.
Das Trauerspiel soll reine, idealisirte, ästhetisch
vollendete Handlung seyn; denn nur durch diese
Vollendung kann es dem Gesetze der Form entsprechen.
Mischt nun der Chor Reflexion in die Mitte
der Handlung; so stört er das Wohlgefallen an der
Form, und vernichtet den innern Organismus dieser
Form in seiner Einheit für die Einbildungskraft.
Bringt er ferner Ruhe in die Handlung;
so dürfte er dadurch noch nachtheiliger für die Wirkung
der Handlung werden, die, so erschütternd
auch die Darstellung seyn mag, doch nie so tiefgreifend
seyn wird, daß Menschen sie nicht ertragen
könnten, sondern einer darzwischen tretenden Ruhe
bedürften. Denn was von Menschen gedichtet und
auf der Bühne dargestellt wird, und wenn es auch
der genialischste Dichter in dem überflutendsten Strome [383]
des Gefühls und mit der höchsten Bewegung der
schöpferischen Einbildungskraft ins Daseyn ruft, kann
doch, nach einem ewigen Gesetze für die Geisterwelt,
von Wesen derselben Art ertragen werden, zu
welchen auch der Dichter gehört. Noch kein vollendetes
Trauerspiel hat seine Wirkung über die Grenzen
eines menschlichen Gefühlsvermögens hinausgetrieben;
denn einzelne nervenschwache Leser oder Zuschauer
können nur die Ausnahme von der Regel
bilden. Jn der Annäherung aber an die möglichst
höchste Erschütterung des Gefühlsvermögens, und
in der Bewirkung des möglichst freiesten Spieles
der Einbildungskraft durch die Versinnlichung der
dargestellten tragischen Handlung, liegt eben die große
Aufgabe der tragischen Kunst.

55.
b) Das Lustspiel.


Wenn es zunächst die ästhetischen Eigenschaften
des Edlen, des Großen, des Erhabenen, des Rührenden
und Pathetischen sind, welche, nach ihrer
freiesten Versinnlichung, den Grundton in der Darstellung
der Tragödie bilden; so sind es die Eigenschaften
des Scherzhaften, des Lächerlichen
und Komischen *, deren ästhetische Farbengebung
in der Komödie vorherrscht. Denn der Scherz
besteht in einer absichtlichen, von dem Andern sogleich
anerkannten, Verstellung, wodurch der Scherzende
das in ihm aufgeregte Gefühl der Lust nach
außen mittheilen, und dem, welchem der Scherz gilt,
ein unmittelbares Gefühl der Lust gewähren will. [384]
Der Scherzende tritt daher aus seinem natürlichen
und bekannten Charakter heraus, um durch einen
angenommenen Ton ein augenblickliches Gefühl der
Lust bei Andern zu vermitteln. Jm Gegensatze des
Scherzes beruht das Lächerliche auf der äußern
Ankündigung der Verirrungen des menschlichen Verstandes
und Geschmackes, nach allen dadurch in den
Handlungen sichtbaren Schwachheiten, Einseitigkeiten
und Schiefheiten, sie mögen nun aus unreifen Meinungen
und Urtheilen, oder aus Verbildungen des
Geschmacks (z. B. in der Kleidung, in äußern Sitten),
oder aus Selbsttäuschungen in der gesellschaftlichen
Ankündigung (z. B. durch Eitelkeit, Aufgeblasenheit,
Stolz, Verliebtseyn im Alter &c.) hervorgehen.
Nie können aber unmittelbare sittliche
Verirrungen ein Gegenstand des Lachens werden.
Denn werden sie unter einer ästhetischen Form dargestellt;
so verfallen sie dem Richterstuhle der Satyre.
Sie sind zu wichtig und stehen mit dem
höchsten Zwecke der Menschheit, dem Zwecke der
Sittlichkeit, zu sehr im Gegensatze, als daß sie, wie
das in der äußern Ankündigung wahrnehmbare Widersinnige,
Zweck- und Verhältnißwidrige, ein Gegenstand
des Lachens werden könnten. ─ Das Komische
endlich, das, wie das Lächerliche, auf einem
unmittelbaren Gefühle der Lust beruht, das durch
die zur ästhetischen Form ausgeprägte Versinnlichung
des Widersinnigen, Unvollkommenen und Zweckwidrigen
vermittelt wird, unterscheidet sich dadurch von
dem Lächerlichen, daß mit diesem allgemeinen Gefühle
der Lust das Gefühl unsers Uebergewichts
über das nach seinen Schwachheiten und Verirrungen
dargestellte Jndividuum sich verbindet. Denn
bei dem, was uns als komisch erscheint, fühlen wir [385]
nicht blos überhaupt und im Allgemeinen ein Gefühl
der Lust über das vermittelst der dichterischen Versinnlichung
zur Einheit der Form gebrachte Unvollkommene
und Zweckwidrige; wir fühlen zugleich,
daß wir höher stehen, als das vor unsere Anschauung
gebrachte Jndividuum, und daß wir nicht
fähig wären, die ihm beigelegten Schwächen und
Verirrungen uns zu Schulden kommen zu lassen.


Tragen wir diese ästhetischen Grundbegriffe des
Scherzhaften, Lächerlichen und Komischen auf diejenige
dramatische Kunstform über, die wir das Lustspiel
nennen; so beruht der Charakter desselben
entweder auf der ästhetisch vollendeten Versinnlichung
gewisser menschlicher Schwächen, Thorheiten,
Mängel und Unvollkommenheiten, oder auf der
mannigfaltigsten, durchgängig aber auf das Gefühl
der Lust berechneten Verwickelung (Jntrigue) in der
dargestellten Handlung, so daß, in beiden Formen
des Lustspiels, durch die Wahrnehmung des ästhetisch
versinnlichten Causalzusammenhanges in der Handlung,
das Gefühl der Lust angeregt, und, vermittelst
der Durchführung der Verwickelung der Handlung,
lebhaft erhalten und gesteigert wird, bis die Auflösung
des Knotens am Schlusse der vollendeten dramatischen
Form die innigste und völligste Befriedigung
des Gefühls der Lust vermittelt. Wenn daher
bei dem Trauerspiele, durch die Anlegung der
Charaktere und durch die Fortführung der Handlung,
die gemischten Gefühle der Lust und Unlust angeregt
werden, die beide, während der ganzen Darstellung
der Handlung, mit einander wechseln und
gegen einander anstreben, bis endlich das Wohlgefallen
an der Vollendung der tragischen Form, so
wie das Wohlgefallen an dem in seiner Freiheit [386]
unterliegenden Helden, den Sieg des Gefühls der
Lust bewirkt, und das Gefühl der Unlust an dem
widrigen Gange seines Schicksals niederschlägt; so
ist dagegen in dem Lustspiele die Erfindung der Handlung,
die Haltung der Hauptperson, die Durchführung
der Verwickelung, die bestimmte Berechnung
des Verhältnisses der Episoden zu dem Ganzen, besonders
aber der Schluß, oder die Auflösung und
Entwickelung des ästhetisch geschürzten Knotens, auf
den völligen und entschiedenen Sieg des Gefühls der
Lust über das Gefühl der Unlust berechnet. Doch
unterscheidet sich im Einzelnen das sogenannte Jntriguenstück
von dem eigentlichen Lustspiele und
der Posse, daß in den letztern die Schilderung
menschlicher Schwächen und Thorheiten, oder auch
die Darstellung ununterbrochen fortgesetzter Neckereien
und einer idealisch gezeichneten Petulanz, das
Gefühl der Lust unaufhörlich nähren und steigern,
während im Jntriguenstücke das Gefühl der Lust,
wegen der mannigfaltigen Verwickelung der Handlung,
bisweilen durch die ─ ein gemischtes Gefühl
der Unlust leise anregende ─ Besorgniß unterbrochen
wird, wie der Knoten sich lösen, und ob die
Person, für welche unser Gefühl sich erklärt, das
Ziel ihrer Wünsche erreichen und glücklich werden
dürfte. (So rechnen wir Jüngers Er mengt sich
in alles, Kotzebue's teutsche Kleinstädter &c. zu
den eigentlichen Lustspielen; Lessings Minna von
Barnhelm, Großmanns Nicht mehr als sechs
Schüsseln, Jfflands Herbsttag und Aussteuer,
Kotzebue's Jndianer in England &c. zu den Jntriguenstücken;
und Kotzebue's Pagenstreiche, Wildfang,
Wirrwarr &c. zu den Possen.)

[387]

56.
c) Das Schauspiel.


Wenn gleich der Begriff des Schauspiels an
sich so allgemein ist, daß er alle für die Bühne berechnete
dramatische Kunstformen umschließt; so wird
doch, in der Reihe der einzelnen Gattungen und
Arten der dramatischen Dichtkunst, unter der Benennung:
Schauspiel eine, blos der teutschen Dichtkunst
und Literatur angehörende, Mittelgattung
dramatischer Formen zwischen dem Trauer-
und Lustspiele
verstanden, deren Eigenthümlichkeit
darauf beruht, daß das Schauspiel, gleich dem
Trauerspiele, das gemischte Gefühl der Lust und
der Unlust, allein nicht in der Stärke und Fülle,
wie das Trauerspiel, aufregt, und den Wechsel
beider Gefühle, während der ganzen Fortbildung der
Handlung, lebendig erhält und steigert; mit dem
Lustspiele aber die fröhliche Entwickelung und Auflösung
des dichtgeschürzten Knotens theilt, und dadurch
den Sieg des Gefühls der Lust über das Gefühl
der Unlust vermittelt. Ob nun gleich im Schauspiele
die in den Mittelpunct der Handlung gestellte
Hauptperson nicht im Charakter eines tragischen
Helden sich ankündigt, und die Masse widriger
Verhältnisse und Ereignisse, die auf sie eindringt
und ihre Kraft beschäftigt, nicht, im Sinne des
Trauerspiels, Schicksal genannt werden kann; so
erscheint doch die Hauptperson im Schauspiele im
Kampfe mit mannigfaltig verflochtenen und widrigen
Verhältnissen, die ihre geistige und sittliche Kraft
in vielfache Thätigkeit setzen, und die endliche, frohe
oder ungünstige, Entwickelung dieser Verhältnisse,
bis zu der letzten Scene der Handlung, unentschieden [388]
lassen. Deshalb ist auch der Ton im Schauspiele
ernst und würdevoll, und die Farbengebung
im Einzelnen nicht aus den Gebieten des Lächerlichen
und Komischen entlehnt. Der Stoff der
Handlung selbst gehört gewöhnlich dem Kreise des
häuslichen und bürgerlichen Lebens an, so
daß nicht nur die Hauptperson zunächst nach ihrer
Stellung im häuslichen und bürgerlichen Leben erscheint,
sondern auch die ihre Thätigkeit aufregenden
und ihre Kraft spannenden Verhältnisse und Ereignisse
unmittelbar aus jenen Kreisen stammen. Alles
ästhetisch=Darstellbare aus den häuslichen Verhältnissen
der Gatten, der Aeltern, der Kinder, der
Verwandten, und der Dienstboten gegen einander,
so wie aus den öffentlichen Verhältnissen des
bürgerlichen Lebens, nach den verschiedenen Ständen,
Aemtern und Berufsarten im Staatsdienste, eignet
sich zum Stoffe des Schauspiels, der, in seinen
unendlich mannigfaltigen Schattirungen, eben so viele
Veranlassungen für die Hauptperson enthält, Adel
der Gesinnung und Charakterfestigkeit zu bethätigen,
wie ihm zugleich die Prüfungen und Leiden angehören,
an welchen die geistige Kraft und der sittliche
Charakter der Hauptperson sich üben und bewähren
soll. Je neuer, vielseitiger und kräftiger die Verhältnisse
sind, unter welchen der dramatische Dichter
die Hauptperson im Schauspiele und die Leiden und
Widerwärtigkeiten erscheinen läßt, die den Frohsinn
seines Lebens und seine berufsmäßige Ankündigung
im häuslichen und öffentlichen Kreise verkümmen;
desto mehr wird es ihm gelingen, die gemischten Gefühle
der Lust und Unlust in gleichmäßiger Lebendigkeit,
während der Dauer und Fortführung der dargestellten
Handlung, zu erhalten, bis endlich die dichterische [389]
Gerechtigkeit gehandhabt, und Edelmuth und Rechtschaffenheit
anerkannt, gerechtfertigt und belohnt, so
wie das Laster entlarvt, beschämt und bestraft wird.
Je länger und zweifelhafter der Kampf der Hauptperson
gegen die widrigen Verhältnisse ihres Lebens
fortdauert; je mehr sie, bei diesem fortgesetzten
Kampfe, den Reichthum eines vielseitig gebildeten
Geistes, und die Hoheit, Kraft und Würde eines
völlig reinen Charakters entfaltet; desto mehr muß
die siegende und befriedigende Entwickelung dieser
verflochtenen und traurigen Verhältnisse das Uebergewicht
des Gefühls der Lust über das Gefühl der
Unlust am Schlusse der Handlung herbeiführen.


Wird das Schauspiel in diesem Sinne und
Geiste als eine selbstständige Gattung der dramatischen
Dichtkunst festgehalten und zur ästhetischen Einheit
der Form ausgeprägt; so verdient es nicht den
früher ihm beigelegten Namen der weinerlichen
Komödie.
Es behauptet vielmehr einen eigenthümlichen
Charakter in der Mitte zwischen dem
Trauer- und Lustspiele, und bereichert das Gebiet der
dramatischen Formen mit neuen gediegenen Kunsterzeugnissen.
Oder wollten wir wirklich Schauspiele,
wie v. Gemmingens teutschen Hausvater, Lessings
Nathan den Weisen, Jfflands Jäger, Mündel,
Verbrechen aus Ehrsucht, den Spieler, die Advokaten,
und Dienstpflicht, selbst Kotzebue's Menschenhaß
und Reue und seinen Benjowsky, ─ wollten
wir Göthe's Tasso, Götz von Berlichingen
und Stella, Schröders Ring, Kratters Mädchen
von Marienburg, Babo's Strelitzen, Klingemanns
Luther, Columbus und Moses, selbst
Werners Weihe der Kraft und seinen Attila, so
wie so viele andere zur Gattung des eigentlichen [390]
Schauspieles gehörende einzelne Erzeugnisse, aus dem
Gebiete der dramatischen Formen für immer streichen,
weil es einigen Theoretikern unwillkommen
war, einer neuen dramatischen Gattung in der Mitte
zwischen dem Trauer- und Lustspiele einen Platz zu
verstatten, und das, worin die Praxis der Dichter
vorausgeeilt war, in der Theorie allmählig nachzuhohlen!



So wie aber das Schauspiel die Mitte zwischen
dem Trauer- und Lustspiele hält; so auch der
Ton und die Stärke der durch das Schauspiel aufgeregten
und genährten Gefühle. Denn an sich
schon gewährt die Mischung und der Wechsel der
Gefühle der Lust und der Unlust eine eigenthümliche
Befriedigung des Gefühlsvermögens, wie
dies die Elegie und die ganze epische Dichtkunst
beweiset. Dazu kommt beim Schauspiele, daß dieses
das Gefühl der Unlust dem Gefühle der Lust mehr
gegenüber stellt, als es beim Lustspiele möglich ist,
wo das Gefühl der Lust fast ausschließend vorwaltet;
daß es aber auch nicht so erschütternd auf
das Gefühlsvermögen einwirkt, wie das Trauerspiel,
weil die Hauptpersonen des Schauspiels nicht als
tragische Helden, und die Hindernisse, die sie zu bekämpfen
haben, nicht unter den Machtschlägen eines
unwiderstehlichen Fatums sich ankündigen.

57.
d) Das Singspiel.


Das Singspiel verhält sich zu den einzelnen
Formen der dramatischen Dichtkunst, wie die Cantate
zu den übrigen Formen der lyrischen Dichtkunst;
es ist die ästhetisch=vollendete Einheit einer dramatischen [391]
Handlung, die, nach ihrer Anlage, Haltung
und Durchführung, entweder auf eine beständige
oder abwechselnde Begleitung der
Tonkunst,
und, vermittelst der Verbindung der
dramatischen Dichtkunst mit der Tonkunst, auf eine
hohe Bewegung und Rührung des Gefühlsvermögens,
so wie auf die Hervorbringung eines reinen
Wohlgefallens an der gleichmäßig durch Dichtkunst
und Tonkunst vollendeten ästhetischen Form, berechnet
ist. Es gilt daher von der dichterischen Behandlung
des Singspiels alles, was (§. 29) im
Allgemeinen von dem Verhältnisse der Cantate, als
eines dichterischen Kunstwerkes, zur tonkünstlerischen
Behandlung und Darstellung derselben gesagt worden
ist. Der Dichter muß den Tonkünstler durchgehends
im Auge behalten, und ihm vorarbeiten. Dies gilt
sowohl von den in die dramatische Handlung aufgenommenen
männlichen und weiblichen Personen, als
auch von dem Umfange und Jnhalte, und von der
Länge und Kürze der einzelnen Scenen und Acte,
so wie von dem genau berechneten Verhältnisse der
Arien und Cavatinen, der Duette, Terzette u. s.
w., und der Chöre gegen einander. Da die ästhetische
Vollendung des Singspiels auf dem gleichmäßigen
Zusammenwirken zweier Künste beruht;
so müssen auch beide in der Bildung und Ausprägung
der dramatischen Form des Singspiels als
unauflöslich verbunden sich ankündigen.


So gewiß aber die theatralische Wirkung des
Singspiels von dieser unauflöslichen Verbindung
der Dicht- und Tonkunst abhängt; so kann doch in
einer wissenschaftlichen Darstellung des Gesammtgebietes
der teutschen Sprache nur von den verschiedenen
Formen des Singspiels, nach ihrem dichteri= [392]
schen Charakter, und nach ihrer Stelle in der Reihe
der übrigen dramatischen Dichtungsarten, die Rede
seyn. ─ Das Singspiel zerfällt in die drei einzelnen
Formen: das Melodrama, die Oper, und
die Operette.


1) Das Melodrama ─ welches Monodrama,
Duodrama u. s. w. seyn kann ─ ist ein dramatisches
Gedicht, dessen Eigenthümlichkeit darin besteht,
daß die Rede durch abwechselnd eintretende
Musik unterbrochen wird.
Es unterscheidet
sich wesentlich von der Oper und Operette dadurch,
daß weder Arien, noch Duette und Chöre darin
vorkommen, sondern die Anwendung der Tonkunst
theils zur Versinnlichung und Erweiterung der in
der Rede bereits ausgedrückten Gefühle, theils
zur Vorbereitung auf die sogleich in der Handlung
darzustellenden Gefühle dient. ─ Unter den Teutschen
ward das Melodrama zuerst von Brandes
in der Ariadne auf Naxos angebaut, welchem
Benda das tonkünstlerische Gewand mit solchem
Erfolge gab, daß Ariadne auf Naxos noch jetzt
nicht ganz von der Bühne verschwunden ist, und
mehrere Dichter und Tonkünstler diesem gelungenen
Vorbilde, doch mit geringerem Erfolge, nachstrebten.
So Ramler im Pygmalion, Gotter in der
Medea, Fr. Rambach in dem Theseus auf
Kreta, Kaffka
in der Rosamunde und andere.
─ Ob nun gleich die dramatische Dichtkunst durch
den Eintritt des Melodrama in die Reihe der dramatischen
Dichtungsarten einen Zuwachs erhielt; so
behauptet es doch, in dem Kreise der dramatischen
Kunstformen, die unterste Stelle. Denn seine
Darstellung hat, durch den Mangel mehrerer Personen,
zu wenig Handlung, und folglich auch zu wenig [393]
Abwechselung und Mannigfaltigkeit; sein Stoff
muß sich auf einen zu kleinen Kreis von Gefühlen
und von Begebenheiten beschränken, durch welche
Gefühle aufgeregt werden.


Es wird daher die ästhetische Vollkommenheit
des Melodrama hinter der durch Dichtkunst und
Tonkunst ungleich reicher ausgestatteten Oper und
Operette zurück bleiben. Dazu kommt, daß die
eintretende Tonkunst, und zwar je mehr sie dem
Charakter der dargestellten Gefühle anpaßt, das
Einförmige des Eindruckes verstärken muß, weil
sie nichts anders durch Töne darstellen kann, als
was bereits durch Worte ausgedrückt worden ist.
Der natürlich fortschreitende Gang des Gefühls wird
aber auch durch die stets wiederkehrende Tonkunst
nicht selten unterbrochen und aufgehalten, und dadurch
der innere nothwendige Zusammenhang zwischen
den zur ästhetischen Einheit verbundenen Gefühlen
gestört. Endlich häufen sich auch für den
beinahe durchgehends allein auf der Bühne auftretenden
Schauspieler die Schwierigkeiten dadurch, daß
er die häufigen Zwischenzeiten der Tonkunst durch
ein passendes mimisches Spiel ausfüllen muß.

58.
Fortsetzung.


2) Der dichterische Charakter der Oper nähert
sich bald dem Trauerspiele, bald dem Lustspiele, bald
dem Schauspiele. Denn in der ernsthaften
Oper (opera seria) handelt ein Held nach der
ähnlichen Ankündigung des Helden im Trauerspiele;
in der komischen Oper (opera buffa) werden
Thorheiten und Fehler versinnlicht dargestellt, oder [394]
Jntriguen ausgesponnen, an deren Darstellung der
Faden bis zur völligen Entwickelung fortläuft; die
gemischte Oper endlich wird auf gleiche Weise,
wie das Schauspiel, gebildet, und wechselt mit
ernsthaften und heitern Stoffen und Scenen. ─ Für
den Dichter der Oper tritt, in der umschließendsten
Bezeichung des Begriffes, dasselbe Verhältniß ein,
in welchem der Dichter der Cantate zum Tonkünstler
steht. Denn, nach der ursprünglichen Bestimmung
der Oper, schreiten nicht nur in derselben Dichtkunst
und Tonkunst gemeinschaftlich und unauflöslich
verbunden durch Recitative, Arien und Chöre
fort; es muß auch der Ausdruck der Verwickelung
und Entwickelung des Ganzen an beide Künste zugleich
gebunden seyn. Ob nun gleich die Verbindung
der Dicht- und Tonkunst die Grundbedingung
des ästhetischen Charakters der Oper bildet;
so werden doch nicht selten auch die Wirkungen der
übrigen Künste, namentlich der Mahlerei, der Plastik
und der Tonkunst, aufgeboten, um den Gesammteindruck
der Oper zu verstärken. Nothwendig wird,
unter diesen Verhältnissen, die Oper zu den vollendetsten
Kunstwerken gehören, sobald der Dichter
eine wirklich ästhetisch gediegene dramatische Form
ins Daseyn rief, und der Reichthum seiner Einbildungskraft,
frei und rücksichtslos auf absichtlich berechnete
Wirkungen und Theaterschläge, über die
Anwendung der übrigen Künste für den Gesammtzweck
der theatralischen Darstellung der Oper gebot.
Denn sollen diese verbundenen Künste einen gemeinschaftlichen
und unwiderstehlichen Eindruck auf das
Gefühlsvermögen hervorbringen, der von der vollendeten
Einheit der Oper als Kunsterzeugniß abhängt;
so müssen die einzelnen Ankündigungen der [395]
übrigen in den Kreis der Oper gezogenen schönen
Künste auf dem Gesetze des ästhetischen Causalzusammenhanges
beruhen, und mit der dichterischen
und tonkünstlerischen Vollendung der Form zu Einem
unauflöslichen Ganzen verschmelzen.


3) Die Operette ist jüngern Ursprungs, als
die Oper, und dadurch von derselben verschieden,
daß in der Operette die tonkünstlerische Begleitung
zunächst auf Arien, Duette und Chöre beschränkt
ist, und regelmäßig mit dem Dialoge abwechselt,
während in der Oper, nach ihrer ursprünglichen
Einrichtung, kein Wort und Laut
ohne tonkünstlerische Begleitung sich ankündigen darf.
Die Operette hingegen war ursprünglich ein dramatisches
Kunstwerk, in welchem der Dialog vorherrschte,
der nur, wenn die Gefühle der handelnden Personen
mit einer höhern Lebendigkeit und Stärke aufwogten,
von Arien, Duetten und Chören unterbrochen ward.
Auch hatte die Oper, in ihrer ursprünglichen Gestalt,
blos eine komische, dem Lustspiel ähnliche, Einfassung,
und die Anlegung, Haltung und Durchführung
ihrer Arien und Chöre war gewöhnlich höchst
einfach, natürlich und kunstlos. (So erscheint die
Operette noch in der Jagd von Weiße und Hiller,
in der Liebe auf dem Lande, in Lottchen
am Hofe,
im Dorfbarbier, im Erntekranze
u. a.) Als aber die italienischen und französischen
Opern, mit Hinweglassung der Recitative,
an deren Stelle der Dialog trat, auf teutschen Boden
versetzt und mit teutschen Texten begleitet wurden;
da ward auch bald der frühere Unterschied zwischen
der Oper und Operette und der einfache Ton
und Charakter der Operette vergessen; das Publicum
verlangte kunstvollere Arien und Chöre in der [396]
Operette, an welche es sich bei der Oper gewöhnt
hatte, und eine fast eben so reiche Maschinerie, wie
in der Oper. Entschieden hat dies auf den dichterischen
und tonkünstlerischen Anbau der Operette
nachtheilig eingewirkt, weil Dichter und Tonkünstler
von dem frühern bestimmt ausgeprägten und eigenthümlichen
Charakter der Operette sich entfernten,
um durch ihre Formen dem Publicum desto sicherer
zu gefallen. Daher die oft so häufigen Ueberladungen
und sinnlosen Ausschmückungen der Operette
mit Gegenständen, die dem dichterischen Stoffe derselben
fremd sind; daher überhaupt der wesentliche
Mangel an Operetten, deren dichterischer Gehalt,
auch ohne die tonkünstlerische Gediegenheit der Form,
anerkannt und entschieden wäre. ─ Denn soll die
Operette auf ihre ursprüngliche Eigenthümlichkeit zurückgeführt
werden; so muß der Dichter derselben
die Gesangstücke nur dann eintreten lassen, wenn
der ästhetische Zusammenhang des Ganzen den Ausdruck
lebendiger und hoher Gefühle der handelnden
Personen mit sich bringt, und der prosaische Ton
des Dialogs von selbst in Sylbenmaas und Reim
übergeht.

[397]

5) Die Ergänzungsklasse der vier Hauptformen
der Dichtkunst.

59.
Begriff und einzelne Formen der Ergänzungsklasse
der Dichtkunst.


Die Praxis ist in allen Künsten, und also
auch in der Dichtkunst, der Theorie vorausgeeilt,
so daß die Theorie, im Allgemeinen, das Abstractum
von dem enthält, was in der Praxis einer und
derselben Gattung oder Art von den entschiedenen
Classikern zur vollendeten Form ausgeprägt ward,
und deshalb als Muster für alle Zeiten gilt. Wenn
denn nun auf diese Weise die Theorie der Praxis
folgt, und das, der Form nach Aehnliche, Verwandte
oder Gleiche, unter gewisse Hauptgesichtspuncte
bringt; so entstehen dadurch die verschiedenen Klassen
von Dichtungsarten, inwiefern jede einzelne
Dichtungsart die Gesammtheit von dichterischen Formen
in sich faßt, deren gemeinsamer Charakter aus
einer verwandten individuellen Stimmung im Gefühlsvermögen
des Dichters hervorgehet.


Nun giebt es aber im Kreise der Dichtkunst
jeder Nation, wie bereits bei der Ausmittelung des
Grundsatzes für die Eintheilung der verschiedenen
Dichtungsarten (§. 11.) erinnert ward, gewisse dichterische
Kunstwerke, deren Charakter zwar bald der
einen, bald der andern der vier aufgestellten Hauptklassen
dichterischer Formen (der lyrischen, didactischen,
epischen und dramatischen Dichtkunst) sich
nähert, bald aber auch aus dem Verschmelzen der
Eigenthümlichkeit mehrerer dieser Klassen hervorgehet. [398]
Solche dichterische Formen würden nicht
ohne Zwang unter eine der vier aufgestellten Hauptklassen
der Dichtkunst gebracht werden können, weil
z. B. wohl die einzelne, nicht aber jede Jdylle
zur epischen Form, und eben so die einzelne
poetische Epistel, nicht aber jede poetische Epistel,
zur lyrischen Form der Dichtkunst gerechnet werden
kann.


Mag daher auch der Ausdruck einer Ergänzungsklasse
der vier Hauptformen der Dichtkunst
etwas Unbequemes haben, und zur Bezeichnung der
hieher gehörenden einzelnen Kunstformen ein noch
schärfer bestimmender Begriff zu wünschen seyn; so
ist es doch besser, den Begriff einer Ergänzungsklasse
beizubehalten und in derselben alle diejenigen
dichterischen Formen aufzuführen, die nicht ausschließend
einer der vier Hauptklassen der Dichtkunst untergeordnet
werden können, als diese Unterordnung
durch künstelnde Deutung und ästhetischen Zwang
zu bewirken.


Zu dieser Ergänzungsklasse rechnen wir als einzelne
dichterische Formen:


a) die Jdylle;


b) die poetische Epistel;


c) die dichterische Schilderung;


d) die Parabel und Paramythie;


e) den Dialog und Monolog;


f) die Satyre;


g) die Parodie und Travestirung;


h) den Roman, das Mährchen und die Novelle;



i) das Sinngedicht und Epigramm;


k) das Räthsel, die Charade, den Logogryph,
und das Anagramm.

[399]

60.
a) Die Jdylle.


Je weiter die Wirklichkeit von dem Jdeale
eines goldenen Weltalters abliegt; desto erquickender
ist die idealisirte Darstellung der Menschheit unter
einem friedlichen und harmonischen Verhältnisse
zu sich selbst, zu dem Schicksale, und zu der äußern
Natur. Diese Darstellung enthält die Jdylle.
Das goldene Weltalter, das die älteste Dichtkunst
in die Vergangenheit, die Philosophie in den fernen
Kreis der Zukunft, nie aber ein Historiker und
Philosoph in die Gegenwart und Wirklichkeit versetzt,
stellt der Jdyllendichter als verwirklicht, unter
dem Zauber einer ästhetischen Form, vor uns hin.
Reinheit und Einfachheit der Sirten, Unschuld des
Herzens und Wandels, Wahrheit, Zartheit und
Jnnigkeit des Gefühls müssen die Ankündigung
des Menschen in der Jdylle bezeichnen. Noch hat
ihn das Gift der bürgerlichen Gesellschaft nicht berührt;
noch kennt er keine andern Bedürfnisse, als
die, zu welchen ihn die einfache Natur selbst leitet;
noch ist seine Liebe reiner Naturklang; noch sind
seine Neigungen unschuldig und unverdorben, und
noch trägt sein Charakter das Gepräge ursprünglicher
Güte und Unverdorbenheit. Die äußere Natur
bringt mit diesem Adel der innern Gesinnung ein
Leben ohne Schmerz und Kummer, eine friedliche,
schöne, paradiesähnliche Umgebung in die innigste
Verbindung, und so stralt in der Jdylle die Ruhe
des innern Lebens zurück in die große, harmonische
Natur. Alle Thorheiten und sittliche Gebrechen der
wirklichen Welt, alle beengende Formen der Convenienz
und der bürgerlichen Verhältnisse, liegen tief [400]
unter dem Kreise der Jdylle. Jn ihr erscheinen
die Menschen einander gleich, und sogar die Thiere
sind in ihr weder Feinde des Menschen, noch Feinde
gegen sich selbst. Der Mensch der Jdylle darf aber
auch von dem Dichter nicht auf die Höhe der künstlichen
Cultur gestellt werden, welche blos die Folge
der im bürgerlichen Leben eingeführten und bestehenden
Verhältnisse ist. Daraus läßt sich erklären,
warum die Jdyllendichter die Menschen, die sie
schildern, gewöhnlich aus dem Hirten=, Schäfer=,
Fischer=
und Jäger=Leben entlehnen, und weshalb
im Ganzen die einfache ländliche Natur in ihren
Gebilden vorherrscht. Denn der Kreis des Jdyllendichters
ist ein Kreis neben oder außerhalb der
Wirklichkeit; ja sogar nur selten mit der geschichtlichen
Hindeutung, daß diese Wirklichkeit in der
fernsten Vergangenheit vorhanden gewesen, aber
nun auf immer verschwunden sey. Deshalb schildert
die Jdylle auch kein bestimmtes und mit einem
geschichtlichen Namen bezeichnetes Volk der Erde
und keine bestimmte Oertlichkeit des Erdbodens.


Dem Stoffe nach gehört die Jdylle zur epischen,
nach dem in ihr vorherrschenden Grundtone
des Gefühls aber zur lyrischen Form der Dichtkunst.
Die teutsche Literatur erfreut sich vorzugsweise,
vor der Literatur andrer europäischer Völker, eines
reichen Anbaues der Jdylle; zugleich ein sicherer Beleg
des reinen unverdorbenen Naturtones der teutschen
Dichter und ihrer Nation, so lange sie Wohlgefallen
an der milden idealischen Welt der Jdylle
findet. Salomo Geßner, Rost, Reckert,
Ewald v. Kleist, Götz, Blum, Mahler Müller,
Hölty, Jacobi,
Klamer Schmidt, v.
Göthe, v. Bonstetten, Bronner, Voß, [401]
Kosegarten, Krummacher, Baggesen u. a.
sind gefeierte Namen im Gebiete der Jdyllendichtung.

61.
Beispiele der Jdylle.


1) von Salomo Geßner († 1787).


Bruchstück aus dem Tode Abels.


Die stillen Stunden führten den rosenfarbenen Morgen
herauf, und gossen den Thau auf die schattigte Erde;
indeß schoß die Sonne ihre frühen Stralen hinter den
schwarzen Cedern des Berges herauf, und schmückte mit
glühendem Morgenroth die durch den dämmernden Himmel
schwimmenden Wolken. Da gingen Abel und seine
geliebte Thirza aus ihrer Hütte hervor, in die nahe geruchreiche
Laube von Jasmin uud Rosen. Zärtliche Lieb'
und reine Tugend gossen sanftes Lächeln in die blauen
Augen der Thirza, und reizende Anmuth auf ihre rosenfarbenen
Wangen; und weiße Locken flossen am jugendlichen
Busen und ihre Schultern herunter, und umschwebten
ihre schlanken Hüften. So ging sie dem Abel
zur Seite. Braune Locken kräusten schattigt sich um die
hohe Stirne des Jünglings, und zerflossen auf seinen
Schultern; denkender Ernst mischte sanft sich in das
Lächeln der Augen. Jn schlanker Schönheit ging er
daher, wie ein Engel daher geht, wenn er in einen
dichteren Körper sich hüllet, den Sterblichen sichtbar zu
werden. Er soll irgend einem Frommen, der im Einsamen
betet, mit guter Botschaft von dem Herrn erscheinen.
Zwar umhüllet ihn ein Körper, menschlich gebildet;
aber aus seiner reizenden Schönheit hervor schimmert
der Engel. Thirza sah mit zärtlichem Lächeln ihn an,
und sprach: Geliebter! jetzt da die Vögel zum Morgenlied [402]
erwachen, sey mir gefällig, und singe mir den
neuen Lobgesang, den du gestern auf der Flur gedichtet
hast. Was ist lieblicher, als mit Gesängen den Herrn
loben? Wenn du singest, o dann wallet mein Herz voll
heiligen Entzückens, wenn du die Empfindungen sagst,
die ich nur empfand und nicht sagen konnte! Jhr antwortet'
Abel und umarmte sie: Was deine süßen Lippen
von mir begehren; das alles sey dir gewähret, meine
Thirza! Les' ich einen Wunsch in deinen Augen, dann
sey er erfüllt; wir wollen hier auf das weiche Moos
uns setzen, dann will ich den Lobgesang singen. Sie
setzten sich neben einander in der düftenden Laube, deren
Eingang die Morgensonne vergoldete, und Abel hob so
seinen Lobgesang an:


Weiche du Schlaf von jedem Aug', entweichet ihr
flatternden Träume! Die Vernunft geht wieder hervor,
und erhellet die Seele, wie die Morgensonne die
Gegend erhellet. Sey uns gegrüßt, du liebliche Sonne
hinter den Cedern herauf! du gießest Farb' und Anmuth
durch die Natur hin, und jede Schönheit lachet verjüngt
uns wieder entgegen. Entweiche du Schlaf von jedem
Aug'; entfliehet, ihr flatternden Träume, zu den Schatten
der Nacht! Wo sind sie, die Schatten der Nacht?
Jns Dunkel der Haine und in die Felsenklüfte sind sie
gewichen, und erwarten uns da, oder in dicht verwachsenen
Lauben mit erquickender Kühlung am heißen Mittage.
Dort, wo der Morgen den Adler früher weckte;
was dampft dort von den schimmernden Häuptern der
Felsen, von den glänzenden Stirnen der Berge in die
helle Morgenluft empor, wie Opferrauch dem Altar entsteigt?
Die Natur feiert den Morgen, und opfert dem
Herrn der Schöpfung Dank. Jhn soll jedes Geschöpf
loben, ihn, der alles schaffet und erhält. Ja ihm zum
Lobe zerstreuen die jungen Blumen ihre frühen Gerüche; [403]
ihm singet der Vögel mannigfaltiger Chor, hoch in der
Luft, oder von den Wipfeln der Bäume, der Morgensonn'
entgegen; ihm zum Lobe geht der Löw' aus seiner
Höhle hervor, und brüllet sein Entzücken fürchterlich
durch die Wildniß aus. Lob' ihn, du meine Seele, den
Herrn, den Schöpfer und Erhalter; des Menschen Lobgesang
steige vor allen zu dir empor! Er soll dich loben,
wenn jedes Geschöpf noch in seinem Lager schlummert;
wenn kein Gesang noch von den Wipfeln tönt, und aus
den wiegenden Büschen. Ertöne mein einsames Lied
laut durch die stille Dämmerung, daß du weit umher
jedes Geschöpf zum Lobe erweckest. Herrlich, herrlich ist
die Schöpfung, in der er uns Unwürdigen seine Weisheit
und Güte enthüllet. Jeder meiner Sinne fchöpfet
Entzückung aus diesem unendlichen Meere von Schönheit,
und strömt sie der entzückten Seele zu.


So sang Abel an der Seite seiner Geliebten; in heiliger
Andacht saß sie noch wie horchend; jetzt schlang sie
ihren lilienweißen Arm um seinen Hals, sah zärtlich
ihn an, und sprach: Geliebter! wie schwang sich meine
Andacht mit deinem Gesange höher! Ja, Geliebter!
nicht nur meinen schwächern Leib schützet deine zärtliche
Sorgfalt; auch meine Seele schwinget sich unter deiner
Führung empor. Wenn sie auf ihrem Pfad sich verliert,
und Dunkel um sich her sieht, und in heiligem Erstaunen
hinsinket; dann hebest du sie, und erhellest das
Dunkel, und entwickelst das stille Erstaunen zu lauten
erhabnern Gedanken.


So sprach sie, und die zärtlichste reinste Liebe goß
unaussprechliche Anmuth in jeden Ton der Stimme und
in jede Gebärde. Abel antwortete nicht; aber wie er
zärtlich sie anblickte und an seinen Busen sie drückte;
das redete von seinen Empfindungen mehr, als Worte
hätten reden können. Ach! so glücklich war der Mensch, [404]
da er noch zufrieden nichts von der Erde begehrte, als
Früchte, die sie willig gab, nichts vom Himmel flehte,
als Tugend und Gesundheit; eh' seine Unzufriedenheit
nimmer gesättigte Wünsche aussendete, die unzählige Bedürfnisse
erfanden, und sein Glück unter schimmerndes
Elend vergruben.


2) von Karl Christian Reckert († 1800).


Milet.


O wie entzückt mich der schöne Abend, sprach der
junge Milet. Jch will mein Mädchen hohlen; denn
die Gegend schlummert, und sanfte Ruhe verbreitet sich
über die Gefilde. Dann wollen wir uns dort auf den
herabgerissenen Felsen setzen, und ich will ihr ein frohes
Lied singen.


Jetzt ging er hin und hohlte sein Mädchen, und sie
setzten sich auf den herabgerissenen Stein, und er sang
ihr ein Lied, während daß seine Hand auf ihrem klopfenden
Busen ruhte. Ach, Phillis, hob er an, Phillis,
mein Herz ist froh, wenn du mich liebst; es fühlt sein
Glück, der Busen bebt mir voll Freude! O Phillis, seit
ich dich sah bei den Blumen am Wasser stehen, und
dein rosenfarbener kleiner Mund zum Lächeln sich öffnete;
Phillis, ach, da war ich voll Freude! Wann sie
dich liebte, Milet, so sprach ich oft seufzend; dann wäre
ich glücklicher, wie ein König, der weite Länder beherrschet.
Aber, o Phillis, das Glück belohnte meine Liebe;
du wurdest mir gewogen, und liebtest mich zärtlich.
Ach, dein Herz werde nie untreu; es bleibe friedlich, wie
diese Gegend, die umher lachet, indeß daß der Mond
sie erhellet, und dein Mund öffne sich freundlich zu
sanften Küssen.


O du, hob Phillis an, du, den ich mehr liebe, als [405]
wie die Hirten die Blüthen, oder die Mädchen die bunten
Kränze. Seit ich dich sah in meiner Hütte; als
du nach einem nicht verlornen Lamme fragtest; da gabst
du mir Feigen, und drücktest mir froh die Hand, und
meine Mutter lachte recht freundlich, als du mich küßtest;
denn, Milet, sie liebt dich. Seit der Zeit war
ich voll Freude; denn dein Kuß, süßer, als wie die Feigen,
machte mein Herz unruhig. ─ Ach, wenn er dich
liebte, hob ich öfters an, Phillis; wie glücklich würdest
du seyn! Dann ging ich unter das schützende Dach
hervor, und sah seufzend zum Himmel, und weinend
bat ich um deine Wiederkunft und Gegenliebe. Oder
ich wartete deiner am Hügel, wenn das Abendroth lachte;
und wenn ich dich dann sah, so hüpfte ich vor Freuden,
und du brachtest mir im Körbchen Feigen mit Blumen,
und dann umarmten wir uns recht lange, und
weinten voll Freude über unsre Liebe. O mein Milet,
ich kann, nein, ich kann es dir nicht sagen, wie ich
mich freue, wenn ich dich erblicke. Drücke mich an
deine klopfende Brust, und reiche mir freundlich die rothen
Lippen zum Küssen.


Jetzt umarmten sie sich, und Phillis erzählte auf den
herabgestürzten Steinen ein Geschichtchen. Höre, hob
sie an, höre Milet, ich mußte jüngst recht lachen, als
mir Daphnis erzählte: Chloe wollte ihn nicht lieben,
unerachtet er ihr so oft ein Liedchen gesungen. Aber
Phillis, ihr Herz ist nicht so zärtlich, wie das deine,
liebe Phillis; du bist gefälliger, als Chloe; o liebe mich!
Und da wollte er mich küssen. Aber Milet, wie stutzte
Daphnis, als ich ihm sagte: er sollte dich fragen. Da
ward er böse, recht böse, und ging von mir ohne
Abschied.


So erzählte die artige Phillis, und Milet belohnte
ihre Liebe mit unzähligen Küssen, und jetzt gingen sie, [406]
unter lieblichem Scherze, sich froh umarmend, zu ihren
Hütten.


3) von Blum († 1790).


Amyntas.


Zum Flötenspieler Daphnis kam

Die kleine Doris mit dem blonden Haar.

„Du, sprach sie, dessen Lieder süßer sind

Als Honig, süßer sind als Rosenduft,

Amynt ist heut der Wälder Lied,

Die Mädchen alle singen heut sein Lob,

Und ich, ich lieb' ihn sehr, und säng' ihn gern

Am besten; aber an Gesang

Bin ich nur arm, und stammeln kann ich nur.

Lehr' mich von ihm ein Lied! denn keiner singt

Wie du so schön, du lieber Hirt;

Du Freund der Mädchen mit dem blonden Haar!“

„Amyntas, sprach der Hirt, verdient Gesang,

Und hättest du sein Lob von mir auch nicht,

Du süßes Kind der Grazien, begehrt;

So hätt' ich dennoch weit umher

Den Hügeln seinen Namen kund gemacht,

Die stolzen Tannen hätten sich vor ihm

Geneigt, und alle Quellen ihm gerauscht.

Hebt an, ihr Musen, in den Büschen,

Und in dem tiefen Thal!

Der Abend röthet schon den Saum der Wolken,

Und Echo wartet auf Gesang.

Entzücken füllet meinen Busen,

Jhr guten Götter, ihr!

Mein Auge sieht, daß unter einem Dache

Die Tugend bei dem Glücke wohnt.
[407]
Amyntas, nicht die tausend Hufen

Mit Heerden überschwemmt,

Sind dein Verdienst; ein fühlend Herz im Busen

Gesellet dich den Göttern bei.

Du wirst in unsern Liedern leben,

Amyntas, bis das Meer

Versiegt, und Wälder aus den Fluten steigen,

Und Fische schwimmen durch die Luft.

Verstummet nun, ihr scheuen Musen;

Die laut're Freud' erwacht.

Amynt erschallet aus den hohlen Thälern,

Und von den Bergen schallt Amynt.“

So sang der Hirt. Der kleinen Doris schlug

Das Herz vor Freude; lange sprach sie nicht,

Bis seines Liedes letzter Silberlaut

Aus tiefen Hainen sterbend wieder kam.

Da sagte sie gerührt: „Nun dank' ich dir,

Nun werd' ich nicht der Spott der Mädchen seyn;

Erquickend ist dein Lied, wie Sonnenglanz

Jn kalter Luft, wie Morgenthau,

Der lieblicher die Blumen macht.

Und nun, wie soll ich deine Güte dir

Vergelten, o du bester Hirt? denn ach,

Ein armes kleines Mädchen hat wohl nichts,

Das deine Lieder dir bezahlen kann!“

„Du sollst mir tausend Küsse schuldig seyn,

Sprach Daphnis, bis du sechszehn Sommer hast,

Und einen Kuß verstehst!“

4) von Franz Xaver Bronner.


Die Fische des Thierkreises.


Kühle Abenddämmerung entlockte frische Wohlgerüche
den blühenden Bäumen, und der thauigen Wiese. Lüstern [408]
umherriechend streckte der naschhafte Aal den Kopf aus
dem Wasser, und wälzte sich spielend aufs Land, im
jungen Hafer zu schwelgen, oder im weichen Erbsenkeime.
Da saßen Amymone und Elon, beide schön, wie
Latonens lockige Kinder, hinter duftenden Rosensträuchen
am Bache, und beklagten thränend, und Wange an
Wange geschmiegt, ihr widriges Geschick.


Schwerer Kummer preßte schon lang ihre liebenden
Herzen. Denn ein strenger Spruch des delphischen Orakels
hatte ihnen die Hoffnung geraubet, von Hymens
sanften Banden sich jemals umschlungen zu sehen. Jhr
väterliches Thal, einsam und abgesondert vom übrigen
bewohnten Lande, ward in mehrern Jahren nur durch
wenige Blüthen nachwachsender Jugend erfreuet. Denn
die Mütter grüßten meistens nur schwächliche Kinder ins
Leben, die bald hinwelkten, wie kränkelnde Pflanzen;
und Niemand wußte dem Uebel zu steuern; Niemand
dachte, daß die fortgesetzten Zeugungen naher Verwandten,
von keinem fremden Blute erfrischt, endlich ausarten
können, dem Weizen gleich, der immer eben denselben
Acker besämt. Da sandte man Geschenke nach Delphi,
zwei zierlich geformte Becher und eine köstliche
Opferschale, den Willen der Götter zu hören. Und die
begeisterte Priesterin sprach:


Heil euern Gefilden,

Jhr fragenden Boten,

Wenn künftig die Söhne

Einheimischer Mädchen

Umarmungen fliehen!

Seitdem gaben die folgsamen Väter ihre reifenden Töchter
nur auswärtigen Freiern, und mannbare Jünglinge
hohlten sich fremde Bräute.


„O warum, Geliebte, sprach Elon mit sanfter Wehmuth,
warum trennt uns ein unerbittliches Schicksal? [409]
Wann ich die blühende Winde sehe mit weißen Glocken,
wie sie umarmend am geliebten Strauche hinanstrebt;
wenn ich sehe, wie jeder summender Käfer, jeder Vogel
buhlend zur wartenden Gattin hinschwebt, und jeder
gesellige Fisch wollüstig sein streichendes Weibchen umhüpft;
und wenn ich denn denke, daß unsre Verbindung
allein ein feindliches Verhängniß verbietet; dann, Geliebte,
dann weinet etwas aus meinem Jnnersten heraus;
mir wird so bange ─ ich kann's nicht aussprechen!
Dann wünsche ich mir das Glück des summenden Käfers
oder des hüpfenden Fisches, und manchmal möchte
ich sie beneiden, weil niemand bei ihnen die heiligste
Neigung in lästige Fesseln zwängt. O warum mußte
ich hier gebohren werden, hier, wo die Götter mir verbieten,
dich, Mädchen voll Unschuld, als meine Gattin
zu lieben? Glücklicher wäre ich, viel glücklicher, wenn
mich einsam mit dir, auf der fernsten Jnsel, das große
Weltmeer umschlösse, wie den fernen Mond das blaue
Leere umschließt.“


Amymone. O du sanft leuchtender Mond, und
ihr funkelnden Lichter da oben! Schon oft hab' ich euch
betrachtet, schon oft hab' ich gesagt: ihr kleinen Sterne,
ihr wißt wohl auch von der Liebe; denn das reinste
Feuer ist die Liebe, und ihr brennet mit dem reinsten,
glänzendsten Feuer. Und wenn ihnen der holde Mond
auf seiner Bahn sich nahte; wenn endlich sein wandelndes
Antlitz sie langsam berührte; dann fiel mir ein heiliges
Lied ein, und ich fragte mich: war das nicht ein
Kuß?


Elon. Starr blickte ich neulich seine volle Scheibe
an; da glaubte ich schöne Auen und leuchtende Hügel
darin zu sehen; er schien mir in blauer Ferne einher
zu fahren, wie eine schwimmende Jnsel auf unermeßlicher
See. O Amymone, dachte ich, wäre ich mit [410]
dir in diesen lichten Auen droben, in diesen wonnigen
Gefilden, wo gewiß kein herbes Verhängniß treue Liebende
trennt! Wie wohl wär' uns dort! Wie wohl
im seligsten Genusse der Liebe! Wüßtest du mehr zu
wünschen?


„Alles, alles hätt' ich dann, Geliebtester!“ sprach
das zärtliche Mädchen, und schlang ihren sanft bebenden
Arm um ihn. „O wie glücklich wären wir dort,
wie unaussprechlich selig! Die Gestirne, so glaub' ich
im Ernste, sind der Liebe hold; man liebt dort auch.
Jst nicht der Abendstern der Liebe geheiligt? Und sind
die beiden Fische des Thierkreises nicht ein liebendes
Paar? Die Priesterinnen im Tempel lehrten es neulich.
Wann ich traurig bin, dann denk' ich des Liedes, das
sie sangen; dann sing' ich es, und sanfte Heiterkeit erhellet
meine Seele wieder, wie wenn die Sonne nach
trüben Regentagen durch dünnes Gewölke das Land beleuchtet.


──────


Vernehmt es, gefühlvolle Seelen! Mit süßem Entzücken
sehen die guten Götter auf treue Liebende nieder,
und krönen sie, wo nicht hinieden, doch über den Sternen
mit Wonne.

62.
b) Die poetische Epistel.


Die poetische Epistel unterscheidet sich von dem
eigentlichen Briefe, dessen Theorie in dem Sprachgebiete
der Prosa aufgestellt ward, dadurch, daß sie
vermittelst des Jndividuums, an das sie gerichtet
ist, zu dem ganzen menschlichen Geschlechte spricht,
und Wahrheiten, Gefühle oder Thatsachen von allgemeinem
Jnteresse versinnlicht, während der prosaische [411]
Brief zunächst und ausschließend Einer Person
bestimmt, und, im strengsten Sinne, auch dieser
nur verständlich und interessant ist. Es beruht
daher der Charakter der poetischen Epistel auf der
individualisirten Darstellung gewisser allgemeiner
menschlicher Wahrheiten, Gefühle, Verhältnisse oder
Ereignisse, unter der Einheit einer ästhetisch vollendeten
epistolischen Form. Der Dichter spricht zwar
in der poetischen Epistel nur zu Einer Person; er
idealisirt aber dieselbe so, daß er zu ihr, als zu seinem
ganzen Geschlechte redet, und daß diese Person
in der poetischen Epistel gleichsam selbst zu einem
poetischen (idealisirten) Wesen wird; denn in die
Darstellung der poetischen Epistel gehört nur das,
was von dem Jndividuum, als Theil seiner
Gattung,
aber nach individuellen, von dem Dichter
ihm beigelegten, Beziehungen ausgesagt wird.
Daraus folgt, im Gegensatze des prosaischen Briefes,
daß dieser so speciell, die poetische Epistel
aber so generell als möglich seyn muß, und daß,
je specieller der Jnhalt und die Form der Darstellung
in der poetischen Epistel ist, sie um so mehr
von ihrer eigentlichen Bestimmung, und von ihrem
ästhetischen Charakter sich entfernt. Denn der ästhetische
Gehalt der poetischen Epistel steigt um so höher,
je allgemeiner, d. h. je verwandter den rein menschlichen
Jnteressen, ihr Stoff ist, und je freier der
Dichter über die Form gebietet, um, vermittelst
derselben, dem Stoffe die möglichst höchste Versinnlichung
und das frischeste dichterische Leben zu ertheilen.


Die poetische Epistel gehört zu den gemischten
Formen der Dichtkunst, weil sie eben so oft
rein subjective Gefühle, wie Gefühle veranlaßt durch
allgemeine Wahrheiten, oder hervorgebracht durch [412]
Verhältnisse und Vorgänge des wirklichen Lebens
versinnlichen, und bald im ernsthaften, bald im komischen,
ja selbst im satyrischen Gewande erscheinen
kann, je nachdem die vorherrschende Stimmung der
Gefühle des Dichters in derselben sich ankündigt.
Jm Besondern kann jede einzelne poetische Epistel
unter eine der drei Hauptgattungen der Dichtkunst
gebracht werden. Denn bilden die reinen individuellen
Gefühle des Dichters den Stoff der poetischen
Epistel; so gehört sie zur lyrischen Form. Versinnlicht
sie bestimmte allgemeine Wahrheiten
und Jdeen der Vernunft unter der ästhetischen
Hülle; so schließt sie sich an die didactische Form
an. Schildert sie endlich Jndividuen, Verhältnisse
des Lebens
und Thatsachen der
Geschichte
unter einer idealisirten Umgebung; so
ist sie Untergattung der epischen Form. ─ Die
Wahl des Sylbenmaases hängt von dem sichern
Tacte des Dichters ab, und muß dem darzustellenden
Stoffe entsprechen; doch ist das in den ältern
teutschen Episteln gewöhnliche Alexandrinische Sylbenmaas,
wegen seiner Unbehülflichkeit, veraltet.

63.
Beispiele der poetischen Epistel.


1) von Heinr. Anshelm v. Ziegler und
Kliphausen
(† 1690).


Aus Th. 1. seiner: „Heldenliebe der Schrift
alten Testaments
“ ─ (abgekürzt).


David an Bathseba.


Was Brand und Centnerpein aus Mund und Herzen

presset;

Das wirft der schwache Kiel an ein geringes Blatt.
[413]
Was meinen matten Geist kaum Seufzer hohlen lässet,

Das suchet Klee und Trost in Jebus holder Stadt.

Jch bin nicht, der ich bin, noch der ich bin gewesen;

Jch will nicht, was ich weiß, ich weiß nicht, was mir fehlt.

Man wird in Jsrael von meiner Thorheit lesen,

Wo dieses Thorheit heißt, was auch die Weisen quält.

Jm Feuer such' ich Eis, und Schatten bei der Sonnen,

Bei Dornen Lust und Schlaf, bei Flammen kühle Luft,

Des Geistes süße Ruh hat einen Riß gewonnen,

Der nicht zu heilen ist, bis Bathseba mich ruft.

Es starret Kiel und Hand, es schämet sich das Herze

Zu sagen, was mein Aug' im Garten hat erblickt.

Wodurch im Hui erlosch der Weisheit helle Kerze,

Wodurch Verstand und Geist mir selber wird entrückt.

Wiewohl ein König darf hier etwas freier schreiben,

Und einer Fürstenhand ist etwas mehr erlaubt.

Jch schreibe, was dir nicht kann mehr verborgen bleiben,

Was mir die Ruhe stört, was Heil und Leben raubt.

Der Sonnen helles Rad lief nach dem blauen Westen,

Und senkte sich bereits in Thetis grünen Schoos;

Man hörte voller Lust in den belaubten Aesten

Die Sängerin der Nacht, als David sich entschloß,

Auf der erhöhten Burg sich einsam zu ergötzen.

Er setzte seinen Fuß auf das gewohnte Dach.

Es ließe keine Lust sich dieser gleiche schätzen,

Die Aug' und Herz ergötzt. Dort lief ein Silberbach

Durch das bekleete Thal, und spielte mit den Wellen;

Hier war ein grünes Thal mit Rosen überstreut.

Man hörte hier und da die Schäferhunde bellen,

Der Hirten Feldgeschrei bei brauner Abendzeit.

Der Sonnen letztes Gold bezog die bunten Matten,

Und der entfernte Berg gab einen Wiederschein.

Der Bäume dickes Laub warf einen langen Schatten,

Man trieb das müde Vieh auf allen Straßen ein.
[414]
Ach, hätt' ich meine Lust hier gleichfalls eingetrieben,

So wär' ich sonder Schmerz, so lebt' ich sonder Weh.

Ach wäre Blick und Sinn im freien Felde blieben;

So aber wandt' ich mich in der geraumen Höh,

Und ließe Aug' und Stern Jerusalem bestralen.

Der Häuser hohe Pracht, der Gassen weite Zier,

Die schienen Müh und Lust nach Würden zu bezahlen.

Der Mauern Wunderbau vermehrte die Begier

Die innre Gartenlust in etwas zu beschauen.

Nicht weit von dieser Burg war Florens holder Sitz,

Den selbst Natur und Kunst nicht schöner konnte bauen.

Hier rührte meinen Geist der Wollust strenger Blitz.

Mein Vorwitz führte mich zu einem Marmorkasten,

Jn welchem Perl und Fluth mit sanftem Rauschen sprang.

Hier konnte nicht mein Geist nach Willen länger rasten,

Als deine Wunderpracht die müden Augen zwang

Auf deinen Fuß zu sehn. Der Kleider leichtes Prangen

Verrieth den heißen Schluß; du suchtest Fluth und Bad.

Es spielten durch die Luft die glutbeseelten Wangen,

Jch weiß, wie sich mein Geist dadurch entzündet hat.

Die weiße Liljenhand entschnürte Rock und Kleider,

Und warf Gewand und Schmuck in das bekleete Gras.

Es schwand mir Aug' und Licht; ich starb, ich ward,

ach leider

Durch dich in mich verstrickt. Bald ward ich roth,

bald blaß.

Jch wußte ferner nicht fast in mir selbst zu bleiben,

Als das gewellte Haar schwamm auf der vollen Brust.

Jch kann dir meine Qual nicht, wie ich will, beschreiben,

Als deines Leibes Schnee war meine Augenlust.

Es will Vernunft und Brunst nunmehr den Zügel rauben,

Und der Begierden Roß zerreißet Zaum und Band.

Du magst, wie meiner Schrift, dem Boten kühnlich glauben;

Es ist ihm meine Noth mehr, als zu wohl, bekannt.
[415]
Laß dir des Mannes Grimm nur nicht im Wege stehen;

Jm Brennen sieht man nicht, im Lieben ist man blind.

Zudem so will ich ihn durch meine Hand erhöhen,

Daß er zur Dankbarkeit mir Frau und Liebe gönnt.

Man muß verbotne Brunst nur an dem Pöbel strafen;

Gekrönten ist Gesetz und Lieben unterthan.

Ein Hirte braucht zur Kost das beste von den Schafen,

Und bei dem Fürsten gilt nicht ein gemeiner Wahn.

Es ist mein Harfenspiel durch deine Hand verstimmet,

Die Saiten sind entzwei, ich such' ein neues Spiel,

Das voller Anmuth dort im Marmorkasten schwimmet,

Der Wollust süßer Ton beseelet Geist und Kiel.

Komm Bathseba, mein Licht! Komm Bathseba, mein

Leben!

Mein Lager soll der Brunn, ich deine Quelle seyn.

Es kann dich dieses Bad einst auf den Thron erheben.

Komm, komm, und gieb sofort den zarten Willen drein.

2) von Demselben.


Bathseba an David. (abgekürzt)


Kein Blitz erhellet mehr die schattenreichen Wälder,

Als mich, Durchlauchtigster, dein Schreiben hat beschämt.

Es rannte Scham und Blut durch meiner Wangen Felder.

Gewiß, ich habe mich zu Tode fast gegrämt.

Jch weiß nicht, ob ich werd' ein förmlichs Wort ersinnen;

Es irret Kiel und Hand, es zittert Arm und Fuß.

Es will die Dinte nicht, so wie sie sollte, rinnen,

Weil ich mich allzusehr vor David schämen muß.

Hat meinen Seelenbau der Fürst entblößt gesehen?

Hab ich ihm, wie er schreibt, Brust, Schoos und Haut

entdeckt?

O Himmel! ach wie wird, wie soll mir nun geschehen?

Gewiß, dies Centnerwort hat mich in Tod erschreckt.
[416]
Jedoch ich kann mich nicht so, wie ich soll, verstellen;

Mein Ungehorsam wär' ein nur verstellter Zwang,

Es mag von mir die Welt ein schlimmes Urtheil fällen,

So sag ich doch: ich bin durch dich vor Liebe krank.

Wer ungehorsam ist, wenn Fürstenaugen winken,

Der weiß nicht, was ein Prinz, und was Verhängniß ist.

Er weiß den Göttertrank der Wollust nicht zu trinken,

Wenn uns ein Heldenmund auf Brust und Wangen küßt.

Jch wünsche dir durch mich ein doppeltes Vergnügen;

Jch wünsche, daß mein Leib auch Perl und Schwan

beschämt.

Kann dieser nur mit Lust in Davids Armen liegen,

So hat sich Bathseba vergebens nur gegrämt.

So bald der Abend wird Burg, Stadt und Feld bedecken,

So mach' ich Leib und Geist von Kleid und Sorgen los.

Alsdann wird Aug' und Fuß sich nach der Höhe strecken,

Und meine Gaben sind die Frucht der glatten Schoos.

3) von Christian Gryphius († 1706).


Der Tempel der keuschen Liebe,
an Herrn * * Hochzeittage. (abgekürzt)


Jch saß, geehrter Freund, nnd wollte dieses Fest,

Das deine Liebe krönt, mit freier Hand bedienen;

Doch weil mich Phöbus nur Cypressen pflanzen läßt,

So konnte keine Blum' auf meinem Pindus grünen.

Jch griff die Saiten an; doch war kein Freudenhall,

Kein angenehmer Ton, kein Brautlied zu verfassen.

Es schien, als wollte mich der stete Trauerschall,

Nach dem ich singen muß, nichts Schönes singen lassen;

Bis mir ein seltner Trieb in Herz und Augen fiel,

Den ich, vertrauter Freund, dir jetzt entdecken will.

Jch war, ich weiß nicht wo, doch gänzlich außer mir,

Jn einer andern Welt, auf angenehmen Höhen;
[417]
Und sah das schönste Schloß von Jaspis und Porphyr,

Jn einem Cedernhain vor meinen Augen stehen.

Was weiland Rom, Athen und Babel groß gemacht,

War hier weit trefflicherund edler vorgestellet,

Weil reiche Lieblichkeit und wundervolle Pracht

Sich zu der seltnen Kunst und Zierlichkeit gesellet.

Das Auge ward entzückt; die Sinne stimmten ein,

Und schlossen, dieses Werk muß mehr als menschlich seyn.

Jndem ich aber noch an diesem Wunderbau,

Der unvergleichlich war, mich freudenvoll ergötze;

So hör' ich eine Stimm': Auf, Sterblicher, komm, schau,

Wie hoch des Himmels Gunst die reinen Seelen schätze;

Halt aber Augen, Hand, Herz, Ohr' und Zunge rein,

Und zieh dich völlig ab von Venus geilem Triebe;

Hier glänzt ein göttlichs Licht, ein Engelgleicher Schein;

Hier ist, mit einem Wort, der Tempel keuscher

Liebe.

Komm, lerne, daß die Welt und ihr bethörter Wahn

Nicht, wie der Himmel will, die Liebe treiben kann.

Damit bewegte sich das diamantne Thor;

Die Riegel sprangen ab; ich kam in einen Garten,

Der überirdisch war; hier wurden Aug' und Ohr

Mit höchster Lust erquickt; die hundertfachen Arten

Des schönsten Rosenstocks vermählten ihren Glanz

Mit Nelken, Lilien, Violen und Jesminen.

Hier stand kein flüchtiger, kein welker Blumenkranz;

Die sanfte Frühlingsluft war voller Seraphinen;

Die stimmten einen Ton mit Händ' und Lippen an,

Dem sich kein Lautenspiel des Orpheus gleichen kann.

Nachdem ich mich genug an diesem Ort erquickt;

So hieß ein Seraphin mich, über mein Verhoffen,

Noch etwas weiter gehn; wie ward ich hier entzückt;

Jch fand, o schönster Blick! den Tempel selber offen.
[418]
Was Rubens, Titian und Sandrart dargethan,

Was Raphael, Bernin und Küsel aufgesetzet,

Jst bloßes Schattenwerk; das stolze Vatican

Wird gegen diesen Bau nur wie ein Tand geschätzet.

Hier ist ein solcher Schmuck, dem Gold und Silber

weicht,

Und dem kein Glanz, kein' Pracht der edlen Steine

gleicht.

Jch warf, nicht ohne Furcht, ein Aug' auf das Altar;

Das hatte Fleiß und Kunst aus köstlichen Magneten

Bis in die Höh' geführt, und auf demselben war

Ein immer brennend Feur, das keine Kräfte tödten,

Kein Wasser dämpfen kann, in reinem Porcellan.

Hier läßt, wer stets die Glut des Himmels in dem Herzen

Zu unterhalten sucht, und vor der geilen Bahn

Der Wollust fliehen will, bei den geweihten Kerzen

Sich in ein Bündniß ein, das keinem Tode weicht,

Und Gottes milde Gunst mit Haufen auf sich zeucht.

Hier sah ich dich, mein Freund, mit deiner Liebsten

knien;

Jhr trugt ein weißes Kleid, nebst grünen Lorbeerkränzen;

Der Himmel that sich auf, und wie es damals schien,

So fing der ganze Platz weit schöner an zu glänzen.

Die Flamm' auf dem Altar schlug heller in die Höh;

Jch hörte hin und her viel süße Saiten klingen;

Man wünschte Glück und Heil zu dieser neuen Eh,

Und hieß der Sterne Chor ein nettes Brautlied singen.

Bis endlich dieser Schall, selbst bei dem Saitenspiel,

Aus einer Wolke dir recht in die Ohren fiel:

Nimm hin das fromme Kind, der keuschen Liebe Pfand,

Und lebe wohlvergnügt in tausendfachem Segen,

Bis, nach vollführtem Lauf, der Kindes-Kinder Hand

Euch wird zu gleicher Zeit in Eine Grube legen.
[419]
Dies ist des Himmels Schluß. Hiermit verschwand das

Licht,

Der Tempel und Altar mit allen Wunderschätzen.

Jch aber dachte bald, dies liebliche Gesicht

Dir, werther Herzensfreund, wohlmeinend aufzusetzen,

Versichert: Trifft der Wunsch nach meinem Willen ein;

So werd' ich ein Prophet, nicht ein Poete seyn!

4) vom Freih. v. Cronegk († 1758).


Er schrieb, wenige Tage vor seinem Tode, auf seinem
Krankenbette, an einen Freund:


Wann sich ein Reimer untersteht,

Und deines Cronegks Asche schmäht;

So sey dein Amt, sein Herz zu rächen!

Hier liegt ein Jüngling, kannst du sprechen,

Der seines Lebens kurze Zeit

Unschuld'ger Musen Scherz geweiht.

Hätt' ihm die Parze läng'res Leben

Und wen'ger Flüchtigkeit gegeben;

So würden seine Schriften rein,

Und kritisch ausgebessert seyn.

Die Nachwelt wird ihn zwar nicht nennen;

Und dies erträgt er ohne Schmerz:

Doch sollte sie sein Herz recht kennen,

So schätzte sie gewiß sein Herz.

5) von Blumauer († 1798).


Brief eines strengen Vaters an seinen
Sohn.


Ein strenger Vater schrieb an seinen Sohn:

„Durch gegenwärt'gen Postillon

Erhältst du einen Beutel, wohlbespicket

Mit Thalern, den dir ─ ohne daß ich's weiß ─
[420]
Hier deine liebe Mutter schicket.

Nach einem Monat hohlt, wenn du mit Fleiß

Und mit mehr Emsigkeit studirest,

Mit meiner Stutte unsre Magd dich ab.

Besteige sie, sie geht den besten Trab;

Doch hüte dich, daß du sie nicht forcirest.

Von dir ist übrigens die Sage allgemein,

Du könnest nicht ein Wort Latein

Bis Dato sprechen oder schreiben.

Jch sagt' es dir ja immerhin:

Du bist und bleibst ein Eselskopf! „Jch bin

Dein treuer Vater:

Hans von Eiben.“


6) von Karl Wilh. Justi.


An Engelschall. (abgekürzt)


O selig, wem nach Nacht und Stürmen

Entschleiert Gottes Sonne lacht,

Die Wogen sich nun minder thürmen,

Und Ruhe mit dem Tag erwacht:

Doch dreimal selig, wer mit Wonne

Sein Tagewerk vollendet denkt,

Und der entwölkten Abendsonne

Den frohen Blick des Dankes schenkt!

Erkenne dich in diesem Bilde,

Und lächle der Vergangenheit!

Schau froher hin in die Gefilde

Der Zukunft ─ deine Rosenzeit.

Nun blühet Friede deinen Tagen,

Sie fließen sanft und kummerlos;

Denn Edelsinn und Weisheit tragen

Dich lächelnd in Fortuna's Schoos.

Mir aber hätte nicht vergebens

Ein Genius den Kelch des Lebens
[421]
Gemischt aus Wermuth und aus Wein,

Um weis' und sittlich gut zu seyn;

Und wähnt' ich einsam oft zu gehen,

Verlassen, ohne Schutz und Licht;

So führt' er mich doch ungesehen,

Und gab dem Herzen Zuversicht.

Wohl blühten, Trauter, mir hienieden

Auch Rosen ─ unsrer Jugend Wahn ─

Doch öfter, ach, war mir's beschieden,

Zu wallen auf der Dornenbahn.

Hold schwebst du nun im bleichen Bilde,

Helldüstere Vergangenheit,

Um meinen Geist! Ein Lustgefilde

Scheint mir das Thal der Jugendzeit.

Es hebt mein Geist sich mit der Sonne,

Wenn sie, vom Wolkenflor enthüllt,

Mit neuem Glanz und Himmelswonne

Die ganze weite Schöpfung füllt!

So mahlt sich deinen Seherblicken,

Freund, nach der kurzen Winternacht,

Die Welt in ungeseh'ner Pracht,

Wann einst dein Auge, ganz Entzücken,

Beim Urbild' aller Schönheit weilt.

Und hast du spät das Ziel ereilt,

Dann siehst du deinen Engel winken,

Der dich in Gottes Eden führt,

Wo deine Seele, tief gerührt,

Wird aus der Lebensquelle trinken!

Auch mir ruft einst mein Engel zu, ─

Wann meiner Freunde Zähren fließen,

Und sanft sich meine Augen schließen,

Wie Blumen in der Abendruh;

Die bange Wehmuth, spricht er, schweige!
[422]
Du, trockne deine Thränen ab;

Am Hügel steht der Wanderstab,

Und wird zum Rosenzweige!

7) von v. Thümmel († 1817).


Der Liebhaber an seine junge Geliebte, mit der er
schon einige Zeit versprochen war.


Du übertreibst, o Freundin meiner Jugend,

Den Reiz der Schaam und Sittsamkeit,

Und in dem Fieber deiner Tugend

Betrügst du dich um Glück und Zeit.

Wie lange willst du noch, wie lange

Das treuste Band der Ehe fliehn,

Und mir zur Qual im kurzen Uebergange

Vom Fräulein bis zur Frau ─ verziehn?

Du hörst mich nicht? Geliebteste! so höre

Doch deiner ersten Mutter Rath;

Sie, die das Maas der jungfräulichen Ehre

Am richtigsten gemessen hat.

Als sie der Herr, mit jedem Reiz umgeben,

Der dich jetzt schmückt, ins Leben rief,

Bewahrte sie dies jungfräuliche Leben

So lange nur, als Adam ─ schlief.

8) von Tiedge.


An Rosalia. (Bruchstück)


─ ─ O Freundin, glaub' an diese Lehre:

Die Tugend ist sich gleich. Du bist

So groß, so gut in deiner Sphäre,

Wenn du sie bis zur kleinsten Leere

Ganz ausfüllst, wie der Seraph ist,

Der freilich eine größre Sphäre,

Jedoch mit Sonnenflügeln mißt.
[423]
Halbherzigkeit ist augenblicklich,

Jst nur ein Ton, nicht Melodie;

Nicht Eine Tugend, Harmonie

Der Tugenden macht glücklich.

Hier liegt die Kunst, die jeder nennt,

Die hochgepriesne Kunst, zu leben.

Das Leben ist ein Jnstrument,

Von Gott uns in die Hand gegeben;

Von ihm zu Wahrheit und Verstand

Ganz rein gestimmt; nur, Harmonieen

Für Geist und Herz daraus zu ziehen,

Das überließ er unsrer Hand.

Da leiert freilich mancher Stümper

An Geist und Herzen, unserm Ohr

Sein unmelodisches Geklimper

Nicht ohne eignes Bravo vor.

Wie lieblich hallt aus Griechenland

Die edle Harmonie herüber,

Die Sophroniskus Sohn verstand!

Wie, Freundin, oder hörst du lieber

Den Mann von Nazareth, den Mann,

Der für die Tugend starb? Wohlan!

Jch folge dir zur Felsenhöhle,

Wo dieser Göttermuth entschlief,

Der aus der größten Menschenseele

Der Tugend Harmonieen rief,

Ein Leben rief, das durch die Stürme

Des Schicksals so harmonisch floß,

So friedlich, wie es in dem Schirme

Der Zöllnerhütte sich ergoß.

Ein Geist so hell, ein Herz, vom Staube

Der Pilgerschaft so unbestreut,

Vereinen sich zur Göttlichkeit,

An die ich voller Rührung glaube.
[424]
Und dieser Geist, der sich geweiht

Jm Lebensstral der Wahrheit sonnte,

Jst ein Gestirn, das hell und schön

Hervortritt, um am Horizonte

Der Menschheit herrlich aufzugehn.

Der edle Mann lebt nie vergebens;

Er geht einst, hemmt sich hier sein Lauf,

Nach Sonnenuntergang des Lebens,

Als ein Gestirn der Nachwelt auf.

O blicke zu dem Mann des Strebens,

Mit stiller Andacht blick' hinauf!

Wir sehn ihn unter seinen Freunden,

Ganz Friede, tragende Geduld;

Dort steht er mitten unter Feinden,

Groß, wie der Sieg; sanft, wie die Huld.

Hier predigt er. Mit welcher Weihung

Reißt seiner Lehre Geist und Sinn

Zur Wahrheit seiner Tugend hin!

Dort spricht er göttliche Verzeihung

Herab auf eine Sünderin.

Hier stillt er thränenvolle Klagen,

Und dort verschmäht er einen Thron.

Wer ist der Mann, um für den Lohn

Der Wahrheit Alles das zu tragen?

Er sagt es selbst ─ ein Menschensohn,

Der, weil er anders war und glaubte,

Als ihm des Wahnes Täuschungsspiel

Zu glauben und zu seyn erlaubte,

Zum Opfer seiner Wahrheit fiel.

Er geht, mit ruhiger Erhebung

Zum Himmel, den er selbst sich gab,

Den dunkeln Todesweg hinab;

Sein letztes Athmen spricht Vergebung

Auf seine Peiniger herab.
[425]
Er fühlt sein Werk. Durch das Getümmel

Der Feind' und durch die Todesnacht

Drängt dies Gefühl mit Göttermacht,

Und strömt in sein: Es ist vollbracht!

Den fürchterlich errungnen Himmel.

O dieser Zauber hält uns fest;

Durchglüht uns, wie ein mildes Feuer;

Er reißt uns fort, daß ihren Schleier

Die Seel' im Fluge fallen läßt,

Und wie in einer Engelfeier,

Wo unter ihr die Sorge wühlt,

Die nahende Vergött'rung fühlt.

9) von Müchler.


Liebesbrief eines Sprachmeisters.


Nein, es genügt dir nicht ein Brief im Substantiv;

Verschönern möcht' ich ihn durch manches Adjectiv;

Zu schwach ertönt mein Lied von deinem Nom'nativ,

Denn meine Muse steht, ach, stets im Genitiv,

Und niemals war für mich Apollo ein Dativ;

O, Holde, sey für mich nie ein Accusativ!

Taub blieb der Musengott bei meinem Vocativ,

Und immer steh' ich nur bei ihm im Ablativ.

Nimm meine Huldigung; denn sie ist positiv,

Und meine Zärtlichkeit kennt keinen Comp'rativ;

Bis zu des Lebens Ziel bleibt sie superlativ.

Welch Glück, erschiene sie dir recht indicativ.

Stell' auf die Probe sie durch den Jmperativ,

Sie übertrifft gewiß den höchsten Optativ.

Jn meinem Herzen bleibt die Lieb' infinitiv;

Und hiermit schließ' dein Knecht in Demuth seinen Brief.
[426]

10) von Schink.


An das Ding in Kiel.
(Aus dem Liter. Merkur, 1820. St. 99.)


Du sprichst von Christenthum, und willst ein Lutherthum

Nach deiner Mache darauf gründen?

Blödsinniger, du lästerst Luthers Ruhm,

Und ladest auf ihn deine Sünden.

Er wollte Licht, du willst die Finsterniß;

Er löste, wie sein Herr und Meister,

Von Knechtschaft die gefangnen Geister;

Du stürztest gern, wärst du des Siegs gewiß,

Zurück ins Joch die Freigewordnen wieder,

Und schleudertest, wie der in Rom

Einst vor Jahrhunderten, aus Peters heilgem Dom,

Gern Jnterdict und Bannstral nieder;

Wärst gern, wie er, dreifach gekrönt

Mit obermönchischer Tiare,

Jn deinem schwarzen Amtstalare

Kiels Papst. Dein blinder Wahn verhöhnt

Das heiligste der Menschenrechte,

Des Geistes Freiheit, die Vernunft.

Nicht Christen machst du, Priesterknechte,

An Christus Glauben nicht, an dich und deine Zunft.

Und wähnest du, es werde dir gelingen,

Zurück zu führen Nacht ins helle Reich des Lichts?

Du irrst dich, Päpstlein, irrst! Die Nacht wird dich

verschlingen,

Und die Tiare, die du faselst zu erringen,

Ein Strohkranz ist sie ─ weiter nichts!

64.
c) Die dichterische Schilderung.


Obgleich die schöpferische Einbildungskraft überhaupt [427]
daran erkannt wird, daß sie die ihr vorschwebenden
Gegenstände schildert, indem sie jeden einzelnen
Theil der dargestellten Form unter bestimmten
und lebensvollen Umrissen zeichnet und die Gesammtheit
dieser Theile zur Einheit der ästhetischen Form
erhebt; so giebt es doch auch eine selbstständige Gattung
der Dichtkunst, die dichterische Schilderung,
durch welche entweder die Erscheinungen
des äußern, oder die Erscheinungen des innern
Sinnes, nach dem innerhalb des Gefühls wahrgenommenen
nothwendigen Zusammenhange zwischen
diesen Erscheinungen, gleich einer plastischen Form,
zu einer in sich abgeschlossenen (objectiven) Einheit
ausgeprägt werden. ─ Denn dem Dichter erscheint
eben so die Natur- und Menschenwelt, wie die
Geisterwelt und die Kunstwelt, als ein in sich abgeschlossenes
vollendetes Ganzes. Schildert er daher,
im Drange seiner Gefühle, die Erscheinungen der
Natur (z. B. Opitz den Vesuv, Haller die Alpen,
v. Kleist den Frühling, Zachariä die Tageszeiten,
Kosegarten Arkona, v. Matthisson den
Genfersee &c.); oder schildert er menschliche Formen,
oder die Regungen der Liebe; so dürfen sie nicht blos
nach ihren Einzelnheiten, sie müssen vielmehr nach
ihrer innigen und unauflöslichen Verbindung zu
kleinern oder größern sinnlichen Ganzen dargestellt
werden. So entstehen im Gebiete der Dichtkunst
die Naturgemählde, nach der Aehnlichkeit verwandter
Kunstformen in der Mahlerei und Bildnerei.


Auf gleiche Weise gestaltet die schöpferische
Einbildungskraft des Dichters die Ankündigungen
und Erscheinungen der übersinnlichen Welt in
seinem Jnnern zu einer in sich abgeschlossenen Schilderung,
in welcher die einzelnen Theile (Jndividuen, [428]
Geister, Thatsachen u. s. w.) zwar als besondere
Glieder des Ganzen mit Bestimmtheit erkannt, zugleich
aber auch nach ihrem Verhältnisse zu dem mit
hoher Lebendigkeit und Kraft gehaltenen und durchgeführten
ästhetischen Ganzen versinnlicht werden.
(So v. Schiller die Götter Griechenlands, Manso
die Jnseln der Seligen, v. Matthisson Elysium,
Jean Paul viele Naturgemählde, Träume u. a.)


Wenn nun auch die einzelne dichterische
Schilderung, je nachdem sie entweder die Versinnlichung
unmittelbarer Gefühle, oder die Versinnlichung
von Gefühlen enthält, die bald durch Jdeen
der Vernunft, bald durch Thatsachen der Vergangenheit,
bald durch Stoffe aus der Mythologie und
Geisterwelt veranlaßt werden, entweder der lyrischen,
oder der didactischen, oder der epischen Form der
Dichtkunst angehört; so kann doch, eben wegen der
großen Verschiedenheit des Ursprungs und der Anregung
der individuellen Gefühle, welche der dichterischen
Schilderung zum Grunde liegen, diese höchst
vielseitige dichterische Form nur in der Ergänzungsklasse
dichterischer Formen aufgeführt werden.

65.
Beispiele derselben.


1) von Jacob Schwieger († nach 1665).


(Aus s. geharnschten Venus, die er Hamb. 1660
unter dem Namen: Filidor der Dorfferer,
herausgab.)


Es ist ein Ort in düstrer Nacht,

Wo Pech und blauer Schwefel brennet,

Deß hohler Schlund nie wird erkennet,

Als wenn ein Blitz ihn heiter macht;
[429]
Mit Schlamm und schwarzen Wasserwogen

Jst sein verfluchter Sitz umzogen.

Megära denkt da Martern aus

Mit ihren Schwestern, denen Schlangen

Um die vergift'ten Schläfen hangen;

Dort ist die Grausamkeit zu Haus;

Dort wohnet Neid und Widerwillen,

Man höret da des Cerbers Brüllen.

Jxions Marterrad ist da,

Und Tantalus, zum Durst verbannet;

Der Tityus steht ausgespannet,

Und wünscht, sein Ende wäre nah.

Dort sind die ausgehöhlten Fässer

Jn Lethens dunklem Todgewässer.

Zu dieser Höhlen ist bestimmt,

Wer mit der zarten Liebe spottet.

Wer gegen Amor auf sich rottet,

Und wilder Venus Waffen nimmt,

Treibt mit Verliebten Scherz und Possen,

Wird hier in Ketten eingeschlossen.

Hingegen ist ein grünes Thal,

Wo die beblümten Weste kühlen;

Hier höret man von Saitenspielen,

Von Lust und Freuden ohne Zahl;

Die Felder blühn in bunten Nelken

Und Rosen, welche nie verwelken.

Hier wehet eine Zimmetluft;

Man höret hier ohn' Ende schallen

Den Schlag der muntern Nachtigallen;

Hier ist kein Frost, kein Nebelduft;

Kein Blitz, kein Donnerschlag, noch Regen,

Zieht schwarzen Wolken hier entgegen.
[430]
Hier ist ein milder Liebesstreit;

Das junge Volk spielt mit Jungfrauen

Auf Elis bunten Silberauen;

Scherz, Liebe, Lust und Fröhlichkeit,

Vergnügung, Ruh und süßes Lachen

Verkürzt ihr unaufhörlichs Wachen.

Wohl dem, der sich der Lieb' ergiebt!

Der wird, bekrönt mit Myrthenkränzen,

Genießen dieses kurzen Lenzen;

Wohl dem, der keusch und treulich liebt!

Jhn wird mit Sieg, Triumph und Singen

Der bleiche Charon überbringen.

2) von Georg Schottel († 1676).


(Bruchstück aus „der nunmehr hinsterbenden
Nymphen Germaniae elendesten Todesklage
“,
Braunschw. 1640. 4., wo er die Geister
der teutschen Vorfahren redend einführt.)


─ Soll dieses Teutschland seyn? So würden sie

wohl sagen,

Das alte Vaterland, worinnen wir geschlagen

Und donnergleich erlegt, wer nur kam übern Rhein?

Hie ist das Land ja nicht; es kann gewiß nicht seyn.

Es muß sein Scytherland, der Tartaren Gebiete,

Ein Land voll Grimmigkeit, erfüllt mit Höllen Wüte.

Es ist die Barbarei, da wilde Drachen seyn.

Sie speien Feur, auf daß sie selbst sich äschern ein.

Nein, es muß Teutschland seyn! Die Sternen uns nicht

trügen.

Der Rhein und Elb' ist hie; die Luft selbst kann nicht lügen.

Der blau schwarz dicke Harz; schaut, hie ist noch der Ort,

Da Varus biß ins Gras. Die Donau läuft noch fort.

Hier wurden von der See die Leiber angetrieben,
[431]
Nachdem der Römer Volk samt tausend Schiffen blieben,

Hier hielt Germanicus! Dort floh hin der Cäcin!

Der Menschenwürger auch, der Cäsar, zog hier hin!

Es ist das Land, da wir gebohren und erzogen,

Und mit der ersten Milch die Tugendlust gesogen.

Es wird ohn Zweifel seyn von Grund auf umgekehrt.

Wir sehens überall verwüstet und verheert,

Der Gallier Gesind, das sehen wir bei Haufen.

Dort tritt ein Wälscher her. Schau, wie sie herrisch laufen

Die Spanier, recht aus Trotz! Hier zieht ein Schotte an;

Ein Schwede und ein Finn steht dort beim Engelsmann.

Ein Unstern böser Art muß haben dir geleuchtet;

Ein giftig reicher Thau hat durch und durch befeuchtet

Dich, liebstes Vaterland; bist du nun so veracht,

Erbettelst Recht und Schutz vom Glück' und fremder Macht!

3) von v. Hoffmannswaldau († 1679).


Lobrede auf das liebwertheste Frauenzimmer.
(Bruchstück)


Hochwerthes Jungfernvolk, ihr holden Anmuths-Sonnen,

Jhr auserwählter Schmuck, der Haus und Gassen ziert.

Wer ist so steinern, der euch nicht hat liebgewonnen?

Und welchen habt ihr nicht mit Fesseln heimgeführt?

Wer ist so kühn, der darf vor eure Augen treten,

Wenn ihr die Waaren habt der Schönheit ausgelegt?

Wer will euch, Liebste, nicht als einen Gott anbeten,

Weil ihr das Bildniß seyd, das Venus selbst geprägt.

Jedoch ich will nur blos ein Theil von dem berühren,

Mit welchem die Natur euch herrlich hat versehn.

Der Sinnen Schiff soll mich in solche Länder führen,

Wo auf der See voll Milch nur Liebeswinde wehn.

Die Brüste sind mein Zweck, die schönen Marmorballen,

Auf welchen Amor ihm ein Lustschloß hat gebaut;

Die durch das Athemspiel sich heben und auch fallen,
[432]
Auf die der Sonne Gold wohlriechend Ambra thaut.

Sie sind ein Paradies, in welchem Aepfel reifen,

Nach deren süßer Kost jedweder Adam lechzst,

Zwei Felsen, um die stets des Zephyrs Winde pfeifen,

Ein Garten schöner Tracht, wo die Vergnügung wächst;

Ein überirdisch Bild, dem alle opfern müssen,

Ein ausgeputzt Altar, vor dem die Welt sich beugt;

Ein krystalliner Quell, aus welchem Ströme fließen,

Davon die Süßigkeit den Nektar übersteigt.

Sie sind zwei Schwestern, die in Einem Bette schlafen,

Davon die eine doch die andre keinmal drückt;

Zwei Kammern, welche voll von blanken Liebeswaffen,

Aus denen Cypripor die goldnen Pfeile schickt.

Sie sind ein zäher Leim, woran die Sinne kleben;

Ein Feuer, welches macht die kältsten Herzen warm;

Ein Bezoar, der auch Entseelten giebt das Leben;

Ein solcher Schatz, vor dem das Reichthum selbst ist arm.

Ein kräftigs Himmelsbrod, das die Verliebten schmecken;

Ein Alabasterhaus, so mit Rubinen prahlt;

Ein süßer Honigseim, den matte Seelen lecken;

Ein Himmel, wo das Heer der Liebessterne strahlt;

Ein scharf geschliffen Schwert, das tiefe Wunden hauet,

Ein Rosenstrauch, der auch im Winter Rosen bringt;

Ein Meer, worauf man der Sirenen Kräfte schauet,

Von denen das Gesäng bis in die Seele dringt.

Sie sind ein Schneegebirg, in welchem Funken glimmen,

Davon der härtste Stahl wie weiches Wachs zerfleußt;

Ein wasserreicher Teich, darinnen Fische schwimmen,

Davon sich sattsam ein verliebter Magen speist.

Sie sind der Jugend Lust, und aller Kurzweil Zunder,

Ein Kranz, in welchem man die Keuschheitsblume sieht;

Sie kürzen Langezeit, und stiften eitel Wunder,

Weil beides Glut und Schnee auf ihrem Throne blüht.

Sie sind ein Blasebalg, ein Feuer aufzufachen,
[433]
Das durch kein Mittel nicht kann werden ausgelöscht.

Zwei Beete, wo Rubin und Marmel Hochzeit machen,

Wo süße Mandelmilch der Rosen Scharlach wäscht.

Ein werthes Heiligthum, das keusche Lippen küssen,

Vor dem sich Herz und Knie in tiefster Demuth neigt;

Ein Meer, aus dem sich Lust und Lieblichkeit ergießen;

Ein Bergwerk, dessen Grund zwei Demantsteine zeigt. u. s. w.

4) von v. Lohenstein († 1683).


Siegeskranz der auf dem Schauplatze der
Liebe streitenden Röthe.
(abgekürzt)


Schwarz.


Jhr Schwestern, unser Glanz führt in sich Anmuthsquellen,


Nährt Zunder reiner Brunst, hat Oele süßer Glut.

Doch können wir uns nicht in gleichen Reihen stellen;

Der steht der Vorzug zu, die größte Wunder thut.

Welch Richter soll nun nicht für mich sein Urtheil fällen?

Mein Stral zermalmet Erz, macht brennend Eis und Flut.

Wenn kalte Seelen soll'n der Liebe Wirkung fühlen,

Muß mein liebäugelnd Blitz aus meinen Wolken spielen.

Weiß.


Kein düstrer Schatten gleicht sich hellen Sonnenstralen;

Mein Glanz tilgt deinen Dunst, mein Schimmer deine

Nacht.

Der schöne Himmel muß mit meinem Silber prahlen;

Schau, wie die weiße See mit meinen Perlen lacht.

Narziß und Lilie muß den Schoos der Erde mahlen;

Was schön ist in der Welt, wird weiß ans Licht gebracht.

Aus der verspritzten Milch der Juno mußten werden

Die Milchstraß' im Gestirn, und Lilien auf der Erden.

Roth.


Gebt Schwestern mir den Preis im holden Liebeskriege;

Der Liebe Glut läßt sich in Schnee nicht hüllen ein.
[434]
Die Purpurmuschel war der Venus erste Wiege;

Cupido muß gesäugt mit rothen Flammen seyn.

Selbst die Natur steckt aus Merkmale meiner Siege,

Des Himmels Garten blümt der Sterne rother Schein.

Mit Rosen prangt die Welt, das Wasser mit Korallen,

Wenn alle drei verliebt einander woll'n gefallen.

Schwarz.


Sagt, wie ihr dort und da geborgte Farben nehmet;

Wenn ihr entfärbt seyd, scheint mein nie erbleichend Licht.

Der Schnee erblaßt vor mir, die Röthe steht beschämet,

Wenn ein verliebter Stral aus schwarzen Augen bricht.

Aus diesen Wolken wird der Liebe Blitz gesämet;

Es fährt aus heller Luft, aus Regenbogen nicht.

Der Liebe Zeughaus ist in diese Nacht gebauet,

Wo man mehr Sonnenschein, als nicht am Tage, schauet.

Weiß.


Wenn meine Lilien gleich nicht woll'n den Rosen weichen,

Da, wo die Braut von sich der Liebe Samen streut;

So muß mein Silber doch nur vor der Röth' erbleichen,

Wo ihren reinen Geist der süße Trieb erfreut.

Jedoch ich werde noch des Ruhmes Zweck erreichen,

Wenn, süßes Paar, mein Trieb euch noch was Lust verleiht.

Weil sich mein Schnee nicht wird von euern Gliedern

trennen,

Wird süßer Liebesreiz in euern Herzen brennen.

Roth.


Kommt, Schwestern, kränzet mich mit Ros- und Myrthen=Zweigen;


Komm, Venus, opfere den goldnen Apfel mir.

Weil meine Flamme muß die Liebesfackel zeugen;

So zieht ihr Nymphen mich jetzt allen Farben für.

Es kann die keusche Braut nicht meinen Trieb verschweigen,


Der Wangen Röthe mahlt den Liebsten ab in ihr.
[435]
Ja morgen wird die Braut durch Schamröth' uns entdecken,

Daß starke Liebeskraft im Rothen müsse stecken.

5) von Joh. Nic. Götz († 1781).


Die Welt.


Die Welt gleicht einer Opera,

Wo jeder, der sich fühlt,

Nach seiner lieben Leidenschaft

Des Lebens Rolle spielt.

Der Eine steigt die Bühn' hinauf

Mit einem Schäferstab;

Ein Andrer, mit dem Marschallsstab,

Sinkt, ohne Kopf, herab.

Wir armer guter Pöbel stehn

Verachtet, doch in Ruh,

Vor dieser Bühne, gähnen oft,

Und sehn der Fratze zu.

Die Kosten freilich zahlen wir

Fürs ganze Opernhaus;

Doch lachen wir, mißräth das Spiel,

Zuletzt die Spieler aus.

6) von Gotter († 1797).


Die Neuvermählte an ihrem Hochzeitballe.


Leicht schwebt durch die Reihen, die staunend sich trennen,

Leicht schwebt sie am Arme des Liebenden hin,

Gott Hymens jüngste Priesterin.

Kaum wagen's die Mädchen, sie Schwester zu nennen;

Mit forschenden Blicken und trauterem Sinn

Umarmen die Weiber die neue Geweihte;

Die Männer beneiden dem Sieger die Beute;

Den Jünglingen drängen, im Taumel der Lust,

Sich Seufzer der Sehnsucht aus klopfender Brust.
[436]
So feiert, im Schauspiel, das Jauchzen der Menge,

Bewillkommnen Tänze, begrüßen Gesänge

Ein glückliches Paar, im entscheidenden Act.

O schwebt, von gefühlvollen Zeugen umgeben,

So leicht und harmonisch auf Blumen durchs Leben;

Den Ton gebe Freundschaft, und Liebe den Tact!

7) von Schubart († 1791).


Die Messiade.


Willst du dich auf gen Himmel schwingen,

Und hören, was die Engel singen,

Und hören, was Jehova spricht;

So lies dies himmlische Gedicht!

Willst du den Mittler hangen sehen,

Ach, auf des Schädelberges Höhen,

Mit jammerbleichem Angesicht;

So lies dies christliche Gedicht!

Willst du in Glut und Schwefelmeeren

Das Brüllen der Satane hören,

Gedrückt vom Fluch und vom Gericht;

So lies dies schreckliche Gedicht!

Willst du gesalbte Männer, Frauen,

Und Mädchen, gleich den Engeln, schauen,

Getreu der gottgeweihten Pflicht;

So lies dies heilige Gedicht!

Willst du, bei Harmonie der Sphären,

Die teutsche Sprache donnern hören

Mit felsensplitterndem Gewicht;

So lies dies Vaterlandsgedicht!

Willst du in süßen Sympathieen,

Voll Ahnung jenes Lebens, glühen,

Und wünschen, daß dein Auge bricht;

So lies dies göttliche Gedicht!
[437]

8) von Jean Paul.


─ Die Pyrenäen ruhten groß, halb in Nächte,
halb in Tage gekleidet, um uns, und bückten sich nicht,
wie der veraltende Mensch, vor der Zeit, sondern erhoben
sich ewig, und ich fühlte, warum die Alten die Gebirge
für Giganten hielten. Die Häupter der Berge
trugen Kränze und Ketten von Rosen aus Wolken gemacht.
Aber so oft sich Sterne aus dem leeren tiefen
Aethermeere herausdrängten, und aus den blauen Wolken
glänzten; so erblichen Rosen an den Bergen und
fielen ab. Nur das Mittagshorn schaute, wie ein höherer
Geist, lange der tiefen einsamen Sonne nach und
glühte entzückt. Ein tieferes Amphitheater aus blühenden
Citronenbäumen zog uns mit Wohlgerüchen auf die
eingehüllte Erde zurück, und machte aus ihr ein dunkles
Paradies. Und die Nachtigallen wachten in den Rosenhecken
am Wasser auf, und zogen mit den Tönen ihres
kleinen Herzens tief in das große menschliche. Und
glimmende Johanniswürmchen schweiften um sie von
Rose zu Rose; und im spiegelnden Wasser schwebten nur
fliegende Goldkörner über gelbe Blumen. ─ Aber da
wir gen Himmel sahen, schimmerten schon alle Sterne,
und die Gebirge trugen, statt der Rosenketten, ausgelöschte
Regenbogen, und der Riese unter den Pyrenäen war
statt der Rosen mit Sternen gekrönt. ─ O müßte dann
nicht jeder entzückten Seele seyn, als falle von der gedrückten
Brust die irdische Lust, als gebe uns die Erde
aus ihrem Mutterarme reif in die Vaterarme des unendlichen
Genius, ─ als sey das leichte Leben verweht?
─ Wir kamen uns wie Unsterbliche, und erhabener vor;
wir wähnten, das Sprechen über die Unsterblichkeit habe
bei uns den Anfang der unsrigen bedeutet.

[438]

9) von Oehlenschläger.


Johannes in der Wüste.


Fort, fort, ihr Otterngezüchte, fort!

Verpestet mit Nebeln nicht die heilige Luft!

Fort! Suchet im Moore den Wohnungsort!

Nistet tief, tief in der Felsenkluft!

Aber fort, daß der Blüthenduft

Samenschwanger befruchte den Ort.

Flieht, gehorcht meinem Wort.

Jn euern Nebeln nistet nur Laster und Tod;

Jhr verschleiert das steigende Morgenroth,

Erstickt, wie Herodes, die Kindelein,

Damit der Heiland nicht soll gedeihn.

Aber er gedeiht! ich künd' es euch an.

Fort! daß er wachsen und blühen kann!

Brauset, ihr Eichen, und schüttelt das lockige Haar.

Krachet tief in die mächtigen Wurzeln hinein;

Laut will ich zornig im Winde schrein,

Damit das Gesindel verzage gar.

Es sterbe, was nicht befördert des Lebens Heil.

An Baumes Wurzel lieget das Beil,

Und welcher Baum der nicht gedeiht ─

Den hau' ich um und werf' ihn weit;

Weit, ohn' alle Barmherzigkeit!

Fort vom Ort!

Jhr Schlangen, ihr Molch', ihr Kröten!

Bald wird Sonne die Luft erwärmen, erröthen,

Wecken im Waldsgrün unzählige Flöten,

Euch mit euern Dünsten tödten.

Darum flieht

Weit vom Gebiet.

Fort, gehorcht des Zornes Lied!
[439]

10) von Ludw. Tieck.


Bruchstück aus der „Frühlingsreise.


─ Nie vergißt der Frühling wieder zu kommen,

Wenn Störche ziehn, wenn Schwalben auf der Wiese sind.

Kaum ist dem Winter die Herrschaft genommen;

So erwacht und lächelt das goldne Kind.

Dann sucht er sein Spielzeug wieder zusammen,

Das der alte Winter verlegt und verstört;

Er putzt den Wald mit grünen Flammen,

Der Nachtigall er die Lieder lehrt.

Er rührt den Obstbaum mit röthlicher Hand;

Er klettert hinauf die Aprikosenwand;

Wie Schnee die Blüthe noch vor dem Blatt ausdringt;

Er schüttelt froh das Köpfchen, daß ihm die Arbeit gelingt.

Dann geht er, und schläft im waldigen Grund,

Und haucht den Athem aus, den süßen;

Um seinen zarten rothen Mund

Jm Grase Viol' und Erdbeer sprießen.

Wie röthlich und bläulich lacht

Das Thal, wann er erwacht!

Jn den verschloßnen Garten

Steigt er über's Gitter in Eil,

Mag auf den Schlüssel nicht warten;

Jhm ist keine Wand zu steil.

Er räumt den Schnee aus dem Wege,

Er schneidet das Buxbaum-Gehege,

Und feiert auch am Abend nicht;

Er schaufelt und arbeitet im Mondenlicht.

Dann ruft er: wo säumen die Spielkameraden,

Daß sie so lange in der Erde bleiben?

Jch habe sie alle eingeladen,

Mit ihnen die fröhliche Zeit zu vertreiben.
[440]
Die Lilie kommt und reicht die weißen Finger;

Die Tulpe steht mit dickem Kopfputz da;

Die Rose tritt bescheiden nah,

Aurikelchen und alle Blumen, vornehm und geringer.

Der bunte Teppich ist nun gestickt:

Die Liebe tritt aus Jasminlauben hervor.

Da danken die Menschen, da jauchzt der Vögel ganzes Chor;

Denn alle fühlen sich beglückt.

Dann küßt der Frühling die zarten Blumenwangen,

Und scheidet und sagt: ich muß nun gehn;

Da sterben sie alle an süßem Verlangen,

Daß sie mit welken Häuptern stehn.

Der Frühling spricht: Vollendet ist mein Thun,

Jch habe schon die Schwalben herbestellt,

Sie tragen mich in eine andre Welt;

Jch will in Jndiens duftenden Gefilden ruhn.

Jch bin zu klein, das Obst zu pflücken,

Den Stock der schweren Traube zu entkleiden,

Mit der Sense das goldene Korn zu schneiden;

Dazu will ich den Herbst euch schicken.

Jch liebe das Spielen, bin nur ein Kind,

Und nicht zur ernsten Arbeit gesinnt;

Doch wenn ihr des Winters überdrüssig seyd,

Dann komm' ich zurück zu eurer Freud',

Die Blumen, die Vögel, nehm' ich mit mir,

Wann ihr erntet und keltert, was sollen sie hier?

Ade! Ade! ist die Liebe nur da,

So bleibt euch der Frühling ewiglich nah!

11) von Schink.


Tyrannentod.


Das Angesicht vom Schrecken bleich,

Von Nacht das Aug' umgeben,
[441]
Lag ein Tyrann in kaltem Schweis,

Und rang mit Tod und Leben.

Starr stand das Hofgesind' um ihn,

Still, wie des Grabes Höhle.

Er aber zuckte, röchelte,

Und sträubend floh die Seele.

Als sie empor fuhr, schwebt' auf sie

Mit blutigem Gefieder

Aus düsterm, nächtlichem Gewölk

Ein Todesengel nieder.

Dem hochgeschwungnen Schwert entfuhr

Ein ganzes Meer von Flammen.

„Mir nach ─ erscholl des Rächers Ruf ─

Und höre dich verdammen!“

Sie folgte. Abermals rief's laut:

„Hier weile! Dir vorüber

Gehn deines Lebens Thaten jetzt,

Sieh, und verzweifle drüber.

Der Spiegel der Vergangenheit

Sinkt deinen Augen nieder,

Und jede That des Unrechts kehrt

Jn dein Gedächtniß wieder!“

Also geschah's. Geschändeter,

Erwürgter Unschuld Jammer;

Entweihete Mysterien

Jn stiller Tugend Kammer;

Hier eine Kindesmörderin,

Dort, zugesellt den Todten,

Ein überschmeichelt treues Weib

Umschwebten den Despoten.

Dann sah er sich auf seinem Thron,

Und an des Thrones Füßen

Ein bleiches ausgemergelt Volk
[442]
Für seine Prachtsucht büßen.

Er trank der Unterthanen Fleiß

Aus funkelnden Pokalen,

Fraß seines Landes fettes Mark

Bei seinen Königsmahlen!

Sah ein unendlich Leichenfeld

Jm ungerechten Kriege;

Vernahm des Elends Angstgeschrei

Bei jedem seiner Siege;

Geheul um ihn, und Ströme Bluts,

Und Schädel, halb gebrochen,

Wollt' er entfliehn, und stürzt', und sank

Bleich unter Todtenknochen.

„Verdammt, rief jeder Schädel laut.

Fluch, rauschte jede Welle

Des Blutstroms um ihn, Ungeheu'r!

Hinab, hinab zur Hölle!“

Er stürzt, umzischt vom Rächerschwert,

Umblitzt von seinen Flammen;

Und alle Knochen rasselten

Hoch über ihm zusammen!

66.
d) Die Parabel und Paramythie*.


Die Parabel enthält die Darstellung einer
Handlung, die das Sinnbild einer höhern Wahrheit
der Vernunft oder eines sittlichen Grundsatzes [443]
in sich einschließt, unter der Einheit einer vollendeten
ästhetischen Form. So wie das Gleichniß aus
einer fortgesetzten und durchgebildeten Vergleichung
entsteht; so die Parabel aus einem völlig durchgebildeten
Gleichnisse. Sie trägt den Charakter des
Epischen, weil sie eine Handlung in den Mittelpunct
der Darstellung stellt; allein sie ist auch der didactischen
und lyrischen Dichtkunst nahe verwandt, weil
sie die Handlung nicht ihrer selbst wegen, wie der
epische Dichter, sondern als Versinnlichung einer
Vernunftwahrheit oder eines ewig gültigen Grundsatzes
der Sittlichkeit, unter der bildlichen Hülle
darstellt, und weil dieser von der selbstthätigen Einbildungskraft
bewirkten freien Versinnlichung eine
hohe Bewegung des Gefühlsvermögens zum Grunde
liegt, ohne welche die Parabel überhaupt nicht das
Gepräge der Dichtkunst tragen könnte. Dadurch
unterscheidet sich denn auch die Parabel wesentlich
von der Allegorie und der Fabel. Denn die Allegorie
(Th. 1. S. 461) nennt den eigentlichen Gegenstand,
der versinnlicht werden soll, nicht selbst,
sondern läßt ihn unter einem ihm völlig entsprechenden
Bilde erscheinen; auch ist es nur zufällig, wenn
die Allegorie eine Vernunftwahrheit oder einen sittlichen
Grundsatz versinnlicht, weil sie auf gleiche
Weise auch das Gegenbild von etwas Mythischen,
Geschichtlichen u. s. w. ästhetisch vollendet aufstellen
kann. Noch bestimmter unterscheidet sich die Parabel
von der Fabel (§. 49.), deren eigenthümlicher
Charakter auf der Versinnlichung menschlicher Handlungen
und Zustände in dem, der menschlichen Freiheit
verwandten, Kreise des Jnstinkts beruht.


Die Paramythie, von Herder mit diesem
Namen belegt, und (in s. zerstreuten Blättern) [444]
in vielen gelungenen Formen ausgeprägt, enthält die
ästhetisch vollendete Darstellung eines Jndividuums,
einer Begebenheit, oder einer Handlung, die den
orientalischen oder griechischen Mythen des Alterthums
angehören, mit einer modernen Deutung und
Beziehung. Die Paramythie hat durchgehends eine
epische Unterlage; allein gewöhnlich waltet in ihr
der Ton des Gefühls noch stärker vor, als in der
Parabel.


Beiden, der Parabel und Paramythie, ist es
wesentlich, daß ihr Ausdruck natürlich, einfach und
ungekünstelt sey, damit auch der Verstand und das
Gefühl des Volkes und der Jugend den gemeinten
Gegenstand, oder die versinnlichte Wahrheit, unter
der sinnbildlichen Hülle sogleich wiedererkenne, und
diese, vermittelst der vollendeten ästhetischen Form,
einen desto tiefern Eindruck auf das Gefühlsvermögen
hevorbringe.

67.
Beispiele der Parabel und Paramythie.


a) der Parabel.


1) von Krummacher.


Der Blinde.


Ein Blinder stand mit aufgerichtetem Haupte in den
Stralen der milden Frühlingssonne. Jhre Wärme durchströmte
seine Glieder, und ihr Glanz senkte sich auf die
dunkeln Globen seines Angesichts, das er unverwandt
ihr darbot.


O du unbegreifliches Lichtmeer! rief er aus, du Wunder
der allmächtigen Hand, die dich erschuf, und auf
deiner herrlichen Bahn dich leitet. Aus dir strömet ewige [445]
Fülle, Leben und Wärme, und nie versieget deine Kraft!
Wie groß muß der seyn, der dich gebildet hat!


So sprach der blinde Mann. Seine Rede vernahm
ein Anderer, der neben ihm stand. Und es befremdeten
ihn die Worte des Blinden. Deshalb begann er und
fragte: Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern,
und siehest es nicht?


Da antwortete der Blinde und sprach: Eben darum,
mein Freund. Seit das Licht meiner Augen verdunkelt
und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, nahm
ich sie in meine Seele auf! Jedes Gefühl ihrer Nähe
lässet sie in mir selbst aufgehen, und ihren Glanz in
meinem Jnnern leuchten. Jhr aber schauet sie nur, wie
alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge!


2) von Hamann.


Frage und Antwort.


„Wie kömmt's doch, daß von allen Blumen, die

Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur

Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn,

Der dieses Veilchen hier so werth uns macht?

Sie trinken alle doch denselben Thau,

Denselben Stral der Sonne und des Monds;

Sie sprossen alle ja aus Einem Schoos,

Und Eine Mutter ist es, die sie nährt!“ ─

So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann.

„Wie kommt's, mein Sohn, erwiedert der, daß von

Den Menschen nicht ein Jeder Wohlgeruch

Zum Himmel schickt durch edle, gute That?

Hat die Natur doch Keinen je versäumt!

Es leuchtet Jedem ja die Sonne mild,

Und milder noch der Mond. Für Jeden schmückt

Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt
[446]
Für Jeden sich der blaue Aether, weht

Mit kräft'gem Lebenshauch um seine Stirn.

Es flimmert Jedem doch der Stern des Rechts,

Und Jedem schallt die Stimme des Gefühls!“

b) der Paramythie.


1) von v. Herder.


Der sterbende Schwan.


„Muß ich allein denn stumm und gesanglos seyn?
sprach seufzend der stille Schwan zu sich, und badete
sich im stillen Glanze der schönsten Abendröthe; beinahe
ich allein im ganzen Reiche der gefiederten Schaaren.
Zwar der schnatternden Gans und der gluckenden Henne
und dem krächzenden Pfau beneide ich ihre Stimmen
nicht; aber dir, o sanfte Philomele, beneide ich sie,
wenn ich, wie festgehalten durch dieselbe, langsamer
meine Wellen ziehe, und mich im Abglanze des Himmels
trunken verweile. ─ Wie wollte ich dich singen, goldene
Abendsonne! dein schönes Licht und meine Seligkeit
singen, mich in den Spiegel deines Rosenantlitzes
niedertauchen und sterben.“


Stillentzückt tauchte der Schwan nieder, und kaum
hob er sich aus den Wellen wieder empor, als eine leuchtende
Gestalt, die am Ufer stand, ihn freundlich zu sich
lockte. Es war der Gott der Abend=und Morgensonne,
der schöne Phöbus. „Keusches, liebliches Wesen, sprach
er, die Bitte ist dir gewährt, die du so oft in deiner
verschwiegenen Brust nährtest, und sie konnte dir nicht
eher gewährt werden.“


Kaum hatte er das Wort gesagt; so berührte er den
Schwan mit seiner Leier, und stimmte auf ihr den Ton
der Unsterblichen an. Entzückend durchdrang der Ton
den Vogel Apollo's, und aufgelöset und ergossen sang [447]
er in die Saiten des Gottes der Schönheit, dankbar
froh besingend die schöne Sonne, den glänzenden See,
und sein unschuldiges seliges Leben. Sanft, wie seine
Gestalt, war das harmonische Lied; lange Wellen zog
er daher in süßen entschlummernden Tönen, bis er
sich ─ im Elysium wieder fand, am Fuße des Apollo
in seiner wahren himmlischen Schönheit. Der Gesang,
der ihm im Leben versagt war, war sein Schwanengesang
geworden, der sanft seine Glieder auflösete; denn
er hatte den Ton der Unsterblichen gehört, und das
Antlitz eines Gottes gesehen. Dankbar schmiegte er sich
an den Fuß Apollo's und horchte seinen göttlichen Tönen,
als eben auch sein treues Weib ankam, die sich in
süßem Gesange ihm nach zu Tode geklaget. Die Göttin
der Unschuld nahm beide zu ihren Lieblingen an;
das schöne Gespann ihres Muschelwagens, wenn sie im
See der Jugend badet.


Gedulde dich, stilles, hoffendes Herz! Was dir im
Leben versagt ist, weil du es nicht ertragen konntest,
giebt dir der Augenblick deines Todes!


2) von v. Herder.


Die Sterne.


Müde und matt war Daniel von seinen Gesichten
der Zukunft, die ihm so oft seine Kraft genommen, und
ihn mit Schauder erfüllet hatten; als endlich Einer aus
dem Rathe der Wächter zu ihm sprach: „Gehe hin,
Daniel, und ruhe, bis das Ende komme, daß du aufstehest
in deinem Theile am Ende der Tage!“


Gelassen hörte Daniel das räthselhafte Wort und
sprach zu dem Manne, der neben ihm stand: „Meinest
du, Herr, daß diese Gebeine werden wieder grünen?“
Und der himmlische Bote nahm ihn bei der Hand, und
zeigte ihm den Himmel voll leuchtender Sterne. „Viele, [448]
sprach er, so unter der Erde schlafen, werden erwachen;
die Lehrer aber werden leuchten, wie des Himmels Glanz,
und die, so viel zum Guten gewirkt haben, wie die
unvergänglichen Sterne.“ ─ Er sprachs, und berührte
ihn mit seiner Rechte, und Daniel entschlief unter dem
Anblicke des Himmels und seiner hellleuchtenden ewigen
Sterne.

68.
e) Der Dialog und Monolog.


Obgleich der Dialog und Monolog nach ihrer
Abwechselung und Aufeinanderfolge, und beide durchgeführt
nach dem Gesetze der Form, eine Grundbedingung
der äußern Ankündigung der dramatischen
Dichtkunst sind; so beschränken sie sich doch keinesweges
allein auf die dramatische Form. Sie können
eben so in die epische, wie in die didactische und
lyrische Dichtkunst abwechselnd eingelegt werden, um
eine höhere Mannigfaltigkeit der Form und ein verstärkteres
Jnteresse an derselben zu vermitteln; sie
können auch zur ästhetischen Selbstständigkeit
erhoben
und als größere, für sich bestehende
Kunstformen, durchgeführt werden. Nach dieser
ästhetischen Durchführung und Gestaltung unterscheiden
sie sich völlig von der blos mündlichen Unterhaltung;
und je nachdem durch sie entweder unmittelbare
Gefühle, oder Jdeen und Wahrheiten der
Vernunft, oder wichtige Vorgänge des menschlichen
Lebens versinnlicht werden, nähern sie sich bald mehr
der lyrischen, bald mehr der didactischen, bald mehr
der epischen Dichtkunst.


Erscheint der Dialog als eine selbstständige
Kunstform; so wird durch ihn entweder eine [449]
reichere Mannigfaltigkeit, Schattirung und Abwechselung
im Tone und Ausdrucke derselben Gefühle,
oder die Versinnlichung gewisser einander entgegengesetzter
Gefühle, Wahrheiten oder Thatsachen
(die Versinnlichung eines ästhetisch durchgeführten
Antagonismus) beabsichtigt und bewirkt,
weil die Verschiedenheit und der Contrast dieser Gefühle,
Wahrheiten und Thatsachen durch ihre Gegeneinanderstellung
am bestimmtesten vergegenwärtigt
wird.


So wie aber die poetische Epistel gegen den
zum Sprachgebiete der Prosa gehörenden Brief sich
verhält; so verhält sich auch der ästhetische Dialog
zum gewöhnlichen Gespräche bei der mündlichen Unterhaltung.
Je specieller nämlich der prosaische
Brief und die mündliche Unterhaltung sind; desto
mehr entsprechen sie ihrem Zwecke. Dagegen stellen
die poetische Epistel und der ästhetische Dialog idealisirte
Menschen auf, die namentlich im Dialoge
als Repräsentanten der gesammten Menschheit, oder
doch als Repräsentanten einzelner Gattungen, Klassen
und Stände derselben geschildert werden. Daher
kann der Dialog eben so das Gefühl der Liebe, nach
seiner verschiedenartigen Ankündigung in den beiden
Geschlechtern der Menschengattung, wie den Kampf
zweier einander entgegengesetzten (religiösen oder politischen)
Ansichten und Systeme darstellen, so, daß
die schöpferische Einbildungskraft des Dichters besonders
an der glücklichen Erfindung, gelungenen
Haltung und erschöpfenden gegenseitigen Stellung
und Durchführung der Eigenthümlichkeit der einander
entgegengesetzten Jndividuen und Charaktere, nach
der Ankündigung ihrer Gefühle, Grundsätze, Ansichten
und Meinungen, erkannt wird. Ob nun gleich [450]
durch die ästhetische Versinnlichung dieses Antagonismus
menschlicher Gefühle, Grundsätze und Handlungen
das gemischte Gefühl der Lust und Unlust
in dem Anschauenden angeregt und unterhalten wird;
so soll sich doch dasselbe, in dem Augenblicke der
Vollendung der Form, durch die an die Stelle
dieses Antagonismus getretene Harmonie, in ein
siegendes Gefühl der Lust auflösen.


Der Monolog, als eine selbstständige ästhetische
Form, beruht auf der Versinnlichung und
vollendeten Durchführung eines stark angeregten Gefühls,
oder einer mächtig emporstrebenden Leidenschaft.
Denn nur eine hohe Bewegung des Gefühls-
oder des Bestrebungsvermögens kann den Zustand
bewirken, daß der Mensch, der allein ist, durch lautes
Sprechen sein inneres subjectives Leben gleichsam
objectivisirt, weil er der Sprache bedarf, um
dem Drange und Kampfe in seinem Jnnern Luft
zu machen. ─ Ob nun gleich auch jedes Gebet
als ein in sich vollendeter Monolog betrachtet werden
kann (und Reinhard, Zollikofer, Marezoll
u. a. treffliche Gebete in diesem Sinne aufgestellt
haben, die aber zunächst zur Sprache der
Beredsamkeit gehören); so findet sich doch der Monolog
am häufigsten in der dramatischen Dichtkunst,
wo derselbe, sobald ihn die schöpferische Kraft
des Dichters an den rechten Ort versetzt und zur
ästhetischen Gediegenheit erhebt, von hoher psychologischer
und dramatischer Wirkung ist. (Viele Jdyllen
Geßners gehören in den Kreis der Monologe.
Unter den neuern Tragikern sind die Monologe Schillers
in den Räubern, im Fiesko, im Wallenstein,
in der Jungfrau von Orleans, ─ Göthe's, Müllners
u. a. allgemein bekannt.)

[451]

69.
Beispiele des Dialogs und Monologs.


a) des Dialogs.


1) von Kosegarten († 1818).


Das Geständniß.


Theon und Theano.
Theano.


Weg ist sie, Gottes Sonne! Wohlthuns müde,

Und wie die Tugend ruhig, schlief sie ein.

O wiegte diese Ruh, o lullte dieser Friede

Mich in den langen Schlummer ein!

Theon.


Schön sank sie hin, die Starke, Hohe, Große,

Und steigt bald wieder schimmernder empor.

So blüht Theano einst aus der Verwesung Schoose

Verschönert und verjüngt hervor.

Theano.


Wie glüht der Westen! Theon sieh, wie wallen

Die rothen Fluten um der Sonne Grab!

Es regnet Rosen, Theon; Diamanten fallen

Aus jenem Duftgewölk' herab.

Theon.


Und regnen einstens diese Rosen, fallen

Des Thaues Perlen einst auf meinen Stein;

Wird auch Theano wohl zu Theons Hügel wallen

Und Blumen auf den stillen streun?

Theano.


Wie sagst du, Theon? ─ Ach die klare Bläue,

Die, wie ein wogend Lichtmeer, uns umschwillt!

Wie diese lautre Flut, wie diese Füll' und Treue

Des matten Herzens Lechzen stillt!
[452]

Theon.


Dies matte Herz lechzt, Beste, nach dem Lande,

Wo das Verhängniß sich der Lieb' erbarmt;

Wo alles Zwanges los, und ledig aller Bande

Sich selig Seel' und Seel' umarmt.

Theano.


Siehst du den regen Punct hoch in den Lüften?

Hörst du der Lerche wirbelnd Abendlied?

Jetzt schweigt sie, kreist herab auf thauberauschte Triften,

Und sinkt ins hochbegraste Ried!

Theon.


Die Glückliche! Sie lebt ein seligs Leben.

Jhr kürzt den Tag, die süße Harmonie;

Die süßre Nacht verwallt ihr zephyrleicht und eben

Am Busen der geliebten Sie.

Theano.


Zurück du Rascher! Morde nicht das Veilchen,

Von Thau und Düften schwer hinabgedrückt!

Verstreue deinen Duft, verblühe, frommes Veilchen,

Von meinem Finger ungepflückt.

Theon.


Du wolltest Florens Lieblingskind verachten?

Mißgönnen wolltest ihm den Stolz, die Lust,

Sein Leben auszublühn, sein Daseyn auszuschmachten

An eines Engels reiner Brust?

Theano.


Wie meinst du, Theon? ─ Theon, welche Frische!

Jn Amboina's Würzen schwebt die Luft!

Die kleebeblümte Flur, die thaubesprengten Büsche,

Sie träufeln Balsam, strömen Duft.

Theon.


Es ist der Liebe Hauch, der um uns säuselt,

Es ist der Liebe Athem, der uns kühlt,
[453]
Der Liebe Lispel ists, der deine Locken kräuselt,

Und fächelnd um die Wangen spielt!

Theano.


Ja wohl ists Abglanz einer ew'gen Güte,

Die in den rothen Wolken dort sich mahlt.

Wohl ist es Kraft und Huld, die uns aus jeder Blüthe,

Aus jedem Halm entgegen stralt!

Theon.


Und die mir stralt in dieser Wangenblüte,

Jn dieser Augen himmelblauem Licht;

O wandellose Huld, o anspruchslose Güte,

Die jedem dieser Züg' entspricht!

Theano.


Ja schön bist du, du unsers Lebens Wiege

Und einstens unser Grab! ─ Ach wenn ich nun

An deiner kalten Brust, du gute Mutter, liege;

So laß mich schuldlos an dir ruhn!

Theon.


Ja schön ist unser Stern im Frühlingsgrüne.

Doch schöner ist ein menschlich Angesicht,

Wann leis' aus jedem Zug', und laut aus jeder Miene

Der Seele hohe Schönheit spricht.

Die Flur erschließt sich lauen Regengüssen,

Der Blume Kelch dem jungen Morgenlicht;

So fühlt zu solcher Huld mein Herz sich hingerissen,

Und liebte gern und ─ darf es nicht.

Theano.


Und darf nicht, Theon? ─ Wonne, Theon, Wonne!

Sie schlägt die Sängerin, die Nachtigall!

Entzücken, das mich schwillt, bist du noch Erdenwonne?

Bist du nicht Eden, sel'ges Thal?

Theon.


Ja Eden ist es. Wo du weilst, ist Eden,

Und wo du lächelst, blüht Elysium ─
[454]
Ach lächle nicht so hold; dein Lächeln täuscht den Blöden,

Und wandelt ihn zum Helden um.

Horch, wie sie flötet! Weckt kein leises Sehnen,

Kein süßes Ahnen dieser Ton in dir?

Du wendest dich? du weinst? Was deuten diese Thränen,

Was weissagt dies Erblassen mir?

Nein, länger, länger duld' ichs nicht. Zu brechen

Droht dieses Herz, zurückgedrängt in sich ─

Laß, theure Seele, laß das große Wort mich sprechen:

Theano, ach, ich liebe dich!

2) von v. Schiller.


Brutus und Cäsar.
Brutus.


Sey willkommen, friedliches Gefilde,

Nimm den letzten aller Römer auf.

Von Philippi, wo die Mordschlacht brüllte,

Schleicht mein gramgebeugter Lauf.

Cassius, wo bist du? ─ Rom verloren?

Hingewürgt mein brüderliches Heer?

Meine Zuflucht zu des Todes Thoren!

Keine Welt für Brutus mehr!

Cäsar.


Wer mit Schritten eines Niebesiegten

Wandert dort vom Felsenhang? ─

Ha! wenn meine Augen mir nicht lügten,

Das ist eines Römers Gang! ─

Tiberfohn, von wannen deine Reise?

Steht sie noch die Siebenhügelstadt?

Oft geweinet hab' ich um die Waise,

Daß sie nimmer einen Cäsar hat!

Brutus.


Ha! du mit der drei und zwanzigfachen Wunde!

Wer rief, Todter, dich ans Licht?
[455]
Schaudre rückwärts zu des Orkus Schlunde,

Stolzer Weiner! ─ triumphire nicht!

Auf Philippi's eisernem Altare

Raucht der Freiheit letztes Opferblut;

Rom verröchelt über Brutus Bahre,

Brutus geht zum Minos ─ Kreuch in deine Flut!

Cäsar.


O, ein Todesstoß von Brutus Schwerte;

Auch da ─ Brutus ─ du?

Sohn, es war dein Vater ─ Sohn ─ die Erde

Wär' gefallen dir als Erbe zu.

Geh ─ du bist der größte Römer worden,

Da in Vaters Brust dein Eisen drang;

Geh, ─ du weißt's nun, was an Lethe's Strande

Mich noch bannte; ─

Schwarzer Schiffer, stoß vom Lande!

Brutus.


Vater, halt ─ im ganzen Sonnenreiche

Hab' ich Einen nur gekannt,

Der dem großen Cäsar gleiche;

Diesen Einen hast du Sohn genannt.

Nur ein Cäsar mochte Rom verderben;

Nur nicht Brutus mochte Cäsar stehn!

Brutus will Tyrannengut nicht erben.

Wo ein Brutus lebt, muß Cäsar sterben;

Geh du linkwärts, laß mich rechtwärts gehn!

b) des Monologs.


von Heydenreich († 1801).


Lebewohl an die Jugend. (abgekürzt)


Sie ist verschwunden die blühende Zeit des Lebens,
die Periode des Frohsinns und harmloser Heiterkeit. ─
Welche unvergeßliche, genußvolle Stunden hat sie mir [456]
gewährt! Stunden, nach denen noch im späten Alter
dieses Herz sich zurücksehnen wird.


Wie war alles um mich her so lachend und heiter!
Welches schöne Bündniß knüpfte der Zauber der Hoffnung
zwischen Gegenwart und Zukunft! Mit Freude
begrüßte der Jüngling den Morgen, und mit lieblichen
Schwärmereien sagte er dem sinkenden Tage das Lebewohl.


Jetzt bin ich Mann, und sehe zurück in das entschwundene
Gefilde der Vergangenheit; die Erinnerung
stellt mir ihre Scenen mit lebhaften Zügen dar. Es war
der wichtigste Zeitraum des Lebens, der Zeitraum, von
welchem das Glück der übrigen Lebensalter am meisten
abhängt; der Zeitraum, in welchem der Mensch eine
Richtung bekommt, die ihn meistens sein ganzes irdisches
Daseyn hindurch begleitet.


Dichter, ihr nennt die Jugend einen Traum; aber
sie ist es nur zum Theil. Träume sind die Freuden
des Jünglings; aber keine Träume seine Thaten. O
diese Thaten haben ein ewiges unveränderliches Daseyn
im sittlichen Reiche; sie verschwinden nicht, bekommen
durch keinen Zauber der Phantasie und Erinnerung eine
andere Gestalt; ihre Verwandlung ist auch für die Allmacht
eines Gottes nicht möglich.


Habe ich dich oft entweiht, edle Blütenzeit des Lebens;
was kann ich mehr, als mit Reue an deine Grenze
knieen, und mit Thränen mir selbst die Tilgung jedes
Fleckens schwören, der die Menschheit herabwürdigt.
Kann ich mehr, als mit Vorsätzen, in der Laufbahn der
Männlichkeit fortschreiten, fest und innig genug, um
mir das Leben unerträglich zu machen, wann ich sie je
verließe? ─


Lebe denn wohl, holder Morgen des Lebens! Schwebe
mir oft vor im Bilde der Erinnerung, und führe die
beseligende Hoffnung mit dir, daß jenseits des Grabes [457]
dem Erweckten eine Jugend aufdämmert, schöner noch,
als diese. ─

70.
f) Die Satyre.


Da das Satyrische, als ästhetische Eigenschaft,
bereits (Th. 1. S. 413) unter den untergeordneten
Eigenschaften der Schönheit der Form
aufgeführt und mit zwei Beispielen belegt worden
ist; so muß hier der Satyre als einer selbstständigen
dichterischen Form
gedacht werden,
deren ästhetischer Charakter auf der Verbindung derjenigen
Merkmale, an welchen das Satyrische als
Eigenschaft des Schönen erkannt wird, zur vollendeten
Einheit der Form beruht. Die Satyre enthält
nämlich die Versinnlichung des Contrastes, in
welchem gewisse bestimmte Unvollkommenheiten der
intellectuellen und sittlichen Welt zu den höchsten
Jdealen des Wahren, Schönen und Guten stehen,
unter der Einheit einer vollendeten ästhetischen Form.
Da jedes Jdeal höher steht, als die Wirklichkeit;
so muß schon an sich die Wirklichkeit, bei dem Zusammenhalten
mit dem Jdeale, jedesmal verlieren,
noch mehr aber, wenn die dichterisch geschilderte
Wirklichkeit einen reichhaltigen Stoff in Hinsicht
der Verirrungen des menschlichen Verstandes oder
der menschlichen Freiheit darbietet. Nothwendig
muß die Versinnlichung des hoch über den Kreisen
des menschlichen Lebens stehenden Jdeals ein Gefühl
der Lust, so wie die Ankündigung der menschlichen
Verirrungen von diesem Jdeale ein Gefühl der Unlust
anregen und lebendig erhalten, bis dieses gemischte
Gefühl der Lust und Unlust zuletzt, im [458]
Augenblicke der Vollendung der ästhetischen Form,
bei dem entschiedenen Siege des Jdeals über alles
Unvollkommene, Beschränkte und Unsittliche, das im
Contraste mit dem Jdeale in der Wirklichkeit erscheint,
in einem Uebergewichte des Gefühls der
Lust über das Gefühl der Unlust endigt. ─ Soll
die Satyre diese Wirkung hervorbringen; so muß
der Stoff derselben ästhetisch darstellbar seyn, und
die Form als vollendete Einheit erscheinen. Es ist
aber nicht jede Unvollkommenheit der intellectuellen
Welt, und nicht jede Verirrung der sittlichen Freiheit
ästhetisch darstellbar, obgleich die letztern dem
Gebiete der philosophischen Sittenlehre angehören;
vielmehr sind nur diejenigen Unvollkommenheiten und
Verirrungen des Menschen ein ästhetischer Stoff
für die Satyre, welche von dem Dichter zur Einheit
der Form erhoben werden, und das Anwogen des
Gefühls der Lust und der Unlust gegen einander bewirken
können. Da dies bei dem Pasquill nicht
möglich ist; so wird das Pasquill ganz von der
Satyre ausgeschlossen. Eben so wird die persönliche
Satyre
nur selten gelingen, nnd Liscov's
Satyren stehen deshalb im Ganzen so tief, weil sie
fast durchgehends persönlich waren. Der dichterische
Gehalt der Satyre beruht vielmehr darauf, daß sie
im Allgemeinen den Abstand der Wirklichkeit
von dem Jdeale versinnlicht, und die entarteten
Jndividuen, Stände nnd Klassen des menschlichen
Geschlechts, meistens unter angenommenen Namen,
nach ihren Fehlern schildert, und dadurch als Vertreter
der beeinträchtigten Rechte der Sittlichkeit erscheint.
─ Dem Tone nach kann die Satyre bald
strafend, bald lachend seyn, je nachdem sie den
Gegensatz des Jdeals und der Wirklichkeit entwe= [459]
der mit der Geisel des bittern Ernstes, oder mit
der Geisel des schneidenden Spottes hervorhebt;
auch wird die Satyre unter beiden Ankündigungen
das gemischte Gefühl der Lust und der Unlust, und
zuletzt den völligen Sieg des Gefühls der Lust über
das Gefühl der Unlust bewirken, sobald die schöpferische
Kraft des Dichters sie zur Einheit und ästhetischen
Vollendung der Form erhob.

71.
Beispiele der Satyre.


1) von Rachel († 1669).


Probe einer bösen Sieben. (abgekürzt)


Nichts Bessers, als ein Weib, ist, wie mich dünkt,

auf Erden;

Auch kann nicht Bösers, als ein Weib, gefunden werden.

Sie träget beiderlei, Kreuz, Unglück, Glück und Heil,

Milch, Honig, Gift und Gall in ihrem Busen feil,

Und hat in einer Hand, gleichwie die Kinder pflegen,

Zu spielen Pinkewink, Lust, Leben, Fried' und Segen,

Und in der andern Hand Zorn, Tod, Fluch, Haß und Zank.

Ach, solches Pinkewink bringt Schmerz sein Lebelang.

Wer diese Hand ergreift; der kriegt nicht nur die Hände,

Ja vielmehr Haus und Hof voll Kreuz und voll Elende.

Was sag' ich Haus und Hof? Es muß was Mehrers seyn,

Jst doch die ganze Welt vor Weiberzorn zu klein.

Wann der, wie oft geschieht, hat überhand genommen;

So soll der Teufel selbst aus seiner Hölle kommen,

Und hohlen jedermann, auf den sie zornig sind,

Hund, Katze, Kuh und Kalb, Knecht, Magd, Mann

und das Kind.

Da hebt das ganze Haus vom Keifen an zu sausen,
[460]
Als wie die wüsten Wind' im wilden Meere brausen.

Jhr Rachen thut sich auf, wirft Feuer aus und Gift;

Die Zähne beißen sich, die braune Zunge kifft,

Die donnert, hagelt, flucht, läßt nichts sonst von sich

spüren,

Und machet ein Geschrei, als zwanzig Bauern führen.

Sie hüpft, sie rennt, sie springt, als wie ein rasend Pferd,

Jst gleich die Sach' oftmals nicht eines Dreiers werth.

Wenns hoch kommt, ist die Katz' ihr in den Topf gekrochen,

Und hat den Topf geleckt und ungefähr zerbrochen;

Die Köchin hat das Fleisch versalzen und verwürzt,

Auch ist der Essigkrug beim Ofen umgestürzt.

Wann nun der frommen Frau die Bosheit ist vergangen;

So kommt ihr wieder an ein Sehnen und Verlangen

Nach Hoffahrt. Jst dies nicht, spricht sie, die neuste Tracht?

Man hat sie nur jetzund aus Frankreich mitgebracht,

Mein herzer Mann, seht doch, wie schön steht der die Mütze;

Mein Herzensmännchen seht, wie hübsch ist diese Spitze.

Mein Rock ist hier ganz kahl, ich muß mich drinnen schämen!

Was werd' ich immermehr für Farbe wieder nehmen?

Roth, grün, blau, gelb und schwarz, die sind gar zu gemein;

Wenn ich was haben soll, so hab' ichs gern allein.

Dem armen Mann wird bang. Er sitzt dort, wie auf

Kohlen;

Was hilfts? Sie läßt nicht ab, er muß den Beutel hohlen.

Ob er sich noch so sehr mit vielen Worten wehrt;

So muß er geben her, so viel sie nur begehrt.

Nun Beutel, ei, ei, ei; jetzt wirst du müssen schwitzen;

Gieb Geld zur neuen Pracht; gieb Geld zur Mütz' und

Spitzen,

Gieb ganz her, was du hast, die Frau hält stürmisch an;

Ach gieb, gieb bald! sollt' auch der letzte Heller dran.

Wann nur der Kaufmann hat das Geld; so sitzt die Docke,

Und sperrt sich, prangt und prahlt in ihrem bunten Rocke.
[461]
Das Maul wacht endlich auf, will auch versorget seyn:

Wo ist das beste Bier? wo ist der beste Wein?

O Mann, seyd doch nicht so ein arger Pfenningdrucker;

Gebt Geld! ich hätte gern Citronen, Wein und Zucker.

Mir ist fürwahr nicht wohl, mir schaudert gar die Haut;

Jch aß zuvor zu viel fett Fleisch und Sauerkraut.

Geh Magd, und laß mir stracks ein gut paar Kuchen backen.

Der arme Mann sitzt dort, und klauet sich im Nacken.

Doch wann er freundlich ist; so krieget er den Rand

Vom Kuchen, und was sonst daran ist abgebrannt.

Dies alles ging noch hin, als: Banketiren, trinken,

Auch keifen, wenn sie nur den Hund nicht ließe hinken.

Bald blökt das Reh, bald kräht ein junger stolzer Hahn;

Es find't sich auch wohl oft ein Kammercapellan,

Der sich mit dieser Frau fein Tag und Nacht ergötzet,

Wodurch dem armen Mann ein Horn wird aufgesetzet,

Und ihm in seinem Hut zehn Krempen machet ein;

Doch muß der gute Mann damit zufrieden seyn.

Dies ist die Probe nun an einer bösen Sieben,

Wie sie auf der Capell der Laster abgetrieben!

2) von Benj. Neukirch († 1729).


Auf einen neuen Doctor. (abgekürzt)


Zum öftern hab' ich schon der Thorheit nachgedacht,

Warum die kluge Welt erkaufte Narren macht,

Und jüngst hat ein Athen, wo große Männer leben,

Dir dummen Eselskopf den Doctorhut gegeben.

Du bist kein Philosoph; als Weiser thätest du

Dies andern, was du willst, das man dir selber thu;

Du würdest deine Frau nicht, wie der Teufel, plagen,

Und, wie ein Lumpenhund, dich mit den Mägden schlagen.

Du bist kein Weltmann nicht; dieweil du nicht verstehst,

Warum du deiner Frau zur linken Seite gehst;
[462]
Das heißt: du sollst dein Weib nicht treiben, sondern

führen,

Und sie mit Höflichkeit, nicht mit Gewalt regieren.

Du bist kein Medicus; sonst nähmst du in der Pein

Ein treibendes Klystier für deine Würmer ein.

So hast du auch nicht viel in Gottes Wort vergessen;

Sonst würdest du dein Thun nach dem Gewissen messen.

Du bist auch kein Jurist; denn wer das Recht erklärt,

Der weiß wohl, daß das Weib nicht einen Mann ernährt,

Und daß, soll eine Frau der Haushaltung befehlen,

Man ihr die Krüge nicht muß aus der Kammer stehlen.

Was Henker bist du denn? ─ Ein Narr, der nichts

gelernt;

Ein Flegel, der nur drischt, was Andre eingeernt.

Und gleichwohl bist du doch ein großer Doctor worden?

Erhabner Eselskopf, man kommt nicht in den Orden,

Wo man bei dieser Zeit nicht Künste mit sich bringt,

Und, wenn die Kunst gebricht, von großer Zahlung singt.

Wie geht es denn nun zu? ─ Das Geld hat dich erhoben;


Das Geld, das dir, wie Koth, oft in der Hand verstoben,


Das deines Vaters Fleiß mit vieler Müh gehegt,

Und du schon, eh er starb, mit Schanden angelegt.

Drum fingst du nach der Zeit dich endlich an zu grämen,

Und dachtst, ich muß mir nur ein liebes Weibchen nehmen,

Die, weil ich armer Schelm in Büchern nichts gethan,

Und alles Geld verschluckt, mich noch erhalten kann.

Das Glücke war dir hold, du wurdest angenommen;

Dein Titel hat ein Weib, nicht aber du bekommen.

Nun hast du, was du willst; du lebst, wie dir's gefällt,

Die Frau ernähret dich, ihr Vater schafft dir Geld;

Die Braten müssen dir fast in die Gurgel fliegen.

Du kannst den ganzen Tag im Bette schnarchend liegen.
[463]
Du bist mehr Katz' und Aff', als einem Menschen gleich,

Die Lippen hängen dir, die Wangen werden bleich,

Dein Kinn ist zugespitzt, gleichwie die Bauernhüte,

Die Nase kommt mir vor, wie eine Krämertüte,

Jn welche man ein Pfund Rosinen schütten kann.

Dein Gang ist abgeschmackt, und jedes Wort zeigt an,

Daß du ein garstigs Thier in deinem Busen trägest,

Und dennoch brummest du, wenn du dich schlafen legest;

Du brummest, wann du wachst; du brummest, wann

du stehst;

Du brummest, wann du frißt; du brummest, wann du

gehst.

Jhr Musen, was habt ihr in euerm Rath gedacht,

Als ihr ein solches Thier zu einem Doctor macht?

Ach, hört doch einmal auf der Erde vorzulügen,

Sonst wird der beste Mann kein schönes Weibchen kriegen.

3) von Rabener († 1771).


Ein Traum von den Beschäftigungen der
abgeschiedenen Seelen.
(abgekürzt)


─ Mir träumte, ich sey gestorben. Jch sah den
Körper, von dem sich meine Seele getrennt hatte, mit
eben der Gleichgültigkeit liegen, mit welcher man eine
abgelegte Redoutenmaske ansieht. Jch werde nicht gern
sehen, wenn mir jemand hierin widersprechen, und läugnen
wollte, daß eine Seele ihren Körper so gleichgültig
ansehen könnte. Bei mir ist dies gar nicht unwahrscheinlich,
besonders da mein Körper eben nicht so gebaut
gewesen, daß er mich zu einer merklichen Eigenliebe
bewogen hätte. Jch berufe mich hierin auf den
guten Geschmack meiner verstorbenen Frau, welche in
ihrem Leben viele Körper gekannt hat, in deren Umgange
sie weit mehr Annehmliches und Artiges zu finden [464]
vermeinte, als bei mir. Jch verlange also, daß man
wenigstens meiner Frau glaube, wenn auch mein Zeugniß
verdächtig seyn sollte. Jn Sachen, welche die Körper
und Menschengesichter angehen, kann man dem Ausspruche
solcher Frauenzimmer, wie mein liebes Weib war,
sicher trauen; in andern Dingen hingegen, welche den
Verstand betreffen, bin ich gar wohl zufrieden, daß man
gründliche Beweise fordere.


Sobald ich meinen erblaßten Körper vor mir sah;
so eilte ich zu meinem Schreibepulte. Das habe ich gedacht,
wird die erbitterte Chloris aus Rachbegierde rufen;
die mürrischen Gelehrten werfen uns beständig den
Nachttisch vor, und vielmals begehen sie doch vor ihrem
Schreibepulte eben diejenigen Schwachheiten, welche man
an uns vor unserm Nachttische kaum wahrnehmen wird.
Mit ihrer Feder und Dinte treiben sie mehr Eitelkeiten,
als wir mit unsrer Schminke und mit dem Brenneisen.
Jn ihren Schriften bewundern sie vielmals ihre prächtige
Größe und gelehrte Schönheit mehr, und doch mit
weniger Gewißheit, als wir uns in Spiegeln. Jhre
Eigenliebe, ihr Stolz, ihre Begierde, Andern zu gefallen,
ihre Eifersucht ─ ─


Es ist alles wahr, Chloris; aber jetzt will ich weiter
erzählen. Auf meinem Pulte lag der Entwurf zu
einer Schrift, welchen ich noch am Abende vorher zu
Papiere gebracht hatte. Jch wollte mich mit aller der
Hitze, welche mir und vielen Gelehrten so natürlich ist,
der Feder bemächtigen, um zum Troste meiner kritischen
Mitbrüder diese wichtige Schrift zu Stande zu bringen.
Allein, wie groß war mein Entsetzen, da meine abgeschiedene
Seele, als ein Geist, nicht vermögend war,
die Feder aufzuheben, noch weniger aber zu schreiben!
Siebenmal, und noch siebenmal bemühte ich mich, zu
schreiben; aber allemal umsonst. Jch schlug die Hände [465]
über dem Kopfe zusammen, und bedauerte wegen dieses
unersetzlichen Verlustes meiner entworfenen Schrift den
Verleger, mein Vaterland, die Nachwelt; ja ich würde
sagen, daß ich mich selbst bedauert hätte, wenn es unter
uns Gelehrten eingeführt wäre, in diesem Puncte offenherzig
zu seyn. Genug, ich sah, daß es mit meiner
Gelehrsamkeit aus war, weil ich nicht mehr schreiben
konnte. Das Einzige, was ich zu meiner Beruhigung
that, war, daß ich zum Bücherschranke eilte, und mit
einer recht väterlichen Zärtlichkeit alle diejenigen Bücher
übersah, welche durch meine unermüdeten Hände ihr
Daseyn erhalten hatten.


Vielleicht würde ich in dieser Stellung noch lange
geblieben seyn, wenn ich nicht das freudige Schrecken
wahrgenommen hätte, welches meine ungeduldigen Erben
überfiel. Sie eilten so hungrig zu meinem Bette, als
wenn ein Raub auszutheilen wäre. Jst er todt? ist er
auch wirklich todt? schrieen sie. Ja, endlich einmal ist
er im Ernste todt. Geschwind schickt nach dem Sarge,
daß wir ihn unter die Erde bringen, ─ antwortete ein
Vetter von mir, und eine Muhme, welche durch mein
Absterben alle diejenigen Tugenden zu erben hoffte, welche
gewisse gründliche Liebhaber bei ihr zeither vergebens
gesucht, und ihr um deswillen die Freiheit zu ihrem
großen Verdrusse nicht geraubt hatten. Diese Muhme
vergoß viele Thränen, und seufzte mit lauter Stimme:
Der ehrliche Vetter! Tröste ihn Gott! Es ist ihm recht
wohl! Wir wollen ihm seine Ruhe gönnen!


Dieses war die Losung zum Plündern. Den ersten
Sturm hatte meine Geldcasse auszustehen. Meinen Kleidern
und meinem Geräthe ging es eben so. Bis hieher
hatte ich meinen Erben ganz gelassen zugesehen. Als ich
aber merkte, daß es über meine Papiere hergehen sollte;
so fing ich an zu zittern. Alles ward aufs sorgfältigste [466]
durchgesucht. Gegen alle Briefe, in denen die Worte
standen: leiste gute Zahlung, und nehme Gott zu
Hülfe, hatten sie eine andächtige Ehrfurcht. Endlich
traf die Reihe meine gelehrten Concepte, welches mich
recht wüthend machte. Jch eilte voll Verzweiflung hinzu,
sie zu vertheidigen. Vielleicht aber würde ich dennoch
unvermögend gewesen seyn, wenn nicht meiner
Schwester Sohn, ein Meister von sieben freien Künsten,
wider seinen Willen mir beigestanden, und das ganze
Paket unter den Tisch geworfen hätte, mit der Versicherung:
es sey nur Maculatur. Der Jgnorant!


Als meine Erben noch mit dieser Haussuchung beschäftigt
waren, merkte ich einen Haufen von Bedienten,
welche im Namen ihrer Herrschaften ein gewisses Compliment
hersagen mußten, das sie das herzliche Beileid
nannten. Die Bekümmerniß über meinen Tod
mochte in der ganzen Stadt gleich stark und allgemein
seyn; denn ihre Formulare endigten sich alle mit den
Worten: daß der Himmel den betrübten Hinterlassenen
diesen empfindlichen Verlust durch anderweitige Glücksfälle
reichlich ersetzen möchte!


Nunmehr ward alles zu meiner Beerdigung veranstaltet.
Man eilte damit ganz ungewöhnlich, und gab
Geld über Geld, mich aus dem Hause zu bringen.
Dieses geschah unter einer ansehnlichen Begleitung.


Man brachte meinen Körper in die Kirche, mit Beobachtung
aller der kläglichen Gebräuche, so diejenigen
verdienen, welche ein rühmliches Ende nehmen und Mittel
hinterlassen. Zuletzt trat noch ein Redner auf, welchem
meine Erben in einem versiegelten Päckchen vorher
alle meine Tugenden begreiflich gemacht hatten. So
zufrieden ich jederzeit in meinem Leben mit mir selbst
gewesen bin; so zweifelhaft war ich doch bei dieser Lob-
und Trauerrede, ob ich es auch wirklich sey, welchen er [467]
meine. Jch sah mich in der ganzen Kirche um, in der
Meinung, vielleicht noch eine andere Leiche zu finden,
auf welche alle diese Lobeserhebungen gehen sollten; ich
fand aber dergleichen nirgends, und merkte, daß ich es
selbst im ganzen Ernste seyn müßte. Er nannte mich
einen großen, berühmten, gründlich gelehrten Mann,
eine Stütze der Wissenschaften, seinen Mäcenaten. Und
das mochte noch gehen. Für zwölf Ducaten war es
eben nicht zu viel. Endlich aber machte er es zu arg.
Er schwor, und er schwor mit einer solchen Heftigkeit,
daß er ganz braun im Gesichte ward; er schwor, sage
ich, daß ich zwar ein großer Gelehrter, aber noch ein
größerer Menschenfreund, ein starker Beförderer der schönen
Künste und Wissenschaften, aber noch ein weit stärkerer
Vertheidiger der Wittwen und Waisen gewesen
wäre. Meine vergnügte und beglückte Ehe sey eine sichtbare
Vergeltung dieser seltenen Tugenden gewesen. „Brechet
hervor! rief er, brechet aus eurer Gruft hervor,
ihr vermoderten Gebeine der weiland hochedelgebohrnen
Frauen, Frauen“ ─ Himmel, wie erschrack ich, daß er
meine verstorbene Frau citirte. Jch floh, ohne mich
umzusehen. Jch floh vor Angst zur Kirche hinaus, und
aus Furcht, die hochedelgebohrnen Gebeine möchten mir
nachkommen, schwang ich mich in die Höhe. ─ ─


4) von Joh. Dan. Falk.


Jeremiade des ehrwürdigen Paters Joseph
Hyacinth Jgnatius.
(abgekürzt)


Mein lang verhaltner Groll bricht endlich aus!

Leer ist der Tempel, voll das Opernhaus;

Kein Fürst vertauscht mit frommem Pilgerstabe

Sein Diadem, und wallt zum heil'gen Grabe.

Der Schloßbarbier scherzt über Salomo's
[468]
Enthaltsamkeit, und über Jericho's

Kriegsexpedition und alte Mauern;

Jhm wiehern Beifall halbberauschte Bauern.

O was erleb' ich noch für Herzeleid!

Jrrglaube herrscht im Lande weit und breit.

Wem liegt noch was an seinem Seelenheile?

Nur selten labt mich eine Wildpretskeule,

Ein Eberskopf, vom Schloßhof oder Amt

Mir zugesandt im sauern Predigtamt.

Wer kümmert sich um Gott und seine Diener?

Vor Zeiten weckte mich der Gäns' und Hühner

Geschnatter oft noch vor dem Morgenroth;

Jetzt in Gehöft' und Stall ist alles todt.

Und präparir' ich mich aus der Postille,

Stört mich nicht mehr das liebliche Gebrülle.

Beglückter Mann, der fest am Glauben hält!

Groß ist sein Erbtheil schon in dieser Welt.

Voll Demuth nimmt er den Verstand gefangen;

Jhn quält kein Zweifel, roth sind seine Wangen;

Sanft ist sein Morgenschlaf und frisch sein Blut,

Er liest nur wenig, und verdauet gut.

Der Atheist wälzt schlaflos sich im Bette,

Und grübelt, und vertrocknet zum Skelette.

Uns tränkt der Herr mit seinem Segensborn,

Giebt unsern Bäumen Obst, dem Acker Korn,

Giebt unserm Tische Fleisch, dem Becher Trauben,

Dem Bett' ─ ihr wißt wohl was ─ dem Geiste Glauben.

Selbst David war ja nicht von Schwachheit rein;

Wie? und ich Staub, ich Wurm, ich sollt' es seyn?

Die Liebe lauscht am Thron' und am Altare;

Jch war erst dreißig, Klärchen sechszehn Jahre.

Jhr Vater starb, ich nahm mich ihrer an.

Und welcher Pfarrherr hätt' es nicht gethan?

Die sanftgewölbte Brust, die schwarzen Haare,
[469]
Der Rosenmund ─ vor seinem Stufenjahre,

Wen ließe wohl ein solch Madonnchen kalt?

Und wie gesagt, ich war erst dreißig alt:

Da trat die holde Dirn' herein ins Zimmer,

Mit einer Anmuth, ich vergeß' es nimmer,

Bot sie mir guten Tag, vor Schüchternheit

Erröthend. Jch sprang gleich voll Freundlichkeit

Entgegen ihr. ─ Mit sanftgebognem Nacken

Trat sie zurück. Jch kniff sie in die Backen.

Sie pflückt' am Schürzchen, sah zur Erde hin.

Lieb Klärchen, werde meine Schaffnerin,

So bat ich sie, mit lauten Herzensschlägen;

Mein schönes Klärchen hatte nichts dagegen.

Den Sonntag nickt' ich ihr blos freundlich zu.

Den Montag hieß ich sie vertraulich Du.

Den Dienstag küßt' ich sie. Roth sah sie nieder;

Die Mittwoch küßte sie mich zärtlich wieder.

Den Donnerstag drang sie auf einen Schwur;

Jch schenkt' ihr Freitags eine Perlenschnur;

Sonnabends wagt' ich kleine Schäkereien,

Allein sie weint', und wollt' um Hülfe schreien.

Drob ward ich Sonntags etwas aufgebracht.

Es war gerade tief um Mitternacht,

Da zog ein Wetter auf; ich lag im Bette.

Es blitzt; drauf knarrt die Thür; im Nachtcorsette,

Ein Lämpchen in der Hand ─ zwölf mocht' es seyn ─

Schlüpft sie, gleich einer Heiligen, herein.

Herr Pater, sprach das holde Kind mit Zittern:

Jch bin nicht gern allein bei Ungewittern;

Jch hab' euch wach geglaubt, verzeiht! ─ Jch bot

Jhr liebreich meine Hand; sie ward blutroth

Und sträubte sich. Jch zog sie sanft herüber;

Die Lamp' erlosch, der Donner ging vorüber.

Der Mond schien hell; sie seufzte zärtlich, ach!
[470]
Der Geist war willig, doch das Fleisch war schwach.

Neun Monden drauf that Klärchen eine Reise;

Denn kurz ─ es ging ihr nach der Weiber Weise.

Jndessen stieß kein Beichtkind sich daran.

Jch blieb ein unbescholtner, heil'ger Mann.

Nun wuchs mein Muth; nun ward ich täglich freier;

Mein Dorf gab Stoff zu süßem Abenteuer,

Und manches giftiges und faul Geschwätz,

Jhr Brüder, muß der Lehrer im Gesetz

Um Christi und der Kirche willen leiden.

Deisterei macht Alt und Jung zu Heiden.

O heil'ger Nepomuk, Dominicus,

O Augustin, o Sanct Jgnatius,

Laßt eure Söhne Gnade vor euch finden!

Schützt uns den Glauben ─ und die fetten Pfründen!

O dreimal heil'ge Jnquisition,

Bist du auf ewig unsrer Erd' entflohn?

O holde Himmelstochter, steig' hernieder!

Bau' die in Schutt zerfall'nen Klöster wieder!

Gebenedeite, komm' im Blutgewand,

Mit Beil und Folterzang' in deiner Hand!

Furchtbare Glaubensrächerin, erschein',

Und Asche, Todtenschädel und Gebein

Bezeichne deinen Schritt. O welch ein Schimmer!

Du steigst herab. Ein klägliches Gewimmer

Tönt aus den Grüften der Gewürgten hohl,

Und dumpf entgegen dir, von Pol zu Pol.

Wohin ich schau, da schlagen knatternd Flammen

Rund über Ketzerleichname zusammen.

Triumph! hier wird der Gottesläugner Kant,

Dort Pred'ger Zöllner in Berlin verbrannt.

Hier schleppt man Maimon aus der Synagoge;

Dort bebt am Holzstoß Trapp der Pädagoge.

Mit ihnen lodert manch verruchtes Buch
[471]
Empor, dem Herrn ein lieblicher Geruch.

Vertilgt auf ewig sind die Menschenrechte;

Wohin ich schau', Bartholomäusnächte.

Herr Schirach wird beim Papst Historicus,

Und hat den Vortritt beim Pantoffelkuß.

Von Predigtstößen schwitzt nun Preß' an Presse;

Statt Mara psalmodir' ich eine Messe.

Der heil'ge Vater herrscht vom Tajostrom

Bis an den Rhein. Nun wimmelt es in Rom

Von Jndianern, Galliern und Polen,

Die sich Reliquien und Ablaß hohlen. ─

O Augustin, o heil'ger Busenbaum,

Gewähr' Erhörung diesem schönen Traum!

72.
g) Die Parodie nnd Travestirung.


Obgleich die Parodie und Travestirung als
selbstständige ästhetische Ganze sich ankündigen, und
auch als solche beurtheilt werden; so unterscheiden
sie sich doch von allen andern dichterischen Formen
dadurch, daß sie ein bereits vorhandenes dichterisches
Kunstwerk mit einem ernsthaften Charakter voraussetzen,
und ihr ästhetischer Treffpunct und Gehalt
von dem Verhältnisse abhängt, in welches sie, als
spätere Kunstwerke, zu dieser bereits vorhandenen
Kunstform treten. Soll aber die Parodie und
Travestirung von ästhetischer Wirkung seyn; so muß
das parodirte oder travestirte Kunstwerk sowohl nach
seiner Grundidee, als nach seiner Haltung und
Durchführung, ja selbst nach vielen einzelnen Stellen
und Ausdrücken so bekannt seyn, daß der Leser
der Parodie und Travestirung sogleich dasselbe sich
vergegenwärtigt. Denn eben diese stillschwei= [472]
gende Vergleichung beider Kunstformen
durch die Einbildungskraft vermittelt das hohe Jnteresse
an der Parodie und Travestirung, sobald
nämlich beide in ästhetischer Hinsicht als vollendete
Formen sich ankündigen. ─


Bei mancher äußern Verwandtschaft, sind Parodie
und Travestirung doch, ihrem Wesen und Charakter
nach, von einander verschieden. Jn der Parodie
wird der Gegenstand des ernsthaften dichterischen
Kunstwerkes verändert, aber der Mechanismus
und der Ton der dichterischen Form beibehalten, so
daß unter dieser nur wenig veränderten äußern Hülle
und Einkleidung ein andrer Stoff dargestellt und
zur Selbstständigkeit der Form erhoben wird. Ob
nun gleich die Parodie auch für den, der den verglichenen
Gegenstand nicht kennt, als ein für sich
bestehendes dichterisches Kunstwerk ästhetischen Werth
behaupten muß; so beruht doch das eigentliche Wohlgefallen
an dem dichterischen Charakter der Parodie
auf der stillschweigenden Vergleichung beider Kunstwerke,
und auf der Gleichstellung beider in Hinsicht
ihres ästhetischen Gehalts. Der von dem Dichter
der Parodie gewählte Gegenstand kann aber
entweder wieder ein ernsthafter, oder er kann
ein komischer und ironisch gehaltener Stoff
seyn, sobald er nur ein glücklich getroffenes und
durchgeführtes Gegenbild von dem Gegenstande in
dem frühern Kunstwerke enthält. Jm Gegensatze
der Parodie behält die Travestirung den Gegenstand
des ernsthaften Kunstwerks bei, verändert
aber, durch die Verwandlung der ernsthaften Form
in eine komische, dessen Darstellung und Durchführung
so, daß, durch die ästhetische Vollendung dieser
neuen komischen Form, der bis dahin blos ernsthaft [473]
geschilderte Gegenstand selbst, vermittelst der neuen
Einkleidung und Versinnlichung, als ein komischer
Stoff erscheint, der Lachen erregt, und durch dessen
sinnlich vollendete Darstellung ein reines Gefühl der
Lust bewirkt und erhalten wird.


Die Zahl der Parodieen ist in der teutschen
Literatur weit größer, als die Zahl der Travestirungen,
obgleich nur wenige Parodieen, in dem
aufgestellten Sinne, zu den durchgängig gelungenen
gerechnet werden können. Jn dramatischer Hinsicht
ist Mahlmanns Herodes vor Bethlehem eine
sehr treffende Parodie von Kotzebue's Hussiten
vor Naumburg. Unter den Travestirungen der
Teutschen behauptet, bei vielen einzelnen Derbheiten
und metrischen Härten, Blumauers (nicht vollendete)
travestirte Aeneis doch den Charakter des
Hochkomischen und vieler gelungenen Schilderungen.
Kotzebue travestirte selbst sein Trauerspiel Octavia.
Ungleich tiefer in ästhetischer Hinsicht stehen die travestirte
Jungfrau von Orleans, so wie der travestirte
Hamlet und Nathan der Weise.


Wenn manche Theoretiker im Allgemeinen gegen
alle Parodieen und Travestirungen sich erklärten,
weil durch sie ein gefeiertes Kunstwerk in den Kreis
des Lächerlichen gezogen würde, und dadurch an seinem
ästhetischen Werthe verlöre; so beweiset eine
solche Behauptung zu viel. Denn der psychologische
Grund des Wohlgefallens an der Parodie und
Travestirung ist der Grund des Wohlgefallens am
Komischen und Lächerlichen überhaupt, und also an
sich
in der menschlichen Natur gegründet, und keineswegs
verwerflich. Selbst das ernsthafte Kunstwerk,
das parodirt und travestirt wird, kann an
sich dadurch nicht verlieren, weil ihm ein selbstständiger [474]
ästhetischer Werth und Charakter zukommt,
und weil nur ein vollendetes, und ein in der
Nationalliteratur entweder hoch stehendes, oder doch
allgemein bekanntes, Kunstwerk mit Erfolg parodirt
und travestirt werden kann. Denn blos in dem
einzigen Falle dürfte das parodirte und travestirte
Kunstwerk an ästhetischem Werthe verlieren, wenn
die Parodie und Travestirung als Kunstform höher
stände, und dadurch das ältere Kunstwerk gleichsam
verdrängte, oder doch tief in Schatten stellte.
Wird aber ein an sich unvollendetes und nur
mittelmäßiges
Kunstwerk parodirt und travestirt;
so hindert dadurch der Dichter der Parodie und
Travestirung selbst die beabsichtigte ästhetische Wirkung,
wenn auch seine Kunstform ästhetisch höher
stände, als die parodirte und travestirte. Denn
nur dann würde die Vergleichung der Parodie
und Travestirung mit einem solchen früher vorhandenen
parodirten und travestirten Kunstwerke ein
reines Wohlgefallen gewähren, wenn der Dichter
eben die ästhetische Unvollkommenheit der
ältern Kunstform zum Treffpuncte seiner Parodie
oder Travestirung gemacht, und diese Unvollkommenheit
mit siegreichem Erfolge innerhalb seiner
neugeschaffenen dichterischen Form versinnlicht hätte.
─ Abgesehen daher von vielen unreifen und mißlungenen
Parodieen und Travestirungen, gewähren
die, welche in gelungenen Parodieen und Travestirungen
neue dichterische Formen ins Daseyn rufen
und zur ästhetischen Einheit erheben, dem Kreise
der Nationalliteratur eine wahre Bereicherung und
Erweiterung.

[475]

73.
Beispiele derselben.


a) Parodieen.


1) von Gittermann.


Ein Wort, keins von Schillers drei
Worten.


Ein Wort verkünd' ich euch inhaltsschwer,

Es gehet von Munde zu Munde.

Zwar stammet es nur von außen her,

Das Herz giebt nicht davon Kunde.

Und doch regiert es die ganze Welt

Mit allgewaltiger Macht ─ das Geld.

Es tastet des Menschen Freiheit an;

Es drohet sogar der Tugend;

Umringt mit Sorgen und Grämen den Mann,

Verleitet die liebe Jugend;

Verbittert das Leben, erschweret den Tod,

Ein reger Zunder unendlicher Noth.

Des einzigen Wortes bedarf es nur,

Um alle Verbrechen zu kennen,

Um alles Elend, das Mutter Natur

Nicht schuf, auf einmal zu nennen.

Ein Wort ─ ein einziges Wort: das Geld,

Begreifet das Unheil der ganzen Welt.

So ist es, so bleibt es, wie es war

Auf diesem Ringe voll Schmerzen!

Nur walte nie das Wort, voll Gefahr

Allherrschend in euern Herzen.

Der Mensch verliert seinen ganzen Werth,

Sobald sein Herz das Geld begehrt!
[476]

2) von Bretschneider.


Parodie auf Göthe's: Kennst du das Land &c.


Siehst du das Licht? das jenseits unbegrenzt

Aus tausend Welten auf uns niederglänzt,

Jn das der Nächte Finsterniß nie dringt,

Das rein und frei sich durch den Aether schwingt;

Siehst du das Licht? ─ Dahin, dahin,

Laß aus des Lebens banger Nacht uns fliehn!

Siehst du das Blau? das jeden Stern umschließt,

Den Aether, der durch alle Welten fließt,

Der nie getrübt, von keinem Sturm bewegt,

Den Stral des reinsten Lichtes trinkt und trägt;

Siehst du das Blau? ─ Dahin, dahin,

Laß aus des Lebens Nebelluft uns fliehn!

Siehst du den Stern? der dort so hell uns glänzt,

Wo keine Nacht des Lebens Traum begrenzt,

Wo keines Truges Gaukellicht uns scheint,

Kein Donner rollt, kein liebend Auge weint;

Siehst du den Stern? ─ Dahin, dahin,

Laß aus des Lebens Thränenthal uns fliehn!

3) von einem Ungenannten.


(Es stand diese Parodie von Voßens: Bekränzt mit
Laub &c. im Hamburg. Corresp. 1819, St. 33.)


Am Rhein, am Rhein gedeihen gute Stände;

Gesegnet sey der Rhein!

Da schwingt die Willkühr keine Feuerbrände;

Da herrscht Gesetz allein.

Die Fürsten sind der treuen Stämme Väter,

Jhr Heil beglücket sie,

Und nimmer stören feile Volksverräther

Die schöne Harmonie.
[477]
Der Völker Liebe schirmet ihre Rechte

Bei drohender Gefahr;

Denn Undank wohnet nur im feigen Knechte,

Der niemals Bürger war.

Vergebens tobt der Herr Feudalphilister;

Denn Fürst und Volk sind wach;

Und hülfen ihm der Kukuk und sein Küster,

Er wäre doch zu schwach!

Wohl manche Länder zum Exempel haben

Ein Ding, sieht aus wie Stand,

Jsts aber nicht; ─ mit solchen Bettlergaben

Beglücket man kein Land.

Wann Fürstenrecht und Bürgerrecht sich einet,

Nur dann gedeiht der Staat;

Wo man nicht sä't und nur zu säen scheinet,

Da reifet keine Saat.

So wollen wir's am Rheine nimmer halten,

Auch unsre Fürsten nicht;

Bei uns soll Recht und Bürgerfreiheit walten; ─

Nur Recht gebahr die Pflicht.

Am Rhein, am Rhein gedeihen gute Stände;

Da herrscht Gesetz allein;

Da schwingt die Willkühr keine Feuerbrände;

Gesegnet sey der Rhein!

4) von Müchler.


Trinklied (aus dem Weinkeller).


Parodie auf: Jn diesen heilgen Hallen &c.


Jn dieses Kellers Hallen

Weiß man vom Durste nicht;

Ein frohes Lied zu lallen,
[478]
Jst jedes Zechers Pflicht;

Hier leert er manchen Schoppen aus,

Und wanket dann berauscht nach Haus.

Jn diesen kühlen Mauern

Kauft jeder Wein für Geld,

Bald süßen und bald sauern,

Wie jedem es gefällt.

Doch trinkt er nicht vom besten Wein,

Verdient er nicht, hier Gast zu seyn.

5) von einem Ungenannten.


Freudenlied der Jünger Lavaters in Bremen
1787
*.


Parodie auf das alte Kirchenlied: Wie schön
leucht't uns der Morgenstern &c.


Wie schön leucht't uns von Zürich her

Der Wunderthäter Lavater,

Mit seinen Geistesgaben!

Sein neues Evangelium

Hat uns bezaubert um und um,

Thut blöde Seelen laben.

Wunder,

Zunder

Zum Magismus,

Prophetismus,
[479]
Zauberkuren

Zeigen seines Fingers Spuren.

Was war das für ein Freudenschein,

Als er trat mitten zu uns ein,

Die Jünger hier zu grüßen!

Jm liebetrunkenen Genuß

Kam Herz und Seele zum Erguß,

Jn Eins mit ihm zu fließen.

Kinder,

Sünder,

Matadoren,

Weise Thoren,

Groß und Kleine

Taumelten, als wie vom Weine.

Da ward mit sonderlicher Ehr',

Als wenn's der Dalailama wär,

Dem theuern Gast hofiret.

Das Jnstitut, das große Faß

Man ihm zu zeigen nicht vergaß,

Und was nur Bremen zieret.

Damen,

Kamen,

Wo er weilte,

Wo er eilte,

Jhm entgegen,

Bettelten um Kuß und Segen.

Mit Segen und mit neuer Lehr'

Die Kirchen, Häuser, Gassen er

Thät mildreich überschwemmen.

Gleich wie Papst Pius thät in Wien,

Also agiren sah man ihn

Jn unserm lieben Bremen.

Leise,
[480]
Weise,

Jm Gedränge

Von der Menge

Hinzuschreiten,

Thät man ihm zur Demuth deuten.

b) Bruchstück aus Blumauers travestirter
Aeneide.


(Der geflüchtete Aeneas wird durch einen, von der
Juno veranlaßten, Sturm nach Afrika verschlagen.)


─ ─ Herr Zeus saß ─ salva venia

So eben frisch und munter

Auf seinem Leibstuhl, und da sah

Er auf die Welt herunter;

Denn das war ja der Augenblick,

An dem er mit der Menschen Glück

Sich abzugeben pflegte.

Frau Venus kam, und machte da

Dem Donnerer Visite;

Denn da versagte der Papa

Jhr niemals eine Bitte. ─

„Ach, Herr Papa, so fing sie an,

Was hat mein Sohn euch denn gethan,

Daß ihr so sehr ihn hudelt?“

„Er soll, nicht wahr, ich merk' es schon,

Jtalien nicht finden?

Verspracht ihr mir nicht selbst, er soll

Noch Roms Triregnum gründen?

Und weil ihr da des Leibes pflegt,

Geht euer Weibchen her, und neckt

Mir meinen armen Jungen.“

Der Alte schnitt ein Bocksgesicht,

Und küßt' ihr sanft die Wange:
[481]
„Mein Kind, bekümmre dich nur nicht,

Mir ist für ihn nicht bange.

Wird nicht dein Sohn der Großpapa

Der Datarie und Curia;

So heiß mich einen Schlingel!“

„Und daß du so gerade hier

Mich trafst, soll dich nicht reuen;

Jch will auf meinem Dreifuß dir

Ein Bischen prophezeien:

Gieb Acht! Für's erste baut dein Sohn

Jn Latium sich einen Thron,

Und stiftet die Lateiner.“

„Hierauf kommt Romulus, und den

Wird eine Wölfin säugen.

Drum wird er einen mächtigen

Jnstinkt zum Rauben zeigen.

Das wird ein Kerl nach meinem Schlag,

Der schiebt die halbe Welt in Sack,

Und schenkt sie seinen Römern.“

„Nach diesem wird ein Reich entstehn,

Das hat nicht Weib, noch Kinder,

Und dennoch wird die Welt es sehn;

Es dauert drum nicht minder.

Ja, was noch weit unglaublicher,

Es wird sich, wie das Sternenheer

Am Firmament, vermehren.“

„Der aber dieses Reich regiert,

Wird sehr die Welt kuranzen;

Ein jeder fromme König wird

Nach seiner Pfeife tanzen.

Er hält von andrer Leute Geld

Ein großes Kriegsheer, und die Welt

Küßt ihm dafür den Stiefel.“
[482]
„Jhn werden Völker auf den Knie'n

Wie einen Gott verehren.

Thut's einer nicht; so wird er ihn

Durch Feuer Mores lehren.

Auch trägt er einen größern Hut,

Als ich, und blitzt sogar; ─ doch thut

Sein Blitzen wenig Schaden.“

„Weil nun die Welt gewohnt schon ist,

Von Rom zu dependiren;

So wird, so lang man Füße küßt,

Dieß Reich nicht exspiriren.

Der Römer Herrschsucht ─ kurz und gut ─

Steckt nun einmal in ihrem Blut.

So les' ich in den Sternen.“ ─

„Was deinem Sohne heut geschah,

Soll nicht mehr arriviren;

Er soll sich jetzt in Afrika

Ein Bischen divertiren.

Merkur! geh nach Karthago hin,

Und sag: ich ließ der Königin

Den Mann recommandiren.“ ─

74.
h) Der Roman, das Mährchen und die
Novelle.


Wenn der ästhetische Charakter des Romans
nach der Mehrheit von Romanen bestimmt werden
sollte, die seit der Mitte des funfzehnten Jahrhunderts,
bald nach der Erfindung der Buchdruckerkunst,
in Teutschland verbreitet wurden; so würde allerdings
der dichterische Gehalt desselben nicht hoch anzuschlagen
seyn. Denn unter der Unzahl von Romanen
in der teutschen Literatur sind es im Ganzen [483]
nur wenige, die wirklich das dichterische Gepräge
an sich tragen, und unter der vollendeten Einheit
einer ästhetischen Form sich ankündigen. Zu diesem
ästhetischen Charakter des Romans darf übrigens
Metrum und Reim nicht gerechnet werden, weil
sonst alle Romane, die des Sylbenmaases und Reimes
ermangeln, von dem Kreise dichterischer Formen
ausgeschlossen werden müßten. Eben so wenig darf
man den dichterischen Charakter des Romans nach
den ältesten Formen desselben auf teutschem Boden
bestimmen; denn diese waren, in der zweiten Hälfte
und gegen das Ende des funfzehnten Jahrhunderts,
theils prosaische Umarbeitungen früherer epischer Gedichte;
theils Darstellungen, die aus den Ereignissen
der Zeit und des teutschen Volkes selbst hervorgingen;
theils Erzählungen, die den unverkennbaren
Stempel ihres ausländischen Ursprungs verrathen.
Selbst die Behandlung der eigentlichen Geschichte
war in jenen Zeiten nicht selten reichhaltig mit Mythen
und Fabeln ausgestattet, so daß, unter diesen
Verbrämungen, der unterscheidende Charakter zwischen
Geschichte und Roman nicht streng festgehalten
ward. Zu den ältesten romantischen Darstellungen
in teutscher Sprache gehören die Melusine, die
Magelone, und der Kaiser Octavianus, welche,
mit Einschluß des Tristan, des Flos und der Blankeflos,
und mehrerer andrer, im sechszehnten Jahrhunderte
unter dem Titel: das Buch der Liebe
(zu Frankfurt am Main, 1587 in Folio) zusammengedruckt
wurden. Eben so gehört zu den volksthümlichen
Romanen des funfzehnten Jahrhunderts
der Till Eulenspiegel, der wahrscheinlich zuerst
niederteutsch geschrieben, dann aber ins Hochteutsche
übersetzt, und vielfach bearbeitet ward. Noch entfernter [484]
von dem Jdeale einer ästhetisch vollendeten
Dichtung waren in der zweiten Hälfte des siebenzehnten
Jahrhunderts die überspannten Romane des
Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig:
seine durchlauchtigste Syrerin Aramena, und seine
römische Octavia, so wie die asiatische Banise des
Heinrichs Anselm von Ziegler und Kliphausen.
Nur der Anfang des ersten Buches dieser asiatischen
Banise stehe hier als Beleg, wie in jener Zeit
der Charakter des Romans aufgefaßt und gehalten
ward.


„Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge
des Himmels, zerschmettere die Pracht deiner goldbedeckten
Thürme, und die Rache der Götter verzehre alle
Besitzer der Stadt, welche den Untergang des königlichen
Hauses befördert, oder nicht solchen nach äußerstem Vermögen,
auch mit Darsetzung ihres Blutes, gebührend
verhindert haben. Wollten die Götter, es könnten meine
Augen zu donnerschwangern Wolken, und diese meine
Thränen zu grausamen Sündfluten werden. Jch wollte
mit tausend Keulen, als ein Feuerwerk rechtmäßigen
Zorns, nach dem Herzen des vermaledeiten Bluthundes
werfen, und dessen gewiß nicht verfehlen; ja es sollte
alsobald dieser Tyrann, sammt seinem Götter = und
Menschenverhaßten Anhange, überschwemmt und hingerissen
werden, daß nichts als ein verächtliches Andenken
übrig bliebe. Doch ach, wie irre ich? was rede ich?
Sollte wohl solche Rache ohne Unterschied und ohne einiges
Bedenken vollzogen werden? Wo bliebe dann die
überirdische Banise? um derentwillen einig und allein
der Himmel noch die abscheulichste Strafe über Pegu
zurück hält, und welche das gütige Verhängniß noch
sonder Zweifel von dem ganzen kaiserlichen Stamme
wird übrig, ach wer weiß, ob nicht in der Hand eines [485]
grausamen Besitzers, gelassen haben, um so viel mehr
die geschlagenen Gemüther der fast entseelten treuen Unterthanen
wieder aufzurichten, und zu erinnern: es sey
noch ein Stern vorhanden, welcher leicht wiederum zu
einer Sonne werden könnte, wenn man ihm aus seiner
jetzigen Finsterniß zu seinem vorigen Glanze verhülfe. Auf
derowegen Prinz von Ava; erinnere dich desjenigen,
womit du Banifen verpflichtet bist, und wisse, daß du
die glückselige Besitzung einer so himmlischen Schönheit
nicht eher würdig genießen kannst, du habest dich denn
durch wirkliche Rache an ihren Feinden sattsam um sie
verdient gemacht. Ach aber, was schwärmst du noch
weiter, unglückseliger Prinz! Erinnerst du dich nicht,
daß du zwar ein König vom Stande, doch nicht vom
Lande bist?“ u. s. w.


Der Roman jener Zeit stand übrigens eben so weit
von dem Jdeale des Romans ab, wie überhaupt
der Charakter der Dichtkunst jenes Zeitalters von
den Forderungen des Gesetzes der Form an jedes
vollendete dichterische Erzeugniß; auch ward diesem
Mangel weder durch den vielgelesenen Simplicissimus
des Samuel Greifenson, der unter dem
Namen Schleifheim von Sulzfort auftrat, noch
durch die vielen, dem brittischen Robinson des Daniels
de Foe nachgebildeten, Robinsonaden, noch
durch Schnabels vielgepriesene Jnsel Felsenburg,
und durch ähnliche Romane des angehenden
achtzehnten Jahrhunderts abgeholfen. Erst als seit
dem Jahre 1740 die teutsche Sprache, und namentlich
die teutsche Dichtkunst einen Riesenschritt vorwärts
that, erhielt die Nationalliteratur unsers Volkes
allmählig Romane, die einen echten dichterischen Charakter
trugen, wenn gleich ─ bei der weit verbreiteten
Lesesucht unter allen Ständen ─ des Mittelgutes [486]
und der schlechten Waare aus dieser Gattung von
Kunstformen weit mehr zu Tage gefördert ward,
als der gehaltvollen Werke. Deshalb darf aber auch
die Theorie des Romans nicht von den unvollkommenen,
sondern nur von den gelungenen und vollendeten
Formen aus dieser Gattung von Kunstwerken
abgeleitet werden. Nach diesen beruht der Charakter
des Romans auf der idealischen Darstellung
der menschlichen Gattung,
so wie
der Schicksale und der gegenseitigen Verhältnisse
und Beziehungen ihrer Jndividuen auf einander,
nach allen möglichen Aeußerungen der menschlichen
Freiheit, und nach allen möglichen Schattirungen
des öffentlichen, häuslichen und individuellen Lebens,
unter der Bedingung, daß der aus den Ankündigungen,
Schicksalen und Handlungen dieser Jndividuen
hervorgehende Stoff unter der Einheit einer
vollendeten ästhetischen Form
dargestellt werden
könne. Die Stoffe des Romans können daher
eben so gut aus der wirklichen, wie aus der idealischen
Welt entlehnt werden; der Romanendichter
darf die Jndividuen, Thatsachen und Handlungen
im Kreise der Geschichte nach ästhetischen Gesetzen
gestalten, und einen ästhetischen Causalzusammenhang
vermitteln, der von dem geschichtlichen völlig sich
entfernt; denn ihn bindet nicht, wie den Geschichtsschreiber,
das Gesetz der geschichtlichen Wahrheit,
sondern das Gesetz der Form. Er hat seine Aufgabe
gelöset, und dichterisch über den von ihm behandelten
Stoff geboten, sobald er dem Gesetze der
Form Genüge leistet, d. h. sobald er einen Stoff
auswählt und gestaltet, der an sich ästhetisch darstellbar
ist, und der durch seine schöpferische Einbildungskraft
zur vollendeten Einheit der [487]
Form erhoben wird. Er ist daher in der Wahl
des Stoffes aus beiden Kreisen des Wirklichen
und Möglichen nur durch die ästhetische Darstellbarkeit
dieses Stoffes beschränkt. Die Zeichnung,
Haltung und Durchführung der aufgestellten Charaktere,
die Gruppirung der Begebenheiten, die
Vertheilung von Licht und Schatten, die Farbengebung
in den einzelnen Theilen, die Berechnung der
Verwickelung und Entwickelung des Knotens gegen
einander, und die Duchführung des Ganzen zur
Bewirkung eines Gesammteindruckes auf das Gefühlsvermögen,
sind die Bedingungen, an deren
Erfüllung die ästhetische Vollendung der Form des
Romans erkannt wird.

75.
Fortsetzung.


Der Roman gehört zur Ergänzungsklasse dichterischer
Formen, weil, nach den gelungenen Erzeugnissen
in dem Kreise romantischer Dichtungen, drei
Hauptgattungen
unterschieden werden müssen,
je nachdem entweder die Hauptperson in dem romantischen
Ganzen sich ankündigt, oder ein bestimmter
Grundton des Gefühls in demselben vorherrscht:
der lyrische Roman, der didactische Roman,
und der epische Roman.


Zu den lyrischen Romanen gehören alle diejenigen,
welche ausschließend die Darstellung und
Versinnlichung von Gefühlen nach allen ihren
Schattirungen, besonders aber des Gefühls der Liebe
─ sey es nun die höhere platonische, oder die veredelte
sinnliche Liebe, überhaupt die Ankündigungen
der Geschlechts=, der Aeltern=, Kindes=, Gatten=, [488]
Geschwister- und Freundesliebe ─ enthalten, so
daß die dargestellten Jndividuen und Handlungen
an diesem gemeinsamen Ausdrucke der Gefühle erkannt
werden. Romane dieser Art verdienen, sobald
ihre ästhetische Form vollendet ist, wegen ihrer
Verwandtschaft mit dem Ausdrucke der höchsten
und reinsten individuellen Gefühle in den einzelnen
Erzeugnissen der lyrischen Form der Dichtkunst, die
Benennung: lyrische Romane. Zu ihnen gehören
die idealisirten Schilderungen hoher Leidenschaft, die
vollendeten Familiengemälde, und alle sogenannte
sentimentale Romane (z. B. Werthers Leiden; Siegwart;
Sophiens Reise von Hermes; Ewalds
Rosenmonde; Heinse's Ardinghello; viele Romane
von Jean Paul, Lafontaine u. a.).


Jm Gegensatze des lyrischen Romans, hat der
didactische Roman die Aufgabe, den Menschen,
wie er seyn soll, und das menschliche Leben
überhaupt nach seiner idealischen Haltung und Ankündigung
darzustellen. Er will so wenig, wie das
Lehrgedicht, im eigentlichen Sinne belehren, und
den Verstand durch Mittheilung von Begriffen aufklären;
allein die im Dichter aufgeregten Gefühle veranlaßten
seine Einbildungskraft, ein Jdeal des Menschen
und des Lebens zu zeichnen, wie sie in der
Wirklichkeit nicht getroffen werden, um, nach diesem
Vorbilde, die Wirklichkeit zu gestalten, das menschliche
Leben von seinen Unvollkommenheiten, Beschwerden
und von den Folgen der Verirrungen der menschlichen
Freiheit zu befreien, und die ganze Denkart
und Handlungsweise der Menschen zu einer Höhe
hinaufzuläutern, die ihrer sittlichen Würde entspricht.
So wie nun die Schöpfung, Haltung und Durchführung
solcher idealisirter menschlicher Charaktere [489]
der Einbildungskraft blos nach ihrem Zusammenhange
mit dem tief bewegten Gefühlsvermögen möglich
ist; so wird auch die vollendete Einheit eines
didactischen Romans wieder tief auf das Gefühlsvermögen
wirken, und ein reines Wohlgefallen an
der gediegenen dichterischen Form vermitteln. (Zu
den didactischen Romanen rechnen wir: den Grandison,
die Clarissa, Wielands Agathon, Fr.
Heinr. Jacobi's Woldemar, Meyers Dya-Na-
Sore, Engels Lorenz Stark u. a.)


Der epische Roman endlich beruht auf der
Darstellung von Jndividuen, Ereignissen und Handlungen
unter der Einheit einer vollendeten ästhetischen
Form. Bei dem epischen Romane müssen aber
mehrere Untergattungen unterschieden werden. Denn
er kann, wenn er einen Helden im Kampfe mit
seinem widrigen Schicksale schildert, und ihn zuletzt
entweder über dasselbe siegen, oder demselben unterliegen
läßt, so nahe an den Epos grenzen, daß beinahe
blos der Abgang des Metrums den epischen
Roman von dem eigentlichen Epos unterscheidet.
(So z. B. Klingers Raphael de Aquilas und
sein Giafar der Barmecide; Schillers Geisterseher
u. a.) Er kann ferner große und gefeierte Jndividuen
des Alterthums oder der neuern Zeit idealisirt
darstellen, und ihnen, unter der ästhetischen
Form, viele psychologische Ansichten abgewinnen.
(So z. B. Hallers Alfred; Feßlers Marc Aurel,
sein Attila, Matthias Corvinus; ─ Karl der
Große u. a.) Er kann aber auch bisweilen nur
eine ins Große gesponnene Erzählung von Ereignissen
des gewöhnlichen Lebens unter einem ernsthaften
oder komischen Gewande seyn (z. B. Müllers
Siegfried von Lindenberg; Anton Walls [Heyne] [490]
Amathonte, Corane, das Lamm unter den Wölfen;
Musäus physiognomische Reisen; viele Romane von
Friedr. Laun [Schulz] u. a.). Er kann endlich
unter der humoristisch=satyrischen Einkleidung
sich ankündigen (z. B. Hippels Lebensläufe nach
aufsteigender Linie; Noldmanns Aufklärung in Abyssinien,
und die Papiere des Etatsraths von Schafkopf
von Knigge; Jean Pauls Fibels Leben,
der Komet; Hoffmanns Elixiere des Teufels u. a.)

76.
Schluß.


Zu dem Kreise des Romans gehören auch das
Mährchen und die Novelle.


Der unterscheidende Charakter des Mährchens
beruht theils auf der völligen Erdichtung des Stoffes,
ohne denselben entweder ganz oder theilweise
aus den Begebenheiten der Wirklichkeit zu entlehnen
und dichterisch zu gestalten; theils auf der Einmischung
überirdischer Wesen in die Verwickelung
und Entwickelung der ästhetisch durchgeführten und
zur Einheit der Form erhobenen Handlung. So
wie der epische, und theilweise selbst der dramatische
Dichter höhere Kräfte und Wesen mit dem Kreise
der Menschheit in Verbindung und Wechselwirkung
bringen darf; so auch der Dichter des Romans,
der dabei, wie der epische und dramatische Dichter,
nur an das Gesetz des ästhetischen Causalzusammenhanges
gebunden ist, weil der thatsachlich unerklärbare
Zusammenhang zwischen der Geisterwelt und
der Welt freier Wesen zu dem unermeßlichen Gebiete
des Möglichen gehört, über welches der
Dichter, unter der Bedingung der ästhetischen Darstellbarkeit [491]
des Stoffes, eben so frei, wie über den
Kreis des Wirklichen gebietet. Die reichste Quelle
und die ansprechendste Form des Mährchens ist das
sogenannte Volksmährchen, wo der Stoff der
Darstellung aus dem einheimischen Sagenkreise des
vaterländischen Volkes entlehnt ist.


Die Novelle ist an sich ein abgekürzter Roman,
oft selbst im metrischen Gewande. Jn dem
Worte selbst liegt kein, seinem Wesen nach von der
allgemeinen Bezeichnung des Romans abweichender,
Begriff; allein nach den ästhetischen Erzeugnissen
zu urtheilen, die unter dem Namen der Novelle
sich ankündigen, verstehen die Dichter derselben
solche romantische, bald kürzere, bald längere, Erzählungen,
in welchen die dargestellten Jndividuen
unter sehr verschiedenartigen Verhältnissen des Lebens
und nach einem oft räthselhaften Gange ihres
Schicksals erscheinen. Wenn die Erfinder der Novellen,
die Spanier und Jtaliener, zunächst unter
diesem Namen scherzhafte Liebesabenteuer schilderten;
so haben die Teutschen diesen Namen im weitern
Sinne gebraucht, und nicht selten ernsthafte und
sentimentale Kunstformen unter dieselbe Bezeichnung
gebracht.

77.
i) Das Sinngedicht und Epigramm.


Die Benennung und Form des Epigramms ist
griechischen Ursprungs; es enthielt eine sinnvolle
kurze Ueberschrift oder Aufschrift auf Tempeln, Gebäuden,
Kunstwerken u. s. w. ─ Jn der neuern
Dichtkunst beruht der Charakter des Epigramms auf
der Versinnlichung Eines hervorstechenden Gedankens,
in der möglichst kleinsten, aber ästhetisch vollendeten [492]
Form der Darstellung. Nur Ein Gedanke
darf in dem Epigramme herrschen; dies sey nun ein
in Worte gekleidetes Gefühl; oder ein von der Einbildungskraft
und dem Witze hervorgehobener Begriff;
oder ein bestimmt bezeichnetes Jndividuum
oder Ereigniß. Dieser Gedanke muß aber hervorstechend
(frappant) seyn, und vermittelst der Form
versinnlicht, so wie durch die ästhetische Vollendung
der Form dem Gefühle so nahe gebracht werden,
daß im Bewußtseyn ein unmittelbares Wohlgefallen
an der Einheit der ästhetisch vollendeten
Form sich ankündigt. Zugleich muß die Form des
Epigramms, so weit es der darzustellende Gedanke
verstattet, die möglichst kleinste seyn, weil der
Eine im Epigramme herrschende Gedanke seine Kraft
und Wirkung bei einer weitern Ausführung verlieren
würde. Endlich muß der ästhetische Treffpunct
(Pointe) im Epigramm, wo möglich, auf
den Schluß fallen, so wie Lessing die ästhetische
Vollkommenheit des Epigramms in zwei Puncte:
Erwartung und Aufschluß setzte. Das Epigramm
gehört zu den gemischten dichterischen Formen,
weil sein Stoff eben so gut individuelle Gefühle,
wie Begriffe des Verstandes, und einzelne
Handlungen und Thatsachen versinnlichen kann.


Man unterscheidet, nicht ohne Grund, zwischen
dem eigentlichen Sinngedichte, und dem Epigramme
im engern Sinne. Jn dem eigentlichen
Sinngedichte wird ein sinnvoller Gedanke
anschaulich, neu, kurz und treffend dargestellt, ohne
die bestimmte Absicht, dadurch zu loben oder zu
tadeln. Dagegen erscheint im Epigramme, im
engern Sinne, Ein Gedanke, der, als Ausdruck des
Witzes, entweder loben, oder tadeln, oder im [493]
Allgemeinen spotten soll. Das lobende Epigramm
enthält das verdiente, und durch die Thätigkeit
der Einbildungskraft ästhetisch versinnlichte, Lob
eines Jndividuums, oder einer Handlung und Thatsache.
Das tadelnde Epigramm vergegenwärtigt,
unter der Einheit einer vollendeten Form, bald die
intellectuellen ästhetischen Mängel, Jrrthümer und
Thorheiten, bald die sittlichen Fehler, Verirrungen
und Gebrechen der Menschen. Nicht selten ist es
durch bittern Witz gewürzt, und heißt auch das
Strafgedicht. Das spottende Epigramm endlich
enthält den Ausdruck eines leichten, mit Gewandtheit
dargestellten, Witzes über irgend einen Gegenstand,
den man von seiner schwachen Seite ergreift.

78.
Beispiele des Sinngedichts und Epigramms.



α) des Sinngedichts.


1) von v. Logau († 1655).


Hoffnung und Geduld.


Hoffnung ist ein fester Stab,

Und Geduld ein Reisekleid,

Da man mit, durch Welt und Grab,

Wandert in die Ewigkeit.

2) von Heydenreich († 1801).


Das Leben, ein Traum.


Brüder, ein Traum ist unser kurzes Leben,

Aber ein Traum von großer wahrer Bedeutung.

Prüfe dein Leben, und du siehst prophetisch

Vor dir die Zukunft!
[494]

3) von Conz.


Die Bewährung.


Der Demant wird nur an dem Demant hell;

Der große Geist nur an dem Großen groß;

Das reine Herz bewährt sich nur am Reinen.

4) von J. Geo. Jacobi († 1814).


Grabschrift zweier Schwestern, welche im blühendsten
Alter bald nach einander starben.


Sie flochten unschuldsvoll am Kranz der Jugendfreude;

Da ließ ein Engel sie die bessern Kränze sehn,

Ließ seine Frühlingspalme wehn;

Und sie umarmten sich. „Komm Schwester,“ sagten beide,

„Der Engel winkt uns, heimzugehn!“

5) von v. Schiller († 1805).


Das Kind in der Wiege.


Glücklicher Säugling! dir ist ein unendlicher Raum

noch die Wiege;

Werde Mann, und dir wird eng die unendliche Welt.

6) von Pfeffel († 1809).


Das Epheu.


Seht diesen Eichenstamm; gestürzt vom Ungestüm

Des Wettersturms, liegt er im traurigen Gefilde;

Um ihn schlang Epheu sich, und fiel und starb mit ihm.

O Freundschaft! dich erkennt mein Herz in diesem Bilde!

7) von Klamor Schmidt († 1824).


An die sterbende Agathe, als sie sagte: „Wir sehen
uns zum letztenmale!“


Dein Gott so groß! dein Geist so schön!

Wie könnten wir zum letztenmal uns sehn!
[495]

8) von Klinkicht († 180.).


Mit der Zeit fortgehen.


Fortgehst du mit der Zeit? Wie wenig thust du dann!

Der Weise geht der Zeit voran.

9) von Mnioch.


Philosophieen und Philosophie.


Wie es den Philosophieen ergehen wird? ─ Nun Freund,

sie gehen

Um die Philosophie ─ diese doch dreht sich um sich.

10) von einem Ungenannten.


Friedrich der Einzige.


Auch Friedrich führt im Göttersaale

Sein Genius zu Lethe's Schale.

Nein, sprach der hohe Schatten, die

Trinkt nur ein Nero, Friedrich nie!

β) des Epigramms.


1) von Flemming († 1640).


Grabschrift eines Hundes.


Die Diebe fuhr ich an, die Buhler ließ ich ein;

So konnten Herr und Frau mit mir zufrieden seyn.

2) von v. Logau († 1655).


Die Freundschaft, die der Wein gemacht,

Wirkt, wie der Wein, nur eine Nacht.

3) von Christian Gryphius († 1706).


Sieben Eigenschaften des Prügels.


Daß die Hunde sich verlieren,

Narren sich als klug aufführen,
[496]
Kinder etwas Gutes fassen,

Schläfer von dem Schlaf' ablassen,

Müßiggänger Fleiß erzeugen,

Eitle Prahler stille schweigen,

Säufer nicht stets trunken bleiben ─

Jst dem Prügel zuzuschreiben.

4) von Wernike († um 1720).


Segen eines Bischoffs.


Ein Bauer nahm den Hut nicht ab,

Als man dem Volk den Segen gab.

Wie nun der Bischoff dieses schaute,

Und mit der Kirchenbuß' ihm draute;

So sagt er: Jst der Segen gut;

So geht er wohl durch meinen Hut.

5) von Wernike.


Römische Beichtbuße.


Es fand sein zartes Weib ein Ehmann in Gefahr,

Und wollte, weil es so zu Rom gebräuchlich war,

Aus großer Liebe sich bequemen,

Die Ruthenstreich' ihr abzunehmen,

Die in der Beicht' ein Mönch ihr heilig auferlegte.

Als nun der Pater ihm den Rücken lustig fegte;

So rief sein Weib: Haut zu, Herr Pater, denn ich bin

Gar eine große Sünderin.

6) von Lessing († 1781).


An Einen.


Du schmähst mich hinterrücks? Das soll mich wenig

kränken.

Du lobst mich ins Gesicht? Das will ich dir gedenken!
[497]

7) von Lessing.


Auf einen Brand zu **.


Ein Hurenhaus gerieth um Mitternacht in Brand.

Schnell sprang, zum Löschen oder Retten,

Ein Dutzend Mönche von den Betten.

Wo waren die? Sie waren ─ ─ bei der Hand,

Ein Hurenhaus gerieth in Brand.

8) von Bürger († 1794).


Die ganze Nacht hab' ich kein Auge zugethan,

Fing Ursula am Sonntagsmorgen an.

Nun will ich in die Predigt gehen,

Und Wunders halber sehen,

Ob ich nicht da ein wenig nicken kann.

9) von Karl Fr. Kretschmann († 1809).


Der gefundene Reim.


Längst schon suchte Mäv einen Reim auf Muse.

Endlich kam sein Weib, und der Reim ─ Meduse.

10) von Kretschmann.


Auf Maladett, den Wucherer.


Viel Silber hat sein grauer Schopf,

Viel Gold sein Kasten aufzuweisen;

Die Nase Kupfer; Blei sein Kopf;

Die Stirn viel Erz; das Herz viel Eisen.

Kurzum, der ganze Maladett

Jst Satans Stufenkabinett.

11) von Pfeffel († 1809).


Auf Radulphs Grab.


Jn dieser Marmorgruft

Verwesen Radulphs kalte Reste;
[498]
Er war Minister ─ sonst verwes'te

Er in der freien Luft!

12) von Haug.


Erhörung.


„Minister wär' ich nun durch Schmeichelei und Kosten,

Ach, und Minister seyn, fällt unser Einem schwer.

O, gieb mir, guter Gott, Verstand zu diesem Posten!“

Da gab der gute Gott ihm einen Secretair.

13) von Buddeus († 18..).


Eigene Grabschrift, wenige Tage vor seinem Tode
gemacht.


Jch habe geliebt, geträumt und gewacht,

Gescherzt, getrunken, geweint und gelacht,

Mich glücklicher oft, als ein Kaiser, gedacht;

Auch, Gott verzeih mir's, viel Verse gemacht.

Hier hat man mich endlich zum Schweigen gebracht,

Bis diese stumme Gesellschaft erwacht.

14) von Herklots.


Goldmacherei.


Jm Menschenblut, versichert ein Adept,

Kann man den echten Keim des Goldes finden.

Hat er geglaubt, was Neues zu ergründen?

Das ist ein altes fürstliches Recept.

15) von Weißer.


Ueber das Verbot des Bettelns in Teutschland.



Wie grausam ists von dir, Germania,

Das Betteln deinem Volke zu verwehren;

So raubst du deinen besten Köpfen ja

Das letzte Mittel, sich zu nähren.

16) von einem Ungenannten.


Raub eines Diploms.


Ach, ihm ward geraubt, worauf er Alles baut:

Ehre, Glanz und Ruhm ─ kurz ─ seine Eselshaut.
[499]

17) von einem Ungenannten.


Der Censor.


Der Herr der Welten sprach: „Auf dieser Erde

Sey Wort und Schrift des Geistes Zeuge!“

Ein kleiner Censor sprach im Zorn: „Es werde

Hier alles stumm, und jeder schweige!“

18) von einem Ungenannten.


Katechisation.


Prediger. Wie denkst du dir das Paradies, mein Kind?

Mädchen. Als Garten, wo verbot'ne Früchte sind.

19) von einem Ungenannten.


Auf einige Romanenschreiberinnen.


Verschont mit Schriften uns, ihr lieben zarten Puppen;

Zum mündlichen Geschwätz leihn wir euch gern das Ohr.

Kocht, wenn's nicht anders ist, kraftlose Wassersuppen;

Nur setzt sie uns nicht auch in euern Büchern vor.

20) von Bouterwek.


Die neue Epoche.


Pfeif', o Vortrefflicher, mit uns aus Einem Loche;

Dann machst du alle Tag' Epoche.

21) von v. Kyaw.


Parallele zwischen dem Zeitungsschreiber Matz und
dem Pastor Stentor.


Sie gleichen sich natürlicher und schöner,

Als je zwei Menschen auf der Welt;

Sie lügen beiderseits für Geld,

Von dieser Welt lügt Matz ─ und Stentor lügt von

jener.

79.
k) Das Räthsel, die Charade, der Logogryph,
und das Anagramm.


Mehr als leichte Spiele des Witzes, die für [500]
den Augenblick ein unmittelbares Wohlgefallen erregen,
denn als tief im Gefühlsvermögen begründete
dichterische Formen, müssen das Räthsel, die Charade,
der Logogryh und das Anagramm betrachtet
werden. Nie wird man sie mit den höhern
Erzeugnissen der lyrischen, didactischen und epischen
Dichtkunst auf gleiche Linie des ästhetischen Gehalts
stellen können, wenn gleich ihre Stoffe bald der
einen und bald der andern dieser drei Klassen der
Dichtkunst nahe verwandt sind.


Das Räthsel enthält innerhalb einer kleinen
dichterischen Form die ästhetische Darstellung eines
Gegenstandes, der in der Form nicht genannt,
aber nach seinen gesammten wesentlichen Merkmalen
genau bezeichnet wird, um an diesen angegebenen
Merkmalen erkannt und errathen werden zu können.


Die Charade, oder das Sylbenräthsel, ist
eine Abart des Räthsels, in welcher zuerst die einzelnen
Sylben des Wortes, durch welches der nicht
genannte Gegenstand bezeichnet wird, und dann das
Ganze selbst nach den ihm eigenthümlichen Merkmalen
in der ästhetischen Form versinnlicht werden müssen,
damit man den unter der Hülle verborgenen
Gegenstand errathe.


Der Logogryph, oder das Buchstabenräthsel,
enthält eine ganze Kette von Räthseln, die alle auf
ein Hauptwort führen, dessen Sylben einzeln darin
geschildert sind, so wie dessen Buchstaben, nach ihrer
Versetzung, andere Wörter bilden, die gleichfalls in
dem Logogryphe bezeichnet werden.


Das Anagramm endlich, oder das Worträthsel,
behauptet seine Eigenthümlichkeit dadurch,
daß, nach der völligen Versetzung der Buchstaben
eines Wortes, ein völlig neuer Begriff, mit einer [501]
von der ursprünglichen Bezeichnung des Wortes wesentlich
verschiedenen Bedeutung, entsteht.

80.
Beispiele derselben.


α) des Räthsels.


von Müchler.


Mein Vaterland ist nicht der kalte Norden;

Denn ich gedeih' und reif' im wärmern Süden nur.

So lieblich ich auch bin, so zeigt doch meine Spur

Verwüstung, Blutvergießen, Morden.

Doch schmück' ich oft des schönsten Mädchens Haar,

Und schimmere an ihrem Hals und Busen;

Es brachte selbst ein Priester teutscher Musen

Als Weihgeschenk mir eine Ode dar.

Vor meinem Glanz muß selbst der Purpur weichen;

Der Kühnste wird durch meine Glut geschreckt;

Und wehe dem, der einmal mich geschmeckt;

Denn nichts erlös't ihn aus des Todes Reichen.

(Die Granate.)
β) der Charade.


1) von einem Ungenannten.


Die erste Sylbe fällt vom Himmel;

Die zweite Sylbe steigt gen Himmel;

Das Ganze ist eine Stadt.

(Schneeberg.)


2) von Langbein.


Wenn Regen rauscht und Wind und Wetter weht,

Mag man sich gern zur ersten Sylbe retten.

Nur die erschreckt kein Sturm, auf deren Ruhebetten

Die zweite steht.

Zählt Mancher auch zu den vom Glück erhalt'nen Gaben

Das Eigenthum der ersten nicht;

So kann doch wohl der arme Wicht

An seiner Frau das Ganze haben.

(Hauskreuz.) [502]
γ) des Logogryphs.


von Friedr. Kind.


Ein Fischchen blieb an einer Angel hangen;

Bald ward ich selbst in einem Netz gefangen:

Weg war mein Herz, dahin war meine Ruh.

Man zog das Netz nicht zu; nein, es ward aufgeschlagen. ─

Jch soll den Fisch, ich soll das Netz dir sagen?

Setz nur zu sieben noch den achten zu!

Du räthst es nicht? Nimm von den achten wieder

Drei vorn hinweg; so tönt es süße Lieder.

Nimmst du noch eins; so sind sie weiß und rund,

Doch zu gewisser Zeit auch gelb, roth oder bunt.

(Schleier, Schleie, Leier, Eier.)


δ) des Anagramms.


1) von Heyne († 1812).


Austria ─ vastari.

(Aus Heyne's Leben von Heeren.)

2) von Fr. Kind.


Drei Sylben ─ o geliebte Wohnung!

Oft in der Fremde dacht' ich dein,

Und wünschte nichts mir zur Belohnung,

Als umgekehrt die Drei zu seyn.

Daß man das Wort noch mehr muß lieben,

Hat Jffland und ein Freiherr es geschrieben,

Hat Jffland drin der teutschen Welt

Zwei wack're Teutsche dargestellt.

(Vaterhaus
Schauspiel von Jffland;
Der Hausvater vom Freih.
v. Gemmingen.)
Ende des dritten Theiles.

[E503][E504][E505][E506]
Notes
*

Derselben Meinung ist Schiller in s. Recension von
Bürgers Gedichten; vgl. s. kl. prof. Schriften,
Th. 4. S. 193 ff. „Alles, was der Dichter
uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß
es also werth seyn, vor Welt und Nachwelt ausgestellt
zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr
als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten
Menschheit hinauf zu läutern, ist sein erstes und wichtigstes
*

Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die
Vortrefflichen zu rühren. Vom Aesthetischen gilt eben
das, was vom Moralischen. Wie es hier der moralisch
vortreffliche Charakter eines Menschen allein ist,
der einer seiner einzelnen Handlungen den Stempel
moralischer Güte aufdrücken kann; so ist es dort nur
der reife, der vollkommene Geist, von dem das Reife,
das Vollkommene ausfließt.“
*

Vgl. Grotefends Anfangsgründe der teutschen
Prosodie (Gießen, 1815. 8.) S. 163 ff.
*

Verteutschung.


Jch grüße mit Gesang die Süße,

Die ich vermeiden nicht will, noch mag.

Seit ich sie mündlich recht mochte grüßen,

Ach leider das ist schon mancher Tag.

Wer nun dieses Lied singet vor ihr,
*

Der ich so gar unsanft (ungern) entbehr,

Es sey Weib oder Mann, der habe sie gegrüßet von mir.

Mir sind die Reiche und Länder unterthan,

Wenn ich bei der Minniglichen bin,

Und wann ich scheide von dannen (von ihr),

So ist all meine Gewalt und mein Reichthum dahin.

Nur herben Kummer den zähl' ich mir dann zur Habe

(ist dann mein Loos),

Sonst kann ich an Freuden steigen auf und ab

Und bringe den Wechsel, wie ich wähne, durch ihre Liebe

zu Grabe.

Seit daß ich sie so gar herziglich minne,

Und sie ohne Wanken zu allen Zeiten trage,

Beides im Herzen und auch im Sinne,

Unterweilen mit viel mancher Klage;

Was giebt mir darum die Liebe zum Lohne?
1.

ohne Wahn; ohne allen Zweifel.
2.

an Vortrefflichkeit, an Vorzügen reiche.
*

Ja, böte sie mir auch noch so schöne,

Eh ich ihr entsagte, ich entsagte der Krone.

Er sündigt schwer, ders nicht glaubt,

Daß ich möchte leben manchen lieben Tag,

Ob auch nie eine Krone käme auf mein Haupt,

Der ich mich ohne sie nicht rühmen mag.

Verlör ich sie, was hätt' ich dann?

Dann taugt' ich zu erfreuen weder Weib noch Mann,

Und wäre mein bester Trost beides zur Acht und zum Bann.
.
3.

bezwingen.
4.

tausenderlei Arten.
5.

besser; mehr.
*

Der Dichter studierte damals in Wittenberg, und
schrieb dieses Gedicht im Namen sämmtlicher Studierenden
bei dieser feierlichen Gelegenheit. Damals hatte
der Dichter sich noch nicht zum Mysticismus hingeneigt.
Das Gedicht selbst ist nirgends abgedruckt
worden, und damals in Quartformat einzeln erschienen.
*

Als im November 1805, wenige Wochen vor der
Schlacht von Austerlitz, der Kaiser Alexander von Rußland
durch Wittenberg reiste, begrüßte ihn Schröckh
*

im Namen der Universität, wobei der Kaiser sich erinnerte,
daß er in seiner Jugend nach Schröckhs geschichtlichen
Lehrbüchern unterrichtet worden wäre.
*

Die mitgetheilte Ode von Flemming, der übrigens
an dichterischem Schwunge die sogenannten schlesischen
Dichter übertraf, wird als Beleg für die am Schlusse
des vorigen §. aufgestellte Behauptung hinreichen. Wie
man gegen die Mitte des 17ten Jahrhunderts den
Begriff der Ode nahm, erhellt schon daraus, daß das
an sich treffliche Flemmingische Kirchenlied: Jn
allen meinen Thaten
&c. in seiner Gedichtsammlung
mitten unter den Oden steht. ─ Außerdem gehört
das Th. 1. S. 380 f. aufgestellte Beispiel des
Erhabenen von v. Haller ebenfalls hieher ins Gebiet
der Ode, und zwar gewissermaßen als der erste
gelungene Versuch einer Ode in der teutschen Literatur.
*

Absichtlich ist dieses Bruchstück unter die Hymnen,
und nicht unter die Dithyramben aufgenommen, wohin
es der Ueberschrift nach gehört hätte, weil
der Ton und die Haltung der dichterischen Form durchaus
nicht die trunkene Begeisterung bezeichnet, welche
in der Dithyrambe vorherrschen muß.
*

Größtentheils ist bei dieser Elegie die ältere Ausgabe
in Herders Briefen, das Studium der
Theologie betreffend,
beibehalten, und nicht
die zweite in s. Gedichten, herausgegeb. v. J. G.
Müller (Stuttg. u. Tüb. 1817) Th. 2. S. 171
befolgt worden, weil sich in derselben kaum erklärbare
Nachlässigkeiten finden. Man vergleiche nur z. B.
sogleich die zweite und vierte Zeile der ersten Strophe:
So schläfst du nun den Todesschlaf im Grabe,
Du junger Held, der schöne Dornen trug.
Dein Leben war für tausend Lebensgabe,
Dein Tod erquickt auch Sterbende mit Muth.

u. s. f.
*

Hier hat die ältere Ausgabe: Erden sphäre.
**

Hier hat die neue Ausgabe: schafft und betet, ohne
doch die drei folgenden Zeilen zu verändern, wo säet
nicht auf betet sich reimt.
***

So die ältere Ausgabe. Die spätere hat:
Wo jeder Gute wohnet,

Dem Haß der Welt entflohn.
*

So die ältere Ausgabe. Die spätere:
Der zu dem Freudenorte

Führt unbetretnen Steg.
**

So die ältere Ausgabe. Die spätere:
So sprach er, und ging selbst der Dornen Pfade.
***

So die erste Ausgabe. Die spätere hat:
Ein Gotteseifrer ohn' Entrüsten,

Der, nie verhöhnend, oft beweint,

Was Menschen dulden müßten,

Ein echter Menschenfreund.
*

Diese ganze kräftige Strophe fehlt in der neuen
Ausgabe.
*

So z. B. Ramler in dem Tode Jesu, in der
Arie, die der Schilderung folgt, daß Petrus den
Erlöser dreimal verläugnete, und darauf, von Jesu
angeblickt, in sich ging und bitterlich weinte.
Erster Abschnitt.
Jhr weich geschaffnen Seelen

Jhr könnt nicht lange fehlen;

Bald höret euer Ohr

Das strafende Gewissen,

Bald weint aus euch der Schmerz.

Zweite Abtheilung.
Jhr thränenlosen Sünder, bebet!

Einst, mitten unter Rosen, hebet

Die Reu den Schlangenkopf hervor,

Und fällt mit unheilbaren Bissen

Dem Frevler an das Herz.

Sehr treffend hat Graun für die erste Abtheilung
Es dur, für die zweite C moll gewählt.
*

Classische Dichter haben den Chor nach diesem Maasstabe
behandelt. So z. B. Ramler im Schlußchore
des Todes Jesu:


Hier liegen wir gerührte Sünder,

O Jesu, tief gebückt,

Mit Thränen diesen Staub zu netzen,

Der deine Lebensbäche trank:

Nimm unser Opfer an.

Freund Gottes und der Menschenkinder,

Der seinen ewigen Gesetzen

Des Todes Siegel aufgedrückt;

Anbetung sey dein Dank!

Den opfre jedermann!

Eben so Meißner im Schlußchore seiner Cantate:
Lob der Musik:

Von der letzten kleinsten Erde
*
Bis zur Gottheit Thron empor,

Sey von tausendfachen Zungen,

Tonkunst, dir ein Lob gesungen,

Schalle dir ein Freudenchor!

Engelharfen, Menschendank,

Lerchenlied und Sphärenklang

Mische sich zu deinem Ruhme,

Töne dir im Weltgesang!
.
*

Die beiden folgenden Sonette sind aus Baggesen's
Karfunkel, oder Klingklingel-Almanach; ein Taschenbuch
für vollendete Romaniker und angehende Mystiker.
Auf das Jahr der Gnade 1810. ─ Jn diesem
Almanache wurden die Schwärmereien der neuesten
Mystiker mit Braminenweisheit gegeiselt, und ihre
schwerfälligen Sonettenformen, in gelungenen Parodieen
derselben, scharf gerügt.
*

Noch im achtzehnten Jahrhunderte gedichtet.
*

im Karlsbade am 7 Aug. 1818 niedergeschrieben,
und in den thüringischen Erhohlungen abgedruckt.
*

Weil jedes echte Drama ein in sich abgeschlossenes
Ganzes bildet, das, nach seinem ästhetischen Charakter,
nur als ein Ganzes richtig aufgefaßt werden
kann; so war es nicht rathsam, einzelne Bruchstücke
und Scenen aus den verschiedenen Formen der
dramatischen Dichtkunst, als Belege für die aufgestellte
Theorie, aufzunehmen, da der Umfang und die
Bestimmung dieses Werkes die Mittheilung eines vollständigen
dramatischen Erzeugnisses von selbst ausschloß.
*

So v. Schiller in der, von ihm zu Mannheim
1784 gehaltenen, und mit dieser Aufschrift versehenen,
Vorlesung, die zuerst in der rheinischen Thalia,
und dann berichtigt in s. kleinen pros.
Schriften
Th. 4. S. 3 erschien. ─ Vgl. J. H.
v. Wessenberg, über den sittlichen Einfluß der
Schaubühne. Konstanz, 1825. 8.
*

Ebendas. S. 7. ff.
*

Vgl. Th. 1. S. 402 und S. 406.
*

Die Allegorie und Vision, die, als selbstständige
dichterische Ganze betrachtet, auch hier aufgeführt
werden konnten, sind bereits, in der Lehre von
den Tropen, Th. 1. S. 461 und 465 theoretisch
und practisch erläutert worden.
*

Lavater befand sich im Jahre 1787 in Bremen, wo
er zum Mysticismus und selbst zum Katholicismus sich
hinzuneigen schien. ─ Bekanntlich parodirte selbst
Semler das Lavater'sche Gedicht vom Jahre
1785: Empfindungen eines Protestanten
in einer katholischen Kirche:
„Der kennt noch
nicht dich Jesus Christus, wer deinen Schatten nur
entehrt“ &c.

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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Poelitz. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7B8-7