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JULIUS PETERSEN


DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG |#f0006 : RII|

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DIE WISSENSCHAFT

VON DER DICHTUNG


SYSTEM UND METHODENLEHRE DER LITERATUR-

WISSENSCHAFT.


Von

JULIUS PETERSEN



2. AUFLAGE



Mit Beiträgen aus dem Nachlaß herausgegeben von

ERICH TRUNZ

o. Professor an der Universität Prag

1944

JUNKER UND DÜNNHAUPT VERLAG / BERLIN

|#f0008 : RIV|



Einband: Dorothea Suffrian

Alle Rechte vorbehalten.


Copyright 1939 by Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin.

Printed in Germany

Clemens Landgraf Nachf., W. Stolle, Dresden-Freital

|#f0009 : RV|



EINLEITUNG

BEGRIFF UND ENTWICKLUNG

DER LITERARHISTORISCHEN METHODEN


Seite
1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre1─20

a) Begriff der Literaturwissenschaft. Universalgeschichte und allgemeine

Literaturgeschichte / Literaturgeschichte als Nationalwissenschaft

/ Literaturvergleichung / Übersetzung als Notbehelf

/ Weltliteratur / Literaturwissenschaft im Verhältnis

zur Literaturgeschichte
1─13
b) Begriff der Methodenlehre. Bestimmung der Methode durch

Zielsetzung / Vielheit der Methoden / Stoffhuber und Sinnhuber
13─20
2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben20─52

a) Anfänge der Literaturwissenschaft. Sammlung, Kritik und

nationale Selbstbesinnung
20─22
b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit. Anfänge einer

Gliederung / Kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz
22─24
c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang. Kritik und

Hermeneutik: Lessing und Herder
24─27
d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik. Allgemeine Literärgeschichte

/ Beteiligung der Dichter / Die älteren Romantiker

als Herders Diadochen
28─30
e) Anfänge der Nationalwissenschaft. Die jüngere Romantik / Die

erste Germanistentagung / Gervinus / Die Schule Hegels
30─35
f) Positivismus. Hettner / Taine / Scherer / Kritische Ausgaben

und Monographien / Goethe-Philologie / Poetik / Dilthey
35─41
g) Geisteswissenschaft. Philosophische und soziologische Einflüsse

/ Neue Grundsätze / Umwertungen / Sammelwerke
41─47
h) Neue Ziele. Nationale Biologie und Anthropologie / Vorgeschichte

/ Gegenwartsliteratur / Existentielle Literaturwissenschaft
47─51
|#f0010 : RVI|



Seite
ERSTES BUCH: DAS WERK

ERSTER HAUPTTEIL:

ÜBERLEITUNG UND AUSWAHL.

a) Wesen und Umfang. Schwebezustand des Wortkunstwerkes /

Konkretisierung / Ungleichheit und Ordnung des Überlieferten /

Doppelte Zuordnung übersetzter Werke
52─60
b) Beschränkung der Überlieferung. Dichtung und Literatur /

Croces und Ingardens Abgrenzungen / Dichter und Literat / Abhängigkeit

des Wertes vom Reichtum der Überlieferung / Überlieferung

als Kennzeichen des Zeitgeschmacks
60─70
c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung. Handschrifteninventarisation

/ Literaturarchive / Volksliedarchiv / Goedecke /

Kritische Ausgaben
70─73
ZWEITER HAUPTTEIL:

TEXT UND VERFASSER.

a) Kritik der Überlieferung. Gefälschte Urschrift / Zuverlässigkeit

fremder Aufzeichnung / Indirekte Überlieferung
74─81
b) Kritik des Textes. Aufgaben der Philologie / Form- und Sachwissenschaft

/ Aufgaben des Herausgebers / Stammbaum und

Lesarten
81─89
c) Datierung und Zuverlässigkeit. Nachdrucke und Doppeldrucke /

Textverderbnisse / Grundlagen des Shakespeare-Textes / Datierung
89─97
d) Ermittlung des Verfassers. Anonyme und Pseudonyme / Mittel

der Aufhellung
98─103
e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung. Gemeinschaftsarbeit

und Widersprüche
103─105
f) Versteckspiel des Verfassers. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“

/ Identifikation durch Schallanalyse / Fingierte

Chroniken
105─108
DRITTER HAUPTTEIL:

DIE ANALYSE.

1. Grundbegriffe109─112

Gliederung in drei Stufenreihen
2. Erste Stufe: Grundriß112─120

a) Stoff und Erlebnis. Der Stoff / Gestalteter Stoff als Quelle / Erlebnis

/ Stoff als Baugrund
112─118
b) Form. Beziehung von Stoff und Form118─120
|#f0011 : RVII|

Seite
3. Zweite Stufe: Innere Form120─136

a) Gattung. Die Gattungen / Schematisches Verhältnis der drei

Gattungstypen / Unterarten und Übergänge der Gattungen
120─128
b) Stimmung. Stimmung als innere Form / Tragische, komische,

humoristische Wirkungsart
128─131
c) Situation. Situation als fruchtbarer Moment / Beschränkte Zahl

möglicher Situationen
131─136
4. Dritte Stufe: Plan136─157

a) Fabel. Rationale Elemente des Kunstwerkes / Fabel als Abstraktion

von stofflichen Fakten
136─140
b) Absicht. Planloses und planmäßiges Schaffen141─142
c) Technik. Begriff der Technik / Gattungstechnik des Dramas /

Typen dramatischer Technik / Technik der Lyrik / Epische Gattungstechnik

/ Icherzählung und Zeitform / Standort und Gesichtskreis

des Erzählers
142─157
5. Vierte Stufe: Menschengestaltung157─169

a) Psychologie und Selbstdarstellung. Psychologischer Gehalt /

Selbstdarstellung / Psychologische Wissenschaft und Dichtung
157─162
b) Charaktere und Vorbilder. Vorbilder / Innere Urbilder der

Charaktere / Masken
162─169
6. Fünfte Stufe: Verknüpfung169─195

a) Motive. Begriff des Motivs / Stufenfolge: Bild, Zug, Motiv,

Problem, Idee / Abhängigkeit der Motive / Motive der Lyrik /

Gegenüberstellung zweier motivgleicher Gedichte / Leitmotive
169─180
b) Wirklichkeitsauffassung. Wirklichkeitsschichten im Drama /

Wirklichkeitsschichten in Epos und Roman / Drei Reiche: sichtbare

Wirklichkeit, symbolische Welt, Allegorie / Wirklichkeitsschichten

in Goethes „Faust“ ─ Realitätsstufen der Lyrik
180─190
c) Sprachform. Gattungscharakter der Versarten / Tonhöhe, Tonstärke

und Rhythmus
191─195
7. Der Stil195─232

a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung. Entwicklung des

Stilbegriffs / Kunstgeschichtlicher, soziologischer, geistesgeschichtlicher

Stilbegriff / Stilwandlungen
195─200
b) Methodische Richtlinien. Bestimmungen der Stilelemente durch

Lebensraum und Zeitwandel / Personalstil, Heimatstil, Generationsstil,

Zeitstil, Stammesstil / Nationalstil, Rassestil, Erdteilstil
200─207
|#f0012 : RVIII|



Seite
c) Wege der literarischen Stilforschung. Eingleisiger Sammelverkehr

/ Zwei- und mehrgleisiger Verkehr / Stiltypen
207─214
d) Ordnungsgrundriß. Wechselwirkung zwischen Ausdrucksform

und Ausdrucksinhalt / Stilbedeutung des Einzelwortes / Nominalstil,

Verbalstil, Beiwortstil / Wortzusammensetzungen / Wortstellung

/ Wortfolge, Satzgliederung und Periode / Rhythmische

Gliederung und Aufbau / Stilphysiognomik
214─232
8. Sechste Stufe: Das Persönliche232─243

a) Weltanschauliche Haltung. Parallele zwischen Weltanschauung

und Stilrichtung / Weltbild / Darstellung von Weltanschauungsgegensätzen
232─239


b) Problemstellung. Das Problem als Fragestellung / Die Grundprobleme

des Lebens in der Dichtung / Unterschiede dichterischer

und philosophischer Problemstellung
239─243
9. Siebente Stufe: Geist und Idee244─247

Aussprache der Idee in der Dichtung
10. Synthesen247─249

Verhältnis von Analyse und Genesis / Literaturgeschichtliche Zusammenfassung
VIERTER HAUPTTEIL

DEUTUNG UND WERTUNG.

1. Das Verstehen250─258

Bestimmung für verstehende Leser / Geschichtliches Verstehen /

Hermeneutik / Beschwören des Geistes
2. Wertung258─263

Das Verstehenswerte / Wert des Unverständlichen / Überästhetische

Werte
3. Wandel der Werte263─270

Wachstum / Aufstieg und Niedergang der Bewertung / Wirkungsgeschichte

4. Wertmaßstäbe270─276

a) Echtheit271─272
b) Größe273─274
c) Sinnbildhaftigkeit274─275
d) Geltung276
|#f0013 : RIX|



Seite
ZWEITES BUCH: DER DICHTER

ERSTER HAUPTTEIL:

DAS LEBEN.

1. Grundsätzliches277─282

Persönlichkeit und Werk / Dichteranalyse
2. Ererbtes283─287

Rasse, Stamm und Sippe

a) Rasse. Bildmaterial / Rassischer Zwiespalt / Erbanlagen /

Genealogie
287─293
b) Stamm. Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme

und Landschaften“ / Stammeseigenschaften / Stamm und Rasse /

Stamm und Landschaft
293─297
c) Konstitution und Charakter. Erworbene Eigenschaften / Familienerbteil

und Berufstradition / Kretschmers Konstitutionslehre /

Vererbbarkeit der Dichtergabe
297─303
d) Genialität. Väterliches oder mütterliches Erbteil303─306
3. Lebensgang und Schicksal306─322

a) Daten306─308
b) Hilfsmittel308─310
c) Dichtungen als biographische Quellen310─313
d) Selbstbekenntnisse. Autobiographien / Tagebücher und Briefe /

Reiseeindrücke / Lebenswirklichkeit und Dichtung
313─317
e) Schicksal. Geburts- und Todesdatum / Periodizität und Lebensrhythmus317─322


4. Anpassung und Beeinflussung322─336

Erbgut und Umwelt

a) Familie324─325
b) Heimat. Kindheitseindrücke und Landschaft325─328
c) Lehrer und Leiter. Schule und Hochschule328─330
d) Einfluß und Nachahmung. Persönliche Abhängigkeit und Stileinflüsse331─334


e) Belesenheit. Bibliotheksbenutzung und Bücherbesitz334─336
|#f0014 : RX|



Seite
ZWEITER HAUPTTEIL:

SEELENLEBEN.

1. Eindrucksfähigkeit337─351

a) Sinneseindrücke. Visuelle und auditive Anlage / Motoriker338─343
b) Experimentalpsychologische Typenlehren. Statistik der Sinneseindrücke

/ Form- und Farbseher Eidetiker / Integrationstypen
343─348
c) Menschenkenntnis und Lebenserfahrung. Jungs Typenlehre /

Introversion / Antizipation / Verschmelzung von Wirklichkeitsbeobachtung

und Phantasie
348─351
2. Das Erlebnis352─372

a) Leben und Erleben352─353
b) Strukturpsychologische Typenlehren. Diltheys Weltanschauungstypen

und ihre Weiterbildung
354─358
c) Erlebnisinhalt. Urerlebnis und Bildungserlebnis / Begriffserlebnis

und Ideenerlebnis
358─361
d) Erlebnisqualität. Eindruckserlebnisse / Ausdruckserlebnisse /

Erlebnisse des immanenten Schicksalsbewußtseins
361─367
e) Erlebnis-Verlauf. Erlebnis des Ichbewußtseins / Du-Erlebnis

der ersten Liebe / Erwachen des Natursinnes / Durchbruchserlebnis

der religiösen Selbstbesinnung / Zentralerlebnisse / Dauererlebnisse

/ Umschwungserlebnisse / Kurzerlebnisse
367─370
f) Erlebnisbild. Goethes „Harzreise im Winter“ und „Willkommen

und Abschied“ / C. F. Meyers „Schlacht der Bäume“
370─372
3. Weltbild372─388

a) Einstellung372─373
b) Bedingtheit. Rassenpsychologie / L. F. Clauß / H. F. K. Günther

/ v. Eickstedt / Religiöse und gesellschaftliche Bedingtheit
373─379
c) Horizont. Inhalte und Stufen des Weltbildes nach Jaspers /

Wille und Schicksalsgedanke
379─382
d) Persönliche Prägung. Ich und Es / Das Unbewußte / Goethes

Weltbild / Lessings Weltbild / Kleists Weltbild
382─388
4. Phantasie, Traum- und Gefühlsleben388─406

a) Phantasie. Anschauliche und kombinatorische Phantasie

(Wundt und Elster) / Plastische und zerfließende Phantasie (Ribot)
388─391
b) Anschaulichkeit. Goethe / Balzac und Flaubert / Turgeniew

und Gontscharof / Otto Ludwigs Bekenntnisse über sein Verfahren

beim poetischen Schaffen
391─394
c) Erfindung. Motivverknüpfung / Veranschaulichung / Ausgemalte

Wunschträume
394─398
|#f0015 : RXI|



Seite
d) Traumleben. Theorien des Traumes / Psychoanalyse / Hebbel

/ Traumleben des Kindes / Dichterische Traumeinkleidung
398─403
e) Gefühlsleben. Analyse der Gefühle nach Dilthey und Elster /

Erlebnisechtheit / Liebe
403─406
DRITTER HAUPTTEIL:

DER SCHAFFENSVORGANG.

1. Lösung von der Wirklichkeit407─411

Aussagen der Dichter / Zeitliches Fernbild / Selbstopferung und

Selbstbefreiung
2. Produktive Stimmung und Konzeption411─421

Konzeption als Verschmelzung von Stoffwille, Erlebnis, Weltbild

und Sinnbildern der Phantasie / Typen der Inspiration und intuitiven

Konzentration / Meditative und reaktive Konzeption / Produktive

Kritik
3. Plan und Gestaltung421─434

a) Plan. Aufzeichnung / Goethes „Faust“ / Schillers Entwürfe /

Hebbel / Fontane
421─428
b) Wandlungen des Planes. Schillers „Don Carlos“ / Lessings

„Emilia Galotti“ / Theaterrücksichten / Goethes „Wilhelm

Meister“ / Fortsetzungen
428─432
c) Ausführung. Prosa und Vers / Arbeitstempo432─434
4. Arbeitsweise434─440

Klima und Jahreszeit / Tageszeit / Stimulantien / Arbeitsraum /

Schaffensbedingungen und Arbeitsgewohnheiten
VIERTER HAUPTTEIL

DIE EXISTENZ DES DICHTERS.

1. Spektrum441─444

Wort, Sinn, Kraft, Tat
2. Sprache444─448

a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
3. Gesetz448─451

a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
4. Glaube452─456

a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
5. Sendung456─462

a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit
6. Widerhall462─464
|#f0016 : RXII|



FRAGMENTE UND VORARBEITEN

ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH


AUS DEM NACHLASS

EINLEITUNG ZU BUCH III UND IV:

SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT.

Seite
1. Werke und Gattungen465─479

a) Gattungsgeschichte468─475
b) Bedingtheit der Gattung475─477
c) Überwindung der Gattung477─479
2. Dichtertypen479─508

a) Typenreihen480─491
b) Methoden der Typenbildung492─497
c) Geschichtliche Typenfolge497─500
d) Rasse- und Schicksalstypen500─508
3. Dichtung und Dichtkunst508─519

a) Unterscheidung508─510
b) Überblick über die Dichtung510─519
4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes

und der Zeit519─524
DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN.

1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte525─527

Das Problem der Periodisierung / Die Bedeutung der Generationen
2. Begriff der Generation527─534

Generation und Jahrhundert / Generationsfolge
3. Die Generationstheorien534─552

Lorenz / Pinder / Dilthey / Wechßler
4. Die generationsbildenden Faktoren552─577

Vererbung / Geburt / Bildungselemente / Persönliche Gemeinschaft

/ Generationserlebnisse / Führertum / Generationssprache

/ Erstarren der alten Generation
5. Die Reichweite des Generationsbildes577─582

Generation als zeitliche Ordnung, Stamm und Landschaft als

räumliche / Generation als Schicksal
PLAN ZU BUCH III UND IV583─585
ANMERKUNGEN586─645
PERSONENREGISTER646─663
|#f0017 : RXIII|



VORWORT DES HERAUSGEBERS

ZUR 2. AUFLAGE



Julius Petersen starb unerwartet und plötzlich am 22. August 1941

in seinem Landhaus bei Murnau. Auf seinem Schreibtisch lag das

fragmentarische Manuskript zum zweiten Band seines Werkes „Die

Wissenschaft von der Dichtung“, das ihn in den letzten Jahren

dauernd beschäftigt hatte. Zwar hatte er einige kleinere Arbeiten

dazwischengeschoben, die Ausgabe des Fontane-Lepel-Briefwechsels

und des Ifflandschen Regiebuches der ersten Berliner „Wallenstein“-

Aufführung, einen Grimmelshausen-Aufsatz u. a. m., und das ganze

letzte Lebensjahr hatte fast völlig den Arbeiten an der großen Schiller-Nationalausgabe

gehört, mit der er seine lebenslänglichen Schiller-Studien

krönen wollte. Mit Freude zeigte er mir deren erste

Korrekturfahnen, als ich ihn am 13.─15. August 1941 ─ eine Woche

vor seinem Tode ─ in Murnau besuchte. Er war wie immer mitten

in Plänen und Arbeiten: es drängte ihn jetzt zur Vollendung der

Methodenlehre, und als fernes Ziel leuchtete vor ihm sein seit langem

gehegter und vorbereiteter Plan einer Literaturgeschichte der deutschen

Klassik. Seines Herzleidens nicht achtend, stürzte er sich, nachdem

das mühereiche Berliner Kriegssemester zu Ende gegangen war,

in die neue Arbeit mit jugendlicher Frische und männlicher Tatkraft

wie immer. Und so ist er ganz, wie er immer war und sein wollte,

mitten in der Arbeit, uns entrissen.



„Die Wissenschaft von der Dichtung“ bleibt nun Fragment. Niemand

kann es vervollständigen, zu sehr ist es eine ganz persönliche

Leistung, die in dieser Art nur Petersen möglich war. Daraus ergab

sich der leitende Grundsatz für die neue Auflage: Sie enthält kein

Wort, das er nicht geschrieben hat. Die Gattin des Verstorbenen gab

mir die ehrenvolle Aufgabe, die Methodenlehre zu betreuen, und ich

sichtete aus dem Nachlaß alles diesbezügliche Material: Ein Handexemplar

des gedruckten Bandes enthielt Hunderte von kleinen Einschüben

und Verbesserungen; zu dem geplanten 2. Band lagen Manuskripte

vor; sodann bestand eine Sammlung früherer methodologischer

Aufsätze Petersens mit handschriftlichen Korrekturen für einen

Neudruck; schließlich riesige Mappen mit Materialsammlungen. Daraus

ergab sich die Gestaltung der Neuauflage. Die schon 1939 erschienenen |#f0018 : RXIV|



Teile sind in ihrem Aufbau unverändert geblieben, haben aber

in den Einzelheiten zahlreiche kleine Änderungen und Erweiterungen

erfahren. Neu kommen die für den 2. Band bestimmten Teile hinzu.

(Seite 465 des vorliegenden Bandes.) Während ihr Text sich aus den

Handschriften lückenlos herstellen ließ, hat Petersen die Anmerkungen

zu den Seiten 465─479 und 508─524 nicht mehr geschrieben,

sondern nur bezeichnet, wo Anmerkungen hinkommen sollten. Ich

habe die bibliographischen Notizen von mir aus hinzugefügt. Sodann

lag ein Plan des weiteren Gesamtwerks vor, der dessen umfassende

und großzügige Architektonik erkennen läßt; er ist ebenfalls zum Abdruck

gebracht (Seite 583) und ergänzt das, was Petersen im Vorwort

der 1. Auflage sagt.



Damit waren die unmittelbar druckreifen Teile der Methodenlehre

erschöpft, und es ergab sich die Frage, was mit dem weiteren Material

zu geschehen habe. Als nicht druckfähig erwiesen sich die

ungeheuren Materialsammlungen, deren Fülle auch den, der mit

wissenschaftlichen Arbeiten umzugehen gewohnt ist, in Erstaunen und

Bewunderung setzt. Es sind Tausende von Exzerpten und bibliographischen

Notizen, aber noch keine ausgeführten Partien. Und so ist

mit dem Verfasser, der uns genommen ist, auch dieses ungeheure Material

für uns verloren, denn nur er allein vermochte es lebendig zu

machen und daraus zu formen, was ihm vorschwebte. Petersen selbst

hat in früheren Jahren die wissenschaftlichen Nachlässe von Köster

und Weltrich betreut und hat ─ mit Recht ─ nur das herausgegeben,

was abgerundet und reif war. Er hat sich aber nicht gescheut, an

Kösters Literaturgeschichte einen sachlich hinzugehörigen Aufsatz

anzuhängen, der früher und als Einzelwerk geschrieben war. Ein

ähnlicher Weg schien nun auch bei seinem eigenen Werk möglich.

Es war also die Frage, ob etwas von Petersens früheren Aufsätzen

sich einem Druck der fragmentarischen Methodenlehre anfügen lasse.

In Frage kommen die Baseler Antrittsrede „Literaturgeschichte als

Wissenschaft“ (1913), sein Bekenntnis zur Einheit der Literaturgeschichte

und der Germanistik Jacob Grimmscher Prägung, die Aufsätze

„Literaturwissenschaft und Deutschkunde“ (Ztschr. f. Deutschkunde

1924), „Nationale und vergleichende Literaturwissenschaft“

(Deutsche Vierteljahrsschr. 1928) und „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“

(Festschr. f. Sauer, 1926), sodann die Methodenlehre im

Kleinen, das Buch „Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik“

(1926) und schließlich die Schrift „Die literarischen Generationen“

(1930). Es zeigte sich, daß mit Ausnahme der Schrift über das Generationsproblem

die früheren Arbeiten alle bereits als Ganzes oder |#f0019 : RXV|



zerstückelt in die ausgeführten Teile der Methodenlehre aufgegangen

und außerdem durch die Gesichtspunkte dieses Werks überholt waren.

Denn Petersen hatte ─ und das war das Lebendige, Fruchtbare in

seinem Schaffen ─ sich in dem jahrelangen Nachdenken über

methodische Fragen entwickelt und verfeinert. So sind also nur

„Die literarischen Generationen“ dem vorliegenden Werke angefügt

und in der Handhabung der Anmerkungstechnik dessen übrigen Teilen

angeglichen. Freilich hätte Petersen selbst den Aufsatz nicht

unverändert übernommen, so wie er auch die Abhandlung „Zur Lehre

von den Dichtungsgattungen“ nur in umgebildeter Form in die Methodenlehre

aufnahm (S. 120 ff.). Doch steht der Aufsatz über die

Generationen unter allen früheren methodologischen Arbeiten in seiner

Schreibweise der „Wissenschaft von der Dichtung“ am nächsten,

und noch nichts von ihm ist in deren ausgeführten Teilen vorweggenommen.

Dagegen wären alle anderen früheren Aufsätze hier nur

Wiederholungen und nicht Ergänzungen gewesen. An sich aber sind

jene Aufsätze als gerundete klare Zusammenfassungen über einzelne

Probleme von bleibendem Wert, und wertvoll sind sie uns auch als

Stationen von Petersens Werdegang und der Entwicklung unserer

Wissenschaft überhaupt. Aus diesem Grunde aber gehören sie nicht

in die Methodenlehre, sondern in Petersens „Kleine Schriften“, deren

Herausgabe in mehreren Bänden Wieland Schmidt vorbereitet, und

welche ein reiches Bild von Petersens geistiger Weite und methodischer

Strenge geben werden. Dort sind sie geradezu unentbehrlich,

um in dem Gesamtbild, das die Literaturgeschichte vom späten Mittelalter

bis zur Gegenwart, Theaterwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte

umfaßt, das für Petersen so wichtige Gebiet der Methodenlehre

nicht fortfallen zu lassen. Die „Kleinen Schriften“ und die

„Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ bleiben also auch weiterhin

heranzuziehen: Sie bringen gleichfalls einerseits methodische

Fragen und andererseits ein Bild von Petersens wissenschaftlichem

Weitblick und Ethos.



Es würde den Rahmen einer Einleitung sprengen, hier von Petersen

als Menschen und Wissenschaftler ein Bild geben zu wollen. Die

zahlreichen Nachrufe haben es getan und haben erkennen lassen, wie

viele ihn liebten und verehrten. In der als Privatdruck erschienenen

Schrift „Julius Petersen zum Gedächtnis“ hat Eduard Spranger in

ergreifenden Worten den geistigen Menschen und sein reiches Leben

und Forschen geschildert, Alfred Bertholet hat seine Persönlichkeit

gewürdigt, Anton Kippenberg seine Verdienste um Goetheforschung

und Goethegesellschaft und Wieland Schmidt sein wissenschaftliches |#f0020 : RXVI|



Ethos und seine Berliner Lehrtätigkeit. In zahlreichen Zeitschriften

erschienen Aufsätze über Petersen (in der Ztschr. „Goethe“; „Dichtung

und Volkstum“; „Dt. Vierteljahresschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch.“

u. a. m.). Und Herbert Cysarz ─ gewiß ein unvoreingenommener

Beurteiler, da er der Schule Scherers und Erich Schmidts

immer kritisch gegenüberstand ─ hat im Jahrbuch der Bayrischen

Akademie der Wissenschaften (1941, S. 32 ff.) weitblickend Petersens

Leistung in den Rahmen der wissenschaftlichen Gesamtsituation

seiner Zeit hineingestellt: „Petersen war der stärkste Pfeiler der

Überlieferung ... Ja es kann und muß bündig festgestellt werden:

Er war am Ende die einzige umfassende und unbestrittene Autorität

seines Faches ... Noch gibt es keinen, der mehr „alte“ Tugend mit

innigerer Aufgeschlossenheit, Aufnahmefähigkeit und -neigung für

alles schöpferisch Neue und Junge vereinte, keinen, der aus so abgeklärter

Distanz so gewaltige Fülle der Sichten und Überfülle der

Sachen so leibhaft zu heben vermöchte. Keinen gerechteren

Mittler ...“



Eben diese hier genannten Eigenschaften machten Petersen fähig,

eine Methodenlehre zu schaffen. Ihn beseelte in der Nachkriegszeit,

den Jahren der Methodenkämpfe und der intellektuellen Überspitzungen,

im Gegensatz zu vielen anderen seines Faches der Glaube,

daß die deutsche Wissenschaft nicht eine Gruppierung feindlicher

Fronten, sondern ein gegliedertes Ganzes sein müsse, er sprach es

1926 in der „Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ aus, und

die Folgezeit zeigte, wie sehr er auf rechtem Wege war. In dieser

seiner Art, an große gemeinsame Aufgaben statt an individuelle Gegensätze

zu denken, lebt auch Petersen, der Mensch. Und er lebt auch

darin, daß er jeden Menschen unbedingt ernst nahm, in jedem

zunächst das Brauchbare und Tüchtige suchte und für jeden seinen

sinnvollen Platz innerhalb großer überindividueller Zusammenhänge

und Aufgaben zu erkennen strebte. In solchem Sinne geht seine Methodenlehre

an Hunderte und aber Hunderte von Werken heran. Sie

will weniger Programm und Forderung sein als vielmehr Zusammenschau

aller vorhandenen Kräfte und Wege. Was hier zum Ausdruck

kommt, kennzeichnet auch Petersen als Lehrer: Er verstand die

Kräfte seiner Schüler richtig anzusetzen, sie auf ihren Wegen zu

fördern, und indem er zur Forschung anleitete, damit auch wiederum

der Sache zu dienen.



Aber so reich Petersen als Wissenschaftler war, das, was seine Schüler,

die ihm persönlich nahestanden, vor allem an ihn band und was

ihnen sein Andenken unvergeßlich und leuchtend macht, ist seine |#f0021 : RXVII|



Menschlichkeit, das gütige Herz, die selbstlose Liebe, die unwandelbare

Treue. Er war ein wahrhaft väterlicher Freund, und sehr verborgen,

fast scheu war seine tiefe stille Herzlichkeit, die aus seinen

Augen, aus seinem Gespräch, auch aus seinen Briefen strömte. Wer

sie erfahren hat, ist ihm immer zu eigen. Darum werden seine Schüler

und Freunde die Herausgabe der Methodenlehre und der Kleinen

Schriften nicht nur als förderliche Leistung für die Wissenschaft, sondern

auch als Erinnerungswerk an den geliebten Lehrer empfinden.

Er hat in seiner bescheidenen Art nicht für sich und seine Bücher

ein Nachleben gewollt, wohl aber für den Geist der Wissenschaft, den

er seinen Schülern als lebendiges Erbe mitgab: Der Sache ergeben,

ehrfurchtsvoll, unbestechlich, genau im Kleinen, hochzielend im Großen,

fest wurzelnd in deutscher Art und weit ausblickend in die Welt

─ der Geist, in dem Jacob Grimm die Berliner Germanistik begründete

und in dem Petersen diese große geistige Überlieferung weiterführte.

Immer, wenn wir diesen Geist weiterhin zu verwirklichen

suchen, werden wir auch zu ihm, dem Lehrer und Menschen, zurückkehren.





Erich Trunz.

|#f0022 : RXVIII|

|#f0023 : RXIX|



VORWORT

ZUR 1. AUFLAGE



Genau ein Vierteljahrhundert ist dahingegangen seit der Antrittsvorlesung

über „Literaturgeschichte als Wissenschaft“, mit der ich

im Sommer 1913 mein Lehramt an der Universität Basel aufnahm.

Die Ausarbeitung erschien im folgenden Jahr als kleine Schrift, die

ebenso schnell vergriffen als überholt war. Der oft an mich herangetretene

Wunsch nach Erneuerung traf zusammen mit dem eigenen

Bedürfnis nach Rechenschaft über weiterführende Erfahrungen und

Zielsetzungen in Forschung und Lehre, die im Gleichschritt mit dem

Fortgang der Wissenschaft und der Dichtung, der Zeitentwicklung und

der politischen Schicksale sich ergeben mußten.



Nach der Behandlung von Teilgebieten in den Arbeiten über „Die

Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ (1926), „Nationale oder

vergleichende Literaturgeschichte?“ (1928) und „Die literarischen

Generationen“ (1930) wage ich jetzt eine Zusammenfassung, die sowohl

Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe als Ausgleich

zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen erstrebt und einen

kritischen Überblick bringen will über alle Methoden, die an literaturwissenschaftliche

Aufgaben anzusetzen sind. Rückschau, Umschau und

Ausschau sind vereint. Zwecks Einführung ist an der Veranschaulichung

durch Beispiele und Ergebnisse wie an Literaturangaben, die

zu den wichtigsten Hilfsmitteln geleiten, nicht gespart. Der gegenwärtige

Stand der Wissenschaft spiegelt sich in Auseinandersetzungen,

die auf Verständigung zielen. Die Ausführung und Weiterführung

liegt bei der Zukunft, der auch dieses Buch dienen möchte.



Von den vorausgegangenen Werken Elsters, Walzels, Ermatingers

u. a., die entweder die Psychologie des dichterischen Schaffens oder

das Erlebnis des Kunstwerkes zum einheitlichen Ausgangspunkt

nahmen, unterscheidet sich dieser Versuch durch den doppelten Blick

auf Werk und Dichter, die in einer sich steigernden Folge analysiert

werden. Die Zusammenfassung von Philologie, Literaturgeschichte

und Poetik mit Anthropologie, Volkstumsgeschichte und Völkerpsychologie

eröffnet die Perspektive auf weitere Synthesen. Die

organische Grundauffassung soll in den drei Büchern des zweiten

Bandes ihre Weiterführung finden: das dritte soll unter der Überschrift |#f0024 : RXX|



„Ordnungen“ die Kategorien von Raum, Zeit, Gesellschaft und

Geist behandeln; das vierte Buch „Völker und Zeiten“ wird in die

vier Hauptteile „Nationale Literaturgeschichte“, „Geistesgeschichte

und Stilgeschichte“, „Literaturvergleichung“ und „Weltliteratur“ zerfallen.

Die durchgehende Viergliedrigkeit mag im fünften Buch

„Darstellung“ ein Dach finden, das nach den vier Himmelsrichtungen

„Standort“, „Einfühlung und Intuition“, „Aufbau“ und „Sinn der

Literaturwissenschaft“ den wissenschaftlichen und künstlerischen Aufgaben

Grenzen setzt.



Mein Dank kann nicht alle einzelnen, die im Lauf vieler Jahre an

der Entstehung dieses Buches wissentlich oder unwissentlich mitgewirkt

haben, erreichen. Er gilt den einstigen Lehrern wie den

Freunden und Kollegen und nicht in geringem Maße auch den ehemaligen

und jetzigen Schülern, mit denen die Fragen dieses Buches

in praktischer Arbeit durchgesprochen und erprobt worden sind.

Unter den Kollegen, bei denen ich mir in letzter Zeit für die Zusammenhänge

mit benachbarten Gebieten Rates erholen durfte und

von denen ich wichtige Hinweise erhalten habe, nenne ich Ludwig

Deubner, Eugen Fischer, Paul Kluckhohn, Hermann Oncken, Robert

Roessle und Eduard Spranger. Für technische Hilfe bin ich Herrn

Bibliothekar Dr. Wieland Schmidt und seiner Frau Annemarie, geb.

Dahlke sowie Dr. Günter Skopnik in Berlin verpflichtet. Was ich

den Bibliotheken in Berlin und München wie der Bücherei des Nachbarn

Walter v. Molo im Murnauer Sommersitz schulde, kann allein

durch die Hoffnung aufgewogen werden, daß dieses Buch nicht nur

die Unzahl von Schriften, die ihm zugrundeliegen, um eine weitere

vermehren, sondern daß es für Bewältigung und zielbewußte Handhabung

des zu einer schwer übersehbaren Masse herangewachsenen

Arbeitsstoffes sich von Wert und Nutzen erweisen möge.



Berlin-Nikolassee, November 1938.



Julius Petersen.

|#f0025 : E1|



EINLEITUNG:


BEGRIFF UND ENTWICKLUNG

DER LITERARHISTORISCHEN METHODEN


1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre.


„Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt,

behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo

er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt

des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines

Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist

ihnen verwandt und nahe durch einen harmonischen

Verstand; er begegnet ihnen, wo alle helle Köpfe

einander finden.“



Schiller.



a) Begriff der Literaturwissenschaft



„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?“

Gegen diese Nachbildung der berühmten Schillerschen

Fragestellung meldet sich sogleich ein sachliches Bedenken: es ist unbestreitbare

Tatsache, daß man gar nicht Literaturgeschichte studieren

kann in demselben Sinne, wie die Universalgeschichte als

Gebiet wissenschaftlichen Studiums betrachtet werden darf.



Freilich ist nicht zu verkennen, daß auch auf die eigentliche

Beziehung der Schillerschen Frage heute ein anderes Licht fällt als

damals, da sie gestellt wurde. Inwieweit kann man heute überhaupt

noch Universalgeschichte studieren oder gar erforschen? Die Ausbreitung

selbsterworbener Kenntnisse eines einzelnen über das ganze

Gebiet der Weltgeschichte ist durch die Unermeßlichkeit des Raumes

wie durch die nach vorwärts und rückwärts reichende Ausdehnung

des zeitlichen Umfanges neuerdings weit mehr behindert als vor

150 Jahren. Hinzugewachsen sind vielleicht ebensoviel Jahrtausende

am Anfang als Jahrzehnte am Ende, und mindestens ebenso viel alte

Kulturen sind entdeckt, deren Sprachen teilweise noch der Entzifferung

harren ─ wie sollte solche Unendlichkeit aus einem Blickpunkt

zu überschauen sein? Die schwere Zugänglichkeit und der verschiedenartige

Charakter der primären Quellen, sowohl was äußere |#f0026 : 2|



Erreichbarkeit als sprachliches Verständnis betrifft, macht die Aufteilung

in einzelne Forschungsgebiete unerläßlich. Es gibt Geschichten

der Zeitalter, der Erdteile, der Kulturkreise, der Völker, der

Staaten, der Städte, der Stände. Wenn deren Ergebnisse zusammengetragen

werden, so bleibt dem universalen Überblick eigentlich nur

die Feststellung gleichartigen oder gegensätzlichen Verlaufs, die Beobachtung

typischer Entwicklungsstufen und die Erkenntnis historischer

Gesetze als ein Knäuel von Forschungsaufgaben übrig, so daß

Universalgeschichte in Geschichtsphilosophie übergeht.



Wenn nun eine universale Literaturbetrachtung denselben Weg

gehen will, so gelangt sie zu gleichem Ziel: Literaturgeschichtsphilosophie.

Vermißt sie sich wirklich, die ganze Menschheitsliteratur in

geschichtlichem Zusammenhang schauen zu wollen, so tritt sie vor viel

unüberwindlichere Schwierigkeiten, als sich der Universalgeschichte

entgegenstellen. Einmal muß sie für die Erschließung der Zusammenhänge

eine Universalgeschichte voraussetzen oder deren Arbeit noch

einmal leisten; weiter aber sind es auf ihrem eigenen Gebiet nicht

allein die Quellen, sondern die Ereignisse selbst, die verschiedenste

Sprache reden. Die Ereignisse sind auf diesem Gebiet nicht Taten

und Begebenheiten, sondern Texte, die wiederum ihre Quellen

haben. Diese Texte sind nicht kurzgefaßte Urkunden, deren Wert

bei kritischer Schulung verhältnismäßig rasch zu durchschauen ist;

sie sind auch keine Gemälde, die von geübten Augen schon mit einem

Blick in charakteristischen Wesenszügen erfaßt werden können. Der

Totaleindruck jedes großen literarischen Kunstwerkes, der für persönliche

Beurteilung nicht entbehrt werden kann, braucht für seine

erste Herstellung schon Wochen und Monate des Lesens, ohne daß

von tieferdringendem Verstehen die Rede ist, und das letzte Durchdringen

kann die Aufgabe eines ganzen Lebens bilden. Vor allem setzt

die Aufnahme des Inhalts wie der Form bei jedem einzelnen literarischen

Werk die Beherrschung seiner Sprache voraus, der Sprache

eines Volkes, eines Zeitalters, einer Persönlichkeit. Die Literaturdenkmäler

sind nicht allein eingebettet in eigene Kulturzusammenhänge,

aus denen allein ihr Werden und Wesen zu verstehen ist, sondern

das Wortkunstwerk offenbart das Geheimnis seiner Form in

vollem Umfange nur dem, der das Wort in seinem ursprünglichen

Schöpfungsgehalt zu vernehmen und zu deuten vermag.



So kommt es, daß das, was man studieren kann, nicht allgemeine

Literaturgeschichte heißt, sondern Altertumswissenschaft oder Orientalistik,

und daß es für die neuere Zeit in Germanistik, Romanistik,

Anglistik, Slavistik und andere Gebiete zerfällt. Jedes der genannten |#f0027 : 3|



kulturkundlichen Fächer schließt eine oder mehrere Literaturgeschichten

in sich. Die Teilung aber bedeutet nicht etwa erstarrte, durch

äußere Bedingungen wie Prüfungszwang und Berufsrücksicht am

Leben erhaltene Hochschulüberlieferung, sondern sie ist naturgegeben

durch die Bindung jeder Literatur an eine bestimmte Sprache, die für

sie Mutterboden, Werkstoff, Lebensform, Daseinsgrundlage darstellt.



Wenn man mit außerordentlicher Anspannung mehrere dieser

philologischen Fächer im Studium vereinigen will, so können sie doch

kaum zu gleichem Recht kommen. Noch weniger ist es dem Forscher

gegeben, auf allen Gebieten eigene vorwärtsdringende Arbeit zu

leisten. Schon der Sprachkenntnis und noch mehr der Literaturbeherrschung

sind physische Grenzen gesetzt. Wohl gab es einmal

das Wunder Giuseppe Mezzofanti, der am Ende seines 75jährigen

Lebens einer Kenntnis von 58 Sprachen mächtig war; er konnte sie

sprechen und ihre Grammatik verstehen; aber in ebenso vielen Literaturen

sich Belesenheit erworben zu haben, dieser Leistung konnte

er sich nicht rühmen. Es gab eine philologische Genialität wie die

von Eduard Sievers, der sich zutraute, auch in Sprachen, die er nicht

verstand, das Echte und Verfälschte einer Überlieferung herauszuhören

mit den von ihm entwickelten Mitteln der Schallanalyse; aber

den Geist dieser Sprachen und Literaturen zu ergründen, dazu hätte

nicht so sehr die Fähigkeit als die Einstellung und Lebensdauer gefehlt.

In dem betagten Münchener Anglisten Josef Schick gibt es

einen Forscher, der alle Sprachen und Schriften des Orients, in denen

etwas von der Hamlet-Sage Zusammenhängendes überliefert ist,

eigens erlernt, um diese Texte in ihrer ursprünglichen Form mit

philologischer Gewissenhaftigkeit seinem „Corpus Hamleticum“ einzuverleiben;

aber diese Energie verschwendet ihre Stoßkraft in

einseitiger Richtung. Es gibt französische Literaturhistoriker elsässischer

Herkunft und Schweizer von interkantonaler Zugehörigkeit,

die durch mehrere Muttersprachen begünstigt sind. Auch in Arturo

Farinelli haben wir einen Forscher, den der Gang seines Lebens

und seine Begabung befähigten, sowohl die germanischen als die

romanischen Literaturen in ihren Sprachen mit bewundernswertem

Gleichmaß zu beherrschen. Aber das ist der höchste heute erreichbare

Umfang, und gerade Farinelli hat sich aufs entschiedenste

gegen die Möglichkeit einer Weltliteraturgeschichte erklärt: „Alles

Wirkliche hat ja sein Maß, all unser Forschen eine Beschränkung.

Nicht nach der Weite, sondern nach der Tiefe müssen wir streben;

nicht die unbegrenzte äußere Welt, sondern das unbegrenzte Individuum

sollen wir ergründen. Wozu die endlosen Gräberstätten der |#f0028 : 4|



Menschenkultur mit neuen Gerippen bereichern? Richten wir getrost

unseren Blick nach dem Innern. Nur im Labyrinth der Menschenbrust

regen sich die Fluten des ewigen Lebens.“



Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die sogenannte Neuphilologie

erst im Entstehen war, gab es Lehrstühle an den deutschen

Universitäten ─ und in kleineren Ländern gibt es sie wohl heute

noch ─, die mit Deutsch, Englisch und den romanischen Sprachen zugleich

belastet waren. Bei Erfüllung dieser Lehrverpflichtung konnte

es sich eigentlich nur um die verschiedenen Grammatiken und damit

zusammenhängende Textinterpretation, aber nicht um Literaturgeschichte

handeln. Je mehr sich aber nun die Literaturgeschichte

von der Sprachwissenschaft loslöste, indem sie eigene Forschungsaufgaben

in Angriff nahm, desto mehr mußte ─ so paradox es zunächst

klingt ─ ihre Bindung an die Sprache, nämlich an ein bestimmtes

Sprachgebiet sich festigen. Und diese naturgegebene philologische

Bindung scheint das weitere wesentliche Hindernis einer

allgemeinen Literaturgeschichte zu bilden.



Es gibt allerdings einen Weg des Vorwärtskommens zwischen den

einengenden Gattern, wenn man sich auf den großen Verkehrsstraßen

hält, die den Austausch zwischen den voneinander getrennten Gebieten

vermitteln. Man kann den Verkehr selbst zum Gegenstand

der Beobachtung machen, wenn man das Übersetzungswerk der verschiedenen

Nationen und die damit verbundene Vermittlung von

Ideen, Motiven und Stilformen als besonderes Forschungsgebiet betrachtet.

So wäre, wenigstens in gewissen Zeitaltern, im Mittelalter,

in Renaissance, Barockzeit und Aufklärung, zu einer europäischen

Geistesgeschichte auf dem Boden gemeinsamer Literaturgeschichte

zu gelangen.



Eine völlige Gleichschaltung aller Gebiete in einer Hand ist indessen

nicht nur durch den Umfang des Stoffes ausgeschlossen, sondern

auch durch die Lagerung der verschiedenen Ebenen. Jene Vogelschau

ist nicht durchführbar, die einmal der junge Herder von dem Geschichtsschreiber

verlangen wollte, „er schreibe als auf einer Wolke,

von welcher er die Nationen vor sich wegziehen lasse“. Der Geschichtsschreiber

kann nicht in Wolkenkuckucksheim wohnen; er kann

sich so wenig wie die Kunst, die er erforscht, losreißen von den

Wurzeln der Volks- und Zeitgebundenheit; er kann nicht allem gleich

nahekommen oder gleich fernbleiben; der archimedische Punkt dafür

ist nicht zu finden. Das Gebiet der Altertumswissenschaft ist räumlich

und zeitlich entlegen; die alten Sprachen sind, wenn nicht tot,

so doch in sich abgeschlossen. Wenn ein Einleben in die Welt des |#f0029 : 5|



Altertums von der Gegenwart aus möglich ist, so können die ewigen

Menschheitsideen, die von da aus in die moderne Welt übergingen,

Führer sein auf dem Weg in ihre Heimat; aber diesem Abhängigkeitsverhältnis

fehlt jede Gegenseitigkeit, es sei denn, daß in

rassischer Urverwandtschaft eine gleichartige Disposition erblickt

werden darf. Die neueren europäischen Sprachen dagegen stehen

nicht nur in Verwandtschaft, sondern in zeitlicher Gemeinschaft,

bewegt von den gleichen geistigen Strömungen, die in ihnen zu

verschiedenartigem Ausdruck gelangen. Bei der Wechselwirkung

des lebendigen Austausches von Ideen, Erlebnissen und Formen ist

ein Reisepaß, der den Zugang in die Nachbargebiete eröffnet, leichter

beschaffbar. Dem steht endlich die freie Bewegung im Bezirk

der eigenen Sprache und des eigenen Wesens gegenüber. Das Bürgerrecht

im geistigen Raum des eigenen Vaterlandes ist eine Gnade, die

jedem in den Schoß wirft, was er im anderen Lande erst mühevoll

erwerben müßte, aber es schließt zugleich die Pflicht strengeren

Arbeitsdienstes in sich. Wird der lange Anmarsch erspart, so kann

um so unmittelbarer der Aufstieg zu den Gipfeln erfolgen und zu

den Quellen, aus denen die Ströme des geistigen Lebens herniederfluten.

Es ist freilich ein Weg, der wie alles Steigen das Herz in

Anspruch nimmt.



Hat die Nationalwissenschaft von vornherein im Gegensatz zu den

anderen Philologien ihren Ansatzpunkt mehr im Innern, so hat sie

dafür auch die Pflicht, um so tiefer ins Innerste vorzudringen. Das

letzte Ziel, die Erschließung des eigenen Menschentums aus seiner

geistigen Welt, ist nur dem Bewußtsein eigener Zugehörigkeit erreichbar;

an der Deutung der Dichtung als höchsten Ausdruckes nationalen

Lebens und an der Erkenntnis ihres Zusammenschlusses zu einer

rassisch gegründeten und im Lauf der Geschichte schicksalsmäßig

vollendeten Einheit muß nicht nur Kenntnis, sondern Selbsterkenntnis

beteiligt sein. Das gilt für die Arbeit des deutschen Germanisten

ebenso wie für die des englischen Anglisten, der französischen, italienischen,

spanischen Romanisten oder der polnischen, tschechischen,

russischen Slavisten.



In keiner Weise soll damit die erprobte Leistung deutscher Anglisten,

Romanisten, Slavisten oder englischer, französischer, italienischer

Germanisten herabgesetzt werden. Ihnen liegen in vieler Hinsicht

weit schwerere Aufgaben ob, die vielleicht hie und da noch

größeres Verdienst in sich schließen. Die Erforschung fremder Literaturen

hat andere Ansatzpunkte schon dadurch, daß die Grundvoraussetzungen

sprachlichen Verstehens mühsamer zu erarbeiten sind. Der |#f0030 : 6|



Gast des fremden Landes, der sein wesentliches Arbeitsmaterial dort

findet, kann durch Einleben und Einfühlen in Kultur und Denkweise

künstlich ─ oder sollen wir sagen: auf wissenschaftliche Weise? ─

sich einen Ersatz jenes liebevollen Heimatgefühls verschaffen, das

natürliche Voraussetzung des Verstehens bildet. Der gleichwohl auferlegte

Abstand befähigt wieder in mancher Beziehung zu einer umfassenderen

Sicht. Aus der Ferne können Einheiten, Zusammenhänge

und charakteristische Züge erkannt werden, die nationaler Befangenheit

vielleicht verborgen bleiben. Das Verhältnis ist ungefähr das

gleiche, wie das zwischen menschlichem Sichselbstverstehen und

Fremdverstehen, wobei eines die Voraussetzung und den Maßstab

des andern darstellt. Wie man fremde Sprachen nur von der

Muttersprache aus lernen kann, so ist auch ein Eindringen in fremde

Literaturen nur von der eigenen aus möglich. Beidemal aber

schärft sich Gehör und Blick sowohl für das Fremde als für das

Eigene. Entwickelt sich vom Boden der eigenen Kultur aus eine

strengere Kritik am Fremden und umgekehrt von der fremden Kultur

aus am Eigenen, so verdient das, selbst wenn es Mißverstehen

bedeutet, auf der anderen Seite Beachtung, und wenn es zu richtigem

Verstehen gelangt, bringt es um so höheren Gewinn. Das

Bewußtsein, von anderer Seite verstanden zu werden, reizt und

steigert die Selbsterkenntnis, so daß sich ein fördernder Ausgleich

zwischen der fremden und der eigenen Beurteilung herzustellen

vermag:



Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben;

willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.


Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der

französischen Tragödie, die nicht nur die Absicht erreichte, Deutschland

von einer lähmenden Überschätzung zu befreien und zur Selbsterkenntnis

zu bringen, sondern die auch in Frankreich für die folgenden

Perioden starken Eindruck erzielte, etwa bis zu Victor Hugos

„Préface de Cromwell“ hin. Die Gegenkritik, die sich schließlich

dort durchsetzte, hat dann wieder die deutsche Wissenschaft zu

einem gerechten Verstehen der Formkunst, die aus dem französischen

Geiste zu begreifen ist, führen können.



Es bleibt aber dabei, daß die maßgebende nationale Literaturgeschichte

jedes Volkes, das eine große lebendige Literatur besitzt,

nur in seiner eigenen Sprache geschrieben werden kann; sie weist der

Wissenschaft sowohl für fremde Betrachtung der eigenen als für

eigene Betrachtung der fremden Literaturen den Weg. Es ist indessen |#f0031 : 7|



auffallend, wie selten solche Darstellungen bester Kenner, die

in ihrem eigenen Lande klassische Geltung besitzen, in fremde

Sprachen übersetzt werden. Ganz anders ist es bei philosophischen

oder geschichtlichen Werken und vor allem bei den Dichtungen

selbst. Die nationalen Literaturgeschichten fremder Völker leisten

den Ansprüchen der Leserkreise, die jene fremde Literatur vom

eigenen Standort aus sehen wollen, nicht Genüge. Damit erledigt

sich auch der Gedanke, etwa eine Geschichte der Weltliteratur

dadurch zu gewinnen, daß jede Nationalliteratur von einem Forscher

dieser Nation dargestellt würde. Auch wenn das polyglotte

Sammelwerk schließlich in eine einheitliche Sprache übersetzt

würde, wäre es doch keine Einheit, sondern das, was Ernst

Troeltsch einmal „Buchbindersynthese“ genannt hat: ein Nebeneinander

verschiedener Literaturgeschichten, die keinen Organismus

bilden und nicht ineinander gefügt werden können, weil sie alle

von verschiedenem Standort aus geschrieben sind. Der Standort, der

den Mittelpunkt bildet, ist der des Eigenerlebnisses. Das ist der

Sinn des Goetheschen Ausspruches: „Über Geschichte kann niemand

urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es

ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urteilen,

seitdem sie selbst eine Literatur haben.“



Jede Darstellung einer fremden Literatur ist eine Art vergleichender

Literaturgeschichte, indem sie bewußt oder unbewußt Maßstäbe

des eigenen Geisteslebens zur Beurteilung heranzieht. Die „allgemeine

Literaturgeschichte“ oder „Literaturvergleichung“, die in

den meisten außerdeutschen Ländern neben den Philologien als

eigenes Hochschulfach gelehrt wird, will mehr. Sie wird in der

Regel als ein Überblick über das zeitgenössische Schrifttum aller

Kulturländer betrieben, also als Literaturkritik und angewandte

Ästhetik. Oder sie erscheint als europäische Literaturgeschichte der

Neuzeit, wobei die eigene Nationalliteratur als gebend und empfangend

so sehr im Mittelpunkt steht, daß das Gebiet sich beinahe

mit Geschichte der Nationalliteratur und ihren Ausstrahlungen

deckt. Beispielsweise überträgt die französische „littérature comparée“

das Prinzip des Völkerbundes auf die Wissenschaft, wobei

die Geltung des Französischen als Verhandlungssprache und die

Anerkennung der französischen Literatur als Repräsentantin des

europäischen Geistes Voraussetzung ist. Gleiches können andere

nationale Literaturgeschichten von ihrem Felde aus ebenfalls leisten,

z. B. hat Adolf Bartels für eine allgemeine Literaturgeschichte die

Beziehungen Goethes zur Weltliteratur als Leitfaden benutzt, wodurch |#f0032 : 8|



ihm eine stoffliche Beschränkung auferlegt war. Wieder nach einer

anderen Methode hat das Ehepaar Chadwick in Cambridge ein riesig

angelegtes Werk „The growth of literature“ begonnen, das die typischen

Entwicklungsstufen der griechischen, irischen und altgermanischen

Dichtung vom heroischen Zeitalter an in Parallele setzt, um

dann auf russische, jugoslawische und altindische Literatur zu kommen.

Der vorläufig unübersehbare Plan beschränkt sich (unter Verzicht

auf Ostasien) auf die den Bearbeitern bekannten Literaturen und

verzichtet damit auf den Anspruch universaler Literaturbetrachtung.



Bei der allgemeinen Literaturbetrachtung, die sonst vornehmlich

in den angelsächsischen Ländern unter dem Namen „literary

criticism“ als eigene Wissenschaft betrachtet zu werden pflegt,

ist die Übersetzung fremder Dichtungen den Originalen der

eigenen Literatur gleichgeordnet. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit

eine Auslese, für die die Existenz von Übersetzungen,

seien es gute oder schlechte, überhaupt maßgebend ist. So leugnete

z. B. vor 25 Jahren ein als Literaturkritiker angesehener

Professor der Columbia-Universität die Existenz einer neuen deutschen

Lyrik von Bedeutung, weil ihm keine Übertragungen ins

Englische bekanntgeworden seien. Mit gleicher Logik könnte man

behaupten, es gebe in Deutschland keinen Frühling, weil die amerikanische

Reisezeit erst im Juni beginnt.



Wie weit Übersetzungen als wissenschaftliches Material oder als

Bildungsmittel zu betrachten sind, steht dahin. Das Arbeiten mit

ihnen genügt nicht dem fundamentalen Grundsatz, nach dem jedes

Werk in seiner ursprünglichen Gestalt auf Wirkung, Sinn und Wert

befragt werden muß. Aber es ermöglicht wenigstens persönliche

Teilkenntnis und läßt das allerunwissenschaftlichste Verhalten, nämlich

das genügsame Weiterschleppen fremder Urteile und toter Inhaltsangaben,

vermeiden.



Es gibt allerdings Fälle, in denen Hilfsmittel letzterer Art auch von

der Wissenschaft in Anspruch genommen werden müssen, falls nämlich

ein Original verloren ging. Wenn nichts anderes als der unvollkommene

Ersatz zur Hand ist, so bedeutet das für den Literarhistoriker

ungefähr dasselbe und stellt dieselben kritischen Aufgaben

wie für den Historiker der angezweifelte Quellenbericht über ein

unbezweifelbares geschichtliches Ereignis.



Auch Übersetzungen und Bearbeitungen können in solchem Fall

Lückenbüßer sein: man ist dankbar für die arabische Überlieferung

des Aristoteles und für die koptische Übersetzung des Mani als Inhaltsvermittlung

von Lehren, die uns sonst nur entstellt überliefert |#f0033 : 9|



oder ganz verloren wären. Für die Literaturgeschichte im besonderen

bedeutet es noch etwas mehr, wenn Sievers aus der angelsächsischen

Genesis die Existenz der altsächsischen Grundlage, einen

späteren Fund vorausnehmend, erschließen konnte, wenn Heusler in

Analogie zur Eddadichtung die deutschen Vorstufen des Nibelungenliedes

rekonstruierte oder wenn Bédier für die französische Literaturgeschichte

das großenteils verlorene Tristan-Epos des Thomas aus

Gottfried von Straßburg zurückzugewinnen suchte. Für ästhetische

Beurteilung aber bietet solcher Ersatz keine Handhabe.



Nun mag sprachliche Unzugänglichkeit des Originals in manchen

Fällen gleichviel bedeuten wie Verlust. Die Inanspruchnahme der

Übersetzung ist dann ein Notbehelf wie für den Kunstforscher Gipsabguß

und Photographie. Aber der Besuch Griechenlands, Spaniens,

Italiens, Frankreichs bleibt dem, der über die Kunst dieser Länder

arbeitet, unentbehrlich, ebenso wie der Geograph nicht mit Landkarten,

der Geologe nicht mit Steinsammlungen, der Botaniker nicht

mit Herbarien und botanischen Gärten sich begnügen kann. Nur vom

Astronomen kann man nicht verlangen, daß er die Sterne, die er erforscht,

selber bereist; er muß sich mit dem Teleskop begnügen. Für

den Literaturhistoriker aber heißt es: „Wer den Dichter will verstehn,

muß in Dichters Lande gehn.“ Das Land des Dichters ist seine

Sprache, und die Sprache ist Ausdruck seiner Volkheit.



Als Organismus ist jede Nationalliteratur nur innerhalb der

Sprache, in der sie west und wirkt, der sie eingeboren ist und die

in ihr geboren wird, zu fassen. Wohl können einzelne Stücke verpflanzt

werden wie die Ableger eines Baumes, der in fremdem

Boden sein verjüngtes Ebenbild erlebt; aber der urwüchsige

Baum bleibt da stehen, wo er in Jahrhunderten gewachsen ist;

er ist mit seinen weitgreifenden Wurzeln durch kein Übersetzungswerk

übertragbar. Noch weniger ist es der ganze Wald, dem er

angehört.



Wenn man den Blumenmarkt aufsucht, der die Austauschprodukte

aller Länder zur Schau stellt, gelangt man auf das Gebiet, das

Goethe zuerst als „Weltliteratur“ bezeichnet hat. Der Schöpfer des

Wortes hat keinen Zweifel gelassen, daß er darunter nicht die Gesamtheit

des literarischen Schaffens der Menschheit verstand, sondern

die jeweilige Zusammenstellung der edelsten und charakteristischsten

Gewächse aller Zonen, verpflanzt auf den gemeinsamen Boden einer

Übersetzungssprache:



Laßt alle Völker unter gleichem Himmel

sich gleicher Gabe wohlgemut erfreu'n.
|#f0034 : 10|



Es handelt sich um keinen Wald, sondern um einen botanischen

Garten, der die Fülle vielfältigsten Wachstums in einem alle geographische

Trennung überwindenden Überblick zu genießender Anschauung

und vergleichender Betrachtung übermittelt. Wenn dabei

nach Möglichkeit die Daseinsform jeder Pflanze in einer ihrem ursprünglichen

Wesen entsprechenden Gestalt erhalten wird, so ist es

das Ergebnis eines Zusammengehens von Kunst und Wissenschaft. Je

fremdartiger das Gewächs, desto mehr ist die gärtnerische Pflege

(und ihr entspricht die Kunst des Übersetzers) auf das vorausgegangene

wissenschaftliche Studium der geologischen, physiologischen

und klimatischen Lebensbedingungen, die an Ort und Stelle

zu erforschen sind, angewiesen.



Wie der botanische Garten in Zusammenstellung der ihrem

Mutterboden entrückten Gewächse die räumliche Trennung aufhebt,

so bedeutet das Pantheon der Weltliteratur, das Museum der Übersetzungskunst

eine Überwindung der zeitlichen Trennung. Mit dem

Verlust ihrer ursprünglichen Sprachform sind die literarischen

Denkmäler dem geschichtlichen Zusammenhang, dem sie entwachsen

waren, entzogen. Sie gehören in dieser Form nicht mehr der Geschichte

ihrer eigenen Literatur an, denn sie tragen das Kleid

fremden Schrifttums, innerhalb dessen sie nun gleichfalls ihre geschichtliche

Wirkung ausüben können. Eigentlich aber sind sie durch

Vervielfältigung ihres Sprachgewandes, durch die Zwischenschaltung

zwischen zwei oder mehr Literaturen, durch ihre Erklärung zum übernationalen

Gemeingut überhaupt dem Gebiet der Geschichte entrückt.

Sie sind in ein neues Sein verpflanzt, dessen ewige Dauer indessen

keineswegs verbürgt ist. Die Hauptsache ist die Vergegenwärtigung.

Jede Übersetzung stellt das übertragene Werk auf

die Probe der Gegenwartswirkung seines Gedankengehalts und

seiner sprachlichen Form. Am wenigsten tritt die damit verbundene

Umdeutung in Erscheinung, wenn das übertragene Werk der eigenen

Zeit und einem verwandten Kulturkreis angehört. Je weiter das

Original dagegen räumlich und zeitlich entlegen ist, desto mehr

bedeutet die Arbeit des Übersetzers eine gewaltsame Aktualisierung,

die trotz oder wegen ihrer Gegenwartsnähe in ihrer Willkürlichkeit

schneller veraltet als die Urform, die den ihr eignenden Ewigkeitswert

unveränderlich bewahrt. Übersetzungen müssen im Laufe der

Zeit immer revidiert und erneuert werden und können, weil ihnen

nie die Identität mit dem Original erreichbar ist, immer nur eine

relative Geltung beanspruchen. Schon Cervantes hat die Übersetzung

mit der Rückseite eines flämischen Gobelins verglichen, und Wilhelm |#f0035 : 11|



v. Humboldt bezeichnete alles Übersetzen als Versuch zur Lösung

einer unmöglichen Aufgabe.



Wenn ästhetische Kritik, ideelle Deutung der Probleme, Beobachtung

der Technik und des Stils sowie vergleichende Betrachtung

gegenüber Übersetzungswerken ihres Amtes walten, so kann es immer

nur mit dem Vorbehalte geschehen, daß zwischen der Ursprünglichkeit

und dem Betrachter ein fremdes Mittlertum steht, ein mehr

oder weniger durchsichtiger Schleier, dessen Dämpfung vielleicht

durch grellere Beleuchtung aufgehoben wird, der aber notgedrungen

eine verfälschende Färbung mit sich bringt.



Wir wiederholen: alle Literaturgeschichte hat es mit Nationalliteratur

zu tun; sie hat entweder auf dem vaterländischen

Boden oder innerhalb eines bestimmten Kulturkreises einzusetzen.

Trotz dieser Beschränkung darf sie keine Scheuklappen

tragen; sie hat das Auge nicht zu verschließen vor der

gleichartigen Arbeit, die auf anderen Gebieten geleistet wird. Ihr

Blickfeld muß viel weiter sein als ihr begrenztes Arbeitsgebiet.

Isolierung würde geistige Verarmung bedeuten. Die ideelle Möglichkeit

eines Zusammenschlusses der verschiedenen Literaturgeschichten

zu einer Gesamtschau, die dann allerdings nicht mehr rein

geschichtlich sein kann, bleibt im Auge zu behalten. Das wäre gewissermaßen

eine Literaturgeschichte des „Als ob“. Man lese, man

studiere, man forsche, man stelle dar, als ob eine universale Literaturgeschichte

zu schaffen sei. Das imaginäre Ziel, das wie der

Blickpunkt einer ins Unendliche führenden Perspektive im Hintergrund

steht, beherrsche von allen Standorten aus die Einzelforschung.

Sie hat sich einzuordnen einem System, das den strategischen

Grundsatz des Getrenntmarschierens und Vereintschlagens

verkörpert, das in seinen Signalen allen am Werk Befindlichen verständlich

ist, das Generalbaß, Harmonielehre und Notenschrift der

wissenschaftlichen Komposition bedeutet. Dieses System muß seiner

Idee nach allgemeine Literaturwissenschaft heißen; es muß Gültigkeit

haben für das Nächste wie das Fernste, muß jedem einzelnen gerecht

werden und darüber hinaus der Dichtung in ihrer höchsten Ganzheit

verschrieben sein.



Keine Wissenschaft ist ohne Forschung denkbar; aber Forschung

allein macht nicht die ganze Wissenschaft aus. Man muß auch Bildung,

Darstellung, Kritik und Lehre dazu rechnen, die Voraussetzung,

Begleitung, Richtung und Auswertung der Forschung bedeuten.

Ohne den Hintergrund weltliterarischer Umschau, ohne ästhetisches

Urteil, ohne künstlerischen Sinn und Gestaltungskraft, ohne Klarheit |#f0036 : 12|



über den Sinn der Arbeit, ohne sich mitteilende Liebe und erwärmende

Überzeugungskraft, die mit der Anleitung neue Aufgaben

stellt, ist alle literarische Forschung zur Unfruchtbarkeit verurteilt.

Dieser ganze belebende Umkreis muß in dem gekennzeichneten

System eingeschlossen sein.



Zusammenfassend können wir sagen: es gibt so viele Literaturgeschichten,

als es Literatursprachen gibt; aber es gibt nur eine

Literaturwissenschaft. Man hat sich zwar in Deutschland daran gewöhnt,

das Wort Literaturgeschichte ganz durch den neuen Ausdruck

zu ersetzen und die „deutsche Literaturwissenschaft“ als Forschungsgebiet

zu betrachten. Man müßte folgerichtigerweise dann auch von

französischer und englischer Literaturwissenschaft sprechen, aber

man tut es höchstens im Sinne der Zunft, nicht des Gegenstandes.



Wie kam es zu diesem Widerspruch? Man wollte der vielverkannten

Poetik einen ebenbürtigen Platz neben der Literaturgeschichte

erobern, indem man beide vereinte. Man glaubte, mit dem ängstlichen

Gebrauch des neuen Wortes eine Abkehr vom Historismus

zu vollziehen und der Deutung des Seienden, des lebendigen Kernes

in seinem ewigen Wert gegenüber der Überbewertung des Gewesenen,

der äußeren Umstände des Entstehungsvorganges und der

geschichtlichen Zusammenhänge zu ihrem Rechte zu verhelfen. Als

ob nicht alle Geschichtswissenschaft der Vergegenwärtigung diente

und jede wissenschaftliche Gegenwartsbetrachtung Geschichte würde!



Man konnte wohl versuchen, eine wissenschaftliche Betrachtung

der Gegenwartsliteratur zu rechtfertigen, indem man die in Anwendung

gebrachte ästhetische, formale, stilistische Kritik als Mittel der

literaturwissenschaftlichen, nicht der literarhistorischen Methode

ausgab. Aber wenn auch Sammlung und Kritik mit durchaus wissenschaftlichem

Ernst betrieben wurde, änderte sich nichts daran, daß

die Eingliederung des Gegenwartswertes bereits den Anfang geschichtlicher

Betrachtung bedeutet, und daß sich in deren Fortschreiten

bald eine andere Beurteilung einstellt. Man braucht bloß einmal die

verschiedenen Auflagen vielgelesener Darstellungen der Gegenwartsliteratur

zu vergleichen, um zu sehen, wie sich nicht Stoff und nicht

Methode, sondern der Standort desselben Betrachters verändert hat.



Früher, und zwar in Jahrhunderten, in denen es noch keinen

Historismus gab, hat man auch von „Naturgeschichte“ als Fach gesprochen.

Nachdem die Bezeichnung „Naturwissenschaften“ sich

durchgesetzt hatte, sind die „Geisteswissenschaften“ gefolgt, aber sie

haben dann wieder einen Zusammenschluß zur „Geistesgeschichte“

vollzogen. Der Ausdruck „Literaturwissenschaft“ kam genau in dem |#f0037 : 13|



Zeitpunkt auf, als die großen methodologischen Auseinandersetzungen

zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher

Begriffsbildung begannen und soviel Raum einnahmen, daß

die Literaturgeschichte selbst fast dahinter zurücktrat. Literatur-

wissenschaft wurde die Methodenlehre genannt, die aus jener

großen kritischen Selbstbesinnung hervorging, und wenn das, was

an Literatur geschichte übrig blieb, nun gleichfalls jenen

Namen erhielt, so wurde es als angewandte Methodenlehre gekennzeichnet.

Manche literarhistorische Untersuchung der letzten Jahrzehnte

ist in der Tat nichts anderes gewesen. Es ist aber nun wohl

an der Zeit, die Begriffe dahin zu klären, daß die einzelnen Literaturgeschichten

als Forschungsgebiete ihren Namen behalten, weil

jede Nationalliteratur als Ganzes allein der geschichtlichen Betrachtung

ihren organischen Zusammenhang erschließt. Die allgemeine

Literaturwissenschaft dagegen stellt die durchsichtige Kuppel eines

Mittelbaues dar, auf den sie alle hinlaufen. Sie gibt ihnen als gemeinsame

Methodenlehre Richtung und Licht.



b) Begriff der Methodenlehre



Wenn die Methodologie der Literaturgeschichte in letzter Zeit, in

Deutschland mehr als in anderen Ländern, beinahe ein eigenes

Wissenschaftsgebiet wurde, das zeitweilig die Forschung selbst aus

dem Vordergrund des Interesses zu verdrängen drohte, so war es

ein Krisenzustand, der kein normales Verhältnis darstellt und nicht

von Dauer sein kann.



Indem wir von Prinzipien einer Wissenschaft sprechen, erwecken

wir den Anschein, als ob Zielsetzungen, Wege zur Erkenntnis und

Anfangsgründe bereits vor der Forschung da wären. Das sind sie

gewiß als Idee: als Forderung und Wille zur Erkenntnis der Wahrheit.

Aber diese Idee wird materialisiert im Stoffe der Forschung;

sie hat erst Gelegenheit, in Erscheinung zu treten in praktischer

Arbeit. So entfaltet sich Methode erst innerhalb der gestellten Aufgaben;

sie wird diktiert durch die Ziele der Wissenschaft und erprobt

sich in ihrer Wirksamkeit durch den Erfolg der Annäherung

an das gestellte Ziel. Methodenlehre ist deshalb in erster Linie

Rechenschaftsbericht der Forschung; sie kann es in dem Maße sein,

daß ein Philosoph der Gegenwart, Nicolai Hartmann, die Methodologie

als Epigonenarbeit bezeichnet hat, die nicht geeignet sei,

Wege zu weisen. Daran ist richtig, daß die Methode von sich aus

keine Ziele setzt; wohl aber ist sie ein Wegweiser, der sinnlos wäre |#f0038 : 14|



ohne gebahnte Straßen, und diese wiederum hätten keinen Sinn

ohne Ausgangspunkt und Ziel. Jedes neue Ziel verlangt, daß neue

Wege eingeschlagen werden, die aber mit den bisher begangenen

Straßen in irgendeinem Zusammenhang stehen müssen. Das Ziel bedingt

die seiner Beschaffenheit angemessene Einstellung. Die Methode

wird durch das Ziel bestimmt, während eine Bestimmung des Ziels

von der Methode aus höchstens in sekundärer Übertragung durch

Analogie erfolgen kann.



Der Philosoph Hegel nannte zwar die Methode die schlechthin

unendliche Kraft, die alle Objekte widerstandslos durchdringt.

Eine alleinseligmachende Methode kann es indessen in keiner

Wissenschaft geben. Es gibt vielmehr ebenso viele Methoden, als

es Standorte und Zielsetzungen gibt; aber alle diese Wege müssen

das eine gemeinsam haben, daß sie der Arbeit eine planmäßige

Richtung geben und eines Ergebnisses sicher sind, dessen Wert in

einem gewissen Verhältnis zur aufgewandten Mühe steht. Methode

ist Denkordnung in der Arbeit. Methode ist der sicherste Weg vom

Standort zum Ziel; es braucht nicht der kürzeste zu sein, sondern

die Flugbahnkurve kann auch durch indirekte Zielbestimmung errechnet

werden. Man kann die Methode deshalb der Wahl des richtigen

Visiers für den Schützen vergleichen. Je näher das Ziel liegt,

desto größer die Treffsicherheit; je größer die Tragweite, desto

stärker die Wirkung. Aber Geschütz und Ladung müssen der Aufgabe

entsprechen. Ebenso kindisch ist es, mit Kanonen nach Spatzen

zu schießen als mit einem Blasrohr den Mond herunterholen zu wollen.



Methode ist nicht gleichbedeutend mit Fleiß. Man könnte sie sogar

den Gegensatz des bloßen Fleißes nennen, insofern sie überflüssigen

Arbeitsaufwand erspart. Wenn man gesagt hat, Genie sei

Fleiß, so kann doch keineswegs mit Umkehr dieses Satzes jeder

Fleiß genial genannt werden. Aber wohl trägt das wahre wissenschaftliche

Ingenium sowohl Fleiß als Methode in einem Antrieb, der

kaum der Anleitung bedarf, in sich. In diesem Sinne hat ein großer

Gelehrter wie Adolf v. Harnack einmal gesagt, Methode sei nichts

anderes als Mutterwitz. Wiederum wollte ein Darstellungsvirtuos

wie Friedrich Gundolf Methode mit unübertragbarer Erlebnisart

gleichsetzen. Beides bezeugt, daß Methode sich aus der Gelegenheit

herausbildet. Bloßer Fleiß ohne planmäßige und zielbewußte Anwendung

wäre Kraftverschwendung, daher überflüssig und geradezu

schädlich. Bloße Methode ohne praktischen Einsatz des Fleißes wäre

Leerlauf der Reflexion, ein bloßes Stimmen der Instrumente ohne

Musik. Methode ist Rationierung der Arbeitskraft; sie ist das ökonomische |#f0039 : 15|



Prinzip in der Wissenschaft, das unter Nutzbarmachung aller

bisherigen Erfahrungen und Hilfsmittel eine Kraftersparnis zum

Zwecke erhöhter Leistung bedeutet.



Köstliche Beispiele sinnlos angewandten Fleißes hat Jean Paul in

seinem aus fünfzehn Zettelkästen gezogenen „Leben des Quintus

Fixlein“ dem Spott überantwortet. Der armselige Pedant, der sämtliche

Druckfehler der deutschen Literatur sammelt, eine Statistik

der Vokale in Luthers Bibelübersetzung anlegt und außerdem errechnet,

welches der mittelste Buchstabe oder das mittelste Wort der

Bibel ist, stellt die idyllische Karikatur eines sportlichen Geduldspiels

dar, das man beileibe nicht philologisch nennen darf, weil es

nichts von Logos an sich hat. Aber es ist nicht zu leugnen, daß

literarhistorische Statistik nach naturwissenschaftlichen Methoden

gelegentlich ähnlich seltsame Früchte verschwendeten Fleißes gezeitigt

hat, die wiederum zu Unrecht das Sitzfleisch überhaupt in Mißkredit

brachten.



Ob Fleiß methodisch angewandt ist, ergibt sich erst nach erreichtem

Ziel. Entscheidendes Kriterium für die Richtigkeit der Methode

ist der fruchtbare Erfolg. Ist kein Ziel erreicht und kein Ergebnis

gewonnen, so war die ganze Mühe umsonst. Der Wert des Ergebnisses

hängt davon ab, ob wenigstens eine Etappe auf dem Weg zum

Ziel gewonnen ist, von der aus andere weiter vordringen können,

denn alle wissenschaftliche Forschung ist Gemeinschaftsarbeit in der

ablösenden Aufeinanderfolge des Stafettenlaufes, der sich von Zeit

zu Zeit wiederholt. Die Richtigkeit des letzten Ergebnisses hängt

jedesmal von der Folgerichtigkeit des ganzen durchlaufenen Weges ab

und von der zwingenden Beweiskraft der Schlüsse, die der letzte

Fackelträger zu ziehen hat. Er überbringt als Darsteller des Ganzen

die Meldung ans Ziel. Im Ziel rechtfertigt sich erst die angewandte

Methode; alle wissenschaftliche Kritik ist daher Prüfung der

Methode, und alle Methodenlehre kann nichts anderes sein als Kritik

des Ganges der Wissenschaft.



Nicht nur die Forschung selbst und der Weg der Untersuchung

müssen planmäßig sein, sondern auch die Darstellung des Ergebnisses

muß Überzeugungskraft haben. Erste Voraussetzung dieser

Überzeugungskraft wie der ihr gegenübergestellten Kritik ist Logik:

es kommt auf Klarheit der Begriffe und auf Schlüssigkeit ihrer Anwendung

an sowohl für die Darlegung als für das Verstehen. Das

Collegium logicum, das Mephistopheles dem ersten Semester empfiehlt,

ist elementare Methodenlehre, wie sie in der mittelalterlichen

Scholastik das vollständige wohlgeordnete Wissenschaftssystem des |#f0040 : 16|



trivium und quadrivium in sich schloß. Ein deutscher Philosoph,

dessen Wirkung noch in unsere Zeit hineinreicht, Wilhelm Wundt,

hat als letzter den Versuch gemacht, die gesamte Wissenschaftslehre

in einer dreibändigen „Logik“ zusammenzufassen, deren Vollendung

die Methodenlehre als Rechenschaft über alle bei der wissenschaftlichen

Erkenntnis wirksamen Denkgesetze sein sollte. Wenn schon

vor ihm John Stuart Mill unter demselben Titel eine moderne Klassifikation

der Wissenschaften aufgestellt hatte, so geschah es in der

Blütezeit des Positivismus, der kaum einen Unterschied zwischen

naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methode anerkannte

und auf beiden Gebieten die Erkenntnis von Gesetzen

mechanischen Geschehens als letztes Ziel ansah. Mechanisch war

jedenfalls die Beweisführung, bei der logische Schlüsse wie Identität

und Kausalität, Methoden wie Statistik, Vergleich und Analogie in

erster Linie angewendet wurde.



Die idealistische Gegenbewegung, die in Deutschland um die Jahrhundertwende

mit Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich

Rickert in Erscheinung trat, grenzte die Geisteswissenschaften

von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ab und leugnete die

Möglichkeit unabänderlicher Gesetze im geistigen Geschehen. Da

die Geschichte es mit Individuen, die Naturwissenschaft mit Gattungen

zu tun hat, entstehen verschiedenartige Kausalreihen und

andere Begriffe des Wertes, die eine Umstellung der logischen

Denkens bedingen. Hier wurde Erleben und innere Schau zur

Methode.



Seitdem mußte noch eine stärkere Differenzierung der Grundbegriffe

bei allen Einzelfächern eintreten, wodurch einheitliche

Wissenschaftsmethode überhaupt in Frage gestellt und ein geradezu

chaotischer Zustand herbeigeführt wurde. Einesteils nahm man den

Kampf auf gegen das Spezialistentum, gegen die Einengung des

Horizontes auf beschränkte Gebiete, gegen die Anwendung mikroskopischer

Analyse in den Geisteswissenschaften, für synthetische

Betrachtung, für Universalismus, lebendige Totalität und Wechselwirkung

aller Wissenschaften in einem Organismus. Andererseits

stellte sich die Erkenntnis her, daß die verschiedenartigsten Blickpunkte

wesentlich andersgeartete Einstellungen und Zielrichtungen

bedingten, so daß die entgegengesetzten Methoden, die durch besondere

Lagerung der Arbeitsgebiete gegeben sind, sich gegenseitig zu

fördern und zu berichtigen haben.



In der Literaturwissenschaft, die in die Mitte dieses Strudels gezogen

wurde, gab es statt einer Methode auf einmal zwei Dutzend. |#f0041 : 17|



Neben die altbewährte, aber beschränkte philologische Praxis, die

man nicht ganz aufgeben konnte, traten die neuen Richtungen, mit

deren Namen vom Anthropologischen, Biologischen, Charakterologischen,

Deskriptiven, Ethnologischen, Formanalytischen, Geopsychischen,

Historischen, Ideengeschichtlichen, Kosmischen bis zum Zentralproblematischen

man ein ganzes Alphabet ausfüllen konnte. Die

Programme begannen zuweilen mit radikaler Bankrotterklärung aller

bisherigen Wissenschaftsbemühung und mit Ankündigung einer aus

dem Zusammenbruch phönixgleich aufsteigenden Neubildung, bis dann

den kreißenden Bergen ein Wesen entkroch, das man eigentlich schon

kannte, wenn es auch noch nicht den großartigen Namen getragen

hatte. Ein Forscher schien nichts zu gelten, wenn er nicht eine neue

Methode benamst hatte, die an der Wissenschaftsbörse gehandelt wurde.

Es war nicht nur in Deutschland eine Inflationszeit der Methoden, die

inzwischen einer beruhigenden Stabilisierung der Kurse gewichen ist,

nachdem erkannt wurde, daß die Unterschiede zum guten Teil weniger

in der Forschungsweise als in der Darstellungsart lagen, in der persönlichen

Bestimmung des Standortes und Blickpunktes, in der Gewichtsverteilung

der Akzente, also in Fragen der künstlerischen Gestaltung.



Die Freiheit künstlerischer Darstellung, die von der auf streng

sachliche und unpersönliche Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse

eingeschränkten Wissenschaftlichkeit des Positivismus oft verschmäht

worden war, hat den neue Wege suchenden Richtungen eine öffentliche

Wirkung zurückgegeben, auf die alle Lehren sowohl der Kunstwissenschaft

wie insbesondere der Nationalwissenschaft gemäß ihren

Bildungsaufgaben Anspruch haben. Die Nationalliteratur kann nicht

ein Reservat exklusiver Gelehrsamkeit sein, sondern sie ist ein

allgemein zugängliches Eigentum der Nation. Die ihr dienende

Wissenschaft hat nicht nur dem eigenen Gewissen zu folgen, sondern

sie hat dies zu verantworten vor Volk und Gemeinschaft. Die Verwaltung

des höchsten geistigen Besitzes darf sich nicht in zunftmäßiger

Enge einkapseln, sondern muß heraustreten zu persönlichem

Führertum, zu Werbekraft und gemeinverständlichem Unterricht.

Lagen die Gefahren dieser Aufgabe früher in seichter Popularisierung,

so drohte, sobald tiefdringende Darstellung selbst zum Wortkunstwerk

werden und gleichwohl Wissenschaft bleiben wollte, die

Wendung in das Gegenteil. Der Subjektivismus einer oft mehr verdunkelnden

als erhellenden, geistreichen Künstelei, das Selbstgefühl

fesselnder schriftstellerischer Originalität und der Wagemut eigenwilliger

Konstruktion entgingen nicht immer der Versuchung, den

Boden der Tatsachenforschung, über den man sich erheben wollte, |#f0042 : 18|



unter den Füßen zu verlieren und das Gewissen für unumstößliche

Zuverlässigkeit zu verdrängen.



Hier lag der Boden der kritischen Auseinandersetzung. Das starke

neue Leben, das auf allen Gebieten der Geisteswissenschaft erwachte,

das vom naturwissenschaftlich beengten Positivismus zu einem metaphysisch

gerichteten Idealismus hindrängte, das den Übergang von

der analytischen Methode zur synthetischen, von der Einzelbeobachtung

zu großen Überblicken erstrebte und das zugleich der Möglichkeit

tieferen Einblickes auf dem Wege der Intuition sich bewußt

war, begründete sein Dasein zunächst mit schonungsloser Kritik an

dem bisherigen Gange der Wissenschaft, also mit Methodologie, d. h.

Prüfung der bisher eingeschlagenen Wege und des Wertes der bisher

errungenen Ergebnisse.



Ein großer Aufwand schien schmählich vertan, und kein anderes

Zitat wurde lieber angewandt als die mephistophelische Ironie:



Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben,

Dann hat er die Teile in seiner Hand,

Fehlt leider nur das geistige Band.


Aber man brauchte nur ein paar Seiten in der Dichtung zurückzublättern,

so stieß man auf das Faustwort, das der sich so absurd

gebärdenden Jugend von den Alten entgegengehalten werden konnte:



Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

In dem die Zeiten sich bespiegeln.


Was in diesem Zeitpunkt als Generationsgegensatz in Erscheinung

trat, war im Grunde ein uralter, im Wesen des Gegenstandes gegebener

Unterschied. Schon Friedrich Theodor Vischer hat zu einer

Zeit, als noch kaum von literarhistorischer Disziplin die Rede war,

jene spöttische Gruppierung der Faustausleger in die Stoffhuber

Scharrer, Karrer, Brösamle und die Sinnhuber Deuterke, Grübelwitz,

Hascherl vorgenommen, die künftige Spannungen vorausahnte.



Das größte Werk der deutschen Dichtung, das zugleich überzeitliches

Denkmal der Menschheit ist, kann nicht allein aus dem nationalen,

zeitlichen und persönlichen Zusammenhang seiner Entstehung

erklärt werden, sondern fordert eine absolute Deutung seines Sinnes.

Wenn nun die philologischen Stoffhuber nach Kritik des Textes,

Quellennachweisen und Einzelerklärungen, die den Wortgebrauch des

Dichters und seiner Zeit zu Rate zogen, die Entstehungsgeschichte

unter Datierung jeder einzelnen Szene und unter Erkenntnis aller |#f0043 : 19|



Lebenszusammenhänge feststellten, so unterlagen sie der Neigung,

Widersprüche in Form und Stil aufzuspüren und als Niederschlag

verschiedener Arbeitsphasen zu erklären. Das Ganze war als persönliche

Bekenntnisdichtung in entwicklungsmäßigem Zusammenhang

mit besonderen Lebensproblemen Goethes und seiner Zeit zu sehen,

wobei in relativierter Betrachtung die unbedingte Einheitlichkeit des

Sinnes entschwand.



Den philosophischen Deutern dagegen kam es immer auf das Ganze

an, auf seinen Ewigkeitsgehalt, auf die von Goethes persönlichem

Leben loszulösende metaphysische Idee, in deren Gestaltung kein

Widerspruch zu finden war, wenn man nur den richtigen Schlüssel

der Deutung besaß. Zu Vischers Zeiten glaubte man ihn mit der

Hegelschen Philosophie in der Hand zu halten, später in anderen

Systemen, und wo der Gedankengehalt nicht auszulegen war, gebrauchte

man von außen herangebrachte Unterlegung, so daß der

Wandel der philosophischen Faustdeutungen in seiner Art ebenfalls

einen Relativismus darstellt, der durch die jeweilige persönliche

Einstellung des Deuters und seine Bindung an die Weltanschauung

des Zeitalters bedingt ist.



Beide Parteien pflegten sich mit Geringschätzung zu mustern: die

einen blickten von der Höhe ihres Siebenmeilenstiefelfluges mit

Verachtung auf die Steinklopferarbeit des Wegebaus und den

kleinlichen Kram nebensächlicher Tatsachen, durch die das Verständnis

des Wesentlichen nur verbaut und zugeschüttet wurde;

die anderen blickten mit Ingrimm auf die leichtfertige Anmaßung

des Nichtwissenwollens, mit der offenkundliche Tatsachen beiseite

geschoben oder umgebogen wurden, während blauer Weihrauchdunst

das Ganze umnebelte. Und doch war die Möglichkeit des Zusammengehens

da, wenn man den Schlüssel suchte in Goethes eigener Philosophie

und Lebensidee, die in allen erfahrungsmäßigen Wandlungen

doch einen ihm selbst bewußten einheitlichen Kern darstellt, und

wenn man den Mut aufbrachte zu kritischem Verständnis und verstehender

Kritik sowohl an dieser Lebensidee als an der künstlerischen

Ausprägung, die sie in den äußeren Wandlungen des Werkes

gefunden hat.



Vischers Meinung war jedenfalls, daß beide Parteien, die aneinander

vorbeiredeten, sich auf dem Holzwege befanden, und daß beide

Methoden in ihrer einseitigen Zielsetzung falsch seien. Wenn er schon

in seiner früheren Parade über die ersten Faustkommentatoren die

späteren Stoffhuber als die Nationalgarde des gesunden Menschenverstandes,

die Sinnhuber aber als das Linienmilitär der Philosophen |#f0044 : 20|



bezeichnet hatte, so konnte er beide Truppen als die zwei Flügel

einer Armee betrachten, die unter einheitlichem Kommando stehen

sollte. Ihre gegensätzliche Bewegung erweist sich in diesem Bilde als

Mangel strategischer Führung.



Aber auch die Strategie bedeutet nichts Unveränderliches. Als ein

System von Lehren, die durch jeden Feldzug auf neue Proben gestellt

und bereichert oder berichtigt werden, ist sie unter dem Fortschritt

der Technik, der Verbesserung der Waffen und dem Anwachsen des

Materials im Wandel der Zeiten einer Umstellung, nicht zwar ihrer

letzten Ziele, wohl aber ihrer Mittel unterworfen. Ebenso ist die

Methodenlehre in ständigem Fluß der Entwicklung Gegenstand eines

geistesgeschichtlichen Prozesses, in dessen rhythmischem Wechsel die

stoßende Gegensätzlichkeit den Motor des Fortschreitens bedeutet.

Jedes längere Beharren in einer einseitigen Richtung würde Erstarrung

nach sich ziehen, und Stillstand bedeutet den Tod der Wissenschaft.



2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben


„Es gibt meines Erachtens keine bessere Methodologie

als die Geschichte jeder Wissenschaft.“



A. H. L. Heeren (1797)



a) Anfänge der Literaturwissenschaft



Angesichts des chaotischen Bildes, das die methodologischen Streitigkeiten

der letzten Jahrzehnte ergaben, glaubte Erich Rothackers

„Einleitung in die Geisteswissenschaften“ die Geschichte der neueren

Literaturwissenschaft nicht anders darstellen zu können „denn als

eine ziemlich diskontinuierliche Folge ungleich miteinander verbundener

Versuche, sich polyhistorisch, philosophisch, kritisch, politischhistorisch,

religionspolitisch, ästhetisch, schließlich philologisch und

neuerdings wieder ‚ideengeschichtlich‘ des literarischen Stoffes zu

bemächtigen, wobei erst ganz allmählich eine Tradition sich herausbildete“.

Wir glauben gleichwohl, in der Entwicklung dieser Wissenschaft

eine gesetzmäßige Folge wahrzunehmen, und vergleichen sie

der Wendeltreppe eines Turmes, die sich spiralförmig emporschraubt

und die gleichen Ausblicke unter Öffnung eines immer weiteren

Horizontes wiederholt. Der Turm wächst erst von einer gewissen

Höhe ab aus den Grundmauern der Gesamtwissenschaft heraus. Wenn

heute bereits ein bequemer Aufzug zur Arbeitsstätte emporführt, so

ist der Bau doch erst in mühsamer Arbeit von Jahrhunderten schrittweise |#f0045 : 21|



gefördert worden. Im Aufstieg überblicken wir die Stufenfolge

und sehen ringsum bald auf das noch nicht bearbeitete Baumaterial

herab, bald auf die Stätte, wo es behauen wird, bald erkennen

wir die Fügung des Mauerwerkes, die Konstruktion der Träger

und das Verhältnis zu den Nachbarbauten.



Die geschichtliche Darstellung von Sigmund von Lempicki läßt die

Literaturwissenschaft aus drei Quellen hervorgehen, die Literärhistorie,

ästhetische Literaturkritik und Geschichtswissenschaft genannt

werden. Wir können diese Entwicklungsgeschichte der deutschen

Literaturgeschichtsschreibung in allen ihren Zusammenhängen

als paradigmatisch für die Entstehung der europäischen Literaturwissenschaft

überhaupt übernehmen, um so mehr als das weniger

bedeutende englische Parallelwerk von O'Leary denselben Weg geht.

Nur werden wir statt Literärhistorie lieber Bücherkunde sagen und

die Steigerung der geschichtlichen Betrachtung zur Erkenntnis des

eigenen Wesens, zu nationalem Selbstbewußtsein und politischem

Bildungswillen als vierte Tendenz hinzufügen. Dann ergibt sich ein

Nacheinander von vier Gesichtspunkten: Sammlung, Kritik, Gliederung,

Deutung.



Fangen wir mit dem klassischen Altertum an, so hat es bereits

seine Denker geschichtlich geordnet, aber nicht seine Dichter. Zur

Erkenntnis entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge drang die

Betrachtung der Dichtung nicht vor. Dagegen wurden der ästhetischen

Kritik und der Stilkunde in Poetik und Rhetorik Grundlagen

gegeben, und für Bücherkunde sorgte der berüchtigte Alexandrinismus.





Im Mittelalter stehen sich wiederum Bücherkunde und ästhetische

Literaturkritik gegenüber. In deutschen Klöstern und Schulen wurden

biographische Kataloge nach bibliothekarischem Bedürfnis hergestellt.

Mönche wie Notker der Stammler von St. Gallen und Konrad

von Hirschau, Schulmeister wie der Bamberger Hugo von Trimberg,

Sammler wie Püterich von Reichertshausen reihen Namen von Dichtern

und Titeln ohne Gruppierung und Zusammenfassung aneinander.

Dagegen blüht die literarhistorische Umschau kritischen Charakters

in weltlichen Chroniken, epischen Dichtungen (Gottfried v. Straßburg)

und lyrischen Totenklagen. Geschichtlicher Rückblick wird

weiter gepflegt in der Herleitung des Meistersanges von den zwölf

alten Sängern, die vor Kaiser und Papst in Pavia Proben ihrer Kunst

abgelegt haben sollen. Diese Legende pflanzt sich nun fort in Liedern

und Berichten des 16. Jahrhunderts zu einer Zeit, da historische

Kritik bereits entwickelt war.

|#f0046 : 22|



Die Kritik ist eine Errungenschaft des Humanismus, dem allerdings

weniger die Fragen der Literaturgeschichte als die nach dem Wesen

der Dichtung, ihren Gesetzen, ihren Formen, ihrer Lehrbarkeit am

Herzen lagen. Immerhin unternahm der berühmteste Renaissancepoetiker

Julius Caesar Scaliger einen Vergleich zwischen den Alten

und Modernen, der auf eine Rechtfertigung der poetae recentiores

hinauslief und zu dem Grundsatz geschichtlichen Verstehens führte,

nach dem jede Dichtung mit dem Maßstab ihres Zeitalters zu beurteilen

sei.



In Deutschland aber ließ schließlich der Wettbewerb mit den

italienischen Humanisten den Stolz nationaler Selbstbesinnung ins

Bewußtsein treten. Schon Conrad Celtis als Entdecker der ältesten

deutschen Dichterin hat die Dramen der Hrotsvith von Gandersheim

nicht nur in bibliophiler Sammlerfreude, sondern in patriotischer

Begeisterung für die Vergangenheit des eigenen Volkes veröffentlicht.



Als sein Nachfolger hat der Schweizer Joachim von Watt (Vadianus)

an der Wiener Universität im Wintersemester 1512/13 die ersten

Hochschulvorlesungen über altdeutsche Literatur gehalten, die unter

dem Titel „De poetica et carminis ratione“ 1518 im Druck erschienen.

Die literarhistorischen Kapitel seines Buches, die deutscher Volksepik

wie geistlicher Dichtung des Mittelalters ihren Platz zwischen den

antiken Literaturen und dem zeitgenössischen humanistischen Schrifttum

zuweisen, fügen zum erstenmal die deutsche Dichtung in den

Gang der Weltliteratur ein. Damit ist die erste Runde beschlossen.



b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit



Der Kreisgang von Sammlung, Kritik, geschichtlicher Gliederung

und Aufnahme in das Nationalbewußtsein beginnt von neuem. Ein

durch die Renaissance und durch die Erfindung des Buchdrucks

unendlich erweiterter Gesichtskreis regt die Wiederaufnahme bibliographischer

Tätigkeit an. Nachdem schon der Abt Trithemius, der

Entdecker Otfrids, in seinem „Catalogus illustrium virorum“ (1480)

zur mittelalterlichen Form des Schriftstellerverzeichnisses zurückgekehrt

war, worin der protestantische Theologe Flacius Illyricus

ihm folgte, erfuhr die Bücherkunde eine entscheidende Förderung

durch den großen Naturforscher Conrad Gesner, der nicht nur in

seinem „Mithridates“ den ersten Versuch vergleichender Sprachbetrachtung

machte, sondern in seiner „Bibliotheca universalis“ (1545)

das materielle Fundament für eine allgemeine Geschichte der Literatur

legte. Freilich blieb dieser bibliographische Grundriß auf Lateinisch, |#f0047 : 23|



Griechisch und Hebräisch als die sogenannten „heiligen

Sprachen“ beschränkt.



Auch die von den Humanisten entwickelte Kunst der Hermeneutik

ist im Reformationszeitalter hauptsächlich bei der Bibelauslegung

geblieben. Wenn durch Flacius Illyricus der „Heliand“ ans Licht

gezogen und Otfrids Evangelienbuch herausgegeben wurde, geschah

es, weil sie als geistliche Dichter und als Vorläufer von Luthers

Bibelübersetzung in einem „Catalogus testium veritatis“ auftreten

konnten und den Beweis lieferten, daß auch das Deutsche als eine

heilige Sprache, in der Gottes Wort verkündigt wurde, anzusehen sei.

Damit ist auch ein Hinweis auf die Größe der altdeutschen Heldendichtung,

der die Zuneigung Kaiser Maximilians gegolten hatte, verbunden.





Die vollständige Säkularisierung der Literaturgeschichte ist erst

im folgenden Jahrhundert erfolgt. Die Dichter der Barockzeit sind

wieder zu literarhistorischen Exkursen und ästhetischer Kritik zurückgekehrt,

und nach Opitz, Harsdörffer und Birken hat vor allem Hofmannswaldau

in der Vorrede seiner Gedichte eine Skizze der Weltliteratur

als Rückblick auf Vorläufer, Muster und Wurzeln seiner

Kunst gegeben. Eine wissenschaftliche „historia de literatura“, die

der „historia naturalis“ in einer universalgeschichtlichen Entwicklungsreihe

gegenübergestellt wurde, hatte bereits um die Mitte des

16. Jahrhunderts Christophorus Mylaeus skizziert, lange bevor Francis

Bacon in seinem Wissenschaftssystem ihr einen Platz als Teil der

„historia civilis“ zuwies. Nun aber wurde der nationalen Literaturgeschichte

die Aufgabe einer Gliederung gestellt, nicht nur der Eingliederung

in die universale Literaturgeschichte, sondern auch der

Gliederung in sich selbst. Der erste Versuch einer Periodisierung

der deutschen Dichtung steht mittelbar in Zusammenhang mit jenem

Dichterkreis, der der Opitzschen Reform Gefolgschaft leistete. Durch

August Buchner, den Professor der Poesie in Wittenberg, war sein

Schüler Karl Ortlob zu der Dissertation „De variis Germanae Poeseos

aetatibus exercitatio“ (1657) angeregt. Nach einem von Scaliger für

die römische Dichtung angewandten Schema und in einer Vergleichsform,

in der später noch Herders „Abhandlung über die Ode“ die

Lebensstufen der Dichtung entwickelte, wird eine Parellele zu den

menschlichen Lebensaltern durchgeführt, wobei allerdings Martin

Opitz und seinen Nachfolgern zuliebe an die „moribunda senectus“

noch eine fünfte Stufe „reflorescens felicitas“ angeschlossen wird.



Schließlich wird in diesem Jahrhundert, ähnlich wie bei den Humanisten,

eine kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz aufs neue herausgefordert |#f0048 : 24|



durch die Überhebung anderer Völker. Namentlich ist

es der vielberufene französische Jesuitenpater Dominique Bouhours

gewesen, der durch seine freche Witzelei über die Undenkbarkeit

eines deutschen belesprit (Entretiens d'Ariste et d'Eugène 1671) die

Wache an die Gewehre rief. In aufgerütteltem Nationalstolz und in

der Berufung auf große Vergangenheit, deren Denkmäler ans Licht

gezogen werden mußten, bestand die Gegenwehr. Das ist die Tendenz,

aus der Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen

Sprache und Poesie“ (1682) hervorging, der schon in seinem Titel

die kulturelle Bindung von Nationalsprache und Nationaldichtung

festlegte.



c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang



Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts setzt eine neue Sammeltätigkeit

ein, die sich nicht mehr auf das Ganze, sondern auf die

Nationalliteraturen bezieht. Während in Frankreich die Benediktiner

von St. Maur ihre „Histoire Littéraire de France“ (1733) beginnen

und während in England Cibbers „Lives of the Poets of Great Britain

and England“ (1758) alle biographischen Materialien zusammenstellen,

sammelt Gottsched Handschriften und Drucke des älteren

deutschen Dramas und gibt in seinem „Nötigen Vorrat“ (1757) das

Muster einer brauchbaren Bibliographie. Bodmer sieht aus den

Schlössern Vorarlbergs die von Obereit entdeckten Handschriften des

Nibelungenliedes aufsteigen und vermittelt in Herausgabe und Bearbeitung

verschiedene Proben aus der Poesie des „Schwäbischen“

Zeitpunktes. In seinem „Charakter der Teutschen Gedichte“ (1734)

war er vorher noch einmal zur gereimten Form der kritischen Literaturrevue

zurückgekehrt und hatte sie zu einem geschichtlichen Überblick

der Nationalliteratur durchgebildet.



Inzwischen kamen die Fortschritte der anderen Nationen zur Auswirkung:

die großen Perspektiven der französischen Aufklärung, die

auf völkerpsychologische Schlüsse hinzielten, die tiefdringenden Erkenntnisse

der englischen Ästhetik, die der Kritik eine neue Grundlage

gaben, und die Entdeckung des Begriffes „Genie“, die auf die

Individualität des Dichters und die Aufgaben des Verstehens hinlenkte.



Der erste, der das alles in sich aufnahm, war Lessing. In den

„Briefen die neueste Literatur betreffend“ gelangte er zur objektiven

Tageskritik und in der „Hamburgischen Dramaturgie“ zur Technik

des kritischen Vergleiches an Werken gleichen Stoffes aus verschiedenen

Literaturen. Der in der klassischen Philologie geschulte Textkritiker |#f0049 : 25|



erkannte zugleich die Mängel der bisherigen germanistischen

Herausgeberarbeit und legte für sich große lexikalische Sammlungen

an, wie sie editorischer Arbeit als Grundlage dienen mußten.



So zeigt das 18. Jahrhundert in seinen Ausblicken die Verbindung

bisher getrennter Gesichtspunkte: die bloße Sammeltätigkeit wird

durch die Gebote kritischer Textbehandlung gesteigert, wie die ästhetische

Beurteilung durch philosophische Geschmacksbildung, die geschichtliche

Betrachtung durch Parallelen und Vergleiche. Bei solcher

Hebung der Erkenntnisse und Forderungen muß auch das Urteil über

den Durchschnitt des Geleisteten anspruchsvoller werden, und es kann

im letzten Viertel des Jahrhunderts so vernichtend lauten wie das

des Popularphilosophen Gedike, der in der „Berlinischen Monatsschrift“

eine kritische Abrechnung mit dem Betrieb der geistlosen

Buchgelehrten, Kompilatoren, Polyhistoren und gelehrten Schuster

vornahm, bei denen Bücherkenntnis für Gelehrsamkeit und zusammengetragene

literarische Nachrichten für Wissenschaft angesehen

würden. Es heißt, die Weisheit der meisten Literarhistoriker bestehe

darin, daß sie auf ein Haar zu sagen wissen, was andere Leute gedacht

oder geschrieben haben, und daß sie von der Mühe des Selbstdenkens

dispensiert zu sein glauben. „Nirgends ein allgemeiner Überblick,

nirgends ein wichtiges oder wichtig scheinendes Resultat, nirgends

Auflösung eines rätselhaften Problems oder Erklärung eines seltnern

Phänomens am literarischen Horizont, nirgends ein Wink, wie und

wozu die so mühsamgemächlich zusammen getragenen Materialien

genutzt werden könnten.“



So hieß es im Jahre 1783 und hätte ebensogut 125 Jahre später

geschrieben sein können, ist es doch am Anfang unseres Jahrhunderts

mit fast gleichen Worten oft gesagt worden. So scheint sich die

Wissenschaft im Kreise zu drehen, wie der Zeiger einer Uhr, fortschreitend

von Sammlung des Stoffes, philologischer Kritik, vergleichender

ästhetischer Analyse und geschichtlicher Betrachtung bis zur

Selbstkritik und Abrechnung mit ihrem bisherigen Verlauf, dem die

Forderung umfassender Totalität gegenübergestellt wird. Da ist der

große Stundenschlag geistesgeschichtlicher Synthese gekommen, bei

dem der Turm zittert, wenn das Mittagsgeläute aller Glocken auf einmal

einsetzt.



Zur gleichen Zeit, als Gedike seine Forderungen aufstellte, hatte

sich bereits das großartige Programm einer neuen literarhistorischen

Methodenlehre geformt, in der Johann Gottfried Herders dynamische

Geschichtsbetrachtung ihre Ziele aufstellte. Die Dichtung bot sich

dar als organischer Ausdruck des Geisteslebens einer Nation und zugleich |#f0050 : 26|



in ihrer Ganzheit als ein nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten,

Temperament, Klima und Akzent seine Gestalt wandelnder Proteus

unter den Völkern. Den Geist der Literatur auf seiner Wanderung

durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, war die Aufgabe,

in deren Problemstellung die mannigfaltigsten Fragen lagen: „Wie

hat der Geist der Literatur sich nach den verschiedenen Sprachen

geändert, in die er eingetreten? Was nahm er von dem an, was er

vor sich fand? und was entstand für ein Ding aus der Vermischung

und Gärung so verschiedener Materie?“



Vielseitigste Einwirkungen fließen in diesem Aufgabenkreis zusammen.

Anregungen von Montesquieu, der schon in Bacon und

Huarte seine Vorläufer hatte, wenn er die Eigentümlichkeit jedes

Nationalgeistes aus klimatischen und anthropogeographischen Bedingungen

erklärte, fanden ihr Gegengewicht in der Monadenlehre von

Leibniz, wonach alle natürlichen Veränderungen einem inneren

Prinzip entstammten, auf das äußere Ursachen ohne Einfluß waren.

Dieser Gegensatz einte sich in einer genetischen Betrachtungsweise,

bei der die Entfaltung der inneren Anlagen von Völkern und Individuen

als ein immanentes Prinzip literarhistorischer Entwicklung

erschien und die Analogie ein wichtiger Grundsatz der Deutung

wurde. Hume und Winckelmann zeigten auf religionsgeschichtlichem

und kunstgeschichtlichem Gebiet, wie geistige Entwicklungsprozesse

im Zusammenhang eines Kultursystems zu erfassen waren. Während

sie auf das Ganze gingen, wies Shaftesbury den Weg zu intuitiver

Erschließung der Individualität. Die bei Vico vorausgenommene

Lehre von den Kulturkreisen, deren jeder sein einmaliges Maximum

im Gleichgewicht der Kräfte und in der vollen Entfaltung aller Anlagen

erlebte, überwand den geradlinigen Fortschritts- und Vervollkommnungsgedanken

der Aufklärung. So konnte nach Wartons Vorgang

auch dem Mittelalter ein gewisses Recht zugeteilt werden.

An den Anfang der Kultur aber führte die von Hamann übernommene

Auffassung der Sprache als Urdichtung, durch deren metaphorische

Hülle bis zu dem Kern der leidenschaftsbewegten Volksseele durchzudringen

war.



Es entsprach nicht der sprunghaften und relativistischen Betrachtungsweise

Herders, zu einem geschlossenen lehrbaren System zu

gelangen. Wohl aber sah er von Anfang an die verschiedenen Ziele

in einem Wechsel analytischer und synthetischer, entwicklungsgeschichtlicher

und vergleichender Anschauung nebeneinander liegen.

Die sprachpsychologische Auffassung des Wortkunstwerkes erschien

als erste Aufgabe. Daran reihte sich die geschichtliche Erkenntnis |#f0051 : 27|



des Stils, der sowohl in seinem individuellen Charakter als Ausdruck

einer literarischen Persönlichkeit wie in seinem Zeitcharakter als

Ausdruck des herrschenden Geschmackes zu verstehen war. Unabhängig

von stilgeschichtlicher und geschmacksgeschichtlicher Deutung

blieb die ästhetische Aufgabe der Kritik als einer Sache des anschauenden

Gefühls und der eindringenden Intuition. Dagegen wurde

die philosophische Einstellung der Hermeneutik wieder zu einer Abhängigkeit

von Augenpunkt und Gesichtskreis, und verschiedentlich

(in den „Briefen an Theophron“, in der Psalmenexegese der Schrift

„Vom Geist der ebräischen Poesie“ wie in den „Briefen über das

Lesen des Horaz“) wurden besondere Anweisungen vermittelt, die

Dichtung aus dem Geist einer Zeit und einer Nation heraus historisch

zu verstehen.



So erscheinen Sprache, Geschmackswissenschaften, Geschichte und

Weltweisheit als „die vier Ländereien der Literatur, die gemeinschaftlich

zur Stärke dienen und beinahe unzertrennlich sind“. Philologie,

Geschichte, Ästhetik und Philosophie werden zu vereintem

Wirken berufen: „Studieren heißt freilich zuerst den Wortverstand

erforschen, und das so gründlich, als es zu folgenden Stücken gehört:

man suche aber auch mit dem Auge der Philosophie in ihren Geist zu

blicken, mit dem Auge der Ästhetik die feineren Schönheiten zu zergliedern,

die den Kritikern sonst meist gemeiniglich nur im Übermaß

erscheinen, und dann suche man mit dem Auge der Geschichte Zeit

gegen Zeit, Land gegen Land und Genie gegen Genie zu halten.“



Hatten schon die „Fragmente“ von 1767 ein Gegenstück zu Winckelmanns

Kunstgeschichte gefordert in einer vom Gedanken immanenter

Entwicklung beherrschten Literaturgeschichte, die den entweihten

Namen einer Geschichte des menschlichen Verstandes als Werk

historisch-philosophischer Scheidekunst wieder zu Ehren bringe, so

blieb der Plan bis zu den „Briefen zur Beförderung der Humanität“

(7. und 8. Samml. 1796) lebendig. Ausgeführt hat Herder selbst nur

einen kleinen Teil davon in seiner Schrift „Vom Geist der ebräischen

Poesie“ (1781/83). Das ganze 19. Jahrhundert indessen steht im

Zeichen seiner Anregungen, und Franz Schultz hat in seinem Aufsatz

„Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm

Scherer“ treffend hervorgehoben, wie die verschiedensten Richtungen

der Neuzeit sich auf diesen Propheten hätten berufen dürfen. Ja,

noch vor wenigen Jahren hat der Deutschamerikaner Martin Schütze

von den faktualistischen und metaphysizierenden Einseitigkeiten

neuer Richtungen, die er der Kritik unterzog, wieder zur Herderschen

Methode zurückführen wollen.

|#f0052 : 28|



d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik



Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann eine neue Sammeltätigkeit,

auf die wiederum Kritik und Hermeneutik folgten. Zunächst

ging Herders Saat auf in der sogenannten „Allgemeinen Literärgeschichte“,

wie sie in Göttingen durch den orientalischen Theologen

Johann Gottfried Eichhorn und den Ästhetiker Friedrich Bouterwek

betrieben wurde. Hält man vergleichsweise Umschau unter

den Zeitgenossen, so trifft man auf die „Handbücher“ von Bouginé

und Wachler, die kaum etwas anderes als Bücherkunde geben. Die

Göttinger aber gingen zur Darstellung über. Mit ungeheurem Stoffhunger

wagten sie sich, wie Eichhorn schreibt, „in den Ozean der

Literatur, um denen die ihn später durchschiffen wollten, Zeit und

Mühe zu ersparen“. Im Dienste eines polyhistorischen Unternehmens,

der „Allgemeinen Geschichte der Künste und Wissenschaften“, legten

sie in Dutzenden von Bänden die damals erreichbaren Daten des

vorschristlichen und europäischen Schrifttums einschließlich der

Wissenschaftsgeschichte innerhalb großer Perioden in parallel laufenden

Bahnen nebeneinander. Bouterwek, der in seiner zwölfbändigen

„Geschichte der Poesie und Beredsamkeit“ (1801─19) die

einzelnen Nationalliteraturen Italiens, Spaniens, Portugals, Frankreichs,

Englands, Deutschlands aufeinander folgen ließ, erwog auch

eine andere Darstellungsweise, nämlich eine „synchronistische Bearbeitung

der Fortschritte des ästhetischen Geistes und Geschmacks

in den verschiedenen Sprachen des neueren Europas“. Das hätte dem

Herderschen Programm, die Wanderung des Geistes der Literatur

durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, noch besser entsprochen;

dieser Gesichtspunkt trat aber nur im systematischen Sachregister

des 12. Bandes in Erscheinung.



Der gefühlsselige und gelehrte Hofrat Bouterwek ließ seinen Geist

in vielen Farben funkeln; er stand im Zwielicht zwischen Sturm und

Drang und Romantik; er war Kantianer und gab zugleich als Popularphilosoph

eine Sammlung zur Philosophie des Lebens und zur Beförderung

der häuslichen Humanität heraus; er war nicht nur Verfasser

des „Graf Donamar“ und anderer empfindsamer Romane, sondern

er ließ auch Vorlesungen über Ästhetik drucken. So stand er in

einem Zwiespalt zwischen Gelehrsamkeit und Dichtung, den er darstellerisch

nicht ganz bewältigen konnte.



Die neue Situation war nun die, daß die Schranken zwischen

registrierender Gelehrsamkeit und schöpferischem Schauen niedergelegt

waren. Das Dichtertum kam in der Beobachtung seines eigenen |#f0053 : 29|



Wesens wieder zu Wort. Wenn die Weimarer Dioskuren noch bei

älteren Fragestellungen blieben, indem Goethes Autobiographie den

Mutterboden seines dichterischen Werdens in einer ichbezogenen

Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts fand, während durch Schillers

Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ die

jahrhundertelang von Franzosen und Engländern erörterte „querelle

des anciens et des modernes“ in neuer Optik zu einem gewissen Abschluß

gebracht wurde, fühlten sich die Romantiker als Herders

Diadochen und teilten sich in die Fülle der von ihm hinterlassenen

Probleme.



Friedrich Schlegel, der ursprünglich gleichfalls ein Winckelmann

der Poesie werden wollte, gab einen Beitrag zur Kulturkreislehre,

indem er die Schulen der griechischen Poesie in ihrem Gang von

der Natur durch Bildung zur Schönheit und Erhabenheit des attischen

Höhepunktes und in ihrem Wiederabsinken zu Luxus, Eleganz und

Entartung des Alexandrinismus als Paradigma gesetzmäßiger Entwicklung

darstellte. In seinem weiteren Werdegang kehrte sich der

Prophet der progressiven Universalpoesie, als welche er die Romantik

verkündete, rückwärts zum Feld der Geschichte und endete schließlich

nach Durchgang durch die Anfänge vergleichender Sprachwissenschaft

mit seinen letzten Vorlesungen über „Philosophie der Sprache

und Worte“ (1830) in Literaturmetaphysik.



Fiel ihm das Erbe der Herderschen Sprachlehre zu, so war der

Formsinn seines älteren Bruders August Wilhelm, der nicht nur als

Übersetzer in Herders Fußstapfen trat, vor allem zur ästhetischen

Kritik berufen. In seinen Vorlesungen führte er neben der systematischen

Trennung klassischen und romantischen Stils zuerst eine soziologische

Gliederung der deutschen Literaturgeschichte durch, indem

er mönchische, ritterliche, bürgerliche und gelehrte Epochen schied.

In einer echten Gelehrsamkeit, die den schwerfälligen Wust des

Nichtwissenswerten beseitigte, erblickte er zugleich ein wichtiges

Bildungselement dichterischen Schaffens. Die pragmatische Sinngebung,

die damit der Literaturgeschichte auferlegt wurde, offenbarte

wieder den auf Werte ausgehenden kritischen Gesichtspunkt.



Der eigentliche Gelehrte unter den Frühromantikern aber war

Friedrich Daniel Schleiermacher, der ebenso wie Wilhelm v. Humboldt

aus dem Herderschen Programm die Aufgaben der Hermeneutik

in Angriff nahm als Kunst der Auslegung und Deutung mit

dem Ziel eines vollkommenen Verstehens der Individualität und ihrer

stilistischen Ausdrucksform. Durch seinen Schüler August Boeckh,

der mit den Heidelberger Romantikern in Verbindung stand, wurde |#f0054 : 30|



die Erklärung des geistigen Zusammenhanges als Zentralproblem in

den Mittelpunkt der philologischen Enzyklopädie gestellt. Die geschichtlichen

und nationalen Aufgaben dagegen fielen Ludwig Tieck

zu, dem früher schon Herdersche Lehren durch Erdwin Julius Koch

vermittelt waren. Hatte doch dessen Programm „Über deutsche

Sprache und Literatur“ (1793) ein philologisches Studium vom

Standpunkt der Nationalidee aus gefordert. Tiecks enthusiastische

Vorrede zu seinen „Minneliedern aus dem schwäbischen Zeitalter“

(1803) war es nun, die Jakob und Wilhelm Grimm für das Studium

der deutschen Altertumswissenschaft gewann.



e) Anfänge der Nationalwissenschaft



Will man eine fünfte Runde mit dem Eintritt in das 19. Jahrhundert

beginnen lassen, so liegt die Caesur nicht zwischen den Klassikern

und den Romantikern, sondern zwischen der älteren und

jüngeren Romantik. Die Durchführung Herderscher Gedanken kam

noch nicht zum Abschluß, aber sie bildete die Plattform für einen

Aufstieg, der in neuem Ansatz gewissermaßen von vorne anfangen

mußte. Wenn durch die jüngere Romantik die Germanistik als

Nationalwissenschaft ausgebaut und im Sinne Herders zur Wissenschaft

vom deutschen Geiste, ja mehr noch vom deutschen Volkstum

erhoben wurde, so forderten die neuen Gesichtspunkte eine Wiederaufnahme

grundlegender Sammeltätigkeit, eine Entdeckung und Bergung

bisher unbeachteter Schätze, die der Auslegung harrten. Was

Arnim und Brentano als Sammler des Volksliedes taten, geschah von

Joseph Görres für die Volksbücher, von den Brüdern Grimm für

Volksmärchen und -sagen, von Savigny als Begründer der historischen

Rechtsschule für das Volksrecht. Auch Eichendorff, der jüngste unter

den Heidelberger Romantikern, ist hier zu nennen. Er war der einzige,

der in nachromantischer Zeit noch zur Abfassung einer „Geschichte

der poetischen Literatur Deutschlands“ (1846) gelangte. Er

blieb dabei sammelnder Liebhaber. Im Durchschweifen der deutschen

Literatur suchte er überall das Grundwesen der Volkspoesie auf

Quellen religiösen Erlebens zurückzuführen. Von den vier Gesichtspunkten

des Aufbaues, die er ähnlich wie Herder als ästhetisch,

chronologisch-geographisch, national und religiös unterschied, war

ihm der religiöse der umfassendste; er schloß auch den nationalen

in sich, denn alle Poesie war als der seelische Leib der inneren Geschichte

der Nation aufzufassen; die innere Geschichte der Nation

aber fand Eichendorff in ihrer Religion.

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Was dem allem zugrunde liegt, ist eine kollektivistische Auffassung

vom Volksgeist, dessen unbewußtes Wirken als Realität, nicht als

Abstraktion galt. Man glaubte an ihn. Wenn der Individualismus der

Frühromantik in A. W. Schlegels Rezension der Grimmschen „Altdeutschen

Wälder“ (1815) an dem aristokratischen Bekenntnis festhielt,

das Erhabene und Schöne könne zu allen Zeiten nur ein Werk

ausgezeichneter Geister sein, machten die Angegriffenen die verspottete

Andacht zum Kleinen ernstlich zu ihrer Losung, denn in

jedem Laut und Zeichen vernahmen sie die schöpferische Sprache

und singende Natur der Volksseele, darin Poesie, Sage und Geschichte

eins wurde.



Während nun in stiller leidenschaftsloser Arbeit die Methoden der

klassischen Textphilologie durch die kritischen Ausgaben der Beneke,

Lachmann und Haupt auf die werdende germanische Altertumswissenschaft

übertragen wurden, schlug das Dichtertum Ludwig Uhlands

in biographischer Darstellung, Sagenforschung und kritischer

Volksliedersammlung eine Brücke zur Gelehrsamkeit und suchte jenseits

der eigentlichen Literatur in Mythos, Sage und Volksgesang die

nationalsten Erzeugnisse des geistigen Lebens. Während vornehme

Dilettanten wie die Herren von Laßberg, von Meusebach, von Aufseß

die Schätze der Vorzeit zusammentrugen, wie es dem Sammeltrieb

der Biedermeierzeit entsprach, hielt die philologische Arbeit zugleich

den Zusammenhang mit Sprachwissenschaft, Mythologie, Rechtsgeschichte

und politischer Geschichte aufrecht. Die Einheit der Ziele

trat hervor auf der ersten Germanistentagung, die 1846 in Frankfurt

a. M. die Brüder Grimm und Lachmann mit den Historikern

Dahlmann und Gervinus im Bekenntnis zu einer Wissenschaft vom

deutschen Wesen verband. Damals entstand der Einheitsbegriff einer

Germanistik, der nachmals durch die Neubildungen „Deutschkunde“

und „Deutschwissenschaft“ charakterisiert worden ist.



Es war eine Zeit politischer Hochspannung. Der Volksgeist, der

sich in der deutschen Erhebung von 1813 als mächtig wirkende Kraft

offenbart hatte, blieb auch weiter unterirdisch tätig trotz aller Unterdrückung.

Wie ein Vulkan, dessen Ausbruch bevorsteht, rumorte er

in der Bewegung, die auf deutsche Freiheit und deutsche Einheit

gerichtet war. Die Literaturgeschichte trat in engste Beziehung zur

Politik, und die Übertragung der Gegenwartsspannungen auf die Vergangenheit

berief die Geschichtsforscher auf das Feld der Literaturbetrachtung.

So war es auch in anderen Ländern. In England war

der Historiker Henry Hallam der erste, der eine wirkliche Literaturgeschichte

schrieb in seiner „Introduction to the Literature of Europe |#f0056 : 32|



in the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Century“ (1837─1839).

In Deutschland aber entstand genau zu derselben Zeit die erste große

Gesamtdarstellung der „Geschichte der poetischen Nationalliteratur

der Deutschen“ als Werk eines politischen Historikers, des Georg

Gottfried Gervinus, dessen fünf Bände (erste Auflage 1835─40) in

ihrem durchgebildeten Aufbau den im Stoff erstickenden „Grundriß

der Geschichte der deutschen Nationalliteratur“ von August Koberstein

(1827) überragten.



Nicht die großen Künstler, sondern die gesinnungsstarken Ideenträger

und Repräsentanten des Zeitgeists waren die Helden des Gervinus:

der Volksgeist in seiner nie versiegenden Kraft bildete durchgehendes

Thema und Leitmotiv des Aufbaues. Das Zeitlose und Überzeitliche

blieb gleichgültig; die Goethesche Idee einer Weltliteratur

wurde bekämpft; nur das Eigenleben der Nationalliteratur sollte

gesucht und dargestellt werden. Mit belletristischer Kritik wollte

Gervinus nichts zu tun haben; schon 1833, als er von der Literaturgeschichte

als werdender Wissenschaft sprach, ließ er die Ästhetik

nur als Hilfsmittel gelten, etwa in der Bedeutung, die für den

Historiker die Politik habe. Tatsächlich aber war selbst dem Literarhistoriker

Gervinus die Politik viel wichtiger als die Ästhetik. Die

ästhetische Erziehung, das Ideal der klassischen Zeit, hatte ihre Aufgabe

erfüllt; nun sollte die Literaturgeschichte als „Stimme der

patriotischen Weisheit und Verbesserin des Volkes“, wie Herder sie

genannt hatte, zu nationalem Selbstbewußtsein und tatkräftigem Wollen,

zu Staatsgesinnung und politischer Arbeit am Aufstieg der Nation

wirken. Von der Dichtung war für die Zukunft nichts mehr zu

erhoffen; die höchste Blüte der Literatur, auch wenn sie keinem

Maximum der Gesamtkultur entsprach, gehörte der Vergangenheit an.

„Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutsche

Leben still stehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel

haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in neue

Materie neuer Geist zu gießen ist.“ So ist im vierten Band zu lesen.

Mit anderen Worten: „Die Literatur ist tot; es lebe die Literaturgeschichte

als Erweckerin zu tätigem Leben.“



Es war eine merkwürdige Mischung romantischer und jungdeutscher

Tendenzen, die beide von Gervinus verabscheut wurden und von

denen er gleichwohl berührt war. Romantisch mutet der rückgewandte

historische Sinn an und die Ideologie des Volksgeistes, jungdeutsch

die Richtung auf das politische Leben der Gegenwart. Jungdeutsch

gebärdete sich Gervinus gegenüber den Romantikern, romantisch

gegenüber den Jungdeutschen, deren verwandte Einstellung er verkannte. |#f0057 : 33|



Gerade die Kräfte seiner Zeit, die er der Dichtung entziehen

und dem politischen Leben zuführen wollte, waren ja innerhalb der

Zeitdichtung um dieselbe Gegenwartsforderung politischer Zielsetzung

bemüht. Um so schmerzlicher traf die Verleugnung der politischen

Zeitdichtung ihre Vertreter.



Mit den dichtenden Zeitgenossen hat Gervinus es gründlich verdorben,

indem er die deutsche Literaturgeschichte mit Goethes Tod

aufhören ließ und einen Schlagbaum errichtete, der noch mehrere

Jahrzehnte, wenn auch angefochten, an seinem Platze blieb. Man

begnügte sich nicht mit dem Widerspruch gegen solchen Historismus,

sondern der Protest gewann praktische Gestalt, indem nun gerade

die jungdeutschen Literaten und politischen Dichter sich auf das Feld

verlegten, das bei Gervinus links liegen geblieben war: die Literatur

der Gegenwart. Neben die Literaturgeschichte trat damit die Literaturkritik,

denn alle die sogenannten Literaturgeschichten der neuesten

Zeit, sei es, daß ihre Verfasser Wolfgang Menzel, Heinrich Laube,

Ludwig Wihl, Heinrich Kurz, Johannes Scherr, Rudolf Gottschall

oder sogar Julian Schmidt hießen, waren, wie Friedrich Hebbel gegenüber

Wihl feststellte, doch im wesentlichen kritische Repertorien.

Oder sie gehörten sogar zur Literaturpolemik wie Heinrich Heines

ursprünglich für französische Leser bestimmte Auseinandersetzung

mit der „Romantischen Schule“, in der Schillers Polarität von naiv

und sentimentalistisch unter saintsimonistischem Einfluß in die

Zweiteilung von Hellenen und Nazarenern umgeschaltet wurde. Was

er in seiner Münchener Zeit vergeblich angestrebt hatte, wurde einem

anderen politischen Dichter 1849 zuteil: Robert Prutz erhielt eine

außerordentliche Professur der neueren deutschen Literaturgeschichte

an der Universität Halle. Weitere Dichter fanden später Sinekuren

an den Technischen Hochschulen. Aber das Extraordinariat an den

Universitäten bedeutete für mehrere Jahrzehnte eine Unterordnung

der neueren Literaturgeschichte als Anhängsel der germanistischen

Wissenschaft. Das Ringen um wissenschaftliche Anerkennung wurde

schließlich einer der psychologischen Gründe für die Philologisierung

des Faches, das in exakter Tatsachenforschung seine Gleichberechtigung

erweisen wollte.



Nun aber gab es noch eine wissenschaftliche Großmacht, die die

Verwaltung der Literatur als Ausdruck des ganzen geistigen Lebens

im weitesten Sinne für sich in Anspruch nehmen durfte: die Philosophie.

Nach Herders Einteilung fiel ihr die Deutung der Kunstwerke

aus dem Geist ihrer Zeit zu. Auch die biographische Deutung großer

Persönlichkeiten lag zunächst in den Händen der Philosophen. So |#f0058 : 34|



entstanden Klassikerbiographien wie Hofmeisters „Schiller“ (1835

bis 1842), Danzel-Guhrauers „Lessing“ (1850─53), Hayms „Herder“

(1877─85) und schon vorher dessen „Romantische Schule“ (1870),

die mehr Biographienkranz als Geistesgeschichte war.



Aber schon vorher hatte der spekulative Geist den ganzen Bezirk

der Künste unter seine Herrschaft gezwungen. Über Herder hinaus

war aus Klassik und Romantik das gewaltige Denksystem Hegels erwachsen,

das die ganze Weltgeschichte als selbstbewußten Gang des

absoluten Geistes deutete und in diesem grandiosen Bau auch den

Künsten ihre gesetzmäßige Funktion zuwies als Vorstufen auf dem

Weg zur Selbstverwirklichung der Vernunft.



In der Einzelerklärung der Dichtung freilich, die nicht nach dem

Geist ihrer Zeit, sondern nach dem der Hegelschen Philosophie eingestellt

wurde, führte die schülerhafte Anwendung des dialektischen

Dreischrittes manchmal zu seltsamen Blüten. Beispielsweise hat H.

F. W. Hinrichs in seiner Auslegung „Schillers Gedichte nach ihren

historischen Beziehungen und ihrem inneren Zusammenhang“ (1837)

die Meisterballade „Der Kampf mit dem Drachen“, das unreife

Jugendgedicht „Graf Eberhard der Greiner“ und den matten Balladennachklang

„Der Graf von Habsburg“ im Gegensatz zur Chronologie

wie zur ästhetischen Bewertung in eine aufsteigende Reihe gebracht

und vom rechten Schillerverständnis verlangt, sie in dieser Folge zu

lesen, weil im ersten der Held, der sich selbst bezwingt, im zweiten

der Held, der andere bezwingt, im dritten der Held, dem Neigung und

Gesinnung mit Tat und Handlung in Gehorsam und Demut vor Gott

eins geworden sind und der dadurch die völlige Einheit mit den allgemeinen

vernünftigen Gesetzen erreicht hat, das Thema bilden. Diese

Art abstrakter Hermeneutik ist allerdings von jeder Gabe künstlerischen

Verstehens verlassen.



Aber auf der anderen Seite darf keineswegs verkannt werden, daß

der geschichtsphilosophische Bauplan der dialektischen Methode zu

großartiger Sinnesdeutung der Gesamtentwicklung gelangen konnte

und vielleicht die einzige Möglichkeit einer darstellerischen Bewältigung

der Weltliteratur bildete. So hat Karl Rosenkranz („Die Poesie

und ihre Geschichte“, 1855) den Gang des objektiven Geistes in der

Stufenfolge von Freiheit, Wahrheit und Schönheit durch die Weltliteratur

verfolgt und Moritz Carrière („Das Wesen und die Formen

der Poesie“, 1859; „Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung“,

1863) den Aufbau der gesamten Menschheitsdichtung nach

den drei Entwicklungsstufen Natur, Gemüt und Geist zu gliedern

unternommen. Derartige Versuche einer großen geschichtswissenschaftlichen |#f0059 : 35|



Systematik nahmen allerdings auf die volkhaften Unterschiede

und sprachlichen Formen wie auf die geschichtlichen Zusammenhänge

und Wechselwirkungen wenig Rücksicht und griffen

aus der literarischen Überlieferung immer nur das heraus, was sich

in die Deduktion einfügen wollte.



f) Positivismus



Gegen eine Vergeistigung, die zur Abstraktion und metaphysischen

Spekulation hindrängte, erhob sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts

der literarhistorische Positivismus. Eine realistische Beschränkung

in bezug auf Zeit und Raum und eine intensivere Verstofflichung

bedeutete bereits die literaturästhetische Richtung Hermann Hettners,

der von den Junghegelianern, von Feuerbachs sensualistisch-naturalistischer

Schule seinen Ausgang genommen hatte. Wenn seine „Literaturgeschichte

des achtzehnten Jahrhunderts“ (1855 ff.) einen Querschnitt

zog durch die europäische Literatur des Aufklärungszeitalters

unter Trennung der drei hauptbeteiligten Länder England, Frankreich

und Deutschland, so wurde das gesamte Geistesleben dieser Gebiete

in allen seinen philosophischen und ästhetischen Bewegungen beleuchtet

mit der ausgesprochenen Absicht, nicht Geschichte von

Büchern, sondern Geschichte von Ideen zu geben. Die Grundrichtung

des Zeitgeistes, die für Gervinus nebensächlich erschienen war, trat

in den Vordergrund, während der Blick für den Organismus der

Nationalliteratur in seiner volkhaften Raumgebundenheit über den

Querverbindungen verloren ging.



Auf diese Kräfte der Eigenkultur wurde nun aber von anderer

Seite und in anderem Sinne wieder das Augenmerk gelenkt, als der

von Auguste Comte in Frankreich begründete Positivismus zur Herrschaft

kam, der unter Ablehnung jeder Transzendenz und Metaphysik

sich an exakte Beschreibung des Gegebenen und an Erkenntnis

kausaler Zusammenhänge nach naturwissenschaftlichen Gesetzen hielt.

In Hippolyte Taines „Histoire de la littérature anglaise“ (1864) wurde

seine Anwendung durchgeführt. Mit dem hier vollzogenen Ausbau

der Milieutheorie, deren Keime bis auf Montesquieus Lehre vom

Klima zurückgehen, war ein strenger Determinismus Postulat geworden,

der den einzelnen und sein Werk durch die Umwelt bedingt

sein ließ und damit wieder einen Übergang zur Kollektivbetrachtung

anbahnte. Wenn gleiche äußere Umstände gleiche Produkte hervorbringen

mußten, so war der individuelle Heldenbegriff, wie ihn ein

Thomas Carlyle gepflegt hatte, so gut wie preisgegeben, und von ferne |#f0060 : 36|



wurde bereits das Ideal einer „histoire sans noms“, das Comte sogar

zu einer „histoire sans peuples“ steigern wollte, gesehen. Auch hier

sind die mächtigen Nachwirkungen Hegels noch zu verspüren, der

den einzelnen als ausführendes Organ des Weltgeistes betrachtete,

aber diese Teleologie ist nunmehr in ein mechanisches Walten naturgesetzlicher

Kräfte aufgelöst.



In Deutschland ist es Wilhelm Scherer gewesen, der den zeitgemäßen

Positivismus mit dem Historismus eines Gervinus vereinigte.

Vor seinen Augen stand ein ähnliches Programm wie das Herders,

nur war es in ausgesprochener Weise national zusammengeschlossen

zum Begriff einer universalen Wissenschaft vom Deutschtum, worin

Grammatik, Literatur, Charakter- und Kulturgeschichte der Nation

zusammengefaßt wäre. Aus historischer Selbsterkenntnis war ein

System nationaler Ethik zu gewinnen. Diesem Ziel wollte auch die

„Geschichte der deutschen Literatur“ (1883) dienen als ein Volksbuch

im Geiste des Liberalismus, das die aus der Zeit des Vormärz stammende

religiös beengte populäre Literaturgeschichte von Vilmar

(1845) zu verdrängen bestimmt war.



Scherer kam von Sprachwissenschaft und Textphilologie her, von

Jakob Grimm und Müllenhoff. Aber die Romantik, aus deren Geist

die germanische Wissenschaft hervorgegangen war, erschien jetzt

bereits als ein verklungenes Märchen. Nicht die Geschichte noch die

Philosophie, sondern die Naturwissenschaft galt als führende Disziplin

der Zeit; ihr gleichzukommen an Exaktheit der Methoden und Sicherheit

der Ergebnisse, wurde als Kriterium der Wissenschaftlichkeit

überhaupt angesehen. An Stelle der inneren Gesetze, denen sich die

Darstellung des Gervinus unterworfen hatte, mußte eine äußere Gesetzmäßigkeit

von mathematischer Präzision treten, die doch nichts

anderes war als geschichtsphilosophische Konstruktion. Unter Einfluß

von Comte, Buckle, Mill, Taine war die Entwicklung der Dichtung

als kausal bedingter Naturprozeß aufzuzeigen. Die mechanische

Generationstheorie des Historikers Ottokar Lorenz vermittelte mit

der Aufstellung dreihundertjähriger Perioden ein brauchbares Zahlenschema

und so ergab sich im Wechsel männlicher und weiblicher

Zeitabschnitte eine schicksalsmäßige Wellenbewegung, die in den

Jahren 600, 1200 und 1800 ihre Höhepunkte fand. Ob auch schon

zu Christi Geburt und 600 Jahre vorher Gipfel verlorener Urdichtung

anzusetzen wären und ob für 2400 die Gewißheit neuen Glanzes

vorherzusehen sei, war nicht ausgesprochen. Aber für solche methodische

Reflexion ist überhaupt nur in der Einleitung Platz. Die Darstellung

selbst, die das Gerüst mit glänzenden Charakteristiken voller |#f0061 : 37|



Sinn für Individualität umkleidet und der großen geistesgeschichtlichen

Ausblicke nicht entbehrt, ist alles andere als die Konstruktion

eines öden Mechanismus. Der Bau steht fest, auch wenn man das

Gebälk der Hilfskonstruktion ihm entzieht.



Eine neue Plattform war erreicht, indem man in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts die neuere Literaturgeschichte als eine

philologische Disziplin zu organisieren begann. Nun setzt im Zeitalter

des Positivismus die sechste Runde ein. Wieder ist Sammeln

und Herausgeben der Anfang. Der erste ordentliche Fachvertreter

an der Universität Göttingen, der von der Journalistik herkommende

Karl Goedeke, widmete seine wissenschaftliche Arbeit den Grundsteinen,

indem er in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen

Dichtung“ eine neue Bücherkunde schuf, die sich als unentbehrliches

Fundament aller Forschung erwies. In seiner Historisch-Kritischen

Schiller-Ausgabe (1867─76) organisierte er unter Teilnahme klassischer

Philologen eine vorbildliche wissenschaftliche Klassikerausgabe,

die allerdings den literarhistorischen Ansprüchen mancherlei

schuldig blieb. Auch der in München Schule bildende Michael

Bernays suchte sein Verdienst darin, die streng kritischen Grundsätze

der klassischen Philologie auf das Studium der neueren Literatur

zu übertragen. Künstlerisch gehandhabte Textkritik und Textvergleichung

blieben für ihn die Grundlagen aller feinsinnigen Deutung

und Stilbeobachtung, die große Ausblicke in die Weltliteratur suchte,

ohne doch zur Zusammenfassung zu gelangen.



Über solche Vorarbeiten war Wilhelm Scherer, der konstruktive

Kopf, der große Kombinationen liebte und die Küstenschiffahrt verabscheute,

hinausgekommen. Er hatte schon im Jahre 1868 ausgesprochen:

„Wir sind es endlich müde, in der gedankenlosen Anhäufung

wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung

zu erblicken.“ Die folgende Generation (nicht nur seine Schule)

hat indessen diese Müdigkeit nicht gekannt. Hatte Scherers letzter

Blick noch der großen Weimarer Goethe-Ausgabe gegolten, die aus

den schier unerschöpflichen Schätzen des endlich erschlossenen Nachlasses

aufzubauen war, so fand nun ein ganzes Geschlecht von Forschern

Beschäftigung in Textkritik, Datierung, Kommentierung und

aller damit zusammenhängenden, keineswegs nutzlosen Kleinarbeit,

die die volle Beherrschung einer exakten wissenschaftlichen Methode

beanspruchte. Der gewissenhafte Dienst am Wort brachte die Andacht

zum Kleinen aufs neue zu Ehren, aber zugleich die Gefahr, daß

Akribie in Mikrologie ausartete. Bausteine wurden zusammengetragen

und behauen, ohne daß den fleißigen Steinmetzen der Aufriß des |#f0062 : 38|



weiteren Baues vor Augen stand. Das gilt nicht nur von der textphilologischen

Leistung, sondern ebenso von den stoffgeschichtlichen

Reihen, den motivgeschichtlichen Vergleichen, den stilgeschichtlichen

Parallelen, den festgestellten Quellen, Vorbildern und Einflüssen und

den Beobachtungen zur poetischen Technik, die unermüdlicher Sammeleifer

ohne letzte geistige Durchdringung zur Strecke brachte.



Als Aufgabe der Könige, die das Werk der Kärrner zu nutzen

hatten, galt damals die große Monographie. Dem Berliner Nachfolger

Scherers, Erich Schmidt, der in souveränem Kennertum eine

königliche Erscheinung darstellte, war in jungen Jahren die zweibändige

Biographie Lessings geglückt, die den Helden in den Mittelpunkt

seiner Zeit stellte und in dem ihn umgebenden Netz, das alle

Fäden literarischer Beziehungen verknüpfte, eine Enzyklopädie der

Literatur des 18. Jahrhunderts entrollte. Der Wiener Schererschüler

Jakob Minor hat seine ähnlich angelegte Schillerbiographie nach dem

zweiten Band, der bis zum „Don Carlos“ führte, liegen lassen; noch

ärger erging es Richard Weltrich, dessen Lebenswerk auf 900 Seiten

nur bis zu den „Räubern“ gelangte. Es lag nicht an der philologischen

Methode, wie es sich hier zeigt, denn Weltrich betrachtete den

Ästhetiker Friedr. Theod. Vischer als seinen Lehrer. Auch der Philosoph

Wilhelm Dilthey kam mit seinem Schleiermacher (1870) nicht

über den ersten Band hinaus. Es lag an dem naturwissenschaftlichen

Vollständigkeitswahn und der Tatsachenanbetung des Positivismus,

die sich ad absurdum führte. Es mußte sich herausstellen, daß die

enzyklopädische Biographie, die den gesamten Stoff nicht nur verarbeitete,

sondern wiedergab, indem sie zugleich Nachschlagebuch für

alle Lebensdaten und Beziehungen, Erschließung der ganzen inneren

Entwicklung und Kommentar aller Werke sein wollte, formlos werden

mußte und den Darsteller vor künstlerisch unlösbare Aufgaben

stellte.



Die Vorstellung, welche Ausmaße eine nach solchen Grundsätzen

unternommene Goethebiographie hätte in Anspruch nehmen können,

ist schwindelerregend. Einmal hätte dieses Werk erst nach der großen

Weimarer Ausgabe, deren Abschluß mehrere Jahrzehnte erforderte,

richtig in Angriff genommen werden können; sodann hätte die Kraft

und Lebensdauer eines einzelnen zur Bewältigung nicht ausgereicht.

Es ist bezeichnend, daß 1885 in Weimar beabsichtigt war, gleichzeitig

mit der Sophienausgabe eine mehrbändige Goethebiographie in Auftrag

zu geben als vierspännige Hofequipage, in die sich mindestens

vier Bearbeiter, Literarhistoriker, Philosoph, Naturwissenschaftler

und Historiker teilen sollten. Das Ergebnis wäre nicht ein Goethe |#f0063 : 39|



gewesen, sondern ein Nebeneinander von ebensoviel Goethebildern,

als Bearbeiter in großherzoglichem Auftrag zusammengeschirrt worden

wären.



Es fehlte nicht an kritischer Einsicht und an Protesten. Im Jahre

1891 schrieb Anton Bettelheim einen Aufsatz „Die Unmöglichkeit

einer Goethe-Biographie“. Im folgenden Jahr 1892, in dem Stefan

Georges „Blätter für die Kunst“ dem Naturalismus in der Dichtung

absagten, erschienen Friedr. Braitmaiers Streitschrift „Goethekult

und Goethephilologie“ und Hugo Falkenheims Betrachtung „Kuno

Fischer und die literarhistorische Methode“. Auch in Frankreich,

dem Stammland des Positivismus, hatte es bereits eine Wendung gegeben,

indem Emile Hennequin (La critique scientifique, 1888) als

ungetreuer Schüler Taines zu den Ideen Carlyles zurückkehrte und

die Erforschung der Individualität und der Psychologie des Genies

in einer „Esthopsychologie“ genannten Methode zum Programm

erhob.



Taine selbst hatte in der psychologischen Analyse eine zu besonderer

Feinheit entwickelte französische Kunst erblickt, die er bei den

Deutschen vermißte: „si les Allemands ont la supériorité philosophique

et de mémoire, nous avons celle de la psychologie.“ Bei der großen

Tradition biographischer Kritik, die in den westlichen Ländern seit

Matthew Arnold und Sainte-Beuve bestand, wuchs der Gedanke immer

mehr an Bedeutung, die Kritik des Einzelwerkes wissenschaftlich zu

fundieren durch eine Verbindung der ästhetischen Bewertung und

Charakteristik mit Aufhellung des Entstehungsvorganges. Das gesuchte

System, das die kritischen Normen der Ästhetik und die Formbegriffe

der Stilistik mit der Psychologie des dichterischen Schaffens

in Zusammenhang stellte, schien nun bald im Gegensatz zur geschichtlichen

Zusammenfassung die Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft

zu verwirklichen. In England und Amerika wurde sie mit dem Worte

„literary criticism“ festgelegt.



In Deutschland hatte Scherer (anders als Gervinus) gegenüber der

Ästhetik keine ablehnende Haltung eingenommen, sondern einen

Streit zwischen Literaturgeschichte und Ästhetik nur dann für möglich

gehalten, wenn eine von beiden Wissenschaften oder beide auf

falschen Wegen wandelten. Den falschen Weg der Ästhetik sah er

in ihrer spekulativen Richtung, während eine empirisch von unten

aufbauende, induktive Ästhetik die Forderung der Zeit war. Nach

Abschluß der Literaturgeschichte war Scherer daran gegangen, ihr in

der „Poetik“ eine Theorie der Dichtung zur Seite zu stellen, deren

Wesen charakteristischerweise aus ihrer Entstehung erschlossen |#f0064 : 40|



werden sollte: die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und

mögliche, vollständig zu beschreiben in Hergang, Ergebnissen und

Wirkungen war das Ziel, dessen naturwissenschaftliche Bedingtheit

schon an der Forderung „vollständiger Beschreibung“ zu erkennen

ist. Mit der Herausgabe des skizzenhaften Kollegheftes, das eine

bedenkliche naturalistische Enge verrät, wurde dem Andenken des

Frühverstorbenen kein Gefallen erwiesen. Dieser unzulängliche Versuch

wurde in seiner Wirkung erdrückt durch die „Bausteine zu

einer Poetik“, die Wilhelm Dilthey gleichzeitig in seiner Abhandlung

„Von der Einbildungskraft des Dichters“ (1886) zusammentrug. Die

Werke der beiden Freunde, die sich als Arbeitsgenossen fühlten und

auf verschiedenen Wegen schließlich zusammentreffen und sich

gegenseitig zu stützen hofften, sind nicht völlig grundverschieden

im Ausgangspunkt. Auch Dilthey suchte zunächst naturwissenschaftliche

Gesetzlichkeit; ihm schwebte eine Entdeckung wie die der

grammatischen Lautgesetze vor, die seine analytisch hergestellten

Elementarvorgänge zu einer das Wesen der Dichtung erschließenden

Formel, etwa einem Kreislauf von Leben, Ausdruck, Verstehen oder

von Persönlichkeit, Weltanschauung und Kunstwerk zu binden erlaubt

hätte. Sein Streben in dieser Richtung endete mit Resignation. Im

Alter sprach er von der Unmöglichkeit, die Fülle der historischen

Individualitäten zu systematisieren und die ganze geschichtlich-gesellschaftliche

Art nach Allgemeinbegriffen zu ordnen und zu erklären.

Was möglich blieb, war die Gründung eines Zwischenreiches zwischen

der generellen, rationalen Psychologie des Experimentes und der

irrationalen Individualpsychologie des Nacherlebens in einer beschreibenden,

vergleichenden Psychologie, die zur Erkenntnis geistesgeschichtlicher

Weltanschauungstypen gelangte. Hier lag der eine

bedeutsame Anstoß, den die deutsche Literaturwissenschaft jetzt

wieder von seiten der Philosophie, und zwar von einem Philosophen,

der den Positivismus in sich überwunden hatte, empfangen konnte;

der andere bestand in der Vertiefung des Begriffes der Hermeneutik.

Die Grundsätze der Auslegung und des deutenden Verständnisses

hatte Dilthey von Schleiermacher her weiterentwickelt und vom einzelnen

Werk auf die geistige Struktur und den seelischen Werdegang

schöpferischer Persönlichkeiten ausgedehnt. Im Jahre 1895 hatte er

eine Sammlung „Dichter als Seher der Menschheit“ geplant, in der

er unter höchsten pädagogischen Gesichtspunkten der Literaturgeschichte

„einen Impuls in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins“

geben wollte. Diesen richtunggebenden Anstoß hat zehn Jahre später

die Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung“ ausgeübt, die unter |#f0065 : 41|



Beschränkung auf die deutsche Dichtung nur einen Teil des ursprünglichen

Planes mit Benutzung älterer Aufsätze, die jetzt eine ganz

frische Wirkung taten, zur Ausführung brachte.



g) Geisteswissenschaft



Im neuen Jahrhundert vollziehen in allen Ländern umstürzlerische

Richtungen ihren Aufmarsch, und fast jede Jahreszahl bedeutet die

Aufstellung eines neuen Programms: 1900 fand in Paris ein „Congrès

international d'histoire comparée“ statt, dem im nächsten Jahr das

Buch von Fernand Baldensperger folgte, das der schon früher in

Deutschland geübten Literaturvergleichung, dem Studium der internationalen

Strömungen und der Wechselwirkung von Land zu Land

im Sinne einer Zentralstellung Frankreichs zu neuem Aufschwung

verhelfen sollte.



1901 gab ferner der Engländer Courthope („Life in Poetry“) das

Programm einer Literatursoziologie, wie sie schon vorher von dem

Deutschamerikaner Kuno Francke („Social Forces in German Literature“,

1896) vertreten war. Diese Richtung kam durch den deutschen

Anglisten L. Schücking („Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“)

zur Weiterführung, während sie später unter der Nachwirkung

des Historikers Lamprecht durch Brüggemann und Merker

zu „psychogenetisch“ und „sozialliterarisch“ genannten Lehren ausgebaut

wurde.



Vor allem aber begann mit dem 20. Jahrhundert der Kampf, den

eine neue Lebensphilosophie gegen den Psychologismus aufnahm,

auch die Literaturwissenschaft in ihren Bann zu zwingen und zu

vertiefter Problemstellung zu veranlassen. Aus dem abgeschlossenen

Jahrhundert ragte die Gestalt Nietzsches herüber, der nicht nur zur

Zertrümmerung des Historismus das Signal gegeben hatte, sondern

als Prophet einer Monumentalhistorie nachwirkend den Weg wies.

Vor ihm war es die Leidenschaftlichkeit Kierkegaards gewesen, die

zu verinnerlichtem Verantwortlichkeitsbewußtsein und persönlicher

Entscheidung aufrief. Er erreichte Deutschland gleichzeitig mit

Nietzsche, da die erste Übersetzung erst 1885 erschien. Weiter ging

man zurück auf Kant. Über den Neukantianismus hinaus wiederholte

sich die Entwicklung, die sich ein Jahrhundert zuvor in den Systemen

des deutschen Idealismus abgespielt hatte, und die Probleme Fichtes,

Schellings, Hegels wurden neu aufgerollt durch drei Philosophen der

Neuzeit. In Deutschland war es Edmund Husserl, dessen „Logische

Untersuchungen“ (1901) durch phänomenologische Betrachtung vom |#f0066 : 42|



Ich aus in den existentialen Wesenskern des Kunstwerkes einzudringen

forderten; gleichzeitig griff in Frankreich Henri Bergsons „Introduction

à la Métaphysique“ die Intuition als Mittel eindringenden Weltverstehens

auf; in Italien erschien 1902 die „Estetica“ von Benedetto

Croce, die alle Kunst, nicht nur die Dichtung, als menschlichen

Sprachausdruck betrachtet wissen wollte, der historisch zu erklären,

aber nicht zu bewerten sei. Ihm schloß sich das Auftreten des deutschen

Romanisten Karl Voßler an, der gegen den mechanisierenden

Positivismus und für einen ästhetischen Idealismus in der Sprachwissenschaft

kämpfend der Stilerforschung neue Bahnen öffnete und

die Sprachentwicklung als geistigen Vorgang in den Kulturzusammenhang

stellte (1903).



In den so gelockerten Boden fiel das Erscheinen der alten Aufsätze,

die Wilhelm Dilthey 1905 zusammenfaßte, als fruchtbare Saat.

In diesen essayistischen Meisterstücken, die eine große Leserschaft

auch außerhalb der Fachwissenschaft anzogen, lagen Vorbilder für

einen Formwandel der Monographie, die von der realistischen zur

idealistischen Methode, von der Kategorie des Werdens zu der des

Seins hinübergeleitet wurde. Von der Stofflast belangloser Tatsächlichkeiten

befreit, drängte die Darstellung nun zur Herausarbeitung

der zentralen Probleme, der Urgründe des Schaffens, der Wege des

Verstehens und des Sinnes der Existenz.



Auch die Dichter begannen, sich den theoretischen und historischen

Problemen ihrer Kunst wieder zuzuwenden, als Ricarda Huch 1902

ihr Werk über die Romantik beendete, als Wilhelm v. Scholz 1905

seine „Gedanken zum Drama“ und 1906 Paul Ernst seinen „Weg zur

Form“ veröffentlichte, ohne daß allerdings die wissenschaftliche Betrachtung

der Formprobleme dadurch zunächst bemerkenswert beeinflußt

worden wäre. Ein anderer Dichter, der selbst wenig über die

Dichtung schrieb, gewann mehr Einfluß. Haltung und Zurückhaltung

Stefan Georges sollten bald eine vorbildhafte Wirkung von immer

größerer Tragweite auf den wachsenden Kreis der Anhänger und auf

die in ihm betriebene Schau großer Persönlichkeiten ausüben.



Zunächst stand freilich für die deutsche Literaturgeschichte und

ihre synthetischen Aufgaben das Problem der Gliederung im Vordergrunde.

Es kam darauf an, Grundbegriffe des organischen Aufbaues

und der Überschau zu finden, die als inneres Ordnungsprinzip an

Stelle mechanischer Zahlengerüste treten konnten. Hatte R. M. Meyer

noch 1900 für seine „Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“

eine Gruppierung nach Dekaden bequem gefunden, so wurde

er schon ein Jahr später durch die einhellige Kritik dieses Verfahrens |#f0067 : 43|



zur prüfenden Untersuchung der „Prinzipien wissenschaftlicher

Periodenbildung“ veranlaßt. Dabei dachte er noch nicht an

das geistesgeschichtliche Zeitmaß der Generation, das sein Nachfolger

Friedrich Kummer (1909), einem Gedanken Diltheys folgend, bei der

Neugliederung des eben zurückgelegten Jahrhunderts anwandte.



Neben der zeitlichen Gruppierung kam aber auch eine räumliche in

Betracht. Im Jahre 1907 hielt August Sauer seine Prager Rektoratsrede

über „Literaturgeschichte und Volkskunde“ und empfahl, auf

Scherersche Gedanken zurückgreifend, die Berücksichtigung der

stammhaften und landschaftlichen Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge

für Aufbau und Einteilung. Sauers Schüler Josef Nadler

hat den Anregungen in der großartigen Stoffbewältigung seiner „Literaturgeschichte

der deutschen Stämme und Landschaften“ (1912 ff.)

Folge geleistet, indem er nicht nur Steinmassen häufte, sondern aus

ihnen lebendige Quellen schlug.



1908 trat Rudolf Unger mit seinem weitschauenden Vortrag „Philosophische

Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“ hervor,

dessen Programm sich im Anschluß an Dilthey in jahrzehntelangem

Reifen und vielfacher fruchtbarer Anwendung zur Forderung verdichtete,

die „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu behandeln

(1924).



1909 stellte Oskar Walzel der herkömmlichen analytischen Betrachtung

das Verlangen nach einer synthetischen Literaturgeschichte

gegenüber und öffnete damit der stilgeschichtlichen Periodisierung

die Tür, die mit dem Ziel einer wechselseitigen Erhellung der Künste

schließlich die Parallele zu Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen

verfolgte und sie mit Diltheyschen Weltanschauungstypen

in Einklang zu bringen suchte.



1910 kam der Deutschamerikaner Kuno Francke mit der deutschen

Ausgabe seines schon vorher genannten Werkes heraus, mit dem

ersten Band seiner „Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer

geschichtlichen Entwicklung“, einer konstruktiven Soziologie, in der

ein regelmäßiger Wechsel zwischen kollektivistischen und individualistischen

Strömungen als Grundzug aufgefaßt war.



1911 ist das Jahr des Abschlusses für Ernst Elsters „Prinzipien

der Literaturwissenschaft“, deren zweiter Band alle Stilformen mittels

der Wundtschen Apperzeptionspsychologie erfassen wollte und vielleicht

deshalb nur geringe Wirkung tat, weil dem jetzt im Vordergrund

stehenden Bedürfnis nach historischer Periodisierung nicht

entsprochen wurde. Um so stärkeren Einfluß haben zwei andere

Erscheinungen dieses Jahres ausgeübt, nämlich Gundolfs „Shakespeare |#f0068 : 44|



und der deutsche Geist“ und Ungers „Hamann und die Aufklärung“,

weil sie, wenn auch in gänzlich verschiedener Richtung, das

Problem des sprachlichen Ausdrucks künstlerisch und philosophisch

in den Vordergrund stellten.



Wie sehr die neuen Richtungen auch auf andere Länder zu wirken

begannen und dort sogar als Bedrohung empfunden wurden, kann

man aus der Abwehrstellung des ausgezeichneten französischen

Literaturkritikers Emile Faguet ersehen. In einem Aufsatz der „Revue

des deux mondes“ befürwortete er 1910 das Festhalten an philologischen

Methoden mit besonderer Rücksicht auf den französischen

Nationalcharakter, der ohnehin immer zu jenen Verallgemeinerungen

dränge, auf deren Wichtigkeit sich der Deutsche in seiner umgekehrten

Tendenz von Zeit zu Zeit besinnen müsse.



Als eine deutsche Mahnung, die Philologie nicht ganz preiszugeben,

darf in diesem Zusammenhang des Verfassers Baseler Antrittsvorlesung

„Literaturgeschichte als Wissenschaft“ (1913) genannt werden,

die gegen die Trennung einer älteren, philologisch behandelten und

einer neueren, geisteswissenschaftlichen Literaturgeschichte den Gedanken

eines einheitlichen Organismus ausspielte, der von Anfang an

auf philologischer Grundlage geistesgeschichtlich zu erfassen sei. Eine

durch die immanente Entwicklungstendenz des nationalen Geistes

bestimmte spezifisch deutsche Linie in der Dichtung wie in Malerei

und Musik sollte sich in ihrem Verlauf als rhythmischer Wechsel

zwischen rationalen und irrationalen Perioden und daraus aufsteigenden

Gipfeln der Zusammenfassung darstellen.



Wenn nach dem Weltkrieg die programmatischen Richtlinien der

Vorkriegsjahre wieder aufgenommen wurden, so ergab sich eine durch

die Problemstellung bedingte Vorliebe für bestimmte Perioden. Hatte

die schon im vorausgehenden Jahrhundert in Deutschland betriebene

vergleichende Literaturgeschichte sich mit Renaissanceforschung verbunden,

so fand die stilgeschichtliche Richtung vornehmlich in der

Barockzeit ihr Feld, auf das ihr die Geistesgeschichte folgte; die

Geistesgeschichte wiederum bevorzugte von vornherein die irrationalen

Zusammenhänge zwischen Sturm und Drang und Romantik, wohin

sie die Stilgeschichte nach sich zog. Schließlich fand die stilästhetische

Betrachtung nach Wölfflinscher Methode Gelegenheit zur

Kontrastierung zweier aufeinanderfolgender Perioden wie Klassik

und Romantik mit vielen ausgezeichneten Einzelbetrachtungen und

mit schiefer metaphysischer Formulierung des Gegensatzes als Vollendung

und Unendlichkeit bei Fritz Strich (1922). Die geistesgeschichtliche

Betrachtung konnte hier keine Polarität sehen, sondern |#f0069 : 45|



fortschreitende Entwicklung, wie sie H. A. Korff in den drei Phasen

Sturm und Drang, Klassik, Romantik als „Geist der Goethezeit“

(1923 ff.) darzustellen sich vornahm. Wenn hier die klärende Begriffsführung

Simmels in mancher Beziehung vorbildlich erscheint, so wird

jetzt überhaupt die Übertragung und Ausdehnung der Grundsätze

der Personalmonographie auf die Periodendarstellung sichtbar, am

deutlichsten unter Bergsons und Gundolfs Einfluß in den dionysischen

Anfängen von Herbert Cysarz.



Die vollkommene Umwertung der biographischen Aufgaben war

im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zuerst sichtbar geworden

in der schnellen Aufeinanderfolge neuartiger Goethe-Darstellungen,

die bei aller Verschiedenheit von Form und Auffassung das gemeinsam

hatten, daß sie nicht mehr die Teile, sondern die Ganzheit, persönlich

geschaut, in durchgeistigter, künstlerischer Form vermitteln

wollten. H. St. Chamberlain (1912) suchte die Totalität, indem er den

Naturerforscher in den Vordergrund stellte; G. Simmel (1913) bemühte

sich, den Sinn der Existenz Goethes auf eine Formel zu bringen,

über der das blutvolle Leben und Erlebnis allerdings verblaßte;

Fr. Gundolf (1916) fand die Einheit von Leben und Dichtung im

Kunstwerk der Gestalt. Diese Lösungen wären schwerlich möglich

gewesen ohne die Grundlagen, die die vorausgegangene entsagungsvolle

Arbeit der Goethe-Philologie geschaffen hatte; es war deren

Schicksal, in eben dem Zeitpunkt, da sie das ihrige getan hatte, bereits

als überholt und beinahe überflüssig angesehen zu werden. An

die Stelle der aus dem Material aufgebauten Biographie von außen

trat die Biographie von innen, wie man sie genannt hat. Und deren

Ansprüchen genügte, wie der spanische Philosoph José Ortega y

Gasset im Jahre 1932 sagte, auch das Buch von Simmel, das er das

einzig lesbare nannte, noch lange nicht.



Solange nun ein Gleichgewicht von Gehalt und künstlerischer Form

gewahrt wurde, eine „wirklich reine unkupplerische Versöhnung des

historischen Denkens mit der anschauenden Phantasie“, wie K. Voßler

es genannt hat, konnte die Forderung eines Ranke, der die Historie

als Synthese von Wissenschaft und Kunst aufgefaßt sehen wollte, in

der Monographie erfüllt werden. Es gelang, solange man die Wesensmitte,

aus der gestaltet werden sollte, im Gegenstand suchte. Aber je

mehr die Innenrichtung überging vom Gegenstand zum Verfasser, der

für seine eigenschöpferische Vision und die Virtuosität der schriftstellerischen

Leistung Beifall forderte, desto mehr glitt das Lebensbild

aus dem Bereich der Wissenschaft in den der schönen Literatur

hinüber und wurde selbst zum Wortkunstwerk, ja zum Virtuosenstück. |#f0070 : 46|



Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft mußten die gleiche

Öffnung ihrer Grenzen erleben. Wohl unterschied sich die moderne

geistesgeschichtliche Monographie in ihren Grundlagen von den

Dichterromanen und von den als „historische Belletristik“ oder

„biographie romancée“ gekennzeichneten Zwischenleistungen; aber

was auch ihr allmählich verloren ging, war die objektive Gültigkeit.

Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer

extrem positivistischen Wissenschaftsauffassung aus, behauptet, hervorragende

Einzelpersönlichkeiten seien nicht Gegenstand ernster

Wissenschaft, sondern schöngeistiger Geschichtserzählung, die er

„histoire littéraire“ nannte. Wenn dreißig Jahre später Ernst Bertram

die Ziele seines „Nietzsche“ (1918) mit den Worten „Mythologie“

und „Legende“ charakterisierte, so lag darin wohl der skeptische

Verzicht auf Erkennen, „wie es eigentlich gewesen sei“, aber zugleich

die Anerkennung geschichtsbildender Kräfte, denen der zeitgebundene

Darsteller sich unterworfen fühlte. Aber wenn im dritten Jahrzehnt

des Jahrhunderts der Gestalt Heinrichs von Kleist fast gleichzeitig

vier Monographien gewidmet wurden, von denen jede ein anderes

Leitmotiv erklingen ließ, so daß der eine (Witkop, 1922) den Metaphysiker

zeichnete, der andere (Gundolf, 1922) den expressionistischen

Hysteriker, der dritte (Muschg, 1923) den Erkenntnisproblematiker,

der vierte (Braig, 1925) den Büßer auf dem katholischen Heilsweg,

so bestanden die einander widersprechenden Ergebnisse solcher

prophetischen Optik nicht mehr in Wissenschaft, sondern in Glaubenslehren.

Es ist dann von Gerhard Fricke in seinem Buch „Gefühl und

Schicksal bei Heinrich v. Kleist“ (1933) der Versuch gemacht worden,

dieser unmethodischen Willkür einen gesicherten Weg gegenüberzustellen,

der von der strengen Interpretation des Dichters und seiner

Selbstzeugnisse ausging und in der Erkenntnis der Gefühlsgewißheit

als Wesenskern wirklich eine Darstellung von innen gab.



War man zeitweilig versucht, die Biographie preiszugeben, weil sie

mehr als schriftstellerische denn als wissenschaftliche Leistung einzuschätzen

war, so standen alle anderen Aufgaben im Zeichen methodischer

Bemühung um strengste Zuverlässigkeit. Die neue geisteswissenschaftliche

Literaturbetrachtung wollte aus philologischer Enge,

historischer Materialbelastung und psychologischem Mechanismus erlösen

und trotzdem nicht minder wissenschaftlich sein als die Naturwissenschaften.

Herbert Cysarz hat sie sogar in seiner Methodologie

(1926) als die Geisteswissenschaft schlechthin betrachtet und sie in

dieser Bedeutung ausgesprochenermaßen von der Literaturgeschichte

als Fachwissenschaft unterschieden. Andere sind, indem sie nach Klärung |#f0071 : 47|



der Grundbegriffe aus dem Wesen und den inneren Gesetzen

der Dichtung suchten, zu einer Verbindung mit Poetik und Stilistik

gelangt wie Walzel in seinem Kompendium „Gehalt und Gestalt im

Kunstwerk des Dichters“ (1923) und Emil Ermatinger in seinem

„Dichterischen Kunstwerk“ (1921) sowie in der von ihm herausgegebenen

Sammlung „Philosophie der Literaturwissenschaft“ (1930).



Es bleibt noch die Literaturgeschichte als Gegenstand des Buchhandels

zu betrachten. Weniger durch autonome wissenschaftliche

Fragestellung als durch verlegerische Bestellung sind, wie in England

die „Handbooks“ und die „Cambridge History of English Literature“,

auch in Deutschland zyklische Darstellungen ins Leben gerufen worden,

die die Behandlung der einzelnen Perioden verschiedenen Bearbeitern

anvertrauten, so in kleinem Maßstab der von Korff und Linden

herausgegebene „Aufriß der deutschen Literaturgeschichte“, in

größerem die mehrbändigen „Epochen der deutschen Literatur“, die

Zeitler leitete, und in größtem Umfange Walzels „Handbuch der

Literaturwissenschaft“, dem auch sein oben genanntes methodologisches

Werk angehört, ohne irgendwie die Richtlinien für eine gleichmäßige

und übereinstimmende Behandlung der verschiedenen Gebiete

der Weltliteratur festlegen zu wollen und zu können. Was aber durch

das Gelingen solcher Sammelwerke bewiesen wird und was die Voraussetzung

der Verteilung bildet, ist, daß man über Aufbau und

abgrenzende Gliederung der Nationalliteraturen bis zu einem gewissen

Grade ins reine gekommen ist.



Nach Feststellung dieser Lösung stehen wir vor der vierten Stufe

der sechsten Runde. Wenn sich der Kreislauf in der bisherigen Betrachtung

als gesetzmäßig erwiesen hat, so tritt jedesmal an den

Schluß der Reihe die Deutung und Wertung der Nationalliteratur als

religiöse und politische Erzieherin. Die Dichtung wird in ihrer Ganzheit

als Ausdruck des Volksgeistes aufgefaßt, ihre Geschichte als

Niederschlag und Rechenschaft des Werdens zur Gemeinschaft und

als Mittel zur Erkenntnis der eigenen Wesensart. Es bleibt nur die

Frage, wie weit diese Wendung durch eine besondere politische Lage

hervorgerufen ist oder aus eigener Notwendigkeit zur Politisierung

des Lebens beiträgt.



h) Neue Ziele



In allen Ländern, die am Weltkrieg teilgenommen haben, ist die

Wertung der Dichtung und der ihr geltenden Wissenschaft als Pfeiler

eines Wiederaufbaus, der auf Sichselbstfinden ausgeht, unverkennbar.

In Deutschland am stärksten, weil es durch den gewaltigsten Umschwung, |#f0072 : 48|



den es je erlebt hat, am meisten auf sich selbst zurückgeführt

worden ist. So bedeutet die letzte Entwicklungsphase, die zu

erreichen war, nicht nur Abschluß der Runde, sondern bereits Anfang

eines neuen Aufgabenkreises, der bestimmt ist durch den veränderten

Standort nationalsozialistischer Weltanschauung, die zwischen dem

Einzelnen und der Menschheit das Volk als den eigentlichen Mittler

und Lebensträger erblickt. Wie das Volk für den Einzelnen Repräsentant

der Menschheit ist, so ist der Einzelne vor der Menschheit

Repräsentant seines Volkes.



Es kann sich bei solcher Grundauffassung weder um Preisgabe

feststehender Ergebnisse der bisherigen Forschungsweise handeln,

noch um Verwerfung der alten Methoden, sondern um ihre Nutzbarmachung

zu neuen Zielsetzungen. Hören wir auf die ersten Heroldsrufe,

die den kommenden Gang des Turniers ankündigen, so werden

die Wappen der neu einreitenden Kämpfer mit den stolzen Feldzeichen

Volkheit, Rasse und Existenz geschmückt sein. Für eine

„volkhafte Lebenswissenschaft“ (Kindermann) soll alles, was in drei

vorausgehenden Perioden geleistet war, nur Vorstufe bedeuten: die

philologisch-historische Disziplin des Positivismus bietet eine Materialsammlung,

auf der weiterzubauen ist; die kunstwissenschaftliche Richtung

aus der Zeit des Impressionismus muß mit dem, was sie für

Kritik und ästhetische Stilforschung erobert hat, dem Leben näher

gebracht werden; die extreme Geisteswissenschaft des Expressionismus,

die alles andere hinter der Deutung zurücktreten ließ, ist durch

den Ganzheitsanspruch der neuen Weltanschauung dem überindividuellen

Lebensideal der Gemeinschaft zuzuführen.



Eine neue Poetik wird gefordert, die „sich zu grundsätzlichen Einsichten

in das Wesen der dichterischen Formen innerhalb des deutschen

Sprachgebiets erhebt“, eine deutsche Poetik, die „eine tiefste,

letzte Wesens- und Existenzbeziehung zwischen dem Genius des Dichters

und des Volkes“ erkennt und zugleich die Aufgabe übernimmt,

„zu klaren, haltbaren Vorstellungen über Sinn, Aufgabe und Mission

des Dichters im volkhaften Staate zu kommen“ (Obenauer).



Dichtungsgeschichte wird als nationale Biologie betrachtet. Im

Erlebnis der Heimat soll die rationale Trennung zwischen Naturwissenschaft

und Geisteswissenschaft, die vom Geist der Natur wie

von der Natur des Geistes gleich fern bleiben ließ (Krannhals), wieder

aufgehoben werden. Das bedeutet keine Rückkehr zur Vormachtstellung

der Naturwissenschaft, wie sie im mechanisierenden Positivismus

bestand, sondern die organisierenden Richtlinien des Geistes

sollen die Führung behalten. Wenn es auch manchmal den Anschein |#f0073 : 49|



hat, als sollte die Vormacht des Geistes durch einen anderen hypostatischen

Begriff, durch den des Blutes, verdrängt werden, so ist doch

eine Aufhebung des Gegensatzes möglich in einem organischen Weltbild,

für das Geist und Blut eines sind (Franz Koch).



Dichtung wird als psychische Anthropologie angesehen, und die

Rassenprobleme zwingen zur Verbindung naturwissenschaftlicher und

geisteswissenschaftlicher Gesichtspunkte. Durch Hans F. K. Günther

und Ludw. Ferd. Clauß, die von Literaturgeschichte und phänomenologischer

Philosophie herkommen, hat die Rassenforschung geisteswissenschaftliche

Antriebe erhalten, die wieder der naturwissenschaftlichen

Stützung bedürfen. Es kann kein Zweifel sein, daß die deutsche

Literaturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit

dem wachsenden Hervortreten artfremder Elemente, die schließlich

in unerträglicher Weise Literatur, Kritik und Theater zum Geschäftsbetrieb

machten, rassenkundliches Beobachtungsmaterial aufdrängt.

Wenn indessen die Rassenkunde ernstlich zu einer Grundlage literaturwissenschaftlicher

Forschung gemacht werden soll, so kann es nicht

getan sein mit Feststellung und Bekämpfung des jüdischen Anteils am

europäischen Geistesleben der letzten Jahrhunderte, sondern die

positiven Fragestellungen beginnen mit der rassischen Zusammensetzung

der verschiedenen Völker, mit den Zusammenhängen von

Rasse und Seele, Rasse und Weltanschauung, Rasse und Stil und den

aus Erhellung dieser Bindungen hervorgehenden Folgerungen für den

Charakter des Denkens und Dichtens einer Nation, für die rassischen

Merkmale bestimmter Stämme und einzelner Persönlichkeiten in

bezug auf ihr literarisches Schaffen.



Die Beantwortung dieser Fragen, die für die Selbsterkenntnis des

deutschen Menschen nicht unwesentlich sein kann, muß um Jahrtausende

zurückgehen auf frühgeschichtliche Wurzeln, die vor jeder

literarischen Überlieferung liegen. Was die Wissenschaft des Spatens

an Felsenzeichnungen, Gräberfunden und Ausgrabungen alter Siedlungen

ans Tageslicht fördert, stellt keine Literatur dar, wohl aber

Kulturdenkmäler, die von dem Seelenleben des Menschen, dem sie

entstammen, Zeugnis ablegen. Durch das Weiterleben des Ahnenerbes

kultischer Urformen im Brauchtum des Volkes findet sich eine

schon von den Romantikern geahnte Vermittlung zwischen Altertumskunde

und Literaturgeschichte, wie sie neuerdings für die Genesis

des mittelalterlichen Dramas fruchtbar gemacht wird (Höfler, Stumpfl,

Wolfram). Damit ist der Bereich der Literaturgeschichte erstreckt in

Zonen, in denen es noch keine Literatur gab.



Umgekehrt wachsen Gebiete, die noch kaum Geschichte sind, ihr |#f0074 : 50|



zu, wenn die Darstellung des Weltkriegs in der Gegenwartsliteratur

zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht wird

(Cysarz, Pongs). Konnte man früher bezweifeln, ob die Dichtung der

Lebenden überhaupt wissenschaftlicher Behandlung zugänglich sei

und nicht vielmehr vorläufig nur den Gegenstand einer wandelbaren

Kritik bilde, so mag das für in voller Entwicklung befindliche Dichterpersönlichkeiten

nach wie vor gültig sein, aber nicht für diesen ungeheuren

Erlebnisstoff und seine Probleme. Der ist abgeschlossen,

und die Beobachtung, wie solches Geschehen allmählich entstofflicht,

symbolisiert, zum Mythos umgebildet wird, bietet eine einzigartige

Gelegenheit, nicht nur das Verhalten der verschiedenen Völker gegenüber

gleichartigem Erleben zu vergleichen, sondern auch Rätsel der

Urzeit, die in der Entstehung großer Heldensagen und Volksepen

gegeben sind, durch erlebte Analogie der Lösung näherzubringen.



Vor allem aber hat der Existenzkampf des Weltkriegs und seiner

Nachwirkungen Völker und Menschen der Gegenwart vor Wirklichkeitserkenntnisse

und Fragen des eigenen Seins geführt, die über

ästhetische Maßstäbe hinaus Selbstbesinnung, Gewissensentscheidung,

Glaubensverantwortung und Wertung tiefster Innerlichkeit verlangen.

Eine existentielle Philosophie zieht mit der Ganzheit des Menschen

auch seine Kunst und die ihr gewidmete Wissenschaft in ihren Bereich.

Eine sich als „existentiell“ bezeichnende Literaturwissenschaft

will den ausschließlichen Ästhetizismus des „l'art pour l'art“ durch

die Frage nach der Existenzmöglichkeit des Werkes bekämpfen,

indem sie den Künstler mit seinem ganzen Sein schicksalmäßig eingeordnet

sieht in seinem Volk: „in Rasse und Blut, im Geist der

Ahnen, im Einwirken von Umwelt und Mitwelt, in der Muttersprache,

im Jasagen zum Kulturwillen des Volkes, das ihn trägt, in allen unbewußten

Grundkräften, die die letzten Entscheidungen im Leben

lenken.“ (Pongs.)



Alle Verheißungen geben von den neuen Richtungen vorerst mehr

das Bild dessen, was sie sein wollen, als dessen, was sie heute schon

sind. Die vielseitige Bereicherung und Vertiefung der Wissenschaftsaufgaben

führt dahin, daß von allen Seiten ein neuer Vormarsch in

unentdecktes oder aus dem Auge verlorenes Gebiet beginnt. Wieder

handelt es sich zunächst um Sammlung und Erschließung von

Material; wieder muß Kritik das Wesentliche herausheben; wieder

muß die Gliederung des Ganzen überprüft und im Blickpunkt der

Gegenwart neu geordnet werden; wieder ist Umwertung und erlebnismäßige

Deutung des Einzelnen im großen Zusammenhang des Ganzen

das Letzte.

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Aber was vom großen Organismus der Nationalliteratur gilt, ist in

seiner Art auch Erfordernis gegenüber dem Mikrokosmos des in sich

geschlossenen Einzelwerkes. Für dessen Aneignung bleibt in sammelndem

Erkennen, Echtheitsprüfung, gliedernder Wertung und verstehender

Deutung die gleiche Reihenfolge unabänderlich maßgebend.

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ERSTES BUCH: DAS WERK


ERSTER HAUPTTEIL


ÜBERLIEFERUNG UND AUSWAHL


„Im Anfang war das Wort.“



a) Wesen und Umfang



Die fortschreitende Sublimierung der geistesgeschichtlichen Aufgaben,

die zur Sicht metaphysischer Probleme aufsteigt, könnte es

beinahe vergessen lassen, daß die Literaturwissenschaft ihr Arbeitsmaterial

nicht unmittelbar im Geist, sondern zuerst im Buchstaben

findet. Nach Ausgangspunkt und Grundlagen kann sie nichts anderes

sein als Wissenschaft von der Literatur, Erforschung des Geschriebenen

und seiner Zusammenhänge. Der Gegenstand besteht aus Wortkunstwerken,

die in Handschrift oder Druck überliefert sind.



Neben der Literatur stehen Sage, Märchen und Volkslied, die in

mündlicher Übertragung sich fortpflanzen. Sie können schon einmal

Literatur gewesen sein und werden es aufs neue, sobald sie zur Aufzeichnung

kommen. Dabei wahren sie aber ihre eigene literarische

Form, die sich aus der ursprünglich mündlichen Überlieferung erklärt.



Außerhalb der Literatur steht das Brauchtum, aus dem derartige

Volksüberlieferung hervorgegangen ist. Dieser vorliterarischen Voraussetzung,

die bis in die Frühgeschichte und Vorgeschichte zurückgeht,

steht endlich eine nachliterarische Wirkung gegenüber, bei der

es sich um Werke handelt, die einmal überliefert waren und inzwischen

verloren gingen. Uralte Heldendichtung kann mit ihren

ethischen Idealen erziehend und formend auf den Volksgeist weitergewirkt

haben, aus dem sie hervorging. Was sich aber von dem geschichtlichen

Nachleben aller verlorenen Dichtung, sei es, daß sie der

frühesten oder einer späteren Zeit angehörte, erfassen läßt, ist lediglich

literarische Überlieferung, Niederschlag des Eindrucks in Ruhm

oder Klage, in Nachahmungen oder Gegenbildern.



Wie die Wortkunst selbst, so führt der Gang der ihr gewidmeten

Forschung nach und nach dahin, alles Geschriebene, das Bedeutung

hat, zur Vervielfältigung zu bringen; wir scheinen uns also einem

Zeitpunkt zu nähern, da die Literaturwissenschaft es im wesentlichen |#f0077 : 53|



nur noch mit Gedrucktem zu tun haben wird. Der einzelne Forscher

mußte sich von jeher die wissenschaftliche Bearbeitung und dauernde

Benutzung der Manuskripte durch Abschriften sichern; an deren

Stelle tritt neuerdings das leichter zu beschaffende und zuverlässigere

Hilfsmittel der Photokopie. Der Gemeinschaftsarbeit wird das handschriftliche

Material dagegen erst zugänglich durch Faksimilierung,

und die letzte, endgültige Form des Weiterlebens aller Texte ist die

mit wissenschaftlicher Kritik geprüfte Druckausgabe. Fast scheint es

also, daß bei dieser Entwicklung der Arbeitstechnik, bei dieser ständigen

Metamorphose von Wort in Schrift und Schrift in Druck das

Fundament der Literaturwissenschaft am sinnfälligsten durch das holländische

Wort „Letterkunde“ umschrieben wäre.



Allerdings bleibt neben der schriftlichen Überlieferung noch eine

mündliche, die sich nicht nur auf die Volkskunde beschränkt; sie

kann auch im Einzelnen weiterleben als Erinnerung an gesungene

Lieder oder erzählte Märchen der Kindheit, an Improvisationen eines

Dichters, an den Vortrag eines Redners, an die Kunst eines Sprechmeisters,

an das Erlebnis eines Schauspiels. Es gibt also die verschiedenartigsten

Vermittlungsmöglichkeiten eines ungedruckten Textes.

Aber für wissenschaftliche Behandlung braucht das Gedächtnis

des einzelnen eine Stütze, und die Mitarbeit der vielen benötigt eine

zuverlässige Vorlage. Auch bei der mündlichen Überlieferung ist es

also nicht anders: jeder Text tritt in den Bereich wissenschaftlicher

Betrachtung erst dadurch, daß er aufgezeichnet wird, sei es von dem

Vortragenden selbst, sei es von bestellten Stenographen, sei es von

einem Herausgeber zum Zweck der Veröffentlichung. Auch die Schallplattenaufnahme

eines Volksliedes, die dem Eindruck mündlicher

Überlieferung durch mechanische Vervielfältigung Dauer gibt, wird

dem Studium erst erschlossen durch Übertragung der Worte und Töne

in Buchstaben und Noten.



Selbst ein Theaterstück kann, indem es gespielt wird, nicht zur

Literatur gerechnet werden, sondern gehört einem eigenen Kunstgebiet

an, auf dem vielerlei andersartige künstlerische Kräfte mitwirken,

nicht nur im Dienste der Dichtung, sondern mit dem Anspruch,

als eigenschöpferisch anerkannt zu werden. Als nichtliterarische

Produktionsform steht das Theater in ähnlichem Verhältnis

zur dramatischen Dichtung wie Liedvertonung und Gesang zur Lyrik,

Buchillustration und Verfilmung zum Roman. Aber Bühnenmanuskript

und Liedtext fügen sich in die Literatur ein, sobald sie als Aufzeichnungen

zugänglich werden. Dabei enthält das Buchdrama ebenso wie

das Bühnenmanuskript allerdings in seinen der Vorstellung (im dopdelten |#f0078 : 54|



Sinne: des Theaters und der Leserschaft) gewidmeten Regiebemerkungen

einen eingeklammerten Nebentext, der auf der Bühne

nicht gesprochen, sondern gespielt wird und deshalb streng genommen

nicht zur dramatischen Dichtung als Wortkunst gehört. Man erkennt

daraus, daß nicht alles im Dienst der Kunst Geschriebene literarisches

Kunstwerk ist; wohl aber bleibt es gewiß, daß alles, was Gegenstand

der Literaturwissenschaft bildet, einmal geschrieben sein muß. Literatur

ist Sprache gewordener Geist, aber sie ist zugleich Schrift gewordener

Sprachausdruck.



So befindet sich das Wortkunstwerk in einem Schwebezustand

zwischen Buchstabe und Geist. Es gleicht dem Fesselballon, den wir

zur Erde herunterholen müssen, ehe wir mit ihm aufsteigen. Vor

der ersten Fahrt liegt die leere Hülle (nichts anderes ist die buchstäbliche

Überlieferung) auf dem Boden ausgebreitet und muß geprüft

und geflickt werden, damit sie die Zuverlässigkeitsprobe der Dichtigkeit

bestehen kann. Je älter die Hülle ist, desto mehr Flickarbeit

muß geleistet werden. Mit der pneumatischen Füllung tritt erst die

Struktur in Erscheinung. Der Gehalt gibt Form; die Form öffnet sich

dem Gehalt. Und schließlich wird der Aufstieg zum Erlebnis. So weit

indessen da oben der Blick in die Welt reicht, so ist der Himmelfahrt

schließlich doch durch gefesselte Erdgebundenheit eine Grenze gezogen.

Wird die Fessel abgeschnitten, so entschwebt das Fahrzeug in

den Äther, um schließlich, wenn es gut geht, aus der dünnen Eisluft

der Stratosphäre verschrumpft und ausgepumpt zurückzukehren.



Damit ist gleichnishaft der Weg gewiesen, der von der überlieferten

Schrift zur emportragenden Sprache und vom Aufschwung der

Sprache zum Ausblick ins geistig Bedeutsame vordringt. Die erste

Etappe ist bei unverständlichen Schriftzeichen und Lauten einer toten

Sprache zunächst technische Entzifferungsaufgabe der Sprachwissenschaft

oder der Völkerkunde. Bei Texten, deren äußeres sprachliches

Verständnis keine Schwierigkeiten bereitet, ist die erste Interpretation

bereits eine Sache der Vortragskunst, die Klanggebung mit Sinndeutung

vereinigt. Auch das stille Lesen ist eine Reproduktion, eine

stumme Vortragskunst ohne Zuhörer, die nach innen gerichtet ist und

sowohl Klanggebung als Sinndeutung an das innere Gehör und die

innere Anschauung vermittelt. Beides gehört zum Verstehen, das nun

von unbewußter Eingebung zur bewußten Klarheit wissenschaftlicher

Kunsterkenntnis gesteigert werden kann. Dazu gehört allerdings die

Heranziehung weiterer Literatur, die nicht mit dem Werk selbst überliefert

ist. Dieser Ballast füllt die dem Ballon angehängte Gondel,

die alle Apparate der Beobachtung enthält. Da sind die Lebenserzeugnisse |#f0079 : 55|



des Verfassers, die Briefe, Tagebücher und aufgezeichneten Gespräche

ausgebreitet, die seine noch ungestalteten Erlebnisse verraten

und seine Absichten kundtun. Seine Vorarbeiten sind erhalten;

dabei stellen sich andere Schöpfungen und Pläne desselben Dichters

zum Vergleich, und zu ihnen gesellen sich die Werke von Vorgängern

und Zeitgenossen, mit denen er in Zusammenhang stand. Um das

Werk schart sich außerdem der Kreis seiner Kritiker. Endlich ist

das, was im besonderen Sinn als zum Gegenstand gehörige „Literatur“

bezeichnet wird, zu berücksichtigen; als orientierende Karten dienen

die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über das Werk; sie sind

die Protokolle früherer Auffahrten.



Soll ein literarisches Kunstwerk in dem von Herder verlangten

historischen Sinne aus dem Geist seiner Zeit verstanden werden, so

gehört dazu ferner die ganze geistige Umwelt und Bildungsatmosphäre,

in der der Verfasser gelebt hat; nicht nur, was er gelesen hat an

theologischen, philosophischen, ästhetischen und geschichtlichen Werken,

die zum Aufbau seiner Weltanschauung beitrugen, sondern auch.

was er gesehen und gehört hat an Landschaftseindrücken, an bildender

Kunst und Musik; was ihm Erlebnis wurde an religiösen Krisen

und Erschütterungen des Zeitalters; was er erfuhr in der Gesellschaft

der Menschen; was ihn bewegte im Gefühl politischer Gemeinschaft

oder in Sehnsucht nach einer solchen oder in tragischer Vereinsamung,

die er als Schicksal mit anderen Zeitgenossen teilte. Was in allen

Lebens- und Ausdrucksformen als gleichgerichtet zu erkennen ist,

darf als symptomatisch für den Zeitgeist angesehen werden, aus dem

das Werk zu deuten ist. Auch die sprachliche Kunstform muß als Stil

in diese Abhängigkeit einbezogen werden.



Wenn dagegen in umgekehrter Richtung nicht der Zeitgeist zur

Erklärung des Werkes, sondern das Werk zur Erkenntnis des Zeitgeistes

herangezogen wird, ändert sich die wissenschaftliche Fragestellung.

Gelangt nur die geistige Quintessenz zur Auspressung,

während die Schale wegfällt, so ist die Frucht zerstört; die Kunstform

der sprachlichen Überlieferung ist aufgegeben, um ein in ihr

verborgenes Gedankensystem zu enthüllen, das begriffen und umschrieben

werden muß in anderer Sprache als der der Dichtung. Bei

Lehrdichtungen, in denen die Kunstform tatsächlich nur das Organ

philosophischer Ideen war (Parmenides, Lukrez), tut diese philosophische

Auswertung dem Werk kein Unrecht. Aber meist haben die

Dichter selbst gegen solche Einschätzung Einspruch erhoben. So wollte

Schiller seine Gedankenlyrik nicht als Philosophie in Versen, sondern

als Dichtung angesehen wissen. Und noch strenger ist Stefan George |#f0080 : 56|



für das Wesentliche der sprachlichen Gestalt eingetreten: „Den Wert

der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit,

Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Äußerliches,

sondern jenes Tieferregende in Maß und Klang, wodurch zu

allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren,

den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben.“



Bleiben wir zunächst bei der Überlieferung des einzelnen Werkes

und sehen von allen Trabanten, die ihm beigeordnet sind, ab. Mit

der Aufnahme durch den Leser gelangt es, wie Roman Ingarden in

seiner scharfsinnigen phänomenologischen Untersuchung gesagt hat,

zur „Konkretisierung“, die einen Mittelzustand zwischen Idealität

und Realität darstellt. In zahllosen Konkretisierungen kann das Werk

ebenso wie in der vielfältigen Überlieferung Wandlungen durchmachen,

die ein Beweis seines Lebens sind. Aber welches ist seine

eigentliche Seinsweise? Man hat gesagt, daß die Dichtung in den Erlebnissen

und der Konzeption des Dichters ihre ideelle Existenz habe

und in der Aufnahme durch den Leser sie wiedergewinnen müsse.

Das würde bedeuten, daß die Sprachgestalt, die der Dichter seinem

Werk gegeben hat, unter seinem Wollen geblieben sei, was neuplatonischer

Auffassung entspricht und mit gelegentlichen Klagen Goethes

über die Unvollkommenheit der Sprache übereinstimmt. Aber der

Leser ist am wenigsten imstande, diese Unvollkommenheit zu heilen.

Tatsächlich wird die Dichtung zum Kunstwerk erst in der Sprachform,

und oft bestätigt sich sogar in ihrem Werden, was Heinrich

von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

beim Reden“ beobachtet: „L'idée vient en parlant.



Man hat auch ungeschrieben gebliebenen Dichtungen einen existentiellen

Wert beimessen wollen, und in der Tat mögen sie, was unkontrollierbar

bleibt, bei manchem mittelmäßigen Dichter seine besten

gewesen sein oder bei frühverstorbenen Genies das Beste zu werden

versprochen haben. Aber wenn wir von Plänen der größten Dichter

nur Titel oder skizzenhafte Szenare haben, so kann diese Überlieferung

lediglich durch Beziehung zu anderen ausgeführten Werken

literarischen Wert gewinnen; allenfalls auch durch einen Einblick in

die Arbeitsweise, der zu Analogieschlüssen auf die Entstehung anderer

Werke berechtigt. Daß Lessing eine „Virginia“ plante, hat Bedeutung

für die spätere „Emilia Galotti“. Daß Goethe in Italien an

eine „Iphigenie in Delphi“ dachte, beleuchtet in gewissem Sinne das

Ende der „Iphigenie in Tauris“. Daß Schiller in seinen Titelverzeichnissen

„Der sich für einen andern ausgebende Betrüger“ notierte,

zeigt, in welcher Weise er schon vor der Stoffindung um die Probleme |#f0081 : 57|



des „Demetrius“ und „Warbeck“ kreiste. In Kleists „Peter der Einsiedler“,

von dem wir nur den Titel überliefert haben, gewinnen wir

durch den Stoffkreis eine Vorstufe zum „Robert Guiskard“. Aber gar

nichts anfangen können wir mit der Nachricht über einen ausgeführten

zweibändigen Roman Kleists, solange das Manuskript nicht auftaucht.

Das Suchen nach solcher verlorenen Handschrift zieht oft

dilettantische Mißgriffe nach sich und läßt Kuckuckseier in das Nest

des Dichters gelangen, wie es mit der Unterschiebung von Weidmanns

„Faust“ bei Lessing, des Altonaer „Josef“ beim jungen Goethe oder

Tiecks „Vittoria Accorombona“ bei Kleist geschehen ist. Mit der

Widerlegung solcher Fehlfunde hat sich die Forschung dann eine

Zeitlang zu beschäftigen, und diese an sich unfruchtbare Arbeit kann,

wie es beim „Josef“ der Fall war, wenigstens die Methode der Verfasserbestimmung

fördern. (Vgl. S. 79 f.)



Die halb psychologistische, halb mystische Theorie, die das Sprachkunstwerk

nur als Medium und Brücke zwischen der Phantasie des

Dichters und dem Wiederaufbau in der Phantasie des Lesers gelten

lassen will, muß die eigentliche Dichtung als unerreichbares Ding an

sich auffassen. Denn wenn die Tatsache des unterschiedlichen Verstehens,

die als Ungleichheit aller Konkretisierungen in Erscheinung

tritt, eine vollkommene, objektive Gleichstellung zwischen Leser und

Dichter ausschließt, so kann auch der Literarhistoriker bei aller Einfühlungsgabe

und Fähigkeit zur Nachdichtung, die von ihm verlangt

wird, nicht die Identität mit dem Schöpfer erreichen, die dazu nötig

wäre, das Ideal, das in der Seele des Dichters lag, herauszuarbeiten.

Er hat sich an das zu halten, was ihm zugänglich ist, und das sind

zunächst die überlieferten Texte. Sie stellen Papiergeld dar, Schatzanweisungen

und Wechsel, die einzulösen und als gemünzte Werte in

Umlauf zu setzen sind; aus der Papierform lebloser Buchstaben, in

die sie einfroren, müssen die Literaturwerke befreit werden. Die

lebendige Sprachform, die ihren Sinn und Wert erschließt, ist wiederherzustellen.

Die schriftliche Überlieferung ist eine Verpuppung, ein

Schlummerzustand der Literatur. Die Bibliotheken sind also nicht

nur Schatzkammern, sondern Schlafkammern für die Schriftwerke,

die darauf warten, geweckt zu werden. Manche sind immer wach und

lebendig; manche sind schlafwandelnd unterwegs; manche treten wie

die Siebenschläfer der orientalischen Legende erst nach tausend

Jahren aus ihrer Höhle; manche sind in ewigen Schlummer versenkt

und durch den Lethestrom der Vergessenheit vom Leben getrennt.



Der Bibliothekswissenschaft fällt der Wachdienst zu, der alles

Schrifttum mit gleicher Sorgfalt betreut. Die Literaturwissenschaft, |#f0082 : 58|



die den Weckruf erschallen läßt, hat nur den einen Flügel der

Bücherkaserne unter sich, in dem die schöne Literatur untergebracht

ist. Der Weckruf ertönt in verschiedenen Sprachen, und nun gruppieren

sich die Literaturen der einzelnen Länder. Das Kommando

fällt jetzt an die einzelnen Literaturgeschichten. An Stelle der alphabetischen

Anordnung des Bücherkatalogs tritt eine Musterung nach

dem Größenverhältnis oder eine Einteilung nach Gattungen oder eine

historische Reihenfolge nach dem Lebensalter der Dichter oder nach

dem Geburtsjahr der Bücher. Die Perioden werden formiert. Aber

nun zeigt sich, daß keine uniformierte Truppe beieinander steht,

sondern daß die sprachliche Montur auch des einzelnen Kulturkreises

in Farbe und Schnitt sehr mannigfaltig ist, unterschieden nicht nur

durch die Perioden der Sprachentwicklung, sondern innerhalb derselben

auch durch Mundart und fremden Sprachanteil.



Auf deutschem Boden ist mancherlei fremdsprachliche Literatur

erwachsen, die man durchaus als Erzeugnis deutschen Geistes und

Blutes würdigen muß. Zeitweilig hat die römische Dichtung deutscher

Nation sogar ein Übergewicht gehabt wie in der ottonischen Renaissance,

da Stoffe deutscher Heldensage und Motive deutscher Märchen

(Waltharius, Ruodlieb) in lateinische Hexameter gebracht wurden.

Gerade die stärksten nationalen Regungen haben auch in der

Hohenstaufenzeit (Archipoeta, Tegernseer Antichrist) wie später bei

den Humanisten und Neulateinern (Wimpheling, Hutten) das fremde

Gewand umgetan. Auch französische Literatur ist auf deutschem Boden

gepflegt worden, nicht nur von Refugiés und herbeigeholten Philosophen,

sondern von Leibniz und Friedrich dem Großen. Ja, noch

Dichter unserer Zeit wie Stefan George und Rilke haben sich in englischen

und französischen Gedichten versucht, die sie dann zum Teil

selbst wieder ins Deutsche übersetzten. Wiederum haben Schriftsteller

ausländischer Herkunft, z. B. der geborene Franzose Adalbert

von Chamisso, der Engländer H. St. Chamberlain, der Italiener Silvio

di Casanova nur in deutscher Sprache gedichtet. Die Wahl der Sprache

war in diesen vereinzelten Fällen Ausdruck einer Gesinnung, kraft

deren sie in besonderem Maße der deutschen Literatur zuzurechnen

sind.



Andere Literatursprachen haben ausgebreitetere Weltgeltung, aber

sie sind nicht mehr von einem einheitlichen Volkstum getragen. Die

Dichtung des erdumspannenden englischen Kolonialreichs, des ehemaligen

wie des jetzigen, läßt sich nicht mehr in einer englischen

Literaturgeschichte zusammenfassen. Wohl besteht noch eine Spracheinheit,

obwohl Sonderentwicklungen bemerkbar sind; aber die |#f0083 : 59|



geistige Einheit ist gelockert; es trennen sich die Erdteile und die

Rassen; die englische Literatur Amerikas, Indiens, Australiens beginnt

sich in bodenständiger Eigenkultur zu verselbständigen. Gleiches gilt

vom spanischen und portugiesischen Südamerika. Dagegen kann die

auslanddeutsche Dichtung, die fern vom geschlossenen Sprachgebiet

ihr Leben führt, der deutschen Literaturgeschichte einverleibt bleiben,

und zwar nicht nur in einzelnen Vertretern, die noch mit dem Mutterland

in enger Beziehung stehen, sondern in Stadt- und Adelskulturen,

wie in den ehemaligen russischen Ostseeprovinzen, und in bäuerlichen

Volkstumsgruppen, die in Südrußland, in Siebenbürgen, in Pennsylvanien,

in Texas mit Sprache, Brauch und Sitte auch ihr altes Lied

sich erhielten. Diese deutsche Literatur fremder Länder kann trotz

der geographischen und politischen Ferne in ihrer konservierenden

und produzierenden Funktion noch als Ausstrahlung der deutschen

Nationalliteratur betrachtet werden. Andererseits besteht aller Anlaß,

daß eine Geschichte der amerikanischen Nationalliteratur, sobald sie

einmal in großem Umfang geschrieben wird, die Einwandererdichtung

mitberücksichtigt.



Ein schwieriger Grenzfall stellt sich dar, wenn Auswanderer die

Laute ihrer Heimat aufgegeben haben, ohne daß die Sprache ihres

Blutes damit ausgelöscht werden konnte. Als Nachwirkung der Völkerwanderung

macht sich in Kunst und Literatur des Südens noch jahrhundertelang

das Blut der Goten, Vandalen, Langobarden und anderer

germanischer Stämme bemerkbar, die in fremdem Volkstum aufgegangen

sind. Nicht anders ist es mit Normannen und Burgundern in

Frankreich. Die Feststellung der Rassenmerkmale dieser verlorenen

Söhne des germanischen Geistes fällt in den Bereich der Romania.

Die deutsche Literaturgeschichte dagegen muß suchen, auf ihrem

Sprachgebiet das fremdstämmige Element zu erkennen. Es handelt

sich dabei nicht nur um Schriftsteller jüdischen Blutes, deren Rasse

in Weltanschauung und Stil am leichtesten bemerkbar sein wird, sondern

auch um romanische oder slavische Abkunft (Moscherosch, de

la Motte Fouqué, Fontane, Nietzsche), deren Wesensart Fremdartiges

analysieren läßt und in der Blutmischung ihre Erklärung findet.



Eine Zugehörigkeit zu mehreren Nationalliteraturen kommt den

Werken zu, die durch künstlerische Neuschöpfung in einer anderen

Sprache Bürgerrecht erhalten haben. Sie gehören nach ihrem geistigen

Gehalt dem Lande ihres Ursprungs an, nach ihrer letzten sprachlichen

Form dem Lande, das sie zu Gaste lud. So wenig Homer, Shakespeare,

Dante durch Übersetzungen eine Beeinträchtigung ihres Platzes

in der griechischen, englischen und italienischen Literatur erfahren, |#f0084 : 60|



so wenig auch die meisterhafteste Übertragung vollen Ersatz für

das Original bieten kann, so wenig kann man die Leistungen der Voß,

Schlegel, Regis, Gildemeister und anderer aus der deutschen Literaturgeschichte

streichen.



Anders steht es mit den fingierten Übersetzungen, die vom großen

Einfluß bestimmter fremder Dichter Zeugnis ablegen. Wenn Wilhelm

Häring seine ersten Romane unter dem Namen Walter Scott erscheinen

ließ, während Balzac eine seiner früheren Erzählungen als Werk

Hoffmanns ausgab, so bedeuten diese Tatsachen weniger Fälschungen

als Zugeständnisse einer bis zur Nachahmung gehenden Abhängigkeit.

Mit Auflösung des Pseudonyms ist die auf den Verfasser selbst

zurückgehende Überlieferung berichtigt, ohne daß die Literaturen,

denen die Namen Scott und Hoffmann angehören, mehr damit zu tun

haben, als daß sie starke Ausstrahlungen ihrer Wirkung zu buchen

berechtigt sind.



b) Beschränkung der Überlieferung



Das Ergebnis der ersten äußerlichen Abgrenzung, die dem Material

der literarhistorischen Forschung zuteil werden kann, besteht darin,

daß das Gebiet der Literaturwissenschaft sich in so viele Literaturgeschichten

aufteilt, als es Literatursprachen gibt. Jede Nationalliteratur

hat den Einklang von Sprache und Volkstum zum Kern,

aber Sprache und Volkstum brauchen so wenig wie Blut und Boden

sich immer vollständig zu decken. Es gibt Kolonien auf fremder Erde

und Minderheiten im Mutterlande; es kann sowohl nationaler Geist in

fremder Sprache seinen Ausdruck gefunden haben als fremder Geist

in der Nationalsprache.



Voraussetzung dieser Abgrenzung ist die Beschränkung auf Dichtung

und schöne Literatur. Die Wortkunstwerke, nicht die Spracherzeugnisse

überhaupt bilden den Gegenstand. Aber wo ist die

Scheidelinie? Hier hat sich die literaturwissenschaftliche Methodenlehre

ziemlich erfolglos bemüht, zu einem eindeutigen Ergebnis zu

gelangen. Der Rumäne Michel Dragomirescu behilft sich in seinem

an französischer Literaturästhetik orientierten dreibändigen Werk

„La science de la littérature“ mit einer Dreiteilung von „œuvres

pratiques“, „œuvres artistiques“ und „chefs d'œuvre“. Bei der ersten

Klasse handelt es sich um alle Zweckliteratur, also auch um Werke

der Wissenschaft. Sie vermitteln geistige Werte unter Aufwand von

mehr oder weniger Sprachkunst, und manche Geschichts- oder Lebensdarstellung

kann ihrer Form nach vollen Anspruch erheben, als |#f0085 : 61|



Kunstwerk angesehen zu werden. Es bleibt trotzdem fraglich, wie

weit solches Schrifttum in den Bereich der Literaturwissenschaft gezogen

werden kann. Den weitesten Rahmen hat wohl die „Cambridge

History of English Literature“ (14 Bände, 1907─16) gespannt, indem

sie „the literature of science and philosophy, and that of politics and

economics; parliamentary eloquence; the work of schools and universities

and libraries; scholarship; the pamphlet literature of religious

and political controversy; the newspaper and the magazine, the

labours of the press and the services of booksellers; homely books

dealing with precept and manners and social life; domestic letters

and street songs; accounts of travel and records of sport“ in ihre

Gemeinschaftsarbeit einbeziehen wollte. Dieses Programm greift auf

dem Gebiet der Nationalliteratur nicht weniger weit aus als seinerzeit

auf dem Gebiet der Weltliteratur jene polyhistorische Göttinger „Allgemeine

Geschichte der Künste und Wissenschaften“ (1796 ff.), die

die schönen Redekünste aller Länder zur allgemeinen Überschau zu

bringen bemüht war (vgl. oben S. 28).



Sollte solche Darstellung in der Hand eines einzelnen bleiben, so

dürfte, wie Ernst Elster bemerkt, der Literarhistoriker oder vielmehr

der universale Geistes- und Kulturgeschichtler, der an seine Stelle zu

treten hätte, einer selbständigen Würdigung aller wissenschaftlichen

Werke vom Standpunkt des betreffenden Faches aus unmöglich gewachsen

sein. Ein solcher Querschnitt aus der universalen Kulturgeschichte

steht außerdem vor ähnlichen darstellerischen Unmöglichkeiten

wie die universale Literaturgeschichte, die dasselbe Gebiet im

Längsschnitt zu durchmessen hätte. Für eine Behandlung als Selbstzweck

innerhalb der Literaturgeschichte können Erscheinungen reiner

Wissenschaft, wenn sie auch noch so epochemachend für ihr Zeitalter

und noch so symptomatisch für den Zeitgeist waren, nicht in Betracht

kommen. Wie weit die Erfindung der Infinitesimalrechnung Leibniz

oder Newton zuzuschreiben ist, gehört weder in die deutsche noch in

die englische Literaturgeschichte. Aber als Gesamterscheinung kann

der Verfasser der „Theodicee“ und „Monadologie“ unmöglich ausgeschlossen

werden, und die intensive Beobachtung der Spiegelung,

die diese geistesgeschichtlichen Taten in der Dichtung gefunden

haben, macht sie zum Gegenstand nicht eines philosophischen Exkurses,

sondern zwingt dazu, sie in eine Schau literarhistorischer Tatsachen

einzufügen.



Während Scherer in seiner Anzeige der Hettnerschen Literaturgeschichte

des 18. Jahrhunderts verlangt hatte, daß die Geschichte

der Wissenschaften in die Literaturgeschichte hineinbezogen werde, |#f0086 : 62|



kam später seine eigene Darstellung dieser Forderung kaum nach,

aber Richard Heinzel übte trotzdem an der Literaturgeschichte seines

Freundes Kritik, weil sie nicht reine Kunstgeschichte im Sinne

Winckelmannscher Stilperiodisierung, sondern Geschichte des geistigen

Lebens geboten habe. Ein ähnlicher Standpunkt ist neuerdings häufiger

vertreten worden, indem man den Ausdruck Literaturgeschichte

durch „Dichtungsgeschichte“ zu ersetzen vorschlug. Das bedeutet nicht

nur Eindeutschung; als solche hätte das Wort „Geschichte des Schrifttums“

genügt; sondern es sollte ein Gegenstück zu Kunstgeschichte

und Musikgeschichte sein. Dabei wurde aber zu wenig beachtet,

wieviel enger als jene Künste die Dichtung mit philosophischer und

religiöser Literatur durch gleiche Themen und gleiche sprachliche

Ausdrucksmittel verbunden ist. Auf geistesgeschichtlicher Seite setzte

denn auch der lebhafteste Widerspruch ein bei Rudolf Unger und

besonders bei Herbert Cysarz, der an Stelle der „törichten Trennungsversuche“

die fortschreitende Erkundung der Wechselbeziehungen

treten lassen will als „Einsicht, daß jegliches Bild der Dichtung an

letzten Erkenntniswerten, zumindest letzten Fragen der Erkenntnis

teilhabe, daß anderseits jegliche Philosophie, jegliche Wissenschaft

des Menschen und der Welt, auch die ästhetische Sphäre einschließe“.



Das führt zu Fragen der Deutung und Darstellung, die späteren

Erörterungen vorzubehalten sind. Um was es sich zunächst handelt,

ist die Abgrenzung des überlieferten Stoffes, wobei das Verhältnis

zwischen „Dichtung“ und „Literatur“ zu klären ist. „Literatur“ gilt

selbst in der Fassung „schöne Literatur“, die einen Abstand von der

„wissenschaftlichen Literatur“ herstellt, allgemein als der weitere

Begriff, so daß alle Dichtung als schöne Literatur, aber keineswegs

alle schöne Literatur als Dichtung genommen wird. Ein davon abweichender

Versuch Hermann Hefeles, Dichtung als persönliche und

private Angelegenheit eines liberalistischen Subjektivismus, Literatur

dagegen als Ausdruck des volkhaften Gemeinschaftserlebnisses zu

erklären mit dem Verlangen, daß alle Dichtung Literatur werde,

widersprach so vollständig dem herkömmlichen Sprachgebrauch, daß

er sich nicht durchsetzen konnte.



Allerdings ist eine Erweiterung des Begriffes „Dichtung“ geschichtlich

zu beobachten. Die augenfällige Trennung von metrischer und

prosaischer Sprachform spielt heute nicht mehr die Rolle wie in

früherer Ästhetik. Noch Joh. Joach. Eschenburgs „Theorie und Literatur

der schönen Wissenschaften“ (1789) sonderte beispielsweise

den Roman von den epischen Dichtungsarten ab und stellte ihn mit

Charakteren, Biographien und Historie zusammen zur Rhetorik. |#f0087 : 63|



Dieser dritten Hauptgattung wurde die gesamte Kunstprosa zugerechnet.

Auch Schiller hat den Romanschreiber nur als Halbbruder des

Dichters gelten lassen wollen, Bernhardis „Sprachlehre“ nannte die

Form des Romans halbpoetisch, und noch Paul Ernst sprach vom

Roman als Halbkunst. Dagegen schreibt ein Dichter unserer Tage,

wie Erwin Guido Kolbenheyer, dem Naturalismus das Verdienst zu,

den Roman zur Dichtung gemacht zu haben, und Oswald Spengler

hielt ihn für die größte Wortkunstform des Jahrhunderts. Ist in dieser

Richtung der Begriff erweitert, so hat er umgekehrt eine Verengerung

erlebt, indem aller lehrhafte Reimgebrauch mehr und mehr aus

der als Ausdrucksform begriffenen Dichtung ausschied. Es wird deutlich,

daß nach Kriterien der äußeren Sprachform keine Unterscheidung

zu treffen ist.



Der Abgrenzung von „Dichtung“ und „Literatur“ hat Benedetto

Croce jüngst ein eigenes Buch gewidmet, nachdem er alle möglichen

Werke der Ästhetik, Poetik und Rhetorik vergebens nachgeschlagen

hatte, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Was er selbst beiträgt,

dürfte auch noch keine endgültige Lösung darstellen. Der Dichtung

als innerlicher Weltschöpfung, die alle Teile zu einem harmonischen

Ganzen verknüpfend, aus der Enge des Endlichen ins Unendliche

hinüberträgt und dem einzigen Kriterium der Schönheit unterworfen

ist, wird die „espressione letteraria“ als eine auf gesellschaftlichen

Grundlagen beruhende Geistesform anderer Art gegenübergestellt;

daneben findet noch eine prosaische, eine rednerische, eine

empfindsame und eine leidenschaftliche Ausdrucksform der Sprache

ihren Platz. Praktisch aber bleibt die schon früher vertretene Auffassung

in Geltung, daß nur die schöpferischen Geister zur Geschichte

der Dichtung gehören. Für die überragenden eigenschöpferischen

Werke, die über alle nationale und zeitliche Gebundenheit erhaben

sind, bleibt die ästhetische Methode anwendbar, die das Große vereinzeln

muß oder allenfalls miteinander vergleichen kann, aber es

nicht nach seinen Ursprüngen zu begreifen sucht. Wenn dabei die

historische Betrachtungsweise ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann

man dann eigentlich von Geschichte der Dichtung sprechen? Die von

Croce anerkannte „storia della poesia“ ist angewandte Ästhetik, aber

keine Geschichte. Anders darf es bei den kleinen Geistern sein; alle

Werte, die zeitlich und räumlich gebunden sind, sollen nach historischer

Methode behandelt werden; dafür sind sie aber nicht der Dichtungsgeschichte,

sondern der Geschichte der Kultur, der Neigungen

und der Zielsetzungen verschiedener Völker zuzusprechen.



Bei solcher Gebietsaufteilung zwischen einer auf geschichtliche |#f0088 : 64|



Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik

hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil

der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen

hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und

Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen;

dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann

es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung

freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als

abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt

sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter

mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen

ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der

Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht

zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die

Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen

Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist.



Mit der ganz anderen Methode einer „Wesensanatomie“ bemüht

sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk

von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem

wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau

sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter

Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden,

nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion

des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile

und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die

Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt

in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich

einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen

Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese

Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen

Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen,

Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien,

Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton.

Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches

Kunstschaffen angesehen zu werden.



Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung

die Belletristik, also die „schöne Literatur“ im engeren Sinne,

ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung

Dragomirescus von „œuvres pratiques“, „œuvres artistiques“ und

„chefs-d'œuvre“ ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine

ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte |#f0089 : 65|



seiner ontologischen Untersuchung jede Spielart des literarischen

Kunstwerkes unterworfen, gleichviel ob „irgendein Kriminalroman

aus einer Zeitung oder ein banales Liebesgedicht eines jungen

Schülers“ vorlägen. Erst nach Bereinigung der allgemeinen Begriffsbestimmung

sollte an die ästhetische Schätzung herangegangen werden.



Soviel erkenntnistheoretische Berechtigung dieses planmäßige Vorgehen

der phänomenologischen Methode haben mag, und so viel Wert

ihm für die Abtrennung der wissenschaftlichen von der schönen

Literatur zukommt, so wenig ist es doch für die Sichtung dessen,

was übrig bleibt, brauchbar; die Praxis der Literaturwissenschaft

kommt bei diesem langsamen Tempo nicht vorwärts. Wir können

nicht beliebige Beispiele herausgreifen, um an ihnen begrifflich zu

experimentieren, sondern wir stehen zunächst der ungeheuren Masse

einer kaum übersehbaren Überlieferung gegenüber, die es zu bewältigen

gilt. Wir müssen von vornherein den Unterschied machen

zwischen Literatur und Makulatur. Damit erkennen wir eine Auslese

an, die bereits die Zeit vollzogen hat. Das schülerhafte Liebesgedicht

kann uns höchstens etwas angehen, wenn der Verfasser später ein

großer Mann geworden ist und wenn sich in den tastenden Anfängen

bereits Merkmale der Genialität erkennen lassen. Wir greifen also

innerhalb der geschichtlichen Folge wieder auf das bibliothekarische

Ordnungsprinzip des Namenkatalogs zurück und fassen das zusammen,

was der Persönlichkeit eines Dichters zugehört und zu ihrem

Ausdruck geworden ist. In diesem Zusammenhang gewinnen auch

Literaturwerke Bedeutung, die man nicht zur Dichtung und vielleicht

nur mit Einschränkung zur schönen Literatur rechnen kann wie

Goethes „Italienische Reise“, seine Winckelmann-Biographie, seine

Cellini-Übersetzung, seine Farbenlehre. Das alles möchte Benedetto

Croce ausdrücklich aus der Geschichte der Dichtung ausgeschlossen

wissen. Wenn wir ihm nicht folgen wollen, so müssen wir an Stelle

solcher Dichtungsbetrachtung, die keine Geschichte ist, den Begriff

einer „Dichtergeschichte“ setzen. Das klingt wie eine Analogie zur

„Künstlergeschichte“, die etwas abseits von der eigentlichen Kunstwissenschaft

ihren Platz hat. Aber bei dem, was wir „Dichtergeschichte“

nennen wollen, handelt es sich nicht um Aneinanderreihung

von Biographien, die der Gesamtbetrachtung ein chronologisches

Material zugrunde legen. Das Leben jedes einzelnen Dichters

braucht nur in Betracht zu kommen, soweit die daraus erwachsenen

Dichtungen zu ihm in Beziehung stehen, aber diese gehaltlichen,

problemhaften und stilistischen Lebenszusammenhänge sind enger

und unlösbarer als bei jeder anderen Kunst. In ihnen beruht nicht |#f0090 : 66|



nur eine zeitliche und ursächliche Folge für das ordnende Verstehen

der aus diesem Leben hervorgegangenen Dichtungen, sondern zwischen

den einzelnen Dichtern, deren Werk unter ihrem Namen als Einheit

zu erfassen ist, bestehen wieder zeitliche, räumliche und kausale Beziehungen

der Schicksalsgemeinschaft, der Wechselwirkung und der

Abhängigkeit; Dichtergruppen schließen sich in räumlicher Nachbarschaft

und zeitlichem Nacheinander zu Gemeinschaften zusammen;

größere Gemeinschaften sind durch Stammeszusammenhänge und

periodischen Wechsel erkennbar; so stellt sich Ineinanderwirken und

Aufeinanderfolge in Dauer und Wechsel schließlich als großer geschichtlicher

Zusammenhang dar. Auf dem Wege über die Dichter

und nur über sie gelangen wir zu einer geschichtlichen Betrachtung

der Dichtung, ohne sie der Kulturgeschichte unterordnen zu müssen.



Aber wo bleibt dann neben der Dichtung die schöne Literatur?

So schwer der Unterschied von Dichtung und Literatur in allgemeingültiger

Begriffsbestimmung zu treffen scheint, so klar liegt eine

andere Trennung vor uns, nämlich die zwischen Dichter und Literat

in bezug auf Persönlichkeit, Berufung und Schaffensweise. Schon das

18. Jahrhundert hat, als ihm der Begriff des Schöpferischen aufging,

den Unterschied zwischen Natur und Geist, zwischen Genie und

witzigem Kopf, zwischen Dichter und Versifikateur gesehen. So Klopstock,

Lessing und Herder, indem sie sich gegen nivellierende Auffassungen

wie die des französischen „bel esprit“ wehrten. Die Situation

wiederholte sich im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, als

Josef Ponten in einem „Offenen Brief an Thomas Mann“ gegen die

Überschätzung des Schriftstellerischen Einspruch erhob. Unter den

mehr als zwanzig Antithesen, durch die er die Begriffe zu klären

suchte, waren einige sehr schlagend, z. B. „Schriftstellerisch: das ist

Gewand und Schneiderkunst; Dichterisch: ist das dem nackten Leib

aufgewachsene Naturgewand“ ─ „Das Schriftstellerische ist Arbeit,

Ernst, Eifer, Geduld, Erfahrung, Wissen, Belesenheit, Reife, Talent,

Geschmack, Zucht, Opfer, Entsagen, Fleiß, Vernunft; das Dichterische

ist nichts als Gnade und Wunder.“ ─ „Das Schriftstellerische ist „Literatur“

in reinster und strahlendster Bedeutung; das Dichterische ist

─ Geheimnis“ ─ „Schriftstellerisch ist Zeit, Dichterisch ist Ewigkeit.“



Alle diese Gegensätze führen auf die wesensverschiedene Art des

äußeren und inneren Berufs, des Geschäftigen und des Schaffenden

zurück. Der Dichter, dessen dämonische Phantasie in der Zauberkraft

neuer Ausdrucksprägung ihre Befreiung findet, bleibt Schöpfer, auch

wo er Literatur schreibt. Dem fingerfertigen Literaten dagegen kann

nie eine wirkliche Dichtung glücken, so geschäftig er sich um die |#f0091 : 67|



Form bemühen mag. Die Werke des Literaten kommen deshalb für

die Literaturgeschichte nur als Literatur zweiten Ranges, als Nachahmungen

oder Gegenbeispiele wirklicher Dichtung in Betracht; die

Werke des Dichters aber, auch wenn sie keine Dichtungen sind, verdienen

um des Verfassers willen in der Dichtergeschichte ihren Platz.



Damit ist es aber noch nicht getan. Auch andere Werke und Begebenheiten,

die weder als Dichtungen noch als Werke eines Dichters

anzusehen sind, müssen Beachtung finden, wenn sie für das dichterische

Schaffen eines großen Einzelnen oder eines ganzen Zeitalters

von einflußgebender Bedeutung waren. Auch sie gehören zu den

zusammenhangvermittelnden Bindegliedern als Voraussetzungen dichterischer

Schöpfung, so wie Kritiken und Nachahmungen als deren

Ausstrahlung sich anschließen.



Kehren wir noch einmal zur Frage nach dem Verhältnis, das

zwischen Dichtung und anderen geistesgeschichtlich bedeutsamen

Werken innerhalb der Literaturgeschichte bestehen kann, zurück, so

ist es Sache der Darstellung, die erst am Schluß des Ganzen erörtert

werden soll, zwischen vier verschiedenen Schichten ein Verhältnis

herzustellen, das auch durch den zur Verfügung stehenden Raum mitbestimmt

wird. Hauptsache bleiben die Werke der Dichter, sie müssen

in jeder Untersuchung und Darstellung in den Vordergrund treten.

Die Werke der Literaten schließen sich an als der Chor, der hinter

den Protagonisten steht. Wenn sie auch keine eigenschöpferische

Bedeutung haben, so legen sie in ihrer Gefolgschaft Zeugnis ab für

die bahnbrechende Wirkung großer Dichtungen und für den stilbildenden

Zug der Zeit. Als drittes kommen alle großen geistigen

Ereignisse außerhalb der Dichtung und schönen Literatur (es kann

sich um religiöse Gemeinschaftserlebnisse, um politische Bewegungen,

um Kunstwerke, Erfindungen, Entdeckungen und Umgestaltungen

des Weltbildes handeln) in Betracht; sie sind repräsentative Symbole

des Zeitgeistes, die die Vorgänge der Dichtung beleuchten und in ihr

sich auswirken. Als viertes ist alle weltanschauliche Literatur an die

Dichtung heranzuziehen, soweit sie Quelle ihrer Gestaltung und

Mittel für ihr Verstehen bedeutet. Die Reihenfolge und Bewertung

dieser Schichten wird davon abhängen, ob eine mehr ästhetische,

mehr kulturgeschichtliche, mehr ethnologische, mehr geistesgeschichtliche

Einstellung vorwaltet. Immer aber muß es notwendiger Ordnungsgrundsatz

sein, daß die Masse im Hintergrund bleibt und auch

als Chor nur durch repräsentative Auswahl vertreten ist, während die

stimmführenden Dichter im Vordergrund stehen.



Diese Grundsätze, die der Vorstellung einer „histoire sans noms“ |#f0092 : 68|



vollständig entgegengesetzt sind, versagen allerdings bei der anonymen

Überlieferung älterer Zeiten. Aber da bleibt auch gar nicht die Freiheit

der Auswahl, sondern wir haben, wenn nichts anderes da ist, in

der ältesten Überlieferung auch solche Stücke dankbar in Empfang

zu nehmen, die ihrem Inhalt nach für heutige Begriffe Makulatur

wären. Runeninschriften und Glossen werden nicht nur als Sprachdenkmäler

zu betrachten sein, sondern als Stellvertretung verlorener

Dichtung. So konnte der „deutsche Abrogans“, der nichts weiter als

ein Wörterbuch ist, durch Baesecke als Anfang althochdeutscher

Literaturgeschichte an einen Ehrenplatz gestellt werden.



Es besteht eine Relativität des Wertes, die von Mangel oder Reichtum

der Überlieferung abhängt. Quantität und Qualität können in

umgekehrtem Verhältnis stehen: je größer die Menge des Überlieferten

ist, desto höhere Ansprüche dürfen an das, was wir als bleibend

zu betrachten haben, gestellt werden; je weniger blieb, desto höher

ist der Seltenheitswert. Es ist nicht anders als mit den Sibyllinischen

Büchern, mit deren Vernichtung der Preis des Übrigbleibenden sich

potenzierte. Das kleinste Bruchstück muß uns eine verlorene Totalität

repräsentieren, die, wie Niebuhr vom Historiker verlangte, aus den

Überbleibseln zu rekonstruieren ist; umgekehrt stellt die Massenhaftigkeit

der neueren Überlieferung noch keine Totalität dar, diese

muß erst durch Auswahl des Repräsentativen gewonnen werden.



Das bedeutet bewußte Durchführung eines Herganges, den für das

Altertum der Zahn der Zeit besorgte. Planmäßige Auswahl tritt an

die Stelle zerstörenden Zufalls. Der blinde Zufall, wenn dieses Wort

hier nicht Gotteslästerung ist, hat mit Naturkatastrophen wie Überschwemmung,

Erdbeben, Feuersbrunst, Revolution und Krieg Wertvollstes

zerstört; er hat auch merkwürdigerweise Wertvolles erhalten

aus keinem anderen Grunde, als weil es seinerzeit als wertlos erachtet

wurde. Die Schätze der alexandrinischen Bibliothek sind nicht auf

uns gekommen; aber was im alten Ägypten als Makulatur galt, läßt

sich jetzt aus erstarrtem Nilschlamm herauslösen, und die Papyri,

die zur Umhüllung von Mumien verwendet wurden, haben uns die

älteste Überlieferung des Alten Testaments erhalten, die nur deshalb

nicht verloren ging, weil sie schon im zweiten Jahrhundert vor

Christus weggeworfen worden ist. Das ist ein Sonderfall. Im allgemeinen

aber ist die Erhaltung wertvoller Handschriften nicht Zufall,

sondern kennzeichnet die besondere Schätzung, die vergangene

Zeiten dem aufbewahrten Literaturdenkmal entgegengebracht haben.

Insbesondere bedeutet die Kostbarkeit des äußeren Gewandes eine

Ehrenerweisung, die schon für frühe Zeiten Zusammenhänge zwischen |#f0093 : 69|



Literatur- und Geschmacksgeschichte erkennen läßt. Die Bibelübersetzung

des Wulfila wäre nicht in so prunkvoller Ausstattung überliefert

worden, wenn sie nicht bei den christianisierten Goten als

Heiligtum der Religion und der Nation gegolten hätte; sie hätte

anderseits die Stürme der Völkerwanderung nicht überstanden und

wäre nicht aus der Brandung des Dreißigjährigen Krieges als Strandgut

gerettet worden, wenn sie nicht als Codex argenteus auch äußerlich

eine begehrenswerte Beute dargestellt hätte.



Auch in der Neuzeit ist der Aufputz bibliophiler Luxusdrucke,

wenn wir von erotischen Sondergelüsten des Snobismus absehen, in

der Regel Texten zuteil geworden, denen dauernder Wert zuzuschreiben

ist. Das Wort Dauerwert kann allerdings als Pleonasmus empfunden

werden. Wir werden besser von Dauerwirkung sprechen, denn wir

können einen unvergänglichen Wert aus der unveränderlichen Dauer

der Wirkung erschließen, aber nicht in der gegenwärtigen Wirkung

eine ewige Dauer des Wertes verbürgt sehen.



Die Buchüberlieferung der Neuzeit läßt nun aus Folge und Zahl

der Auflagen eine Kurve des Erfolges ablesen; der Verhältniskoeffizient

zwischen der Zahl der Auflagen und dem Zeitraum, über

den sie sich erstreckt, gibt eine Statistik der Wirkung, die nicht ohne

weiteres mit dem Wert gleichzusetzen ist. Unter den Büchern sind,

wie bei Rennpferden, Flieger und Steher zu unterscheiden. Die einen

setzen sich schnell in Führung und sind nach kurzer Strecke ausgepumpt;

die anderen entwickeln ihre Kraft und Wirkung erst auf

langer Bahn. Außerdem gibt es klassische Renner, die Schnelligkeit

und Ausdauer vereinen; das sind Bücher, die im Augenblick die

Ewigkeit fanden.



Hier trennen sich nun Ästhetik und Geschmacksgeschichte. Für

die eine ist die Dauer von größerer Bedeutsamkeit, für die andere

der Augenblick. Die eine sucht die Ursachen des Erfolges mehr in

den Qualitäten des Werkes, die andere mehr in denen der Leserschaft.

Die eine hat sich für ursächliche Aufschlüsse mehr an den Verfasser

zu halten, die andere mehr an Buchhändler, Leihbibliotheken und

Kritiker.



Die Literaturwissenschaft hat zwischen diesen beiden Schwestern,

der absoluten und der relativen Geschmackslehre, eine vermittelnde

Stellung inne. In späteren Abschnitten ist zu erörtern, wie der Ästhetik

in Urteil und wertbestimmter Auswahl die Hand gereicht und wie

ihr für die Entstehungsfragen, wenn sie sich darum kümmert, Material

geboten werden kann. Ebenso wird erst an anderer Stelle zu betrachten

sein, bis zu welchem Grade die schriftstellerische Produktion |#f0094 : 70|



jedes Zeitalters in soziologischer Abhängigkeit von Gesellschaftsklassen

und Leserschichten zu sehen ist. Hier handelt es sich zunächst nur

um die Überlieferung, über die unsere Literaturwissenschaft zu gebieten

hat, und um Feststellung, daß sie imstande ist, der Geschmacksgeschichte

ein fast unerschöpfliches Material für die Fragen der Verbreitung

und des Erfolges bereitzustellen.



Auch bei den Handschriften des Mittelalters kann von Auflagenziffern

gesprochen werden, so wie es an Stelle der Druckereien

Schreiberwerkstätten gab. Die Zahl der Handschriften, in denen derselbe

Text unter zunehmender Entstellung überliefert ist, die Zeit

ihrer Entstehung, die mundartliche Herkunft und die landschaftliche

Verbreitung reden eine vernehmliche Sprache und lassen, wenn auch

lückenhaft, erkennen, welches der zeitliche und räumliche Aktionsradius

eines Werkes von seiner ersten Aufzeichnung bis zur Anwendung

des Buchdrucks gewesen ist. Auch die Auswahl der ersten

Werke, an denen die Druckereien die neue Kunst der Vervielfältigung

erprobten, stellt einen geschichtlichen Wertmesser und ein Kriterium

des Zeitgeschmacks dar. Die Wiegendrucke, d. h. die Werke, die vor

1500 aus den Offizinen hervorgingen, sind seit langem in Inkunabelverzeichnissen

zusammengestellt, die das Hilfsmittel einer eigenen

Wissenschaft vom Frühdruck bilden.



c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung



Bei aller Überlieferung weist das erste Gebot auf vollständige

Sammlung und übersichtliche Ordnung des Erhaltenen hin. Hier

liegen organisatorische Aufgaben der Wissenschaft, denen sich der

Einzelne nur im Dienste eines Gesamtplanes widmen kann, so wie die

Gemeinschaftsleistung der Einzelarbeit eine sichere Grundlage gibt.

Wer sich dem Gemeinnutz der fundamentalen Sammelarbeit hingibt,

macht sich zum Glied eines Räderwerkes, dem er seine eigene Triebkraft

opfert; er kann seine Arbeit nicht ohne persönlichen Anteil

verrichten, aber er hat alle Vorliebe, alle ausscheidende Wertung und

Darstellungsfreude zugunsten der Zuverlässigkeit zurücktreten zu

lassen.



In welcher Weise die Ordnungsarbeit vorgenommen wird, sei an

einigen Beispielen zweckmäßiger deutscher Wissenschaftsorganisation

gezeigt. Für die Handschriften des Mittelalters war man bisher auf

die Kataloge der einzelnen großen Bibliotheken angewiesen. Vor

einem Vierteljahrhundert aber ist von der Deutschen Kommission der

Preußischen Akademie der Wissenschaften unter Gustav Roethes |#f0095 : 71|



Leitung das große Unternehmen eines Handschriftenarchivs ins

Leben gerufen worden, das die Beschreibungen sämtlicher deutschen

Handschriften bis 1520 und die der poetischen Handschriften auch

darüber hinaus systematisch zusammenträgt und die Überlieferung in

einem vollständigen Überblick ausbreitet. Wenn die Ergebnisse dieser

großen Inventarisation einmal veröffentlicht werden, so ist für die

Geschmacksgeschichte zu ersehen, daß es nicht durchaus die größten

Werke der deutschen Dichtung gewesen sind, die die weiteste Verbreitung

gefunden haben. Dann schlägt auch eine neue Stunde für die

Literaturwissenschaft; erst dann kann eine deutsche Literaturgeschichte

des Mittelalters geschrieben werden, die auf der gesamten Überlieferung

beruht, ohne daß sie mit der Vollständigkeit eines Nachschlagewerkes

die Darstellung zu belasten brauchte.



Die Handschriften der Neuzeit haben eine andere Bedeutung für

die Forschung; sie bilden nicht mehr, wie vor der Erfindung des Buchdrucks,

die eigentliche Form der Veröffentlichung; vielmehr stellen

sie das dar, was ihr vorausging: ungedruckt gebliebene Vorarbeiten

und unausgeführte Entwürfe, die in die Werkstatt der Dichter Einblick

gewähren und in frühe Stadien des Werdens zurückführen. Vor

fast einem halben Jahrhundert hat der Philosoph Wilhelm Dilthey,

der seine große Schleiermacher-Monographie aus dem handschriftlichen

Material aufbaute, zur Gründung von Literaturarchiven in

Deutschland aufgefordert, um Dichter- und Gelehrtennachlässe zu

bergen und vor Verstreuung zu bewahren. Dieser Aufruf hat die

Gründung der Berliner Literaturarchiv-Gesellschaft zur Folge gehabt,

die aber bei ihren geringen Mitteln auf Schenkungen angewiesen war

und keine zentrale Bedeutung gewinnen konnte. Dagegen haben

die großen Dichtergedächtnisstätten wie das Goethe- und Schiller-

Archiv, das Nietzsche-Archiv, das Rilke-Archiv in Weimar, das Schwäbische

Schiller-Museum in Marbach, das Freie Deutsche Hochstift in

Frankfurt am Main, die Grillparzer-Sammlung der Stadt Wien, die

Gottfried-Keller-Stiftung in Zürich ebenso wie ähnliche Anstalten in

anderen Ländern die Nachlässe, die ihnen großenteils durch Vermächtnis

zuteil geworden sind, pietätvoll bewahrt und vermehrt. Die

großen Nationalbibliotheken der Landeshauptstädte wie Berlin, Wien,

München, Paris, London, Washington und altberühmte Universitätsbibliotheken

wie Oxford, Cambridge, Upsala, Heidelberg haben die

mittelalterlichen Bestände ihrer Handschriftenabteilungen durch Erwerb

neuzeitlicher Manuskripte großzügig ergänzt. Daneben gibt es

große Privatsammlungen, die wie der einzigartige Goethe-Tempel Kippenbergs

in Leipzig ihren Erwerb durch Katalog und Jahrbücher der |#f0096 : 72|



Wissenschaft zugänglich machten. Andere Privatsammler verhalten

sich allerdings wissenschaftfeindlich, und die Gefahr besteht, daß

ihre eifersüchtig zurückgehaltenen Schätze ebenso wie mancher zu

lange in den Händen der Nachkommen verbliebene Nachlaß eines

Tages auf dem Wege der Versteigerung in alle Winde zerstreut werden.

Aber es wird nicht anders gehen als mit privaten Gemäldesammlungen;

über kurz und lang wird sich doch das Wertvollste und

Wesentlichste in öffentlichem Besitz wieder zusammenfinden. Einstweilen

ist es zu begrüßen, daß Nordamerika, das so vieles Wertvolle

entführt hat, für die in den Stammländern der deutschen Literatur

verbliebenen Handschriften einen Wegweiser zu ihren Fundorten herstellen

ließ, den im Auftrag der „Modern Language Association“

durch Wilhelm Frels bearbeiteten Katalog „Deutsche Dichterhandschriften“,

der naturgemäß noch allerlei Lücken aufweist.



Zwischen der Handschrift, die das erste Entstehen eines Textes

festhält, und dem Druck, der seine endgültige Gestalt überliefert,

nimmt die veränderliche mündliche Überlieferung des Volksgutes, des

gesungenen Liedes, des erzählten Märchens, der berichteten Sage eine

Zwischenstellung ein. Im Deutschen Volksliedarchiv zu Freiburg im

Breisgau, das eine Gründung John Meiers ist, sind alle Volksliedtexte,

wie sie in den verschiedensten Gegenden des deutschen Sprachgebietes

gesungen wurden und noch gesungen werden, zusammengetragen

und nach Liedanfängen registriert. Nach dem Vorwort des

großen Volksliedwerkes, das diese Sammlung auswertet, sind über

200 000 Aufzeichnungen vereinigt. Eine Filiale ist das Musikarchiv

des deutschen Volksliedes in Berlin, das alle Melodien nach einem

eigenen Verfahren katalogisiert, so daß auch deren Verbreitung in

allen Spielarten und Variationen überblickt werden kann.



Ein viertes Sammelwerk, das als Grundlage der Forschung in keinem

anderen Lande seinesgleichen hat, ist der von Karl Goedeke begründete

„Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“, der ursprünglich

wohl eine Literaturgeschichte mit vollständiger Bibliographie

sein wollte und schließlich eine vollständige Bibliographie

mit Spuren literarhistorischer Anordnung geworden ist, wobei sich

der Umfang von der ersten bis zur dritten Auflage für einzelne Abschnitte

beinahe verzehnfachte. In diesem Anschwellen zeigen sich

Gefahren eines Alexandrinismus. Die Vollständigkeit in der Überlieferung

aller Drucke, aller Auflagen, auch aller Nachdrucke jedes

Dichters macht diese Summa Summarum aller Bücherkataloge, diesen

Baedeker der Literaturgeschichte, den man einer Logarithmentafel

verglichen hat, zum unschätzbaren und unentbehrlichen Handwerkzeug |#f0097 : 73|



jedes Bibliothekars, jedes Antiquars, jedes Forschers. Aber die

wahllose Vollständigkeit in bezug auf alle Zeitungsaufätze, die

einmal über einen Dichter oder über ein Werk geschrieben und abgeschrieben

worden sind, führt ins Absurde und bringt den Anfänger

außerdem in Versuchung, nicht mehr aus den Quellen zu arbeiten,

sondern bereits Gesagtes wiederzukäuen und sich in den Papierschnitzeln

zu verfangen, die an den Schwanz des im Aufstieg schwebenden

Drachen angehängt sind.



„Das schwierigste am Sammeln ist das Wegwerfen“ hat Albert

Köster einmal in das Album der Berliner Germanistenkneipe geschrieben.

Überwindung der Vollständigkeit sowohl durch Konzentration

des Wesentlichen als Ausscheidung des Unwesentlichen muß der

nächste Schritt der Wissenschaft sein, nachdem die notwendige Sammelarbeit

zu Ende geführt ist. Nach Sichtung der Überlieferung handelt

es sich zunächst um Zusammenziehung dessen, was sich wiederholte.

Die Arbeit, denselben Text immer wieder in einer anderen

Handschrift zu lesen, wird ein für allemal erspart durch eine

auf Kenntnis sämtlicher Handschriften beruhende zuverlässige kritische

Ausgabe, die nach Möglichkeit den Wortlaut herstellt, der den

endgültigen Absichten des Dichters entspricht, und alles davon Abweichende

in die Lesarten verweist. Ist der Text durch verschiedene

Drucke überliefert, so hat eine kritische Ausgabe dieselbe Konzentration

durchzuführen, indem sie alles, was durch den Dichter selbst in

Neuauflagen und Umarbeitungen verbessert worden ist, nach seiner

früheren überwundenen Form in die Lesarten bringt und diese rückläufige

Aufrollung der Textgeschichte noch durch Hinzuziehung der

vor dem Druck liegenden Handschriften weiterführt. Die Zusammenziehung

aller Werke eines Dichters einschließlich seiner Entwürfe

in einer Gesamtausgabe gehört gleichfalls zur Ordnung und Klärung

der Überlieferung. Dabei ist alles, was, ohne daß er sich selbst dazu

bekannt hat, ihm zugeschrieben wird, auf Echtheit zu prüfen. Auf die

Sammlung der Überlieferung folgt somit auch bei der Betrachtung

des einzelnen Werkes die zweite Arbeitsstufe der Kritik.

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ZWEITER HAUPTTEIL


TEXT UND VERFASSER


Heil den wahren Philologen! Sie wirken Göttliches, denn

sie verbreiten Kunstsinn über das ganze Gebiet der Gelehrsamkeit.

Kein Gelehrter sollte bloß Handwerker sein.



Friedrich Schlegel.



a) Kritik der Überlieferung



Jede Wissenschaft geht ebenso wie jede Kunst den Weg klärender

Vereinfachung. Jede Gedankenarbeit beginnt mit dem Blick auf eine

verwirrende Vielheit, die als Einheit begriffen werden soll. Alle

Begriffe und alle Schlüsse zielen dahin, Ordnung zu stiften und ein

Chaos zum Kosmos zu wandeln, wenn es auch nur ein Mikrokosmos

ist. Wenn in Sammlung eines chaotischen Materials und Sichtung

einer vielfältigen Überlieferung die ersten grundlegenden Schritte

jedes planmäßigen Erkenntniswillens bestehen, so muß das letzte

Ziel, auf das die Methode gerichtet ist, in der durchdringenden Sinndeutung

des Gegebenen und Beobachteten gesehen werden.



Als nächste Zwischenstation dieser Strecke ist für die Wissenschaften,

die es mit Fertigkeiten des menschlichen Geistes zu tun

haben, die Kritik einzuschalten. Sowohl das Ganze wie seine Teile

wie alle Einzelheiten der Überlieferung sind einer Echtheitsprüfung

zu unterwerfen. Bei geschichtlichen Quellen regen sich Zweifel gegen

die Glaubwürdigkeit des Berichts, bei philosophischen Darstellungen

gegen die Reinheit der Begriffe und die Überzeugungskraft der Beweisführung;

bei religiösen Offenbarungen kann die Wahrhaftigkeit

des Erlebnisses und Bekenntnisses, bei Denkmälern irgendeiner Kunst

die Folgerichtigkeit der Form, die als organischer Ausdruck der Idee

betrachtet werden soll, in Zweifel gezogen werden.



So verschiedenartig diese Abwandlungen des Begriffes „Kritik“

nebeneinander stehen, so laufen sie doch alle darauf hinaus, hinter

dem geistigen Erzeugnis eine ausdruckgebende Individualität zu

suchen, eine geschlossene Persönlichkeit, deren Wesenszüge und Absichten

sich unverfälscht abspiegeln müssen. Wo dem angenommenen

Urheber nicht die volle Verantwortung für jede Einzelheit aufgeladen

werden kann, muß mit Störungsmomenten des Ausdrucks und des |#f0099 : 75|



Eindrucks gerechnet werden. Es fehlt, was Goethe in seinem bekannten

Spruch über die Aufgaben der Philologie als „Kongruenz des

Überlieferten“ bezeichnet.



Die Echtheitsprobe, gleichviel ob sie dogmatisch, logisch, psychologisch,

ästhetisch oder philologisch gemeint ist, bezieht sich immer

auf die Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit einer inneren Übereinstimmung

zwischen Persönlichkeit und Werk wie auf die Frage, ob

beides im Großen wie im Kleinsten zur Deckung gebracht werden

kann. Wo eine Trennung sichtbar wird, liegen Mängel an Folgerichtigkeit

und treffendem Ausdruck vor, die dem kritischen Zweifel recht

geben und den Verdacht begründen, daß im Zeichen irgendwelcher

fremden Einmischung entweder das vorliegende Werk oder die angenommene

Persönlichkeit Brüche aufweisen, so daß sie weder in

sich allein noch im gegenseitigen Verhältnis als harmonierende Einheiten

aufzufassen sind.



Beim Wortkunstwerk hat die kritische Prüfung bereits mit dem

Buchstaben der Überlieferung zu beginnen. Die eigenhändige Niederschrift

des Dichters hat höheren Wert, wenn sie erster Wurf ist und

nicht spätere Reinschrift. Die Bedeutung steigert sich, wenn die

Urschrift von den späteren Fassungen abweicht, wenn sie gelegentliches

Schwanken zwischen verschiedenen Ausdrücken oder Spuren

suchender Selbstkritik in Ausstreichungen, Einfügungen und anderen

Verbesserungen erkennen läßt, die unmittelbar in das Stadium des

Werdens zurückführen. Aber auch ohne solche Eierschalen der Entstehung

hat die Urschrift nicht nur einen Wert als Autogramm, sondern

sie wird ein besonderer Gegenstand graphologischer Beobachtung,

wenn sie dem Schriftkenner über die Lebensstimmung und Geistesverfassung,

aus der die Niederschrift hervorging, Aufschluß zu geben

vermag. Der Fetzen, auf den Goethe den Anfang seines „Ewigen

Juden“ schleuderte, bestätigt in regellosen Schriftzeichen die erlebte

Situation des Eingangs; es ist nächtlich zu Papier gebrachte Sturm-

und Drang-Inspiration:



Um Mitternacht wohl fang ich an,

Spring aus dem Bette wie ein Toller,

Nie war mein Busen seelenvoller,

Zu singen den gereisten Mann.



Wenn nun die Herkunft solcher Uraufzeichnung aus dem Nachlaß

des Verfassers nicht unbedingt gesichert ist, so bleibt immer Vorsicht

geboten. Das Schriftstück kann unecht sein, was sich unter Umständen

schon aus der Beschaffenheit des verwendeten Papiers ergibt. So

konnte im 18. Jahrhundert Malone, der berühmte Kritiker der Shakespearetexte, |#f0100 : 76|



in einem angeblich eigenhändigen Manuskript des „König

Lear“ über zwanzig verschiedene Wasserzeichen als Kennzeichen der

Unechtheit nachweisen. Die Handschrift stammte von William Henry

Ireland, der aus Shakespeare-Enthusiasmus zum Fälscher geworden

war; er hatte sich das verschiedenartige alte Papier aus Vorsatzblättern

von Drucken der Shakespearezeit zusammengeschnitten.



Ein anderes Beispiel: Durch Max Herrmann wurde einmal der Berliner

„Gesellschaft für deutsche Literatur“ ein Buch vorgelegt, dessen

ehemalige Zugehörigkeit zu Luthers Bibliothek durch dessen eigenhändigen

Besitzvermerk gewährleistet schien. Auf seinem Vorsatzblatt

war in des Reformators eigener Hand das Lied „Ein feste Burg ist

unser Gott“ zu lesen. Es mußte, ohne daß besondere Erregungszeichen

der Schrift es verrieten, die Uraufzeichnung sein, denn sie überlieferte

in dem nachher durchgestrichenen und ersetzten Anfang „Mein Gott

ist eine feste Burg“ eine bisher unbekannte Fassung. Schriftsachverständige

hatten die Züge der Lutherischen Normalschrift anerkannt.

Aber der Gerichtschemiker, dem das corpus delicti vorgelegt wurde,

entschied anders. Das Papier der Aufzeichnung war alt, und echt war

nur dieses. Die Tinte war von einer im 16. Jahrhundert nicht gebräuchlichen

Zusammensetzung. Bei mikroskopischer Vergrößerung

zeigten sich Tintenspritzer, die dem bloßen Auge nicht erkennbar

waren; sie verdankten einem Wurmloch, an dem die Feder hängen

geblieben war, ihre Entstehung. Also war die Einzeichnung in einem

Zeitpunkt erfolgt, in dem der Bohrwurm seine Tätigkeit bereits durchgeführt

hatte; das Buch muß damals schon einige hundert Jahre alt

gewesen sein. Und nun stellte sich heraus, daß das Berliner Kriminalmuseum

ein paar Dutzend auf denselben Vater zurückgehende Geschwisterkinder

aufbewahrte als Erinnerung an einen Prozeß, der

Jahrzehnte vorher einem gewerbsmäßigen Fälscher namens Kyrieleis,

der sich auf Herstellung von Lutherhandschriften verlegt hatte,

gemacht worden war. In derselben Weise war um die Mitte des

19. Jahrhunderts dem Weimarer Gerstenbergk als fabrikmäßigem Hersteller

von Schillerhandschriften das Handwerk gelegt worden.



Solche Prozesse hat die Geschichtswissenschaft in unzähliger Menge

vor ihrem eigenen Tribunal zu führen, nur daß die Schuldigen nicht

mehr erreichbar sind. Auch sind sie nicht eigentlich in den unbekannten

Herstellern gefälschter mittelalterlicher Urkunden zu

sehen, die es vielleicht für Gotteslohn taten, sondern in den Auftraggebern,

für die weit größere Belange an politischen Rechtsansprüchen

auf dem Spiel standen. Da aus dem Mittelalter fast ebensoviel unechte

Urkunden, Annalen, Chroniken und Memoiren überliefert sind |#f0101 : 77|



als echte, hat sich ein eigenes System historischer Hilfswissenschaften

entwickeln müssen, das unter Zuhilfenahme aller Mittel der Technik

in Paläographie, Diplomatik und Sphragistik die Methoden der Echtheitsprüfung

bis zur höchsten Feinheit ausgebildet hat. Die Literaturgeschichte

des Mittelalters kommt in die Lage, nicht nur für Ausschluß

von Fälschungen, sondern auch für Datierung und Textkritik

handschriftlich überlieferter Dichtung dieselben Methoden als eine

literaturgeschichtliche Hilfswissenschaft in Anwendung zu bringen.

Und wo die historische Kritik allzu mißtrauisch war, wie bei den

Dramen der Hrotswith von Gandersheim, die Aschbach als Fälschungen

des Celtis ansehen wollte, kann sie auf Grund handschriftlicher

Funde wieder zur Überzeugung von der Echtheit zurückkehren.



Läßt sich die Zuverlässigkeit handschriftlicher Überlieferung mittels

hochentwickelter Prüfungsmethoden beurteilen, so ist wenig geholfen,

wenn etwas anderes als die Echtheit der Schrift in Frage steht. Es

kann Fälle geben, bei denen die Schrift gleichgültig ist, während es

nur auf die Echtheit des Inhalts ankommt. Der Zufall hat es gewollt,

daß von den beiden größten Werken Goethes die erste Fassung nur in

fremder Abschrift erhalten ist. Da sich der „Urfaust“ im Nachlaß des

Fräulein von Göchhausen, der „Urmeister“ in dem der Frau Bäbe

Schultheß gefunden hat, kann die Identität der Handschrift leicht

festgestellt werden, und die äußere Zuverlässigkeit der Überlieferung

steht außer Zweifel. Die innere Zuverlässigkeit ist damit noch nicht

erwiesen; hier muß erst Übereinstimmung mit den Daten der Entstehungsgeschichte

hergestellt werden; dann fällt es der sprachlichen

Untersuchung zu, unter Zuhilfenahme des späteren, umgearbeiteten

Druckes und unter Heranziehung von Goethes damaligem Sprachgebrauch

und Stil allerlei Flüchtigkeiten, Auslassungen und Verschreibungen,

ebenso wie alle orthographischen und mundartlichen Eigentümlichkeiten

der Abschreiberinnen als ihre Beimischung auszuscheiden,

um dem Text den Wert der verlorenen Vorlage wiederzugeben,

für die er Ersatz zu bieten hat.



Ebenso wie Fehler der Abschrift auf Grund des späteren Druckes

zu erkennen sind, könnte auch möglicherweise der Drucktext auf

Grund der Abschrift zu berichtigen sein. Ein zweifelhafter Fall liegt

z. B. vor, wenn das Lied Mignons in der Abschrift des „Urmeister“

alle drei Strophen mit dem Kehrreim „Möcht' ich mit dir, o mein

Gebieter ziehn“ schließen läßt. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bringen

statt dessen die Steigerung „Geliebter“, „Beschützer“, „Vater“. War

nun „Gebieter“ ein Schultheßscher Schreib- oder Lesefehler? Oder

ist umgekehrt „Geliebter“ ein Fehler des ersten Druckes, dem alle |#f0102 : 78|



späteren Ausgaben folgten? Würde nicht die sinngemäßere Steigerung

„Gebieter“, „Beschützer“, „Vater“ den eingestandenen Gefühlen

Mignons für Wilhelm entsprechen? Diese Frage kann eigentlich nur

aus einer Analyse des Mignon-Charakters beantwortet werden. Und

wenn sie zugunsten der Abschrift ausfiele, so würde dennoch der Text

des Liedes so, wie er gesungen wird, gleich einem zersungenen Volksliede

sein Recht behalten. Die in diesem Falle durch den Dichter

selbst anerkannte Tradition ist nicht mehr rückgängig zu machen.



Wo die fremde Vermittlung eines Schreibers anzunehmen ist, besteht

immer ein Unsicherheitsfaktor. So erklären sich einige Fehler in

Schillers „Prosaischen Schriften“ wie in einer Neuauflage des „Abfalls

der Niederlande“ dadurch, daß als Druckvorlage nicht der durchkorrigierte

Erstdruck, sondern die Zwischenstufe einer neuen Abschrift

benutzt wurde. Bei der Billigkeit der Schreiberlöhne wurden

diese Kosten dem Aufopfern eines Druckexemplars vorgezogen. Weglassungen

von Worten oder ganzen Satzteilen sind nun als Flüchtigkeiten

des Abschreibers, nicht als Streichungen des Verfassers zu

verstehen.



Schon ein Text, der als Diktat aufgenommen wurde, ist auf Hörfehler

und Mißverständnisse zu prüfen. In viel höherem Grade sind

nachträgliche Aufzeichnungen von Gesprächen der unwillkürlichen

Verfälschung aus getrübter Erinnerung oder auch der tendenziösen

Umbiegung in redigierter Form ausgesetzt. Was in Platons Dialogen

oder bei Xenophon als Rede des Sokrates festgehalten ist, kann natürlich

nur für stilisierte Wiedergabe seiner Lehre und Sprechweise

genommen werden; aber auch das, was Eckermann Goethe in den

Mund legte, dürfte nicht, wie meist geschieht, mit den „Sprüchen in

Prosa“, den „Maximen und Reflexionen“ und den Briefen auf gleiche

Stufe gestellt und ohne weiteres als authentischer Ausspruch zitiert

werden. So sinngetreu die Wiedergabe sein mag, so fehlt ihr eben

doch die persönliche Prägung. Aber auch die sinngemäße Treue der

Wiedergabe ist von der zeitlichen Entfernung zwischen Aussprache,

Aufzeichnung und Ausarbeitung abhängig, und die Methode der Zuverlässigkeitsprüfung

wird diesen Abstand in Rechnung ziehen müssen.



Kehren wir zur Dichtung zurück, so können größere Schwierigkeiten

bestehen, wenn nur die Abschriften der Abschriften erhalten

sind, wie es bei den Sesenheimer Liedern der Fall ist. Lange nach

dem Tode der Friederike Brion hat ihre überlebende Schwester noch

Aufzeichnungen einzelner Lieder in Besitz gehabt, die sie Besuchern,

die danach fragten, vorlegte. Deren Berichte widersprechen sich,

sowohl was die Zahl der Lieder als den Charakter der Schrift betrifft, |#f0103 : 79|



in der teils Goethes, teils Friederikens, teils fremde Hände erkannt

wurden. Es gab damals noch kein photographisches Verfahren, um

die Schriftzüge für genaue Untersuchung festzuhalten. Die Vorlagen

sind verloren; man ist nur auf die Abschriften des späteren Dramatikers

Kruse angewiesen. Das kritische Problem verwickelt sich dadurch,

daß Friederike sowohl von Goethe als von Lenz besungen

wurde. Vergleiche mit der anderen gleichzeitigen Produktion beider

Dichter, Untersuchungen des Klanges, des Stils, des Sprachgebrauchs,

insbesondere der Qualität der Reime, die bei dem Livländer Lenz eine

andere sein mußte als bei dem Rheinfranken Goethe, haben zur

Klärung des beiderseitigen Anteils geführt bis auf ein noch umstrittenes

Gedicht, bei dem eine etwas erkünstelte Hypothese Kontamination

annahm, nämlich Erweiterung eines ursprünglich dreistrophigen

Goethe-Liedes durch drei für den Gesang Friederikes eingefügte

Strophen von Lenz.



Mit solchem Zuwachs, der aber anonym bleibt, haben wir es durchgehend

im Leben des Volksliedes zu tun. Dort bestehen ganz andere

Echtheitsbegriffe: echt ist alles, was und wie es gesungen wird, und

unecht ist nur das Künstliche, Gemachte, das Volkslied sein will, aber

den Ton nicht findet und nicht Gesang wird. Die schriftliche Aufzeichnung

spielt beim wirklichen Volkslied nur insofern eine Rolle,

als sie den in Gemeinschaft gesungenen Text zuverlässig wiederzugeben

hat; je mannigfaltiger aber die Überlieferung zersungener

Texte sich darstellt, desto willkommener ist das vielfältige Material

für die Beobachtung des Geschmackes der Zeitalter und Landschaften,

die in der zersetzenden Aneignung eines ursprünglich individuellen

Liedes eigene stilbildende Kraft entfalten. Während die philologische

Zielsetzung auf Wiederherstellung des reinen Urtextes ausgeht, der

zweifellos einmal als Kunstlied eines unbekannten Verfassers vorhanden

war, wendet sich die volkskundliche Liebe der vielseitigen

Verzweigung zu, deren Wert gerade in der allmählichen Verfälschung

des ursprünglichen Wortlautes gesehen werden muß.



Von volkskundlichem Wert kann auch eine selbständige, unbeholfene

Stümperei sein, wie sie etwa in der von Piper ausgegrabenen Altonaer

Josef-Kantate vorliegt. Man hat sie dem jungen Goethe, der seinen in

Prosa geschriebenen „Josef“ dem Feuer überantwortete, in die Kinderschuhe

schieben wollen, und es haben sich Schriftsachverständige bereitgefunden,

die Handschrift als die jenes Frankfurter Schreibers Clauer,

der im Goethischen Hause tätig war und nach Diktat des Knaben

Wolfgang sein Werk zu Papier gebracht haben soll, zu erkennen. Ein

emsiges Bemühen um Quellennachweise suchte zu belegen, daß die |#f0104 : 80|



zugrunde liegende Belesenheit des Josef-Dichters nirgends anders als

in der Bibliothek des Herrn Rat zu erwerben war. Die Karikatur

philologischer Methoden führte auf Irrwege. Stärker waren, von

Geschmacks- und Stilkritik abgesehen, die unwiderleglichen sprachlichen

Kriterien. Nach Reimgebrauch und Wortschatz ist dieses Werk

eines frommen Pietisten, wie sich auf Grund des Deutschen Sprachatlas

geographisch abgrenzen läßt, nach Norddeutschland, und zwar

gerade in die Gegend von Altona zu verweisen, womit jeder Anteil

des jungen Goethe ausgeschlossen wird. Ein einziges Wort, nämlich

das nord-ostdeutsche „Scheune“ statt des südwestdeutschen „Scheuer“

hätte hierfür schon entscheidend sein können.



Wenn in diesem Falle die Beurteilung der Handschrift nicht maßgebend

sein konnte, so gibt es wiederum Fälle, bei denen überhaupt

nicht die Echtheit der Schrift anzuzweifeln ist, sondern nur die des

Textes, der einem anderen als dem Schreiber zugesprochen werden

kann. Daß es sich um keine Urschrift, sondern um eine fremde Abschrift

handelt, kann sowohl durch die mechanische Sauberkeit der

Schriftzüge als durch Verschreibungen und Auslassungen sich verraten.

So stellte Jos. Bédier in einer berühmt gewordenen scharfsinnigen

Untersuchung fest, daß die Schrift „Le paradoxe sur le

comédien“ nicht deshalb Diderot aberkannt zu werden braucht, weil

sie in der Handschrift Naigeons erhalten ist, denn diese erweist sich

als Abschrift.



Ungeklärt ist der Fall bei einem in Tiecks Nachlaß befindlichen

Drama „Das Reh“, das in der Handschrift des vielleicht beteiligten

Freundes Schmohl überliefert ist; von dessen eigenem Stil liegen zu

wenig Proben vor, als daß eine Untersuchung angestellt werden könnte.

Noch schwieriger ist die Entscheidung bei einem in Lessings Nachlaß

gefundenen einaktigen Drama „Zorade“, dessen Handschrift nicht

die Lessings ist, während einige kritische Randbemerkungen möglicherweise

ihm zuzuschreiben sind. Solange die Hand des Schreibers

nicht ermittelt ist, läßt sich zu keinem Schluß über die Verfasserschaft

kommen. Sobald man aber nicht an Lessing als Verfasser zu denken

hat, besitzt das Stück keine Bedeutung mehr.



Klarer sieht man bei dem als „Ältestes Systemprogramm des deutschen

Idealismus“ bezeichneten Schriftstück, das als Niederschrift

Hegels in seinem Nachlaß gefunden wurde. Die Interpretation der

Schriftzüge stellt außer Zweifel, daß es sich um keine erste Aufzeichnung,

sondern um die Wiederholung eines fremden Textes handelt.

Und nun wird um die Priorität der Freunde Schelling oder Hölderlin

gestritten ─ eine Frage, die wegen der gleichen Herkunft und |#f0105 : 81|



Lebensgemeinschaft nicht durch mundartliche und beinahe ebenso

wenig durch stilistische Kriterien entschieden werden kann, sondern

nur durch Entwicklung der Ideenkreise, in denen sich jeder von beiden

in jenem Zeitpunkt bewegte.



Ein anderes Beispiel betrifft gleichfalls Hölderlin, diesmal als

Schreiber. In seinem Nachlaß fand sich ein eigenhändig aufgezeichnetes

Gedicht, das vor vielen Jahrzehnten in eine Ausgabe des Dichters

aufgenommen wurde; es stellte sich nachher als Abschrift Klopstockscher

Verse heraus. Einem noch schlimmeren Mißgeschick fiel ein

Entdecker zum Opfer, der in einem Brief des Grafen v. Loeben ein

bisher unbekanntes geistliches Lied mit dem Titel „Trostsegen“ zitiert

fand. Hier liegt dreifaches Verschulden vor, denn erstens war die

Unterschrift, die „Tersteegen“ lautete, falsch gelesen, zweitens reichte

die literarhistorische Beschlagenheit nicht aus, um diesen großen

pietistischen Lyriker des 17. Jahrhunderts zu erkennen, in dessen

Gedichten sich das Lied findet; drittens hätte eine richtige Stilanalyse

zum mindesten die Unmöglichkeit der Zuweisung an den Romantiker

ergeben müssen. Auch bei Novalis hat sich ein Gedicht als übersetzte

Horazische Ode, ein anderes als überarbeitetes Gesangbuchlied erwiesen,

und unter den „Fragmenten“ wurden einige als Exzerpte aus

Hemsterhuis erkannt, so daß alles dies aus den Eigenschöpfungen

mehr oder weniger ausscheiden muß.



Diese Beispiele genügen statt vieler andern, um vor Leichtfertigkeit

und Leichtgläubigkeit zu warnen. Es zeigt sich, daß schon für die einfachen

Vorsichtsmaßnahmen der Fundamentierung eine erfahrungsmäßige

Kenntnis des ganzen Fachwerkes vonnöten ist. Dem Schriftkenner

und Techniker der Entzifferung muß der Wortforscher und

Stilkenner über die Schulter sehen und mit seinem Verständnis beispringen.





b) Kritik des Textes



Indem wir uns nun von der Schrift dem Wort zuwenden, betreten

wir das Gebiet, das im engeren Sinne der Philologie und ihren

Methoden eignet. Entgegen einer zeitweiligen Überschätzung dieser

Methoden als der alleinseligmachenden, die vor jeder Willkür sichern,

ist man heute eher geneigt, die Philologie als ein niederes Handwerk

einzuschätzen, das mit seiner Vereinzelungstendenz dem synthetischen

Aufbauwillen der eigentlichen Wissenschaft entgegengesetzt ist.

Bestenfalls wird sie als Kunst des Feinmechanikers anerkannt, dessen

Räder in das Uhrwerk des Meisters eingesetzt werden. Aber oft wird

Philologie nur als Frondienst der Tagelöhner angesehen, deren Arbeit |#f0106 : 82|



unentbehrlich, aber nicht vollwertig ist. Es wird ihr manchmal kein

anderes Verdienst zuerkannt, als die Straßen zu pflastern und zu

reinigen, damit den königlichen Karossen, die zu ihrem Ziele fliegen,

unterwegs kein Unglück passiert.



In der Tat kann man sagen, daß alle geschichtlichen Wissenschaften,

die auf Auswertung sprachlicher Quellen angewiesen sind, die philologischen

Handlangerdienste in Anspruch nehmen müssen, um auf

dem festen Boden zuverlässiger Textüberlieferung und eindeutiger

Interpretation über keine Unebenheiten zu stolpern. Jede Fakultät

hat in diesem Sinne ihr sprachliches Wegebauamt; Exegese des Alten

wie des Neuen Testamentes und der Kirchenväter, römische wie

deutsche und vergleichende Rechtsgeschichte, Philosophiegeschichte

wie Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin betrachten

die Philologie als ihre Hilfswissenschaft. Das tut jede Wissenschaft,

die sich als Mittelpunkt fühlen muß, gegenüber ihren Nachbargebieten,

mit denen sie im Austausch steht. Nun aber wird die Philologie

ihrerseits von soviel Nachbarschaften in Anspruch genommen, daß sie,

ähnlich wie die Philosophie, eine zentrale Stellung in den Geisteswissenschaften

einzunehmen scheint. Allerdings ist der Kreis, dessen

Mittelpunkt jene bildet, größer; die Philosophie ist allen Einzelwissenschaften

übergeordnet; die Philologie ist den verschiedenen

Geisteswissenschaften beigeordnet. Aber da die Mittelpunkte der

beiden Kreise auseinander liegen, können sie als Brennpunkte erscheinen,

die im Verhältnis einer gewissen Polarität, um nicht zu

sagen Rivalität, zueinander stehen.



In der Literaturwissenschaft ist dieses Kräftespiel, wie bereits der

geschichtliche Überblick zeigte, geradezu verfassungsmäßige Struktur

und Gesetz des Blutumlaufes. Wenn Literaturwissenschaft, wie im

Eingang erklärt wurde, nichts anderes als Methodenlehre ist, so muß

ihr die Aufgabe zufallen, zwischen philosophischer und philologischer

Methode einen Ausgleich herbeizuführen.



Man hat sowohl der Philosophie als der Philologie den Charakter

der Einzelwissenschaft abstreiten wollen und in ihnen überhaupt nur

Methoden des Denkens und Deutens erblickt. Daß es einmal im

Sinne einer Bedeutungssteigerung, das andere Mal im Sinne einer

Bedeutungsminderung geschehen ist, indem der Philosophie eine allbeherrschende,

der Philologie eine alldienende Stellung beigemessen

wurde, ist hier nicht von so großer Wichtigkeit. Aber wohl ist festzustellen,

daß neben dieser allgemeinen Bedeutung beide Wissenschaften

den Anspruch auf ihre Eigengebiete in der Praxis bewahrt

haben. Nur daß wir dann nicht mehr von einer Philologie sprechen, |#f0107 : 83|



sondern genau wie bei den Literaturgeschichten von der Mehrzahl

klassischer, orientalischer, germanischer und romanischer Philologien,

deren Lage und Umfang jedesmal durch die Kreuzung von Sprachgeschichte,

Literaturgeschichte und Volkskunde bestimmt sind. In

diesem Sinne sprach Scherer von der Philologie als der Wissenschaft

von der Nationalität. Heute pflegt man die Bezeichnung Kulturkunde

vorzuziehen.



Wenn jede Literaturgeschichte somit einer Philologie zugehörig ist,

so spielt diese nicht mehr die Rolle der benachbarten Hilfswissenschaft,

sondern die des Herrn im Hause, der mit allen seinen Mitbewohnern

in Lebensgemeinschaft verwachsen ist.



Sicher ist das Verhältnis der Literaturwissenschaft (als Methodenlehre)

zur Philologie (als Methode) ein viel engeres als zu allen

anderen Wissenschaftsgebieten außer der Philosophie. Es liegt an der

Sprache, die überall sonst Vermittlerin von Tatsachen und Meinungen,

hier aber künstlerisches Ausdruckselement ist. Der Text des Wortkunstwerkes

ist für die Literaturwissenschaft nicht Quelle, die verlassen

werden kann, nachdem ihr Inhalt ausgeschöpft ist, sondern

er bleibt dauernd der Gegenstand unerschöpflicher Beobachtung,

gewissermaßen ein heiliger Gral, dessen speisende Kraft sich stetig

erneuert und dessen geheimnisvolle Wunder die Frage nach der Enträtselung

immer aufs neue zu stellen aufgeben. Man kann sich gleichgültig

abwenden, dann ist man nicht berufen; man kann in ehrfürchtigem

Staunen verharren, dann ist man nicht auserwählt; aber wenn

man die Frage nach den Geheimnissen stellt und sich Rechenschaft

geben will über das Erlebte, so muß man nach dem Schlüssel greifen,

der die Zusammenhänge eröffnet, oder nach der Lanze, die die

geöffnete Seite wieder schließt. Man muß die Werkzeuge der Philologie

benutzen, die scharf und schneidend sind wie das Seziermesser

des Anatomen und zugleich formend und glättend wie der Bossiergriffel

des Bildhauers. Die Philologie befindet sich auf ihrem eigensten

Gebiet, wenn sie dem sprachlichen Kunstwerk gegenübersteht,

dessen Form zu ergründen und nachzuschaffen ist. Philologie ist die

auf sprachliche Formen bezogene Kunstwissenschaft, und gleichzeitig

kann man sie die auf künstlerische Formen bezogene Sprachwissenschaft

nennen.



Jakob Grimm hat in seiner Gedächtnisrede auf Karl Lachmann

zwei Arten von Philologen unterschieden: solche, die die Worte um

der Sachen; solche, die die Sachen um der Worte willen treiben. Er

selbst rechnete sich wohl zu den Vertretern der Sachwissenschaft,

aber der entgegengesetzten Richtung Lachmanns ließ er alle Gerechtigkeit |#f0108 : 84|



widerfahren: „Jeder wird eingeständig sein, daß die Form mit

dem Wesen einer Schrift und gar eines Gedichts innig zusammenhänge

und auf allen Fall der eines großen Teils ihres wahren Gehalts

sicher habhaft werde, dem es in diese Form einzudringen gelungen

sei, während Rücksicht auf die Sache selbst von der Eigenheit einzelner

Werke abzusehen und bienenartig auf den Honig bedacht zu

sein pflegt, der aus mehreren zusammengesogen werden soll.“



Wir werden die beiden hier einander gegenübergestellten philologischen

Richtungen lieber in eine Aufeinanderfolge bringen, die die

Gegensätzlichkeit aufhebt, indem wir Formwissenschaft als Voraussetzung

und Vorstufe der Sachwissenschaft betrachten. Aber wir

werden den nicht unbeträchtlichen übrigbleibenden „Teil des wahren

Gehaltes“, dessen weder Formphilologie noch Sachphilologie habhaft

werden können, der philosophischen Sinnesdeutung als höchster

Kunst des Verstehens überlassen. Nur werden wir guttun, die Reihenfolge

nicht mit einer einfachen Ablösung der Philologie durch die

Philosophie fortzusetzen, sondern von vornherein die Anwendung der

philologischen Methode philosophisch bestimmt sein lassen. Ebenso

verlangen wir von der philosophischen Betrachtungsweise, die an sich

der Sachwissenschaft nähersteht, daß sie von vornherein die philologisch

und ästhetisch zu erkennenden Formprobleme nicht außer acht

läßt, sondern in den Dienst ihrer Deutung stellt. Auch hier kann ein

Fragment Friedrich Schlegels zitiert werden: „Die einzige Art, die

Philosophie auf die Philologie oder, welches noch weit nötiger ist, die

Philologie auf die Philosophie anzuwenden, ist, wenn man zugleich

Philolog und Philosoph ist.“



Wie das Wesen des literarischen Kunstwerkes eine grundsätzliche

Untersuchung gefunden hat, ist auch das Wesen der philologischen

Arbeit philosophischer Betrachtung unterworfen worden. Aber die

„Kritischen Studien über philologische Methode“, die der aus Rickerts

Schule stammende holländische Sprachphilosoph H. J. Pos im Jahre

1923 veröffentlicht hat, wählen insofern einen ungünstigen Ausgangspunkt,

als sie an Studien über die Herausgabe des Kirchenvaters

Orosius anknüpfen, also auf einem Gebiete bleiben, wo die Philologie

wirklich nur Hilfswissenschaft ist. Wenn nun gezeigt wird, daß die

Entdeckung der Eigengesetzlichkeit des Originaltextes erst eine Errungenschaft

kritischer Wissenschaft darstellt, während vor dem

Humanismus es als Recht und Pflicht eines Herausgebers betrachtet

wurde, die Texte nach Normen vermeintlicher Klassizität umzugestalten,

und wenn weiter der Sinn des kritischen Verhaltens von

den Elementarbegriffen bis zu den Aufgaben der Stilerforschung |#f0109 : 85|



analysiert wird, so gelangt man schließlich nur zu dem Ergebnis, daß

die Aufgabe der Philologen darin bestehe, aus einem angeblichen Text

den wirklichen zu rekonstruieren. Darin liegt eine doppelte Beschränkung,

indem einmal die philologische Tätigkeit nur auf Textherstellung

festgelegt wird und indem ihr auch in diesem engen Rahmen die

besondere Aufgabe des künstlerischen Nachschaffens vorenthalten

bleibt. Wenn wir dagegen den Philologen, der ein Wortkunstwerk

herauszugeben hat, als Testamentsvollstrecker des Dichters bezeichnen,

werden wir den Verbindungslinien, die er vom Text zum Dichter und

vom Dichter zum Text herzustellen hat, besser gerecht. Indem er den

letzten Willen des Dichters vollzieht, erscheint seine Tätigkeit als

eine künstlerische Einfühlung in das Werk, die vom Einzelnen zum

Ganzen strebt, und als ein künstlerisches Nachschaffen, das den

Werdegang vom Schöpfer zur Form wiederholt. Auch der Schöpfer

hat sich die saure Mühe der Herstellung eines Textes, indem er Buchstabe

für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile schrieb, nicht

verdrießen lassen und ist deshalb doch kein Schreiber, sondern ein

Dichter gewesen. So hat auch der Philologe nicht den Schreibergeist,

sondern den Dichtergeist in sich lebendig zu fühlen, und die Hauptaufgabe

seiner Kritik wird sein, den fremden Schreiber- und Setzer-

Ungeist, der sich zwischen Dichter und Werk gedrängt hat, auszuschalten

und den echten Dichtergeist in seiner wahren Form wiederherzustellen,

um ihn zu deuten. In der Wiederherstellung liegt sogar

bereits ein Stück Deutung, so wie die Deutung erst die rechte Wiederherstellung

ist.



Der Freiheit sind allerdings Grenzen gesetzt, jenseits deren philologische

Selbstherrlichkeit in Schreibergeist ausarten würde. Wenn

Theodor Birt im „Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft“

als stolzeste Höchstleistung philologischer Kritik die Rekonstruktion

des Inhalts verlorener und die Ergänzung des Inhalts unvollständiger

Werke bezeichnet, so ist wohlweislich nur vom Inhalt, nicht von der

Form die Rede. Vom Testamentsvollstrecker wird nicht verlangt, daß

er aus eigenem Vermögen etwas hinzufügt. Es gibt nun Grenzfälle in

der neueren Literatur, wo die Überlieferung eine Entscheidung schwer

macht. Eduard Mörikes Roman „Maler Nolten“ liegt in zwei Fassungen

vor: in dem vom Dichter verworfenen Erstdruck und in der

von ihm nicht zu Ende geführten Umarbeitung. Diese Umarbeitung,

über der er hinwegstarb, war sein letzter Wille. Wenn nun Julius

Klaiber, um die Werte der Umarbeitung nicht verloren gehen zu

lassen, ihre Lücken durch eigene Zutaten ausfüllte, so konnte diese

schriftstellerische Leistung in der Form nicht ebenbürtig werden, so |#f0110 : 86|



wenig wie die vielen Ergänzungen von Schillers „Geisterseher“ und

„Demetrius“, von Hölderlins „Empedokles“ oder Grillparzers „Esther“.

Ein neuer wissenschaftlicher Herausgeber des Romans kann nun, wenn

ihm der Raum zur Verfügung steht, sowohl die vollständige Urfassung

als den Torso der Umarbeitung zum Abdruck bringen und vielleicht

die Klaibersche Fortsetzung, wenn kein urheberrechtliches Bedenken

besteht, im Anhang anfügen. Das würde dem musealen Gebrauch entsprechen,

neben einem antiken Torso die moderne Rekonstruktion

eines Archäologen in Zeichnung oder Gipsabguß zum Vergleich zu

stellen. Aber nicht tunlich ist die Vermengung (Kontamination)

beider Texte, nämlich die Ergänzung der unvollendeten Umarbeitung

durch den Schluß aus der Urfassung. Ebenso wenig könnte es als

philologische Leistung gelten, wenn der Herausgeber das, was Klaiber

getan hat, noch einmal selbständig wiederholte. Das käme auf den

früheren Museumsbrauch hinaus, an Marmorbruchstücke eines alten

Kunstwerkes, etwa des Laokoon, die fehlenden Arme und Beine in

schlechterem Material durch die Willkür eines modernen Bildhauers

ansetzen zu lassen.



Anders würde es sich verhalten, wenn etwa das alte Kunstwerk,

sei es Plastik oder Dichtung, schon im Altertum durch eine fremde

Hand ergänzt worden wäre. Solche durch die Überlieferung von Jahrtausenden

geheiligte Verbindung pflegt man, auch wenn sie stilkritisch

erkannt ist, nicht auseinanderzureißen. In der mittelalterlichen Epik

dagegen werden trotzdem die fremden Fortsetzungen zu „Tristan“

und „Willehalm“ schon aus Gründen des Umfangs von den Texten

Gottfrieds und Wolframs getrennt.



Die handschriftliche Überlieferung, in der die Werke des

Altertums und des Mittelalters vermittelt sind, und die gedruckte

Überlieferung der Neuzeit bedingen eine wesentlich verschiedene

Handhabung der Textkritik. Während im einen Fall die Entfernung

von der Urform eine fortschreitende Verderbnis darstellt (denn ein

von fremder Hand abgeschriebener Text kann eigentlich niemals besser

werden, vielmehr bedeutet jede von Unberufenen beabsichtigte

Verbesserung eine Verschlechterung), ist bei den Drucken mit beiden

Möglichkeiten zu rechnen. Sie werden von Auflage zu Auflage

schlechter, wenn sie der Willkür des Druckers ausgeliefert sind. Solange

dagegen das gewissenhafte Auge des Dichters ihre Herstellung

überwacht (und nur so lange), wird eine fortlaufende Verbesserung

des Textes durch Überprüfung und Umarbeitung anzunehmen sein,

wobei es allerdings immer noch fraglich bleibt, ob alle diese autorisierten

Änderungen wirklich zum Besten der Dichtung dienen.

|#f0111 : 87|



Die Vergleichung der Handschriften untereinander bezweckt die

Abstufung ihres Wertes. Durch Feststellung gleicher Eigentümlichkeiten

und Fehler, die sich, wenn sie einmal eingedrungen sind, forterben

(seien es sinnstörende Auslassungen oder sinnlose Einfügungen

oder Verschreibungen), kann die Abhängigkeit einzelner Handschriften

untereinander geklärt werden. So finden sich Handschriftenfamilien

zusammen. In dem Stammbaum (Stemma), der dieses Verhältnis

veranschaulicht und die Entstehung der Abweichungen erklärt,

bleibt die Urfassung meist eine unbekannte Größe, ein U oder X, dem

noch verschiedene hypothetische Y und Z folgen können, um die

Anfänge der Verzweigung zu begründen. Endlich kommen die überlieferten

Handschriften A, B, C an ihren Platz. Diejenige unter

ihnen, die dem angenommenen X am nächsten gerückt werden kann,

wird auch in der Bewertung meist obenan stehen. Haften auch ihr

Fehler an, die aus anderen Zweigen der Überlieferung nach Möglichkeit

verbessert werden müssen, so ist sie doch als die zuverlässigste

Grundlage des herzustellenden Textes anzusehen. Indessen kann

solcher Stammbaum sehr verwickelt und sehr umstritten sein. Man

erinnert sich an die erbitterten Kämpfe um die Ahnentafel des

Nibelungenliedes, die seinerzeit die ganze Germanistik zerrütteten

und die schließlich in einem unentschiedenen Waffenstillstand beigelegt

wurden.



Während nun die Geschichte eines handschriftlich überlieferten

Textes rückwärts führt aus sichtlicher Verworrenheit zu einem nicht

erhaltenen, aber rekonstruierbaren Archetypus und damit zur Person

des Dichters, schreitet der neuere Text unter der Hand des Dichters

entwicklungsgeschichtlich vorwärts von der ersten handschriftlichen

Skizze bis zu der Form, die ihm als endgültige Gestalt bestimmt ist.



Diese fertige Gestalt ist der beiderseitige Endpunkt, dem von entgegengesetzten

Richtungen beigekommen wird. Er kann in der älteren

Philologie mit viel mehr Aufwand an Mühe und kritischem Scharfsinn

doch nur annäherungsweise erreicht werden, während er in der

neueren Überlieferung so gut wie gegeben ist. Es müssen schon besondere

Fälle fremder Redaktion sein, wo dies nicht zutrifft, z. B.

posthume, von einem Herausgeber überarbeitete Drucklegung oder

ein Druck nach zuverlässigen Abschriften, der nicht vom Verfasser

beaufsichtigt wurde, oder Vergewaltigungen, die ein vom Verfasser

Bevollmächtigter sich erlaubte, oder endlich Verstümmelung eines

Textes durch die Zensur. Dann ist auch dem neueren Philologen die

Aufgabe auferlegt, durch einen entstellten Text zur verlorenen Urschrift

durchzudringen.

|#f0112 : 88|



Hat der ältere Philologe in der Regel einen Text erst neu zu

schaffen, während dessen einstmaliges Werden im Dunkel bleibt, so

ist der neuere in der glücklicheren Lage, dieses Werden unmittelbar

zu erfassen; er hat im allgemeinen das Entstehen und die Weiterbildung

eines Textes als Vorgang, der sich ohne sein Zutun im Licht

der Öffentlichkeit abspielt, beobachtend zu verfolgen. Trotzdem bedeutet

das, was hier als Schaffen bezeichnet ist, eine mehr negative

Haltung, indem die ältere Textkritik sich hauptsächlich auf Erkennung

und Ausschaltung von Fehlern richtet, während die beobachtende

neuere Textkritik, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf Verbesserungen

einzustellen hat, mehr bejahenden Charakter besitzt.



Der Apparat an Lesarten, der der wissenschaftlichen Ausgabe eines

Textes beigefügt wird, dient bei der älteren Philologie im wesentlichen

der Rechtfertigung des Verfahrens, das einer Kritik der Kritik

unterworfen ist, während beim Werk der neueren Literatur der Benutzer

instand gesetzt wird, nicht nur die kritische Arbeit, sondern

vor allem das Werden des Textes selbst Schritt für Schritt mitzuerleben.

Das kann ein Genuß sein und eine Schulung für sprachkünstlerisches

Empfinden. Schon Goethe hat in diesem Sinne zu einer

Vergleichung der verschiedenen Ausgaben Wielands aufgefordert und

daran die Behauptung geschlossen, „daß ein verständiger, fleißiger

Literator ... allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet

zum Besseren arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des

Geschmacks würde entwickeln können“. Er selbst hat im gleichen

Sinne eigene Werke, die er als Marksteine seiner Entwicklung auffassen

mußte (Götz von Berlichingen, Iphigenie) in verschiedenen

Fassungen seiner Gesamtausgabe einverleibt.



Der Lesartenapparat eines neueren Literaturwerkes, das viele Veränderungen

durchlaufen hat, erspart die selbständige Vergleichung der

verschiedenen Texte. Dem Zweck der Stilbeobachtung ist es zuwider,

wenn dabei Zeile für Zeile jede Abweichung der Schriftzeichen gebucht

wird, wie es die Rechtfertigung der Textherstellung verlangt. Dafür

genügt es, wenn zunächst die einzelnen Drucke in ihrem Wert und

ihren Eigenarten durch Belege charakterisiert und die eigenen Emendationen

angefügt werden. Die Hauptsache aber bleibt der Überblick

über die Entwicklungstendenzen des Textes, und dieser Zweck wäre

am besten erfüllt, wenn das Beobachtungsmaterial nach stilistischen

und sachlichen Kategorien, die in den Umarbeitungen des Dichters

zu erkennen sind, geordnet würde. Daß es nicht geschieht, läßt die

Lesartenapparate der neueren Literaturgeschichte oft so steril erscheinen

und zeigt, daß man hier, ohne die Vorteile der andersartigen |#f0113 : 89|



neueren Überlieferung auszunutzen und die besonderen eigenen Zwecke

lebensvoller Textgeschichte wahrzunehmen, bei dem bewährten Muster

der klassischen Philologie und der ihr nachgebildeten mittelalterlichen

Textausgaben geblieben ist, die allein auf Rechtfertigung ihrer Textherstellung

angewiesen waren. Was im übrigen in beiden Fällen

gleiche Geltung hat, ist die unbedingte Sauberkeit und Zuverlässigkeit

buchstabengetreuer Wiedergabe, für die der Herausgeber mit

der Ehre seines Namens bürgt. Mit ihr steht und fällt der Wert der

ganzen Arbeit, und diese Genauigkeit ist nicht als besonderes wissenschaftliches

Verdienst anzusehen, sondern als selbstverständliche

Pflicht, zu deren Erfüllung nicht jeder geboren ist, zu der man aber

erzogen werden kann. (Ebenso selbstverständlich ist die buchstäbliche

Zuverlässigkeit jedes Zitates nach den ursprünglichen Quellen.

Jedes Zitat aus zweiter Hand zeugt von Mangel wissenschaftlichen

Ernstes und bringt Gefahren der Entstellung und Mißdeutung mit

sich, weil jede aus ihrem Zusammenhang herausgehobene Stelle sich

im Sinn und oft auch im Wortlaut verändert.)



c) Datierung und Zuverlässigkeit



Die als „recensio“ bezeichnete kritische Musterung der Überlieferung

spielt bei den in Jahreszahlen festgelegten Drucken der Neuzeit eine

geringere Rolle. Die Klarstellung der Reihenfolge ist nur dann nötig,

wenn die Drucke undatiert sind oder wenn die gleiche Jahreszahl auf

verschiedenen Drucken desselben Werkes eine Entscheidung der Priorität

und des Wertes erforderlich macht. Es kann sich dabei um

Ausscheidung von Nachdrucken handeln, die darauf berechnet waren,

entweder Autor und Verleger oder nur den Autor in seinem Verdienst

zu schmälern. Die eigentlichen Nachdrucke sind gänzlich unrechtmäßig

und textlich wertlos, wenn sie von einem fremden Verleger

ohne Wissen des Verfassers und gegen seinen Vorteil hinterrücks auf

den Markt geworfen wurden; von zweifelhafter Geltung sind dagegen

die sogenannten Doppeldrucke, die der rechtmäßige Verleger veranstaltete,

wenn seine Auflage der Nachfrage nicht genügte. Es kann so

liegen, daß die ersten Bogen in einer Auflagenhöhe gedruckt waren,

die den Bestellungen nicht genügte. Für die weiteren Bogen wurde

die Auflagenhöhe verdoppelt und die ersten Bogen wurden neugedruckt.

Wenn dabei Druckfehler berichtigt wurden oder hineinkamen,

entstanden Mischexemplare. Anders steht es, wenn zwei Drucke,

welche dieselbe Jahreszahl tragen, durch Fehlerhaftigkeit sich durchweg

unterscheiden. Dann liegt der Verdacht vor, daß die Jahreszahl |#f0114 : 90|



des ersten Erscheinens zu Unrecht wiederholt ist und daß der Autor

um seine Rechte an der zweiten Auflage geprellt wurde. Dieser Verdacht

ist unbegründet, wenn die Doppelausgabe vertraglich vorgesehen

war, wie beispielsweise Cotta seine erste Gesamtausgabe von Goethes

Werken aus Gründen des Druckprivilegs in Wien nachdruckte und

von der endgültigen Gesamtausgabe gleich mehrere im Format und

Papier verschiedene Fassungen herstellen ließ.



In bezug auf Überlieferungswert für die Kritik des Textes ist es

wohl möglich, daß Doppeldrucke, wenn sie auf dieselbe Druckvorlage

zurückgehen, sich ergänzen, indem der eine die Fehler des anderen

wieder gut macht, aber seinerseits neue Fehler hineinbringt. Auf jeden

Fall sind immer nur diejenigen Drucke für Kritik des Textes von

Wert, an denen der Verfasser irgendwelchen Anteil hatte. Mit dem

Tod des Verfassers oder schon mit seiner beginnenden Interesselosigkeit

hört die Zuverlässigkeit auf; Änderungen späterer Auflagen können

günstigstenfalls die Bedeutung von überlegten Konjekturen haben;

in der Regel aber sind es nur gedankenlose Vernachlässigungen. Man

erinnert sich, welche Klagen Jakob Grimm 1859 in seiner Schillerrede

über die Verwahrlosung der privilegierten Cottaschen Klassikertexte

führte, nachdem schon vorher Joachim Meyer seine Besserungsvorschläge

zum Schillertext gemacht hatte. Ein ähnlicher Fall spielte

sich 30 Jahre nach Theodor Storms Tod ab; als Albert Köster eine

neue Gesamtausgabe seiner Werke überwachte, stellte sich heraus,

daß der Text, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an mehr als

1550 Stellen durch Zurückgehen auf die frühen Drucke von eingedrungenen

und fortgeschleppten Entstellungen zu reinigen war.



Solche Fehler können sich allerdings auch unter den Augen des

Dichters einschleichen. Goethe z. B. hat bei seiner 1786 in Karlsbad

vorgenommenen Umarbeitung von „Werthers Leiden“ bequemlichkeitshalber

den gewissenlosen Nachdruck des Berliners Himburg

(1779) zugrunde gelegt und bei der Durchsicht eine Reihe von Flüchtigkeiten

unbemerkt gelassen, die nun über die Ausgabe letzter Hand

hinaus weiter geschleppt wurden, bis Michael Bernays den Sachverhalt

aufdeckte. Ähnliches scheint sich bei Grimmelshausens „Simplicissimus“

abgespielt zu haben, wo der Verfasser bei späterer Umarbeitung

bewußtermaßen die in Rechtschreibung und Satzbau sehr eingreifenden

Änderungen eines Nachdruckers, gegen den er im übrigen wetterte,

sich zu eigen gemacht hat. Der letzte Wille des Dichters ist

in diesen beiden Fällen verschieden auszulegen: während man beim

„Simplicissimus“ die einheitlich durchgeführte Anpassung an die planmäßigen

Eingriffe anerkennen muß, wird man beim „Werther“ zwar |#f0115 : 91|



die Ausgabe letzter Hand zugrundelegen, aber die auf Himburg zurückgehenden

Verderbnisse durch Zurückgreifen auf die erste Ausgabe ausmerzen

müssen, um echtgoethesche Ausdrucksform wieder herzustellen.



Mit Goethes Text haben sich noch merkwürdigere Dinge ereignet.

Von der „Erklärung der zu Goethes Farbenlehre gehörigen Tafeln“,

auf deren Druck im Jahre 1810 besonders liebevolle Sorgfalt verwendet

war, wurde zwei Jahre später durch Geistinger in Wien ein

unrechtmäßiger Nachdruck veranstaltet. Hier war der Verfasser ganz

unbeteiligt, wenn die Verballhornung mit ihren sinnentstellenden

Fehlern allen späteren Goethe-Ausgaben, auch denen, die höchste

wissenschaftliche Ansprüche stellten, als authentische Fassung galt.

Erst 1937 kam es heraus, daß die wegen ihrer kleinlichen Akribie so

viel verspotteten Goethe-Philologen auf den Leim gegangen waren,

indem sie es versäumten, alle erreichbaren Einzelausgaben in Vergleich

zu ziehen.



Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel aus dem Goethe-Text konnte

das philosophische Gewissen zeitweilig in Konflikte bringen. Die Zueignung

zu Goethes „Faust“ bringt im ersten Druck den Vers „Mein

Leid ertönt der unbekannten Menge“. Goethes Tagebücher des

Jahres 1809 enthalten ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten

Teiles das von dem Philologen Riemer, der bei der Drucklegung half,

zusammengestellte Druckfehlerverzeichnis; darin steht: „8. Bd. S. 5

Z. 21 Leid: lies Lied.“ Ohne Zweifel hat Goethe damals diese Bemerkung

gebilligt. Trotzdem blieb „Leid“ in den folgenden Ausgaben

von 1817 und 1828 stehen; nur in einer Einzelausgabe des Jahres

1816 ist „Lied“ eingesetzt, ebenso in allen Ausgaben nach Goethes

Tod (zunächst unter Mitwirkung Riemers), bis die Weimarer Ausgabe

wiederum auf „Leid“ zurückgriff. Sie mußte sich dahin entscheiden

gemäß dem Grundsatz, in zweifelhaften Fällen die Ausgabe letzter

Hand (1828) als maßgebend anzusehen. Die Handschrift, die

über den ursprünglichen Wortlaut hätte Aufschluß geben können,

ist nicht erhalten. Es wäre möglich, daß in der Druckvorlage

„Lied“ stand (was Riemer wußte), daß aber Goethe an dem

Druckfehler „Leid“ Gefallen fand, weil ihm dadurch über das, was

er eigentlich gefühlt hatte, die Augen geöffnet wurden. Der Druckfehlerteufel

hätte damit einmal etwas Gutes eingegeben, denn es kann

kein Zweifel sein, daß das Wort „Leid“ viel mehr persönlichen Lebensgehalt

gerade in bezug auf das Selbstbekenntnis der „Zueignung“

offenbart als das banalere „Lied“, so daß ihm der Vorzug zu geben ist.

Hier also ist ein Beispiel, wie das tiefere Verstehen und die Sinnesdeutung

bei der Textkritik mitzusprechen haben; es bleibt bloß die |#f0116 : 92|



Frage, ob diese Gründe des Geschmacks und der besseren Erklärung

ausgereicht hätten, das Wort „Leid“ auch ohne jede Überlieferungsgrundlage

als konjekturale Emendation in den Text einzusetzen.



Es gibt eine gewisse psychologische Gesetzmäßigkeit des Schreib-

und Druckfehlers wie des Versprechens; z. B. kann das nachfolgende

Wort mit Anlaut oder Auslaut in klanglicher Attraktion vorauswirken,

oder es kann ein ganzer Satzteil vom Auge des Setzers übersprungen

sein, weil dasselbe Wort wiederkehrt. Auch kann ein bequemerer,

gebräuchlicherer Ausdruck ähnlichen Klanges für das

seltenere und stärkere Wort eintreten, z. B. „Zaudern“ statt „Haudern“

in Goethes „Schwager Kronos“. Ungewollte Änderungen haben

manchmal die Wahrscheinlichkeit für sich, so daß die Entstellung

ohne Vergleich mit dem Urtext gar nicht bemerkt wird.



Aber schon die erste Überlieferung kann mit Sinnwidrigkeiten

behaftet sein. Die seit über einem Jahrhundert in Umlauf befindlichen

Klassikertexte weisen noch manches auf, was nur als Hörfehler

beim Diktat oder Schreibfehler der Druckvorlage oder unbemerkt

gebliebener Druckfehler erklärt werden kann. Witkowski gibt in

seinem Buch über Textkritik einige Beispiele wohlbegründeter Berichtigungen

(Konjekturen), die trotz ihrer Wahrscheinlichkeit nicht

berücksichtigt wurden, weil die bisherigen Herausgeber ohne überlieferungsmäßige

Deckung die Verantwortung scheuten. Manchmal

sind solche Besserungsvorschläge allerdings zu rationalistisch, um

überzeugend zu wirken. Über den Vorschlag, in Schillers Jugendgedicht

„Meine Blumen“ statt der rätselhaften Wendung „vom Dom

umzingelt“ das glattere „vom Dorn umzingelt“ zu lesen, hat im Jahre

1915 eine Umfrage stattgefunden, die vielseitigste Erörterung nach

sich zog mit dem Ergebnis, daß man es bei dem überlieferten Text

bewenden ließ. Wenn sich auch keine völlig befriedigende Erklärung

fand, so gehören Dunkelheit, Verstiegenheit und Reimzwang eben zur

Stilcharakteristik der Laura-Gedichte.



Verwickelter liegt der Fall, wenn der Dichter weder in der Lage

war, die Drucklegung seines Werkes selbst zu beaufsichtigen noch

überhaupt eine zuverlässige Druckvorlage herzustellen, so daß er

einen anderen zur letzten Redaktion bevollmächtigen mußte. Dies

scheint mit Heinrich v. Kleists Erstlingsdrama geschehen zu sein, das

er in der Schweiz zurückließ und zu dessen von Ludwig Wieland

besorgter Druckform er sich nach dem Erscheinen kaum mehr bekennen

wollte. Der Druck der „Familie Schroffenstein“ wimmelt von

Fehlern, die sich nach der glücklicherweise erhaltenen Kleistschen

Handschrift, die den Titel „Die Familie Ghonorez“ trägt, berichtigen |#f0117 : 93|



lassen. Nachdem diese Handschrift zum Abdruck gekommen war, versuchte

Eugen Wolff den Nachweis, daß in ihr allein der echt Kleistsche

Text erhalten sei, während die gesamte Umarbeitung einschließlich

der Übertragung von Spanien nach Deutschland, der Änderung

der Namen und der Versifikation des Schlusses auf den jungen Wieland

zurückgehe. Diese Annahme hätte zur Folge haben müssen, daß

„Die Familie Schroffenstein“ zugunsten des älteren Bruders aus den

Kleist-Ausgaben ausgestoßen worden wäre. Hermann Schneider hat

den Gegenbeweis angetreten, durch den der verlorene Sohn wieder

ins Vaterhaus zurückgeführt wurde. Die Methode war die, daß alle

Verschlechterungen als Druckfehler erkannt wurden, die nicht durch

Eingriffe Wielands, sondern höchstens durch seine Nachlässigkeit verschuldet

waren (z. B. „die Diener“ statt „die Deinen“, die „neugebornen“

statt „ungebornen“ ─ lauter Unsinnigkeiten, die auch durch

Konjektur zu beheben waren). Auf der anderen Seite konnten aber

die wesentlichen Umänderungen als sinngemäß durch stilistische Parallelen

aus Kleists späterer Dichtung bestätigt werden.



Handelt es sich um aufeinanderfolgende rechtmäßige Auflagen desselben

Textes, so ist der früheren Ausgabe immer dann recht zu

geben, wenn die Änderungen der späteren Texte nicht auf den Verfasser

zurückzuführen sind. Ist dies aber der Fall, dann muß der

letzte Wille maßgebend sein, auch wenn das, was der Dichter für Verbesserung

hielt, beim heutigen Geschmack keinen Beifall findet, weil

es als Verlust ursprünglicher Frische und als Abschwächung sinnkräftiger

Wirkung empfunden wird. Um die Unmittelbarkeit der Urform

zu retten, bleibt dann nichts anderes übrig, als erste und letzte Fassung

nebeneinander zu drucken, wie das gelegentlich auch bei einer

nur handschriftlichen Überlieferung, z. B. Hölderlinscher Gedichte,

geschehen ist; in keinem Fall aber darf, wie das manchmal populäre

Ausgaben sich erlauben, eine eklektische Mischform nach Willkür und

Belieben hergestellt werden.



Ein synoptischer Druck verschiedener Fassungen rechtfertigt sich

auch bei unentschiedener Priorität. Es kann sich dabei sogar um verschiedene

Sprachen handeln. Das älteste Jedermann-Drama ist holländisch

als „Elckerlijk“, englisch als „Everyman“ überliefert und nur

an Hand des Nebeneinander kann geprüft werden, welches die Urform,

welches die Übersetzung ist, wobei als dritte Möglichkeit immer

noch das Zurückgehen beider Texte auf eine verlorene gemeinsame

Vorlage offen bliebe.



Auf ganz unsicherem Boden steht die Überlieferung, wenn unzuverlässige

Abschriften, mit denen der Dichter nichts zu tun hatte, die |#f0118 : 94|



Vorlagen der ältesten Drucke bildeten. Das ist bei Shakespeare anzunehmen.

Die Unterschiede der voneinander unabhängigen Ausgaben

in Folio und Quarto sind so erheblich, daß sie beiderseits nicht auf

authentische Handschriften, sondern nur auf Nachschriften von Aufführungen,

auf Rollenhefte, Soufflierbücher und ähnliche Zwischenglieder

zurückgeführt werden können. Ihr Wert ist deshalb kaum ein

anderer als der von Nachdrucken, ohne daß ein rechtmäßiger Vordruck

vorhanden wäre. Damit stellen sich auch in der Drucküberlieferung

Verhältnisse dar, die denen der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung

nahekommen. Für jedes einzelne Stück mußte

erst ein eigener Text aufgebaut werden in Abwägung des Wertes der

verschiedenartigen Überlieferung und nach Maßgabe eines Gesamtbildes

vom echten Shakespeare in seiner charakteristischen Schreibweise

und Ausdrucksform. Aber da dieses Gesamtbild erst aus den

Einzeltexten zu gewinnen war, bewegt sich die Kritik des Shakespeareschen

Textes in Zirkelschlüssen, mit deren Auflösung nach jahrhundertelanger

Arbeit alles wieder in Fluß kommt. Ähnlich wie Lachmann

die mittelhochdeutschen Klassikertexte nach gewissen grammatischen

und metrischen Grundsätzen, die er als allgemeingültig

erkannt zu haben glaubte, normalisiert hat, war auch ein einheitlicher

Shakespearestil, hauptsächlich auf Grund der Folio-Ausgabe hergestellt

worden, der für alle kritischen Einzelfragen die Richtlinie gab. Seit

nun aber neuere Forschung (J. Dover Wilson, J. M. Robertson) für

einzelne Texte (z. B. Hamlet) den Quartausgaben den Vorzug gibt, ist

der Bau ins Wanken geraten und muß gestützt oder erneuert werden.



Durch solche Umwälzung werden die anderen außerordentlichen

philologischen Leistungen der Shakespeare-Forschung keineswegs hinfällig.

Ein großer Gewinn, der unerschüttert bleibt, ist die in mühseliger

Einzelforschung gewonnene Feststellung der Reihenfolge seiner

Werke. Die Entstehungszeit jedes einzelnen Stückes war durch eine

Einkreisung zu ermitteln, die von zwei Punkten auszugehen hatte,

dem terminus a quo, dem Zeitpunkt, vor dem es nicht geschrieben

sein kann, und dem terminus ante quem, vor dem es geschrieben sein

muß. Die Grenze nach unten ist durch die Spiegelung bestimmter

Zeitereignisse und datierbarer literarischer Einflüsse, durch Anspielungen

auf geschichtliche Vorgänge und Persönlichkeiten und damit

zusammenhängende politische Tendenzen, wie durch Quellen, die erst

von einem bekannten Zeitpunkt ab zugänglich waren, festgelegt; die

Grenze nach oben durch Aufführungsberichte und datierbare literarische

Anspielungen auf das fertige Werk, durch Polemik, wie durch

andere sichtbare Einwirkung auf die Dichtung der Zeitgenossen. Die |#f0119 : 95|



auf diese Stützpunkte äußerer Chronologie begründete Reihenfolge

stellt ein Gerüst dar, das nun durch Ermittlung der inneren Zusammenhänge

mit Erlebnissen und Schicksalen des Dichters, mit dem

dadurch bedingten Wandel seiner Stimmung, Erfahrung, Lebensauffassung

und Weltanschauung und mit dem fortschreitenden Gang

seiner Problem- und Stilentwicklung unterbaut, gestützt und ausgefüllt

werden muß.



Weiter war die bei Shakespeare besonders schwer zu lösende Frage

des fremden Anteils, nicht nur an der Überlieferung, sondern an der

Stoffgestaltung zu beantworten, da es bei manchen Stücken, z. B. dem

ersten Teil von Heinrich IV., zweifelhaft bleibt, bis zu welchem Grade

er nur der Bearbeiter oder Fortsetzer eines Vorgängers war. Endlich

kommt dazu die Reihe der ihm zugeschriebenen Stücke, die nicht

sicher beglaubigt sind. Die sogenannten „doubtful plays“, wie

„Perikles“, „London prodigal“, „Arden of Feversham“ tragen Züge

des elisabethanischen Zeitgeists, der auch die Form Shakespeares

bestimmte. Hier ist nun Gelegenheit, die Elemente von Personal- und

Zeitstil kritisch zu sondern. Daran schließt sich die Frage, wie weit

Shakespeare als Dichter überhaupt an die Bühne dachte, was schon

von Herder und Goethe bestritten wurde, während andere es als den

eigentlichen Zugang zu seiner Form und Technik betrachteten. Und

zu guter Letzt wird auch immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der

kleine Schauspieler Shakespeare als Dichter nicht überhaupt ein Pseudonym

war, ein Strohmann, dessen sich ein Großer wie Lord Bacon

oder Lord Rutland bediente, weil er sich nicht selbst als Dichter bloßzustellen

wagte. Gegen die literarhistorischen Hintertreppenromane,

die mit Pseudomethoden dilettantischer Mystik wie Aufdeckung verborgener

Schlüssel, Zahlenkabbalistik und geheimer Zeichenschrift in

Szene gesetzt werden, ist die Shakespeare-Forschung immer im Abwehrkampf,

ohne dem Obskurantismus ein Ende machen zu können.

Man möchte sagen: „Ist dies auch Unsinn, hat es doch Methode“,

wenn nicht gerade die Art der angewandten Methoden den Unsinn

bewiese.



Alle Einzelfragen aus dem in der Shakespeare-Forschung zusammengeballten

Bündel philologischer Probleme finden auch in anderen

Literaturgeschichten ihr Vorkommen. So hat die Altertumswissenschaft

durch Methoden der Sprachstatistik (Bernhard Ritter, Hans

v. Arnim) die Reihenfolge der platonischen Dialoge zu bestimmen

gesucht, ohne damit freilich den vollen Beifall der philosophischen

Hermeneutik zu finden. So wird die Chronologie der mittelhochdeutschen

Epik und Lyrik aus dem Netzwerk gegenseitiger Bezugnahme |#f0120 : 96|



von Dichtern wie Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach

und verschiedener Redaktionen des Nibelungenliedes oder aus den

Beziehungen zwischen Reinmar von Hagenau und Walther von der

Vogelweide wie aus der Erwähnung von Kreuzzügen oder von fürstlichen

und königlichen Gönnern herausgesponnen.



Mit Beginn des Buchdrucks macht die Datierung poetischer Werke

geringere Schwierigkeiten; das Jahr des Erscheinens pflegt auf dem

Titelblatt zu stehen, und sogar die Jahreszeit läßt sich in der Frühzeit

des Buchdrucks durch jene Kataloge ermitteln, in denen die zur Frühjahrs-

oder Herbstmesse in Frankfurt oder Leipzig vorgelegten Neuerscheinungen

als „Libri his nundinis prodituri“ angekündigt wurden.

Das sind die Vorläufer des „Wöchentlichen Verzeichnisses“ von Hinrichs

und des Buchhändlerbörsenblattes, mittels deren heute die Ausgabe

eines Buches fast auf den Tag bestimmbar ist.



Die Datierung spielt in der Neuzeit eigentlich nur noch bei einzelnen

Stücken lyrischer Sammlungen, die nicht nach der Reihenfolge

des Entstehens geordnet sind, eine Rolle. Da ist zunächst lediglich

der „terminus ante quem“ mit dem Erscheinen des Buches gegeben

oder mit dem Vorabdruck einzelner Gedichte in Zeitschriften und

Almanachen. Um ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert zu geben, so

ist das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ im Jahre 1529 zum

erstenmal gedruckt worden. Es kann schon früher entstanden sein.

Um seine Entstehung aus einer bestimmten Bedrängnis zu erklären,

suchte man verschiedene Anlässe in den vorausgehenden Jahren. Wer

war mit dem „alt bösen Feind“ gemeint? Der Teufel, der Kaiser,

der Papst oder der Türke? Bezieht sich die Abwehr auf die Türkengefahr,

wie Georg Wolfram zuletzt wahrscheinlich machte, so muß

das Kampflied im Jahre seines Erscheinens entstanden sein als Aufruf

an die ganze Christenheit, nicht als Trutzlied des Protestantismus.



Die persönliche Beziehung und Sinndeutung Goethescher Gedichte

hängt gleichfalls oft von der genauen Datierung ab. Goethe selbst

hat seinem „Wanderer“ eine Beziehung zu Charlotte Buff gegeben,

indem er im Mai 1773 an den Bräutigam Kestner schrieb: „Du

wirst in der Allegorie Lotten und mich und, was ich zu hunderttausendmal

bei ihr gefühlt, erkennen.“ Nun aber war das Gedicht

bereits im April 1772 in Darmstadt vorgelesen worden, zu einer Zeit,

da Goethe Charlotte Buff überhaupt nicht kannte. Das berüchtigte

„Hier irrt Goethe“ scheint in diesem Falle zuzutreffen, wenn man die

Beziehung nicht so deuten will, daß Goethe das Gedicht, dessen

Thema eine idyllische Rast im Anblick ehelich-mütterlichen Glückes

darstellt, später als symbolische Antizipation seiner Wetzlarer Erlebnisse |#f0121 : 97|



aufgefaßt hat. Ein anderer Fall ist der des Weimarer Mondliedes

„Füllest wieder's liebe Tal“, das mit Melodie handschriftlich in

den Briefen an Frau von Stein überliefert ist. Es stellt sich heraus,

daß die Melodie von dem Schweizer Kayser stammt und in dessen

„Gesängen mit Begleitung des Klaviers“ (1777) an den Text eines

Mondliedes von Heinrich Leopold Wagner gebunden war; vor dem

März 1778 aber sind Goethes Text und Kaysers Melodie bereits in

einem handschriftlichen Liederbuch, das für Frau von Stein hergestellt

wurde, aufgenommen. Von der Datierung hängt es nun ab,

ob die Entstehung des Gedichtes mit dem Goethe tief erschütternden

Selbstmord der Christel von Laßberg, die am 17. Januar 1778 in die

Ilm ging, zusammenhängt, oder ob es schon vorher entstand und nur

von der Liebe zu Frau von Stein erfüllt ist, oder ob es, wie Josef

Körner mit wenig Überzeugungskraft glaubhaft zu machen suchte,

noch früher als freundschaftliche Huldigung für Lavater geschaffen

wurde.



Handelt es sich in diesen Fällen um Deutung des ursprünglichen

Sinnes, so kann auf der anderen Seite eine chronologische Festlegung

sich als notwendige Grundlage für die Betrachtung der Stilentwicklung

erweisen. Umgekehrt ist die Stilentwicklung brauchbarstes Hilfsmittel

für die Ermittlung der Chronologie. Aus diesem Strudel kommt

man nur heraus, wenn man außerhalb liegende feste Stützpunkte

finden kann, wie sie gegeben sind in biographischen Daten, Erlebnissen

und brieflichen Zeugnissen, die auf die Entstehungsursache

hinweisen. Auch dann ist zwischen biographischen und stilistischen

Indizien nicht immer Einklang herzustellen. Clemens Brentanos Altersgedicht

„Alhambra“ zum Beispiel könnte nach inhaltlichen Kriterien

teils auf Caroline von Günderode, teils auf Emilie Linder bezogen

werden. Der Biograph Diel nahm infolgedessen die Teilung zwischen

einer Urfassung aus dem Jahr 1803 und einer nach 31 Jahren erfolgten

Umarbeitung und Fortsetzung vor. Dem hat sich neuerdings

Wilhelm Fraenger (mit einer etwas abweichenden Unterscheidung der

Bestandteile) angeschlossen. Aber nach wie vor besteht Reinhold

Steigs Hinweis auf die stilistische Einheit, die sich in so langer

Arbeitspause nicht hätte erhalten können. Lassen sich Reste des

Jugendstils nicht erkennen, so ist die Hypothese hinfällig, und es

bleibt nur die Wahl zwischen Luise Hensel und Emilie Linder, also

den Jahren 1817 oder 1837.

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d) Ermittlung des Verfassers



Das Verhältnis zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien läßt

sich ändern bei datierbaren Werken, deren Verfasser unbekannt ist.

Die Frage der Zugehörigkeit ist für die anonym erschienenen Werke

aller Literaturen ein mit gleicher Methode zu erforschendes Problem.

Die Ergebnisse der „recherche de la paternité“ sind lexikalisch

zusammengefaßt in brauchbaren und unentbehrlichen bibliothekswissenschaftlichen

Hilfsmitteln wie Holzmann-Bohattas „Deutschem

Anonymen-Lexikon“, das seine Vorläufer schon bei Placcius, Dahlmann,

Mylius im 18. Jahrhundert und bei den englischen, französischen,

italienischen, holländischen Werken von Cushing, Barbier,

Melzi, Doorninck im 19. Jahrhundert hatte. Er ist nachträglich noch

durch ein „Deutsches Pseudonymen-Lexikon“ der beiden österreichischen

Bibliothekare ergänzt worden. Für das Mittelalter ist

das von Wolfgang Stammler herausgegebene Verfasserlexikon „Die

deutsche Literatur des Mittelalters“ ein aufschlußgebendes Nachschlagewerk;

für das dunkle Gebiet der erotischen Literatur ist die

„Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa“ von Hugo Hayn und

Alfred N. Gotendorf ein zuverlässiger Führer; zur Ermittlung entfallener

Verfassernamen bei bekannten Titeln der neueren Literatur

empfiehlt sich das „Deutsche Titelbuch“ von Max Schneider, das als

Gedächtnishilfe neben Büchmanns „Geflügelten Worten“ seinen Platz

beanspruchen darf. Endlich kann in einzelnen Fällen über die Verfasserschaft

anonymer oder pseudonymer Bücher und Zeitschriftenbeiträge

aus den Honorarbüchern alter Verlagsarchive (Brockhaus,

Cotta) Aufschluß gewonnen werden, wenn die noch bestehenden

Firmen für ihre eigene Geschichte interessiert sind.



Die Summe aller Bemühungen um Erhellung der Anonymität läßt

nicht nur im Altertum, sondern auch in neuen Zeiten beträchtliche

Lücken, deren Ausfüllung mehr oder weniger hoffnungslos ist. Jede

Literatur weist bedeutende Werke von großer Wirkung auf, über

deren Verfasser, obwohl die Umstände des Erscheinens feststehen,

ein Schleier gebreitet ist. In der spanischen Literaturgeschichte fehlt

der Verfassernamen des ersten Schelmenromanes „Lazarillo de Tormes“

(1554), der früher zu Unrecht Mendoza zugeschrieben wurde.

Der deutschen Literaturgeschichte ist es bisher nicht gelungen, den

Familiennamen jenes „Arigo“ zu ermitteln, der die erste deutsche

Übersetzung des Boccaccioschen „Decamerone“ in Ulm erscheinen

ließ. Zuerst lag der bekannte Übersetzer Heinrich Steinhöwel nahe,

und unter diesem Namen gab Adalbert Keller das Werk neu heraus. |#f0123 : 99|



Aber zwischen den beglaubigten Arbeiten Steinhöwels (Aesop, Apollonius,

Von etlichen frowen usw.) und dem deutschen Decamerone

bestehen solche Unterschiede in Wortschatz, Lautstand, Syntax, Stil

und Übersetzungstechnik, daß diese Identität aufgegeben werden

mußte. Nun ist mancher andere Heinrich (Leubing?, Schlüsselfelder?)

zu ermitteln, dessen Lebensumstände und literarische Umwelt es

möglich erscheinen lassen, daß er der Gesuchte sei, aber immer fehlt

es an anderen beglaubigten Werken desselben Mannes, durch deren

stilistische Übereinstimmung die Identität unabweisbar gesichert

wäre. Und was hilft der Literaturgeschichte ein Name, wenn sich

damit nicht auch das Bild einer Persönlichkeit verbindet?



Ähnlich stand es bisher mit jenem Johann von Saaz, der 1399 das

Gespräch des Witwers mit dem Tod verfaßte, das als „Der Ackermann

aus Böhmen“ berühmt geworden ist. Ein glücklicher Zufallsfund

zog 1934 aus einer Freiburger Sammelhandschrift, in der sie

nicht zu vermuten war, die Abschrift der lateinischen Widmung ans

Licht, mit der Johann von Tepl seinem Landsmann Peter Rothirsch

in Prag das Werk überreichte. Nun bestätigt sich die Identität mit

einem schon vorher in Frage gezogenen Johannes (Henslini) de Šytboř,

der von 1386─1411 Rektor der Stadtschule und Notar in Saaz war.

Ein weiteres Werk von geringerer Bedeutung und sogar ein Bild des

Ackermann-Dichters vom Jahre 1404 haben sich gefunden; aber für

die Familienverhältnisse ist enttäuschenderweise beurkundet, daß

Johann von Tepl bei seinem Tode im Jahre 1415 eine Witwe mit

vier Kindern hinterließ, und diese Tatsache stellt den ergreifenden

persönlichen Erlebnisgehalt in Frage. Gewiß kann der Witwer in

einer zweiten Ehe neues Glück gefunden haben, aber es wäre auch

möglich, daß die Situation des Klagenden nicht selbsterlebt war. Ist

der Dialog nur eine rhetorische Kunstübung, als welche er in der

Widmung betrachtet wird, so verliert er die Bedeutung einer Erlebnisdichtung,

auch wenn er nach Sprachform und Ideengehalt ein zu

jener Zeit einzig dastehendes Werk bleibt.



Falsche Zuweisungen an einen bekannten Namen haben manchmal

zu biographischen Trugschlüssen geführt. Einigen in die posthume

Gesamtausgabe Grimmelshausens aufgenommenen Kurzgeschichten

mußte man z. B. entnehmen, daß der Verfasser eine Zeitlang protestantischer

Parteigänger des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz

gewesen sei, was zu Grimmelshausens späterem Aufenthalt im

Schwarzwald und zu seinem katholischen Bekenntnis nicht passen

will. Nachdem aber entdeckt worden ist, daß Moscheroschs Bibliothekskatalog

die früher erschienene Einzelausgabe der einen Satire |#f0124 : 100|



dem pfälzischen Hofmann Balthasar Venator zuschrieb, hat eine

Untersuchung von dessen Lebensumständen und Stileigentümlichkeiten

diese Angabe völlig bestätigt. In die Gesamtausgabe gelangten die

drei kleinen Schriften, um die es sich handelt, vermutlich weil Grimmelshausen

eine von ihnen für seinen Verleger umgearbeitet hat;

anderes unechtes Gut ist aufgenommen worden, weil es den Namen

Simplicius auf dem Titel trug.



Derartige Irreführung erledigt sich meist durch Vergleich mit unzweifelhaft

echten Werken des Verfassers. Lange Zeit haben die in

Penig gedruckten „Nachtwachen von Bonaventura“ (1804), ein

romantisches Nachtstück, das in der Nachfolge Jean Pauls steht, als

Werk Schellings gegolten, weil einige Gedichte des Philosophen unter

dem Pseudonym „Bonaventura“ erschienen waren. Aber für Pseudonyme

gibt es keinen Musterschutz. Franz Schultz konnte leicht aufzeigen,

wie grundlos sich diese Legende gebildet hatte und wie

unhaltbar sie sei. Schwerer war es, den richtigen Verfasser zu entdecken,

der kein unbedeutender Schriftsteller gewesen sein kann.

Hier gelang es, frühere Hypothesen, die auf Caroline Schlegel, E. Th.

A. Hoffmann und Clemens Brentano deuteten, zu verdrängen, indem

die Verfasserschaft von J. G. Wetzel durch Vergleich mit seinen

übrigen Schriften zu großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht

zu absoluter Gewißheit geführt wurde.



Ähnlich steht es, wenn der anonyme Roman „Der Kettenträger“

(1796), der einmal auf den jungen Heinrich von Kleist großen Eindruck

machte, für Friedrich Maximilian Klinger in Anspruch genommen

wird. Hanna Hellmann hat überzeugend nachgewiesen, warum

der einstige Stürmer und Dränger, wenn er der Verfasser war, als

russischer General sich zu diesem politischen Roman nicht bekennen

durfte. Aber die letzte Durchschlagskraft des Beweises für die Verfasserschaft

fehlt, zumal sich in Klingers Nachlaß, auch in seiner in

Dorpatbefindlichen Bibliothek, keine Spur davon findet. Ein schwaches

Indizium ist neuerdings durch die Tatsache bekannt geworden, daß

der fränkische Edelmann und Sammler Christian von Truchseß, der

viele literarische Beziehungen und Einblicke besaß, schon vor mehr

als hundert Jahren in seiner Bibliothek auf der Bettenburg das Werk

unter den Namen Klinger gestellt hat.



Manchmal mag die Deutung des Pseudonyms zur völligen Aufdeckung

des Geheimnisses verhelfen, so daß ein Indizienbeweis durch

das Geständnis des Überführten gekrönt und die Urteilsfällung über

jeden Zweifel erhoben wird. Ein methodisches Meisterstück dieser

Art konnte Albert Köster liefern, als er 1897 den Verfasser der 1660 |#f0125 : 101|



in Hamburg unter dem Namen Filidor der Dorfferer gedruckten

Gedichtsammlung „Die geharnschte Venus“ ermittelte. Als Verfasser

war fälschlich Jakob Schwieger angenommen worden, bloß weil er

in der Nähe Hamburgs saß und einen ähnlichen Titel „Die verlachte

Venus“ gebraucht hatte. Aber Köster konnte nachweisen, daß die

Sprache der „Geharnschten Venus“ nicht auf Altona deutet, sondern

nach Mitteldeutschland weist, und durch Untersuchung der Reime (z. B.

entwiechen : verbliechen) ließ sich mit Hilfe des in Marburg befindlichen

deutschen Sprachatlas das Gebiet der Herkunft auf Thüringen

einengen. Die Gedichte selbst wiesen inhaltlich nach Leipzig und

ließen stilistische Zusammenhänge mit den Traditionen des dortigen

Gesellschaftsliedes erkennen; andererseits offenbarten sie in Stil und

Wortschatz (Marjelle, Kosenamen Buschgen für Barbara) Beziehungen

zu Königsberg. Die Widmung an einen gewissen „Pranserminto“

klärte sich auf, als in der Königsberger Matrikel ein Magister Martin

Posner, der aus Gera stammte, nachzuweisen war. Nun waren auch

die „Gerenschäfer“ Glykander, Hypsilus und Dafnis, denen eine zweite

Widmung galt, zu deuten; wie die Nürnberger Pegnitzschäfer sich

nach dem Flüßchen, an dem sie ihre Weide fanden, benannt hatten,

so wies der Flußname Gera auf die Stadt Erfurt, und Filidors Beiname

„Dorfferer“ offenbarte sich als Anagramm für „Erfforder“.

Daraufhin war die Königsberger Universitätsmatrikel der vorausgehenden

Jahre auf Studierende, die aus Erfurt stammten, durchzusehen,

und es fand sich 1653 „Casparus Stieler, Erfurto-Thuringus“

eingetragen. Das ist der bekannte Lexikograph, der zuerst in Leipzig

studiert und dann in Königsberg sein Ostsemester absolviert hatte.

Von da war er als Dragoner des Großen Kurfürsten in den Krieg

geritten, und nach seiner Rückkehr hatte er in Hamburg die Lieder,

die er der in Königsberg zurückgelassenen Geliebten gewidmet hatte,

zu der in Druck gehenden Sammlung zusammengefaßt. Die Sprache

entspricht den Regeln, die er später in seinem großen Werk „Der

Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“ (1691) aufstellte.

Ein letzter Schlußstein aber konnte der Beweisführung eingefügt

werden, indem der Beiname „Peilkarastres“, den sich der Dichter

einmal beilegt, als Anagramm des wahren Namens aufzulösen war.

Es ist fast zu vermuten, daß diese glückliche Entdeckung am Anfang

der ganzen Untersuchung stand und daß die anderen Indizien erst

nachträglich zur Unterbauung herangeholt wurden, so daß die Untersuchung

gerade den umgekehrten Gang nahm, als Beweisführung und

spannungerregende Darstellung ihn wählen mußten.



Ähnliche Entdeckungen waren aus urkundlichem Material ans Licht |#f0126 : 102|



getreten, als Friedrich Zarncke in Leipziger Universitätsakten den

Studenten Christian Reuter als Verfasser des Lügenromans „Schellmuffsky“

ermittelte und als es Adolf Stern gelang, den Dichter der

„Insel Felsenburg“, der sich Gisander nannte, in Johann Gottfried

Schnabel zu erkennen. Wieder eine andere Darstellungsmethode

wählte Richard Alewyn, als er 1932 in Johann Beer einen großen

Barockerzähler ans Licht zog. Dieser Name war bisher nur der

Musikgeschichte bekannt gewesen, während die Literaturgeschichte

allein die Pseudonyme Jan Rebhu und Wolfgang Willenhag kannte.

Vergebens hatte man sich um die naheliegende anagrammatische Deutung

des Namens Rebhu bemüht und allerorten einen Johann Huber

gesucht, den man als Verfasser annehmen könne. Alewyn mußte

von dem autobiographischen Gehalt der 18 Romane ausgehen, die

sich so genau in die Lebensgeschichte Beers einfügen, daß an der

Richtigkeit des Nachweises kein Zweifel sein kann. Mit der Erkenntnis

der Zusammenhänge zwischen Leben und Schaffen war aber mehr

gewonnen als ein bloßer Name; zusammenhanglose Titel, die nur als

solche in den Bibliographien verzeichnet waren, rundeten sich zu

einem Gesamtwerk, aus dem das lebensvolle Antlitz des Künstlers

hervorblickt, und so waren mit einemmal für die Literaturgeschichte

des 17. Jahrhunderts neue Werte erobert.



Ein gleichartiges Ergebnis hatte die Entdeckung des Verfassers der

berühmten Reformationssatire „Eccius dedolatus“ durch Paul Merker.

Die Schrift war lange Zeit dem Nürnberger Willibald Pirkheimer

zugeschrieben gewesen und hatte als eine Art literarischen Kommentars

zu dem berühmten Dürerschen Porträt ihre besondere Bedeutung.

Die minderte sich, als der Zusammenhang mit Pirkheimer aufgegeben

werden mußte. Nun ist durch Merkers Nachweis, der sich sowohl auf

Deutung anagrammatischer Spielereien wie auf biographische Ermittlungen

stützt, der Straßburger Humanist Nikolaus Gerbel zur Ehre

der Verfasserschaft gekommen. Nachdem in ihm ein bedeutender

lateinischer Satiriker entdeckt worden ist, führen Spuren zu anderen

Schriften, die ihm zuzuschreiben sind. Der allerdings nicht unbestritten

gebliebene Beweis läuft in neue Hypothesen aus, die sogar mit

einer Beteiligung Gerbels an der Gemeinschaftsarbeit der „Epistolae

obscurorum virorum“ rechnen. Deren hauptsächliche Mitarbeiter

Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten hatte vorher Walter Brecht

in einer scharf beobachtenden Stiluntersuchung bereits im wesentlichen

auseinandergehalten. Hier stand die kritische Sonderung vor

besonderen Problemen, weil die Dunkelmännerbriefe als mimische

Satire die Parodie fremder Ausdrucksweise und das zu karikierende |#f0127 : 103|



Mönchslatein vor Augen hatten. Der Stilunterschied zwischen den

verschiedenen Bearbeitern war also in der Mischung von selbstentäußerter

Durchführung dieser Aufgabe und temperamentvoll durchbrechendem

Eigenausdruck zu erkennen.



e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung



Die Zusammenarbeit mehrerer an einem Werk kann nur das

Ergebnis enger künstlerischer Lebensgemeinschaft sein, wie es außer

dem Erfurter Humanistenkreis, der die Dunkelmännerbriefe ersann,

schon der Fall gewesen ist bei Aristophanes und Eupolis in Athen,

später bei den Studierenden der Londoner Rechtsschulen, aus denen

die Lustspieldichter Beaumont und Fletcher hervorgingen. Sprühender

Witz und geistreicher Spott schlagen reichere Funken bei gegenseitigem

Anreiz als in der Einsamkeit; Zeugnis dafür sind auf der

Höhe die „Xenien“ Goethes und Schillers; in den Niederungen liegen

Doppelfirmen routinierter Lustspielfabrikanten, von denen der eine

mehr für Fabel und Situationen, der andere für den Dialog aufkommt.

Seltener ist ernste Gemeinschaftsarbeit, wie sie vorliegt bei den Brüdern

Goncourt und dem holländischen Ehepaar C. und M. Scharten-

Antink im Roman, bei Arno Holz und Johannes Schlaf, als sie „Papa

Hamlet“ und „Familie Selicke“ schrieben, und bei den Kriegskameraden

Graff und Hintze als Verfassern der „Endlosen Straße“. So hat

auch Jean Paul in den „Flegeljahren“ von einem Roman, den die

Zwillingsbrüder Walt und Vult gemeinsam schreiben wollten, gesprochen,

und der Berliner Romantikerkreis der Bernhardi, Chamisso,

Fouqué, Neumann, Varnhagen hat den Gedanken in die Tat

umgesetzt. Aber ihr Gemeinschaftsroman „Die Versuche und Hindernisse

Karls“, dessen erster Band 1808 erschien, war mehr ein Gesellschaftsspiel,

bei dem der eine Teilnehmer dem anderen Schwierigkeiten

bereitete und Fallen stellte, als daß der Anspruch auf ein

Kunstwerk von innerer Form bestanden hätte. Ebenso war der „Roman

der Zwölf“, der von der Zeitschrift „Die Woche“ kurz vor dem

Weltkrieg in Bestellung gegeben wurde, nur ein großes Reklamepreisrätsel

für die Leser, die das Dutzend mit Namen aufgeführter

Mitarbeiter Kapitel für Kapitel erkennen sollten. Das ist seitdem

in der Provinzpresse mehrfach wiederholt worden. Es bleibt aber

unbestreitbar, was Johannes Schlaf in Erinnerung an seine Zusammenarbeit

mit Arno Holz festgestellt hat: „Es ist unmöglich, daß zwei ein

und die gleiche Konzeption (wie es doch sein muß) aus ihrem

innersten Erleben heraus leisten können.“ Nur einer kann den Gedanken |#f0128 : 104|



des Werkes gefaßt haben, und der andere muß in der Ausarbeitung

sich die Konzeption des ersten zu eigen machen. Aber auch

dann kann nur selten aus der Gemeinschaftsarbeit ein einheitliches

Werk entstehen. Es gilt vielmehr der Ausspruch, den der Individualist

Hebbel in bezug auf das Nibelungenlied tat: der Apfel kann nur

Produkt eines Baumes, nicht eines Waldes sein.



Die alte Heldenepik, auf deren umstrittene Ursprünge damit hingewiesen

ist, stellt allerdings ihre besonderen kritischen Aufgaben;

hier handelt es sich keinesfalls um gleichzeitige Kollektivarbeit, sondern

um eine sich über eine lange Zeit hinziehende Folge von Überarbeitungen

und zusammenfassenden Redaktionen. Daß alles Jüngere

dabei minderwertig sein müsse, nennt Werner Jaeger in bezug auf die

homerischen Epen ein romantisches Vorurteil.



Bei der Auseinanderlösung verschiedener Entstehungsschichten, die

zunächst in der Bibelkritik der Aufklärung zur Anwendung kam und

dann in der Homer-Kritik von Friedr. Aug. Wolf vorbildlich wurde,

spielte die Feststellung von Widersprüchen zwischen einzelnen Teilen

des Ganzen eine wichtige Rolle. Man kann auch in der neueren

Literaturgeschichte solche Kriterien der Uneinheitlichkeit finden.

Wenn etwa das Märchen „Der Palast der Wahrheit“ in Wielands

„Dschinnistan“ nach eigener Erklärung des Herausgebers zum Teil

von einer uns unbekannten Dame bearbeitet wurde, so unterscheidet

sich dieser fremde Anteil nicht nur deutlich im Stil, der erkennen

läßt, wo Wielands Fortsetzung beginnt; auch der Gebrauch der Namen

ist unterschiedlich: anfangs heißt es Almire und Zeloide, später, als

Wieland die Feder aufnimmt, Altamire und Zeolide.



Aber aus der Beobachtung von so geringfügigen oder sogar von

bedeutenderen Widersprüchen ist keineswegs immer der Schluß auf

fremde Mitarbeit oder Überarbeitung zu ziehen. Beispielsweise wird

in Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ der Held bald

August, bald Gustav genannt, und niemand wird daraus den Schluß

auf fremde Mitwirkung ziehen dürfen. Um solche Argumente für

die Schichten- und Liedertheorie der Volksdichtung zu entkräften,

haben seinerzeit die Altgermanisten Kraus und Jellinek eine reiche

Sammlung von „Widersprüchen in Kunstdichtungen“ zusammengetragen,

und andere sind ihnen dann gefolgt. Nicht nur aus Werken,

bei denen fremde Bearbeiter in Frage kommen, wie Shakespeares

„Macbeth“ oder Kleists „Familie Schroffenstein“, sondern bei Dichtungen,

deren Einheit nicht im mindesten bezweifelt werden kann,

wie Cervantes' „Don Quixote“, Lessings „Nathan“, Goethes „Werther“

und „Wahlverwandtschaften“ werden Unstimmigkeiten aufgewiesen, |#f0129 : 105|



die den Satz „Aliquando dormitat bonus Homerus“ zur Bestätigung

gelangen lassen.



Allerdings kann man die Erklärung dafür gelegentlich in der Entstehungsgeschichte

finden, so daß zwar nicht verschiedene Verfasser,

wohl aber verschiedene Stimmungen und Entwicklungsstufen desselben

Dichters beteiligt sind. Ein berühmter, schon von der zeitgenössischen

Kritik angekreideter und vom Dichter doch nicht

behobener Widerspruch in Schillers „Don Carlos“ besteht darin, daß

der Held im vierten Auftritt des zweiten Aufzuges erklärt, er habe

noch nichts Schriftliches von der Hand der Königin gelesen, während

er IV,6 den Brief herauszieht, den sie ihm bei seiner tödlichen Krankheit

nach Alcala schrieb und den er seitdem auf dem Herzen trug.

Der Brief nach Alcala kommt schon bei St. Réal vor; er ist ein Bestandteil

des sich an die erste Quelle enger anschließenden früheren

Planes, während das mißverständliche Stelldichein mit der Prinzessin,

das durch die Unbekanntheit der Schrift motiviert werden muß, einer

späteren Arbeitsphase angehört. Solche Rückschlüsse aus der fertigen

Form der Dichtung auf ihre Entstehungsweise fallen bereits in das

Gebiet der sogenannten „höheren Kritik“, die zu dem Gegenstand

des folgenden Hauptteils gehört.



f) Versteckspiel des Verfassers



Kritik muß manchmal auch an die eigenen Aussagen der Verfasser

gelegt werden, wenn sie ihre aus bestimmten Gründen gewählte

Anonymität durch öffentliche Ableugnung aufrechtzuerhalten gezwungen

sind. So ist es Herder bei den „Kritischen Wäldern“ gegangen,

zu denen er sich später gleichwohl bekannt hat. So hat Lessing als

Herausgeber der Fragmente des Wolfenbütteler Unbekannten aus

Rücksicht auf die Familie Reimarus die Öffentlichkeit geflissentlich

hinters Licht führen müssen. Auch sonst hat er es geliebt, bei eigenen

Werken die Maske des Herausgebers anzulegen: sowohl die Beschwörungszene

seines „Faust“ im 17. Literaturbrief als der erste Teil der

„Erziehung des Menschengeschlechts“ ist von ihm einem Unbekannten

zugeschrieben worden. Während im ersten Fall das Volksschauspiel

als Quelle zu erkennen ist, lag im zweiten Fall die Versuchung nahe,

den fremden Verfasser, der kein unbedeutender Denker gewesen sein

kann, zu ermitteln. Da nun der junge Albrecht Thaer, der spätere

Vater der Landwirtschaft, in einer für seine Braut niedergeschriebenen

Lebensbeichte Andeutungen von theologischen Aufzeichnungen |#f0130 : 106|



machte, deren Abschrift in die Hände eines großen Mannes gefallen

sei, „der den Stil etwas umänderte und einen Teil davon als Fragment

eines unbekannten Verfassers herausgab“, bietet sich in der Tat eine

lockende Fährte. Die Entscheidung hängt sowohl von dem Charakterbilde

Thaers ab als von der Originalität der in den ersten Paragraphen

niedergelegten Gedanken. Während die geschichtsphilosophische Dreistufigkeit

weder von Lessing noch von Thaer erfunden worden ist,

enthält der zweite Teil durchaus Lessingsches Gedankengut. Stilistisch

aber besteht zwischen beiden Teilen so wenig Unterschied, daß die

Durchführung nur das Werk eines Mannes sein kann. Lessing selbst

hat das Ganze geschrieben, auch wenn ihn vielleicht die Kenntnis

Thaerscher Aufzeichnungen veranlaßt haben sollte, seine „Gegensätze“

dem Reimarus gegenüberzustellen.



Ein bei richtiger Handhabung Wunder wirkendes Mittel für die

Ausscheidung fremden Anteils, ja sogar für die Feststellung verschiedener

Arbeitsphasen desselben Verfassers war die von Eduard Sievers

im Anschluß an Rutz und Becking ausgebildete Methode der Schallanalyse.

Was Fingerabdrücke als sicheres Erkennungszeichen des

Individuums, was Graphologie für die charakterologische Analyse

der Schriftzeichen, was Physiognomik für die Abzeichnung des Seelenlebens,

das bedeutete dieses Verfahren für die Erkenntnis des

Charakteristischen in Wort und Klang. Nur daß Fingerabdruck und

Schriftzeichen objektiv gegeben sind und dauernder Beobachtung zur

Verfügung stehen, während Ton und Schall als Augenblickserlebnisse

immer wieder reproduziert und gehört werden müssen, worin zwei

mögliche Fehlerquellen bestehen, nämlich falsche klangliche Reproduktion

und falsche Aufnahme des Gehörten. Wohl muß ein immanenter

Klang und Rhythmus für jeden Text angenommen werden, der

sich verständnisvollem Vortrag mitteilt, aber um das Charakteristische

wahrzunehmen, ist wiederum ein zur höchsten Feinheit ausgebildetes

Gehör notwendig. Wenn auch von der Körperhaltung abhängige Typen

des Vortrags auf bestimmte Kurven der Taktgebung festzulegen und

willkürlich nachzubilden sind und wenn die Beobachtung durch den

Gebrauch von Drahtfiguren, die der Wünschelrute gleichen, mit einer

gewissen Autosuggestion unterstützt werden konnte, so blieb doch

hier, wie beim Medium des Rutengängers, der eigentliche Aufnahmeapparat

subjektiv und konnte bisher durch kein Instrument mechanischer

Aufzeichnung ersetzt werden. Dieses Medium bleibt etwas

Irrationales, und das Verfahren muß vorerst der Vergangenheit

zugerechnet werden als ein Geheimnis, das Eduard Sievers mit sich

ins Grab nahm, da es ihm trotz aller Bemühung und trotz der Übertragung |#f0131 : 107|



auf einzelne Schüler doch nicht gelang, es als eine zuverlässig

zu handhabende Methode allgemein zugänglich zu machen.



Unbewußt mag jeder feinfühlige Hörer etwas von diesem Unterscheidungsvermögen

in sich tragen. Es ist aber auffallend, daß

gerade die Dichter, denen man das sicherste sprachliche Sensorium

zutrauen möchte, im Gefühl für Echtheit und Stileinheit oft versagt

haben. Beispielsweise hat Ludwig Tieck, der auch den unechten

Shakespearestücken seine besondere Liebe zuwandte, ein Drama von

Maximilian Klinger, „Das leidende Weib“ in seine Gesamtausgabe

der Werke von Mich. Reinh. Lenz aufgenommen. Die scharfsinnigen

Kritiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel sollen es fertiggebracht

haben, die „Agnes von Lilien“ der Caroline von Wolzogen

für ein Werk Goethes zu halten. Gustav Freytag nahm in seine Ausgabe

der Werke Otto Ludwigs zwei Erzählungen auf, die zwar denselben

Verfassernamen trugen, aber als Pseudonym eines Mannes,

mit dem der Eisfelder Dichter nichts zu tun hatte. Dabei waren

sowohl die Brüder Schlegel als Freytag gelernte Philologen. Selbst

Goethe hat ein Gedicht, dessen Verfasser Fr. Heinr. Jacobi war,

unwissentlich in seine eigene Sammlung aufgenommen und über das

von ihm inspirierte Fragment „Natur“, das der Schweizer Tobler in

das Tiefurter Journal gab, aus der Alterserinnerung nichts Sicheres

mehr aussagen können.



Nicht minder verwunderlich ist es, daß eine grandiose Fälschung,

wie die des Ossian durch Macpherson von so feinfühligen Kennern

des Naturlauts wie Herder und Goethe nicht erkannt wurde. Sie

waren von dem Geist der Empfindsamkeit, aus dem diese Nachdichtung

hervorgegangen ist, selbst erfüllt und suchten das Naturhafte

im Empfindsamen. Als Gegenstand einer bedeutenden Dichtung

gehört die Gestalt dieses künstlich geschaffenen Sängers der Vorzeit

durchaus in die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, nicht in die

des gälischen Altertums, obwohl es noch heute nicht völlig geklärt

ist, ob Macpherson irgendwelche Reste alter Volksüberlieferung kannte

und verwertete. Der Verdacht gegen die Echtheit mußte aufkommen,

als der angebliche Herausgeber die alten Handschriften, aus denen

er zu schöpfen vorgab, nicht zur Prüfung vorlegen konnte. Überhaupt

besteht solcher Verdacht immer zu Recht, wenn ein Entdecker sich

weigert, die von ihm ausgegrabenen Urkunden einer Echtheitsprüfung

unterziehen zu lassen. So war es mit den angeblichen Gedichten von

Lenz, die Falk aus dem Nachlaß eines russischen Predigers Jerzembsky

ans Licht zu ziehen vorgab. So verhielt es sich mit dem von

K. G. Herwig veröffentlichten Tagebuch, das Heinrich von Kleist |#f0132 : 108|



als Gefangener auf dem Fort de Jout geführt haben soll und das

bestenfalls Bruchstück eines ungedruckt gebliebenen Kleistromans

sein kann.



Dann nämlich darf man von Fälschung nicht sprechen, wenn die

Einkleidung nur dichterische Stilform und technisches Mittel der

Beglaubigung darstellt, wie es bei der chronikalischen Erzählung der

Fall ist. Bei Meinholds „Bernsteinhexe“ oder Kolbenheyers „Meister

Joachim Pausewang“ oder Wilhelm Schäfers „Stauffer-Bern“, wo der

Dichter sich als Herausgeber maskiert, würde der Glaube des Lesers

an urkundliche Echtheit ebenso naiv sein, wie der eines Theaterpublikums,

das auf der Bühne ein Stück Wirklichkeit zu erleben

wähnt. Nennt sich allerdings der Verfasser nicht und ist kein Rahmen

um die fingierte Aufzeichnung geschlossen, so liegt die Irreführung

nahe, und ein Roman, wie die bekannte „Chronik der Anna

Magdalena Bach“, die aus dem Englischen übersetzt ist, wäre als

Fälschung zu erklären, falls die Musikwissenschaft etwa anfinge, ihn

als Quelle für das Leben Johann Sebastians zu betrachten.



Alle diese Beispiele legen Zeugnis ab von der Notwendigkeit der

Echtheitsprobe und von der Unentbehrlichkeit der philologischen

Kritik. Wenn sie heute manchmal in der höheren Literaturwissenschaft

nicht mehr gebraucht zu werden scheint, so liegt es daran, daß

sie auf den Hauptgebieten im Lauf eines Jahrhunderts ihre Arbeit

getan hat und daß man, auf ihren Ergebnissen aufbauend, den Ertrag

als selbstverständlich entgegennimmt, mit oder ohne Dank. Aber

nicht nur im Rückblick, auch im Fortschreiten wird die Wissenschaft

immer wieder zu Aufgaben gelangen, die nur mit philologischen

Methoden zu lösen sind und denen man hilflos gegenübersteht, wenn

geschulter Scharfblick fehlt.

|#f0133 : E109|



DRITTER HAUPTTEIL


DIE ANALYSE


Jede wissenschaftliche Untersuchung zerschneidet, weil

sie auf dem Denken allein beruht und also objektiviert,

die feinen, in keinen Begriff eingehenden Zusammenhänge

der Lebenstotalität.



Eduard Spranger.



1. Grundbegriffe



Auf Sammlung und Kritik folgt die Gliederung, die zunächst

als Struktur des einzelnen Werkes erkannt werden muß. Während die

als „niedere Kritik“ bezeichnete Richtigstellung des Textes mit dem

grammatischen Verstehen, das die erste Stufe philologischer Ergründung

bildet, verknüpft ist, geht die „höhere Kritik“ bei der Analyse

des Wortkunstwerks Hand in Hand mit der Ästhetik. Dem philosophischen

Verstehen wird entgegengekommen, indem in der Tat eine

ihm entgegengesetzte Richtung eingeschlagen wird. Das Werk als

Ganzes wird in seine Elemente aufgelöst, damit in deren Wiederzusammensetzung

das Ganze begriffen werden kann. Im Sinne dieser

Strukturerkenntnis darf die Analyse weder gefühllose Obduktion sein

noch kindlicher Zerstörung eines Spielzeugs gleichen; vielmehr hat

sie als Biologie des Kunstwerkes alle Lebenszusammenhänge des

Organismus zu begreifen, um in ihrer Gliederung die Einheit zu erfassen.

Nicht Zerreißen der Zusammenhänge, sondern Festhalten

dieser Gelenke ist die Aufgabe.



Ein Philosoph wie Henri Bergson sieht im Blick für die Einzelheiten

ein erschlafftes Zerflattern der Aufmerksamkeit und ein Aussetzen

des Willens. Er gibt in seiner „Schöpferischen Entwicklung“

das Beispiel eines Dichters, der seine Verse persönlich vorträgt und

den Hörer zu einem der Inspiration gleichenden Strom sympathischer

innerer Bewegung mitreißt. Sobald die Aufmerksamkeit des Hörers

nachläßt, sondern sich die Eindrücke und verlieren sich im Nacheinander

der Töne, der Sätze, der Worte. „Nun werde ich“, so heißt

es bei Bergson, „die Präzision der Verkettungen, die wundersame

Ordnung des Zuges, die genaue Fügung der Silben zu Worten, der

Worte zu Sätzen bewundern. Je weiter im rein negativen Sinn der |#f0134 : 110|



Erschlaffung ich vorrücke, desto mehr Ausgedehntheit, desto mehr

Kompliziertheit habe ich geschaffen; und je höher die Kompliziertheit

ihrerseits wächst, desto bewunderungswürdiger dünkt mich die

Ordnung, die unerschütterlich fortfährt, zwischen den Elementen zu

herrschen. Dennoch bedeuten weder diese Kompliziertheit noch diese

Ausgedehntheit etwas Positives: sie sind nur Ausdruck für das Aussetzen

des Willens“.



Was der geistreiche Intuitionsphilosoph als unwillkürliche Erschlaffung

ansieht, wird für den analysierenden Beobachter gerade die umgekehrte

Bedeutung bewußter Energie-Anspannung und aufmerksamen

Erkenntniswillens haben. Der Beobachter steht allerdings nicht unter

dem persönlichen zwingenden Eindruck des Dichters, durch dessen

Vortrag er das Werk wie im Zustand des Entstehens entgegennimmt,

sondern er sieht allein das fertige Werk vor sich und sucht in ihm

den Dichter. Er springt aus dem Strom, der ihn mitreißt, heraus ans

Ufer und betrachtet von einem festen Standort aus das Spiel der

Wellen. Er verlangsamt sogar die Bewegung, indem er der einzelnen

Welle mit dem Blick folgt, so daß ein Eindruck in ihm entstehen

kann, wie er bei mächtigem Eisgang zu gewinnen ist, als werde der

Betrachtende getrieben und der Strom stehe still. So kommt eine

Beobachtung mit der Zeitlupe zustande, die die flüchtigen Phasen

der Bewegung auseinanderzieht und die Einzelheiten des Zusammenspiels

festhalten läßt.



Wenn die analytische Zerlegung von außen nach innen strebt, so

sind die Strukturelemente, deren sie gewahr wird, sowohl inhaltlicher

als formaler Natur. Stoff und Form haben zunächst ihre Existenz

außerhalb des individuellen Kunstwerkes. Indem sie zu dessen Aufbau

herbeigerufen werden und der Vereinigung zustreben, werden

sie in aufsteigender Linie verpersönlicht, verinnerlicht und vergeistigt.

Es bilden sich zwei Stufenreihen, eine stoffliche und eine formale,

die in gegenseitiger Annäherung nebeneinander hergehen, um schließlich

eine gemeinsame Spitze zu finden. Ihr Treffpunkt ist die Idee.

Zur inhaltlichen Reihe gehören die Zwischenglieder: Situation, Fabel,

Charaktere, Motive, Probleme; ihnen entsprechen auf der formalen

Seite: Gattung, Technik, Psychologie, Sprachform, Stil. Zwischen

diesen beiden Stufenreihen, die wie Strebepfeiler von außen aufsteigen,

kann aber noch eine innere Säule gesetzt werden, deren

Tragkraft die Vermittlung herstellt; sie bedeutet subjektive Aneignung

des Stoffes und objektive Bewältigung der Form innerhalb der Seelenlage

des Schaffenden. Hier reihen sich alle die Elemente aneinander,

in denen Charakter, Wille und Wesensart des Dichters, selbst wenn |#f0135 : 111|



er sich nicht nennt und unbekannt bleibt, zu suchen und zu erkennen

sind. Ich nenne ihre Glieder: Stimmung, Absicht, Selbstdarstellung,

Wirklichkeitsauffassung, Weltanschauung. Auch diese Reihe strebt

zur Idee hin und geht in ihr auf. Schon Goethe hat den Gehalt

zwischen Stoff und Form gestellt in dem Spruch der „Maximen und

Reflexionen“: „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet

nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis

den meisten.“ Wenn Walzel dagegen im Wort „Gehalt“, dem er die

„Gestalt“ als zweite Seite des Kunstwerks gegenüberstellt, das Stoffliche

und Inhaltliche zusammenfaßt, so gehört noch ein drittes Reimwort

dazu, das Friso Melzer eingeführt hat, nämlich Gewalt. In dieser

innerlichen Entwicklungsrichtung wirken die schaffenden Kräfte und

liegen die seelischen Wirkungsmöglichkeiten der Dichtung; sie sind

als die eigentliche Mitte ihrer Existenz zu betrachten.



Das Schema, das für die Aufgaben der Analyse richtunggebend sein

soll, wäre demnach folgendes pyramidenförmige Gebilde, das von

der Basis aus zu betrachten ist:



[Abbildung]

7. Geist Idee

6. Persönlichkeit Probleme──Weltanschauung──Stil

5. Verknüpfung Motive──Wirklichkeitsauffassung──Sprachform

4. Gestaltung Charaktere───-Selbstdarstellung───-Psychologie

3. Plan Fabel──────Absicht──────Technik

2. Innere Form Situation──────Stimmung──────Gattung

1. Grundriß Stoff───────Dichter (Erlebnis)───────Form



Von außen als Leser an ein Werk herantretend, finden wir schon

auf dem Titelblatt die drei Grundbegriffe Stoff, Form und Dichter

vereinigt, z. B. „Iphigenie auf Tauris, Schauspiel von Goethe“. Der

Name des Dichters, in dem sich in der Regel der Zusammenhang mit

einer ganzen Reihe anderer Werke herstellt, kann indessen unbekannt

sein; er ist auch für eine Betrachtung, die sich ausschließlich in das

einzelne Werk vertieft, unwesentlich. In der mittleren Säule wird

erst mit dem Begriff der „Stimmung“ auf ein analysierbares persönliches

Element der Dichtung gestoßen.



Da es bei der Analyse darauf ankommen muß, die Zusammenhänge

zu sehen, statt sie auseinanderzulösen, verzichte ich darauf, die formale,

seelische und stoffliche Kategorie getrennt zu behandeln. Statt

jede der drei vertikalen Reihen für sich im Aufstieg ihrer Glieder zu |#f0136 : 112|



verfolgen, hat es seinen Vorzug, die einzelnen Stufen horizontal zu

durchmessen, weil die notwendig begriffliche Klärung durch die

Wechselwirkung zwischen den inhaltlichen und formalen Kategorien

erleichtert wird. Ich wähle also, um vom Stoff zur Idee zu gelangen,

den Weg, den das Schema in den durchgehenden Verbindungslinien

andeutet. Bei jedem Haltepunkt wird vor den Beispielen eine Klarstellung

des Begriffs in Auseinandersetzung mit gebräuchlichen Anwendungen

sich als notwendig erweisen. Eine eindeutige Handhabung

der Terminologie ist Voraussetzung jeder Analyse; gerade in der

Anwendung von Bezeichnungen wie Stoff, Erlebnis, Technik, Motiv,

Stil und Idee hat die Dichtungslehre bis jetzt eine ziemliche Willkür

und Verwirrung aufkommen lassen, die jedem folgerichtigen Vorgehen

im Wege steht.



2. Erste Stufe: Grundriß


a) Stoff und Erlebnis



Die erste Frage ist, ob Stoff und Form an sich existieren, und zwar

außerhalb oder innerhalb des Kunstwerkes oder ob sie nicht bloß

als heuristische Hilfsbegriffe zu betrachten sind. Schon beim Wort

Stoff beginnt die Unsicherheit schwankenden Gebrauchs. Wenn in

einer Sammlung „Stoff- und Motivgeschichte“ der „Wald“ als Stoff

der Dichtung betrachtet wird, so könnte man im Zweifel sein, ob

er nicht besser als Erlebnis oder als Motiv oder gar als Stimmung

aufgefaßt würde, weil er einen Schauplatz, aber kein Geschehen darstellt.

Dem Stoff liegt immer eine einmalige Begebenheit zugrunde,

der erst durch künstlerische Darstellung allgemeine Bedeutung verliehen

wird. Die Eignung zu symbolischer Sinngebung macht die

Begebenheit zum poetischen Stoff.



Um ein paar voneinander abweichende Definitionen zu nennen,

so ist der Stoff für Walzel „das, was vor dem Kunstwerk vorhanden

war und neben ihm bestehen bleibt“; für Petsch ist es nicht mehr

der Rohstoff, wie ihn der Dichter aus seiner „Quelle“ bezieht oder

im eigenen Leben „erfährt“, sondern der bereits vorgeformte, symbolfähige

Inhalt; für Hefele steht der Stoff mitten zwischen Erlebnis

und Gestaltung; ebenso bedeutet er für Schultze-Jahde das „im Ausdruck

gegebene Erlebnis, das ursprünglich ohne Ausdruck im Vorausdrucksstadium

existierte“; dagegen ist der Stoff für Ermatinger

der Gegenstand eines Erlebnisses; er geht also diesem voraus; aber

zugleich bedeutet er eine Gruppe von Inhaltsteilen im Dichtwerk und

wird gleichgesetzt mit der Welt der Motive. Damit sind drei oder vier |#f0137 : 113|



verschiedene Stadien der Stoffverarbeitung gekennzeichnet, und von

diesen sich widersprechenden Auffassungen ist keine voll befriedigend.

Zur ersten ist zu bemerken, daß es einen ungestalteten Stoff kaum

gibt; man kann ihn höchstens in Zeitungsnachrichten finden, aus

denen sich Ibsen gelegentlich inspirieren ließ, oder in gesellschaftlicher

chronique scandaleuse, aus der Fontane zu schöpfen liebte;

diese Art Stoff lebt nicht neben dem Kunstwerk weiter. Aber schon

das bloße „Memorabile“, das nichts weiter als Stoffübermittlung ist,

wird von André Jolles zu den „einfachen Formen“ gerechnet, und

sein Schüler Otto Görner konnte nun den Weg „vom Memorabile zur

Schicksalstragödie“ verfolgen.



Jede geschichtliche oder sagenhafte Begebenheit, die der Dichter

aufgreift, tritt ihm bereits gestaltet entgegen, sei es in mündlicher

Überlieferung oder in Schrift und Druck. Häufig, besonders im

Drama, ging die Anregung sogar bereits von einem literarisch geformten

Werk aus, wie z. B. für Goethes „Faust“ vom Puppenspiel, das

bis auf Marlowes Drama zurückzuführen ist, oder für Schillers „Don

Carlos“ von der Novelle des St. Réal. Diese Texte bestehen allerdings

neben Goethes und Schillers Dichtungen weiter, aber nicht als Stoff,

sondern als Puppenspiel und Novelle. Stoff wurde diese bereits geformte

Sage oder Geschichte für den Dichter selbst erst in dem Augenblick,

als er den Reiz empfand, ihr eine neue eigene Form zu geben.

Sobald seine Phantasie mit diesen Möglichkeiten spielt, beginnt bereits

die persönliche Umformung des zuvor von anderen Geformten.



Nach dieser Vorformung setzt erst das Quellenstudium ein, bei

Goethe mit Benutzung der Volksbücher, bei Schiller mit Heranziehung

geschichtlicher Darstellungen. Aber man kann nicht mit Petsch diese

Quellen als Rohstoff bezeichnen, denn auch sie sind bereits geformt:

in der französischen, spanischen, englischen Geschichtsschreibung tritt

das Schicksal des Don Carlos in ein völlig verschiedenes Licht; die

einen sind Ankläger, die anderen Verteidiger des Vaters, der über

seinen Sohn und Erben furchtbares Gericht hielt. Die stofflichen

Quellen sind also für den Dichter nichts anderes als das Aktenmaterial

eines Prozesses; der Stoff ist eine schon lange anhängige Sache, die

den Dichter zu eigenem Urteilsspruch auffordert. Er ist dazu berechtigt,

wenn er, wie Ibsen sagte, in der Dichtung Gerichtstag über sich

selbst hält. Das tat Goethe, indem er Faust entgegen aller stofflichen

Überlieferung zur Erlösung führte; das tat Schiller, indem er im Verlauf

der Arbeit den jugendlichen Sturm- und Drang-Helden, in dem

er sich selbst fühlte, hinter der überlegenen Gestalt des reifen Freundes

zurücktreten ließ, einer Gestalt, die in der novellistischen Quelle |#f0138 : 114|



nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt und in den geschichtlichen

Quellen überhaupt nicht vorkommt, also dem vor der Dichtung

existierenden Stoffe streng genommen gar nicht angehört.



Wenn man allerdings mit Ermatinger das Aggregat von Motiven,

das in der Dichtung verknüpft ist, als Stoff bezeichnen will, dann

müßte der Hauptträger des Motivs der sich aufopfernden Freundschaft

Marquis Posa zum Stoff des „Don Carlos“ gerechnet werden,

obwohl er erst aus Schillers eigenen Freundschaftserlebnissen und aus

den Problemen seiner politischen Gefühlswelt zur bedeutenden Rolle

herangewachsen ist.



Die Ermatingersche Definition ist von Beispielen der Lyrik hergeleitet,

und die Lyrik weist wohl Motive auf, aber keinen von außen

herangetretenen, bereits in irgendeiner Weise geformten Stoff. Nur

bei der Ballade und allenfalls beim Rollenlied und Bildgedicht (also

bei Arten, die sich von der reinen und unmittelbaren Empfindungslyrik

in der Richtung zum Drama oder Epos entfernen) kann man

von einer Anregung durch fremde Überlieferung sprechen; die individuelle

oder kollektive Gefühlslyrik aber hat statt des entlehnten

Stoffes das eigene oder allgemeine Erlebnis zur Grundlage; sie hat

also ihren Ansatzpunkt im Innern und setzt an die Stelle der Handlung

den seelischen Zustand. Motivverbindung gibt es in beiden

Fällen, sowohl im Erlebnis als im überlieferten Stoff, aber es ist

wesentlich, daß bei der Stoffentlehnung der pragmatischen Dichtungsgattungen

(Epos und Drama) die Motive in persönlicher Gestaltung

verändert werden, während sie in der stofflosen Lyrik als erlebte

Urbilder sich erhalten und offenbaren.



Gibt das unmittelbare Erlebnis von innen heraus der reinen Lyrik

ihre Motive, so wird es damit zu deren Stoff, während bei den anderen

Gattungen der von außen her überlieferte Stoff erst zum Erlebnis

werden muß, damit er gestaltet werden kann.



Was Ermatinger als Stofferlebnis bezeichnet, das kann in der Tat

auf Verschmelzung einer von außen herantretenden Überlieferung mit

inneren Erfahrungen beruhen. Dabei können sowohl verschiedene

Erlebnisse mit einem Stoff sich kreuzen, als verschiedene Stoffe mit

einem Grunderlebnis zusammentreffen. Für das erste wäre ein Beispiel

die Entstehung von Goethes „Clavigo“. Die Memoiren des

Beaumarchais, die das ritterliche Eintreten für die Ehre der Schwester

gegenüber dem treulosen Spanier in Szene setzten, packten Goethe

an zwei Punkten seiner damaligen Seelenlage: es wurde sowohl an

das Erlebnis eigener Treulosigkeit gegenüber Friederike Brion gerührt

als an das brüderliche Verantwortungsgefühl für die Ehre der eigenen |#f0139 : 115|



Schwester Cornelia. Man kann sagen, ohne diese beiden erlebnismäßigen

Berührungspunkte hätte Goethe keinen „Clavigo“ geschrieben,

auch wenn ihn das Gesellschaftsspiel zur schnellen Fertigung

eines Dramas verpflichtete.



Das umgekehrte Beispiel des Zusammentreffens mehrerer, auf verschiedenen

Ebenen gelagerter Stoffe mit einem Grunderlebnis gibt

uns ein lebender Dichter, Friedrich Bethge, in der Vorrede seines

Schauspiels „Marsch der Veteranen“. Von den stofflichen Quellen,

deren Zusammenfließen der Dichter beobachtete, war das eine der

Zeitungsbericht vom Hungermarsch nach Washington, den ehemalige

amerikanische Kriegsteilnehmer im Frühjahr 1932 unternahmen; das

andere war eine Episode im Roman „Tote Seelen“ von Gogol, nämlich

die Erzählung von dem Hauptmann Kopejkin, der im Kriege gegen

Napoleon Arm und Bein verlor und in Petersburg, wo er vom Väterchen

Zar Hilfe hoffte, Woche für Woche mit den Worten „Komm

wieder!“ vertröstet wird. Von den beiden Quellen, dem zeitgeschichtlichen

Rohstoff und dem bereits literarisch geformten Geschichtsbild,

kann man das eine als Erlebnisstoff, das andere als Stofferlebnis bezeichnen.

Der Verfasser erzählt, wie mit der zufälligen Gogol-Lektüre

im Augenblick, wo die Dramatisierung des so ähnlich gelagerten

Stoffes der amerikanischen Veteranen geplant war, die Entscheidung

fiel, das Thema um des zeitlichen und künstlerischen Abstandes willen

ins napoleonische Rußland zu verlegen. Während für die Zeichnung

der Petersburger Gesellschaft um 1812/13 Tolstois „Krieg und Frieden“

als Quelle dienen konnte, wurde aus dem amerikanischen Generalstabschef

ein ehemaliger preußischer Offizier der Armee Friedrichs

des Großen, der dem korrupten russischen Staat das preußische

Maß entgegenzuhalten hat. In dieser Gestalt und ihrer Tendenz hat

nun das eigene Kriegserlebnis des Verfassers auf Bildung der Fabel

Einfluß gewonnen. Ohne die zu einer Weltanschauung verfestigte

Erlebnisgrundlage, die in der eigenen Kriegserfahrung des mehrmals

verwundeten Frontkämpfers und in der bitteren Erfahrung des geringen

Dankes der Heimat beruhte, hätten die beiden parallelen Stoffe

nicht wie ein Stück eigenen Schicksals gestaltet werden können. Derselbe

Dichter gibt in der Vorrede seines früheren Kriegsdramas

„Reims“ eine Selbstanalyse, die das Zusammentreffen eines aus Zeitungsnachrichten

geschöpften Stoffes mit dem eigenen Fronterlebnis

darstellt und die Übertragung der Fabel vom italienischen auf den

französischen Kriegsschauplatz und von der österreichischen auf die

deutsche Armee begründet.



Wie aber soll analytisch aus solcher Verquickung das Erlebnis herauszulösen |#f0140 : 116|



sein, ohne daß man von dem Leben des Dichters weiß

oder sogar Selbstzeugnisse zur Verfügung hat, wie sie Bethge gibt

oder wie sie in „Dichtung und Wahrheit“ für den Erlebnisgehalt der

Goetheschen Jugendwerke zu finden sind? Die Analyse bietet zwei

Möglichkeiten:



Der eine Weg, zur Person des Dichters und zu seinem Erlebnis

zu gelangen, ist der rationale, der vom Stoffe ausgeht und die Verschmelzung

zwischen Stoff und Erlebnis wieder aufzulösen sucht. Was

nach Ausscheidung des stofflich Überlieferten übrig bliebe, wäre das

Erlebte. Sogar das, was der Dichter selbst ausgeschieden hat, kann,

insofern es zu seinem Erlebnis im Widerspruch stand, Rückschlüsse

auf dieses erlauben. Wenn Goethe dem geschichtlichen Egmont, der

verheiratet und Vater von neun Kindern war, sein eigenes Lebensalter

gab und ihn zum Liebhaber Clärchens machte, so hat ihm Schillers

Kritik die Preisgabe rührender Situationen und Konflikte des

Familienvaters zum Vorwurf gemacht; Goethe hätte aber hier schon

wie später gegenüber Schillers Bühnenbearbeitung sich selbst behaupten

können mit Clärchens Worten „Dieses ist mein Egmont.“ Fleisch

von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut! Man braucht durchaus

nicht dem Verhältnis zu einem Offenbacher Mädchen Lotte Nagel

nachzuspüren, um herauszufühlen, was in Egmonts Charakter Selbstdarstellung

und Erlebnis Goethes ist.



Der andere, irrationale Weg würde dahin führen, das persönlich

Erlebte mit phänomenologischer Intuition zu erschließen aus der

existentiellen Kraft, aus der Gefühlswärme und Eindringlichkeit der

Darstellung, aus der Originalität und überzeugenden Lebenswahrheit

der Motive und aus einer zentralen Stellung des damit verbundenen

Problems im Gesamtwerk. Wir spüren nicht etwa dem Erlebten aus

irgendwelcher Neugier um die Privatverhältnisse des Dichters nach,

sondern es drängt sich uns durch seine Echtheitswirkung auf. Wenn

nun Stimmungsgehalt und Lebensgefühl sich vom Werk auf den Leser

übertragen, so muß die Frage auftauchen, ob nicht gerade das, was

im Empfangenden als stärkstes Erlebnis sich einprägt, rückschließend

auch als das stärkste Erlebnis des Schöpfers betrachtet werden darf.

Wenn Dichtung Gestaltung eines Erlebnisses ist, so wird sie wiederum

zum Erlebnis einer Gestaltung. Damit ist eine gewisse Wiederholung

des Schöpfungsvorganges vollzogen, die aber höchstens ein rückläufiges

Analogon, niemals eine Identität bedeuten kann, wie ja auch

die Dichtung selbst, wenn wir Lugowskis Ausdruck anwenden wollen,

nur ein mythisches Anologon erlebter Wirklichkeit darstellt. Voraussetzung

der Analogie zwischen Schöpfer und einfühlendem Nachschöpfer |#f0141 : 117|



müßte zudem eine seelische Gleichstellung sein, deren man

nur sicher sein kann, wenn man den Dichter kennt. Goethe fand

einmal das Ideal tiefeindringenden Verstehens, als er dem Maler

Tischbein in Rom seine „Iphigenie“ vorlas. Er schrieb damals an

Charlotte von Stein: „Die sonderbare, originale Art, wie dieser das

Stück ansah und mich über den Zustand, in welchem ich es geschrieben,

aufklärte, erschröckte mich. Es sind keine Worte, wie fein

und tief er den Menschen unter dieser Helden Maske empfunden.“

Solches Einfühlen war vielleicht doch nur im Angesicht des Dichters

möglich. Und das Ergebnis lief hier, wie Goethe selbst fühlte, mehr

auf die Analyse des Menschen als der Dichtung hinaus.



Nun hat schon Goethe gesagt, daß erfahrungsgemäß das Was des

Kunstwerks die Menschen mehr interessiere als das Wie. Dieser Bevorzugung

des Inhalts leistet der Dichter selbst Vorschub, indem er

auch die Form in den Dienst der Anspannung eines stofflichen Interesses

beim Leser treten läßt. Schon der Titel ist ein Formelement,

das auf den Inhalt hinweist und wie das Aushängeschild eines Hauses

den Besucher mit Spannung erfüllt und anlockt.



Die Prägung des Titels, der nach Schopenhauer ein Monogramm

des Inhalts ist, wird zum ersten Gegenstand der Analyse. Weist der

Titel auf Persönlichkeiten und Ereignisse der Geschichte, so sind

damit schon die räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Stoffes

festgelegt; enthält er eine persönliche Beziehung („Meine Blumen“),

so gibt er ein Stück Situation und Selbstdarstellung; greift er Namen

aus Mythen und Sagen auf, so ist damit wenigstens eine räumliche

Bestimmung gegeben; weist er auf raum- und zeitlose Parabeln und

Legenden, so werden Motive bezeichnet, die symbolische Bedeutung

für Fabeln der Vergangenheit oder Gegenwart haben können (z. B.

„Der verlorene Sohn“ oder „Maria Magdalena“); ebenso können

Charaktere („Der Geizige“, „Der Verschwender“, „Der Schwierige“)

durch den Titel in den Vordergrund gestellt werden. Sind Konflikte

von Schicksalsmächten durch Gegenüberstellung von Abstraktionen

gekennzeichnet („Kabale und Liebe“, „Glaube und Heimat“), so ist

der Titel die Aufrollung eines Problems, und schließlich kann er

(„Über allen Zauber Liebe“) sogar die Idee eines Stückes bezeichnen.

So kann dieses Formelement bereits auf alle Glieder der inhaltlichen

Reihe vordeutend hinweisen. Nur für die Stofflosigkeit der Lyrik ist

es charakteristisch, daß viele Gedichte überhaupt keine Überschrift

finden und daß, wenn sie zu einem Zyklus vereinigt werden, der Titel

eher einer formalen als einer inhaltlichen Beziehung sich anpaßt

(Romanzero, Geharnischte Sonette, Duineser Elegien).

|#f0142 : 118|



Wir müssen dabei bleiben, daß, wenn die Dichtung überhaupt einen

Stoff hat, dieser in einer zunächst außerhalb von ihr gelegenen Überlieferung

besteht. Sie wird an den Dichter herangetragen oder von

ihm aufgefunden und bietet ihm eine lockende Gelegenheit, eine Aufforderung,

eine Frage nach der Möglichkeit der Gestaltung. Sobald

er sie aufgegriffen hat, ist sie sein Erlebnis geworden, und er spiegelt

sich selbst in ihr; nun beginnt die persönliche Formung, und damit

ist die Eigenexistenz des Stoffes vorbei. Die sogenannte Stoffgeschichte

ist nichts anderes als das Grundbuchamt der Literatur, das

jede Aneignung und Inbesitznahme verzeichnet. Der Stoff gleicht dem

Baugrund, der sich in seiner eigentlichen Beschaffenheit dem Blick

entzieht, sobald ein Bau darauf entstanden ist. Gleichwohl behält das

Haus seine Bezeichnung nach dem Grundstück, auf das es gesetzt

wurde.



b) Form



Wenn Stoff und Erlebnis innerhalb der Literaturgeschichte nur in

Beziehung auf Dichtungen, deren Gestaltungsgrundlage sie geworden

sind, Sinn und Bedeutung haben, so bedeutet die Form zunächst

auch nichts anderes als Gestaltungsmöglichkeit im Sinne einer Aufgabe.

Die Definitionen des Begriffes Form sind noch weit vielfältiger

und widerspruchsvoller als die des Stoffes. Meist laufen sie darauf

hinaus, daß die Form untrennbar vom Gehalt sei und nichts anderes

als die gegenständlich faßbare Oberfläche, die sinnlich wahrnehmbare

Erscheinungsweise des Innern, ja sogar nur den „Atem des Inhalts“

(Hefele) darstelle. Sie wäre danach ein ganz einmaliges, dem einmaligen

Gegenstand entsprechendes Gebilde. So hat auch Aug. Wilh.

Schlegel in der Form „die sprechende durch keine störende Zufälligkeiten

entstellte Physiognomie jedes Dinges, die von dem verborgenen

Wesen ein wahrhaftes Zeugnis ablegt“, sehen wollen. Aber gerade

dieser Formkünstler, der Dichten mit Übersetzen gleichstellte, hat

seinen Inhalt, an dem nicht viele Tiefen zu verbergen waren, eher

durch die äußere Gestaltung bestimmen lassen als umgekehrt. Hat er

doch Sonette gedichtet, deren Thema die Form des Sonettes war.

Nicht anders ist es mit Virtuosen des Formspiels, wie Friedrich

Rückert, gewesen. Wiederum hat bei Stefan George und seinem Kreis

die Form eine metaphysische Bedeutung, wie sie auch aus Goethes

Wort „Jede Form, sie kommt von oben“ herausklingt.



Erfahrungsgemäß ist nicht zu leugnen, daß es objektive Formen

gibt, die zwar nicht ohne füllenden Gehalt und Gegenstand in Erscheinung

treten können, die aber in einer begrenzten Zahl von |#f0143 : 119|



Typen sich registrieren lassen. Dahin gehören sprachliche, rhythmische,

strophische Gebilde von fester Prägung, die, soweit es möglich

ist, aus einer Sprache in die andere übernommen werden, gattungsmäßige

Typen der Gliederung und des Aufbaus, kurz alles, was in

den Kapiteln der Poetik, Metrik und Stilistik geregelt ist und was

die einzelnen Glieder der formalen Reihe unseres Schemas bildet.



Stoff und Form als Möglichkeit und Aufgabe bedeuten in ihrer

ersten lockeren Vereinigung durch den Dichter so viel wie den Bauplan

seines Werkes vor der Ausführung. Wenn in der fertigen Dichtung

von diesem Grundriß so wenig zu erblicken ist, wie bei einer

ausgeführten Architektur, so strebt trotzdem die Strukturanalyse in

beiden Fällen nach Erkenntnis der flächenhaften Projektion. Hat es

aber Sinn, die Beschaffenheit des Bodens festzustellen, der den Bauplan

bedingte, oder gar die Erdarbeiten und Bodenveränderungen zu

verfolgen, die dem Bau vorausgehen mußten? Nichts anderes bedeutet

ein Quellenstudium, das die Beschaffenheit der stofflichen Grundlagen

ermittelt, um die mit ihnen vorgenommene Umformung zu erkennen.

Es ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, der Dichtung

näherzukommen und in ihre Eigenart einzudringen. Die Beobachtung

der selbständigen Veränderungen, die an der Überlieferung vorgenommen

wurden, ist, wie wir sahen, das erste Verhältnis zur Person des

Dichters, zu seiner Auffassung und Arbeitsweise, das auf analytischem

Wege gewonnen werden kann.



Die zweite, auf Stoffuntersuchung beruhende Methode ist die der

Gegenüberstellung mit anderen Behandlungen des gleichen Gegenstandes.

Nicht die öde Vollständigkeit von Titeln und Inhaltsangaben,

die eine überlebte Stoffgeschichte anhäufte, kann der Analyse einer

einzelnen Dichtung förderlich sein, wohl aber ein durchgeführter

Vergleich, wie er eigentlich jedesmal nur zwischen zwei Werken vorgenommen

werden kann, wenn ein tertium comparationis gegeben ist,

das in diesem Falle im gemeinsamen Stoff besteht. Manchmal ist das

zu analysierende Werk nur der Umbau eines anderen früheren, das

auf dem gleichen Boden stand, wie Kyds „Hamlet“, der durch Shakespeare

erdrückt wurde. Wenn jene Haupt- und Staatsaktion „Der

bestrafte Brudermord“, die die deutschen Wandertruppen von den

englischen Komödianten geerbt hatten, die entstellten Reste des sonst

verlorenen Kydschen Dramas überliefert, so gibt der Vergleich einen

wunderbaren Einblick in die Kunst Shakespeares; andernfalls ist er

ein erschütterndes Zeugnis dafür, wie eine große Dichtung auf dem

Theater zerspielt werden kann.



Manchmal stehen zwei Werke verschiedener Zeitalter und Stilarten |#f0144 : 120|



nebeneinander auf demselben Baugrund, und die Form der einen

Dichtung kann nicht treffender in ihren charakteristischen Wesenszügen

erkannt und gewürdigt werden als durch Vergleich mit der

anderen. So glaubte schon Schiller in seiner Anzeige von Goethes

„Iphigenie auf Tauris“ keinen besseren Weg zur Charakteristik der

modernen Dichtung zu finden, als die Gegenüberstellung mit dem

Drama des Euripides. Es war eine Methode, wie sie schon vorher

Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ an den Merope- und

Essex-Dramen durchgeführt hatte und wie sie nachher Aug. Wilh.

Schlegel in seiner französischen Schrift „Comparaison entre la Phèdre

de Racine et celle d'Euripide“ anwandte. Wie der Vergleich in diesen

Fällen der Kritik dient, die nach der einen oder anderen Seite die

Waagschale senkt, so kann er auch für eine objektive Analyse nutzbar

gemacht werden, namentlich wenn es sich um gleichwertige

Werke handelt, die zwar auf demselben stofflichen Boden stehen, aber

doch in ihrer Form durch ganze Welten getrennt sind.



Die Methode des einfachen Vergleichs wird verwickelter, wenn sie

mit Quellenstudium verbunden werden muß, wie es etwa bei den

beiden Rivalen Grimmelshausen und Zesen der Fall ist, deren Josefromane

sich zunächst einmal in den stofflichen Grundlagen unterscheiden,

dann wieder sich annähern, dadurch, daß Zesen nicht ganz

unabhängig von Grimmelshausen geblieben ist, und endlich ganz auseinandergehen

in Form und Stil. Dann zeigt sich erst richtig die

wechselseitige Beziehung von Stoff und Form, die alle vergleichende

Stoffbetrachtung letzten Endes doch auf nichts anderes als Formvergleich

hinauslaufen läßt.



3. Zweite Stufe: Innere Form

(Gattung ─ Stimmung ─ Situation)


a) Gattung



Von dem unbestimmten Begriff der Form führt der weitere Weg

zur Bestimmtheit der Gattung, die in Titel und Untertitel bereits

bezeichnet zu sein pflegt als Roman, Tragödie, Idylle oder Gedichtsammlung

und die auch in der äußeren Schriftform durch Akt- oder

Kapitelgliederung, durch Vers oder Prosa, durch dialogische oder

strophische Teilung zu erkennen sein wird. Trotzdem kann sowohl

die Titelgebung als der oberflächliche Augenschein des Schriftbildes

trügerisch sein: weder bei Dantes „Divina Commedia“ noch bei

Balzacs „Comédie humaine“ handelt es sich um Komödien; auch ist |#f0145 : 121|



nicht jedes Dialogstück ein Drama, nicht jede ungeteilte Versreihe

von großer Ausdehnung ein Epos, nicht jedes kurze Strophengebilde

ein Lied.



Die analytische Wesensbestimmung des Werkes hat nicht allein

die äußere Zuteilung zu einer bestimmten Gattung zu prüfen; es

knüpft sich weiter daran die Frage nach Erfüllung der inneren

Gattungsgesetze. Voraussetzung muß sein, daß es solche Gesetze

überhaupt gibt, und dieser Punkt ist umstritten. Die naturwissenschaftliche

Orientierung der Geisteswissenschaften hatte sich in der

Zeit ihrer größten Verblendung bis zu einer biologisch-entwicklungsgeschichtlichen

Betrachtung der Gattungen als selbständiger Lebewesen

verstiegen. Mit Geburt, Wachstum, Vollkommenheit, Herabsinken

und Tod waren sie durch Ferdinand Brunetière (1890) in den

Kampf ums Dasein hineingestellt worden. Eine geistesgeschichtliche

Modulation dieser Auffassung findet sich noch bei Ernest Bovet

(1911), der eine naturgegebene Reihenfolge von Lyrik, Epos, Drama

wie den Wechsel der Tageszeiten sich periodisch wiederholen lassen

wollte. Indessen sind für die Begünstigung einzelner Gattungen durch

bestimmte Zeitalter viel eher soziologische und allgemein kulturelle

Gründe maßgebend als irgendwelche in Wesen und Lebenskraft der

Gattungen selbst liegende Ursachen. Auf keinen Fall verläuft dieser

Wechsel des Übergewichts in allen Literaturen mit gleicher Regelmäßigkeit,

so daß man daraus eine in den Gattungen selbst beruhende

Gesetzmäßigkeit herleiten könnte.



Die Reaktion gegen den konstruktiven Historismus hat nun wieder

zur völligen Ableugnung jeglicher Gattungsgesetze geführt; in der

„Ästhetik“ von Benedetto Croce gibt es nur eine untrennbare Kunst

als Sprachausdruck des Menschen, und alle Grenzlinien zwischen den

einzelnen Künsten wie innerhalb jeder Kunst bedeuten einen Irrwahn

der Theoretiker. Einer Poetik freilich, die darauf verzichtet, als

streng philosophische Wissenschaft unbedingte Gültigkeit ihrer Begriffe

zu beanspruchen, vielmehr sich damit begnügt, orientierende

Hilfsbegriffe für historische Untersuchungen an die Hand zu geben,

will auch Croce Berechtigung zu Unterscheidungen lassen. „Empirische“

Gattungsbegriffe, die sich keinesfalls mit denen der herkömmlichen

Poetik decken dürfen, sondern der Kritik an tatsächlichen Dichtwerken

und dem wirklichen literarischen Leben entsprungen sind,

möchte er aus den Kategorien der Wertung und der Qualifikation

herleiten. Das führt auf der einen Seite zu Wertabstufungen, die von

der klassischen zur romantischen oder sentimentalen, zur impressionistischen

Dichtung und schließlich zur intellektualistischen, lehrhaften, |#f0146 : 122|



tendenzmäßigen Nichtdichtung herabführen, während auf der

anderen Seite Typen des dichterischen Schaffens und der Seelenzustände

ins Auge gefaßt werden wie tragisch, heroisch, verzweifelt,

geruhig, idyllisch oder großartig usw.



Wir werden diese Eigenschaften an anderen Stellen der Analyse,

bei den Begriffen des Stils und vorher schon bei dem der Stimmung

zu erfassen suchen; aber bei der Frage nach den Gattungsbegriffen

haben wir uns zunächst an rein formale Kennzeichen zu halten, ohne

daß wir Werte, Maßstäbe der Kritik oder Vorschriften für den

Schaffenden, wie sie in der alten Poetik allerdings üblich waren,

damit begründen wollen. Schließlich besitzt jede Sprache, auch wenn

ihre Ausdrucksfreiheit und Entwicklung keine starren Gesetze kennt,

eine Grammatik als regulatives Ordnungsprinzip. Subjekt, Prädikat,

Objekt sind Formen des sprachlichen Erlebnisausdrucks im Satz, wie

Lyrik, Drama und Epos in der Dichtung. Wenn man auch nicht mittels

der Grammatik sprechen lernt, so kommt man durch den Gebrauch

der Sprache mehr und mehr zum grammatischen Bewußtsein. Nicht

nur die Schulmeister, auch die Redner sichten die sprachlichen Ausdrucksmittel

in einem Ordnungssystem von Analogien. Nicht nur die

Theoretiker, sondern nicht weniger die Dichter selbst haben in Selbstbeobachtung

ihres Schaffens und Selbstüberlegung ihrer Wirkungsmöglichkeiten

nach ordnenden Grundsätzen innerhalb ihrer Kunst

gesucht. Wo solche Grundsätze und Erfahrungen auf das Schaffen

formgebend eingewirkt haben, wo das Kunstwerk selbst die Anwendung

dieser Grundsätze verrät, ist die Analyse zur Aufmerksamkeit

verpflichtet. Wenn ein Werk im Zeichen fester Gattungsbegriffe geformt

worden ist, so muß es auch in diesem Zeichen verstanden

werden.



Die Auseinandersetzung von Goethe und Schiller „Über epische

und dramatische Dichtung“ zur Zeit, da der eine an „Hermann und

Dorothea“, der andere am „Wallenstein“ arbeitete, ging von der

Stellung des Dichters zu seinem Gegenstand aus und sollte zu allgemein

gültigen Grundbegriffen führen, indem an dem Verhältnis

zwischen Rhapsoden und Mimen der Unterschied der Stoffvermittlung

und der Zeitform veranschaulicht wurde: der Rhapsode ist das Sprachrohr

des Epikers und trägt die Handlung als etwas Vergangenes vor,

während der Mime, das Sprachrohr des Dramatikers, sie als etwas

Gegenwärtiges darstellt. Daraus lassen sich alle Folgerungen für die

Zeitform ziehen, die im Epos unbegrenzte Ausdehnung des Rückblicks

haben kann, während sie im Drama durch die schlagartige Aufeinanderfolge

der Vergegenwärtigung beschränkt ist.

|#f0147 : 123|



Es fehlt bei dieser Gegenüberstellung der Ort der Lyrik, aber mittelbar

ist auch dafür eine Bestimmung gegeben. Die reine Lyrik hat die

vergegenwärtigende Darstellung mit dem Drama gemeinsam, aber sie

ist auf innere Vorgänge beschränkt; der Dichter bedient sich keines

mimischen oder rhapsodischen Sprachrohrs, keines Erzählers oder

Darstellers, sondern er spricht in eigener Person und stellt sich selbst

dar. Was die reine Lyrik vom Epos und Drama als den pragmatischen

Dichtungsarten unterscheidet, ist die Stofflosigkeit; sie hat deshalb

auch keine Zeitausdehnung, weder begrenzte noch unbegrenzte; an

Stelle der Handlung tritt bei ihr der seelische Zustand. Dafür hat die

Lyrik mit der Epik gemeinsam den monologischen Vortrag, wodurch

beide in Gegensatz zu der dialogischen Form des Dramas gebracht

werden. Die dialogische Form wiederum, bei der ein Wort das andere

gibt, steht im Zeichen der unaufhaltsam weiterschreitenden Zeit;

jedes Wort bedeutet einen Augenblick, der mit dem gesprochenen

Worte verrinnt; nur der Augenblick ist Gegenwart; der verflossene

Augenblick ist bereits Vergangenheit und kann nicht mehr zurückkehren.

Alles ist Bewegung und Tempo; es geht Schlag auf Schlag;

das Hin und Her der Worte ist der Taktschlag der fortrollenden

Gegenwart.



Jede der drei Grundgattungen hat also eine inhaltliche oder formale

Eigenschaft für sich allein, oder, wie man ebensogut sagen kann,

diese typischen Eigenschaften rechtfertigen eine empirische Trennung

der Dichtungsgattungen. Für die Lyrik ist es der Zustand, für die Epik

der Bericht, für das Drama der Dialog. Wiederum ist jede Gattung mit

einer der anderen durch etwas Gemeinsames verbunden, das für Epos

und Drama in der Handlung, für Drama und Lyrik in der Darstellung,

für Lyrik und Epos im monologischen Vortrag beruht. Das Verhältnis

der drei reinen Gattungstypen läßt sich also in einem gleichseitigen

Dreieck veranschaulichen, dessen Seiten jedesmal den Gegensatz zur

gegenüberliegenden Spitze bedeuten.



Aus diesem Schema sind ohne Mühe die drei Grundformeln abzulesen:





Epos: monologischer Bericht einer Handlung.



Lyrik: monologische Darstellung eines Zustandes.



Drama: dialogische Darstellung einer Handlung.



Zwischen diesen reinen Formtypen aber sind Zwischenstufen anzusetzen,

die in einer anderen Mischung derselben Urelemente

bestehen.



Zwischen Lyrik und Epos sind die Arten zu finden, deren Form

sich mehr oder weniger als monologischer Bericht eines Zustandes |#f0148 : 124|



charakterisiert: Elegie, Epistel, Vision, Idylle und lyrischer Roman.



Zwischen Epos und Drama bewegt sich der dialogische Bericht

einer Handlung: Rahmenerzählung, Briefroman, Dialogroman.



Zwischen Lyrik und Drama steht die dialogische Darstellung von

Zuständen: lyrisches Gespräch, Heroide, Kantate, dramatische Idylle,

lyrisches Drama.



Die Namen der hier aufgezählten Zwischengattungen entsprechen

im wesentlichen einem Register, das Goethe in den „Noten und Abhandlungen

zum Westöstlichen Divan“ unter der Überschrift „Dichtarten“

zusammengestellt hat. Im Zusammenhang damit war unter

der Überschrift „Naturformen der Dichtung“ der Wunsch ausgesprochen

nach einem Schema, das die „äußeren zufälligen Formen“ [Abbildung]

und die „inneren notwendigen Uranfänge“ in faßlicher Ordnung darbrächte.

Zu diesem Zwecke sollten die drei Hauptelemente in einem

Kreis einander gegenübergestellt werden, und dazu waren Musterstücke

zu suchen, wo jedes Element einzeln obwaltete; dann waren

Beispiele zu sammeln, die sich nach der einen Seite hinneigen, „bis

endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der

ganze Kreis in sich geschlossen ist“.



Die Lösung der von Goethe gestellten Aufgaben habe ich schon vor

mehr als zehn Jahren in einem Aufsatz „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“

versucht, dessen Formulierung hier wiederholt sei.

In die Mitte des Kreises war eine hypothetische Urdichtung zu stellen,

die entsprechend der Goethischen Idee der Urpflanze die Elemente

aller Dichtungsgattungen keimartig in sich tragen soll. Goethe selbst |#f0149 : 125|



glaubte, wie ein Aufsatz in der Zeitschrift „Kunst und Altertum“

(1821) ausführt, in der Ballade, deren Vortrag alle drei Grundarten

der Poesie in Anspruch nimmt, die ursprünglichste Naturform erblicken

zu dürfen, „weil hier die Elemente noch nicht getrennt,

sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind“. Es gibt

indessen noch eine Reihe weiterer „einfacher Formen“, wie sie André

Jolles genannt hat; deshalb ordne ich die Vorstufen reiner Gattungs- [Abbildung]

formen in einem inneren Kreis, der die Ballade mit epischem Lied,

Märchen, Totenklage, Mimus, chorischem Wechselsang, Hymnus, Liebesgruß,

Tanzlied, Gebet, Zauberspruch, Arbeitslied gleichstellt. Als

äußeren Ring aber lege ich um den Kreis der formell ausgeprägten

Dichtungsarten noch eine Reihe von Erscheinungsformen, bei denen

Phantasie und Mittel poetischer Gestaltung aufgeboten sind für

Zwecke, die außerhalb des dichterischen Erlebnisses liegen: für theoretische |#f0150 : 126|



Gedankenentwicklung, Belehrung moralischer, theologischer

oder geschichtlicher Art, sowie Huldigung oder Kritik und Polemik.

Statt des von Goethe erwarteten einfachen Kreises, der zugleich „die

äußeren zufälligen Formen und die inneren notwendigen Uranfänge“

darbieten sollte, ergibt sich dann ein teils entwicklungsgeschichtlich,

teils systematisch geordnetes Gebilde von drei konzentrischen Ringen.



Dieses Rad, in dem die drei festen Grundformen als Speichen

erscheinen, veranschaulicht in seiner Drehung alle möglichen Übergänge

und Wandlungen, so daß es als Kompaß für eine der Analyse

dienenden Orientierung unter den Gattungsrichtungen zu benutzen

ist. Die Bewegung von der Lyrik über das Epos zum Drama hin bedeutet

ein allmähliches Zurücktreten der Person des Dichters; im

Gang vom Epos über das Drama zur Lyrik entschwinden allmählich

die stoffartigen Elemente; die Folge von Drama, Lyrik, Epos dagegen

läßt die Vergegenwärtigung des Dargestellten sich verlieren.



Die Beispiele für jede der eingezeichneten Zwischenstufen sind

leicht zu finden. Als eine sowohl nach der lyrischen als nach der

epischen Seite ausschlaggebende epische Gestaltung kann Goethes

„Werther“ gelten, der in dem Zustandsbericht des ersten Teiles, in

dem die Naturstimmungen überwiegen, als lyrischer Roman betrachtet

werden darf, während im zweiten Teil der Icherzählung, je näher die

Katastrophe rückt, sich die dramatischen Spannungsmomente mehren.

Icherzählung kann sich schließlich noch weiter der dramatischen Form

nähern, wenn sie den Vergangenheitsbericht ganz in Vergegenwärtigung

seelischer Vorgänge verwandelt, wie das in der Form der sogenannten

„erlebten Rede“ bei Arthur Schnitzler („Leutnant Gustl“

und „Fräulein Else“) geschehen ist.



Mit der Rahmenerzählung ist die monologische Form aufgegeben;

es beginnt der Dialog, indem es nicht bei einem Erzähler bleibt,

sondern die Berichterstattung in eingelegten Icherzählungen wechselt.

Die Briefromane Richardsons sind von Goethe bereits als dramatisch

bezeichnet worden, weil sie unter Ausschaltung des epischen Erzählers

den einzelnen Personen das Wort erteilen. Die Dialogromane des

Sturm und Drang, z. B. A. G. Meißners „Alkibiades“, gehen noch

weiter, indem sie die wechselnden Reden sogar mit eingelegten szenischen

Bemerkungen begleiten. Endlich hat, was als „dramatisches

Gemälde“ bezeichnet wird, etwas von dialogisierter Erzählung an

sich, insofern die Milieudarstellung das dramatische Tempo verschleppt,

wie es nicht nur bei Ifflandschen Familienstücken, sondern

auch im Drama des Naturalismus (Holz und Schlaf, Familie Selicke;

Hauptmann, Ein Friedensfest) der Fall war.

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Jenseits vom Grundtypus des Dramas liegen die lyrischen Dramen,

in denen das stimmungausschöpfende Verweilen nicht durch psychologisierende

Milieudarstellung, sondern durch melodischen Ausdruck

seelischer Zustände herbeigeführt wird, z. B. in Singspielen und in

musikalisch empfundenen Szenen wie den kleinen Dramen Hofmannsthals.

Zu den dialogisierten Idyllen sind die Schäferspiele zu rechnen.

Von „Gesprächen in Liedern“ als eigenem „poetischen Genre“ sprach

Goethe 1797 in einem Brief an Schiller, als er auf Anregung eines

Singspieles von Paesiello, die Situation der schönen Müllerin mit

einem Zyklus lyrischer Dialoge umspinnen wollte (Der Edelknabe und

die Müllerin, Der Junggesell und der Mühlbach, Der Müllerin Reue).

Das Monodrama war eine durch Rousseaus „Pygmalion“ ins Leben

gerufene lyrische Soloszene in dramatischer Situation. Das Rollengedicht,

das seinen Handlungshintergrund in mythologischer oder

geschichtlicher Stoffwelt hat, gibt die theatralische Szenerie auf; es

kann entweder eine mehr dramatische Haltung einnehmen, wie

Goethes Prometheusode in freien Rhythmen, oder eine mehr lyrische

wie Schillers „Klage der Ceres“ oder Bérangers „Les adieux de Marie

Stuart“ in Liedstrophen.



Über die lyrische Grundform hinaus geht der Zyklus (Goethes

„Römische Elegien“), der von der reinen Zustandsdarstellung bereits

eine Entwicklung zu der episch berichteten Erlebnisfolge hin einschlägt.

Noch mehr gehen die Episteln, sowohl die des Horaz als die

Goethes, von der Darstellung zum Bericht über. Die Vision endlich

als Zustand verzückter Schau, die in epischer Form berichtet wird,

steht zwischen Lyrik und Epos mitten inne; Dantes „Divina Commedia“

ist das größte Beispiel dieser Zwischengattung. Die epische

Idylle aber, wie sie bei Theokrit und Vergil im Altertum, bei den

arkadischen Schäfereien der Barockzeit und im 18. Jahrhundert bei

Geßner, Voß, Maler Müller zu finden ist, verhält sich zum Epos wie

das dramatische Gemälde zum Drama.



Wenn sich die Zahl der aufgeführten Arten auch vermehren läßt,

so können alle weiteren Bezeichnungen irgendwo unter den Zwischenstufen

eingefügt werden. Nur die Wirkungsarten der Dichtung wie

tragisch und komisch, rührend und erhebend, feierlich und niedrig,

pathetisch und sachlich, ebenso die Wirklichkeitsbeziehungen phantastisch,

idealistisch, realistisch, naturalistisch, die gesellschaftlichen

Klassenbestimmungen wie höfisch, bürgerlich, sozial, die metrischen

Formen wie Sonette und Disticha oder die Stilwerte klassisch, romantisch,

impressionistisch, expressionistisch können zur Kennzeichnung

der Arten in diesem Schema keinen Platz finden. Deshalb sind bei |#f0152 : 128|



der Grundform des Dramas keine Unterschiede zwischen Tragödie,

Komödie oder Tragikomödie gemacht, so wenig als Versepos und

Roman, Volksepik und komische Epopöe, Bildungsroman und Abenteuerroman,

Novelle und Anekdote oder bei der Lyrik geistliches und

weltliches Lied unter diesem Gesichtspunkt getrennt werden können.



b) Stimmung



Die Wirkungsarten erreicht erst der nächste Schritt, bei dem die

Stimmung des Werkes sich der Analyse darstellt. Dieses Wort besagt

ungefähr dasselbe, was bei genetischer Betrachtung als „innere Form“

betrachtet wird. Die einheitliche Grundstimmung, die der Tonart des

Musikstückes und dem Kolorit des Gemäldes gleichkommt, ist die

wahrnehmbare Erscheinung der inneren Form einer Dichtung. Der

junge Goethe, der diesen Begriff von Shaftesbury übernahm, spricht

von einer gefühlsmäßigen Erfassung dessen, was nicht mit Händen zu

greifen ist. „Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen

kann; unser Herz muß empfinden, was ein anderes fühlen mag.“



Das Erfühlen der Grundstimmung bedeutet nicht nur ein erstes

Begreifen dessen, was an der Dichtung als solcher uns in Bann

schlägt, was unser Gefühl erregt, unsere Phantasie in Bewegung setzt,

uns in rhythmischen Wellen wiegt und in mitschwingender Vibration

zur Hingabe zwingt, sondern der ästhetische Zustand der Bereitschaft,

der durch das Werk hervorgerufen wird, entspricht dem ästhetischen

Zustand der Empfängnis, aus dem es hervorgegangen ist; die Aufnahme

der Stimmung bildet somit einen Zugang zu der persönlichen

Welt des Dichters, die in den Gattungen noch nicht erschlossen war.



Zwar hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch die Gattungsform

jedes Werkes von der Persönlichkeit, der Weltanschauung, dem

Lebensgefühl des Dichters abhängig zu machen. Man hat in Epos,

Lyrik und Drama die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens

verkörpert gesehen, man hat imaginative, vasomotorische und motorische

Erlebnisformen als ihre Grundlagen betrachtet (Hartl); man hat

die verschiedenartige Erlebnisweise des Epikers, Lyrikers und Dramatikers

charakterisiert (Ermatinger), und diese Auffassung ist

schließlich zu dem Aphorismus zugespitzt worden „Dichtungsgattung

ist Menschentyp“ (Nadler). Man hat die Unterschiede des Weltbildes

auf die verschiedene Intensität der Vision zurückgeführt und in den

drei Gattungstypen die Ausdrucksformen eines statischen, dynamischen

und normativen Dichtertums erblickt (Spoerri); man hat endlich

eine Parallele zwischen der inneren Logik der Gattungsformen |#f0153 : 129|



und der Strukturbeschaffenheit der großen Lebensprobleme gesucht

(Unger) und man hat dem Epos eine naturalistische, der Lyrik eine

psychologistische, dem Drama eine idealistische Weltanschauung zugrunde

legen wollen (Max Wundt). Alle diese Beziehungen nehmen

ihren Weg über das vermittelnde Fluidum, das als seelische Atmosphäre

von dem Werk selbst ausgestrahlt wird.



Tragische, komische, humoristische Einstellung können schon im

Untertitel des Dramas oder der Erzählung angekündigt sein, aber

die Art der Durchführung haftet weder am Stoff noch an der Form.

Ein tragischer Stoff, z. B. Pyramus und Thisbe, kann durch unzulängliche

Mittel zu zwerchfellerschütternder Komik gebracht werden wie

im Rüpelspiel des „Sommernachtstraums“. Eine tragische Form wie

das Alexandrinerdrama kann als Parodie, z. B. „Esther“ in Goethes

„Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“, ebensolche Wirkung ausüben.

Formen und Stoffe der Komik können ins Tragische umschlagen,

wofür etwas die Tragödie des Narren in V. Hugos „Le roi s'amuse“

oder die des Königs, der den Narren spielen muß, in Wedekinds „So

ist das Leben“ genannt sei. Meist handelt es sich um kontrastierende

Einlagen, die der komischen oder tragischen Grundstimmung sich

unterwerfen.



Die Gefühlsregungen dieser Wirkungsarten gehen nicht nur über

die Grenzen der Dichtungsgattungen, vielmehr über die der Dichtung

überhaupt, ja sogar über die der Künste hinaus. Tragische Wirkung ist

nicht nur der Tragödie gegeben, sondern, wenn auch in minderer

Wucht, dem Roman, der Novelle, der Ballade, in höchstem Maße der

Musik, nicht wenig auch der geschichtlichen Darstellung großer

Lebensschicksale.



Die Weltgeschichte ist erfüllt mit tragischen Gestalten und Schicksalen.

Man konnte die Tragik sogar als Weltgesetz und wesentliches

Element des werterfüllten Universums erklären (Vischer, Scheler).

Dabei sind menschliche Größe, die sich in Überwindung der Leiden

zum Erhabenen steigern kann, und starke Willenskraft, die sich im

Widerstreit der Werte selbst behauptet, die Voraussetzungen tragischer

Wirkung. Dagegen gehen die komischen Eindrücke, die das

Leben unmittelbar in unerschöpflicher Fülle bietet, nicht selten vom

Anblick der Willenlosigkeit aus und vom lächerlichen Kontrast

zwischen sich aufblähenden Ansprüchen und innerer Geringwertigkeit.

Im Gegensatz zu der schicksalhaften Notwendigkeit tragischen Geschehens

ist bei komischen Wirkungen der Zufall nicht selten ein entscheidender

Mitspieler, und es gehört schon die Weltanschauung des

Humoristen dazu, um solche Fügungen unter ein Gesetz zu bringen, |#f0154 : 130|



wie es etwa Vischers „Tücke des Objekts“ im Roman „Auch Einer“

darstellt. Der Pessimist Bahnsen hat sogar den Humor als „ästhetische

Gestalt des Metaphysischen“ auffassen wollen.



Tragisches Weltgefühl setzt die Anerkennung eines idealistischen

Wollens voraus, das über sich selbst hinausstrebend scheitert; der

Sinn für das Komische bleibt bei der Realität des Lebens und schwelgt

in genießender Erregung durch kuriose Widersprüche; der Humor

aber setzt sich darüber hinweg, indem er die hohen Träume des

Ideals nicht aufgibt, aber zugleich in duldender Selbstbescheidung

und heiterer Selbstbehauptung mit den Verkehrtheiten des Lebens

sich aussöhnt: „Blick' auf zu den Sternen, hab' acht auf die Gasse.“



Es sind die verschiedensten Stimmungsspielarten zu unterscheiden,

wie es Johannes Volkelt mit Tragik des Willens und der Innerlichkeit,

des äußeren und inneren Kampfes, der erhebenden und niederdrückenden

Art oder mit den Abschattierungen von derber, drolliger,

rührender, burlesker, grotesker und zynischer Komik unternommen

hat. Diese Färbungen sind weder in Stoff noch Form gegeben, sondern

aus der Welt des Dichters hinzugetan; vielleicht erklären sie sich

sogar aus der seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse.



Die Analyse des Einzelwerkes kann die Grundstimmung auf die

Wesensart des Schöpfers zurückführen; sie kann, wie etwa bei Goethe,

Schiller, Heinrich v. Kleist und Hebbel die Gegensätze optimistischer

oder pessimistischer Lebensanschauung und die Unterschiede der

Wirklichkeitsauffassung erkennen. Diese Arbeit wird erleichtert,

wenn der Dichter selbst dazu die Hand reicht in theoretischen Schriften,

wie es bei Schiller und Hebbel der Fall ist, oder bei Jean Pauls

„Vorschule der Ästhetik“, die einen Kommentar zu seinen Romanen

darstellt und das Wesen seines Humors als Zusammenfassung des

Weltganzen in einem Subjekt erklärt.



Nicht nur im Charakter und Werk des Humoristen sind Komik

und Tragik gemischt, ohne daß das Zwitterding der Tragikomödie

zustande käme. Auch in der tragischen Dichtung können komische

Züge mit berechneter Kontrastwirkung die Tragik verstärken, wie

es in Shakespeareschen Trauerspielen so oft der Fall ist; aber ebenso

können Lustspiele in der Auslösung ihrer Affekte hart an die Grenze

des Tragischen führen, wie Shakespeares „Kaufmann von Venedig“,

Kleists „Amphitryon“, Lessings „Minna von Barnhelm“ zeigen. Aber

Voraussetzung dieser Mischung ist immer eine im Lebensgefühl des

Dichters ruhende Grundstimmung, die das ganze Werk beherrscht

und in jedem seiner Elemente zum Ausdruck kommt. Diese Grundstimmung

ist dramatisch, wenn sie die Widersprüche des Lebens als |#f0155 : 131|



Kampf der Ideen auffaßt und mit einer nach Gestaltung drängenden

Spannung in sich trägt; sie ist episch, wenn sie in ruhiger Schau die

Entwicklung der Gegensätze in äußerem Geschehen sich entfalten

und zur Auseinandersetzung kommen läßt; sie ist lyrisch, wenn sie

in Abkehr vom äußeren Geschehen sich nach innen wendet, um Freud

und Leid dieser Welt nur in Beziehung auf das eigene Ich oder in

Sympathie mit einem Du oder im Gemeinschaftsgefühl eines Wir als

Spiegelung in beseelten Sinnbildern und Gleichnissen zu erleben.



Reine Lyrik wird es weder zu tragischen noch (von ungewollten

Eindrücken abgesehen) zu komischen Wirkungen bringen, sondern

höchstens den Atem eines humorvollen Lebensgefühls ausströmen;

aber Drama sowohl als Epos ziehen zur Verstärkung ihrer tragischen

und komischen Wirkungen Elemente der Lyrik heran in den Beziehungen

zur Natur, in der Wahl landschaftlicher Hintergründe, in

der Symbolik der Tages- und Jahreszeiten, des Lichtes und der Finsternis,

in den Formen sprachlicher Musik, kurz in allen die Empfindung

ansprechenden Mitteln der Stimmungserregung. Lyrik ist Stimmung

schlechthin, so wie sie in ihrer Stofflosigkeit auf unmittelbarem

Erlebnis beruht, während der Epiker und der Dramatiker die Gelegenheit

zu ihren tragischen und komischen Wirkungsmöglichkeiten bereits

im Leben selbst, das ihnen Stoff geworden ist, oder im überlieferten

Stoff, der ihnen das Leben darstellte, gefunden haben.



c) Situation



Als Darstellung seelischer Zustände ist alle Lyrik aus einer

Situation, in der der Dichter sich befindet oder in die er sich einfühlt,

herausentwickelt. Landschaftsstimmung kann seine Seelenlage

symbolisieren („Im Felde schleich ich still und mild“); die Erinnerung

kann zu früheren Zuständen zurückführen („Ich träume als

Kind mich zurücke“); es kann eine Kontrastierung von Situationen

sein (Als ich Abschied nahm ... Als ich wiederkam); es kann ein

Gegenüber angerufen werden, sei es das eigene Ich („So mußt du sein,

dir kannst du nicht entfliehen“), sei es ein leibhaftiges Du („Du bist

die Ruh, der Friede mild“) oder eine Naturerscheinung („Füllest

wieder Busch und Tal“), eine Vision („Zum erstenmal seh ich dich

auferstehn, Hörengesagter, fernster, unglaublicher Kriegsgott“) oder

eine Personifikation („Freude, schöner Götterfunken“); es kann eine

Vereinigung des Ich und Du hergestellt sein („Ih bin dîn, du bist

mîn“), oder eine größere Gemeinschaft sich zusammengefunden haben

(„Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun“); es kann im Rollenlied |#f0156 : 132|



eine dritte Person vor einen Kreis von Zuhörern gestellt sein

(Walthers „Under der linden“, Goethes „Vor Gericht“) oder es kann

eine Ballade dialogisch beginnen („Wer wagt es, Rittersmann oder

Knapp“ ─ „Knapp, sattle mir mein Dänenroß“) ─ immer ist ein

Situationsbild Voraussetzung der lyrischen oder balladesken Stimmung,

die sich um so stärker verdichtet, je mehr die Einheitlichkeit

der Situation festgehalten ist. Goethe sagt zu Eckermann einmal

(18. 1. 1825), „daß die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in

der Situation, in den Motiven besteht“.



Die anderen Gattungen kennen diese Zusammendrängung kaum,

wenn auch die sogenannten drei Einheiten im Drama als Einheit der

Situation wie als Einheit der Stimmung zusammengefaßt werden

konnten. Der Dichter Wilhelm von Scholz spricht in seinen „Gedanken

zum Drama“ von der Situation als dem wichtigsten dramatischen

Gesetz: „Im Anfang ist die Situation. ─ Die Situation fordert die

Charaktere zur Willensbetätigung heraus und umschreibt das Gebiet

ihres Handelns, sie ist das Gegebene, die Voraussetzung, für die der

Charakter des Möglichen und nicht allzu Entlegenen genügt.“ Die

Situation erscheint demnach als der fruchtbare Moment, aus dem

sich alle Motive der Handlung entwickeln. Die Verwandtschaft mit

der Stimmung kommt auch darin zum Ausdruck, daß wir im Lustspiel

von Situationskomik, in der Tragödie von tragischen Situationen

zu sprechen pflegen. Daß ein Dramatiker wie Otto Ludwig aus dem

Farbenspektrum, das der musikalischen Stimmung seiner ersten Konzeption

folgte, die Gestalten der werdenden Dichtung in einer bestimmten

Stellung zueinander auftauchen sah, wird uns später bei

der Besprechung des dichterischen Schaffensvorganges zu beschäftigen

haben. Es wird richtig sein, daß die Konzeption manches Dramas

aus solcher visionär geschauten Ursituation hervorgegangen ist, der

wir noch bei der Analyse des Ganzen eine Schlüsselstellung einräumen

dürfen. So läßt sich zeigen, daß für Kleists „Familie Schroffenstein“

die Situation in der dunkeln Höhle, in der das Liebespaar

vor Eindringen der Väter die Kleider tauscht, der Ausgangspunkt

der ganzen Erfindung war. Ebenso ist im „Zerbrochenen Krug“,

dessen Anregung durch den Stich von Debucourt feststeht, die Ausdeutung

des Bildes als der sich selbst den Hals ins Eisen judizierende

Richter die Ursituation, die schon in Adams orakelhaftem Traum

vorausklingt und die dann aus der Verwicklung thematisch herausgesponnen

wird.



Die Zahl der wirksamen Situationen im Drama ist beschränkt.

Der venetianische Volksdichter Graf Gozzi, der seine Lustspiele als |#f0157 : 133|



„dramatische Fabeln“ (fiabe drammatiche) bezeichnete, soll bekanntlich

nicht mehr als 36 tragische Situationen für möglich gehalten haben.

Der Franzose Gérard de Nerval gelangte sogar nur zu 24 möglichen

Situationen, die er von den 7 Todsünden herleitete. Auf der andern

Seite hat man die unermeßliche Kombinationsmöglichkeit mit der

unendlichen Zahl der Schachprobleme verglichen.



Goethe erinnerte sich in mehrfachen Gesprächen daran, daß Schiller

an Gozzis geringe Zahl nicht glauben wollte. Er habe sich bemüht,

über die drei Dutzend hinauszukommen, aber es sei ihm dann nicht

einmal geglückt, sie zu erreichen. So unwahrscheinlich das klingt,

so wird es doch begreiflich bei einem Einblick in Schillers Werkstatt,

wenn wir zusehen, was in seinen dramatischen Entwürfen als „Situation“

bezeichnet ist. Im „Don Carlos“ soll alle schmelzende Wirkung

von Situation und Charakter Philipps ausgehen; die Situation des

Königs ist gegeben durch sein Verhältnis zu Sohn und Thronfolger.

Ebenso wird in den „Maltesern“ von einer „entscheidenden Situation“

zwischen dem Ordensmeister La Valette und seinem heimlichen Sohn,

den er opfern muß, gesprochen. Ein drittes Mal wird als „eine der

größten Situationen“ der Moment bezeichnet, da Demetrius vor seiner

vorgeblichen Mutter steht und um ihre Anerkennung wirbt. Wenn

wir die tragische Wirkung in allen drei Fällen aus der Auseinandersetzung

zwischen zwei Generationen entspringen sehen, bei der das

Problem der Anerkennung mitspielt, so haben wir unter „Situation“

das Spannungsverhältnis zwischen zusammengehörigen Personen zu

begreifen. Für die Entladung in szenischer Gegenüberstellung kann

dann allerdings die Zahl der Möglichkeiten beschränkt sein.



Bei jener strengen Anwendung des Begriffes Situation ist Schiller

allerdings nicht geblieben: in den Skizzen eines Elfriede-Dramas hat

er den Gang der Handlung nach zehn Situationen gliedern wollen,

deren Schema er nur bis zur Zahl 7 ausfüllte, und für den „Warbeck“

gelang es ihm, 18 „rührende Situationen“ aufzuzählen, deren Begriff

sich aber ziemlich deckt mit dem der „Szene“. Der Unterschied

zwischen „Situation“ und „Motiv“, von dem erst später die Rede sein

kann, wird von ihm nicht festgehalten, sowie auch die Erinnerung

Goethes an Schillers Äußerung über Gozzi zwischen Situation und

Motiv schwankt.



Ein Franzose, Georges Polti, wollte in seinem mehrfach aufgelegten

Buch „Les trente-six situations dramatiques“ fertigbringen, was

Schiller nicht gelungen war. Aber wenn er Gozzis Behauptung durch

genaue Errechnung der 36 Möglichkeiten zu bestätigen suchte, so

schwebte ihm kein klarer Begriff dessen, was unter Situation zu |#f0158 : 134|



denken ist, vor. Es mußten Charaktere und Motive mit zu Hilfe

genommen werden (Le Sauveur, La Vengeance poursuivant le crime,

Révolte usw.), und trotzdem wurden Dubletten nicht vermieden.

Derselbe findige Kopf hat gleichzeitig ein Buch „l'art d'inventer les

personnages“ erscheinen lassen, und dabei zeigte sich, daß er eigentlich

nur ein Rezeptbuch der Erfindungskunst, ein Würfelspiel unendlich

vieler Kombinationen und eine Gebrauchsanweisung für dramatische

Algebra geben wollte. Darum kann es sich bei der Analyse

gegebener Werke nicht handeln.



Ein anderer Weg ist, von Polti ausgehend, durch einen deutschamerikanischen

Gelehrten August C. Mahr eingeschlagen worden. Er

führte zu weiterer Klärung den neuen Begriff des „dramatischen

Situationsbildes“ ein, das die Situation vor den Augen des Zuschauers

zur Erscheinung bringt. Danach werden Situationsbildtypen aufgestellt,

d. h. ähnliche Bild-Ergebnisse bei der Versichtbarlichung

ähnlicher Situationen. Mahr wählte das Motiv „Haß zwischen Vater

und Sohn“ und zeigte in einer Reihe, die von Sophokles' „Antigone“

und Euripides' „Hippolytos“ über Shakespeares „König Lear“, Calderons

„Leben ein Traum“, Racines „Phädra“, Schillers „Don Carlos“,

Törrings und Hebbels Agnes Bernauer-Dramen bis zu Raynals

„Grabmal des unbekannten Soldaten“ und Hasenclevers „Sohn“ führt,

wie die verschiedene Ausgestaltung des Situationsbildes für die Analyse

zum Stilkriterium werden kann.



Dieselben typischen Situationsbilder kann auch die epische Dichtung

vor Augen bringen. Wir kennen die homerische Situation der

Spinnerin Penelope und die nordische der Wäscherin Gudrun, die

darin gleich sind, daß sie jede Bewerbung in treuem Ausharren abweisen.

Die Situation der Frau zwischen mehreren Männern kann

nun aber eine Abwandlung erfahren, wenn der rechtmäßige Gatte

totgesagt ist. Findet er sich wieder ein, nachdem die Frau sich ihrer

Treue für entbunden hielt und einen anderen genommen hat, so

kommt ein Situationsbild von typischer Tragik zustande. Hat die

Sage vom Grafen von Gleichen, die das männliche Gegenbild darstellt,

die Kreuzzüge zum Hintergrund, so pflegt für die parallele Fabel vom

totgeglaubten Heimkehrer ein großer Krieg oder ein Meeressturm

schicksalbestimmende Voraussetzung zu sein.



Beim Motiv des verschollenen Heimkehrers entwickelt jede Situation

das Problem, wie sich der Totgesagte wieder ins Leben finden wird,

z. B. in Ernst Wiecherts „Majorin“ oder Ina Seidels „Brömseshof“.

Mit Verlust der rechtmäßigen Frau durch deren anderweitige Bindung

ersteht ein schier unlösbarer Konflikt. Diese Situation kommt |#f0159 : 135|



schon in Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin v. G.“

(1746) zu versöhnendem Ausgang und führt ein Jahrhundert später

in Tennysons Schifferdichtung „Enoch Arden“ zu rührendem Verzicht.

Mit wechselndem Ausgangsmotiv findet sich dasselbe Thema in Dramen

wieder: in Houwalds „Heimkehr“, in Eulenbergs „Belinde“, in

Brechts „Trommeln in der Nacht“, in Leonhard Franks „Karl und

Anna“ (Dramatisierung einer Erzählung) und Graffs „Heimkehr des

Mathias Bruck“.



Eine andere Abwandlung der Situation, und zwar eine weit ältere

ist folgende: Der erste Mann ist wirklich tot, und die wehklagende

Witwe läßt an seiner Bahre sich durch einen anderen die Tränen

trocknen. Im Orient, woher die Fabel kommt, in China und Indien,

gehörte zu dieser Situation das Motiv des Witwentodes, zu dem die

Hinterbliebene eigentlich verpflichtet gewesen wäre. Schon im Weiterleben

liegt eine Treulosigkeit. In der „Matrone von Ephesus“ des

Petronius verschärft sich das Vergehen durch ein neues Steigerungsmotiv,

nämlich durch die Bereitschaft, den Leichnam des Gatten an

den Galgen zu liefern, damit der pflichtvergessene Wächter, nachdem

der von ihm zu bewachende Leichnam gestohlen ist, in keine Verlegenheit

kommt. Dieser Trumpf scheint nicht mehr zu überbieten.

In den Iwein-Epen des Christian von Troyes und des Hartmann von

Aue tritt indessen eine weitere Steigerung ein, indem der erfolgreiche

Bewerber selbst es war, der den Gatten im Zweikampf erschlug. Noch

eine stärkere Steigerung ist möglich, wenn der zweite Mann mit der

Schuld feigen Meuchelmordes belastet ist und die Witwe trotzdem

ihm zufällt, wie es bei der Anna in Shakespeares „Richard III.“ der

Fall ist. Das Problem aber ist gemäß den Charakteren jedesmal ein

anderes: bei Petronius ein satirisches Beispiel für die Untreue der

Weiber, in den mittelalterlichen Ritterromanen ein Zeugnis für die

Wundermacht der Liebe, bei Shakespeare ein Triumph männlicher

Unwiderstehlichkeit gegenüber dem schwachen Weib. Im ersten Fall

ist die Hingabe an den Fremden, durch die jene Problemspannung

zwischen Treue und Begierde gelöst wird, der Kern der ganzen Fabel;

in den mittelalterlichen Romanen liegt darin nur die Überleitung zu

einem anderen Problem, nämlich dem Konflikt des Ritters zwischen

heldischem Abenteuerdrang und Pflicht der Liebe; bei Shakespeare

aber gehören Situation und Motiv der Liebesüberredung nicht zur

eigentlichen Fabel, sondern bilden nur Mittel zu ihrer Exposition.



Es fehlt schließlich nicht an weiteren Steigerungsmöglichkeiten:

die treulose Frau weiß nicht nur oder ahnt wenigstens, daß es der

Mörder des Gatten ist, dem sie die Hand reicht, sondern sie ist selbst |#f0160 : 136|



an der Tat beteiligt und mitschuldig. Dieser ungeheuerliche Frevel

muß, wenn er zum offenen Situationsbild wird, die Vergeltung nach

sich ziehen: in der „Orestie“ des Aischylos den Muttermord des

Orest; in Shakespeares „Hamlet“ die unvollzogene Rachepflicht, zu

der der Sohn des Ermordeten durch den Geist aufgerufen wird; in

Schillers „Maria Stuart“ die Hinnahme des Fehlurteils und die Ergebung

der Schuldig-Unschuldigen in den sühnebringenden Tod. In

den beiden letzten Fällen ist das Situationsbild der treulosen Frau

nicht in die Handlung, die unter der Folgewirkung steht, aufgenommen;

es gehört zu der in der Exposition vermittelten Vorfabel. Man

darf vielleicht sagen, daß die Situation dadurch in ein Motiv verwandelt

worden ist. Die Situation nämlich enthält Spannungen, die dem

Motiv an sich nicht innewohnen. Diese Spannungen lassen aus der

Situation mit Hilfe der Motive eine problemhaltige Fabel sich entwickeln.





4. Dritte Stufe: Plan

(Fabel ─ Absicht ─ Technik)


a) Fabel



Wenn in der Fabelsammlung des römischen Grammatikers Hyginus

griechische Mythen erzählt sind, die man als Inhaltsangaben verlorener

Tragödien betrachten darf, so treffen zufällig einmal die beiden verschiedenartigen

Bedeutungen zusammen, die mit dem Worte Fabel

verbunden sind: das eine ist eine Erzählungsart lehrhaften Sinnes,

die man als Randform der Dichtung betrachten darf; das andere eine

abstrahierende Zurückführung des Inhalts epischer und dramatischer

Dichtungen auf die Motivverknüpfung ihres wesentlichen Handlungsgerippes.

Solange man den Kern jeder Dichtung in einem moralischen

Satz suchte, konnte man der Meinung sein, daß beides in der Tat

gleich sei. So machte sich Gottscheds „Kritische Dichtkunst“ lächerlich,

indem sie es bloß von der Namenwahl abhängig sein ließ, ob aus

demselben moralischen Satz eine äsopische Fabel oder ein Epos oder

eine Tragödie zu entstehen habe.



Der Begriff des moralischen Satzes ist hinfällig und bleibt höchstens

noch der Fabel als lehrhafter Dichtart im Sinne einer Nutzanwendung

(fabula docet) vorbehalten. Für die Sinnesdeutung großer

Dichtung aber sind die Begriffe Problem und Idee an seine Stelle

getreten, und das, was man als epische oder dramatische Fabel zu

bezeichnen hat, bedeutet die sinngemäße Verknüpfung der Situationen

und Motive und die Zurichtung eines Stoffes zum Gefäß einer Idee. |#f0161 : 137|



Auf dem Wege von Stoff zur Idee bedeutet somit die Fabel eine wichtige

Zwischenstufe.



Auf dem anderen Wege, der von der Form zur Idee führt, entspricht

ihr die Technik. Fabel und Technik bedeuten in ihrer durch

die Absicht vermittelten Beziehung eine Annäherung des Inhaltlichen

und des Formalen auf der Stufe bewußten künstlerischen Schaffens;

die Analyse trifft in dieser Schicht auf die rationalen Elemente des

Kunstwerkes. Dilthey bezeichnet als Fabel „das ausgebildete Grundgefüge

einer Dichtung von größerem Umfang“, das vor dem epischen

oder dramatischen Dichter, ehe er mit der Ausführung beginnt, fertig

dastehe und in der Regel von ihm aufgezeichnet werde. Auch wenn

solch aufgezeichneter Plan nicht vorliegt, ist er aus der Dichtung

analytisch herauszuziehen.



Aus der stofflosen Lyrik, die reines Zustandserlebnis ist, und der

Handlungsvorgänge entbehrt, läßt sich keine Fabel spinnen; erst mit

der symbolischen Beziehung eines Mythos auf die eigene Seelenlage

beginnt ein Übergang vom Zustand zum Vorgang; die erzählenden

Formen vom lyrischen Zyklus bis zur Ballade und Romanze vermehren

den stofflichen Zusammenhang, der aber sprunghaft vermittelt wird

und stimmungsmäßig verdunkelt oder verschleiert bleiben kann.



Umgekehrt ist es auf der anderen Seite, wo unendlicher Stoff die

Prägung einer faßbaren Fabel beeinträchtigt. Das gilt von der großen

Epik, die in totaler Weltsicht und stofflicher Fülle unermeßlich und

unbeschränkt bleibt. Wo wäre die Fabel im Mahabharata oder sogar

bei Homer, außer in einzelnen Gesängen? Eher schon kann man eine

Fabel des Nibelungenliedes annehmen, weil hier, wie Heusler gezeigt

hat, gedrängte epische Lieder ursprünglich zugrunde lagen; dafür hat

die Nibelungensage auch einen unverkennbaren Zug zum Dramatischen.



Bei den epischen Kurzformen wird der straffe Motivzusammenhang

mit zunehmender Konzentration immer klarer übersehbar. Paul Ernst

hat die Verwandtschaft zwischen Drama und Novelle als „abstrakten

Kunstformen“ damit begründet, daß sie interessante energiegeladene

Lebensinhalte in ein sinnliches Gewand bringen, durch dessen Anblick

Energien gelöst werden. In den bekannten Definitionen der Novelle

als „unerhörter Begebenheit“, „entscheidenden Wendepunktes“ oder

„starker Silhouette“ wird immer gerade das Fabelhafte hervorgehoben;

von da aus steigert sich über das Märchen, das nichts weiter als

Motivverkettung ist, bis zur Legende und zur Anekdote, die ihrer Art

nach als Geschichtsfabel ohne Lehrhaftigkeit bezeichnet werden kann,

die Konzentration und Reduktion auf das Wesentliche des Handlungszusammenhanges.



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Diese Zusammenfassung des Vielfältigen zur Einheit aber macht in

noch höherem Grade das Wesen der dramatischen Form aus. So

kommt es, daß vor allem im Drama von einer Fabel zu reden ist.

Unter den dramatischen Spielarten ist es wiederum die Tragödie, die

ihre schicksalhafte Wirkung nur in straffstem Handlungszusammenhang

erreichen kann. Selbst da, wo es von Nebenhandlungen umschlungen

ist, wie bei Shakespeare, hebt sich das tragische Hauptthema

der Fabel in ganz prägnanter Problemstellung heraus.



Aristoteles griff in seiner „Poetik“ aus sagenhaften Familienkonflikten

vier Typen tragischer Fabeln auf, die sich durch das Verhältnis

von Tat und Bewußtsein, wie von Ansatz und Verwirklichung unterschieden.

Für den ersten Fall einer wissentlich unternommenen und

wirklich vollzogenen Tat diente Medea als Beispiel; für den zweiten

Fall einer wissentlich vollzogenen Tat, deren Bedeutung dem Täter

erst später bewußt wird, Ödipus; für den dritten Fall, bei dem die

Tat wissentlich unternommen, aber nicht wirklich vollzogen wird,

Hämon in der „Antigone“, während der letzte Fall einer unwissentlich

unternommenen, aber wegen rechtzeitiger Erkenntnis nicht verwirklichten

Tat durch Merope im „Kresphontes“ vertreten ist.



Diese Beispiele antiker Dramenanalyse erschöpfen natürlich keineswegs

alle Möglichkeiten tragischer Motivverkettung; auch vernachlässigen

sie ein wesentliches Moment, indem sie die Art der menschlichen

Bindung, die zwischen den beteiligten Personen besteht, beiseite

lassen. In einem Punkte aber bleibt der aristotelische Begriff

der Fabel (mỹuow) wichtig, nämlich insofern in dieser Ordnung der

Tatsachen (sýstasiw tṽn pragmátvn) etwas viel Allgemeineres gesehen

wird als die konkrete stoffliche Gegebenheit. Namen und

Schauplatz einer Sage gehören nicht zur Fabel; vielmehr besteht diese

in einer Abstraktion von bestimmten Verhältnissen.



Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ unterschied demgemäß

zwischen Fabel und Fakten und kam zu dem Schluß, daß der

Dichter die Fabel und die damit verbundenen Charaktere unangetastet

lassen müsse, während er die Fakta, d. h. die historischen und lokalen

Umstände beliebig verändern dürfe. Fabel bedeutete für ihn also so

viel wie das seinen äußeren Gegebenheiten, seinem Fleisch und Blut

entzogene Stoffgerippe. Lessing selbst zog seine Folgerung aus dieser

Rationalisierung des Fabelbegriffes, indem er die Fabel der Virginia

transponierte. Das Opfer der Tochter durch den Vater, das in der

römischen Virginia, wie in der biblischen Tochter Jephtas mit verschiedenen

Fakten umkleidet war, verpflanzte er aus der römischen

Republik an einen italienischen Fürstenhof der Neuzeit, und aus der |#f0163 : 139|



zuvor geplanten „Virginia“ ließ er eine „Emilia Galotti“ werden. Dabei

glaubte er eine reinere tragische Wirkung zu erreichen, indem er

die Gewaltherrschaft der Dezemvirn und das Ziel der Befreiung Roms

als politischen Hintergrund beseitigte und Furcht und Mitleid lediglich

aus dem Anteil am rein menschlichen Verhältnis zwischen Vater

und Tochter entstehen ließ. Ähnlich hatte er in „Miß Sara Sampson“

die Medeafabel in die moderne bürgerliche Welt Englands versetzt,

und später schlug er seinem Bruder vor, den „Rasenden Herakles“

des Seneca als „Masaniello“ zu bearbeiten, genau so wie Bodmer aus

den „Persern“ des Aischylos einen „Karl von Burgund“ gemacht hatte.

Gleiches wiederholt sich bei Paul Ernst, der, um sich von historischen

Fesseln freizumachen, den russischen Stoff des „Demetrius“ ins alte

Sparta versetzte.



Diese Gleichgültigkeit der Aufklärungszeit und des Neuklassizismus

gegenüber dem Erdreich, in dem die stofflichen Wurzeln Nahrung

finden, ist nicht ohne Nachteil und nicht ohne Widerspruch geblieben.

Zwar hätte auch Lessing eine Fabel im luftleeren Raum für undenkbar

und nicht lebensfähig gehalten, aber die Auswechslung der räumlichen

und zeitlichen Fakta schien ihm durchführbar. Für das historische

Drama dagegen, dem Lessing fremd blieb und das erst im „Sturm

und Drang“ am Feuer Shakespeares sich entzündete, war diese Entwurzelung

ausgeschlossen. Allerdings war nun wiederum gerade der

Sturm- und Drang-Enthusiasmus jedem planmäßigen Schaffen im Zeichen

einer durchdachten Fabel abgeneigt. Dem historischen Drama

wurde im Gegensatz zum regelmäßigen Theater die lose Bilderfolge

eines Guckkastens zugedacht: Shakespeares „Plane“ waren nach Goethes

Rede im gemeinen Sinne als „keine Plane“ anzusehen. Nur „der geheime

Punkt, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte

Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen

zusammenstößt“, bestimmte eine Richtung zur Vereinheitlichung. In

solchem Bewußtsein schleuderte der junge Goethe einzelne „Fetzen“

seines „Faust“ und seines „Ewigen Juden“ hin ohne Plan und Fabel

und ohne Klarheit über den Gang des Ganzen, insbesondere über den

Ausgang. „Plane machen“ erachtete der Graf Friedrich Leopold von

Stolberg für „so unmöglich, als ein Buch über die Freiheit des

Willens zu schreiben“. Schon beim jungen Schiller ist es anders; die

Arbeit an seinem „Don Carlos“ beginnt mit einem festgelegten Plan,

wie er im Bauerbacher Entwurf enthalten ist. Die Ausführung hält

sich im großen und ganzen bis zum Schluß an diese Disposition, während

in der Mitte des Werkes, wie die Analyse zeigt, durch das Hervortreten

des Marquis Posa wesentliche Veränderungen der Fabel |#f0164 : 140|



eingetreten sind. Nach der großen Arbeitspause, die durch historische

und philosophische Selbstbesinnung ausgefüllt ist, wird das planmäßige

Schaffen, das eine Organisation des Stoffes zur Fabel voraussetzt,

immer mehr Schillers Grundsatz. Das Erz des Stoffes mußte,

nachdem es erlebnismäßig durchglüht war, unter den Schmiedehammer

zweckmäßiger Formung gelegt und auf dem Amboß dramatischer

Notwendigkeit zur Fabel zurechtgeschlagen werden. Welche Änderungen

des Planes sich während dieser Arbeit noch ergaben, ist aus dem

fertigen Werk nicht mehr zu erkennen.



Die Redaktion des Stofflichen auf einen formelhaft gebundenen

Handlungszusammenhang wird in Gustav Freytags „Technik des

Dramas“ als Abkühlungsprozeß der warmen Seele bezeichnet; diese

reflektierende Arbeitsphase muß ihre Spuren in Aufbau und Gliederung

jedes Werkes hinterlassen. So hat Schiller dem Faust-Dichter

gegenüber die Notwendigkeit betont, einen poetischen Reifen um das

Ganze zu legen und es einer Idee zu unterwerfen. Das bedeutete

nichts anderes als die Forderung einer Fabel, durch deren Prägung

das Werk erst zum Drama werde. Dem widersprach beim Faust-

Dichter die Totalität der Weltsicht in ihrer epischen Weite. Goethe

hat später Eckermann gegenüber bestritten, daß er das reiche, bunte

Leben auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee

aufgereiht habe. Nur für seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“

hat er die bewußte Erarbeitung einer dem Verstande faßlichen Idee

zugegeben. Dieser strengen Verkettung zu einer Fabel von fast dramatischer

Schicksalsfügung verdankt denn auch der klassische Roman

seine tragische Wirkung. Man trifft auch da wieder auf die Situation

des Mannes zwischen zwei Frauen. Nur findet dieser Konflikt sein

Gegengewicht in der Stellung Charlottens zwischen zwei Männern,

und damit ist die Annäherung an das chemische Gleichnis der attractio

electiva angebahnt. Das gäbe eine sehr einfache, banale Fabel, die

dem Sprichwort „gleich und gleich gesellt sich gern“ entspräche. Die

Lösung, die nach dem naturwissenschaftlichen Gesetz angezeigt wird.

bestünde in der Verbindung Eduards mit Ottilie und in der des Hauptmanns

mit Charlotte. Aber diese lustspielmäßige natürliche Lösung

wird in der sittlichen Welt verhindert durch das Problem der Unauflöslichkeit

der Ehe, das zur tragischen Idee der Entsagung hinführt.



Gibt dieses Beispiel bereits einen Ausblick auf die unmittelbare

Stufenfolge von Situation, Fabel, Charakteren, Motiven, Problemen

und Idee, so muß der vorgenommene Weg der Analyse zunächst

wieder zurückführen zur Verbindung der Fabel mit der künstlerischen

Absicht.

|#f0165 : 141|



b) Absicht



Die bewußte Überlegung einer in Harmonie von Form und Inhalt

beruhenden Wirkung braucht nicht gleichbedeutend zu sein mit

Tendenz. Zwar haben die Dichter, die sich über ihre Pläne aussprachen,

nicht selten die Erzielung außerästhetischer Wirkungen,

die über das Werk hinausführen sollten, als ihre Absicht angedeutet.

Am unbefangensten hat z. B. Schiller in einem Brief an seinen Freund

Reinwald die Absicht ausgesprochen, „in Darstellung der Inquisition

die prostituierte Menschheit zu rächen, ihre Schandflecken fürchterlich

an den Pranger zu stellen und einer Menschenart, die der Dolch

der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, auf die Seele zu stoßen“.

Aber diese ursprüngliche Tendenz ist in der Ausführung und späteren

Bearbeitung mit wachsender Selbstzucht gemildert worden, so daß

die künstlerische Absicht im abgeschlossenen Werk sich weniger

kämpferisch darstellt. Dafür haben die zur Rechtfertigung geschriebenen

„Briefe über Don Carlos“ dem Werk wieder andere Absichten

untergelegt; um seine Einheitlichkeit zu retten, ist eine dritte Konzeption

nachgetragen, die der Schlußphase der Arbeit entspricht. Von

dieser dreifachen Absicht, der ursprünglichen, der ausgeführten und

der nachträglichen ist einer Analyse, die sich auf das Werk selbst

beschränkt, nur die mittlere faßbar, aber die Kritik führt dabei auf

Widersprüche und Unklarheiten der Durchführung, die durch Heranziehung

der Briefe, Entwürfe, älteren Fassungen und der späteren

Selbstkritik Erklärung finden.



Die vielen dichterischen Selbstbekenntnisse, die über Bewußtes und

Unbewußtes im eigenen Schaffen Aufschluß geben (Otto Behaghel hat

in seiner Gießener Rektoratsrede eine reiche Sammlung vorgelegt),

sind nicht immer von Selbsttäuschung frei. Hebbels Tagebuch

(17. Sept. 1847) erklärt z. B. alles Stoffliche in seinem Drama (Gestalten,

Situationen, zuweilen sogar die ganze Handlung) als unbewußte

Schöpfung. Wenn dagegen der Antipode Otto Ludwig über seine

Schaffensweise Rechenschaft ablegt, so bekennt er sich zur Herstellung

eines Planes, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehöre,

sondern alles Absicht und Berechnung sei: „Da sieht es denn ungefähr

aus, wie ein Hebbelsches Stück, alles ist abstrakt ausgesprochen, jede

Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterentwicklung gleichsam

ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr wirkliches

Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen und charakteristischen

Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte

es nun so lassen, und vor dem Verstande würde es so besser bestehen |#f0166 : 142|



als nachher ... Aber ich kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir

kein poetisches Kunstwerk, auch die Hebbelschen Stücke kommen

mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem Kunstwerk, nicht wie

ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es ist ein

Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung

noch anmerkt.“



Im Lichte dieser Selbstbeobachtung erscheint die Bewußtheit bei

Hebbel als Endform, bei Ludwig als Übergangsphase im Werden des

Werkes. Beide Dichter haben im übrigen von bewußtem und unbewußtem

Schaffen verschiedene Vorstellungen gehabt. Auf die

Scheidung dieser Vorgänge, zwischen die der amerikanische Psychologe

F. C. Prescott mit Recht die Zwischenzone eines halb unbewußten,

halb bewußten Dämmerzustandes legt, kommt es indessen der

Analyse nicht an. Diese Fragen bleiben der Psychologie des dichterischen

Schaffens überlassen und kommen im zweiten Buch zur

Erörterung. Die Werkanalyse kann nur die Verknüpfung von Situationen

und Motiven in der Fabel unter dem Gesichtspunkt künstlerischer

Zweckmäßigkeit erkennen. Sie gelangt von der Absicht aus

zur Technik des Dichters. Bei diesem Übergang fällt, wie Dilthey

gesagt hat, der Psychologie nur mehr die zweite begleitende Stimme

zu, während die literarhistorische Empirie die Führung übernimmt.



c) Technik



Unter Technik ist alle überlegte Formgebung zu verstehen: alles,

was Klarstellung der künstlerischen Absicht, Berechnung der Wirkung,

Erregung der Anteilnahme, Mittel der Spannung, Sicherung des

Interesses bedeutet. Technik ist erwachendes Bewußtsein des Künstlers,

der aus einem Traumzustand herausgerissen wird und mit dem

Augenaufschlag sich Hörern, Lesern, Zuschauern gegenüberfühlt, die

er unter seinen Willen zwingen will und muß, indem er sich als ein

Eigener zeigt. Technik ergibt sich nicht aus dem Gestaltungszwang,

der schon im Erlebnis liegen kann, sondern aus dem Gestaltungswillen.

Die Mittel dazu sind kein lehrbares Handwerk, aber sie sind

lernbar durch Übung; kein Meister fällt vom Himmel, aber auch

keiner kann durch diktierte Anweisung einem anderen das, was

Technik heißt, beibringen; die eigene Auseinandersetzung mit den

Meistern, das Studium großer Vorbilder, das Ringen mit ihnen, das

Eindringen in die Geheimnisse ihres Schaffens, nicht um sie nachzuahmen,

sondern um es ihnen gleichzutun auf andere, selbständige,

vielleicht entgegengesetzte Weise, ist der Weg des Dichters zur technischen |#f0167 : 143|



Sicherheit. Dazu gehört eigene Erfahrung in Selbstkritik und

erprobtem Erfolg. Aber gesättigte Ausnutzung dieser Erfahrungen in

Wiederholung bewährter Effekte würde nur billige Routine sein.

Technik dagegen ist alte Tradition in steter Erneuerung; Nutznießung

tausendjähriger Erfahrung mit der Verpflichtung, sie weiterzuführen;

Gebundenheit im Drang nach Freiheit, in Fluß gehaltene Evolution

im Gegensatz zu drohender Erstarrung; umstürzlerisches Aufbegehren

innerhalb der Fügung der Gesetze.



So führt Technik zum Begriff der Gattung zurück als Auseinandersetzung

mit den durch die Formwahl übernommenen Bedingungen.

In der Tat können wir kaum von einer allgemeinen Technik der

Dichtung sprechen. Wenn es eine Dichtungstechnik schlechthin gibt,

kann sie nur in der Gestaltung der Sprache und in der Handhabung

ihrer Ausdrucksmöglichkeiten bestehen. So wie es keine Technik

der bildenden Kunst schlechthin gibt, sondern Technik der Malerei,

der Skulptur, der Graphik, so haben wir es auch hier mit gattungsgespaltener

Technik zu tun. Die Spaltung liegt zwar nicht im Material

begründet wie bei der bildenden Kunst, und nicht in den Instrumenten

wie bei der Musik, aber in der Stellung zum Gegenstand und in

seiner Vermittlung. Wir beobachten die Übung dialogischer Handlungsentwicklung

im Drama, monologischer Seelendarstellung in der

Lyrik und erzählenden Berichtes in der Epik. Die mannigfaltigste

Bereicherung der technischen Spielarten aber liegt darin, daß innerhalb

jeder Gattung auch solche technische Mittel zur Anwendung

kommen können, die vorzugsweise den anderen Gattungen angehören,

nämlich Dialogisches in der Epik, Erzählendes in der Lyrik, Seelischzuständliches

im Drama.



Wenn wir beim Drama unverbrüchliche Gattungsgesetze ablehnen,

wie sie etwa die auf Aristoteles zurückgehende Renaissancepoetik

und besonders die Regelgebung des französischen Klassizismus

in den drei Einheiten aufgestellt hatte, so dürfen wir doch nicht

verkennen, daß eine Zusammendrängung des Sprengstoffes zum Wesen

der dramatischen Handlungsführung gehört und daß vom Zusammenprallen

der Gegensätze, von prägnanter Schicksalsverkettung und

schlagartiger Folge die befreiende Wirkung abhängig ist, die sowohl

der tragischen als der komischen Stimmung entspricht. Eine Tendenz

zur Vereinheitlichung und Zusammenballung seelischer Energien war

nicht nur in der Raumform der antiken Bühne, die auf die ständige

Anwesenheit des Chores berechnet war, begründet; sie ist es ebenso |#f0168 : 144|



sehr in der vorwärtsdrängenden Zeitform des Dramas überhaupt, wie

in der vergegenwärtigenden Darstellung, die dem Drama und der

Lyrik gemeinsam ist.



Unverbrüchliches Gesetz der dramatischen Form ist die fortrollende

Gegenwart innerhalb des Zeitablaufs. So vielerlei Möglichkeiten der

Zeitraffung und Zeitdehnung es geben mag, so darf doch niemals im

ernsten Drama der Uhrzeiger rückwärts gedreht werden, wie man es

etwa bei einem Filmstreifen tun könnte und wie es mit romantischer

Ironie in Tiecks „Verkehrter Welt“ geschieht. Der Zeitablauf geht

sogar weiter im Zwischenakt; selbst die in die Pause zwischen zwei

Szenen fallende verdeckte Handlung bedeutet einen zeitlichen Fortgang.

Es ist daher ebenso unmöglich, Gleichzeitiges nacheinander zur

Darstellung zu bringen, wie ein Nacheinander gleichzeitig darzustellen.

Aber durch das epische Hilfsmittel des Berichts kann Vorausliegendes

nachträglich Berücksichtigung finden. Ist es indessen durch Bericht

in die zeitliche Vergangenheit verwiesen, so kann es nicht mehr durch

Darstellung vergegenwärtigt werden. So liegt z. B. ein technischer

Verstoß gegen den dramatischen Zeitablauf darin, daß der letzte Auftritt

des Schillerschen „Don Carlos“ mit dem Eintritt des Prinzen

ins Zimmer der Königin beginnt, nachdem schon zwei Auftritte vorher

die Wache gemeldet hat, er sei, als Geist seines Großvaters verkleidet,

in den Gemächern der Königin verschwunden. Die dazwischenliegende

großartige Großinquisitor-Szene erweist sich damit für die

technische Analyse als ein den Zeitablauf sprengender Einschub.



Stärkere Durchbrechungen dieser Regel sind versucht worden und

haben zur Auflösung der dramatischen Form geführt. Wenn in einem

Stück wie Arnold Bronnens „Ostpolzug“ (1926) zwei um Jahrtausende

getrennte Handlungen zu umschichtiger Darstellung gelangen, indem

der Indienzug Alexanders des Großen und der eines modernen Weltfahrers

szenenweise wechseln, so handelt es sich um einen Doppelmimus,

um zwei voneinander unabhängige monologische Handlungen.

Es besteht zwischen ihnen keine andere Beziehung als die eines

thematischen Parallelismus, der ohne dramatische Wirkung bleibt.

Ähnliches haben schon die Jesuiten unternommen, und Andreas

Gryphius hat es in seinem Doppellustspiel „Die geliebte Dornrose“

und „Das verliebte Gespenst“ ihnen nachgetan.



Eine Möglichkeit, zwei zeitlich getrennte Handlungen in dramatische

Verbindung zu bringen und die Darstellung des Vergangenen

in die Gegenwart der Haupthandlung einzufügen, kann besser mit der

Einlage eines Stückes, das im Stück gespielt wird, erreicht werden,

z. B. bei Shakespeare im „Hamlet“ und „Sommernachtstraum“. Im |#f0169 : 145|



„Hamlet“ ist es sogar eine verkappte Vergegenwärtigung der Vorgeschichte.

Aber das theatralische Zwischenspiel gehört einer anderen

Realitätsschicht an, wie auch in der Aufführung betont werden muß;

es erinnert an die epischen Hilfsmittel einer eingelegten Erzählung,

die auf die Entwicklung der Geschichte Einfluß gewinnt. Nicht anders

ist es mit der Traumhandlung, in der die Erzählung von etwas Vergangenem,

die Vision gleichzeitigen Geschehens in einer höheren

Welt, oder der Ausblick auf etwas Bevorstehendes sichtbar gemacht

wird. Beispiele sind Goethes „Egmont“, Gerhart Hauptmanns „Elga“

und „Hanneles Himmelfahrt“ oder die Operntexte von Schillings

„Mona Lisa“ und Pfitzners „Palestrina“. Hier gleicht die unmittelbar

vergegenwärtigte Handlung erster Ordnung mehr oder weniger der

novellistischen Rahmenerzählung, die ein zweites Geschehen umschließt.



Für die Vermittlung zurückliegender Vorgänge, die von Bedeutung

für die Handlung sind, dient im übrigen der Notbehelf des Berichtes.

Neben der Erinnerung und der Ausfragung von Zeugen ist der Botenbericht

ein technischer Kunstgriff, um zeitlich und räumlich Entlegenes

in Beziehung zur sichtbaren Handlung zu setzen und in den

Zeitablauf einzufügen. Es gibt aber kaum eine Möglichkeit völlig

gleichzeitiger Darstellung von räumlich entlegenen Vorgängen. Selbst

im Buchdrama, das sie in zweispaltigem Druck nebeneinander stellen

könnte, würde der Leser immer den einen Vorgang vor dem anderen

lesen müssen und beides erst nachträglich ineinanderschalten. Auch

wenn eine Simultanbühne Gelegenheit gibt, verschiedene Räume wie

im Puppenhaus zugleich zu überschauen, etwa in Zacharias Werners

„24. Februar“ zwei, in Möllers „Sturz des Ministers“ drei, in Nestroys

„Vier Temperamenten“ gar vier Zimmer desselben Hauses, wenn in

beliebten Lokalpossen verschiedene Stockwerke oder der Gegensatz

zwischen Vorder- und Hinterhaus gezeigt werden oder endlich gar

verschiedene Städte und Länder, wie Madrid und London in Ferdinand

Bruckners „Elisabeth“, nebeneinander gerückt sind, so muß

die Handlung auf dem einen Schauplatz immer aussetzen oder mindestens

zur Pantomime gedämpft werden, sobald die des anderen das

Gehör beanspruchen und die Aufmerksamkeit an sich ziehen soll.

Hier behält das Gesetz des „Successiven“ aus Lessings „Laokoon“

sein Recht.



Ein anderes Mittel, gleichzeitige Vorgänge auf entlegenen Schauplätzen

in dramatischen Zusammenhang zu bringen, ist die der

homerischen Epentechnik entlehnte Mauerschau (Teichoskopie), die

eine entfernte Begebenheit vom erhöhten Standpunkt eines Turmes

oder Feldherrnhügels aus wahrnehmen läßt. Sie kann im Gegenwartsstück |#f0170 : 146|



durch Wunder moderner Technik ersetzt werden wie Fernsprecher

und Fernseher. Wunderbarer aber und nicht genug zu bewundern

ist der Einfall des alten Aischylos, der sich die Sehergabe

der Kassandra im „Agamemnon“ zunutze machte, um durch ihren

Mund den innerlich geschauten Schreckensvorgang, der sich im

Innern des Hauses abspielt, gleichzeitig erleben zu lassen. Hier ist

es durch einen der genialsten technischen Kunstgriffe, den die dramatische

Weltliteratur kennt, gelungen, die im Hintergrund verdeckte

Handlung im Augenblick ihres Geschehens in den offenen Vordergrund

hinüberspielen zu lassen.



In gleicher Weise können Träume, Ahnungen, Orakel, Symbole und

verhängnisvolle Vorzeichen stimmungsmäßig auf Kommendes vorbereiten.

Die Verwendung solcher Klammern, die eine dramatische

Handlung spannungerregend zusammenschließen, gehört ebensowohl

der epischen Technik an, und in ihrer Stimmungswirkung können sie

sogar als lyrische Momente bezeichnet werden. Im Drama aber stellt

die Vordeutung ein Gegengewicht gegen die berichtmäßige Vermittlung

des Vergangenen dar. Je nach dem Übergewicht der zurückbezogenen

oder vorwärtstreibenden Verknüpfung, von denen die eine

strengeren Kausalnexus und prädeterminierte Schicksalsbestimmtheit

bedeutet, während die andere eine freiere Spielkraft des Willens und

der Affekte erlaubt, scheiden sich die Typen dramatischer Technik.

Einer analytischen, den Knoten auflösenden Form, die von der prägnanten

Situation aus rückwärtsgreifend deren vorausliegende Bedingungen

enthüllt, steht als Gegensatz die auf Charakterentwicklung

eingestellte Vorwärtsbewegung gegenüber, die den Knoten erst schürzt.

Man erkennt den Unterschied deutlich bei einem Vergleich zwischen

der Rolle des Orakels in Sophokles' „König Ödipus“ und in Shakespeares

„Macbeth“. Der Schicksalsspruch, der über das Labdakidenhaus

verhängt wurde, liegt weit zurück und ist dem in der Wiege

davon Betroffenen nicht bekannt geworden, so daß er auf seine

Willenshandlungen keinen Einfluß hatte; auch sein Charakter hat an

dem Geschehenen keinen Anteil; alle Handlung führt zunächst dahin,

die furchtbare Verwirklichung des Vorausverkündeten erkennen zu

lassen; erst indem der Sehendgewordene sich selbst des Augenlichtes

beraubt, gelangt er als Held zu eigener verantwortungsvoller Handlung.

Bei Shakespeare ist es gerade umgekehrt; das Schicksal fügt

sich erst innerhalb der Handlung, die Hexenprophezeiung fällt in das

Stück selbst, aber alles, was die Schicksalsfrauen voraussagen, schlummert

bereits als triebhafte Sucht im Unterbewußtsein des Helden;

die Hexen sind nichts anderes als charakterologische Gedankenleserinnen |#f0171 : 147|



Macbeths, und ihre Prophezeiung wird nun zum anstoßgebenden

Leitmotiv seines bewußten Handelns als unvermeidlicher

Folge seines Charakters.



Schon Aristoteles hatte, indem er die Frage aufwarf, ob Fabel oder

Charaktere das Wesentliche in der Tragödie seien, die Verschiedenheit

der beiden Wege angedeutet. Eine mittlere Linie zwischen den

beiden Polen zu suchen und die Vorteile sowohl der konzentrierten

Fabel als der beweglich vorwärtsschreitenden Charakterentwicklung

wahrzunehmen, machte sich die deutsche Klassik zur Aufgabe. In

Schillers „Wallenstein“ ist nicht nur der Schicksalsgedanke zweideutig,

je nach der Auffassung des Realisten und des Idealisten; auch die

Technik lehnt sich an beide Seiten an und setzt sich zum Ziel das

Programm, das um die Jahrhundertwende in dem Gedicht „An

Goethe, als er Voltaires Mahomet auf die Bühne brachte“ kundgetan

wurde: auf der Spur des Griechen und des Briten dem besseren Ruhme

nachzuschreiten. Nicht minder deutlich ist die Doppelrichtung in

„Maria Stuart“ und „Braut von Messina“, und am klarsten geht die

Absicht, den Reiz analytischer Enthüllung einer dunklen Vorgeschichte

mit vorwärtsdringendem charaktermäßigen Handeln zu verbinden, aus

den Entwürfen zum „Demetrius“ hervor.



Die „Technik des Dramas“, die Gustav Freytag dem Werk der

deutschen Klassik auf den Leib zugeschnitten hat, hält sich in den

Fragen des Aufbaus und der Handlungsführung fast ausschließlich

an den Kanon einer tektonischen Gliederung, deren Pyramidenform

die steigende Handlung bis zum Höhepunkt des dritten Aktes emporführt

und ihr die gleiche Strecke für den Absturz bis zur Katastrophe

einräumt, wobei die Führung zwischen Spiel und Gegenspiel wechselt.

Dieser geschlossenen Form steht aber, wie man in Übertragung der

Wölfflinschen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe erkannt hat, als

gleichwertige künstlerische Möglichkeit eine offene Kompositionsweise

gegenüber. Richtet sich der harmonische Aufbau ebenmäßiger

Symmetrie nach Mustern der Architektur und Plastik, so kann eine

atektonische Struktur bei malerischer Komposition und beim thematischen

Aufbau musikalischer Sätze in Sonate und Symphonie ihr

Gegenstück finden. So hat Heinrich von Kleist, der die Unterwerfung

der Dichtung unter musikalische Gesetze als seine große Entdeckung

im Reich der Kunst ansah, die Szenenfolge der „Penthesilea“ ohne

fünfteilige Aktgliederung in thematischer Steigerung sich abspielen

lassen. Zwar kann auch in der offenen Form eine sichtbare Symmetrie

des Aufbaus walten wie in der Stationstechnik von Strindbergs

„Nach Damaskus“, aber dann sind ursächliche Verkettung und Dynamik |#f0172 : 148|



anders beschaffen als in dem Kräfteverhältnis von Spiel und

Gegenspiel. Alle Gestalten, die der Hauptperson begegnen, haben

nur die Funktion der Spiegelung, nicht die der Handlung und des

Zusammenstoßes. So konnte man für derartige Gruppierung das Bild

des Sternes im Gegensatz zu dem der Kette in Anspruch nehmen.



Mancherlei wurde getan für eine neue Systematik der Dramatechnik,

die weniger dogmatisch als analytisch den verschiedenartigen

Typen der Handlungsführung gerecht würde. Franz Saran, dessen

Schule in der Sammlung „Bausteine“ gründliche, wenn auch etwas

pedantische Untersuchungen der Handlungsführung in Lessings,

Klopstocks, Goethes, Schillers und Hauptmanns Dramen vorführte,

ist selbst nicht mehr zur Zusammenfassung seines Systems gelangt,

aber der in diesen Untersuchungen herausgearbeitete Unterschied

zwischen einer durchlaufenden „Fadentechnik“, die in Aufhellungs-,

Ziel- und Entwicklungshandlung vorherrscht, und einer „Wellenhandlung“,

deren Gang als Stimmungsbewegung mehr innere Bindungen

zur Geltung bringt, entbehrt nicht der fruchtbaren Gesichtspunkte

für die Analyse des Aufbaus. In ähnlicher Weise, aber mehr von

den Raumverhältnissen der Bühne ausgehend, hat Arnulf Perger in

mehreren dramaturgischen Arbeiten die Unterschiede zwischen Einortsdrama

und Bewegungsdrama bis in alle technischen Anwendungen

und Bedingungen verfolgt, um schließlich mit der Abkehr von der

Realillusion der Verwandlungsbühne und der durch sie bedingten

Technik Ausblicke in ein neues Werden zu eröffnen. Endlich hat

Robert Petsch für die Typologie der dramatischen Form historische

Grundlagen gesucht, indem er die freiere Beweglichkeit auf den

Mimus zurückführte und ihr die strengere Geschlossenheit des eigentlichen

Dramas gegenüberstellte. In einem späteren Aufsatz gelangte

er zu drei Haupttypen, deren erster die einfache Vordergrundhandlung

der mimischen Spielform bis zum Festspiel hin entwickelte,

während der zweite, klassisch genannte Typus die Vordergrundshandlung

nicht ohne perspektivische Tiefenbeziehung zu einem sinnvollen

ideellen Hintergrund bestehen läßt; beim dritten, romantischen

Typus, der im mythischen Musikdrama gipfelt, stellt sich dieser

Hintergrund als das eigentliche und wesentliche Leben dar, während

die transparente Vordergrundshandlung vielfach verschwommen bleibt.

Man geht wohl nicht fehl, in solcher Dreiteilung Beziehungen zu

Diltheys Typen von naturalistischer, pantheistischer und freiheitsidealistischer

Weltanschauung zu erkennen; auf jeden Fall scheint

diese Typologie mehr auf Fragen des Stils als auf die der Technik

gerichtet zu sein.

|#f0173 : 149|



Alle Technik des Dramas, selbst wenn es kein Theaterstück ist,

bleibt von einer bestimmten Bühnenvorstellung abhängig. Diese

imaginative Bühne aber verkörpert in ihren begrenzten Möglichkeiten

einen bestimmten Stil der Darstellung, in den sie das ihr zugedachte

Drama zwingt. Technik und Stil sind beim Drama in gleicher Weise

von der Bühnenform herzuleiten; sie sind so wenig voneinander zu

trennen, daß man die dramatische Technik geradezu als bewußtwerdenden

Stil, den dramatischen Stil als unbewußtbleibende Technik bezeichnen

könnte. Auch die Fragen, die neben Handlungsführung, Zielsetzung,

Aufbau und Gliederung noch übrigbleiben, die Exposition,

die Einführung und Vorstellung der Personen, die Mittel ihrer Charakteristik,

die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse von Kontrast

und Parallele, ihre Redeweise, die Führung des Dialoges, die Funktion

der Monologe, die Behandlung der Masse in Volksszenen, ihre Auflösung

in repräsentative Typen oder ihre chorische Zusammenfassung,

die Verwendung lyrischer Stimmungsmittel und musikalischer Begleitung,

die Szenenverbindung, die Aktschlüsse, das alles kann in bezug

auf technische Lösung wie auf das Verhältnis zur Wirklichkeit durchaus

als stilbedingt betrachtet werden.



In weit höherem Grade noch scheinen die technischen Probleme

der Lyrik mit dem Begriff des Stils zusammenzufallen. Technik der

Lyrik ist Stimmungserregung durch Sprachausdruck; aller Wille geht

darauf aus, von der Echtheit und Wahrheit der Empfindung und Anschauung

zu überzeugen; je eindrucksvoller dieser Wille sich durchsetzt,

desto weniger wird er als absichtsvolle Technik erkannt. Selbst

in dem umfassenden Werk von Richard Maria Werner über „Lyrik

und Lyriker“, das ganz positivistisch das Werden des Gedichtes in

allen seinen Phasen beschrieb, kam das Wort „Technik“ überhaupt

nicht vor, und der Begriff war ersetzt durch Befruchtung, inneres

und äußeres Wachstum. In neuerer phänomenologischer Betrachtung,

z. B. in den Büchern von Johannes Pfeiffer, ist wohl eine intentionale

Form des Sprachausdrucks berücksichtigt, aber das lyrische Gedicht

gilt vor allem deshalb als vorbildlich und beispielhaft für alle Dichtung,

weil bei ihm der gegenständliche Inhalt vom „Wie“ verzehrt

ist: „von der Weise der Gestaltung, von der stimmungshaltigen

Sprachform, ─ mit einem Wort: vom Stil.“ Alle die technischen Aufgaben,

die das Drama in bezug auf Stoffdarbietung und Gegenstandsbewältigung

stellte, scheinen demnach hier in Wegfall zu kommen.

|#f0174 : 150|



Allerdings kann die zyklische Zusammenstellung vereinzelt entstandener

lyrischer Gedichte, indem ihre Stimmungen aufeinander

abgestimmt werden und schließlich der ganze Reichtum zu einer

Perlenkette aufgefädelt wird, eine Sache durchdachten Aufbaus sein.

In der Anordnung der gesammelten Gedichte zu einem großen Strauß,

der mehr bedeuten muß als die Summe der einzelnen Blumen, hat

der Lyriker es mit einem Stoff zu tun, den ihm nicht so sehr sein

Leben als seine eigene Dichtung darbietet und der in der ordnenden

Zusammenfassung mit künstlerischem Bewußtsein beinahe noch einmal

zu gestalten ist. Angesichts solcher Aufgaben kann auch bei

der Lyrik von einer kompositionellen Technik gesprochen werden,

wie sie schon Wilhelm Scherer für Goethes erste Gedichtausgabe,

Konrad Burdach und Hans Heinrich Schaeder danach für den „Westöstlichen

Divan“, aufs eingehendste aber Walter Brecht für „Conrad

Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung“

erhellt haben.



Wo es in der Lyrik etwas zu erzählen gibt und wo überhaupt gegenständliche

Wirkungen sich einstellen, da bestehen auch beim einzelnen

Gedicht sichtbare technische Probleme des Aufbaus. Die Ballade

beispielsweise stimmt, wie ihr Meister Börries von Münchhausen

gezeigt hat, in dem Zusammenklingen eines sinnlich-wirklichen

unteren Vorganges und eines seelisch-wirksamen oberen Vorganges mit

jener Doppelwirkung, die am Drama zu beobachten war, überein, und

in der Sprunghaftigkeit der Handlungsführung wie in der Anwendung

symbolischer Motive ist eine Technik zu erkennen, die allerdings

mit bestimmten Stilrichtungen zusammenfällt. In einer Untersuchung

über „Aufbauformen“ hat Robert Petsch sogar bei jedem lyrischen

Gedicht einen doppelten Vorgang, der sich gleichzeitig am Gegenstande

(dem Objekt) wie am lyrischen Ich (dem Subjekt) abspielt

und sich über die beiden Spielfelder in wechselwirkender Umschlingung

erhebt, erkennen wollen; aus diesem Mehrvorgang leitet er

Aufbaugesetze der reinen Lyrik ab. Wenn bei der sogenannten

pindarisierenden Form der französischen Odendichtung eine künstliche

Unordnung (beau désordre) gepflegt wurde, um den Eindruck

leidenschaftlicher Gefühlserregung zu erwecken, so war ein bewußtes

Wollen unverkennbar. Von der mittelbaren Lyrik mag das in noch

höherem Maße gelten. So kann beim Bildgedicht, das den Gegenstand

und die Stimmung eines Gemäldes aus der Sprache der bildenden

Kunst in die der Dichtung umsetzt, wie bei jeder Übersetzung

überhaupt, von Technik gesprochen werden. Im übrigen aber gilt

von den meisten lyrischen Formelementen, bei denen von einer Technik |#f0175 : 151|



die Rede sein kann, wie Strophenbau, Parallelismus, Vers, Reim,

Assonanz, Allitteration, Lautmalerei und Bildhaftigkeit, daß sie auf

dem Gebiet der Sprach- und Stilbehandlung liegen; dort treffen sie

zusammen mit unbewußt gehandhabten Klangwirkungen der Sprachmelodie

und des Rhythmus, also mit den Elementen, in denen die

eigentliche lyrische Fügung sich ausbildet.



Bei der erzählenden Dichtung wird man viel eher von einer eigenen

epischen Technik sprechen können, die unabhängig von der

Bindung an einen bestimmten Stil gehandhabt wird. Das liegt an dem

Charakter des Berichtes und an der Stellung des Erzählers, der als

Mittler zwischen Gegenstand und Hörerschaft sichtbar ist. Da er sich

bald nach der einen, bald nach der andern Seite wendet, kann er sich

leicht in seine Karten blicken lassen. Er sitzt nicht, wie Schiller und

Goethe sich den Rhapsoden dachten, hinter einem Vorhang; er

bleibt nicht wie der dramatische Puppenspieler, dessen Finger oder

Drähte die Figuren bewegen, versteckt; sondern er zeigt offen das

Gewirr der Fäden und Spannungen, die in seiner Hand liegen. Er

gleicht dem Spielleiter einer Theaterprobe, der zwischen den Personen

auf der Bühne steht und ihnen Stellung, Bewegung und Betonung

anweist; er kann sogar in scheinbarer Ratlosigkeit mit seinem

Publikum selbst in Verbindung treten und es an Freud und Leid des

Erzählerberufes teilnehmen lassen; denn mehr als im Drama und in

der Lyrik, bei denen durch die Darstellung Gefühl und Anschauung

mitgerissen und überwältigt werden, kommt es in der erzählenden

Dichtung auf ein Vertrauensverhältnis zwischen Erzähler und Empfänger

an, das sich in gegenseitigem Entgegenkommen darstellt.

Inhalt des Vertrages, den sie schließen, ist eine Glaubwürdigkeit des

Erzählers, dem die Gläubigkeit des Hörers als Gegenleistnug entspricht.

Alle Erzählertechnik läuft auf nichts anderes hinaus als auf

ein Glaubhaftmachen des Erzählten, dessen Vorgang durch Spannungserregung

vorbereitet und durch Motivierung gedeutet wird. Die

Folgerichtigkeit des Geschehens und das Gesetz des waltenden Schicksals

werden auch hier wie im Drama durch klare Gliederung in den

dynamischen Gegenbewegungen zur Erscheinung gebracht. Selbst wo

es sich nicht um eine organische Fabel handelt, selbst in den homerischen

Epen und im Nibelungenlied zeigt sich ein Aufbau von tektonischer

Geschlossenheit als Formprinzip des großen Epos. Virgil

und nach ihm die Renaissance-Epiker haben diese Symmetrie dem

Homer bewußt nachgebildet. Der Erzähler tritt als Person wenig |#f0176 : 152|



hervor; allwissend entwickelt er von der erhabenen Höhe objektiver

Weltschau aus ein umfassendes Fernbild; alle Schilderungen äußerer

und innerer Vorgänge haben ein gewisses formelhaftes Gleichmaß in

den typischen Beiwörtern und Wiederholungen.



In bezug auf das zeitliche Fernbild kommen die zyklischen Stammbaumromane

der Balzac, Zola, Freytag, Galsworthy, Olaf Duun dem

Epischen nahe; in bezug auf Raumfülle wurde ein episches Panorama

in Sues und Gutzkows Romanen des Nebeneinander erstrebt. Aber der

für sich stehende Roman gibt doch nur einen Ausschnitt aus der Totalität

des Daseins; dafür wird er in Beschränkung auf Einzelschicksale

den innersten Lebensproblemen nähergeführt. Wenn im großen Epos

sowohl die Meinungen des Dichters als die seiner Charaktere sich offen

kundgeben, bedarf es keiner raffinierten künstlichen Mittel. In Roman

und Novelle dagegen kann es sich sowohl um Eindringen in

unausgesprochene Seelenvorgänge der einzelnen Personen als um Verheimlichung

ihrer wahren Absichten handeln, und zur Vermittlung

dieser verschiedenartigen Lichtbrechungen muß das Spielwerk mannigfaltigster

technischer Kunstgriffe in Anspruch genommen werden.



In der Theorie ist auch dem Roman strenge Objektivität zur Pflicht

gemacht worden. Aber Friedrich Spielhagen, der in seinen „Beiträgen

zur Theorie und Technik des Romans“ diesen Standpunkt vertrat,

drang nicht einmal in seiner eigenen Praxis mit derartigen Grundsätzen

durch. Die Zwischenstellung des Erzählers bringt vielmehr

eine ständige Kreuzung von Objektivierung des Subjektiven und

Subjektivierung des Objektiven mit sich. Die subjektive Erzählungsform

sucht den Eindruck objektiver Wahrheit des Erzählers zu

erwecken durch Hinweis auf stoffliches Material: Erinnerungen,

Zeugenaussagen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe. Die objektive Erzählungsform

wird subjektiviert durch persönliche Einmischung des

Dichters, durch Anrede des Erzählers an seine Hörerschaft wie durch

Zwischenreden erklärender, lehrhafter, betrachtender Art. Während

die Subjektivierung des Objektiven auch im großen Epos nicht ausbleibt,

ist die objektivierende Vermittlung des Subjektiven namentlich

in der Ich-Erzählung ausgebildet. Ihr technischer Zweck bestand

ursprünglich darin, Unglaubhaftes glaubhaft zu machen, indem es

als selbsterlebt erzählt wurde. Das ist schon im alten Ägypten für

Wundergeschichten angewandt worden, nachmals für Reiseromane,

Visionsdichtungen, die eine Reise ins Jenseits darstellen, Abenteurererzählungen,

Utopien, ja schließlich in parodistischem Umschlag für

Lügenmärchen. Erst später ist für Briefroman, Tagebuchroman und

Entwicklungsroman der besondere psychologische Reiz der Selbstoffenbarung |#f0177 : 153|



und Innenansicht, wie er mit der Ichform verbunden ist,

entdeckt worden.



Bildet die Ich-Erzählung im homerischen Epos nur eine Einlage,

so kann sie im Roman alleinherrschende Erzählungsform werden

unter dem einheitlichen Blickpunkt fingierter Autobiographie. Sie

kann in einer der lyrischen Selbstdarstellung angenäherten Weise

eigenes Erleben des Dichters wiedergeben wie in Goethes „Werther“

oder in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“, dessen spätere Umarbeitung

erst die Ichform konsequent durchführt. Die autobiographische

Fiktion kann sogar auf historische Gestalten angewandt

werden, wie es in Wilhelm Schäfers Roman „Karl Stauffers Werdegang“

geschehen ist. Bei dieser objektiven, mehr dem Drama entsprechenden

Erzählungsart tritt der Dichter völlig hinter seinem

Helden, der zugleich als Erzähler eingeführt ist, zurück. Es kann

sich aber auch eine Identität von Erzähler und Dichter wiederherstellen,

wenn der Erzähler nur als Beobachter an der Geschichte teilgenommen

haben will und keineswegs die Hauptperson ist; z. B. in

Schillers „Geisterseher“, in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“, in Ricarda

Huchs „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“. Wie

der Erzähler gelegentlich die Maske eines Dichters trägt (Dante in

C. F. Meyers „Hochzeit des Mönchs“), so kann sich dem Dichter

wiederum der fingierte Name eines beteiligten Berichterstatters als

Pseudonym dauernd anheften; auf diese Weise sind Erzählernamen

wie Jean Paul, Jeremias Gotthelf, Hermann Burte zu Dichternamen

geworden.



Eine Loslösung des objektiven Erzählers von dem epischen Ich

wird notwendig, wenn das Schicksal des Helden bis zu seiner letzten

Stunde, über die er selbst nicht mehr aussagen kann, berichtet werden

soll. Dann wird die Ich-Erzählung eingerahmt durch einen Herausgeberbericht.

Die Person des Herausgebers kann ganz nebensächlich

sein, und sein Auftreten kann sich auf die bloße Mitteilung der

Umstände, unter denen die von ihm wiedergegebene Handschrift in

seine Hände gekommen war, beschränken. Aber der Herausgeber

kann auch Glossator werden und Zweifel an der Richtigkeit aussprechen;

er kann Lücken vermutungsweise ausfüllen oder Lücken

schaffen, indem er angeblich Belangloses wegläßt. In diesem Fall

übernimmt der Herausgeber die Rolle des Redaktors und kommt als

solcher wieder zu einem besonderen Charakter, sei es gläubig ergriffener,

sei es kritisch zweifelnder Art.



Die romantische Ironie rechnet gern mit bewußter Nachlässigkeit

der Redaktion des Herausgebers und mit Unverstand des Setzers und |#f0178 : 154|



Druckers. So ist bei Hoffmann die Selbstbiographie des Katers Murr

mit der Biographie des Kapellmeisters Kreisler durcheinander geraten,

weil der Herausgeber nicht beachtete, daß Fragmente der Lebensbeschreibung

auf den rückwärtigen Seiten des Manuskripts standen,

dessen Vorderseiten der Kater beschrieb. Es ist das epische Gegenstück

zu den oben (S. 144) erwähnten Doppeldramen, in denen der

Parallelismus keine dramatische Wirkung haben kann; in der Erzählung

dagegen ist es ein glänzender Kunstgriff, um geniales Künstlerdasein

und philiströses Katerleben in Kontrast zu setzen und damit

die Idee des Werkes hell zu beleuchten. Ein weiteres Beispiel dieser

Technik liegt in Immermanns „Münchhausen“ vor, indem durch angebliches

Versehen des Buchbinders die ersten zehn Kapitel erst

hinter den nächsten fünf ihren Platz gefunden haben, was durch eine

eingelegte Korrespondenz zwischen Herausgeber und Buchbinder

seine spaßhafte Erklärung findet. Es handelt sich dabei nicht nur

um eine Parodie des Fürsten Pückler-Muskau, der in seinen „Briefen

eines Verstorbenen“ solche Verschiebung vornahm, sondern die Technik

des „beau désordre“ dient als wirkungsvolles Mittel sowohl der

Spannungserregung als der Herstellung guter Laune. In ähnlicher

Weise hat die Technik der als Ich-Erzählung eingelegten Jugendgeschichte

im Entwicklungsroman (Wielands „Agathon“, Goethes

„Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“

1. Fassung), einen traditionellen Platz. „Ab ovo Ledae“ zu erzählen

ist für alle Epik verpönt. Jean Paul, der seine eigenen Romane gern

als „Biographien“ bezeichnete, gibt in der „Vorschule der Ästhetik“

das erprobte Rezept, nicht die Wiege des Helden mit der Leserwelt

zu umringen, sondern ihn sofort in der Höhe von mehreren Fuß

erscheinen zu lassen; „erst darauf könnt ihr einige Reliquien aus

der Kinderstube nachholen, weil nicht die Reliquie den Mann, sondern

er sie bedeutend macht“. Der Verfasser der „Franzosentid“

empfiehlt zwar, um „ne Geschicht richtig to vertellen“, wie der

Pflüger Streifen für Streifen zu nehmen; aber etwas bleibt doch

immer liegen, „un dann möt man en Strämel taurügg trecken“.

Solche technischen Betrachtungen erhöhen die Behaglichkeit, womit

sie sich selbst als Kunstmittel der Erzählungstechnik einordnen.



Das freie Schalten mit der Zeitform, die ein immer neues Zurückgreifen

auf Vergangenes in nachträglicher Aufnahme von Berichten,

Erinnerungen, Erzählungen und Urkunden erlaubt, läßt die Verschiebungen,

die beim Drama als behelfsmäßiger Gebrauch epischer

Mittel gelten dürfen, hier geradezu Hauptsache werden. So kann

auch die Einschachtelung einer Erzählung in die andere oder die Ablösung |#f0179 : 155|



verschiedener Erzähler, wie sie Theodor Storm in „St. Jürgen“

und im „Schimmelreiter“ durchgeführt hat, für Mannigfaltigkeit sorgen.

Zur Erzählungstechnik gehört auch die Innehaltung eines charakteristischen

Unterschiedes in der Tonart der verschiedenen Erzähler.

Mündliche und schriftliche Einlagen stehen dabei unter

anderen Bedingungen: die eine, die ihren Anlaß in einer besonderen

Situation, einem von außen kommenden Anstoß, einer zufälligen Begegnung

hat, rechnet mit mindestens einem unmittelbaren Zuhörer als

nächststehendem Publikum, das zwischen Erzähler und Leser seinen

Platz hat. In der typischen Novellenform des zyklischen Rahmens

kann der Erzähler umringt sein von einem neuigkeitslüsternen Hörerkreis,

der Themen stellt, sich durch Fragen und zweifelnde Zwischenrufe

beteiligt und nachher Kritik übt oder Nutzanwendungen gibt.

Dabei wird die Eigenart des Erzählers sich in Redeweise und Weltansicht

von der der Hörer abheben müssen. Bei der anderen Form

der Einlage, die als eine Handschrift chronikalischen, tagebuchartigen

oder brieflichen Charakters zum Vorschein kommt, ist das erst recht

der Fall, auch wenn keine Wechselwirkung besteht; die Einlage muß

durch ein gewisses altertümliches Sprachkostüm aus dem sonstigen

Erzählerton herausfallen; hier steht nicht die Technik unter Stilgesetz,

sondern der Stil ordnet sich der Technik unter, wenn er archaisiert,

wie es in der chronikalischen Erzählung der Fall ist.



Bei allen Ichformen der Erzählung ist der Gesichtskreis begrenzt;

der Berichterstatter zweiter Ordnung besitzt nicht die Allwissenheit,

die der Erzähler erster Ordnung für sich in Anspruch nehmen darf;

er hat nichts weiter zu berichten, als was er mit eigenen Sinnen

wahrgenommen hat, was er von anderen hörte oder was er über die

Zusammenhänge vermutet. Diese Beschränkung hat technische Vorzüge

und Nachteile.



Die Vorteile liegen in der realistischen Beglaubigung. Es dient

auch zur Erhöhung der Spannung, wenn rätselhafte Vorgänge im

Halbdunkel bleiben müssen, weil nicht in das Innere der Beteiligten

hineingeleuchtet werden kann. Wie der aufgeklärte Schulmeister,

der in Storms „Chronik von Grieshuus“ Bericht erstattet, so läßt der

rationalistische Chronist in Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“

das Seelenleben des „Narren in Christo“ ohne Innenansicht. Was in

der Hauptperson vorgeht, können wir nur aus den äußeren Symptomen

erschließen. Das ganze Verhältnis von Einfalt und Erleuchtung, von

wunderwirkender Gotterfülltheit und allmählich wachsendem Wahn

bleibt als unenträtseltes Problem weit wirkungsvoller als in der Aufhellung

einer unbarmherzigen psychologischen Analyse.

|#f0180 : 156|



Auf der anderen Seite konnte ein entzückendes Motiv wie die

versteckte Liebeserklärung in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“

durch Umsetzung in Ich-Erzählung gründlich verdorben werden. In

der ersten Fassung war erzählt, wie Dortchen Schönfund, um Heinrich

Lee ihre Neigung unauffällig zu verraten, auf 20 oder 30 Papierstreifchen

dasselbe Gedicht schreibt und Bonbons darein wickelt. Als

er beim Abschied eines davon zu ziehen hat, liest er die ermutigenden

Verse, aber da er nicht ahnt, daß alle Süßigkeiten mit demselben

Spruch umwickelt sind, begreift er nicht sein Glückslos und bleibt

beim Abschiednehmen blöde. Die Umarbeitung ist durch Rücksichtnahme

auf die Ich-Erzählung zur Änderung genötigt; Heinrich kann

nichts anderes berichten, als was er selbst gesehen hat; deshalb muß

er vorher das Körbchen finden, die Zettel neugierig öffnen, sich überzeugen,

daß auf allen derselbe Vers steht, also den Zusammenhang

durchschauen, und daß er nun nicht die sturmreife Festung nimmt,

ist psychologisch unbegreiflich.



Vom Standort und Gesichtskreis des Erzählers hängt der pragmatische

oder psychologische Charakter des Berichtes ab. Die freiwillige

Selbstbeschränkung der Ichform kann unausgesprochene Seelenvorgänge

nur als eigene Erlebnisse vermitteln; bei anderen Personen

muß sie zu technischen Notbehelfen wie aufgefundenen Tagebuchblättern,

Briefen, belauschten Monologen oder zu Märchenwundern

wie Tarnkappe, unsichtbar machendem Vogelnest (Grimmelshausen)

oder Gedankenperspektiv (Hoffmanns „Meister Floh“) greifen oder

dem Erzähler eine übernatürliche Gabe seelischer Einblicke verleihen,

wie sie etwa dem Teufel bei Lesage und dem Memoiren schreibenden

Satan bei Wilhelm Hauff gegeben ist. Wiederum kann die auf Selbstbeobachtung

angewiesene Ichform sich zur subtilsten Zerfaserung

aller fliegenden Gedanken und unterbewußten Regungen verfeinern,

namentlich wenn sie von Brief und Tagebuch zum Gedankenmonolog

übergeht. Schließlich kann unter Ausschaltung des epischen Erzählers

eine ganze Handlung aus dem Blickpunkt des Hauptbeteiligten vergegenwärtigt

und das in Wirklichkeit Unausgesprochene als psychoanalytische

Aussprache zu Protokoll gebracht werden (Schnitzlers

„Fräulein Else“). In der Vergegenwärtigung liegen Übergänge zum

Dramatischen, wie sie auch in der unmittelbaren Mitteilung eines

Dialogs sich einstellen. Selbst wenn Rollennamen vorangedruckt

sind, bleibt es ein epischer Dialog; aber er bedeutet einen Wechsel

des Standortes und einen Bruch der Berichtform durch Ausschaltung

des Erzählers.



Eduard Spranger spricht von „psychologischem Perspektivismus“ |#f0181 : 157|



im Roman und sieht schon bei Dostojewski die Gesetze der Perspektive

gelegentlich durchbrochen; denn entweder sollten sie auf ein

überlegenes Mitwissen vom Innensichtsstandpunkt aus oder auf eine

begrenzte Beteiligung des auf Außenansicht beschränkten Mitspielers

eingestellt sein. Der willkürliche Wechsel des Standortes kann aber

nur im Klassischen als eine gewisse Stilunreinheit empfunden werden;

schon in der objektiven Epik findet sich früh jener Übergang aus

der Erzählung in die Wiedergabe von Gedachtem, die man als „erlebte

Rede“ zu bezeichnen pflegt. Schließlich aber kann eine chaotische

Mischung von Erzählung, Ichdarstellung, Dialog und Gedankenmonolog

geradezu zum weltanschauungsbestimmten Stilprinzip expressionistischer

und psychoanalytischer Zerrüttung werden, wie es

in dem „Ulysses“ von James Joyce und seinen Nachahmungen

geschehen ist.



Bei Joyce nimmt die Zeiterstreckung der Handlung über einen

einzigen Tag ungefähr soviel Raum ein, wie der Leser braucht, um

mitzukommen. Mit derartigem naturalistischem Gleichschritt der Zeit

hat schon vorher Albrecht Schaeffer im Anfang seines „Helianth“

experimentiert, so wie er im „Joseph Montfort“ in bezug auf den

wechselnden Blickpunkt verschiedener Erzähler interessante Versuche

gemacht hat. Die Einerleiheit der Zeit, wie sie fälschlich von pedantischen

Regelgebern für das Theaterstück verlangt worden war, ist

für die epische Technik mehr als belanglos, ja geradezu widersinnig.

In der erzählenden Form ist nicht allein die strenge Zeitfolge aufgehoben,

sondern das Zeitmaß ist noch weit mehr als im Drama perspektivisch.

Es trifft zu, was in dem an technischen Reflexionen über

dieses Thema reichen „Zauberberg“ im Anfang des fünften Kapitels

gesagt ist, nämlich, daß nach den Gesetzen des Erzählens und Zuhörens

uns die Zeit genau so lang oder kurz wird und für unser

Erlebnis sich genau so breit macht oder zusammenschrumpft wie für

den Helden der Geschichte. Nur gehört es zur Technik der Erzählung,

daß dem Leser trotz der epischen Breite die Zeit überhaupt

nicht lang werden dürfte.



. Vierte Stufe: Menschengestaltung

(Psychologie ─ Selbstdarstellung ─ Charaktere)


a) Psychologie und Selbstdarstellung



Die dichterische Darstellung seelischer Vorgänge ist zu trennen

von der Psychologie des dichterischen Schaffens. Dichterische Psychologie

ist etwas anderes als Psychologie des Dichters. Der Dichter |#f0182 : 158|



ist einmal Subjekt, das andere Mal Objekt; seine Seele ist hier in

das erfundene Leben einer poetischen Welt projiziert; dort bildet sie

selbst den realen Schauplatz der Vorgänge.



Der dichterische Zeugungsakt entzieht sich der Öffentlichkeit und

bleibt, trotz der vielen Erklärungen von Dichtern, die durch Selbstbeobachtung

über den schöpferischen Vorgang ins klare kommen

wollten, letzten Endes rätselhaft und unausgesprochenes Geheimnis.

Die Literaturwissenschaft sucht sich in diesem Dunkel zurechtzufinden,

wenn sie ein einzelnes dichterisches Kunstwerk aus seinem Werden

verstehen will, und die Poetik sucht aus einer psychologischen

Gesetzmäßigkeit des Werdens, die sie zu ermitteln bemüht ist, zu

allgemeinen Erkenntnissen über das Wesen der Dichtung zu gelangen.

Davon soll späterhin noch gehandelt werden (2. Buch, 3. Hauptteil).



Anders ist es mit dem psychologischen Gehalt eines Werkes; der

liegt offen zutage und bietet sich der Beurteilung dar; er stellt der

Kritik wie der Analyse eine wesentliche Aufgabe in der Prüfung der

Folgerichtigkeit, Gültigkeit und Wahrheit aller in der Dichtung berichteten

oder dargestellten seelischen Vorgänge und in der Erkenntnis

der Bedeutung, die die Seelendarstellung im Organismus des

Werkes einnimmt. Um was es sich bei dieser Frage handelt, ist nicht

nur die Wahrscheinlichkeit, sondern letzten Endes die innere

Wahrheit.



Die Glaubwürdigkeit kann die Achillesferse der dichterischen

Wirkung bilden, aber die Dichtungsgattungen werden in verschiedener

Weise von dieser Verantwortung betroffen. Der Lyriker braucht sich,

wenn das, was er als seine Empfindung dargestellt hat, wirklich echt

ist, um die Glaubwürdigkeit nicht zu kümmern; bei ihm kommt es

auf die stimmungsmäßig zwingende Eindruckskraft der Darstellung

an. Der Dramatiker kann zum Teil darauf vertrauen, daß die schauspielerische

Nachschöpfung seinen Gestalten mit der körperlichen

Verwirklichung Glaubhaftigkeit erzwingt. Anders liegt es bei der

Erzählungskunst. Wo alles von der unmittelbaren Glaubhaftigkeit

abhängt, ist die psychologische Wahrscheinlichkeit und folgerichtige

Motivierung eines der wesentlichen technischen Probleme. Deshalb

mußte die vorausgehende Analyse der Erzählungstechnik bereits auf

die Psychologie hinführen.



Die Psychologie erstreckt ihren Bereich aber auch über die beiden

folgenden Begriffe; sie steht mit Selbstdarstellung und Charakteristik

in engstem Zusammenhang. Die drei Wege der Menschengestaltung,

die auf dieser Stufe nahe aneinander gerückt sind, entsprechen

einigermaßen dem Verhältnis der drei Dichtungsgattungen.

|#f0183 : 159|



Selbstdarstellung ist vornehmlich Sache der Lyrik. Die reine Lyrik

kennt überhaupt keine andere Art von Psychologie und kaum eine

andere Art von Charakterbild als die Selbstdarstellung des Dichters.

Wenn das „lyrische Ich“ nur objektive Form eines individuellen

empirischen Ich ist, so spiegelt es dessen Seelenlage. Auch das lyrische

„Du“ kann Selbstanrede sein, und niemals ist es ein fremdes Nicht-Ich.

Erinnerungsbilder und Wunschträume bleiben ichgebunden, und sogar

das Bild der Geliebten ist ein Stück Selbstdarstellung, auch wenn das

Schönheitsideal in sich wandelnden Formen und Formeln vom Zeitgeschmack

abhängig ist. Über die Selbstdarstellung scheint die Lyrik

nur in zwei Extremen hinauszukommen: in der Ich-Enthobenheit

selbstvergessener, hingegebener Ekstasis und in der unpersönlichen

Naturbeschreibung, die kaum mehr dichterisch ist.



Im Drama wiederum ist objektive Charakterdarstellung die Hauptsache;

alle Handlung, alle Rede, jedes Ziel wird nur vermittels der

handelnden Personen zur Darstellung gebracht. Während der Epiker

seine Charaktere verdolmetschen kann, sind die Charaktere die

alleinigen Dolmetscher des Dramatikers. Dabei ist auch Selbstdarstellung

im Spiele; mit beseelter Belebung ihrer Handlungsweise gibt der

Dichter seinen Gestalten etwas von der eigenen Seele mit; die Rollenverteilung

bedeutet mehr oder weniger eine Spaltung des dichterischen

Ich. In Goethes Dramen z. B. sind die Paare Götz ─ Weislingen,

Clavigo ─ Carlos, Egmont ─ Oranien, Tasso ─ Antonio, ja sogar

Faust ─ Mephistopheles die Personifikationen verschiedener Eigenschaften,

Stimmungen und Erlebnisse ihres Dichters; nur die psychologische

Führung ihrer Handlung und Rede vermag diese geteilten

Selbstdarstellungen in ihrer Gegensätzlichkeit auseinander zu halten,

während sie sonst, wie das leicht im lyrischen Drama geschehen kann,

in einer Grundstimmung verschwimmen würden. Es gibt aber auch

Dramen, die der Form nach nicht lyrisch sind und in denen doch

eine ungeteilte Selbstdarstellung stattfindet, wie etwa in den Seelenexhibitionen

des Expressionismus, in Strindbergs „Nach Damaskus“,

Wedekinds „Marquis von Keith“ und „Hidalla“, Sorges „Bettler“,

Unruhs „Vor der Entscheidung“ und „Phäa“. Da ist der Charakter

des Dichters in der Hauptperson zu erkennen, auch wenn er nicht,

wie Grabbe am Schluß von „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“,

sich unter eigenem Namen auf die Bühne stellt.



In der Erzählungskunst kann man drei Formen der Selbstdarstellung

unterscheiden; eine mehr lyrische, wenn in der Ichform eigene Erlebnisse,

Stimmungen und Meinungen dargestellt werden, eine mehr

dramatische, wenn in einer Nebenperson der Charakter des Dichters |#f0184 : 160|



sich objektiviert, und eine rein epische, wenn der Dichter sich mit

dem Erzähler identifiziert. Die erste findet man schon in Ulrich

v. Lichtensteins „Frauendienst“, in Grimmelshausens „Simplizissimus“,

in Goethes „Werther“, Hoffmanns „Kapellmeister Kreisler“ und in

vielen späteren Bildungsromanen; die zweite war namentlich im Zeitroman

des jungen Deutschlands an der Tagesordnung, wo die Gestalt

des Literaten oft zur Selbstaussprache und Gesellschaftskritik des

Dichters benutzt wurde; von dem grauen Mann in Immermanns

„Münchhausen“ über den Pfarrer von Gytiswyl bei Gotthelf bis zu

Hermann Stehrs Faber im „Heiligenhof“ kann man die pseudonyme

Einmischung des Dichters unter seine Gestalten verfolgen; oft genügt

es auch, wenn er einem Raisonneur seine eigene Lebensauffassung in

den Mund legt, wie es Anatole France mit seinem Abbé Coignard,

Fontane mit seinem Dubslav v. Stechlin tat. Die dritte Art dagegen,

bei der der Erzähler mit Charakterzügen des Dichters sich in

menschlicher Beschränkung darstellt, ist namentlich im humoristischen

Roman zu finden.



Dadurch, daß dem epischen Erzähler die Beschreibung und Schilderung

seelischer Vorgänge verantwortlich zufällt, wird er praktisch

in die Rolle des Psychologen versetzt und mit seinen Aufgaben

belastet. Der Dichter, soweit er sich mit dem Erzähler identifiziert,

kommt mit seiner Psychologie zur Selbstdarstellung. Denn es ist

seine eigene Lebenserfahrung, Seelenkenntnis und Menschenbeobachtung,

aus der heraus er den Zusammenhang zwischen den Charakteren

und ihrer Handlungsweise allein erklären kann. Was er als Dichter

von innen heraus gestaltet hat, muß er als Erzähler wie ein außenstehender

Beobachter verständlich machen; er ist also in doppelter

Funktion Psychologe sowohl als Charakterschöpfer wie als sich selbst

darstellender Erklärer; ja, er kann es sogar, wenn er sich darum

kümmert, noch in einer dritten Funktion sein, nämlich in der Berechnung

des Eindrucks auf die Leserschaft, in der psychologischen

Einschätzung des Publikums.



Psychologie und Charakterologie sind zwei Wissenschaftsgebiete,

die in engem gegenständlichen Zusammenhang stehen; zwischen ihnen

ist hier die nur dem Reich der Kunst angehörige Selbstdarstellung

eingefügt. Sie überliefert den Wissenschaften sowohl psychologisches

als charakterologisches Material, das als ein aus dem Leben geschöpfter

Erfahrungsstoff um so besser zu brauchen ist, als die künstlerische

Gestaltung bereits die wesentlichen Züge herausgearbeitet und organisch

zusammengeschlossen hat. Es kann eine Fehlerquelle sein,

wenn die geisteswissenschaftliche Psychologie sich auf die Schöpfungen |#f0185 : 161|



subjektiver Menschenkenntnis beruft; sie wird es auch vorwiegend

nur als Bestätigung und Ausbau ihrer Beobachtungen und Systeme

auffassen dürfen; in diesem Sinne ist die Lebenswahrheit der von

Dostojewskis psychologischem Tiefblick mit unbarmherziger pathographischer

Konsequenz gezeichneten Seelenvorgänge schon oft von

der Wissenschaft als eine Reihe vorbildlicher Präparate entgegengenommen

worden. Ebenso kann die charakterologische Wissenschaft

die Gestalten Shakespeares als Demonstrationsmaterial nutzen, weil

ihre überlebensgroße Seinsform in der Projektion mehr überzeugende

Daseinskraft besitzt als zersplitterte kleinliche Wirklichkeiten. Es

ist nicht anders als beim künstlerischen Rollenporträt eines Schauspielers,

das besser als jede Photographie das Charakteristische seiner

Haltung und seines Ausdrucks festhält, weil nicht ein einzelner

Moment, sondern das Ganze der Leistung erlebnismäßig aufgefaßt ist.



Die Arbeitsweise der dichterischen Psychologie und Charakterologie

ist eine völlig andere als die der wissenschaftlichen. Gewiß besteht

eine Wechselwirkung, und die wissenschaftliche Seelenforschung hat

die dichterische Seelengestaltung vielfach befruchtet, indem sie bestimmte

Erscheinungsweisen seelischer Vorgänge in das Licht ihrer

Lehre stellte. So kann Parzivals Weg durch den Zweifel und der

betrachtende Eingang von Wolframs Dichtung mit mittelalterlichen

Seelenauffassungen in Zusammenhang gebracht werden. So hat man

an Büchern wie Brights „Treatise of Melancholy“ (1536) zeigen können,

daß die Dramen Shakespeares die psychologischen Anschauungen

seiner Zeit widerspiegeln. So hat Gustav Kettner wahrscheinlich

gemacht, daß die erst 1765 ans Licht getretenen „Nouveaux essais“

von Leibniz durch Hinweis auf unbewußtes Seelenleben die Psychologie

von Lessings „Emilia Galotti“ beeinflußten. Wissenschaft und

Dichtung gingen oftmals Hand in Hand; so war Karl Philipp Moritz

zugleich Herausgeber eines Magazins für Erfahrungsseelenkunde und

Verfasser der Selbstdarstellung „Anton Reiser“, der er den Untertitel

„psychologischer Roman“ gab. In ähnlicher Weise ist eine Parallele

zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Interesse in der

Psychologie der deutschen Romantiker zu beobachten bei Friedrich

von Hardenberg, bei Justinus Kerner, namentlich bei Gotthilf Heinrich

Schubert, dessen Vorlesungen über „Nachtseiten der Naturwissenschaft“

auf die somnambulen Motive der Heinrich v. Kleist und

E. Th. A. Hoffmann einwirkten. Wie die romantische Psychologie

im Traumleben Offenbarungen einer höheren Wirklichkeit suchte,

so haben Traummotive nun die Handlungsführung des romantischen

Märchens geleitet. Bald darnach aber beginnt in Frankreich mit |#f0186 : 162|



Stendhal, Balzac und Flaubert jene desillusionierende, zerfleischende

psychologische Selbstzerfaserung, die Lugowski jüngst als „Antimärchenroman“

charakterisiert hat und zu der man vielleicht die

Anfänge der französischen Experimentalpsychologie (Massias, Bautain)

in Parallele setzen darf. Der roman expérimental Zolas führte

zu einer scheinbaren Nachahmung wissenschaftlicher Methoden; die

Milieulehre tat das ihrige, um die willenlose Abhängigkeit des Seelenlebens

von den äußeren Gegebenheiten zum Dogma werden zu lassen.



Hatte in Deutschland schon Otto Ludwig im Gegensatz zur spekulativen

Philosophie eine exakte psychologisierende Richtung eingeschlagen,

die seinen Erzählungen besser zugute kam als seinen Dramen,

so hat später Theodor Fontane mehr und mehr sich von der äußeren

Gesellschaftsschilderung zur Seelendarstellung gewendet; unter seinen

Händen verfeinerten sich deren Mittel zusehends, so daß der Verfasser

von „Effi Briest“ rühmen durfte, sie sei „fast wie mit dem

Psychographen geschrieben“. Alle rational faßbaren Seelenvorgänge

sind durch zarte Andeutungen in Wort und Gebärde sichtbar gemacht.

Im neuen Jahrhundert aber steigt die wissenschaftliche Psychologie

wieder in die Bereiche des Unbewußten und Unterbewußten hinab;

das irrationale Traumleben wird, wenn auch in anderer Weise als

bei den Romantikern, wieder zur aufschlußgebenden Quelle innerlichster

Erlebnisoffenbarung, und die dichterische Seelenführung folgt

aufs neue traumhaften Sprüngen und Wandlungen; psychoanalytische

und individual-psychologische Richtungen der Wissenschaft haben

ihre unverkennbaren Spuren in der Erzählungskunst aller Länder

(Kafka, Hesse, Lawrence, Pirandello) hinterlassen. Man kann also

sagen, daß die Analyse, wenn sie sich der Psychologie eines dichterischen

Werkes zuwendet, durch den Blick auf den Stand der gleichzeitigen

wissenschaftlichen Seelenauffassung gefördert werden kann,

gleichviel ob der Verfasser einem ausgesprochenen Studium der wissenschaftlichen

Psychologie oblag oder nicht.



b) Charaktere und Vorbilder



Die charakterologischen Systeme sind erst später zu wissenschaftlicher

Ausbildung gelangt und haben selbst in der neueren Zeit

weniger Bedeutung für die Dichtung gewonnen. Sie bieten ihr kaum

eine Stütze; denn die visionäre Konzeption eines geschlossenen

Charakters kommt als Einheit von sprechender Physiognomie, Bewegung,

Redeweise, Leidenschaft und Denkart viel schneller zustande

als die sorgfältig abgepaßte Verkettung psychologischer Motive.

|#f0187 : 163|



Der Charakter kann schon durch Prägung der Fabel seine Bestimmung

erfahren haben und durch eine ihm überlieferungsgemäß zugeschriebene

Handlungsweise bedingt sein. Er ist, ästhetisch betrachtet,

Problemsubjekt im Sinne einer Einfügung in die Ganzheit des

Kunstwerkes, wie es Clemens Lugowski in seiner Lehre vom mythischen

Analogon gezeigt hat.



Der Charakter kann aber auch, psychologisch betrachtet, seine

Grundlage haben in Urbildern, die in der Seele des Dichters schlummern

wie im Reich der Mütter. In der Verschmelzung dieser Urschicht,

die eine Gestaltungsgrundlage bildet, mit den im Stofferlebnis

bedingten Funktionen der Fabelbildung liegt sogar möglicherweise

ein entscheidender Moment dichterischer Zeugung. So hat der junge

Schiller, als er den Stoff des „Don Carlos“ aus der Novelle von

St. Réal übernahm, gleichwohl an seinen Freund Reinwald geschrieben,

er sei zu glauben geneigt, „daß in unserer Seele alle Karaktere nach

ihren Urstoffen schlafen, und durch Wirklichkeit und Natur oder

künstliche Täuschung ein dauerndes oder nur illusorisch- und augenblickliches

Dasein gewinnen. Alle Geburten unserer Phantasie wären

also zuletzt Wir selbst“. (14. April 1783.) Dieses Bekenntnis zur

Selbstdarstellung hat im Alter sogar der Erfahrungs- und Erlebnisdichter

Goethe sich zu eigen gemacht, denn auch er war davon überzeugt,

daß er Gestalten und Stimmungen seiner Dichtung durch Antizipation

dem Leben vorweggenommen habe, so daß er den Geschöpfen

seiner Einbildungskraft nachträglich in der Wirklichkeit begegnen

konnte.



So wenig hat Goethe selbst die törichte Modelltheorie gelten lassen,

der er in „Dichtung und Wahrheit“ scheinbar Vorschub leistete und

die gerade auf seine Gestalten so vielfach angewendet wurde. Hat

man es doch für verdienstvoll und wichtig angesehen, für die lieblichsten

Phantasiegeschöpfe wie Gretchen und Mignon bestimmte reale

Vorbilder aufzuspüren, an die die dichterische Gestaltung gebunden

sein sollte. Was aber hat das Bürgermädchen aus niederer Gesellschaft,

dem die Selbstbiographie den Namen Gretchen gab, mit der

Geliebten Fausts zu tun, da der Knabe damals gewiß nicht sich als

Faust fühlte? Anders liegt es, wenn in einem Werk Beziehungen auf

bestimmte Persönlichkeiten kenntlich gemacht werden, sei es in satirischer

Richtung (Pater Brey-Leuchsenring) oder auch als ergriffene

Huldigung (Euphorion-Lord Byron). Solche mit Bewußtsein hergestellte

Zusammenhänge sind für die Analyse der Dichtung von

Wichtigkeit; nur fallen sie weniger unter Charaktere und Vorbilder,

als unter den schon früher besprochenen Gesichtspunkt der Absicht.

|#f0188 : 164|



Daneben kommen die halb bewußten, halb unbewußten Vorbilder

in Betracht. Es liegt auf der Hand, daß realistische Menschendarstellung

auf einen Schatz eigener Lebenserfahrung und auf Beobachtung

der umgebenden Welt angewiesen ist. Der Dichter müßte blind und

taub sein, dem nicht die Eindrücke der Menschen, denen er begegnete,

sich einprägten. Wie das Skizzenbuch des Zeichners, überliefern Auge

und Ohr dem Gedächtnis eine Fülle charakteristischer Züge, Bewegungen

und Äußerungen, die sich zu einem eigenen physiognomischen

System verdichten. Danach werden Mienen, Haltung, Kleidung,

Gang, Ausdrucksbewegungen und Sprache charakterisiert. Ist es schon

für den unproduktiven Beobachter des Lebens ein angeregtes Spiel,

sich über Schicksale und Charaktere unbekannter Personen Gedanken

zu machen im Blick auf die äußere Erscheinung, in der man den

Schlüssel ihres Wesens sucht, so wird dichterische Einbildungskraft

erst recht durch jede Wahrnehmung auffallender Eigentümlichkeiten

angeregt. Hoffmannsche Erzählungen wie „Das öde Haus“ und „Des

Vetters Eckfenster“ geben Beispiele dafür, wie eine ungehemmte

Phantastik durch problematische Wirklichkeitsbeobachtung in

Schwung gesetzt wird. Ein anderer Fall ist der des Komponisten

Schreker, der auf den Text seiner Oper „Irrelohe“ gekommen sein

will, als der Eisenbahnzug an einer Station dieses Namens hielt.



Auch die Namengebung gehört zu den bedeutsamen Charakterisierungsmitteln,

für die gegebene Anhaltspunkte benutzt werden. Die

althergebrachten Schlüsselromane wählen entweder allegorische Bezeichnungen,

die der gemeinten Person und ihrer Stellung entsprechen,

oder sie beschränken sich auf mehr oder weniger durchsichtige Entstellung

echter Namen, sei es in Anagrammen oder Analogiebildung.

An deren Stelle trat im 18. Jahrhundert die scheinbare Diskretion der

Chiffern (Gräfin v. G., Prinz von **); im bürgerlichen Lustspiel kamen

die redenden Namen als Etikette des Charakters auf (Herr Ehrlich,

Frau Eigenlieb); der Sturm und Drang liebte die Verherrlichung von

Freunden als Nebenpersonen unter ihren wahren Namen (Goethes

Lerse, Schillers Pastor Moser), während Goethes klassischer Stil sich

mit den Vornamen begnügte („Eduard ─ so nennen wir einen reichen

Baron im besten Mannesalter“). Der humoristische Roman macht

sich Namen von komischer Wirkung, die es in der Wirklichkeit

wohl geben mochte, zunutze (Siebenkäs, Kuhschnappel), während der

Realismus und Naturalismus in Erzählung und Drama zur unaufdringlichen

Charakteristik durch symbolische Namen gelangte, bei denen

das Bezeichnende weniger im Sinn als in der Klangwirkung liegt.

Ein besonderer Trick des Realismus, wie ihn etwa Fontane handhabte, |#f0189 : 165|



ist die Vermischung solcher aus Landkarte, Adreßbuch oder Zeitung

entlehnter Namen mit bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen

Lebens, die im Hintergrund auftreten oder gesprächsweise erwähnt

werden (z. B. Bismarck in „Effi Briest“ oder Hofprediger Frommel

im „Stechlin“). So wird Namengebung zu einem charakteristischen

Bestandteil des persönlichen Stils.



Alle realistischen Menschendarsteller verdanken den Farbenreichtum

ihrer Palette der Benutzung von Wirklichkeitszügen. Selma

Lagerlöf hat erklärt, daß alle Gestalten der Gösta-Berlings-Saga dem

Leben entlehnt seien. Balzac, Flaubert, Zola sind dafür bekannte Beispiele.

Meist ist Vorsorge getroffen, daß modellartige Beziehungen

nicht mehr erkennbar sind. So traf z. B. Henry Beyle (Stendhal) in

seinem Testament folgende Verfügung über den hinterlassenen Roman

„Die Orange von Malta“: „Ich bin dem Brauch der Maler, den ich

spaßhaft finde, gefolgt und habe nach Modellen gearbeitet. Man wird

alle allzu deutlichen Anspielungen, die als Satire wirken würden,

ausmerzen müssen.“



Wo das Werk gar nicht mehr erkennen läßt, daß gewisse Wirklichkeitszüge

einem erst in der Bildung begriffenen Charakter beigemischt

wurden, bleiben die Ursprünge belanglos für die Analyse, es sei denn,

daß durch die Wirklichkeitsanlehnung etwas Widerspruchsvolles in

die Charakteristik gekommen wäre. Selbst wenn Jean Paul sich für

den noch nicht feststehenden Charakter des Walt in den „Flegeljahren“

Züge von Herder, Buri, Wieland und Tieck notierte, so kann

davon höchstens Aufschluß über seine persönlichen Lebensbeziehungen

zu den Genannten gewonnen werden; für das Verständnis des

Werkes ist nichts daraus zu erschließen, denn nachdem sich endlich

der „Fokus“ für alle Einzelheiten fand, kann sich als Ergebnis des

Nachspürens schließlich nichts anderes herausstellen, als daß das

eigentliche Modell für die Zwillingsbrüder Walt und Vult das in zwei

Hälften gespaltene Ich des Dichters gewesen ist. Auch bei einem

Erzähler, der so stark von Vorbildern des Lebens abhängig war, wie

Th. Fontane, gilt schließlich das eigene Bekenntnis:



Was wir in Welt und Menschen lesen,

Ist nur der eigne Widerschein.



Und wenn es nun bei Goethe so gewesen wäre, daß eines der verschiedenen

Harfenmädchen, die ihm in Literatur und Leben begegnet

sind, solchen Eindruck auf ihn machte, daß er die äußere Erscheinung

Mignons durch sie bestimmen ließ, so wäre das eben nur ein Beitrag

zur Maske und Garderobe der Gestalt, nicht der Anstoß zu ihrer |#f0190 : 166|



Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons

inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der

italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre

ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist

sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt.

Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm

Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern

Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt,

doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner

Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals

einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben

rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als

Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in

Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung

zu betrachten.



Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare

erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit

des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei

Flauberts „Versuchung des heiligen Antonius“, lassen sich in der Tat

alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und

Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der

Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis

imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich

in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter

und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in

der Judith des „Grünen Heinrich“ und in der Züs Bünzlin der „Gerechten

Kammacher“ sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex

lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang

aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit

dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie

auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber

für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie

kein Raum übrig.



Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen

trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen

durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die

nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern

und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer

Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer

Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht

z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein |#f0191 : 167|



haftenden Kindheitserinnerungen in Brentanos „Godwi“ hervor, und

bei Jeremias Gotthelf wird, wie Muschg gezeigt hat, das Weibliche

immer in das Ursprunghafte, Mütterlich-Ungeheure erdhafter Fruchtbarkeit

zurückgeführt. Den Vatergeist, der allerdings nicht nur auf

die Erinnerung an den eigenen Vater zurückgeht, sondern als Inbegriff

ewiger Ordnungen im Volk wurzelt, hat Hermann Pongs,

indem er Schillers ‚Urbilder“ untersuchte, als in des Dichters Seele

angelegte Mitgift, als Gebundenheit an Mitwelt und Überwelt, als

tragenden Existenzgrund sittlicher Entscheidung in allen Werken und

Lebensäußerungen nachzuweisen unternommen. Völker, Stämme und

Familien unterscheiden sich durch eine mehr patriarchalische oder

mehr matriarchalische Haltung.



Gerade bei Schiller läßt sich nun aber zeigen, wie er davon unabhängig

sich seine eigene Charakterologie zurechtgelegt hat. Nachdem

die Abhandlung über „Naive und sentimentale Dichtung“ den Typus

des Realisten, der sich durch äußere Abhängigkeiten bestimmen läßt,

von dem des Idealisten, der das Gesetz seines Handelns in sich trägt,

getrennt hatte, fand sich im Realisten der Schlüssel für das historische

Charakterbild des Wallenstein, und in der Gestalt des Max Piccolomini

wurde ihm nun der innere Gegenspieler gegenübergestellt. In solcher

Seelengestaltung ist Schiller wirklich der „Psychologe des Tatmenschen“

geworden, als welchen ihn Max Kommerell beleuchtet hat.

Aber oft genug entwickelte er das Gegenteil, und seine Psychologie

war eigentlich die des Kontrastes. Die Spannungen waren für ihn

aus früher Selbstspaltung, die den Urgrund dramatischer Auseinandersetzung

bildet, hervorgegangen. Schon die beiden feindlichen Brüder

Franz und Karl Moor entsprechen den Gegensätzen von Materialismus

und Idealismus, wie sie der Karlsschüler in der Zeit seines Medizinstudiums

in sich durchkämpfen mußte. In einer kleinen dialogischen

Erzählung „Der Spaziergang unter den Linden“ sind sie als ungelöster

Gegensatz einander gegenübergestellt. Für die Weiterführung hat es

gewiß nicht an Vorbildern gefehlt, und beim Franz Moor ist die

Anlehnung an Shakespearesche Bösewichter unverkennbar sowohl in

den Charakterzügen als in den technischen Mitteln der Entfaltung.



Von Shakespeare haben zwei große deutsche Dramatiker, Grillparzer

und Hebbel, fast übereinstimmend gesagt, er müsse in der

Anlage alle Triebe zu verbrecherischen Handlungen in sich getragen

haben, und die Darstellung von Mördern sei seine rettende Abwehr

gewesen, daß er nicht selbst zum Mörder werden mußte. Ähnlich

sagte einmal Flaubert von sich selbst: „Ach was für Laster würde

ich haben, wenn ich nicht schriebe!“

|#f0192 : 168|



Sicher hätte Shakespeare die Bosheit nicht in so menschlicher

Weise verständlich machen können, wenn nicht Charaktere wie

Macbeth oder Richard III. für seine schauspielerische Natur eine

gewisse Selbstdarstellung bedeutet hätten. Die entwicklungsmäßige

Technik ermöglichte ihm, das Werden eines Charakters bis zu seinen

Taten hin sich psychologisch entfalten zu lassen, ohne dem starren

Schwarz-Weiß-Schematismus von Bös und Gut, der im Barockdrama

Regel wurde, zu folgen. Vor solchen Extremen schematischer Charakteristik

hatte schon Aristoteles gewarnt und die Mittelcharaktere,

in denen verschiedenartige Regungen verteilt seien, als die dramatisch

wirksamen empfohlen.



Schiller konnte nun in weiterer Entwicklung zu der Einsicht gelangen,

daß auch Shakespeare und Aristoteles sich in diesem Punkte

vertragen hätten, da auch die Shakespeareschen Bösewichter, selbst

ein Richard III., tragische Masken von menschlicher Allgemeingültigkeit

und symbolischer Repräsentation darstellten.



Im Lustspiel bedeutet die Maske etwas anderes; sie bleibt, wörtlich

genommen, der ursprüngliche Träger aller komischen Wirkung. Im

Puppen- und Schattenspiel, in den Teufelslarven der mittelalterlichen

Passionen, in den Vermummungen der Fastnachtsspiele wie in den

komischen Charaktertypen der italienischen Stegreifkomödie leben

Gestalten alter Tier- und Dämonentänze weiter und verbinden sich

mit den Nachwirkungen des antiken und orientalischen Mimus als

grotesk nachahmendes Ausleben aller animalischen und materiellen

Lebenstriebe. Mit der unverwüstlichen Lebenskraft des Unkrauts

haben Clown, Harlekin und Hanswurst jahrhundertelang auch die

Stimmungseinheit der Tragödie wie wuchernde Schlinggewächse durchsetzt,

und im Lustspiel hat sich die „lustige Person“ gegen alle Austreibungsversuche

auf dem Theater behauptet, gestützt durch den

Spieltrieb, durch die vox populi, durch altes Brauchtum und nicht

selten auch durch literarische Autoritäten, wie im 18. Jahrhundert

durch Justus Möser und Lessing. Die psychologische Menschwerdung

des komischen Charakters hat nach Plautus und Terenz, ja selbst

nach Shakespeare und Molière, die bestimmte tonangebende Charakterzüge

wie Trunksucht, Renommisterei und Feigheit, Geiz oder heuchlerische

Frömmelei personifizierten, immer wieder Rückschläge erlebt

auf dem Theater. Erst der Roman ist mit feineren Charakterisierungsmitteln

dem Drama vorangegangen. Immer aber ist der lächerliche

Charakter, der weniger zu handeln als zu leiden hat, auf eine

schmälere typologische Basis gestellt und auf geringere psychologische

Mannigfaltigkeit beschränkt. Die Analyse komischer Charaktere wird |#f0193 : 169|



deshalb weit mehr herkömmliche Überlieferung zu verzeichnen haben

als erlebte Selbstdarstellung, die viel mehr beim Humoristen sich

findet. Die komische Wirkung pflegt im übrigen nicht so sehr aus

der Anlage der Charaktere unmittelbar hervorzugehen als aus den

Situationen und Motiven der Handlung.



6. Fünfte Stufe: Verknüpfung

(Motive ─ Wirklichkeitsauffassung ─ Sprachform)


a) Motive



Das Motiv ist der meistgebrauchte und deshalb unklarste Begriff,

der bei der Analyse sich einstellt. Kaum ein anderes Wort wird so

unmotiviert zur Anwendung gebracht. Man hat es ein Schwammwort

genannt, weil es alles aufsaugt und alles mit ihm sich ausdrücken läßt.

Wenn in der Tat beinahe sämtliche Elemente des Gehaltes vom Stoff

aufwärts zur Idee und auf der andern Seite nicht wenige Eigentümlichkeiten

der Form als Motive bezeichnet worden sind, so hat zur

Verwirrung auch die verschiedenartige Verwendung des Begriffes in

anderen Künsten, in Architektur und Ornamentik, in Malerei und

Musik, das ihrige beigetragen.



Sucht man, wie es Paul Merker unternommen hat, Übereinstimmung

mit kunstgeschichtlichem und künstlerischem Gebrauch, so kann sich

eine Gleichsetzung von Motiv mit Bild und typischer Situation ergeben.

Eine solche wäre etwa das Bild der klagenden Frau, der ein

toter Mann im Schoß liegt. Das kann sowohl die Mutter Gottes mit

dem Sohn als Sigune mit Schionatulander oder sogar die Matrone

von Ephesus bedeuten. Merker möchte als Motiv die allgemeine

thematische Vorstellung auffassen, während der Stoff die besondere

Anwendungs- und Ausprägungsart darstelle. Aber wenn ein anonymer,

nicht personifizierter, nicht lokalisierter, nicht zeitlich fixierter Stoff,

dem die Problemstellung fehlt, gesucht wird, so käme nicht einmal

eine Fabel zustande. Die körperliche Situation allein, die dagegen

den bildenden Künstler zur Studie anregen kann, hat für das literarische

Kunstwerk keine Bedeutung, wenn ihr jede seelische Beziehung

abgeht. Und diese ist es, die wir als zugehörig zum literarischen

Motiv betrachten müssen.



Nach der Richtung des Seelischen hin können sich aber wieder

Mißverständnisse ergeben, wenn man in Übereinstimmung mit der

psychologischen Bedeutung das Motiv als Beweggrund und Antrieb

zum Dichten auffaßt (Fr. Th. Vischer, Jean Paul, Jos. Körner, |#f0194 : 170|



Obenauer). In dieser Anwendung gehört der Begriff zur Psychologie

des dichterischen Schaffens, während innerhalb der Dichtung das

Motiv höchstens für die handelnden Gestalten einen Antrieb bedeuten

kann.



Eine Reihe weiterer Erklärungen sieht im Motiv ein Bindeglied

zwischen Stoff und Idee. Diesen Platz nimmt es auch in unserem

Schema ein, nur daß sich der Spielraum einengt; man kann ihn auf

die Vermittlung zwischen Erlebnis und Problem einschränken oder

auf das Verhältnis, in dem Situation, Fabel und Charaktere zum Problem

stehen. Aus jedem dieser Elemente können Motive entspringen,

und ebenso können sie aus der Mitte hervorgehen, aus Stimmung und

Selbstdarstellung. Es gibt also vielerlei Motive, und trotzdem ist ihre

Zahl nicht unbegrenzt. Im Schaffen jedes Dichters kehren gewisse Urmotive

wieder, die auf tiefgehende Erlebnisse zurückführen. Gemäß

ihrer seelischen Zusammenhänge aber sind sie auf typische Möglichkeiten

eingeschränkt. Das hatte schon Dilthey angenommen, indem

er die Entwicklung dieser begrenzten Möglichkeiten als Feld der

vergleichenden Literaturgeschichte anerkennen wollte.



Felix Trojan hat in diesem Sinne für alte Heldenepik und Dramatik

organische Motivkomplexe (wie Kampf und Reise für den Unterschied

zwischen Ilias und Odyssee) aufgestellt. In moderner Prosa-

Epik könnte man ähnliche typische Verkettungen finden, etwa in

Olaf Duuns „Juwikingern“ die Wiederkehr von Leichenschmaus und

Hochzeitsfeier als Wendepunkten des Lebens und Treffpunkten der

bäuerlichen Gemeinschaft. Wenn solche typischen Ereignisse als

Motivkörper zu bezeichnen sind, so bedeuten die einzelnen Motive

nur Glieder dieser Zusammenhänge. Aber nicht aus der Addition

oder Multiplikation der Motive entsteht das Problem, sondern eher

aus der Subtraktion, indem eines als Hauptmotiv übrig bleibt und

zum besonderen Problemträger wird.



Eine viel weitergehende Teilung hat Robert Petsch vorgenommen,

indem er wieder vom Stoff als einer Motivzusammensetzung ausging.

Er faßte als Beispiel den Stoff der Faustsage ins Auge, in der folgende

Motive verknüpft sind: Aufstieg eines strebsamen Jünglings, Pakt

eines Menschen mit dem Teufel, Vermählung mit einem Gespenst,

Höllenfahrt eines Sünders. Jedes dieser Motive konnte auch in einen

anderen Sinnzusammenhang eingegliedert sein, wie die Rolle des

Teufelsvertrages bei Simon Magus, Theophilus, Militarius und der

Päpstin Johanna zeigt. Jedesmal ist die Motivierung des Teufelsbündnisses

eine andere; sie wechselt zwischen Ehrgeiz, Liebe, Armut, Wißbegier.

Demgemäß muß die Problemstellung eine verschiedene sein. |#f0195 : 171|



Petschs Stoffanalyse stellt nun sogenannte Kernstücke in den Mittelpunkt,

nämlich die eigentlichen Hauptmotive, die zu Problemträgern

werden, und scheidet von ihnen die Rahmenstücke, die den zeitlichen

Hintergrund und die örtliche Festlegung betreffen. Er fügt noch Füllmotive

hinzu, die als sinnliche Einzelheiten zur Verbindung der

Kern- und Rahmenstücke dienen; schließlich gelangt er noch zu

kleineren Elementen, die als wirklich unteilbare Atome anzusehen

sind. Er nennt sie Züge und gibt als Beispiel die bunte Schlange, die

sich vom Baum herabwindet.



Man sieht, daß Petsch von der Märchenforschung herkommt, die

in der Zergliederung und Registrierung der Motive das einzige Ordnungsprinzip

für eine unübersehbare internationale Überlieferung

finden kann. Die Unterscheidung zwischen Motiv und Zug führt

wieder darauf zurück, daß beim Motiv eine seelische Beziehung

walten muß entweder von Mensch zu Mensch (oder auch von Tier zu

Tier in der anthropomorphisierten Fabel) oder vom Menschen zu den

Dingen, zur Natur, zur Landschaft oder auch in entgegengesetzter

Richtung als Eindruck der Natur auf die Stimmung des Menschen.

Das, was als Zug bezeichnet wird, ist dagegen etwas Vereinzeltes; es

kann auch der Zug eines Charakters sein oder eine Leidenschaft wie

Haß oder Liebe; aber erst die Auswirkungen von Charakteren in einer

bestimmten Richtung der Leidenschaft wie der Haß zwischen Vater

und Sohn oder zwischen feindlichen Brüdern und die Liebe zur Stiefmutter

oder zum Idealbild einer fernen Traumerscheinung werden

dichterische Motive. Der Zug kann auch in der eigenartigen Ausschmückung

eines Gegenstandes, eines Dinges, eines Menschen bestehen,

und seelische Bedeutung kann er dann gewinnen, wenn er

als Symbol verwendet wird, wie es Helmut Rehder an der Bedeutung

der Hütte in Goethes Dichtung gezeigt hat. Wir werden aber sehen,

daß noch ein weiterer Teilbegriff des Motivs möglich ist, nämlich

das poetische Bild.



Wenn der aus Scherers Schule stammende Otto Brahm in seinem

Buch über die deutschen Ritterdramen des 18. Jahrhunderts charakteristische

Motive aufzählte, so machte er keinen Unterschied zwischen

technischer Handlungsvermittlung (Betrachtung von Vorgängen hinter

der Szene), Schauplatz (Kerker, Herberge), Charakteren (falscher

Freund), Nebenpersonen (Kinder, Einsiedler, Pilger), Situationen

(Liebe zwischen den Kindern feindlicher Geschlechter, Streit zweier

Männer um eine Frau) und dem, was wir wirklich Motiv nennen

wollen (Gefährdung eines geliebten Lebens, erdichtete Todesbotschaft,

Weiberraub, Entehrung, Gottesgericht, erzwungene Ehe). Auch |#f0196 : 172|



elementare Ereignisse wie Unwetter stellte Brahm unter die Motive

und holte aus seinem Zettelkasten elf Belege heraus ohne Berücksichtigung

des ganz verschiedenartigen Sinnes. Das Unwetter kann

Inhalt einer rhetorischen Metapher sein und nur in dieser Form zur

Handlung gehören, wie in „Othello“ V, 2:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Person Aristoteles. Anmerkung: Poetikentext exempl. gehört zum nachfolgenden Bsp. - alles zitiert nach Brahm (Werk?)



Nun dächt' ich, müßt' ein groß Verfinstern sein

An Sonn' und Mond und die erschreckte Erde

Sich auftun vor Entsetzen.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Person Aristoteles. Anmerkung: impl. Autor (zitiert nach Brahm): William Shakespeare: Othello


Das ist so wenig ein wirkliches Unwetter als Schnock der Schreiner

ein wirklicher Löwe ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme Person. Anmerkung: Nennung der Figur als Werk annotiert - Werk: Sommernachtstraum Es ist ein Gleichnis für Othellos Seelenzustand.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Explizites Zitat übersetzt. Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: rend="bezieht sich auf obiges Zitat"

Das Unwetter kann aber auch ein symbolischer Zug sein,

wenn es den seelischen Aufruhr zwar nicht verursacht, aber stimmunggebend

begleitet wie in „König Lear“ III, 2. Ein Motiv wird

es indessen erst, wenn es in das Räderwerk der Handlungsverknüpfung

eingreift wie in Schillers „Wilhelm Tell“, wo die Natur des

Schweizerlandes mehrfach zum Mitspieler wird. Es kann endlich eine

Schicksalsstimme bedeuten wie der „donnernde deus ex machina“

in der „Jungfrau von Orleans“. Das ist dann schon beinahe ein

Problem. Vom Motiv kann immer dann die Rede sein, wenn seelische

Vorgänge ausgelöst werden, z. B. wenn Werther und Lotte

nach dem Unwetter in dem einen Wort „Klopstock“ den Einklang

gegenseitigen empfindsamen Verstehens finden. Allerdings ist dies

wieder ein sekundäres Motiv, denn es ist ein Stimmungsreflex der

Ode „Frühlingsfeier“, in der das Gewitter als Stimme Jehovas das

eigentliche Hauptmotiv bildet.



Die anscheinend zentrale Stellung des Motivs ergibt sich aus seinen

vielfachen Bezügen. Wenn Bilder und Züge keimende Motive sein

können, so können die Motive wiederum Probleme in sich tragen und

zur Idee hinführen. Wir können also eine Stufenreihe aufstellen, die

vom Bild aufwärts führt. Wenn jemand als Esel bezeichnet wird oder

gar sich selbst so nennt, wie Sosias in Kleists „Amphitryon“, so ist

das bildlich gesprochen und hat nichts mit Motiv zu tun, sofern es

nicht als Beleidigung weitere Folgen nach sich zieht. Als ein Zug ist

dagegen der von Hermann Reich im antiken Mimus nachgewiesene

Mann mit dem Eselskopf aufzufassen; zum Motiv wird dieser Zug,

wenn ein Zauberer oder Gott den Menschen aus bestimmten Gründen

mit solchem Attribut begabt (König Midas). Zur Motivverkettung

kommt es, wenn eine in gleicher Weise bezauberte Frau den Eselsmenschen

liebestoll umwirbt (Apulejus „Goldener Esel“), und die

Verkettung erfährt eine kraftvolle Steigerung, wenn dieser perversen |#f0197 : 173|



Sinnestäuschung gar die zarte Königin des Elfenreichs erliegt. Damit

haben wir noch nicht die ganze Fabel des „Sommernachtstraums“,

sondern erst eine Situation. Das Problem, das im Kernmotiv eingeschlossen

ist, enthält die Frage nach der Möglichkeit solchen Geschehens.

Und die Antwort liegt in der Idee, die alles zusammenhält,

nämlich dem berauschenden Liebeszauber der sommerlichen Hochzeitsnacht.





Ein anderes Beispiel: Die Situation zweier Liebenden, die sich als

Kinder von Todfeinden finden, ergibt die in Bandellos Stoffgebung

überlieferte Fabel für Shakespeares „Romeo und Julia“; der tragische

Tod der beiden Liebenden, dem der Scheintod des einen vorausgeht,

enthält das gleiche Motiv wie die im „Sommernachtstraum“ ins

Komische gezogene Fabel von Pyramus und Thisbe. In Kleists

„Familie Schroffenstein“ steigert sich die Motivverkettung der Fabel

zu einem neuen Ausgang, indem die verblendeten Väter ihre eigenen

Kinder umbringen; dieser entsetzliche Irrtum ist durch das Motiv des

Kleidertausches begründet. Die Problemstellung Kleists beruht auf

der von ihm erlebten Erschütterung über der Kantschen Philosophie,

die ihn zum Zweifel und zur Verzweiflung an der Zuverlässigkeit

aller Sinneswahrnehmung, aller Naturerkenntnis und aller Wahrheitsforschung

geführt hatte. Die Idee ist in einem symbolischen Zug

angedeutet, da allein der blinde Großvater die Leichen erkennt, weil

seine Gefühlsgewißheit sicherer zur Wahrheit vordringen kann als

alles Vertrauen auf den Augenschein.



Gottfried Kellers Meisternovelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“

hat die durch eine Zeitungsnachricht angeregte Fabel wieder auf die

einfachste Formel gebracht, indem aus der tragischen Verkettung

alles, was verhängnisvollen Irrtum bedeutete, entfernt wurde. Das

Problem bestand darin, zu erklären, wie die Feindschaft der Eltern

zu solcher verbissenen Härte sich auswachsen konnte, daß sie das

Glück der Kinder vernichtete; die Entwicklung dieses psychologischen

Problems beginnt mit dem fruchtbaren Motiv des umstrittenen Ackerrains;

in der Idee führt die Naturkraft zur Überwindung aller Hindernisse,

indem sie im Freitod die Liebenden ihre Vereinigung finden

läßt.



In Anzengrubers Komödie „Doppelselbstmord“ kommt es wiederum

durch Hinzufügung eines neuen Steigerungsmotivs zur Umbiegung

ins Heitere. Dadurch, daß die Liebenden es bequem finden, für ihren

letzten Gruß den Abschiedsbrief eines Selbstmörderpaares aus der

Zeitung zu übernehmen, führen sie ihre Angehörigen auf die falsche

Fährte des Doppelselbstmordes. Dieses Problem findet nun aber mit |#f0198 : 174|



der glücklichen Vereinigung auf der Alm seine Lösung in der lebensbejahenden

Idee des Sieges gesunder Natur über sentimentale Nervenschwäche

und sinnlosen Hader.



So wenig die allgemeinmenschlichen Ideen und Probleme immer

neu sein können, so wenig macht die Erfindung noch nie dagewesener

Motive das Wesen des Dichters aus. Die Nutznießung herkömmlicher

Motive gereicht nicht zur Unehre, wenn sie innerlich angeeignet sind,

wozu eine organische Eingliederung in die Fabel, eine Übereinstimmung

mit den Charakteren und eine Unterordnung unter Problem

und Idee gehören. Der Monomane Paul Albrecht, der in sechs Bänden

„Lessings Plagiate“ sammelte, hat mit seiner Studie über literarische

Kleptomanie, für die er die äußerlichsten Motivgleichheiten aus

der Weltliteratur zusammenraffte, den Ruhm der Lächerlichkeit erworben.

Wenn in „Minna von Barnhelm“ das Motiv der vertauschten

Ringe auf Farquhars „Constant-Couple“, das Gasthausmotiv auf Goldonis

„Locandiera“, der Charakter der Dame in Trauer auf Diderot,

der des Riccaut de la Marlinière auf Regnards „Spieler“ zurückgeführt

wird, so ist damit der Eigenart des Stückes, die in der Verknüpfung

der Motive mit den Charakteren liegt, nichts genommen. Das Ringmotiv

könnte ebensogut mit dem leichten Spiel in Shakespeares

„Kaufmann von Venedig“ verglichen werden, und es würde sich zeigen,

daß es in Lessings Verwendung als Charakterprobe Tellheims

eine ganz neue Bedeutung und eine zentrale Stellung gewonnen hat.



Ähnlich fragwürdig wie die überlebte Modellschnüffelei für die

Analyse der Charaktere ist Auftreibung von Einflüssen und Parallelenjagd

für die Motivanalyse. Übereinstimmungen sind nur bei dem

Schriftsteller, der überhaupt nichts als Nachahmer ist, beweiskräftig

für unmittelbare Abhängigkeit; bei andern sind sie häufig nichts anderes

als Belege für die Richtung eines Zeitstils, dem zwei voneinander

unabhängige Dichter mit ihrem inneren Leben, ihren Problemen

und ihren Motiven in gleicher Weise unterworfen sind. Als bei dem

sogenannten Preisausschreiben des Hamburger Theaterdirektors Fr.

Ludw. Schröder im Jahre 1776 drei Stücke eingingen, die dasselbe

Thema des Bruderzwists behandelten, war diese Übereinstimmung

weder auf Abhängigkeit noch auf Zufall zurückzuführen; die Ursache

lag tiefer, denn gerade dieses Thema hing in der Sturm- und Drangzeit,

da die Spannungen höchster Leidenschaften und primitiver Uraffekte

gesucht wurden, gewissermaßen in der Luft; die Gleichheit der

Motive ist eher ein Beweis dafür als dagegen, daß Klinger und Leisewitz,

die bei der Preisverteilung in engste Wahl kamen, nichts voneinander

gewußt hatten.

|#f0199 : 175|



Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches

methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei

der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben

kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie

des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn

Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis

erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei

eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck,

selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition

einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte,

beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer

Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners „Kindermörderin“

in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust-

Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu

Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen

Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte

sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison

berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung

der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt

vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe

des „Urfaust“ mit Recht zwecks methodischer Warnung auf

einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets „Rois en exile“,

die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten,

das in der Erzählung von den „Guten Frauen“ sich findet.



In der Lyrik vollends ist aus Gleichheit der Motive niemals auf

Entlehnung zu schließen; fremde Einflüsse können in Sprache und

Stil, in Wortwahl, Bildern, Rhythmen und metrischen Formen viel

eher sichtbar werden als in den Motiven, die immer durch das eigene

Erlebnis des Dichters hindurchgegangen sein müssen und mit Notwendigkeit

aus ihm hervorgehen. Die Stofflosigkeit der Lyrik gibt

der Situation und den Motiven eine erhöhte Bedeutung; ihrer stimmungsmäßigen

Verknüpfung fällt die Herstellung des Zusammenhanges

zu, der das ausmacht, was in den pragmatischen Dichtungsgattungen

die geprägte Fabel bedeutet.



Da die reine Lyrik keinen von außen an den Dichter herangetragenen

Stoff kennt, darf das, was als lyrisches Motiv bezeichnet werden

kann, nicht Element des Stoffes sein, sondern Element des Erlebnisses.

In R. M. Werners großem Buche, das alle Lyrik aus dem Erlebnis

herleitet, fehlt gleichwohl der Begriff des Motivs. Dafür sind mit

positivistischem Schematismus drei Tabellen der lyrischen Unterarten,

die mißverständlich als Gattungen bezeichnet werden, ausgefüllt. |#f0200 : 176|



Durch Kreuzung formaler und thematischer Kategorien werden über

500 verschiedene Erscheinungsformen errechnet. Wäre die Zahl der

lyrischen Motive auf diese Weise zu registrieren, so würde sie sicherlich

geringer sein. Man könnte aber, um sie zu ermitteln, nicht vom

Stoff ausgehen, den es in der Lyrik nicht gibt, auch nicht von der

Fabel, die erlebnismäßig umgeprägter Stoff ist; auch das Erlebnis,

das in den pragmatischen Dichtungsgattungen zwischen Stoff und

Fabel steht und dadurch bestimmbar wird, ist hier, wo solche Stützen

fehlen, kein geeigneter Ausgangspunkt; es empfiehlt sich deshalb,

einmal von der anderen Seite her eine Verbindung zu suchen, also

von der Idee aus.



Die metaphysischen Ideen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, das Wahre,

das Gute, das Schöne, das Rechte, Menschheit, Vaterland, Volk, Natur,

Heimat, Leben umschließen Probleme, die durch das Verhältnis

des Menschen zu diesen Ideen aufgeworfen werden. Alle Probleme

sind Fragestellungen, die eine Entscheidung fordern. Die Motive

aber können aus solchen Problemspannungen hervorgegangene Gefühls-

und Gedankenerlebnisse sein, die in der Dichtung bildhafte

Gestalt gewinnen, namentlich im Parallelismus zwischen Natur und

Seelenlage. Fast alle Motive der Lyrik sind in diesem Sinne symbolisch,

indem ein bildhafter Naturvorgang dem Seelenvorgang zur

Begleitung gegeben wird oder umgekehrt ein geistiges Geschehen sich

in der Natur spiegelt. Als motivgebende Naturbilder dienen herkömmlicherweise

Jahres- oder Tageszeiten mit dem Wechsel der

Vegetation und der Beleuchtung, elementare Ereignisse wie Gewittersturm,

Lawine, Erdbeben oder Eisgang; unaufhörliches Strömen wie

im Lebenslauf des Flusses vom Quell bis zur Mündung; tiefe Stille,

in der nur das Murmeln der Quellen, das Rauschen der Brunnen oder

ferne Musik und nächtliche Sphärenklänge vernehmbar werden;

rhythmische Bewegung der weiten Landschaft in stromdurchglitzerten

Auen, weinbekränzten Hügeln und leuchtenden Wolken; Unendlichkeit

in der weit hinaus erglänzenden Fläche des Meeres oder im

gestirnten Himmel; bedrängende Enge in schwarzen Wäldern und

tiefen Felsenschluchten.



Einfache Naturvorgänge wie Morgenröte, Mittagsschwüle, Mondenglanz

können hier zu kosmischen Phantasien und mythischer Naturvergottung

gesteigert werden, und metaphysische Bildschaffung kann,

wie Hermann Pongs an den Beispielen der Blumensymbolik, des

Vogelflugs, der Flammen und der brennenden Liebeswunde gezeigt

hat, sich zum Motiv auswachsen und schließlich ein ganzes Gedicht

erfüllen.

|#f0201 : 177|



Nicht immer ist der Parallelismus mit solcher fast epigrammatischen

Prägnanz ausgesprochen wie in Goethes „Gesang der Geister über

den Wassern“: „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser,

Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.“ Im „Schicksalslied“

Hyperion-Hölderlins sind zwei Motive in ähnlicher Weise

kontrastiert: das im heiligen Harfenspiel der Künstlerin verbildlichte

lichtvolle Wandeln seliger Genien und das ruhelose Dasein des Menschen

im Gleichnis des von Klippe zu Klippe fallenden Wassersturzes.

Wie hier akustische und visuelle Eindrücke, musikalische und dem

Auge wahrnehmbare Bewegungen zusammengestellt sind, so verknüpfen

sich zwei Motive gegensätzlicher Herkunft in Mörikes „Um Mitternacht“,

nämlich das visuelle Bild der gelassen ans Land steigenden

Nacht und die Melodie des Schlummerliedes vom heute gewesenen

Tage. Was die Quellen singen von ewiger Unrast des Lebens, das bedeutet

in Eichendorffs „Sehnsucht“ das Wanderlied der vorbeiziehenden

zwei Gesellen, dessen Inhalt in vielerlei Zügen die Stimmung

der Sommernacht zusammenfaßt (rauschende Wälder, Marmorbilder,

verwilderte Gärten, Paläste im Mondschein, lauschende Mädchen am

Fenster, verschlafen rauschende Brunnen); der ganze Bilderkomplex

ist als ein einziges Motiv anzusehen, das die Situation des einsam am

Fenster Stehenden weiterführt, indem es seine Seele sehnsüchtig

bewegt.



Zwischen Eichendorff und Mörike sind mancherlei Vergleiche zu

ziehen, wenn beide Dichter sich im gleichen Motiv begegnen, z. B.

in dem des Gärtners, der zu einer hohen, ihm unerreichbaren Frau

in Verehrung aufblickt.



[Beginn Spaltensatz]

Eichendorff.



Wohin ich geh' und schaue,

In Feld und Wald und Tal,

Vom Berg hinab in die Aue:

Vielschöne, hohe Fraue,

Grüß' ich dich tausendmal.


In meinem Garten find' ich

Viel Blumen schön und fein,

Viel Kränze wohl d'raus wind' ich

Und tausend Gedanken bind' ich

Und Grüße mit darein.


Ihr darf ich keinen reichen,

Sie ist zu hoch und schön,

Die müssen alle verbleichen,

Die Liebe nur ohnegleichen

Bleibt ewig im Herzen steh'n.

[Spaltenumbruch]

Mörike.



Auf ihrem Leibrößlein,

So weiß wie der Schnee,

Die schönste Prinzessin

Reit't durch die Allee.


Der Weg, den das Rößlein

Hintanzet so hold,

Der Sand, den ich streute,

Er blinket wie Gold.


Du rosenfarb's Hütlein,

Wohl auf und wohl ab,

O wirf eine Feder

Verstohlen herab.

[Ende Spaltensatz] |#f0202 : 178|



[Beginn Spaltensatz]
Ich schein' wohl froher Dinge

Und schaffe auf und ab,

Und, ob das Herz zerspringe,

Ich grabe hart und singe

Und grab' mir bald mein Grab.
[Spaltenumbruch]

Und willst du dagegen

Eine Blüte von mir,

Nimm tausend für eine,

Nimm alle dafür!
[Ende Spaltensatz]



Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Mörike das Eichendorffsche

Lied, das im „Leben eines Taugenichts“ 1826 erschienen ist, kannte;

es ist sogar keineswegs unmöglich, daß er dadurch erst veranlaßt

wurde, sein eigenes Gegenstück danebenzustellen. Es verliert deshalb

nichts von seiner Eigenart.



Beide Rollenlieder entsprechen dem Charakter der reinen Lyrik als

monologische Darstellungen eines Zustandes, nämlich der demütigen

Liebe zu einer hohen Frau. Das lyrische Ich nimmt bei Eichendorff

schon in der ersten Zeile das Wort, während es bei Mörike zurückgehalten

wird und erst in der zweiten Strophe einsetzt. Mörikes erste

Strophe bleibt rein anschauend; es ist eine erzählte Situation. Die

schönste Prinzessin hoch zu Roß ─ damit ist schon der ganze Abstand

von dem niederen Gärtner, der einstweilen beiseite bleibt, versinnlicht,

ohne daß er schmerzhaft empfunden würde. Das zierliche

Prinzeßchen auf dem schneeweißen Leibroß ist bei Mörike von Anfang

an die Hauptperson. Dagegen bleibt die „vielschöne, hohe

Fraue“ Eichendorffs unsichtbar; sie wohnt im Herzen des Gärtners

als Gegenstand seiner Sehnsucht, als ein Wunschbild, um das sich der

Liebende in unaussprechlichem Leid verzehrt. Kein einziger Zug

gibt ihre äußere Erscheinung wieder. In dem Wort „hohe Fraue“

klingt etwas von mittelalterlichem Dienste an, und der Gärtner

erscheint fast wie ein verkappter Minnesänger. Er möchte seinen

ganzen Garten der Herzenskönigin zu Füßen legen und sie wie ein

Gnadenbild katholischen Kultes bekränzen. Dagegen findet der Gärtner

Mörikes in dem launischen Einfall Befriedigung, daß er an Stelle

einer zu ihm herabgewehten Feder den Hut mit tausend Blüten überschütten

dürfte. Diese Feder würde er treu auf dem Herzen tragen

etwa wie jener Küchenjunge Leufried bei Jörg Wickram den Goldfaden

der Grafentochter, die er schließlich nach allerlei Heldentaten

heimführen darf. Solche Entwicklung, von der die Märchenphantasie

träumen mag, bleibt bei Mörike nicht ausgeschlossen, obwohl seine

eigene Genügsamkeit das holde Bescheiden in der Mitte zwischen

den Extremen sucht. Immerhin hat er sechs Jahre vorher schon

„Schön Rothraut“ gedichtet mit dem verwandten Motiv des Jägerknaben,

der die Königstochter küßt. Mörike betrachtet die Spannung

zwischen Liebe und Standesunterschied von unten her, aber ohne |#f0203 : 179|



sozialen Widerspruch, so daß sie kaum bei ihm zum Problem wird.

Der Aristokrat Eichendorff dagegen erlebt sie von oben herab, auch

wenn er sich in die Seele seines Gärtners versetzt und sogar Todesahnungen

anklingen läßt. Hier ist ein Unterschied der Standesanschauung,

ja der Weltanschauung nicht zu verkennen. Die Zeitstimmung

des Eichendorffschen Liedes ist Romantik, die des Mörikeschen

bürgerliches Biedermeier. Die hohe Fraue, die bei Eichendorff

stimmführend in den dreifachen Reim eintritt, ist ein Akkord der

unerfüllbaren Sehnsucht; dagegen ist Mörikes kapriziöses Prinzeßlein,

das vielleicht gar imstande wäre, eine Feder ihres Hutes selbst herabflattern

zu lassen, um damit dem kleinen Gärtner den Kopf zu

verdrehen, nicht so sehr musikalischer Gefühlseindruck als Gemälde,

ein Bild, das man sich von Moritz von Schwind gefertigt denken

könnte. Bei Eichendorff ist alles auf Wohllaut eingestellt, und die

weiche musikalische Melancholie reicht bis zum Schlußmotiv, das als

Parellele zwischen dem Graben des Gartens und des Grabes den

sentimentalen Todesgedanken in sich trägt. Es herrscht ein Zwiespalt

zwischen scheinbar frohem Gehaben und tiefem Herzeleid Dagegen

wird aller Zwiespalt bei Mörike mit urwüchsigem Humor überwunden.

Alles ist sinnenfrohe Anschauung und Bewegung in tänzelndem

Rhythmus, der auch seine Musik bildet. Aber der Haupteindruck

ist doch visuell. Durch die impressionistischen Farbentupfen

des schneeweißen Rößleins, der grünen Allee, des goldenen Sandes,

des rosenfarbenen Hütleins ist das ganze Gedicht selbst zum Gärtnerwerk

eines bunten Blumenstraußes geworden. Die verschiedenartige

Vertonung durch Johannes Brahms und Hugo Wolf hat die Gegensätzlichkeit

der Wirkung noch verstärkt, so daß niemand mehr bei

Anhörung dieser Lieder denken wird, daß ihnen das gleiche Motiv

zugrunde liegt.



Wir kommen endlich zur Musik. Es ist fraglich, ob die im

literarischen Motiv enthaltenen Gefühlserlebnisse in ihrer verschiedenen

Ausdrucksweise durch musikalische Begriffe, wie Melodik,

Rhythmik, Dynamik erhellt werden können. Wird nun aber das,

was die Musiklehre unter Motiv versteht, in die Analyse der

Dichtung hineingeworfen, so kann es, wie Karl Voßler an einem

drastischen Beispiel gezeigt hat, zu verschleiernder Einnebelung in

einen „Dunst von Kunstkennertum und Feinschmeckerei“ auslaufen.

Mit Übernahme des musikalischen Motivbegriffes, den Nietzsche als

die „einzelne Gebärde des musikalischen Affekts“ erklärt hat, würde

zwar die seelische Beziehung festgehalten, auf die es beim dichterischen

Motiv ankommt; aber solcher Melodieteil würde in seiner |#f0204 : 180|



Ausdrucksbedeutung eher den Bildern und Gleichnissen der Sprachkunst

entsprechen als dem Motiv. Was z. B. bei Heinr. von Kleist als

eine der musikalischen Technik entsprechende Motivwiederkehr erkannt

worden ist (Stern- und Höhenmotiv, Jagdmotiv), das besteht

ausschließlich aus Bildern. Wiederum würde das „Leitmotiv“ der

Wagnerschen Musikdramen, das in unterbewußte Tiefen taucht und

mit wachgerufenen Erinnerungen, Stimmungen, Ahnungen unausgesprochene

Seelenvorgänge vermittelt oder Ausgesprochenes bedeutsam

in der Begleitung unterstreicht, eher den symbolhaften Zügen

der Dichtung gleichzusetzen sein als ihren Motiven.



Die Priorität der Wiederholungstechnik ist für Dichtung und Musik

kaum zu entscheiden; das ausgesprochene musikalische Leitmotiv mag

sich literarischem Vorgang angeschlossen haben, wie das literarische

musikalischen Wirkungen nachgegangen ist. Die stehenden schmückenden

Beiwörter Homers, die formelhaften Wiederholungen im Märchen,

der Refrain in Ballade und Volkslied, die typischen Redewendungen

und Bewegungen komischer Charaktere im Lustspiel und humoristischen

Romanen, die Kristallglockentöne in Hoffmanns Märchen

vom „Goldenen Topf“ und in Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ zeigen

mit der steigenden Annäherung an musikalische Wirkungen ein Anwachsen

der symbolischen Bedeutung dieser Züge, die zum Teil in

eine andere Wirklichkeitssphäre hineinreichen, als es die der Vordergrundsdarstellung

ist. Wenn wir das alles als Leitmotiv bezeichnen,

so haben wir es doch nicht zu den Motiven der Dichtung zu

rechnen; es bedeutet für die Dichtung etwas anderes; als bewußtes

Mittel der Bindung und des Aufbaus reicht es zurück in den

Bezirk der Technik; als Stimmungsmittel dagegen haben wir es bei

den folgenden Punkten der Analyse wiederzufinden, bei der Frage

der Wirklichkeitsdarstellung und der sprachlichen Gestaltung. Insbesondere

ist es dem Rhythmus des Ganzen zuzurechnen, der in der

Wiederkehr des Gleichen sein Wesen betont. In diesem Sinn hat

Theodor Fontane, der von ihm gern Gebrauch machte, das literarische

Leitmotiv als den „richtigen Taktaufschlag“ erklärt, der den

Leser in den Geist, aus dem das Ganze geschrieben sei, einführe.



b) Wirklichkeitsauffassung



Das Verhältnis zur Wirklichkeit, auf das die andeutende Symbolik

des Leitmotivs hinführt, steht im Zusammenhang mit dem Stil und

ist dessen eigentliche Voraussetzung. Stilbezeichnungen wie Naturalismus,

Realismus, Symbolismus, Idealismus bezeichnen jedesmal ein |#f0205 : 181|



anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, und die dort zum Ausdruck

kommende Haltung des Dichters ist in seiner Weltanschauung

begründet.



Die Analyse der Dichtung läßt das Wirklichkeitsverhältnis im

Vorhof der Weltanschauung finden; wir treffen es an in der Verknüpfung

der Motive, in der Ursächlichkeit des Handelns und der

von außen eindringenden Ereignisse, in der Art der Schicksalsfügung,

im Walten des Zufalls, im Eingreifen übernatürlicher Mächte, in der

Herrschaft der Naturgesetze.



Das Recht und die Geltung des Wunderbaren war ein wesentlicher

Streitpunkt der rationalistischen Poetik im 18. Jahrhundert: Gottsched

sprach der Dichtung alle Darstellung transzendenter Vorgänge

ab und wollte ihr nichts anderes überlassen als die Nachahmung der

sichtbaren Welt. Bodmer suchte in seiner Abhandlung „Über das

Wunderbare“ nach Gründen für die Verteidigung Miltons und seiner

Geisterwelt, ohne sich von dem damals maßgebenden Begriff der

Nachahmung trennen zu können. Er fand bei Leibniz die Vorstellung

möglicher Welten und konnte danach das Wunder in der Dichtung

als Nachahmung einer möglichen Welt rechtfertigen. Damit waren

verschiedene Wirklichkeitsschichten der Dichtung anerkannt.



Als um die Mitte des Jahrhunderts der Begriff des Schöpfertums

sich an die Stelle der Nachahmung setzte, wurde der Dichter sein

eigener Weltschöpfer. Es kam nur darauf an, ob die von ihm geschaffene

Welt in organischer Weise ihre inneren Gesetze erfüllte;

dann brauchte sie nicht mit den herkömmlichen Vorgängen des Alltags

übereinzustimmen. Ihre Beglaubigung mußte sie durch die

lebendige Kraft der Darstellung erweisen. In diesem Sinne hat Lessings

„Hamburgische Dramaturgie“ am Vergleich der Geistererscheinungen

Voltaires und Shakespeares aufgezeigt, daß Shakespeare den

Glauben an seine Geister zu erzwingen vermag, was Voltaire nicht

glücken kann.



Auch bei Shakespeare sind in der Darstellung der übersinnlichen

Welt wesentliche Unterschiede zu beobachten, obwohl die theatralische

Verkörperung dieselbe bleibt. Es ist etwas anderes, ob die Geister

in der Geschichtstragödie als Sendboten aus dem Totenreich oder als

Gestalten erregter Träume sich zeigen, ob sie als Halluzinationen eines

Fieberkranken durch dessen Phantasie vermittelt werden oder ob sie

in Wirklichkeit auf festen Füßen stehen und objektiv sichtbar werden,

wie die der Zauberkraft eines Menschen unterworfenen Gestalten des

„Sturm“, oder ob sie gar unter sich sind und ihre eigene Welt bilden

wie im „Sommernachtstraum“.

|#f0206 : 182|



Die deutsche Klassik fand zwischen Aufklärung und Romantik hier

noch keinen festen Standpunkt. In Goethes „Iphigenie“ wird die

Hadesvision des Orest, die geradezu die Achse des Stückes bildet,

nicht sichtbar gemacht, sondern als Traum erzählt; ebenso bleiben

die verfolgenden Furien unsichtbar. Schiller vermißte später den

sinnlichen Eindruck der Gewissenspeinigung und sagte unter dem

Eindruck von Glucks Oper: „Ohne Furien kein Orest“; vorher hatte er

die Traumerscheinung Klärchens am Schluß des „Egmont“ als „Salto

mortale in eine Opernwelt“ abgelehnt und in seiner Weimarer Bühnenbearbeitung

dafür gesorgt, daß der Traum Egmonts nur erzählt

wurde. In der „Jungfrau von Orleans“ blieb die Berufung Johannas

und ihre Verklärung ohne sichtbare Erscheinung der Himmelskönigin,

aber der schwarze Ritter überschritt die Grenzen rationaler Wirklichkeitsdarstellung;

bei den Plänen für eine Fortsetzung der „Räuber“

stellte sich Schiller sogar die Frage, ob es zulässig sei, mehrere

Geister gleichzeitig auftreten zu lassen und untereinander in Beziehung

zu setzen.



Die Bühnenverwirklichung hatte, solange nicht die künstlichen

Beleuchtungsmöglichkeiten im Wechsel zwischen greller Bestrahlung

und verschleiernder Dämpfung verschiedenartige Wirklichkeitseindrücke

vermitteln konnten, nur das gleiche Mittel der Verkörperung;

die verschiedenen Wirklichkeitssphären mußten bei Tageslicht in derselben

Plastik sichtbar werden, und nur die Sprache gab die Möglichkeit

der Differenzierung. Das Drama läßt also Unsichtbares auf der

Bühne erscheinen mit gleichem Recht, wie es unausgesprochene

Gedanken im Monolog hörbar werden läßt. Wie es von der sprachlichen

Führung des Monologs abhängig ist, ob er als wirkliches

Selbstgespräch, als Ausbruch tiefster Erregung und innerer Zwiespältigkeit

glaubhaft wird, so kommt es auch bei der Sinnwirkung

der Vision darauf an, daß sie stimmungsmäßig vorbereitet ist durch

den Seelenzustand derer, die ihrer teilhaftig werden. Indem Shakespeare

das allen sichtbare Auftreten des Geistes im „Hamlet“ von

Mitternachtsschauern begleiten ließ, während er das spätere Auftreten

im Zimmer der Königin, das nur dem Erregungszustand Hamlets sichtbar

wird, durch keine äußeren Stimmungsmittel vorbereitete, hat er

durch Suggestionskraft der Sprache und durch technische Spannungserregung

eine Bühnenillusion geschaffen, die der heutigen maschinellen

Mittel entraten konnte. Ähnlich verfuhr er im „Macbeth“ mit

Hexenszenen und Erscheinung von Banquos Geist.



Derselbe Unterschied wie zwischen subjektiver und objektiver

Geistererscheinung besteht bei Traumspiel und Märchendrama, die |#f0207 : 183|



verschiedene Illusionsgrade in Anspruch nehmen. Das Traumspiel

ist in einen Wirklichkeitsrahmen eingefaßt, dessen Gestalten der

Zuschauer als einfache Realität hinnimmt; die Traumhandlung aber

muß er sich, auch wenn sie auf dem Theater in gleicher Körperlichkeit

erscheint, als durch das Medium des Träumenden geschaut vorstellen;

die Gestalten sind also doppelte Phantasiegebilde, sowohl des

Dichters als des Träumenden. Es stellt sich demnach ein ähnliches

Verhältnis mehrfacher Spiegelung her, wie es die eingelegte Ich-

Erzählung im Rahmen des Epos, des Romans, der Novelle mit sich

bringt. ─ Das Märchendrama dagegen kennt nur Phantasiegestalten

des Dichters ohne Vermittlung des Träumenden, losgelöst und verselbständigt

in ihrer eigenen Welt, deren Schicksalsbegriff in der

Wunscherfüllung besteht. Eine ähnliche Wirklichkeitsschicht nehmen

mythische Gestalten in der Welt des Glaubens ein; sie können aber

auch zum Gegenstand des Spottes werden, sobald der Glaube

geschwunden ist und das Geschehen dem Maßstab der ersten Wirklichkeit

überlassen wird.



Übergänge von der einen Wirklichkeitsschicht zur anderen sind

möglich; in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen „Und Pippa

tanzt“ verfließt die naturalistisch geschaute Vordergrundshandlung

erst allmählich im Durchgang durch das Symbolische zum Märchenhaften.

Umgekehrt war Kleists „Käthchen von Heilbronn“ ursprünglich

als dramatisches Märchen entworfen und wurde erst nachträglich

nach eigenem Urteil des Dichters durch realistische Bühnenrücksichten

verdorben.



Die theatralische Verwirklichung verschiedenartiger Schichten ist

dadurch beschränkt, daß die in jedem Fall notwendige Verkörperung

als Projektion in die gleiche Vorstellungswelt und als Übertragung

in eine neue einheitliche Bühnensicht erscheint, bei der sich

die dichterischen Wirklichkeitszonen verwischen. Dagegen kann die

Erzählungskunst viel unmittelbarer die verschiedenen Welten auseinander

halten. Im großen Epos gehört das Walten der Götter und

ihr Eingreifen in die Geschicke der Menschen zur Vollständigkeit des

Weltbildes. Die Götter sind bei Homer schicksalbestimmende Mächte,

die aber ihrerseits der Moira unterworfen sind; durch Wohlwollen

oder Abneigung gegenüber den Helden, um deren Schicksal es sich

handelt, stehen sie untereinander in Widerstreit; sie sind auch durch

familiäre Bande mit der Heroenwelt verbunden; eine Schicht der

Halbgötter ist zwischen Götter und Menschen gestellt. Wenn sich im

Kampf der göttlichen Gewalten das Schicksal fügt, so sind die beiden

korrespondierenden Wirklichkeiten des himmlischen und des irdischen |#f0208 : 184|



Kampfes als zwei Stockwerke übereinander geschichtet etwa wie in

Kaulbachs Gemälde der Hunnenschlacht das Schlachtfeld und der

Geisterkampf in den Lüften; als dritte Wirklichkeitsschicht aber

kommt in der Odyssee noch das Totenreich der Unterwelt zur Vorstellung.

Im deutschen Heldenepos bleibt dagegen der Blick immer

auf die Realität eingestellt; im Nibelungenlied sind es menschliche

Leidenschaften und ethische Gebote, die das Schicksal herbeiführen;

seine Folgerichtigkeit ist unerbittlich; was kommen muß, das wissen

ahnende und warnende Elementargeister schon voraus, ohne daß unter

den Schicksalsgewalten gewürfelt wird. Nur in der nordischen Sage

und danach in Richard Wagners Tetralogie greift die Götterwelt ein,

die aber ihrerseits nicht allmächtig ist, sondern von menschlichen

Leidenschaften bewegt einer übergöttlichen Schicksalsfügung sich

beugen muß.



Der Roman stellt, wie man gesagt hat, die entgötterte Welt dar.

Aber auch in ihm kommen verschiedene Wirklichkeitsauffassungen

und -schichten zur Erscheinung. Clemens Lugowski hat in seiner

Untersuchung über „Wirklichkeit und Dichtung“ den Märchenroman

und den Antimärchenroman der Franzosen einander gegenübergestellt.

Eine märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit war das

Thema der heroischgalanten Romane Frankreichs (La Calprenède)

und Deutschlands (Herzog Anton Ulrich von Braunschweig). Die

zwei einander gegenüberstehenden Welten werden dort als „die dem

eigentlichen Erzähltwerden vorgegebene“ und die, „innerhalb deren

von der vorgegebenen Welt erzählt wird“, getrennt, und es wird der

Dualismus zwischen der Märchengesinnung und der kausalen Motivierung

dessen, was nicht durch sich selbst glaubhaft ist, unterschieden.



Für die Motivierung werden im Roman des 17. Jahrhunderts

gelegentlich auch Züge in Anspruch genommen, deren Glaubhaftigkeit

in Zweifel steht. Wenn in Grimmelshausens „Simplizissimus“

beispielsweise eine Schauplatzverwandlung vor sich geht wie im

Theater, indem die Szenerie plötzlich aus der Landschaft des Stiftes

Hersfeld nach der Gegend des Erzstiftes Magdeburg verlegt wird, so

wird der Behelf des Hexenfluges durch eine Zwischenbemerkung

ironisiert, in der der Erzähler geradezu in Märchenton verfällt: „Dann

es gilt mir gleich, es mag's einer glauben oder nicht; und wer's nicht

glauben will, der mag einen anderen Weg ersinnen.“ Im Gegensatz

dazu steht der Antimärchenroman mit seiner Welt der Desillusionierung,

und Lugowski will nun zeigen, daß Märchen und Antimärchen

zwei verschiedene Seiten derselben Einstellung zur Wirklichkeit darbieten:

während der Mensch sich im Märchen den helfenden Gott |#f0209 : 185|



nach seinem Wunschbild formt, läßt er ihn in der Realität des Antimärchens

als furchtbaren Moloch walten. Statt „Gott“ würde vielleicht

besser Schicksal gesagt, denn Wirklichkeitsvorstellung und

Schicksalsbegriff fallen zusammen in den Spielarten von waltender

Vorsehung, immanenter Bestimmung, tückischem Zufall, mechanischem

Naturgesetz.



Lugowski stellt nun der Desillusion des Antimärchenromans, für

die er nur französische Beispiele gibt (ein anderer Typus wäre etwa

Cervantes' „Don Quixote“), das unmittelbare Verhältnis zur Wirklichkeit

in isländischer Saga und germanischem Heldenlied gegenüber.

Die nordische Haltung ist in einem Wirklichkeitssinn zu finden, der

Mensch und Welt als Einheit sieht und im Ich keinen Gegensatz

zur Wirklichkeit, sondern ihre Erscheinungsform erblickt. Als Beispiel

für das Wiederaufleben dieser Wirklichkeitsauffassung wird

Heinrich von Kleist genannt, bei dem selbst das Wunder (Marquise

von O., Der Zweikampf) und selbst die Götter (Jupiter im „Amphitryon“)

ihr eingeordnet sind. Kleists Haltung wird als tiefes, unbewußtes

Heimweh nach der ursprünglich eigenen Art des Fühlens

und Lebens, nach der Lebensauffassung unserer altgermanischen Vorfahren

erklärt; zugleich wird in ihm ein Vorläufer und visionärer

Prophet des neuen Wirklichkeitsgefühls erkannt, das in zähem Kampf

steht um die „Wiedererringung eines alten, neu erwachenden Urverhältnisses

zur Wirklichkeit“.



Der Historiker muß fragen, warum diese arteigene Haltung während

beinahe eines Jahrtausends verschüttet war, und er kann die Antwort

nur in einer tausendjährigen Überfremdung der deutschen Kultur

finden. Trotzdem wäre die These wohl durch Zwischenglieder

zu unterbauen, und die Brücke könnte ihre Pfeiler finden in Gestalten

wie Wolfram von Eschenbach und Luther, vielleicht auch

Klopstock und den Romantikern.



Die Romantik erneuerte das Märchen deutscher Art im Gegensatz

zu den französischen Feenmärchen; schon vorher war mit der Ballade

eine nordische Dichtungsart wiederbelebt worden, und hier erscheint

das Wirklichkeitsverhältnis eher umgekehrt: in der romanischen

Romanze eine sonnenklare Sinnenwelt, in der germanischen Ballade

ein düsteres Reich dämonischer Gewalten und Elementargeister voller

Naturmagie. Das romantische Kunstmärchen wird man in seinen

verschiedenen Spielarten nicht in dem Maße als typisch deutsch auffassen

können wie die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder

Grimm, aber das eigenartige Zusammentreffen verschiedener Welten,

einer realistischen, einer symbolischen und einer allegorischen, scheint |#f0210 : 186|



für drei nebeneinander bestehende Möglichkeiten der Wirklichkeitsauffassung

charakteristisch. In Hoffmanns Märchen vom „Goldenen

Topf“ ist die den rohen Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit ein

transparenter Vordergrund, durch den eine andere Welt hindurchschimmert.

Der nüchterne Blick des Philisters nimmt die offenliegende

Erscheinungswelt als einzige Wirklichkeit dar; hinter ihr liegt

ein Zwischenreich geteilten Daseins, das hinter der Vordergrundserscheinung

eine tiefere Bedeutung sichtbar werden läßt; so ist der

Archivarius Lindhorst eigentlich ein Feuersalamander, und seine

Töchter, von denen die eine den Namen Serpentina trägt, sind in

ihrem eigentlichen Elemente Schlänglein. Als Ziel der Sehnsucht

aber tut sich am Schluß ein drittes Reich auf in dem Märchenland

Atlantis, in dem der Student Anselmus mit der erlösten Serpentina

in Glück und Seligkeit wohnen wird. Dieses Reich der höchsten

Wahrheit, in dem der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis

der Natur sich verwirklicht, kommt aber nicht als erfüllte

Wirklichkeit zur Darstellung, sondern bleibt Gegenstand der Sehnsucht.





Die drei Reiche versinnbildlichen drei Wirklichkeitsbereiche der

Dichtung: die sinnlich wahrnehmbare Welt hat ihre eigenen Gesetze

und eine Ursächlichkeit, die wir im engeren Sinn als Wirklichkeit

schlechthin zu bezeichnen pflegen. Der Erkennbarkeit gesetzmäßigen

Geschehens sowohl in der Natur als im menschlichen Handeln entspricht

mit der Realpsychologie eine auf unmittelbare Anschaulichkeit

zielende Sprache.



Im zweiten Bereich gewinnt die sichtbare Wirklichkeit repräsentative

Bedeutung für ein Leben, das nicht sichtbar ist. Alles scheinbar

Leblose wird beseelt, und die lebendige Seele wird in Tiefen des

Ahnungsvermögens, des inneren Schauens und des Glaubens geführt,

für den alle Dinge Zeichen eines höheren Daseins sind. Das ist die Bedeutung

des Symbols in der Dichtung, daß der einzelne konkret geschaute

Gegenstand, der in der ersten Wirklichkeitsstufe absolut

Geltung hat, als Relation in die zweite Schicht der Vorstellungswelt

eindringt. Er bleibt innerhalb der ersten Wirklichkeitsschicht als

stellvertretendes Zeichen und wird zum repräsentierenden Sinnbild,

ja zum Spiegel der zweiten Welt erhoben; so wandelt sich seine

individuelle Existenz zur allgemeinbedeutenden Sinngebung eines

größeren Zusammenhanges. Die Sprache dieser zweiten Welt ist die

der poetischen Bilder. Wenn diese zweite Welt ihre Voraussetzung

in der ersten hat, der sie Bedeutung verleiht, so wird sie sichtbar

nur durch ihre Beziehung zur ersten Welt und erscheint als Hintergrund |#f0211 : 187|



oder oberer Vorgang, der durch die niedere Vordergrundsbegebenheit

hindurchleuchtet.



Dasselbe Verhältnis, das in der Gegenwart zwischen sinnlicher

Wirklichkeit und symbolischer Bedeutung besteht, ist in der Vergangenheit

zwischen Geschichte und Mythos zu erkennen. Geschichtliche

Ereignisse und Persönlichkeiten werden mythisch durch verallgemeinernde

Sinngebung ihres Daseins; der Mythos hat die Transparenz

des Symbols.



Die dritte Welt, in der sich das Geistige verkörpert, gewinnt dagegen

eine eigene Form, die von der sinnlichen Vordergrundswelt

losgelöst ist und höchstens die Einkleidung ihr entnommen hat. Das

ist die Allegorie, die sich von Symbolik und Mythos darin unterscheidet,

daß ihre Gestalten keine Eigenexistenz in der ersten Wirklichkeitsschicht

besitzen, sondern gleich aus der zweiten Schicht in

die dritte übernommen wurden. Der Allegorie fehlt die dem Symbol

innewohnende Doppelbedeutung; sie kann nicht gleichzeitig etwas

Konkretes und etwas Gedachtes darstellen, sondern sie ist Konkretisierung

eines Gedachten, Verkörperung einer Idee, die wirkliche

Körperexistenz nur innerhalb der dritten, fernen Verwirklichungsschicht

besitzen kann. Alles Allegorische nimmt Menschengestalt

an; kein toter Gegenstand kann dazu gehören; selbst der Gral

Wolframs oder der Stein der Weisen, den die Alchimisten suchen,

können nur Symbole für kosmische Lebenskräfte bedeuten; dagegen

ist die göttliche Sophia als Vorstellung der Mystiker und Theosophen

eine Allegorie. Allegorische Gestalten können in der Wirklichkeit

der ersten Schicht nicht sichtbar werden; sie können auch in der

zweiten Schicht der symbolischen Wirklichkeit kein Leben gewinnen;

in der dritten Welt sind sie unter sich und bestimmen den Wirklichkeitsgrad,

so daß sie die symbolischen Gestalten sich gleichmachen.





Die Unterschiede sind als entwicklungsgeschichtliche Folge an der

Auffassung der griechischen Götterwelt im Epos zu erkennen. Bei

Homer gehören die Götter der unmittelbaren Wirklichkeit an; in der

Renaissance- und Barockdichtung, z. B. Shakespeares „Venus und

Adonis“, stellen sie Symbole dar; in Spittelers „Olympischem Frühling“

müssen sie als Allegorien angesehen werden.



Diese Abstufung kann auch in einer einzelnen Dichtung aufeinander

folgen, wofür Goethes „Faust“ ein Beispiel ist. In der Urfassung

der Dichtung ist der Held ein Einzelner, und demgemäß ist auch der

ihm zugesellte Mephistopheles ganz individuell vermenschlicht; in

der zweiten Phase der Arbeit, die mit Prolog im Himmel und Paktabschluß |#f0212 : 188|



einsetzt, ist es zwar immer noch der in der Wirklichkeit auf

festen Füßen stehende Faust, aber er ist zugleich als eine symbolische

Gestalt aufgefaßt, als Repräsentant des ewig unbefriedigten Menschen,

und Mephistopheles ist ihm als der ewige Versucher zur Seite gestellt.

Wenn aber am Schluß des zweiten Teils die grauen Weiber Mangel,

Schuld, Sorge und Not, also allegorische Gestalten, auftreten und

wenn die Sorge körperlos durchs Schlüsselloch sich einschleicht, dann

zieht sie Faust in ihre Welt hinüber; auch Faust ist gegen den

Schluß hin bloßer Geist geworden, eine Abstraktion seiner früheren

Existenz, so wie Mephistopheles es ist, wenn er mit den drei gewaltigen

Gesellen Raufebold, Habebald, Haltefest sich zusammentut. Der

Übergang zur Allegorie setzt sogar schon in der Mummenschanz des

ersten Aktes ein; die Lustbarkeit am Kaiserhof ist einesteils als karnevalistische

Feier ein Motiv des wirklichen Lebens; als Sinnbild für

den mit Erfindung des Papiergeldes einziehenden Reichtum gewinnt

die Maskerade zugleich symbolische Bedeutung; wenn aber das Viergespann

des Plutus durch die Menge hindurchgetragen wird, ohne sie

zu teilen, also als bloßer Schein ohne Körperlichkeit, dann gilt das

Wort des Knaben Lenker:



„Denn wir sind Allegorien,

Und so solltest du uns kennen.“


Nur in der Welt der Allegorien ist es möglich, daß der im ersten

Akt auftretende Knabe Lenker und der erst im dritten Akt zur

Welt kommende Euphorion eine und dieselbe Person sind, wie der

Dichter selbst zu glauben verlangt, ebenso daß zwischen Homunculus

und Helena, die beide während der „klassischen Walpurgisnacht“

entstehen sollen, eine Beziehung, zum mindesten die des Parallelismus,

waltet. Allegorie bleibt nun auch die Vermählung Fausts mit Helena,

die zuerst als Zwischenspiel einer klassisch-romantischen Phantasmagorie,

also als unwirkliche Handlung, eingelegt werden sollte.

Später betonte Goethe ausdrücklich, daß Helena nicht als Zwischenspielerin,

sondern als Heroine auftreten, als die eigentliche, wahre

Helena auf antik-tragischem Kothurn, d. h. als Gestalt der Dichtung.

Sie zieht, indem sie sich ihm vermählt, Faust in ihre Welt hinüber.

Das arkadische Glück, das Faust mit ihr genießt, fällt deshalb nicht

in die durch den Pakt eingeschlossene Lebenswirklichkeit. Sonst

würde das verweilende Genießen deren Ende bedeuten, gleichviel ob

die Worte „Verweile doch, du bist so schön“ gesprochen werden

oder nicht. Wenn die Wette hier noch nicht verloren ist, so läßt sich

der scheinbare Widerspruch zum Pakt nur auf die Weise aufheben, |#f0213 : 189|



daß eine andere Wirklichkeitsschicht angenommen wird, „eine freiere

Kunst-Region“, wie Goethe gesagt hat. In ihr genießt Faust Helena,

so wie ein Dichter mit seinen Geschöpfen lebt und Leben zeugt.

Jeder Dichter kann der Idee der Helena Gestalt und neues Leben

geben, so daß sie für ihn volle Wahrheit ist und in seiner eigenen

Gestaltgebung sich verwirklicht. Faust, der im Sinn der Lebenstotalität

auch durch die Sphäre der ästhetischen Welt seinen Durchgang

nehmen mußte, ist in der Bindung mit Helena zum Dichter geworden.

Sie ist ideelle Wahrheit, aber im Gesamtorganismus der

Weltdichtung bedeutet diese ästhetische Sphäre eine Welt für sich;

sie besitzt Wahrheit, aber es ist die Wahrheit der Allegorie. Ganz

am Ende tritt der hundertjährige, geblendete Faust wieder in die

symbolische Körperhaftigkeit zurück, und nun erfüllt sich die Wette,

die im symbolischen Sinne verloren ist, im allegorischen aber als

gewonnen gelten darf.



Wenn hier das Verstehen der Dichtung eine Analyse ihrer Wirklichkeitsschichten

notwendig macht, so werden wir fragen, ob denn

auch im unmittelbaren lyrischen Gedicht solche Trennung verschiedener

Realitätsstufen zu beachten ist. Die Verhältnisse liegen anders,

da es sich weder um objektive Charakterdarstellung und Seelenanalyse

noch um objektivierte Schauplätze und Begebenheiten handelt

wie im Drama und Epos. Da der Schauplatz die Seele des Dichters

ist, kommt es weniger darauf an, wie weit alle außerhalb des lyrischen

Ich sich abspielenden Vorgänge der sichtbaren Welt angehören, als

vielmehr auf den Grad innerer Wirklichkeit, auf den unmittelbaren

Erlebnisgehalt und die Intensität der Gefühlsbeziehung. Wenn der

Dichter die Erscheinung eines Geistes wirklich zu erleben glaubte,

so erhält dies Gebilde auch in seiner Darstellung Wirklichkeit.



In die erste Wirklichkeitsschicht gehört bei der Lyrik alles Persönliche,

das als unmittelbares „Du“ in enger Fühlung, im Gegenüber,

Auge in Auge angesprochen wird, also alles, was die Form der

Widmung und Huldigung, des Liebesliedes, des trauernden Nachrufs

in Anspruch nimmt. Ja, man kann sogar Hymnus und Gebet

dazurechnen, wenn die Gegenwart des innerlich geschauten, persönlichen

Gottes oder seines Bildes lebendig wird.



In die zweite symbolisch-bildhafte und mythische Wirklichkeitsschicht

gehört alle Naturdichtung, deren Einfühlung über bloße Beschreibung

hinwegkommt, indem einem schlichten Vorgang tiefere

Bedeutung beigemessen wird (z. B. Goethes „Gefunden“, das in eine

Trilogie mit „Heideröslein“ und „Veilchen“ tritt) oder in und hinter

den Erscheinungen ein höheres Leben von inneren Kräften, Weltseele |#f0214 : 190|



und göttlichem Walten erkannt wird (Klopstocks „Frühlingsfeier“)

oder indem ein Mythus der zur Vereinigung mit dem All aufsteigenden

Sehnsucht des Dichters das Bild gibt (Goethes „Ganymed“). Seitdem

von einer bloß beschreibenden zu einer beseelenden Naturdichtung

zurückgefunden worden ist, hat das „Naturgefühl“ fast jedes

einzelnen Dichters zu Untersuchungen seiner Wesensart die Handhabe

gegeben.



In die dritte, allegorische Wirklichkeitsschicht gehört jedes visionäre

Fernbild und jede Zwiesprache mit einem gedachten Wesen aus

verkörperter Ideenwelt. Die meiste Gedankenlyrik ist, wenn sie sich

nicht auf einfache Sinnsprüche aus der Erfahrung beschränkt oder

Natureindrücke symbolisch ausdeutet, dieser dritten Schicht zuzuzählen.

Schillers „Spaziergang“ wird zum Sinnbild eines Ganges durch

die menschliche Kultur und gehört deshalb auf die symbolische Stufe;

auf der allegorischen dagegen steht „Das Ideal und das Leben“.



Hölderlins Hymnen an die Ideale der Menschheit schließen sich

an; doch wollen sie, wie Paul Böckmann in seinem vortrefflichen

Buch „Hölderlin und seine Götter“ gezeigt hat, von der Schillerschen

Tatwirklichkeit zu einer Seinswirklichkeit übergehen; das gelingt erst

in den späteren Hymnen, in denen nicht mehr abstrakte Ideale zu

besingen sind, sondern die Götter als innere Wirklichkeiten gerufen

und gefeiert werden.



Auch in Rilkes Spätdichtung schichten sich drei Wirklichkeitsbereiche:

der erste ist das Hiesige und Sichtbare, in dem die Dinge,

die Lebenden, die scheinbar Seiendsten, zu Hause sind; der zweite

ist das unsichtbare Reich des anderen Bezugs, das Leidland der Toten,

das zugleich Weltinnenraum, Herzraum und wahres Dasein darstellt;

jenseits des Todes aber liegt der Doppelbereich des Ganzen, das

weder Diesseits noch Jenseits ist, aber vor Gott führt. Orpheus in

den „Sonetten“ gehört zugleich zu den Hiesigen und Jenseitigen; die

Gestalt des Engels hat an allen drei Reichen Anteil: sie erschien

früher als belebtes Ding, das die Form eines plastischen Kunstwerkes

hat (Engel von Chartres), in den „Duineser Elegien“ ist sie ein übergeordnetes

Wesen, das kaum unterscheidet, ob es unter Lebenden

geht oder Toten; drittens aber ist der Engel ein Mittler zu Gott und

erscheint als letzte Wirklichkeit. Immer stellt er für den Dichter

ein Gegenüber dar. Bei Stefan George dagegen im Vorspiel zum

„Teppich des Lebens“ ist der Engel, der als Genius des Dichters das

Lebensgesetz offenbart, ein aus ihm hervorgegangenes erhöhtes Selbst,

und man kann im Zweifel sein, ob diese geistige Existenz als Symbol

oder Allegorie zu gelten hat.

|#f0215 : 191|



c) Sprachform



Der äußerlich sichtbare Unterschied der Zeilenbildung hat, wie wir

sehen, keine Bedeutung für die Trennung von Poesie und Nicht-Poesie;

wohl aber ist er eine Überleitung zwischen den Wirklichkeitsschichten

der Darstellung. Jedes stärkere Rhythmisieren der Sprache hebt

bereits über die einfachen Alltagsvorstellungen hinaus und erhöht

die Wirklichkeit. Schiller erfuhr dies beispielsweise, als er während

der Arbeit am „Wallenstein“ den Übergang vollzog, der zugleich eine

Wandlung zum idealistischen Stil bedeutete. Der Naturalismus kennt

nur Prosa und sucht sogar in der Lyrik mit reimlos freier Rhythmisierung

auszukommen (Arno Holz). Dieser Naturalismus ist nicht erst

eine Mißgeburt des 19. Jahrhunderts. Schon der Zittauer Schulrektor

Christian Weise, der seine theaterspielenden Schüler die Sprache des

Lebens lehren wollte, erklärte: „Ich finde keinen casum im Leben, daß

die Menschen in Versen reden“, und Gottsched verbot die gereimte

Komödie, während er den Tragödienvers gewissermaßen als Ersatz

für eine dem Zuschauer unverständlich bleibende Sprache des biblischen

oder griechischen Altertums zuließ. Bei Shakespeare hat die

Mischung von Vers und Prosa ihren tieferen Sinn, weil sie niedere

und höhere Wirklichkeit scheidet. Deshalb mußte auch Wielands

Prosa-Übersetzung, die den Naturalismus der Sturm- und Drang-

Sprache nach sich zog, in einem Stück eine Ausnahme machen, in den

Elfenszenen des „Sommernachtstraums“. Ebenso verfuhr Bürgers

„Macbeth“-Übersetzung bei den Hexengesängen. Der Vers eröffnet

den Zugang in eine höhere Welt. „Hanneles Himmelfahrt“ von Gerhart

Hauptmann mag anfangs in der vulgären Sprache des Armenhauses

schwelgen, aber als der Fiebertraum des sterbenden Kindes

sich von den irdischen Angstzuständen zur himmlischen Verklärung

erhebt, kann nur der Aufschwung der Sprache dieser Vorstellung

innere Wirklichkeit verleihen.



Auch die Beziehungen zwischen Vers und Gattung sind nicht willkürlich:

Der breite Hexameter ist mit seinem langen Atem zum

epischen Versmaß geschaffen, ja, man konnte geradezu sagen, daß

der Hexameter am großen Epos mitgearbeitet habe. Wenn dagegen

Kotzebue in seiner „Octavia“ dem dramatischen Monolog durch diese

Sprachform römisches Kolorit geben wollte, so konnte er bloß einen

lächerlichen Eindruck erzielen; ebenso ist der Gebrauch epischer

Prunkstrophen in Tiecks „Kaiser Oktavian“ von undramatischer

Wirkung. Der Alexandriner wiederum hat sich in der schwebenden

Musikalität der französischen Sprache als dramatischer Vers bewährt; |#f0216 : 192|



durch die akzentuierende deutsche Vortragsweise wird er dagegen in

klappernde Monotonie umgestimmt, und nur in der Epigrammatik

des 17. Jahrhunderts ist seine zweischenklige Natur, die auch Schiller

als Lockung zur Antithese empfand, schlagkräftig am Platze gewesen.

Ebenso konnte der „alberne Fall und Klang“ zu treffender Charakteristik

überlebter Gespreiztheit mit parodistischer Wirkung verwendet

werden im Zwischenspiel von Goethes „Jahrmarktsfest von

Plundersweilern“ und bei der Erzämterverleihung im zweiten Teil

des „Faust“.



Einer repräsentativen Würde dient der majestätische Gang des

Trimeters, dieser „ernsten, langgeschwänzten Verse des erhabenen

Kothurnstils“, die eine gewisse seelische Ruhelage herstellen. So ist

es in der Montgomery-Szene von Schillers „Jungfrau von Orleans“

und im Helena-Akt des „Faust“, der seinen Vorklang in der Erichtho-

Szene der klassischen Walpurgisnacht, seinen Nachklang im Eingangsmonolog

des vierten Aktes findet.



Die freie Zäsur gab dem aus England eingeführten Blankvers, der

den Alexandriner in Deutschland verdrängt hat, den Vorzug. Aber

erst im Antagonismus zwischen Vers und Satz, im Hinüberfluten

langatmiger Perioden über alle Einschnitte, im jähen Abreißen vor

dem Schluß des Verses und im schlagkräftigen Einsetzen innerhalb

der Zeile wird die tempogebende Ausdruckskraft des Dramenverses

entwickelt. Das Enjambement, das man als Verssprung (Heusler),

Brechung (Saran) oder Verskoppel (Oppert) verdeutscht hat, ist der

Pulsschlag der dramatischen Sprache. Bleibt es dagegen beim harmonisch

gerundeten Gleichmaß von Syntax und metrischer Gliederung,

wie vorzugsweise in Goethes „Iphigenie“, oder findet streitende

Übersteigerung von Gegensätzen in der Stichomythie ihren

Ausdruck, wie sie Schiller der antiken Tragödie nachbildete, so stellt

sich auch beim Quinar sentenzenhafte Wirkung ein.



Eine Gefahr der Monotonie bringt auch der gereimte viertaktige

Trochäus mit sich, der für wuchtige Leidenschaftsentladung zu kurzatmig

ist; der gelähmte Fatalismus des Schicksalsdramas wie die

leichte Fügung der Verskomödie finden in solchem klangreichen

Spiel, das sonst der Romanze eignet, ihre angepaßte Ausdrucksform.

Daneben wird vom Madrigalvers mit seiner Freiheit in Taktzahl und

Reimstellung wie vom Knittelvers mit seiner rhythmischen Mannigfaltigkeit

das geeignete Versmaß für heiteres Spiel und leichte Erzählung

hergegeben.



Alle diese Formen sind in der gewaltigen Polyphonie von Goethes

„Faust“ mit wohlberechnetem Wechsel verwendet. Wo solcher Reichtum |#f0217 : 193|



waltet, findet analytische Untersuchung die schönste Gelegenheit,

den sinnvollen Zusammenhang von Gehalt und Gestalt im Kleinsten

zu beobachten, die gestaltsymbolische Bedeutung der Sprachform zu

ergründen und zu zeigen, wie Kurt May es mit feinfühliger Interpretation

für den zweiten Teil geleistet hat, daß in den Bereichen

der Sprachform sich verschiedenartige Welten und Wirklichkeiten

charakterisieren.



Die sprachliche Darstellungsform des großen Epos kennt dagegen

nur eine Weltschau von sich gleichbleibender Ruhe. Ihr entspricht

das Festhalten eines einheitlichen Metrums, sei es des rhythmisch

bewegten Hexameters, sei es der dynamisch wogenden Stabreimlangzeile,

sei es der mittelalterlichen Reimpaare oder der ins Unendliche

sich schlingenden Terzinen, sei es umfangreicher Strophengebilde

wie der Stanze und der Nibelungenstrophe. Jede dieser Sprachformen

gibt dem Vortrag ein anderes Maß und Kolorit und stellt das

Ganze unter andere rhythmische Gesetze und Ausdrucksmöglichkeiten.

Es wäre indessen undenkbar, daß der eine Gesang eines großen

Epos in Hexametern abgefaßt wäre, der andere in Stanzen, und

dazwischen läge womöglich noch ein Prosakapitel. Schon in Lenaus

„Faust“ und „Savonarola“ bedeutet der Wechsel der Versmaße eine

Preisgabe der rein epischen Haltung und eine Hinwendung zum

Dramatischen oder Lyrischen.



Die ausgeprägten Formgebilde der Lyrik sind in höherem Maße

stimmungsträchtig, so daß geradezu von einem Ethos der Strophenarten

zu sprechen ist. Haben die sapphischen und archilochischen

Strophen einen feierlichen, manchmal klagenden Charakter, die

alkäischen und asklepiadeischen dagegen den des freudigen Aufschwungs,

so ist das Sonett, das Christian Morgenstern dem Schachspiel

verglichen hat, der Ausdruck gebändigter Leidenschaft, das

Triolett gefälliges Spiel, das Ghasel die kunstvolle Arbeit eines

Knüpfteppichs. Von allen lyrischen Formen gilt, daß das verstandesmäßig

und gedanklich Disponierte den Ausgleich in künstlichen Gebilden

sucht, zu denen auch eine schwere Wortstellung gehört, während

der unmittelbarste Gefühlsausdruck sich mit schlichtester

Sprache und einfachster Strophenform, wie im Volkslied, begnügen

kann.



Bei Analyse der Sprachform kommt es weniger auf das an, was sich

sichtbar machen läßt und mit Abzählung der Silben und Takte, der

Längen und Hebungen, mit der Gliederung der Strophe, mit Zäsur

und Reimstellung zu erfassen ist, als auf den hörbaren Eindruck, der

zum Gefühl spricht. Von dem Gitter der Stickerei hängt die Wirkung |#f0218 : 194|



nicht ab, sondern von den Farbentönen der Ausfüllung. Die Qualität

der Reime, das Verhältnis der Laute im Innern des Verses, sei

es durch Gleichklang der Assonanz oder Alliteration, sei es durch Abstimmung

und Steigerung, bringen im Ansteigen oder Absinken der

Tonhöhe eine Melodie hervor, die nun wieder getragen wird durch

die dynamischen Abstufungen der Tonstärke, durch den ansteigenden

oder abschwellenden Rhythmus, der in unaufhörlichem Fluß die

Wiederkehr gleichmäßiger Erscheinungen bringt. Im Einklang mit

dem Sinn- und Gefühlsgehalt der Wörter und Sätze ergibt sich ein

ineinandergehendes Spiel und Widerspiel von Tonhöhe, Tonstärke

und Tondauer, das als Ornamentik verschieden verlaufender, bald

zusammentreffender, bald sich ausweichender metrischer, rhythmischer

und melodischer Kurven schwer auf eine rational faßbare

Linie zu bringen ist. Wenn auch durch die Becking-Kurven eine

Typologie der Taktgebung ermittelt ist, die einen Teil der persönlichen

Ausdrucksart festlegt, so sind die anderen Ausdruckselemente

noch keineswegs mit gleicher Sicherheit charakterologisch erkannt.



Wenn es zwischen Vers und Prosa die mannigfaltigsten Zwischenformen

gibt wie die Reimprosa des Mittelalters, den vers libre der

Franzosen, die rhythmische Prosa und die freien Rhythmen, so ist der

Rhythmus das eigentlich Formgebende. Die freien Rhythmen, mit

denen Klopstock in Hymnen geistlichen Aufschwunges die Sprache

der hebräischen Psalmen, die im Parallelismus ihre Bindung haben,

nachzubilden glaubte, bedeuten eigentlich eine Wiederentdeckung der

Gesetze des germanischen Verses, für den die dynamische Akzentuierung

in freier Taktfüllung ohne Silbenzählung das durch den

Stabreim herausgehobene stärkste Ausdrucksmittel ist. Freier Rhythmus

ist Rhythmus schlechthin, ein Hinströmen in unregelmäßigem

Wechsel von Hebung und Senkung, das in der Wiederkehr gleicher

Erscheinungen seine Gliederung findet. Rhythmus ist erhöhter Pulsschlag

und damit der eigentliche Ausdruck der Seelenregung.



Auch die Prosa hat ihren Rhythmus. Je mehr ihre Wortstellung

von der Umgangssprache abweicht, um starke Ausdrucksworte hervorzuheben;

je gehobener sie verläuft, desto rhythmischer wirkt sie;

je rhythmischer ihre Ordnung ist, desto stärker ist ihre seelische Ausdruckskraft.

Während die antike Rhetorik bestimmte Regeln für die

Gliederung der Sätze (Numerus) und für den Rhythmus des Satzschlusses

(Klausel) aufstellte, deren Weiterwirken Eduard Norden

bis in die Renaissance verfolgt hat, ist die neuere Prosa nicht mehr

rhetorisch normiert. Dagegen fühlt man heute, daß jeder Schriftsteller

seinen eigenen Rhythmus besitzt, der da am stärksten zum |#f0219 : 195|



Ausdruck kommt, wo die persönlichsten Gedanken und Leidenschaften

in Worte gebracht sind. Die Ermittlung des persönlichen Rhythmus

ist Gegenstand vieler psychologischer Untersuchungen gewesen,

die sich zum Teil mit einfacher Abzählung von Hebungen und Senkungen

und mit der Statistik der dabei beobachteten Erscheinungen

begnügten. Über dieses mechanische Verfahren, das in subjektiver

Vortragsweise keine ganz gesicherte Grundlage findet und in der

bloßen Statistik zu keiner Verlebendigung zu gelangen vermag, sind

neuere Versuche, unter denen Dietrich Seckels Untersuchung über

Hölderlins Rhythmus hervorgehoben werden muß, in der Zielsetzung

hinausgekommen.



Ein noch unaufgehelltes Problem liegt im Zusammenhang zwischen

dem Rhythmus des einzelnen Satzes und dem der ganzen Persönlichkeit,

der auch in den größeren Aufbauformen des Kunstwerkes

seinen Ausdruck findet. Was dem einzelnen Satz rhythmisches Gepräge

gibt, setzt sich fort in der Bindung von Perioden, in dem Aufbau

von Strophen, Kapiteln und Akten und in der harmonischen

Gliederung des Ganzen, die dem Ausdruck einer Idee sich anpaßt. Im

Hinblick auf diese Erscheinungen gehört der Rhythmus als Element

unwillkürlicher Formgebung bereits zum Gegenstand der Stilbeobachtung.





7. Der Stil


a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung



Der Stil ist die zugänglichste Schauseite des Werkes, die durch

viele kleine Fenster von außen her Einblick verrät in das Innere.

Das weiteste Feld literarischer Untersuchung liegt in der Stilanalyse;

sie ist die Analyse schlechthin oder die Analyse in zweiter Potenz,

weil das, was ein analysierbares Element des ganzen Werkes bildet,

nun wieder in einzelne Atome zerlegt wird, die in ihrem Verhältnis

zueinander ein Ganzes ausmachen. Deshalb bedarf Begriffliches, Geschichtliches

und Methodisches in diesem Abschnitt sorgfältiger

Klärung und eines weiteren Ausholens. Wir widmen dem Stil einen

eigenen Abschnitt und trennen ihn vorerst von den anderen beiden

Elementen der sechsten Stufe, der weltanschaulichen Haltung und den

Problemen. Auch müssen wir, um die Methoden der Stilforschung

in größerem Umfange zu besprechen, von der durchgehenden Beschränkung

auf die Analyse des Einzelwerkes absehen.



Von der Technik als bewußter Formgebung, die durch überlegte

Wirkungsberechnung geleitet wird, unterscheidet sich der Stil als unwillkürliche |#f0220 : 196|



Formgebung. Innerer Zwang und immanente Gesetze

des Schaffens führen im wahren Kunstwerk zur notwendigen Übereinstimmung

von Idee und Gestalt. Stil kann daher als die fast

automatische Gestaltung unter der Herrschaft der Idee aufgefaßt

werden. Es kann nicht ganz zutreffen, wenn Nadler die Sprache als

das Unwillkürliche, den Stil als das Willkürliche bezeichnet; eher

könnte man beim Künstler umgekehrt die Sprache das Gewollte, den

Stil das Gemußte nennen. Sobald Bewußtheit eintritt, läuft der Stil

Gefahr, zur Manier zu werden: er ist dann entweder Nachahmung

fremden Stiles oder überlegte, mit Willen gesteigerte Handhabung

wiederholt erprobter eigener Stilmittel. In diesem Sinne sah schon

Kants „Kritik der Urteilskraft“ das Manierierte eines Kunstprodukts

in der Sonderbarkeit eines nicht der Idee angemessenen Vortrags,

der prangt und affektiert, um sich nur vom Gemeinen zu unterscheiden.





Kommt die Abhängigkeit von fremder Eigenart zu Bewußtsein,

so kann sie sogar im Gefühl des Überdrusses zur Selbstbefreiung der

Parodie umschlagen. Dieser Vorgang vollzog sich bei Hauffs „Mann

im Mond“, der zunächst eine unbewußte Nachahmung Claurens

bedeutete, bis er mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit und erwachender

Kritik sich zur karikierenden Verspottung des überwundenen

Vorbildes steigerte. Ebenso muß spielerische Übung in einem entlegenen

Zeitstil, wie bei der Maskerade des „Schäfers Dafnis“ von

Arno Holz, mehr oder minder willkürliche Parodie werden.



Ist die eigene Manier eine Überleitung des ungewollten, gemußten

Stiles in handwerksmäßiges Wollen, so wird sie zur bewußten Sprachtechnik.

Was Stil genannt werden darf, ist dagegen unbewußte Technik,

also eingeborene Gestaltungsgabe und ausgebildeter Formsinn,

der aus Temperament, Stimmung, Eingebung, Natur und Geschmacksentwicklung

des Gestalters hervorgeht.



Der Begriff des Stiles, der an die ursprüngliche Wortbedeutung

des Schreibgriffels (griech. stỹlow) anzuknüpfen ist, war zunächst

auf das Schrifttum beschränkt. Die Stilistik wurde ein als lehrbar

aufgefaßtes System aller kunstmäßig angewandten Sprachformen und

grammatisch-rhetorischen Figuren. Nachdem seit Buffon in der

individuellen Schreibart die Ausprägung des Charakters beobachtet

werden konnte (Le style est l'homme même), hat die Graphologie

als Mittel der Charaktererkenntnis wieder eine Verbindung mit der

ursprünglichen Bedeutung hergestellt, aber in dem Sinne, daß der

einzelne Mensch mit allen seinen Lebensäußerungen eine Einheit

bildet, so daß zwischen seiner Handschrift, seiner Schreibweise, seiner |#f0221 : 197|



Physiognomie, seinen Ausdrucksbewegungen, seinem Charakter und

seinen Handlungen unlösbare Übereinstimmung herrscht.



Von einem Werk der Natur, einem Berg, einem Baum, einer Blume

wird man, so schön die Form ist, nicht sagen, daß es Stil habe, weil

beim Naturschönen die organische Geschlossenheit als etwas Selbstverständliches

empfunden wird. Berg, Baum, Blume werden stilisiert,

sobald sie zu künstlerischer Gestalt gelangen. Beim Kunstschönen ist

der Stilbegriff erfüllt, wenn es etwas Naturhaftes in seiner Einheitlichkeit

darstellt. Zum Stil gehört jene Freiheit der Erscheinung, in

der Schiller die Formel der Schönheit zu finden glaubte. Man kann

Stil das relative Schönheitsideal jedes Zeitalters nennen. Überall da

ist die Bezeichnung Stil anzuwenden, wo eine Einheit in der Vielheit

erkennbar ist und in allen Gliedern eines Ganzen ein sich gleichbleibendes

Formgepräge in Erscheinung tritt. So konnte auch ein

Maler wie Anselm Feuerbach den Begriff des Stils als „Das richtige

Weglassen des Unwesentlichen“ erfassen.



Längst ist der ursprünglich auf die Schreibweise beschränkte Stilbegriff

auch auf die anderen Künste übergegangen. Bei ihnen ist die

Einheit der Ausdrucksformen als unmittelbarer Sinneseindruck sogar

schneller zu erfassen als in der Dichtung; diese greifbare Einheit

kann deshalb deutlicher als Ausdruck einer Weltanschauung betrachtet

werden. Das gilt von Malerei und Musik, vor allem aber von der

Architektur, die jederzeit das führende und ausgesprochenste Kennzeichen

des Stilwillens einer Kultur gewesen ist. Nicht nur in Tempeln

und Kirchen, sondern auch in Profanbauten erstehen Symbole,

die der Weltanschauungsrichtung eines Zeitalters natürlichen oder

krampfhaften Ausdruck geben, und im Stil eines Zeitalters spiegelt

sich seine Glaubens-, Gefühls- und Vorstellungsgemeinschaft. Wo sie

nicht vorhanden ist, kann kein echter Stil gedeihen, denn auch der

Einzelne tritt in seiner Ausdruckseigenart aus der Gemeinschaft hervor;

er wächst aus Volk und Zeit heraus.



Für die bildende Kunst wurde seit Winckelmann der Stilbegriff

nicht mehr als individueller Persönlichkeitsausdruck angesehen, sondern

als zeitliche und nationale Bedingtheit größerer Einheiten. Der

kunstgeschichtliche Stilbegriff führte weiter zum soziologischen und

geistesgeschichtlichen, indem der Stil zunächst auf den Nationalcharakter

und dieser wieder auf Klima, Landschaft, Lebensweise

zurückgeführt wurde. Es ergaben sich Gleichungen von griechischer

Dichtung, griechischer Kunst, Musik, Philosophie, Religion, Politik.

In den Ausdrucksformen desselben Menschentypus schied man einen

dorischen, einen ionischen, einen korinthischen Stil nach den Formen |#f0222 : 198|



der Säule und des Kapitäls und gelangte im Hinblick auf landschaftliche

und zeitliche Unterschiede zur Abstraktion eines dorischen,

ionischen, attischen, alexandrinischen Menschen, von denen jeder auf

seiner Entwicklungsstufe als Repräsentant einer bestimmten Stilperiode

gelten durfte.



Mit der weiteren Abstraktion eines romanischen, gotischen,

Renaissance-, Barock- und Rokokomenschen, eines Klassikertypus und

eines Romantikers kamen wieder literarische Anwendungen zum Übergewicht,

weil von der Literatur aus weit mehr Material zur psychologischen

Erschließung solchen Menschentums dargeboten werden

konnte als von den anderen Künsten.



Bei der geistesgeschichtlichen Gliederung nach gleichlaufenden

Zeitströmungen erwies sich indessen der Mensch eines Zeitalters als

national verschieden; nicht nur die Literaturen, sondern auch die

anderen Künste führten zu gleicher Zeit verschiedene Sprachen; die

deutsche Renaissance erscheint als verkappte Gotik oder als vorgefühlter

Barock; die deutsche Klassik gilt den anderen Völkern als

Romantik; die französische oder italienische Romantik mutet uns als

entstellter Klassizismus an. In dieser Perspektive treten Gotisch und

Romantisch als vorzugsweise germanische Ausdrucksformen zusammen,

während Renaissance und Klassizismus ihrem Ursprung und ihrer

Haltung gemäß als etwas dem Germanischen Entgegengesetztes erscheinen.

Man konnte sogar soweit gehen, die Renaissance als die

italienische Romantik, die Romantik als die deutsche Renaissance

zu bezeichnen.



Die Teilung in die drei großen Kategorien Personalstil, Epochalstil,

Nationalstil erschöpft noch keineswegs alle Möglichkeiten. Wenn

nach Schopenhauer der Stil als Physiognomie des Geistes zu betrachten

ist, so können damit noch manche andere Erscheinungsformen des

objektiven Geistes gemeint sein, die sich zu großen überindividuellen

Ausdruckseinheiten zusammenschließen, wie Landschaft, Generation,

Gesellschaft, Volk, Zeitalter, Rasse. Überall da, wo von einem Menschentypus

zu sprechen ist, der eine in Raum oder Zeit zusammengeschlossene

Gemeinschaft repräsentiert, erscheint als äußere Ausprägung

dieser geistigen, seclischen, gesinnungsmäßigen und weltanschaulichen

Einheit der Stil. Die genannten Einheiten sind Hypostasen

des Stils, und man kann von Volks- und Zeitgeist, von Stammes-

und Rassenseele nur insoweit sprechen, als sie in Nationalstil, Zeitstil,

Stammesstil und Rassenstil, wie in Nationaltypus, Zeittypus,

Stammestypus und Rassentypus zum äußeren Ausdruck kommen.



Man hat auch Gattung und Material als Bedingungen des Stils ansehen |#f0223 : 199|



wollen, aber dabei fehlt der Mittelpunkt geistiger und seelischer

Einheit; beim sogenannten Gattungsstil der Dichtung wie beim

Materialstil der bildenden Kunst scheint eine Verwechslung mit dem

Begriff der Technik vorzuliegen. Wenn es richtig ist, daß naturalistischer

und realistischer Stil vornehmlich in der Erzählung, romantischer

und impressionistischer Stil in der Lyrik, klassischer und

expressionistischer Stil im Drama zu betonter Auswirkung gelangen,

so liegt es daran, daß die Technik jeder dieser Gattungen dem einen

oder andern Stil günstigere Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit

bietet. Der Stil ist deshalb seinem Wesen nach keineswegs durch die

Gattung bedingt; vielmehr verhält es sich eher umgekehrt, daß der

Stilwille die Wahl der Gattung bestimmen kann.



Dagegen kann eine Anwendung des Begriffes Stil auf kleinere Einheiten

vor sich gehen, denn auch innerhalb des Gesamtwerkes eines

Schöpfers hat jedes einzelne Stück eigenen Geist und seinen eigenen

Stil, der in Harmonie zwischen Form und Gehalt besteht. Zwischen

Gesamtwerk und Einzelwerk aber liegen wieder Einheiten in den

Altersstufen derselben Persönlichkeit. Das Werk des jungen Goethe,

das des reifen, das des alten stellen drei verschiedene Stilgebilde dar.

Der junge Goethe fällt mit dem Sturm und Drang zusammen, dessen

Stil schlechthin Ausdrucksform der Jugend war und sich wandeln

mußte, als die Altersgenossen alterten. Der reife Goethe verkörpert

die Klassik; dieser Stil ist schlechthin Ausdruck der Lebenshöhe;

man kann als Jüngling keinen klassischen Stil schreiben, ohne epigonenhafter

Nachahmer zu sein; höchstens kann sich im echt Jugendlichen

bereits eine Anlage zu späterer klassischer Formung verraten.

Der alte Goethe stimmt in manchen Zügen mit der Romantik zusammen,

aber der romantische Stil seiner Zeit ist Ausdrucksform einer

neuen Jugend, von der der alte Goethe durch eine oder mehrere

Generationen getrennt war. Es tritt also jenes Problem in Erscheinung,

das Wilhelm Pinder als Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

bezeichnet hat. Der Stil des alten Goethe ist Altersromantik, die in

manchen Zügen wieder zum eigenen Jugendstil zurückkehrt, so daß

eine Kreuzung von Personalstil und Zeitstil eintritt.



Goethe selbst hat in seinen „Maximen und Reflexionen“ jedem

Alter eine bestimmte philosophische Haltung zugeschrieben: dem

Kind den Realismus, dem Jüngling den Idealismus, dem Mann die

Skeptik, dem Greis die Mystik. Damit ist zugleich jeder Lebensstufe

ein eigener Stil zugestanden. Auch Rilke vergleicht in einem Brief

vom 26. Dezember 1911 die Sprache des Einundzwanzigjährigen einem

dünnen, durchdringenden Schrei: „Die Entwicklung wird immer die |#f0224 : 200|



sein, daß man sich die Sprache voller, dichter, fester macht, und

dies hat freilich nur dann Sinn für einen, der sicher ist, daß auch der

Schrei in ihm unablässig, unaufhaltsam zunimmt, so daß er später

unter dem Druck unzähliger Atmosphären aus allen Poren des fast

undurchdringlichen Mediums gleichmäßig austritt.“ Im Hinblick auf

solche selbstbeobachteten Wandlungen kann man nicht gut mit Josef

Nadler den Altersstufenstil überhaupt leugnen, auch wenn die Grenzen

nicht immer ausgesprochen sind und der eine Dichter größere,

der andere, wie z. B. der frühreife Hofmannsthal, geringere Entwicklungen

zu durchlaufen hat. Vielmehr kann man mit Nicolai

Hartmann in Stilwandlungen geradezu ein Kennzeichen der Genialität

finden, während Wandlungen der Manier als Sache des Talentes zu

betrachten sind.



Jede der Altersstufen läßt außer ihren Besonderheiten etwas dem

Schöpfer Eigenes, durch alle seine Werke Durchgehendes erkennen.

Diese Ausdrucksmittel, die seiner Person angehören, stellen aber vor

die Frage, wie weit sie durchaus individuell sind oder anderen größeren

Einheiten zugerechnet werden können, die entweder schon in

der Anlage des Einzelnen herrschten oder durch seinen Bildungsgang

von ihm Besitz ergriffen haben. Auf der einen Seite steht als

stilbestimmend die Herkunft nach Heimat, Stamm, Rasse, Volkstum

und sprachlicher Tradition; dieses Erbgut kann sich im Laufe der

Entwicklung verstärken oder verlieren. Auf der anderen Seite steht

die Bildung; es kann Wandel bewirkt werden durch das Erlebnis

einer großen richtunggebenden Persönlichkeit, durch Welterfahrung,

durch Einleben in fremde Sprachen, durch Nachbildung ihrer Eigentümlichkeiten,

durch Aneignung und Übertragung ihrer Ausdrucksmittel,

aber auch durch Rückkehr auf frühe Sprachstufen des eigenen

Volkes, sei es in bewußter Archaisierung, sei es in spontaner Wiederbelebung.

Auch die Auffrischung durch Mundartliches aus anderen

Landschaften kann stilistische Bereicherung bringen. So hat Luther

der deutschen Sprache Stil gegeben, indem er den Reichtum verschiedenster

Tendenzen zur Einheit zusammenfaßte.



b) Methodische Richtlinien



Die Stilanalyse des einzelnen Werkes führt uns wieder auf die

Reihenfolge von Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung zurück. Das

erste ist die Bestandsaufnahme aller Stilmittel, die in dem zu analysierenden

Werk in Erscheinung treten; für ihre Ordnung ist vollkommene

begriffliche Klarheit der Bezeichnungen unerläßlich. Das |#f0225 : 201|



zweite ist die Feststellung, was an diesen Stilmitteln echt, ursprünglich,

erlebt oder erborgt, anempfunden und nachgeahmt ist. Diese

Ermittlung ist nicht ohne Kenntnis der Zeitstile und ihrer charakteristischen

Formen möglich. Das dritte ist die Beobachtung der Funktion,

die diese Stilmittel im Organismus des Kunstwerkes erfüllen.

Es handelt sich um das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen und

um die Bedeutung, die ihnen im Sinn der Gesamtwirkung zukommt.

Eine mechanische Statistik der einzelnen Stilelemente würde mit

Errechnung ihres prozentualen Zahlenverhältnisses Wesen und Wirkung

des Stiles niemals voll erfassen. Viel bedeutsamer als die Quantität

ist die Intensität, die von der Echtheit, Ursprünglichkeit und

Eigenprägung abhängig ist; auch kommt es auf die Bedeutung des

Platzes an, an den bestimmte Stilmittel gesetzt sind. Es wäre z. B.

ganz verkehrt, in einem Roman die Sprache des Erzählers und die

des indirekt charakterisierenden Dialoges auf eine Stufe zu stellen;

ebenso ist im Drama die Sprache einzelner Personen zu unterscheiden.

Das vierte wäre endlich die Zurückführung der Stilform auf

Lebenslage, Weltanschauung und Persönlichkeit des Dichters, was zugleich

eine Erfassung seines Altersstufen- und Personalstils in sich

schlösse.



Jedes einzelne Stilelement, vor allem in der Bildlichkeit der

Sprache, ist aus einer Kreuzung von verschiedenen Grundrichtungen

hervorgegangen, ebenso wie die Weltanschauung eines Menschen sich

aus Anlage, Temperament, Erlebnissen und großen Eindrücken gebildet

hat. Eine Analyse des Einzelwerkes, die jedem einzelnen Stilelement

seine Zugehörigkeit zuweisen wollte, müßte eine Verteilung

auf die verschiedenen Kategorien vornehmen, die in folgendem

Schema ineinandergefügt sind:



Zeitwandel
EinzelwerkLebensstufeAltersgemeinschaftPeriodeZeitalter
Einzelwerk12
Person34
Heimat5678
LebensraumStamm9101112
Sprachgemeinschaft13141516
Rasse17181920
|#f0226 : 202|



Man darf dieses Schema keineswegs so verstehen, als ob ein

einzelnes Werk 20 verschiedene Stile haben könnte. Es hat nur einen

einzigen Stil, aber zu diesem Besitz melden sich von rechts und links

die Teilhaber. Der Dienst, den das Schema bei der Verteilung tun

kann, ist in der Art eines Filtersystems zu denken, in dem zunächst

alle Stilelemente, die sich bei der Analyse ergeben haben, in das erste

Fach eingefüllt werden. Was darin verbleibt, sind Stileigentümlichkeiten,

die bei keinem anderen Werk in gleicher Weise hervortreten

und die daher den Werkstil charakterisieren. Was auch in anderen

Werken, die aus derselben Lebensstufe des gleichen Dichters stammen,

zu finden ist, wird in das zweite Feld übernommen; es charakterisiert

den persönlichen Lebensstufenstil (Jugendstil, Reifestil,

Altersstil). Was gleichbleibend in den Werken sämtlicher Altersstufen

desselben Dichters zu finden ist, geht in Feld 3 über und charakterisiert

den Personalstil. Übereinstimmungen mit einzelnen Werken

gleichzeitig wirkender Altersgenossen gehören in Feld 4 und bilden

Kennzeichen des Generationsstils. Was in Werken, die aus derselben

Landschaft stammen, sich als gemeinsamer Brauch einer Lebensstufe,

einer Altersgemeinschaft, einer bestimmten Periode oder eines ganzen

Zeitalters darstellt, ist als heimatlicher Lebensstufenstil (5), als heimatlicher

Generationsstil (6), als heimatlicher Epochalstil (7) oder

als Heimatstil schlechthin (8) zu erkennen. Wenn in Werken stammverwandter

Dichter auf einer bestimmten Lebensstufe (9), in einer

bestimmten Altersgemeinschaft (10), einer bestimmten Periode (11),

einem ganzen Zeitalter (12) sich dieselben Stileigentümlichkeiten

finden, so ergeben sich Spielarten des Stammesstiles. Was sich innerhalb

derselben Sprachgemeinschaft als Symptomatik einer Lebensstufe

(13), einer Generation (14), einer Periode (15), eines Zeitalters (16)

ermitteln läßt, ist als verschiedenartige Abstufung des Nationalstils

zu betrachten. Wenn endlich rassische Eigenart auf einer bestimmten

Lebensstufe (17), in einer bestimmten Altersgemeinschaft (18), in

Perioden (19) oder Zeitaltern (20) hervorsticht, kennzeichnen sich

damit die Merkmale des Rassestils.



Sind nun in jedem Werk echten Stiles alle bedingenden Faktoren

von der Altersstufe bis zum Zeitalter, von der Heimat bis zur Rasse

in gewisser Weise vertreten, so lassen sich die größeren Einheiten

natürlich nicht aus der Betrachtung des Einzelwerkes gewinnen; sie

müssen vielmehr ihren Ausweis erbringen, um an der Teilung teilnehmen

zu können; sie müssen begrifflich feststehen, um in der

Analyse erkannt zu werden. Bei den sprachgeschichtlichen Kategorien

des Zeitwandels ist leichter zu faßbaren Ergebnissen zu gelangen als |#f0227 : 203|



bei den unwandelbaren Einheiten des Lebensraums; so liegen die

Schwierigkeiten für die Erfassung des dichterischen Rassestils gerade

in der Wandelbarkeit und Mannigfaltigkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel.

Die Probleme sind da, aber sie sind noch lange nicht

als gelöst zu betrachten. Die Einheiten stellen sich erst im Vergleich

her, der mit Werken anderer Personen, anderer Landschaften,

anderer Stämme, anderer Zeitalter, anderer Sprachen, anderer Rassen

vorgenommen wird und Gemeinsames wie Gegensätzliches in Erscheinung

treten läßt. Es gilt die Regel Goethes:



Willst im Unendlichen zurecht dich finden,

Mußt unterscheiden und dann verbinden.


Ein unendlich langer Weg liegt vor uns. Für die Analyse des Einzelwerkes

können die verbindenden Begriffe nicht eher nutzbar gemacht

werden, als bis ihr Umfang durch unzählige Einzeluntersuchungen

in allen Wesenszügen gesichert ist. Erst wenn die Einheiten in den

nur ihnen eigenen charakteristischen Ausdrucksformen erkannt sind,

kann das, was heute erraten wird, Gegenstand wissenschaftlichen

Beweises werden; dann kann die Analyse des Einzelwerkes bis zu allen

stilistischen Eigenschaften der Rasse und des Zeitalters, der Nation

und der Periode, des Stammes und der Generation, der Heimat und

der Lebensstufe vordringen, um die sprachliche Stilart des Werkes

wie des Verfassers bis zu den letzten wahrnehmbaren Kennzeichen

zu bestimmen. Diese Feststellung wäre, wenn alle Eigenheiten bekannt

wären, auf den umgekehrten Weg, als er in obenstehendem

Schema vorgezeichnet ist, angewiesen; die Reihenfolge würde dann

von den allgemeinen Stilelementen zu den individuellen hinführen.



Die Handhabung dieser Erkenntnis kann zu einem einfühlenden

Verstehen der künstlerischen Form gelangen, die man beinahe einem

Nachschaffen gleichsetzen darf; aber sie wird niemals schöpferisch.

Es ist unmöglich, auf diesem Wege unter Entäußerung des eigenen

Stils den eines anderen bis zur Verwechslung nachzubilden, so daß

das Ergebnis keine Parodie, sondern ein persönlich geprägtes Stilgebilde

würde. Umgekehrt aber sollte jede Nachbildung durch die

Mittel kritischer Stilanalyse als unecht zu entlarven sein. Die letzten

erreichbaren Möglichkeiten bestünden darin, jedes einzelne Werk zeitlich

und räumlich zu bestimmen und sogar einem bestimmten Verfasser,

falls er in seiner unverstellbaren Eigenart bekannt ist, ein

Werk zuzusprechen, zu dem er sich selbst nicht bekannt hat. Man

müßte ihn aus dem Stil heraus überführen können, so wie den Verbrecher

sein Fingerabdruck verrät. Ex ungue leonem! Das dürfte |#f0228 : 204|



allerdings nur bei Stilisten ausgesprochenster und im Wesentlichen

sich gleichbleibender Eigenart sich erfüllen. Gleichwohl müßte das

Ziel der literarischen Stilforschung in einer Treffsicherheit bestehen,

wie sie die Wissenschaft auf anderen Gebieten, auf dem der bildenden

Kunst und der Musik, bereits beansprucht.



Die oben verzeichnete Flächenprojektion ist nun noch zu ergänzen

durch eine dritte Dimension, die auf dem Papierblatt nicht graphisch

verdeutlicht werden konnte. Es mögen in parallelen Ebenen die Stilmittel

anderer Künste mit gleicher Schematik auf die Fläche gebracht

werden. Bei universalen Schöpfern auf verschiedenen Kunstgebieten

(Michelangelo, Niklas Manuel, Salomon Geßner, E. Th. A. Hoffmann,

Otto Ludwig, Adalbert Stifter, Dante Gabriel Rosetti, Ernst Barlach,

Kurt Kluge, Ruth Schaumann) ergibt sich aus der Zusammenlegung

und Deckung die Erkenntnis eines Personalstils, der über die Ausdrucksmittel

der einen Kunst hinaus sich als Formprinzip derselben

Persönlichkeit erfassen läßt.



Auf diese Weise kann auch eine gewisse Stilgemeinschaft gleichaltriger

Landsleute, etwa der beiden Schlesier Adolf Menzel (geboren

1815) und Gustav Freytag (geboren 1816) als Grundlage eines Heimatstils

ans Licht treten, wie ihn beispielsweise Paul Krannhals als

organischen Faktor der Kunstentwicklung dem Zeitstil überordnen

wollte. Oder man kann mit Wilhelm Pinder eine Gemeinschaft

zwischen weitentlegenen Altersgenossen, die auf verschiedenen Kunstgebieten

schufen, als Generationsstil feststellen, so zwischen Beethoven,

Thorwaldsen, Hegel und Hölderlin, die alle vier 1770 geboren

sind, und sogar zwischen Wilhelm Heinse und Goya, die das Geburtsjahr

1746 gemeinsam haben. Ein anderer Geistesgeschichtler der

Kunstforschung, Max Dvořak, war schon mit einer Parallele zwischen

Pieter Breughel und Shakespeare als Manieristen vorangegangen; aber

da er den Vater meinte, während der Sohn mit Shakespeare gleichaltrig

war (geboren 1564), so kann von ausgesprochenem Generationsstil

nicht mehr die Rede sein. Dagegen darf die von Witkop durchgeführte

Gleichung zwischen Beethoven und Heinrich von Kleist trotz

des Altersunterschiedes von sieben Jahren wohl gelten; beide haben

in ihrem Stil eine Zwischenstellung zwischen Klassik und Romantik.





Es offenbaren sich Gemeinsamkeiten der Richtung im Barockstil

der bildenden Kunst wie in dem der Literatur. Marinismus, Gongorismus,

Preziösentum, Euphuismus und Schwulststil bilden italienische,

spanische, französische, englische, deutsche Spielarten des literarischen

Zeitstils, der schließlich nicht nur in der bildenden Kunst, |#f0229 : 205|



sondern auch in der Musik, vor allem in der Oper, sein Gegenstück

findet. Andererseits treten Gleichheiten zwischen zeitlich getrennten

Erscheinungen wie Händel und Klopstock oder Mozart und Grillparzer

als Stammesstil hervor. Es kann sich auch eine mehr durch Erziehung

und politische Willenskraft als durch Stammeserbteil geprägte

Lebensform als Staatsstil herausbilden, wie ihn Moeller van

den Bruck im „preußischen Stil“ charakterisiert hat. Daneben aber

steht gewachsene Eigenart, die sich in Jahrhunderten gleichbleibt.

Der mittellateinische Philologe Paul von Winterfeld wollte sogar in

dem Latein der Nonne Hrotsvith von Gandersheim eine niedersächsische

Heimatkunst erkennen und einer Übersetzung ins Plattdeutsche

allein die stilgemäße Wiedergabe ihrer Wesensart zubilligen.



Übersetzungen aus einer Sprache in die andere, die mehr oder

weniger Umarbeitungen sind, offenbaren die Unterschiede des Nationalgeists

aufs deutlichste nicht nur in der ethischen Auffassung,

sondern auch in der Ausdrucksweise. Das springt heraus bei einem

Vergleich des französischen Rolandsliedes mit dem deutschen des

Pfaffen Konrad oder der Artusromane des Christian von Troyes mit

Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach. Gemeinsam ist

wiederum diesen mittelalterlichen Werken beider Nationen ein Zeitalterstil,

der sie von Dichtungen des Altertums und der Neuzeit

abhebt, aber mit Kunstdenkmälern ihrer Zeit zusammentreten läßt.

Für ein späteres Jahrhundert konnte so Richard Alewyn in der

Antigone-Übersetzung des Martin Opitz die Kennzeichen eines vorbarocken

Klassizismus aufzeigen, der in der bildenden Kunst

Parellelen findet.



Aufschlußreich sind Übertragungen aus dem Gebiet der einen Kunst

in das einer andern, z. B. beim Bildgedicht, bei der Programm-Musik,

bei der Illustration. Die Kompositionen des „Faust“ durch Berlioz,

Gounod und Busoni wie die Faustillustrationen von Delacroix stellen

sich im Gegensatz zu Schumann und Liszt oder zu Cornelius als

Romanisierungen dar; der Vergleich führt auf alle Merkmale des

verschiedenartigen Nationalstils hin.



Der Nationalstil ist nach Nietzsche die Einheit in allen Lebensäußerungen

eines Volkes und somit gleichbedeutend mit seiner Kultur.

Für die Dichtung geht der Nationalstil restlos auf in der

Sprache, denn sie ist der totale Stilausdruck des Nationalgeistes. So

hat Karl Voßler in einem geistreichen Aufsatz, der früheren Gedanken

Wilhelm v. Humboldts folgt, die Nationalsprachen als Stile

betrachtet und somit einen umfassendsten literarischen Stilbegriff

aufgestellt. Darüber hinaus kann es sich nur noch darum handeln, |#f0230 : 206|



Sprache mit Sprache, Kultur mit Kultur, Nationalgeist mit Nationalgeist

zu vergleichen, wie es Eduard Wechßler an Hand der beiden

Wörter „Esprit“ und „Geist“ versucht hat.



Über die Nationalitätsunterschiede hinaus kann schließlich die

Übereinanderschichtung gleichartiger Ausdruckswerte in verschiedenen

Künsten auf rassische Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit hinweisen.

Daß der Barockstil in allen seinen Erscheinungen auf den

dinarischen Menschen zurückzuführen sei, ist eine noch nicht bewiesene

Hypothese Hans F. K. Günthers, die den Nachweis voraussetzen

würde, daß in den bayrisch-österreichischen Alpenländern wie in

Italien und Spanien von jeher barock gebaut, gemalt, komponiert

und gedichtet worden sei und die zu dem Zirkelschluß führen könnte,

alle Dichter und Künstler, bei denen sich schon vor dem 17. Jahrhundert

barocke Stilelemente finden (z. B. Wolfram von Eschenbach und

Matthias Nithard gen. Grünewald) seien Dinarier gewesen. Dagegen

hat Günther selbst in dem Bildnis Hofmannswaldaus, des ausgesprochenen

Hauptvertreters der deutschen Barockdichtung im 17. Jahrhundert,

vorwiegend ostische Züge feststellen müssen.



Solche Einwände gegen voreilige Verallgemeinerungen können die

Problemstellung des Rassestiles nicht erschüttern, die sogar bis zu

einem Erdteilstil weiterzuführen ist. Ein europäischer Stil erscheint

als geschlossene Einheit, wenn man seine Gestalt mit den auf

andere Arten des Sehens, Hörens, Denkens und Fühlens begründeten

Formen ostasiatischer Architektur, Malerei, Musik, Dichtung

und Bühnenkunst vergleicht. Ebenso sind rassische Anteile und

Einflüsse der Neger und Indianer in nordamerikanischer Musik,

wie in Tanz und Mimik erkennbar. Andererseits zeigen sich kaum

begreifliche Übereinstimmungen zwischen der Kunst unzusammenhängender

Erdteile wie beispielsweise den alten Ägyptern und der

mexikanischen Maya-Kultur. Auch in frühgeschichtlichen Zeitaltern,

aus denen keine Dichtung auf uns gekommen ist, haben Rassenunterschiede

im Kunsthandwerk und Hausbau ihre Spuren hinterlassen.





Die Analyse des Wortkunstwerks kann sich indessen lediglich auf

die Sprachform als unmittelbares Beobachtungsmaterial stützen, während

die weitergehenden Stilbegriffe nur vergleichsweise im Auge

zu behalten sind. Jede sprachliche Stiluntersuchung geht methodisch

in die Irre, wenn sie sich gleich auf alle möglichen Parallelen stürzt,

statt zunächst bei dem zu bleiben, was ihr zugewiesen ist.



Um der Untersuchung des Sprachstils Sicherheit zu geben, bedarf

es nun aber eines geschärften Unterscheidungsvermögens und einer |#f0231 : 207|



eindeutigen begrifflichen Klarheit über die Ausdrucksformen, die es

zu beobachten gilt. Ein System der Stilistik tut not. Geschichtliche

Stilbetrachtung erfordert sogar eine Beleuchtung von verschiedenen

Seiten her, sowohl von jener Stilistik aus, die für Entstehungsraum

und -zeit maßgebend war, als auch von heutigen Begriffen der Sprachkunst,

die für die Gegenwart allgemeine Gültigkeit haben können.

Wenn die ältesten Lehrbücher als Beispielsammlungen von Stilmustern

zur Übung in der Sprachkunst bestimmt waren, so können wir sie zu

diesem Zweck heute nicht mehr benutzen, wohl aber eröffnen sie das

Verständnis fremdartiger Formen. So kennen wir aus den altindischen

Poetiken die Bedeutung der Tropen und Figuren, die das Unausgesprochene

zu dem Ausgesprochenen hinzudenken lassen, und Snorris

Skaldskaparmal gibt uns einen Schlüssel für die Verschnörkelungen

der nordischen Skaldendichtung.



Das andere aber, was not täte, das für alle Zeiten und Völker

anwendbare allgemeine System des poetischen Sprachstils und der

dichterischen Ausdrucksformen, fehlt uns. Für eine vollständige,

übersichtliche, geistig gegliederte, in den Sinn der Stilformen aller

Sprachen eindringende, Ursache und Wirkung in Zusammenhang bringende,

grammatisch, ästhetisch und psychologisch begründete Systematik

des Stiles, eine poetische Sprachtheorie, deren Gültigkeit der

Musiktheorie entspräche, ist noch kein Schlüssel gefunden, und es ist

die Frage, ob dieser Stein der Weisen zu gewinnen ist.



c) Wege der literarischen Stilforschung



Die bisherigen Versuche, das fruchtbare Land zu erschließen, kann

man mit einem Eisenbahnnetz vergleichen, das in eingleisigen, zweigleisigen,

mehrgleisigen Linien verläuft.



Der eingleisige Betrieb dient dem Sammelverkehr, der als endloser

Güterzug die Gaben aller Länder daherschleppt. Die Aufschriften,

die den Inhalt der Wagen bezeichnen, führen die fremdesten Namen:

lateinische wie Annominatio, Inversion, Akkumulation; griechische

wie Hendiadyoin, Metapher, Zeugma, Klimax, Amphibolie oder

Anakoluth; halb lateinische, halb griechische wie constructio katà

sýnesin; französische wie calembours, équivoques und mot propre;

italienische wie concetti; nordische wie kenningar. Der alte Typus

der Stilforschung, der noch an die Lehrbücher gebunden ist, häuft

Beispiele zu einem Herbarium gepreßter Stilblüten ohne Pflanzenbiologie.

Das Brauchbarste liegt oft im Register; die alphabetische |#f0232 : 208|



Anordnung eines stilistischen Reallexikons, das alle Bezeichnungen

erklärte und durch Beispiele erläuterte, würde vielleicht dem praktischen

Zweck besser genügen, als der immer wieder fehlgeschlagene

Versuch, ein in sich einheitliches und vielseitiges, übersichtliches

und vollständiges System herzustellen.



Die Methoden, nach denen man die einzelnen Wagen des Güterzuges

zu verkoppeln unternahm, haben gewechselt. Am bedeutendsten

war Gustav Gerbers Unternehmen, die „Sprache als Kunst“ sprachphilosophisch

zu erklären, ohne auf die Grundlagen der antiken

Rhetorik und Stilistik zu verzichten (1871; 2. Aufl. 1885); dagegen

füllte Rich. M. Meyers „Deutsche Stilistik“ (2. Aufl. 1913) reiche Belesenheitsfrüchte

in grammatisch-syntaktische Kategorien ohne rechte

logische Folge; Ernst Elsters „Prinzipien der Literaturwissenschaft“

suchten im ersten Band (1897) ebenfalls grammatische Grundlagen;

die Umarbeitung des fünften Kapitels zum zweiten Band (1911)

erstrebte eine folgerichtige Ordnung nach den Vorgängen des dichterischen

Schaffens, aber die psychologische Orientierung nach dem

Wundtschen System kommt dem praktischen Gebrauch der Werkanalyse

nicht entgegen, sondern bedeutet für diesen Zweck eher die

Abstellung auf einem toten Geleis.



Eine andere Art psychologischer Unterbauung fand die Stilistik

neuerdings bei Romanisten und Anglisten. Emil Winkler unternahm

es, die seelischen Werte der sprachlichen Gebilde unter den Gesichtspunkten

der Sprachdenklehre und der symbolischen Lautung auf dem

Boden der Einfühlungsästhetik zu ordnen. Dabei wurde eine Loslösung

von den erstarrten Stilfiguren der antiken Rhetorik vollzogen

nach dem Grundsatz, daß jede Einzelsprache aus ihrer Struktur heraus

verschiedenartige Stilbilder schafft. Die Aufsatzsammlung Leo

Spitzers hat diesen Gedanken in zwei Bänden, die „Sprachstile“ und

„Stilsprachen“ betitelt sind, durchgeführt. Etwa gleichzeitig hat Max

Deutschbein eine „Neuenglische Stilistik“ geschrieben, die sogar ein

„Wörterbuch nach stilistischen Gesichtspunkten“ enthält. Die Forschung

scheint also heute auf isolierte Behandlung jedes Sprachstils

gerichtet zu sein. Aber wenn Spitzers Zuspitzung gelten soll, wonach

alle Grammatik nichts anderes als gefrorene Stilistik sei, so muß

innerhalb der allgemeinen Sprachwissenschaft und der Sprachpsychologie

auch eine allgemeine Sprachstilwissenschaft ihre Aufgaben behalten.

Sie wird auf Vergleich von Sprachgeist und Sprachkunst eingestellt

sein; aber ihre Ergebnisse werden schwerlich bei der Stilanalyse

des Einzelwerkes, an der sich die aufgestellten Systeme

zunächst zu erproben haben, Anwendung finden.

|#f0233 : 209|



Für die Bestandsaufnahme der Stilelemente einzelner Werke und

einzelner Schriftsteller ist in der philologischen Periode der deutschen

Literaturwissenschaft bereits mancherlei getan worden. Mit außerordentlichem

Feingefühl, aber ohne System hat Albert Fries in zahlreichen

Einzeluntersuchungen über Goethe, Schiller, Kleist, Platen,

Wagner die Klassikertexte abgetastet. Ausgezeichnete Vorstöße in

der Einzelanalyse des Werkstils sind durch Gustav Roethe unternommen

worden in der Akademieabhandlung über „Brentanos Ponce

de Leon“ und in dem Buch über Goethes „Campagne in Frankreich“.

Das eine Mal wurden alle Brentanoschen Mittel des Wortwitzes, des

Klangwitzes, der Wort- und Klangspiele, der Wortzusammensetzungen

und -häufungen, das andere Mal alle Kennzeichen des kunstvollen

Goethischen Altersstils im Partizipialgebrauch, in Wortstellung, Auslassung

der Hilfsverben, Superlativen und Wortzusammensetzungen

registriert. Das eine Mal war über Petrichs „Drei Kapitel vom

romantischen Stil“, die für den Generationsstil Belege gesammelt

hatten, hinausgekommen, das andere Mal über Knauths Dissertation

„Goethes Sprache und Stil im Alter“, die für die Betrachtung des

Altersstufenstils ein oberflächliches Beispiel gab. Weiter sind Minor

und Sauer, Weißenfels und Minde-Pouet für Goethe und Kleist, Erich

Schmidt für Lessing zu nennen.



Von allen Zusammenstellungen des Charakteristischen ist aber zu

sagen, daß die positivistische Methode der Beschreibung nicht imstande

ist, die gesammelten Beobachtungen wirklich als Stil, das

heißt als Einheit und inneres Gesetz der Ausdrucksform zu begreifen.

Dieses Ziel war bei der Beschränkung auf sprachliche Formen ohne

Ergründung ihrer seelischen Zusammenhänge und Bedingtheiten

nicht zu erreichen.



Der zweigleisige Verkehr bietet Gelegenheit zum Vergleich, wenn

zwei in entgegengesetzter Richtung fahrende Züge an demselben

Haltepunkt nebeneinander stehen. Da kann die Verschiedenheit der

inneren Bedingungen aus äußerer Gegensätzlichkeit erschlossen werden.

Nach einer richtigen Bemerkung Josef Nadlers ist der Stil als

etwas Individuelles immer nur im Gegensatz zu einem anderen

Individuellen zu erkennen: „Stil also wird sichtbar, indem Mensch

gegen Mensch, Gesellschaft gegen Gesellschaft, Landschaft gegen

Landschaft, Volk gegen Volk steht.“ Aus der Beobachtung des

Gegensätzlichen ergibt sich eine Polarität der grundbegrifflichen Betrachtungsweise, |#f0234 : 210|



die bis auf Kants Antinomienlehre zurückzuführen

ist. Die Antithesen von objektiv und subjektiv, von naiv und sentimentalisch,

von Nazarenern und Hellenen, von apollinisch und dionysisch,

von statisch und dynamisch, von Abstraktion und Einfühlung

suchten jedesmal aus einem Begriffspaar eine allgemeingültige Zweiteilung

sämtlicher Erscheinungsformen zu gewinnen. Man kann aber

auch den grundsätzlichen Dualismus durch Spaltung vermehren, indem

man die verschiedenen Begriffspaare, die nicht ganz identisch

sind, nebeneinander stellt. So hat der Ästhetiker Johannes Volkelt

mit der Methode des typisierenden Vergleichs die fünf verschiedenen

Gegensatzpaare eines elementaren und vernunftgeklärten, eines naiven

und sentimentalen, eines objektiven und subjektiven, eines Wirklichkeits-

und Steigerungsstils und eines individualisierenden und typisierenden

Stils gewonnen und zu einem weitmaschigen Netz verknüpft,

das für die Erfassung sämtlicher Künste gelten sollte. Heinrich

Wölfflin kam dann in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“

(1915) durch eine exakter angewandte vergleichende Methode zu fünf

gegensätzlichen Kategorien veränderter Sehweise, mittels deren das

Problem der Stilentwicklung am Übergang von Renaissancekunst zu

Barockkunst veranschaulicht werden konnte. Die Übertragung dieser

Methode von der rein kunstgeschichtlichen Betrachtung auf den Stil

im allgemeinen und den Dichtungsstil im besonderen blieb nicht

aus; man führte sie wieder auf den Anspruch allgemeingültiger Zweiteilung

zurück. Unter den mehrfachen Versuchen war Fritz Strichs

„Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit“ (1922)

der bedeutendste. Die feinfühligen Beobachtungen stehen allerdings

immer unter dem Systemzwang der Polarität und unter dem vorbildhaften

Eindruck kunstgeschichtlicher Begriffe. Bei literarischer Stilbetrachtung

aber darf es nicht so sehr auf die Art des Sehens ankommen

als auf die des Spracherlebnisses.



Auf sprachliche Kategorien wurde die Vergleichsmethode beschränkt

in Wilhelm Schneiders „Ausdruckswerten der deutschen Sprache“

(1931), in denen aus Urteilsbildungen wie begrifflich ─ sinnlich,

klar ─ dunkel, knapp ─ breit nicht weniger als 17 Gegensatzpaare

hervorgingen, womit eine Möglichkeit gefunden war, über die erste

Stufe der Stilforschung, über die Bestandaufnahme der Stilmittel,

durch Urteil und Sichtung hinauszukommen. Die Zusammenfassung

der Ausdruckswerte zu noch höheren Ordnungsbegriffen blieb einer

dritten Stufe überlassen, vor der haltgemacht wurde. Was mit diesen

Kategorien erreicht werden kann, ist nicht nur eine Stilcharakteristik

des Einzelwerkes, sondern die Beobachtungsmöglichkeit der Entwicklung. |#f0235 : 211|



Führt man zwei Werke, die auf beiden Seiten der Periodengrenze

liegen, zusammen, so kann das, was sie unterscheidet, soweit

es nicht durch die Verschiedenheit der Persönlichkeiten und ihrer

Abstammung bedingt ist, als Kennzeichen eines gewandelten Zeitstils

betrachtet werden. Man könnte das etwa an den Genovefa-Dramen

von Maler Müller und Ludwig Tieck aufzeigen.



Die Notwendigkeit eines mehrgleisigen Verkehrs ergibt sich aus

der Einsicht, daß das System von Gegensätzlichkeiten, das grundsätzlich

bei jedem Vergleich herausspringt, nur zur Abgrenzung zweier

aufeinander folgender Stilarten und zur Feststellung der Übergänge

tauglich ist. Die Gegensätzlichkeit ist dabei immer eine relative;

absolut betrachtet würde es viel stärkere Antithesen, viel extremere

Haltungen geben, als sie in Wölfflins Unterscheidung von Renaissance

und Barock oder in Strichs Gegenüberstellung von Klassik und Romantik

zu finden sind. Verirrt sich die Verallgemeinerung der durch

polare Trennung gefundenen Kategorien in radikale Zweiteilung wie

etwa bei Worringers Gegenüberstellung von Abstraktion und Einfühlung

als den zwei überhaupt möglichen Grundhaltungen des Künstlers,

so geht die historische Anwendbarkeit verloren. Wie dort der

Begriff „Gotik“ schließlich auf alle nicht klassischen Künste bezogen

wurde, so trat in der literarischen Stilkunde zeitweilig eine Überwertung

des Begriffes „Barock“ ein, der auf einmal aus seiner zeitlichen

Festlegung herausgenommen und auf jede Neigung zu unregelmäßiger

Form, überladenem Stilschmuck und gesteigertem Gefühlsleben

Anwendung fand: der Römer Tacitus, die altnordischen Skalden,

der geblümte Stil des Mittelalters, Shakespeare, Klopstok, Heinrich

von Kleist und der moderne Expressionismus schienen nun

gleiche Stilphänomene zu offenbaren.



Schon bei Strichs Zweiteilung von Vollendung und Unendlichkeit

zeigte sich aber, daß es neben Klassik und Romantik noch andere

Stilrichtungen sowohl im Endlichen als im Unvollendeten geben muß.

Zu dieser Erkenntnis konnte jede historische Betrachtung führen, die

die Stellung der Klassik und Romantik nicht nur durch gegenseitigen

Vergleich bestimmte, sondern sie auch nach der zweiten und dritten

Seite hin abgrenzte. Zur Vorklassik (Sturm und Drang) und zur

Nachromantik (Biedermeier und Realismus) hätten mit derselben

Methode des Vergleichs gegensätzliche Beziehungen hergestellt werden

können.

|#f0236 : 212|



Wie die Kunstgeschichte, auch wenn sie Wölfflins Ergebnisse zur

Charakteristik des einmaligen Übergangs übernimmt, an dem mehrschichtigen

Aufbau geschichtlicher Stilperioden festzuhalten hat,

ebenso bleibt für die Literaturgeschichte die Notwendigkeit der geschichtlichen

Gliederung und der Einordnung jedes Einzelwerkes in

eine Stilkategorie. Nach dem unzulänglichen Versuch einer „Geschichte

des deutschen Stils in Einzelbildern“, den E. Hoffmann-

Krayer 1925 vorlegte, hat Emil Ermatinger ein Jahr später die Aufgabe

in Angriff genommen, für vier aufeinander folgende Stilperioden

der deutschen Literaturgeschichte Charakteristiken zu schaffen; der

Barockstil wäre demnach als Ausdruck der Spannung zwischen natürlicher

Weltfreude und kirchlich verkündeter Weltverachtung zu

erfassen, der Rokokostil als Richtung eines vernünftigen Realismus;

die Einheit von Sturm und Drang, Klassik und Romantik wäre unter

dem Gesichtspunkt der Symbolik zu verstehen, und für das folgende

Zeitalter böte sich die Benennung Realismus. Das ist eine geistesgeschichtliche

Periodisierung, die Sinn und Geisteshaltung jeder

Periode als Voraussetzung ihres Stils bestimmt, aber über diesen

selbst so gut wie nichts aussagt; alle sprachlichen Stilsymptome, die

auf dem eingleisigen Wege zusammenkamen, bleiben unbeachtet und

gelangen nicht zur Einordnung in diese Sinngebung. Es ist ein Schnellzugsverkehr,

der alle kleinen Stationen durchrast.



Eine andere Art mehrgleisiger Ordnung beruht auf der Theorie

zeitloser Typen, wie sie in Diltheys Weltanschauungslehre und geistesgeschichtlicher

Psychologie zunächst nur zur Gruppierung der philosophischen

Systeme bestimmt war. Von Diltheys Schülern, namentlich

von Hermann Nohl, wurden die drei Typen des Naturalismus, objektiven

Idealismus und Idealismus der Freiheit auch auf die Künste

angewandt, wobei sich sogar eine Verbindung mit der musikalischen

und sprachlichen Typenlehre von Josef und Otmar Rutz, Eduard

Sievers und Gustav Becking ergeben konnte. Eduard Spranger

wiederum hat in seinen „Lebensformen“ sechs ideelle Grundtypen der

Individualität geschieden, und dem ästhetischen Menschen, der unter

ihnen eine eigene Klasse bildet, drei Erscheinungsweisen zugesprochen:

die des objektiven Eindrucksmenschen, die des subjektiven Ausdrucksmenschen

und die des klassischen Menschen von innerer Form, bei

dem Eindruck und eigene Gefühlswelt zum Gleichgewicht kommen.



Zur Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird uns das

zweite Buch führen. Hier ist nur noch eine der vielen Weiterbildungen

zu besprechen, nämlich das Kompromiß, durch das Oskar Walzel

einen Einklang zwischen Dilthey und Wölfflin herzustellen suchte, um |#f0237 : 213|



diese Synthese mit einer Typologie sprachlicher Ausdrucksformen

gleichzusetzen. Zu solchem Zweck wurde unter gleichzeitiger Anlehnung

an Simmel, Strich und Worringer die antike Dreiteilung der

genera dicendi bei Cicero, Theophrast und Quintilian benutzt und

auch der auf Dionys von Halikarnaß zurückgehende, durch Norbert

von Hellingrath für Hölderlin in Umlauf gebrachte Unterschied zwischen

harter und glatter Fügung nicht unberücksichtigt gelassen. Das

Ergebnis besteht wieder in drei Typen, in denen die höchste Verknüpfung

von Gehalt und Gestalt ihre Erfüllung finden soll. Der erste

brächte eine überindividuelle Formung, die in begrifflich vereinfachtem

Ausdruck den Erscheinungen des Lebens ideelle Eigenexistenz

gibt und sie trotzdem einem Kanon unterwirft. Es ist die somatische

und statische Kunst eines ruhenden Seins, in der der klassische Mensch

des Altertums sein Formprinzip fand. Der zweite Typus stellt die

Eindrücke des Lebens als Werden dar, als organische Dynamik, als

ewigen Fluß, gefaßt in den einzigen Augenblick, der das innere Leben

an die Oberfläche treten läßt. Ein pathetischer Wille würde dagegen

im dritten Typus zum übersteigerten Ausdruck hinführen und zu

neuer Abstraktion vom wirklichen Leben. Typus 2 und 3 sollen sich

untereinander verhalten wie Worringers Begriff der Gotik zu Simmels

Rembrandt-Deutung, während sie zum ersteren in demselben Verhältnis

stehen sollen wie Wölfflins Barockreihe zur Renaissance oder

Strichs Unendlichkeit zur Vollendung. Wenn angenommen wird, daß

sich damit die zwei Möglichkeiten des deutschen Stils im Gegensatz

zu der antiken Haltung verkörpern, so würde beispielsweise Goethe

in seiner gedämpften Haltung teils dem Typus 2 zuzurechnen sein,

teils als hinstrebend zum Typus 1 betrachtet werden müssen. Also

wären weder Personalstil noch Zeitstil noch Nationalstil auf diesem

Wege als Einheiten zu erfassen. Dafür wird eine Festlegung der verschiedenen

sprachlichen Ausdrucksmittel und der besonderen Arten

der Wortgebung für jeden Typus erstrebt: „Im ersten herrschen feststehende

Begriffe, im zweiten die Wörter und die grammatischen

Kategorien, die ein stetiges Werden, eine dauernde ruhige Bewegung

bezeichnen. Die Syntax dieses Typus kennt nicht die Mittel, mit

denen der dritte Typus Hemmungen aufbaut, um dann zu desto

jäheren Entladungen zu gelangen. Dieser dritte Typus benötigt entweder

den jähen Schrei oder aber den umständlichen Periodenbau,

der gestattet, die entscheidende Wirkung weit hinauszuschieben und

sie endlich wie eine späte Befreiung zu genießen.“



Bei dem dritten Typus mag an den Expressionismus der damaligen

Zeit gedacht sein, bei dem zweiten an den Impressionismus; aber wo |#f0238 : 214|



sollen nun Realismus und Naturalismus bleiben? Mit Dilthey, bei

dem diese beiden Richtungen im ersten Typus hätten unterkommen

können, ist die Walzelsche Einteilung so wenig zur Deckung zu bringen

wie mit der historischen Aufeinanderfolge, die Wölfflin berücksichtigt

hatte. Offenbar sind drei Gleise zu wenig, um die mannigfaltigen

Formmöglichkeiten und Richtungen nebeneinander zu stellen.

Wenn Walzel diese Typen zum praktischen Gebrauch vorlegte, „um

die Fülle der Züge eines Kunstwerks oder der vielgestaltigen Werke

eines einzelnen Künstlers nach ihrer Gestalt zu erkennen und zu benennen“,

so war diese Empfehlung vielleicht etwas verfrüht. Das

System muß erst unterbaut werden; vorerst ist es auf zu wenig

Induktion gegründet und spielt zuviel mit Begriffen, die aus verschiedenartigen

Gedankenreihen entlehnt sind. Man kann nicht Abstraktionen

miteinander in Verbindung setzen, ohne daß die konkreten

Grundlagen, von denen sie abgezogen sind, auf einheitlicher Ebene

liegen. Es ist übereilt, zu gliedern und zu deuten, ehe Sammlung und

Kritik das ihre getan haben.



Die Typologie der Grundbegriffe, die ihre Probe erst bestehen muß,

erspart einstweilen noch nicht die unvoreingenommene Beobachtung

aller einzelnen Merkmale des Personalstils und Zeitstils. Dafür hat

gerade Walzels Schule seit dem Erscheinen seines Buches manche

wertvolle Beiträge geleistet, gegenüber deren Ergebnissen die Hilfskonstruktion

kaum mehr unbeeinträchtigten Bestand bewahren kann.



d) Ordnungsgrundriß



Befindet sich die vielgleisige Stilforschung gegenwärtig im Zustand

eines Rangierbahnhofs, auf dem das unaufhörliche Hin- und Herschieben

von einem Gleis zum andern den chaotischen Eindruck der

Sisyphusarbeit macht, die nicht vom Fleck kommen will, so droht

die Gefahr einer Verstopfung, wenn nicht die festgefahrenen Züge

mit ihren Materialladungen flottgemacht werden und der Knäuel

durch richtige Weichenstellung zur Lockerung und Auflösung

kommt.



Wir suchen nach Ordnungsgrundsätzen, die das gesammelte Material

seiner Bestimmung zuzuführen erlauben. Aber die einfache Etikettierung

jedes einzelnen Stilmittels als zugehörig zu einem bestimmten

Zeitstil, Nationalstil oder Personalstil erweist sich als völlig undurchführbar.

Das Charakteristische tritt niemals in einem einzelnen

Element zutage, selbst wenn diesem ein Übergewicht zufällt, sondern

höchstens in dem Mischungsverhältnis der verschiedensten Stilmittel, |#f0239 : 215|



womit eine bestimmte Ausdrucksmöglichkeit bezweckt wird. Man

wird kaum dazu gelangen, die einzelne Metapher als barock, jede

einzelne Interjektion oder jede Hyperbel als expressionistisch, den

einzelnen Farbeneindruck als impressionistisch, das einzelne Anakoluth

als naturalistisch, die einzelne Sentenz als klassisch, das einzelne

Oxymoron als lateinisch, die einzelne Antithese als französisch, den

einmaligen Parallelismus als biblisch, das einzelne Wortspiel als

Shakespearisch, die einzelne Inversion als Kleistisch zu empfinden,

sondern erst in der Wiederholung derselben Erscheinung und in ihrer

Häufung entsteht der Eindruck eines bestimmten Stiles, der zugleich

eine Aussage bedeutet über die Wesensart des Menschen, der ihn gebraucht

und in ihm sich ausprägt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Nennung. Zu dieser Wesenserkenntnis kann

der Vergleich mit andersartiger Ausdrucksweise als Erscheinungsform

einer verschiedenartigen Existenz ein vorzügliches Hilfsmittel gewähren,

aber die einmalige Gegenüberstellung kann immer nur einzelne

verschiedenartige Charakterzüge in Gefühlseindruck und Urteil festlegen.





Um zu bündigen Urteilen über den charakterologischen und ästhetischen

Stileindruck zu gelangen, muß man die verschiedenartigsten

Möglichkeiten sprachlicher Formung überblicken; andererseits kann

man sich keineswegs mit Registrierung der Formen begnügen, wenn

man zu den seelischen Ausdruckswerten vordringen will. Die Wechselwirkung

zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksinhalt zu erhellen,

ist also die eigentliche Aufgabe der Stilforschung. Dabei ist das, was

als Stil, als Ausprägung eines Charakters erkannt werden soll, immer

ein Verhältnis mannigfaltigster Einzelheiten sowohl untereinander

als zum Ganzen. Das Ganze aber enthält, auch wenn es dank des

Zusammenhanges aller Teile als organische Einheit betrachtet wird,

so Vielfältiges, daß es nie und nimmer durch eine einzige Eigenschaft,

sei es auch die am meisten hervortretende, zu charakterisieren ist.



Ohne jeden Anspruch auf vollständige Lösung der Aufgabe, sondern

mehr als Versuchsmodell soll folgendes Schema das Gegeneinanderweben

von Form und Gehalt veranschaulichen, wobei zehn der gebräuchlichsten

Gegensatzpaare des Eindrucks (unter Benutzung der

von Johannes Volkelt, Wilhelm Schneider und anderen registrierten

Polaritäten) mit den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Kreuzung

gebracht sind. Diese grammatischen Kategorien sind, um die

stufenmäßige Anschwellung von beiden Seiten her sichtbar zu machen,

doppelt registriert, so daß jede Erscheinungsform in ein eigenes Feld

eingetragen werden kann und das Ganze als eine von Schrift zu Aufbau

aufsteigende Doppeltreppe erscheint:

|#f0240 : 216|

[Beginn Spaltensatz]

I SchriftII EinzelwortIII Wortzusammensetzg.IV WortfolgeV SatzgliederungVI PeriodeVII Aufbau
a) plastisch
b) objektiv
c) klar
d) alltäglich
e) niedrig
f) sinnlich
i) eindringlich
k) logisch
l) spielerisch
m) antithetisch

gehäuft

[Spaltenumbruch]

VII AufbauVI PeriodeV SatzgliederungIV WortfolgeIII Wortzusammensetzg.II EinzelwortI Schrift
a) musikalisch
b) subjektiv
g) verschwomm.
d) eigengeprägt
e) übersteigert
f) begrifflich
i) Abstand

haltend
k) phantastisch
l) bildlich
m) harmonisch

symmetrisch



Es könnte zunächst befremden, daß die Kategorien Schrift und Aufbau,

von denen die eine unterhalb, die andere oberhalb des Sprachstils

zu liegen scheint, mit aufgenommen sind. Die Buchstaben der

europäischen Alphabete haben allerdings nichts mehr von dem

magischen Bedeutungsinhalt, der dem Wortsinn chinesischer Schriftzeichen,

der Bilderschrift des alten Orient, den germanischen Runen

oder anderen Schriftsystemen zukommt, aber ihre Lautvermittlung

ist gleichwohl nicht ganz mechanisch, und mancher Dichter der Neuzeit,

z. B. Stefan George, hat in seiner Handschrift wie im Druckbild

eine Eigenart betont, die durchaus zu seinen Stilkennzeichen zu

rechnen ist. Der sparsame oder reichliche Gebrauch von großen

Anfangsbuchstaben, die Anwendung der gliedernden Satzzeichen nach

syntaktischen oder rhythmischen Rücksichten, die begriffscharfe

Teilung eines Kompositum durch Trennstriche, die Einstreuung von

Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen, die Einklammerung in

Parenthesen, die Häufigkeit von Unterstreichung und Sperrdruck ─

das alles kann Symptom für die Haltung einer Persönlichkeit, eines

Zeitalters, eines Nationaltemperamentes sein und den in diesem

Schema gebrauchten Charakteristiken wie sinnlich, antithetisch,

logisch oder übersteigert entsprechen.



Als Ausdrucksmittel von Stilbedeutung kann im Drama auch das

stimmungsvolle Schweigen und die lautlose Bewegung angesehen

werden, so wie im Lied die Pause zum Gefühl spricht. Aber das sind |#f0241 : 217|



Wirkungen, die nur durch aktive oder imaginäre Mithilfe der Schauspielkunst

und Musik sich erfüllen. Im Epos müssen solche Stimmungswirkungen

in Worte umgesetzt werden, und insofern ist die Erzählkunst

die Vollform der Wortkunst, als sie sich einzig auf sprachliche

Stilmittel zu beschränken hat. Nur von Epikern kann gesagt

werden, daß sie ganz der Sprache verfallen sind und in ihr schwelgen;

ein Erzähler wie Jeremias Gotthelf nannte das Wort „eine unsichtbare

Hand, wunderbar und vielfach gefingert, mit der wir über

unsrer Mitmenschen Gemüter streichen.“



Das einzelne Wort kann zwar, wie oben gesagt, noch nicht den

Stil bestimmen, aber in seltsamen Namen, in metaphorischen Beiworten,

in hyperbolischen Zahlen, in klangmalenden Verben lebt doch

noch etwas von ursprünglicher alter Wortmagie weiter. In der Lyrik

ist es jenes „Zauberwort“, das Jos. von Eichendorff und Annette

von Droste suchten; aber auch der Erzähler Fontane konnte aus

eigener Erfahrung in seiner Doppelrolle als Dichter und Journalist

sagen: „Der gewöhnliche Mensch schreibt massenhaft hin, was ihm

gerad in den Sinn kommt; der Künstler, der echte Dichter sucht oft

vierzehn Tage lang nach einem Wort.“ Er wußte vielleicht um die

französische „recherche du mot propre“ und kannte die Klage Flauberts,

daß er über dem Suchen nach einem Wort schlaflose Nächte

hinbringe. Das Suchen nach einem Wort muß nun zwar als Akt des

Bewußtseins aufgefaßt werden; das Finden aber vollzieht sich im

Unterbewußtsein der Stileinheit.



Was sich leicht einstellt, sind die Lieblingswörter, in denen ein

Zeitalter sein eigenstes Lebensgefühl ausgedrückt findet. Sie sind

für die folgende Generation schon verbraucht und verlieren nicht nur

ihren Reiz, sondern können sogar ins Lächerliche oder Gemeine

versinken. Solche Modewörter wie die anakreontische „Wollust“, der

geniemäßige „Kerl“, die barocke Vorliebe für „Ambra“ und „Alabaster“,

die romantische für den Farbeneindruck „blau“, die optische

„Ferne“, den Klangwert „Waldhorn“ und alle Zusammensetzungen

mit „Geist und Seele“, endlich die expressionistischen Verba „ballen“,

„schnellen“ und „steilen“ hatten nur eine begrenzte Wirkungsdauer

innerhalb der deutschen Dichtersprache und bleiben charakteristisch

für eine bestimmte Stilepisode. Die Analyse des Einzelwerkes muß

Zeitwert und Bedeutungswandel jedes Wortes in Rechnung ziehen.

Wenn früher mit Bienenfleiß sogenannte Parallelen gesammelt

wurden, so hatte dieses Bemühen wenig Wert für die Erkenntnis von

Abhängigkeiten, aber wohl können solche Zusammenstellungen des

Wortgebrauches von Bedeutung sein für die Erfassung des Zeitstils.

|#f0242 : 218|



Für den Stilgehalt des Wortschatzes würden Wörterbücher der einzelnen

Dichtersprache aufschlußgebende Hilfsmittel darstellen, wenn

wir ihrer mehr und bessere besäßen. Umfassende Wörterbücher des

gesamten Sprachschatzes buchen, wenn auch unzulänglich, den Anteil,

den große Wortschöpfer an der Bereicherung der Sprache und an

ihrem Bedeutungswandel genommen haben. Das „Deutsche Wörterbuch“

der Brüder Grimm, das im Jahrhundert seines Werdens und

Wachsens in immer reicheren Belegen sich auf die feinsten Unterscheidungen

des Sprachlebens ausdehnte, hat wiederum die Sprache

neuerer Dichter befruchten können. So wissen wir von Rainer Maria

Rilke, dem die Vorstellungskraft des einzelnen Wortes so viel bedeutete,

daß er auf der Suche nach einem Ausdruck stundenlang im

Grimmschen Wörterbuch „auf die Weide ging“.



Auch die Entwicklungsperioden eines Dichters finden in den Wandlungen

des Wortschatzes und der Wortbedeutung ihren Niederschlag.

Für die Sprache des jungen Goethe in der Zeit seiner Hymnendichtung

sind Verba wie „glühen“, „anglühen“, „durchglühen“ kennzeichnend,

ebenso wie die Form imperativischen Anrufs; in der Zeit

des Spinozismus wird das Epitheton „dumpf“ ein besonderer Ausdruck

der passiven Seelenlage; in der Reifezeit kommen die einfachen

Hauptwörter zur Herrschaft; im Altersstil verstärken sich die Eigenschaftswörter,

während die einfachen Verba oft durch substantivische

Umschreibung ersetzt werden. Auf die sinnliche Urkraft des Verbums

war Goethe zuerst durch Herder in der Straßburger Zeit hingewiesen

worden, und die unmittelbare Wirkung wird sichtbar nicht

nur in der Häufung der aktiven Verbalformen, sondern selbst in der

Bevorzugung bewegungsreicher Partizipien an Stelle anderer Beiwörter.





Ob die am stärksten betonten Ausdruckswerte in der Form von

Hauptwörtern, Beiwörtern oder Zeitwörtern uns entgegentreten und

ob demnach Begriffe, Eigenschaften oder Vorgänge mehr in die

Vordergrundsbeleuchtung gedrängt werden, ist für den Stilwillen von

Zeiten, Völkern und Persönlichkeiten bedeutungsvoll. Schon längst

hat man in der Trennung eines Nominalstils als Ausdruck statischer

Ruhe, eines Verbalstils als Ausdruck dynamischer Bewegung und eines

Beiwortstils, der vor allem sinnliche Anschaulichkeit in beschreibender

oder beseelender Weise zu wecken sucht, eine fruchtbare Unterscheidungsmöglichkeit

erkannt.



Die Übertreibung Fritz Mauthners, der nach substantivischer,

adjektivischer und verbaler Auffassungsmöglichkeit geradezu drei

Sprachwelten trennen wollte, mag man fallen lassen, aber neuere |#f0243 : 219|



philosophische Sprachvergleichung (Herm. Ammann) spricht nach

wie vor von den großen Urkategorien des verbalen und nominalen

Satztypus und sieht in der durch das Verbum veranlaßten „Mitregung“

ein irrationales Element der Einfühlung, „das der Welt des

Urteilens, des sachlichen Feststellens, des objektiven Berichtens ebenso

fremd ist wie der Welt der Dichtung und des Traumes verwandt.“



Wenn somit im Tätigkeits-, Vorgangs- und Zeitwort der eigentliche

bewegte Lebensausdruck der Sprache gefunden wird, so kann das im

wesentlichen nur für die indogermanischen Sprachen gelten, deren

Entwicklung dem verbalen Stiltypus den Boden bereitete. Gleichwohl

hat es auch da immer Stilrichtungen gegeben, in denen die vom

Hauptwort ausgelöste „Gegenregung“ im Vordergrund stand. Die

altgermanische Stabreimdichtung mit ihrem rhythmischen Heraustreiben

der akzentuierten Hauptbegriffe entwickelte einen ausgesprochenen

Nominalstil, und dieser bleibt immer ein Kennzeichen erhabener

und heroischer Haltung. Andererseits wurde im späten Mittelalter

der deutsche Wortschatz durch die sprachschöpferische Tätigkeit der

Mystiker um die vielen Bildungen mit -heit und -ung bereichert, die

die Dinge konkreter Anschauung zu hohen Begriffen erhoben; damit

wurde der Nominalstil zum Ausdruck kontemplativer Haltung.



Die sprachliche Eigenprägung wirkt sich vornehmlich in denjenigen

Wortkategorien aus, denen die stärkste Ausdrucksmöglichkeit zugedacht

ist. Nach Max Deutschbein charakterisiert der Nominalstil die

expressive und dynamische innere Sprachform neuenglischer Prosa.

Ebenso wurde im Französischen die Vorherrschaft substantivischer

Konstruktion beim Naturalismus beobachtet und in Zusammenhang

gestellt mit einem seit 1850 zunehmenden Brauch, das Adjektivum

durch Vergleichsworte zu ersetzen. Auch das attributive Substantivum

(z. B. chanteur in „oisau chanteur“, das einem deutschen

Singvogel entspricht), gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den durch

die Dichtung, vielleicht auch durch Übersetzung beförderten Entwicklungstendenzen

der französischen Sprache. Der junge Goethe

hat ein einziges Mal (im Prometheusfragment) mit den Worten „der

Kindheit nothe Hilfe“ eine substantivische Adjektivform gebildet,

die er später durch „nöth'ge“ ersetzte. Und die drei sich jagenden

Substantiva „Stock, Wurzeln, Steine“ im „Schwager Kronos“ lassen

sich beinahe als adverbiale Bestimmungen zum „holpernden Trott“

auffassen. Umgekehrt hat Goethe im Alter die numinose Substantivierung

von Adjektiven geliebt (das Wahre, das Tüchtige, das Schöne,

das Allzuflüchtige), ebenso wie Hölderlins Spätstil das noch geheimnisvollere

substantivische Partizipium (das Rettende, Reinentsprungenes) |#f0244 : 220|



zur Bedeutung bringt, worin der späte Rilke ihm nachfolgt

(„ein Rettendes“, 9. Elegie, Werke III, 300).



Es hat Stilrichtungen gegeben, in denen das einfache oder zusammengesetzte

Adjektivum als solches den Hauptträger der Anschauung

bildete. Für Harsdörffer, den Verfasser des Nürnberger „Poetischen

Trichters“, bedeutete das Beiwort die Klaue des Löwen. Der

alte Barthold Hinrich Brockes mit seiner empiristischen Naturbeschreibung

ist als malender Poet zu einem „Virtuos des Adjektivs“

geworden, und Albrecht von Haller in seiner von Lessing gerügten

Beschreibung der Alpenblumen hat es ihm gleichgetan; die deutsche

Romantik ist durch Fritz Strich als „Kunst des Beiwortes“ bezeichnet

worden; die Brüder Goncourt sahen im „epithète rare“ die charakteristische

Marke des Schriftstellers, und der auf differenzierte Sinnesqualitäten

gerichtete deutsche Impressionismus (Arno Holz, Dauthendey)

suchte jede Stimmungsnuance in Beiworten punktuell zu erfassen,

während französischer und englischer Impressionismus den

Nominalstil bevorzugten und sich dem Adjektiv und Adverb weniger

geneigt zeigten.



Sprachliche Eigenprägungen haben eine aufpeitschende Wirkung,

so wie sie in ihrer Entstehungsweise ein Ausdruck seelischer Erregung

sind. Die mannigfaltige poetische Ausdruckskraft des Zeitworts liegt

nun zum Teil in der leichten Möglichkeit und Unerschöpflichkeit

schallnachahmender oder lautmetaphorischer Neubildungen, für die

auch die sinnliche Urkraft der Mundart unversiegbaren Zufluß bringt.

Man kennt das erfinderische Nürnberger Spielzeug der Pegnitzschäfer

des 17. Jahrhunderts, man bewundert den urwüchsig verschwenderischen

Reichtum, in dem ein Jeremias Gotthelf schwelgte;

man schüttelt den Kopf über die expressionistischen Experimente des

„Sturm“ im 20. Jahrhundert, die über die Grenzen des Möglichen,

d. h. über die Gesetze des Sprachlebens sich hinwegsetzten. Das ist

an den berüchtigten Versen von August Stramm zu sehen: „Nacht

grant Glas, ich steine, weit glast du.“ Man kann bei demselben zu

früh gestorbenen Lyriker auch den Versuch beobachten, durch abkürzende

Verstümmelung von Partizipien wie „kreischend“ und

„keuchend“ um rhythmischer Klangwirkung willen zu neuen Adverbien

und Adjektiven zu gelangen: „kreisch peitscht das Leben vor

sich hin den keuchen Tod.“ Hier ist Stil sichtlich zur Manier geworden,

die bei aller Achtung vor dem suchenden Formwillen doch

nur in einer Greuelausstellung entarteter Kunst weiterleben wird.



Das Beiwort bietet weit weniger Möglichkeit zu neuer erregender

Eigenprägung als das Zeitwort; dagegen erweitert sich der Spielraum |#f0245 : 221|



seines sinnlichen Ausdruckswertes auf zwei Wegen, die allerdings

beide durch Mißbrauch und Überspannung ihre Wirkung verlieren

können. Der eine ist der Gebrauch von Steigerungsformen, zum

Beispiel eines Komparativs, dem kein Positiv vergleichsweise gegenübersteht

(Klopstock, Goethe, Hölderlin) oder eines in gleicher Weise

gebrauchten Superlativs und Elativs. Der andere ist die Synästhesie,

die Farbenreize durch Vorstellungen des Gehörs, Töne durch Licht-

oder Farbenwirkungen bezeichnet und auch Geschmacks-, Geruchs-

und Gefühlseindrücke in Wechselwirkung und Austausch bringt.

Längst hat die Umgangssprache derartige Metaphern sich angeeignet,

die man nicht mehr als solche empfindet, wenn von dunkeln, weichen

oder silbernen Tönen, von satten, duftenden, kreischenden Farben,

von schwülen Düften, übelriechenden Äußerungen oder sprechender

Ähnlichkeit die Rede ist. Läppische Kosewörter des Alltags wie süß,

goldig usw. sind durch Mißbrauch allmählich ihrer sinnlichen Ausdrucksfähigkeit

beraubt worden. „Der Toren Mund macht süße Worte

schal“, sagt Stefan George im „Vorspiel“. Auch der eigentliche Kunstgebrauch

der „audition colorée“, in dem Wilhelm Heinse und die deutschen

Romantiker bereits den französischen Symbolisten vorangegangen

sind, schlägt nicht mehr ein; sie ist auch nicht immer echtes Erlebnis

gewesen, sondern oft als virtuosenhaftes Spiel zur Manier geworden.

Ebenso braucht ein als Sinneseindruck wirkendes Beiwort,

wie die „braune Nacht“, das beim ersten Auftreten originell war, aber

in der italienischen und deutschen Barockdichtung konventionell

wurde, durchaus nicht auf individueller Naturbeobachtung zu beruhen,

sondern mag eher den Farbentönen einer bestimmten Landschaftsmalerei

abgesehen sein.



Fragen wir endlich nach schöpferischer Eigenprägung im Hauptwort,

so stehen ihr beim einfachen Nomen geringe Möglichkeiten zur

Verfügung. Zwar wissen wir von Dichtern, die sich in jungen Jahren

eine eigene Sprachwelt aufbauten, wie Mörike und seine Freunde

mit dem Traumreich Orplid, Clemens Brentano in dem Märchenland

Vaduz, Johann Peter Hebel in Lörrach mit der Naturreligion des

Belchismus, ebenso Christian Morgenstern oder der einsame Stefan

George mit seinen Experimenten einer neuen Spracherfindung, die

im wesentlichen ein Einfühlen in die romanische Sprachwelt bedeuteten.

Später heißt es in dem „Jahr der Seele“:



Des Sehers Wort ist wenigen gemeinsam:

Schon als die ersten kühnen Wünsche kamen

In einem seltnen Reiche ernst und einsam,

Erfand er für die Dinge eigne Namen.
|#f0246 : 222|



Aber von den mythenbildenden Phantasien ihres Geheimbundes

konnten höchstens Namen wie Weyla, Maluff oder Ulmon in die

spätere Dichtung Mörikes und Bauers übergehen. Neue Wörter für

alte Begriffe können sich nur durchsetzen, wenn sie von einer großen

Gemeinschaft aufgenommen werden und wenn ihre Schöpfung im

Strome der Sprachentwicklung getragen wird. So können nominale

Neubildungen eigentlich nur als Abkürzungen, Zusammenziehungen

und Ableitungen von bestehenden Wortformen Sinn erhalten (z. B.

als Substantivierungen von Infinitiven oder Adjektiven), während

Analogiebildungen, wie Christian Morgensterns Oste neben der Weste,

durch ihre Sinnlosigkeit oft von grotesker Komik sind.



Auf dem Doppelsinn vieler Nomina beruht ein hauptsächliches Stilmittel

des Wortspiels. Wiederum bietet der Reichtum der Synonyma

vielfältigste Möglichkeit der Variation, zu der auch die Stilmittel der

Metonymie (z. B. „Himmel“ für „Gott“) und der Synekdoche („der

Franzmann“ für „die französische Armee“) zu rechnen sind.



Die Beschränkung nominaler Neubildungen schafft sich Ersatz in

der unbegrenzten schöpferischen Entfaltungsmöglichkeit substantivischer

Wortzusammensetzungen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Hier kommen wir auf das eigentliche

Gebiet der Metapher, deren Strukturgesetze Hermann Pongs in Übereinstimmung

mit anderen Sprachphilosophen auf eine primäre Zweigliedrigkeit

zurückführt, aus der erst in der Verschmelzung von

subjektivem Ausdruck und objektiver Geltung eine Worteinheit sich

herstellte. In seinem grundlegenden Buche „Das Bild in der Dichtung“,

das die organische Sprach-Entfaltung der Ausdrucksmittel als

eine Morphologie der dichterischen Formen hauptsächlich mit Beispielen

der deutschen Lyrik belegt, wird die Metaphorik als immer

neu einsetzende Wiederholung des Sprachschöpfungsaktes aufgefaßt.

Hatten sich frühe Gebilde lautmetaphorischen Ursprungs in der Gebrauchssprache

zu allgemeinverständlichen eindeutigen Zeichen abgeschliffen,

so durchdringt sie der Dichter erlebnismäßig mit neuem

Gehalt, indem er ihnen eine andere, uneigentliche Beziehung gibt.

Aus solcher Übertragung entwickelt sich eine neue Zweigliedrigkeit.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Metapher als vorsprachliches und sprachimmanentes Phänomen. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern.



Als erste Stufe der „Figuren“, in denen Sachsphäre und Bildsphäre

sich vereinigen, betrachtet Pongs die Gleichnisse, deren abgekürzte

Form auch in den kenningar der altgermanischen Dichtung (Himmelskerze

für Sonne, Wundenwolf für Schwert, Kampfbaum für Herz)

zu finden ist.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. zitiert nach. Nennung. #m1-4-3-1 Anmerkung: Nennung Werkgruppe: altgerm. Dichtung - zitiert nach Pongs Hatte man früher die Metapher überhaupt als verkürztes |#f0247 : 223|



Gleichnis betrachtet,

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, negativ verwerfende Bewertung. zitiert nach. Implizite Paraphrase. Quellenannahme Person Quintilian. Quellenannahme Werk. Explikation Metapher als verkürzte Vergleichung. Anmerkung: Quellenannahme Quintilian: Institutio Oratoria" so sieht Pongs ihren wesentlichen Unterschied

in der Beseelung oder Erfühlung, die mit Überspringen des

Vergleichens zum unmittelbaren Erschaffen eines Bildes gelangt, das

als gestaltete Gefühlswelt Wirklichkeit besitzt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Quellenannahme implizit Werk. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Person: Pongs - Werk: s.o. In zwei Typen der

Bildschöpfung, der beseelend-urbildenden und der erfühlend-erbildenden,

wird nun die Stufenfolge emporgeführt von der Du-Hyperbel

und Ich-Metapher zur mythischen und kosmischen, magischen und

mystischen Vollform und Schwellform, die sich schließlich nicht

mehr als Formelement eines Gedichtes, sondern als das Gedicht selbst

darstellt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Pongs Ausführung zur Übertragung Wir werden nach früheren Darlegungen zu sagen haben,

daß damit eine Stufenfolge vom Bild zum Symbol, zum Motiv, zum

Problem und sogar zum Ideenträger erfolgt, die über den engeren

Begriff des Stils hinausgeht und mehr von der inhaltlichen als von

der formalen Seite her zu betrachten ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Eine andere Steigerung

führt ins Äußere und nähert sich der Manier, indem sie zu den extensiven

Randformen gelangt, in denen die bildende Potenz nicht mehr

als Ganzheit einer großen Gestaltsschöpfung zusammengehalten wird,

sondern als ornamentale Metaphernhäufung die sinnvolle Bildzusammenwirkung

aufgibt.

[Annotation] Textebene Sekundärliteratur, keine Bewertung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: Pongs - ohne Expl." Dafür finden sich die reichsten Beispiele im

Barockstil wie im Impressionismus und Expressionismus.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Nennungen als Personen annotiert - zitiert nach Pongs - Wertung nicht annotierbar Dagegen

gab es auch Zeitalter und Stilrichtungen, die das Übermaß von Bildern

verpönten, in der Metapher einen erkünstelten Zierrat erblickten und

der Ausdruckskraft einfacher, stimmunggebender, sinn- und gefühlsbeschwerter

Worte die Wirkung überließen. Das geschah nicht nur

in der nüchternen Aufklärung, sondern mit höchster Wortkunst in

Goethes mittlerer, eigentlich klassischer Stilperiode, wie in Hölderlins

Spätentwicklung und nachmals bei Stefan George und Rilke.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. zitiert nach. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Veerweisung auf Aufklärung, Goethe, Hölderlin, George, Rilke - zitiert nach Pongs - Wertung nich annotierbar



Die Wahl der Bilder und ihre Herkunft aus bestimmten Vorstellungs-

und Erlebnisbereichen wird für den Personalstil von Bedeutung

sein. Indem wir diese Fragestellung, die aus dem Bildgebrauch ins

Innere der Dichterpersönlichkeit vorzudringen sucht, dem zweiten

Buch vorbehalten, kehren wir zum grammatischen Charakter der Stilformen

und ihrer sprachpsychologischen Bedeutung zurück.



Nicht alle metaphysischen Wortzusammensetzungen haben poetische

Kraft. Die Soldatensprache des Weltkrieges hat z. B. eine Unmenge

origineller Prägungen geschaffen („Gulaschkanone“ für Feldküche,

„Paradieskutscher“ für den Feldgeistlichen, „Karbolmäuschen“ für

die Krankenschwester usw.), deren ironische Fassung sich einer Aufnahme

in die Dichtersprache widersetzt; volkstümliche Neubildungen

dieser Art können nur mittelbar aus der Umgangssprache übernommen

werden zur Belebung eines naturalistischen Dialogs. Ähnlich ist |#f0248 : 224|



es mit der Literaturfähigkeit des englischen Slang und des französischen

Argot beschaffen.



Andererseits sind nicht alle neugeprägten Wortzusammensetzungen

als Metaphern zu betrachten.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Anmerkung: Abgr. zu anderen Komposita Bei mehrgliedrigen Kompositen wie

Goethes „Brandschandemalgeburt“ oder „Knabenmorgenblütenträume“,

aber auch bei Verbalzusammensetzungen, wie dem mephistophelischen

„vertripplistreichelt“ im „Urfaust“ und bei gehäuften

Adjektivbildungen wie Fischarts „blaublankblendend“ liegt die sinnliche

Wirkung weniger im erzeugten Bilde als in der lautsymbolischen

Klangwirkung und rhythmischen Wucht.



Es gibt Komposita, die noch weit mehr Glieder aufweisen als diese

Beispiele, und dabei handelt es sich nicht etwa um chemische Formeln,

sondern um poetische Bildschaffung. Schon Jean Paul, der den

„Sammwörtern“, wie er sie nannte, eine schrullenhafte Beachtung

zugewandt hat, blickte auf das Sanskrit und seine mehr als hundertsilbigen

Komposita, denen er scherzend eine „Wortbandwurmstockabtreibmittellehrbuchstempelkostenersatzberechnung“

als Parodie des

Wiener Kanzleideutschs gegenüberstellte. Das ist nun freilich das

Gegenbild poetischer Sprachschöpfung, denn solchen Wortungetümen

des Amtsschimmels fehlt jede rhythmische Gliederung und Wirkung.

Im Rhythmus aber liegt die stärkste Ausdruckskraft der Wortzusammensetzung.

Auch die durch Bindeworte verknüpften Nomina

und Adverbia, die manchmal nichts anderes als Tautologie (voll und

ganz), manchmal die Doppelfassung eines Begriffs (Hendiadyoin)

darstellen und als Zwillingsformeln oft durch Alliteration oder Assonanz

noch enger verkettet sind (Schimpf und Schande, Stufen und

Steige, Wetter und Wind, Freie und Weite) sind von rhythmischer

Wirkung; ihre Schwingung ist Ausdruck einer ruhigen Fülle und Ausgeglichenheit,

wie sie Goethe in seiner mittleren, eigentlich klassischen

Periode liebte. Dagegen sind asyndetische Häufungen, ob sie

nun als Klimax sich steigern oder als Antiklimax sich mindern oder

allein durch ihre Masse Eindruck machen wollen, wie bei Fischart und

gelegentlich bei Grimmelshausen, Ausdrucksmittel unruhiger Bewegtheit,

wie sie der Barockstil suchte.



Die Wortstellung, an die wir mit der nächsten Stufe herantreten,

dient sowohl der Sinnbetonung als der rhythmischen Wirkung, und

zwar überwiegt das erste in der Prosa, das zweite in der Verssprache.

Die Freiheiten des Verses sind unterschiedlich in den einzelnen |#f0249 : 225|



Sprachen, aber immer haben sie derartiges Übergewicht gegenüber

der logischen Gebundenheit prosaischer Wortstellung, daß eine syntaktische

Stiluntersuchung beide Arten auseinanderhalten muß. Es

gibt vier Arten syntaktischer Betrachtung: eine logische, wie sie

E. Husserl mit apriorischen Bedeutungsgesetzen zur Grundlegung einer

„reinen Grammatik“ anwendet; eine psychologische, wie sie K. Bühlers

Syntaxlehre von der Kindersprache her aufbaut; eine historischbeschreibende,

wie sie beispielsweise in dem zweibändigen Werk von

Wunderlich-Reis über den „Deutschen Satzbau“ ihr Material ordnet;

endlich eine vergleichende, die für jede Sprache ihre eigenen Gesetze

aufsucht. So hat etwa H. Brugmann die seelischen Grundfunktionen

der verschiedenen Völker für die Satzbildung ihrer Sprachen verantwortlich

gemacht, und unter den modernen Neuphilologen haben

namentlich die deutschen Romanisten unter Voßlers Führung dem

mannigfaltigen Kunstgebrauch in der französischen Wortstellung Aufmerksamkeit

geschenkt unter Heranziehung deutscher Gegenbeispiele.

Eugen Lerch hat sieben Typen der Wortstellung unterschieden, die

er als logische, als Kontaktstellung, als Anordnung nach der Konkretheit,

als rhythmische, als impulsive, als auf den Hörer eingestellte

und als impressionistische bezeichnet, wobei impressionistisch nicht

von vornherein als Stilbegriff zu gelten hat. Die logische Ordnung

ist die Reihenfolge von Subjekt, Prädikat, Objekt, die sich erst im

Lauf der Zeit herausgebildet hat; die geschichtliche Entwicklung weist

dem Verbum in den indogermanischen Sprachen eine ursprüngliche

Stellung am Satzschluß zu, aus der es mehr und mehr vorgerückt ist.

Zum impressionistischen Typus gehört nach Lerch die Stellung des

Verbs am Satzanfang, womit sich eine starke Bewegung dem Hörer

sogleich entgegenwirft, z. B. in Conr. Ferd. Meyers „Römischem

Brunnen“:



Aufsteigt der Strahl.


Es kann das Subjekt sogar bis ans Ende des Satzes zurückgedrängt

werden, wie in Richard Dehmels „Verwandlungen der Venus“:



da ..........

legt sich sanft um meine Hand

und rührt mich bis ins weheste Mark

wie junge Liebe so still und stark

und warm

um meinen Hals gebogen, ein Arm.



Ähnliche gestaute Wortstellung findet sich gelegentlich auch in der

Prosa Heinrich v. Kleists:

|#f0250 : 226|



„Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden

der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom

Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr

auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt

waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.“



Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung

hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich

an dem Gedichtanfang:



Hinter blühenden Apfelbaumzweigen

steigt der Mond auf.


Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter

blühenden Apfelbaumzweigen auf“ reine Prosa wäre, wenn auch nicht

dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl

bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar

mit dem Subjekt beginnen:



Der Mond ist aufgegangen

Der Mond steht hinter den Bergen.


Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur

im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz

der Anrede:



Füllest wieder Busch und Tal.



Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren

Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet

nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann

Pauls „Prinzipien der Sprachwissenschaft“ aufgezählt werden.

Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung „Vom Wesen

der Syntax“ diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die

musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische

Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch

eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht

zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie

und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis

zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt

wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und

Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu

erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar

wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt; |#f0251 : 227|



ausgesprochen wird es erst im erfühlenden Vortrag, der dem

seelischen Gehalt und seinen Schwingungen gerecht wird. Die Ausdruckswerte

unseres Schemas, wie klar, harmonisch, plastisch, phantastisch,

übersteigert, verschwommen, sind die nachträglich dem Text

beizugebenden Schlüssel und Vortragszeichen.



Die Stilunterschiede setzen sich fort in der Satzgliederung. Auch

hier sind die einzelnen Sprachen von verschiedenen Tendenzen und

Möglichkeiten beherrscht: das Lateinische schätzt verwickelte Konstruktionen

im Wechsel mit knapper Prägnanz; das Französische ist

für knappe Klarheit, das Englische für energische Bestimmtheit; das

Deutsche hat in seinem Satzbau keine gerade Entwicklungslinie,

sondern es hat immer wieder Rückfälle in gründliche Schwerfälligkeit

und unergründliches Dunkel erlebt, wofür Gefühlshaltigkeit und

Gedankenfülle, aber nicht selten auch ungeschickte Nachahmung fremder

Muster Ursache waren. Dafür haben die großen Stilreformatoren

wie Luther, Lessing, Nietzsche immer für scharfgeschliffene Prägnanz

sprachlicher Gliederung gesorgt, und bei ihrer Leistung besteht das

Wort Nietzsches zu Recht, daß man nur im Angesicht der Poesie gute

Prosa schreiben könne.



Über die nationalen Verschiedenheiten hinweg haben die Zeitalter

ihre Maße und Maßlosigkeiten gemeinsam, aber zugleich besitzt jeder

einzelne Schriftsteller seine Eigenart im Bau der Sätze, die seiner

Denkform entspricht und namentlich in den Schlußkadenzen charakteristisch

hervortritt. So hat R. M. Meyer für Lessing, Goethe, Schiller,

Nietzsche typische Bilder des Satzbaus festzustellen vermocht. Sogar

in den einzelnen Werken desselben Schriftstellers ist die Gliederung

nicht die gleiche. Der feine Stilist Theodor Fontane hat z. B. unter

seinen Erzählungen solche „mit und“ und solche „ohne und“ unterschieden,

deren Satzbau von Thema, Stimmung und Problem abhängig

war. Parataxe und Hypotaxe, Parallelismus, Antithese und Chiasmus,

Wiederholung und Steigerung sind demgemäß Mittel, die eine der

Grundstimmung des Werkes entsprechende Anwendung finden.



Dasselbe Verhältnis, das bei der Wortverbindung im einfachen Satz

und bei der Gliederung zusammengesetzter Sätze in Erscheinung tritt,

setzt sich fort im Zusammenschluß mehrerer Sätze zu einer Periode.

Auch da kann von antithetischem und synthetischem Aufbau, von

harmonischer Symmetrie, von rhythmischer Wiederholung, spielerischer

Sprunghaftigkeit, Klarheit und Verschwommenheit gesprochen |#f0252 : 228|



werden. Bisher haben wir erst wenige Untersuchungen, in denen der

einheitliche Stilwille eines Werkes im Fortgang von den einfachsten

Sprachmitteln bis zu den zusammengesetzten verfolgt und als

Walten innerer Gesetze erkannt wird. Ein Versuch dazu ist vor einem

Vierteljahrhundert in Georg Gloeges „ästhetisch-psychologischer“

Stiluntersuchung „Novalis' Heinrich von Ofterdingen als Ausdruck

seiner Persönlichkeit“ gemacht worden und führte zu dem resignierenden

Schlußergebnis: „Nur ein ganz großer Künstler vermöchte mit

genialer Intuition aus den vereinzelten Zügen, die hier in systematischer

Ordnung vorliegen, eine lebendige Einheit zu schaffen.“ Als

neueres Muster einer statistisch unterbauten, aber trotzdem zum

Einblick in die künstlerische Eigenart fortschreitenden Erkenntnis

sei die sorgfältige Untersuchung einer Mériméeschen Novelle „La

Vénus d'Ille“ durch Robert Bräuer herangezogen. Was noch übrig

bleibt, nachdem in Wortstellung, Klangfiguren, Satzbau und Perioden

dieselbe innere Sprachform nachgewiesen ist, würde in der Weiterführung

zur nächsthöheren Einheit, dem Großbau der Periodenfügung,

bestehen, und schließlich müßte dieser Weg zum Aufbau des Ganzen

führen, seine Zusammenhänge mit Problem und Idee der Novelle

ergründen und darüber hinaus bei der künstlerischen Persönlichkeit

des Verfassers enden. Hierzu wäre vielleicht die Intuition nötig, die

dem vorher eingehaltenen Gang der Untersuchung fehlt.



Die inneren Gesetze des Stils durchdringen die Gliederung einer

Strophe, deren festes Schema elastisch genug bleibt, um die charakteristische

Prägung des Syntaktischen und Rhythmischen anzunehmen.

Das gleiche Verhältnis kann sich fortsetzen als Beziehung der einzelnen

Strophen zueinander und als Gliederung des ganzen Gedichts.

Das gilt nicht nur für die Dreigliedrigkeit mittelalterlicher Strophen

und Lieder, sondern ist auch in neuerer Lyrik zu beobachten. So hat

Karl Viëtor für die Gedankenführung Hölderlinscher Oden die Folge

von These, Antithese und Synthese erkannt. Dagegen kann man in

den 15 Strophen von Uhlands Meisterballade „Taillefer“ die Symmetrie

einer Pyramide erblicken: die drei Strophenpaare des Aufgesangs

finden in den drei Strophenpaaren des Abgesangs eine rückläufige

Entsprechung, die im Parallelismus von Singen, Feuer, Sturm

leitmotivartige Verbindung schafft, während die drei mittleren Strophen,

in denen die Spitze zusammengefaßt ist, den Übergang vom

Wunsch zur Erfüllung vollzieht. Wiederum ist die Kreisform eines

räumlichen Nebeneinander, das Anfang und Ende zusammenfallen |#f0253 : 229|



läßt, in den beiden Zyklen von Rilkes „Sonetten an Orpheus“ zu

erkennen, und dasselbe fließende Aufbauprinzip beherrscht bereits

das einzelne Stück, wie am besten an I, 23 und II, 7 zu zeigen ist, die

─ Kuriosa in der Sonettliteratur ─ überhaupt nur aus je einem Satz

bestehen. Von solcher Beobachtung aus scheint eine Verbindung mit

den von Hans Leisegang aufgestellten „Denkformen“ möglich, die in

Begriffspyramide, Gedankenkreis und Kreis von Kreisen für typische

sprachliche Ausdrucksweise weltanschauliche Voraussetzungen zu gewinnen

suchen. In entsprechendem Verhältnis können die Kapitel

eines Romans, die Szenen und Akte eines Dramas und die Gesänge

eines Epos zueinander stehen. So kommen wir schließlich dahin, auch

den äußeren Aufbau des Ganzen, der bisher auf der dritten Stufe

unter dem Gesichtspunkt der Technik betrachtet war, als Stilform

zu erkennen. Und damit endlich rechtfertigen sich Gleichungen zu

anderen Künsten, wobei ein Dichtwerk als musikalisch und malerisch

oder architektonisch und plastisch aufgebaut erscheint und zwischen

geschlossener Form einer regelmäßigen Symmetrie und asymmetrischer

offener Form unterschieden wird. So hat man für Kleist, Jean Paul

und Stifter musikalischen, für Schiller architektonischen Aufbau nachgewiesen,

und Shakespeare ist gemäß der Komposition seiner Werke

dem Barockstil zugerechnet worden. Auf diese Weise gelangen die

analysierten Schöpfungen zur Einordnung in die Bildung großer Stiltypen,

die nicht auf Sprache und Dichtung beschränkt sind. Auf sie

hat schon die Einzelbeobachtung vom Wortgebrauch aufwärts in

steigendem Maße hingeführt.



Wenn wir das Schema, das oben (S. 216) vorbereitet war, umbiegen

zur Kreisform, so daß die senkrechten Schichten von außen

nach innen sich zusammenschließen zu Ringen, während die waagerechten

Schichten sich fächerförmig entfalten und zu einander entgegengesetzten

Sektoren eingeschnürt werden, tritt das Benachbarte

und Entgegengesetzte in sichtbare Erscheinung. Von der äußeren

Schale der Schrift bis zu dem inneren Gerüst des von der Idee

beherrschten Aufbaus steigen die Stufen, in bestimmte Richtungen

geteilt, empor, und wir gewinnen das gesuchte Bild jener Drehscheibe,

die der Weichenstellung Zufuhr bietet. Um die Peripherie dieser

Windrose, deren Himmelsrichtungen durch die Gegensätze von Statik

und Dynamik, von Ausdruckskunst und Eindruckskunst gewiesen

werden, sind die Stilbegriffe, nach denen die Richtungen ganzer Zeitalter

ihren Namen tragen, als Typen einzuzeichnen.

|#f0254 : 230|



Der Platz, der den Stilrichtungen zugewiesen ist, darf nicht so verstanden

werden, als ob mit den zwei Sektoren, die jedem einzelnen

untergeordnet sind, der Stilbegriff erschöpfend charakterisiert sei.

Klassik ist nicht mit den Schlagwörtern plastischer Ruhe und harmonischer

Symmetrie, Expressionismus nicht mit Eigenprägung und

[Abbildung]

I. Schrift, II. Wort, III. Wortzusammensetzung, IV. Wortstellung,

V. Satzgliederung, VI. Periode, VII. Aufbau



Übersteigerung, Barock nicht mit antithetischem Lebensgefühl und

musikalischer Bewegtheit, Rokoko nicht mit spielerischer Logik

allein endgültig geklärt. Vielmehr umfaßt und beherrscht jeder

dieser Stile mit seinen Mitteln mindestens den ganzen Halbkreis,

in dessen Zenit er steht. Die beiden ihm untergeordneten Sektoren

gehören ihm daher nicht allein, aber sie bilden gewissermaßen |#f0255 : 231|



die Wirbelsäule seiner Struktur; in seinen Gliedern aber füllt er nicht

nur den Halbkreis, sondern er kann sich sogar wie ein Fächer über

dessen Grenzen hinaus entfalten und Richtungsgegensätze, die unvereinbar

scheinen, ins ich aufnehmen. Insbesondere gilt dies nun für den

Individualstil jedes Schriftstellers, der selten ganz in einem Zeitstil

aufgeht. Sogar jedes einzelne Werk kann, unbeschadet seiner Einheitlichkeit

Besonderheiten aufweisen, die sich nicht mit dem Typus eines

Zeitstils decken. Wenn die am Einzelwerk vorgenommene Stilanalyse

mit ihren Beobachtungen einzelne Felder des Kreises belegt, so werden

die ausgefüllten Rubriken einen vielzackigen Ausschnitt bilden, dessen

eigenartige Silhouette das Charakteristische des individuellen Stiles

darstellt.



Wie verhält sich nun dieses Schema zu dem am Anfang des Abschnittes

(S. 201) als Aufgabe gestellten Überblick über zwanzig verschiedene

Stilkombinationen? Will man die begriffliche Ordnung

weiter schematisieren, so müßte das charakteristische Beobachtungsmaterial,

das auf die zwanzig Felder verteilt ist, nun den vorgezeichneten

Kreis noch in neunzehn weiteren Exemplaren beanspruchen,

wobei jedesmal das für die Lebensstufe, für die Person, für die Altersgemeinschaft,

für die Heimat usw. Kennzeichnende eingetragen würde.

So würden zwanzig Stilsilhouetten zustande kommen, von denen die

späteren mit ihresgleichen, wie es sich aus anderen Stiluntersuchungen

ergeben hat, zur Deckung gebracht werden müßten, um das Typische

des Stammes und der Periode, der Sprachgemeinschaft, des Zeitalters

und der Rasse allgemeingültig festzulegen zur weiteren Verwendung

bei der Stilanalyse von Einzelwerken.



Die Methoden einer Sprachphysiognomik, wie sie Heinz Werner

angebahnt hat, liegen noch ganz in den Anfängen und haben sich bisher

mehr auf die Umgangssprache als auf die Dichtung bezogen.

Werden sie weitergeführt zur physiognomischen Analyse des Wortkunstwerks,

so kommt die Untersuchung in ein ähnliches Stadium,

wie es seinerzeit die Lavatersche Physiognomik darstellte, die im

Schattenriß ein brauchbares Mittel der Charakterbestimmung finden

wollte. Der Analyse eines Stilprofils kann die gleiche Aufgabe gestellt

sein: es kann als Ausprägung des Geistes einer Dichtung und der

Weltanschauung eines Dichters oder sogar eines ganzen Zeitalters

und einer Rasse begriffen werden.



Nun kann aber die Schädelform doch nur ein bescheidenes Merkmal

sein für die Beschaffenheit des Hirns, in dem Geist und Seele

ihr Kraftzentrum haben. Den ersten Physiognomikern sind mancherlei

Mißgriffe unterlaufen, die zu den deutlicheren Charaktersymptomen, |#f0256 : 232|



wie sie in den Handlungen des Menschen gegeben sind, sich in

Widerspruch setzten. So kann auch der Stil keineswegs als das einzige

ausschlaggebende Charakter- und Weltanschauungskriterium betrachtet

werden; man wird vielmehr der mitttelbaren Aussprache in der Dichtung

mehr Bedeutung beimessen und erst danach die Übereinstimmung

zwischen mittelbarer und unmittelbarer Selbstoffenbarung erkennen.



8. Sechste Stufe: Das Persönliche


a) Weltanschauliche Haltung



Zwischen Weltanschauung und Stilrichtung besteht eine Beziehung,

die man beinahe als psychophysischen Parallelismus bezeichnen

könnte, wenn man in der Weltanschauung eines Dichters die Seele

seines Stils, im Stil eine Verkörperung seiner Weltanschauung erblicken

will. Stilbezeichnungen wie Naturalismus, Realismus, Romantik

oder Mystik haben gleiche Geltung als Benennung von Weltanschauungen.

Beides entfaltet sich für ein Stück des Weges in

gleicher Stufenfolge zu gleichartigen Einheitsbildungen: man kann

wie vom Stil, so auch von der typischen Weltanschauung einer Rasse,

einer Nation, eines Stammes, aber auch von der eines Zeitalters,

einer Periode, einer Generation sprechen. Nur endet die absteigende

Reihe hier beim Individuum; man kann im allgemeinen nicht von der

Weltanschauung eines Werkes sprechen. Es bleibt auch zweifelhaft,

ob mit dem Wandel des Stils die wechselnden Weltanschauungen verschiedener

Altersstufen zu erfassen sind, da solche Änderung der Haltung

und Richtung noch keine feste Prägung bedeutet. Diese ist vielmehr

erst eine Gabe der Reife. Jugendliche Weltanschauungsbekenntnisse

gehen meist mit der Zeit und schließen sich, auch wenn sie

revolutionär sind, einem bahnbrechenden Wecker und Künder an. Je

schneller sie wechseln, desto weniger ist es möglich, jedes einzelne

Werk als Ausdruck einer bestimmten, im Lebenskampf gewonnenen

und unabänderlich feststehenden Überzeugung aufzufassen, wie wir sie

unter Weltanschauung verstehen.



Die Analyse trifft auf ein ausgesprochenes Bekenntnis nur da, wo

die Absicht dazu besteht, als vornehmlich bei religiösen und philosophischen

Dichtungen, oder da, wo subjektives oder objektives Ringen

um ein Weltbild das eigene Thema der Dichtung ist, wie beim

Bildungsroman oder im Ideendrama. Je nachdem, ob es als subjektiv |#f0257 : 233|



oder als objektiv aufzufassen ist, kann sich solches Weltanschauungsbekenntnis

bereits auf der vierten und fünften Stufe bei der Untersuchung

der Selbstdarstellung und der Wirklichkeitsauffassung gezeigt

haben. Diese Trennung entspricht dem Dualismus von subjektiver

Einstellung und objektivem Weltbild, die Karl Jaspers in seiner

„Psychologie der Weltanschauungen“ als statische Elemente der Betrachtung

voraussetzt, während er das dynamische Zentrum in die

bewegten und bewegenden Kräfte der Geistestypen verlegt, die Einstellung

und Weltbild umfassend zusammenschließen. Solchen Geistestypus

kann nicht jedes einzelne Dichtwerk, sondern nur der Dichter

in seiner ganzen Person verkörpern; allenfalls spiegelt sich seine

Ganzheit in großen Lebenswerken, die eine Welt für sich darstellen,

wie Goethes „Faust“ oder Dantes „Göttliche Komödie“; in der Regel

aber muß man eine Zusammenfassung des gesamten dichterischen

Schaffens und aller Lebenszeugnisse vornehmen, um über Wandlungen

und Widersprüche hinweg zum Wesenskern durchzudringen. Die

Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird daher erst im

zweiten Buch ihre Besprechung finden.



Wenn Goethe im Alter sein gesamtes Schaffen als „Bruchstücke

einer großen Konfession“ bezeichnet hat, so erhob er damit den Anspruch,

seine Weltanschauung als etwas Gewordenes aus den manchmal

widerspruchsvoll erscheinenden Zeugnissen seiner Entwicklung

aufzubauen. Für die Analyse jedes einzelnen Werkes ergibt sich

daraus die Folge, daß die darin erkennbare Haltung nichts anderes

als ein Bruchstück bedeutet, das nach Ergänzung sucht. Beispielsweise

hat der junge Goethe in der Prometheusode das Erlebnis des

eigenen Schöpfertums in solcher Sturmgewalt ausbrausen lassen, daß

das Gedicht als Widerspruch zur christlichen Offenbarungslehre

wirken mußte und Lessings zustimmendes Bekenntnis zum Pantheismus

herausforderte. Etwa fünf Jahre später entstehen aus einer

anderen Lebensstimmung die „Grenzen der Menscheit“, in denen die

demütigste Unterwerfung unter Götter und Schicksal verkündet wird.

Man wird aus solcher Gegensätzlichkeit keineswegs eine totale Wandlung

der Weltanschauung erschließen dürfen; auch in der Sturm- und

Drangzeit steht der trotzigen prometheischen Haltung bereits eine

ganymedische gegenüber, die zu aufgehender Vereinigung mit dem

All emporstrebt. Aber auch die Altersdichtung zeigt scheinbare Widersprüche

einer Bipolarität. Das Gedicht „Eins und Alles“ schließt mit

den Versen:



Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.
|#f0258 : 234|



Dagegen beginnt das Gedicht „Vermächtnis“ mit dem klar formulierten

Widerspruch:



Kein Wesen kann zu nichts zerfallen.


Das ist keine aufhebende Selbstberichtigung; beides ist Bekenntnis

zur gleichen Betrachtung des Seins als eines ewigen Fließens, das

kein Beharren zuläßt. Von den Widersprüchen gilt, was der Dichter

zu ihrer Rechtfertigung ausspricht:



Immer hab' ich nur geschrieben,

Wie ich's fühle, wie ich's meine,

Und so spalt' ich mich, ihr Lieben,

Und bin immerfort der Eine.



Im Gegensatz zu dieser vielfältigen, universellen Einheit muß für

manchen anderen Dichter bei der weltanschaulichen Haltung, die er

einnimmt, die Frage nach der Echtheit gestellt werden. Es gibt ein

Gedicht, das die Überschrift „Die Welt“ trägt:



Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?

Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?

Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,

Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht;

Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,

Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt.

Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,

Ein faules Grab, so Alabaster deckt.

Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen,

Und was das Fleisch für einen Abgott hält.

Komm Seele, komm, und lerne weiter schauen,

Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt.

Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,

Halt ihre Lust für eine schwere Last,

So wirst du leicht in diesen Port gelangen,

Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.


Man wird an allen Stilmerkmalen, vor allem an den gehäuften Antithesen,

sogleich die Barockzeit erkennen und auch die in ihr vertretene

weltverneinende Haltung finden. Und doch verrät sich in den

Bildern eine Art lüsterner Weltfreude, die dem bunten Feld mehr

zugeneigt ist als den Kummerdisteln, und der positiv gehaltene zweite

Teil fällt mit seinem blassen, innerlich unerlebten und nicht geschauten

allegorischen Schlußbild gegenüber der überladenen Sinneswirkung

des ersten Teiles völlig ab. Aus anderen Gedichten, wie

aus seinem Leben, das wiederum die vielen lasziven Motive seiner

Dichtung Lügen straft, kennt man Hofmannswaldau genug als rechtschaffenen |#f0259 : 235|



Epikuräer, um an der Echtheit der eingenommenen Haltung

zu zweifeln. Man wird sie deshalb nicht geradezu verlogen

nennen dürfen, denn sie gehört wie der Stil zur Haltung der Zeit

und ist bei anderen Dichtern, wie z. B. Andreas Gryphius, innerlich

erlebt.



Wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, Detlev von Liliencron

einmal in dem Gedicht „Betrunken“, das trotz seiner Erlebtheit nicht

zu den besten gehört, den abgegriffenen Metaphernschwall parodiert:



Die Welt ist das Tal der Küsse,

Die Welt ist der Berg des Kummers,

Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit,

Die Welt ist die Luft des Unsinns,


so stellt sich das heulende Elend des Rausches dar als naturalistisches

Gegenbild der sinnlichen Weltfreude, von der der impressionistische

Dichter sonst beherrscht ist. Man hat, wie es beispielsweise durch

Ermatinger geschehen ist, in der ideellen Leere Liliencronscher Stimmungslyrik

ein künstlerisches Manko erblicken wollen; trotzdem wird

der dem Idealismus abgewandten Haltung der Charakter eines Weltbildes

nicht abzustreiten sein. Nicht anders ist es bei Th. Fontane,

der einmal aussprach: „Man kann seinen Pessimismus auch in rot,

ja in zeisiggrün kleiden. Mehr, man kann auch wirklich dabei heiter

werden, vorausgesetzt, daß man ein glückliches Temperament hat.“



Gedankendichtungen können verschiedenartige weltanschauliche

Haltungen antithetisch nebeneinander stellen, wie es Schiller mit den

„Worten des Wahns“ und den „Worten des Glaubens“ tat. Rudolf

Unger konnte darin eine Illustration der Diltheyschen Weltanschauungstypen

erblicken und das eine Gedicht als Glaubensbekenntnis des

objektiven Idealismus, das andere als das des Idealismus der Freiheit

erklären. Immerhin verraten schon die Überschriften und noch mehr

die im einen Fall warnende, im andern Fall preisende Haltung des

Dichters, zu welcher Weltanschauung er sich selbst bekannte.



Bei zusammenprallenden Weltanschauungsgegensätzen im Drama

braucht dagegen die Haltung des Dichters nicht klar erkennbar zu

sein; ja, es ist die Frage, ob sie anders als durch das Geschehen

selbst ausgesprochen werden sollte. Oft muß die Weltanschauung des

Gegenspielers als Motivierung seiner Handlungen bestimmter zur Aussprache

gebracht werden, als die des Helden, selbst wenn diese mit

der des Dichters übereinstimmt. In den „Räubern“ entwickelt Franz

Moor sein materialistisches System in folgerichtigeren Gedankenreihen

als Karl Moor sein Gefühlsleben; in der „Jungfrau von Orleans“ gibt |#f0260 : 236|



der sterbende Freigeist Talbot das klare Bekenntnis eines Aufklärers,

das im Wortlaut sogar an das Testament Friedrichs des Großen erinnert,

während Johanna mehr durch ihre Taten, als durch Worte

Zeugnis ablegt von ihrem Glauben. Auch in Goethes „Faust“ ist

Mephistopheles weit mehr als der Titelheld Vertreter einer Weltanschauung,

die er als Kritiker der Schöpfung verneinend und zersetzend

formuliert. Wenn er so auftritt, ist er aber nicht der Gegenspieler

Fausts, sondern der des Herrn. Wird des Faustdichters eigene

Weltanschauung maßgebend offenbart, so geschieht es weder durch

Faust noch durch Mephistopheles, sondern durch göttliche Stimmen

am Anfang und Ende der Weltdichtung. Aber nun ist sowohl beim

Prolog als beim Epilog im Himmel wahrzunehmen, daß zwar die

sittliche Einstellung, mag man sie aktiv, kontemplativ oder mystisch

nennen, die des Dichters ist, daß aber das Weltbild, weder das sinnlich-räumliche

noch das metaphysische seiner eigenen Weltanschauung

entspricht. Für den Prolog im Himmel hat Heinrich Rickert nachgewiesen,

daß die kosmische Vorstellung in den Gesängen der Erzengel

die des ptolemäischen Weltsystems ist, anders als etwa in Klopstocks

„Messias“, wo mit dem kopernikanischen System Übereinstimmung

hergestellt ist. Für den Schluß des Ganzen hat Goethe selbst

zugegeben, daß er eine Anleihe bei den festgeprägten Himmelsvorstellungen

der mittelalterlich katholischen Weltanschauung habe

machen müssen, um den Helden zur Gnade gelangen zu lassen. Eine

andere Haltung mag man in dem „nicht so vieles Federlesen!“ des

„Westöstlichen Divan“ erkennen.



Außerhalb der dramatischen Gegensätze stehende Gestalten sind

die besten Sinndeuter des Geschehens. In diesem Sinn rechtfertigt

Schiller die Wiedereinführung des Chores, den er als einen „allgemeinen

Begriff“ bezeichnet: „Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung,

um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten

und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die

großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit

auszusprechen.“ Was heißt das anderes, als daß der Dichter den Chor

als ein Organ und Sprachrohr für die Kundgebung seiner Weltanschauung

gebrauchen kann! Nach der Auffassung Grillparzers bedeutete

der antike Chor den Zoll, den der tragische Dichter dem Geist des

Volkes brachte; er war aber zugleich ein Schild gegen alle Verdächtigungen

seiner Gesinnung.



Ehe er den Chor einführte, hatte Schiller, ebenso wie Goethe,

bereits ein anderes Hilfsmittel aus der antiken Dichtung übernommen,

nämlich die Sentenz, die in knappster Form wesentliche Weltanschauungsgrundsätze |#f0261 : 237|



vermittelt („Es erbt der Väter Segen, nicht

ihr Fluch“, „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“). Sentenzen

sind epigrammatische Aussprüche, die aus dem Organismus des Kunstwerks

herausgenommen, ein selbständiges Weiterleben führen und zu

mancherlei Lebensfragen in Beziehung zu setzen sind. Sie haben zwar

ihre besondere Beziehung zur Grundidee des Werkes, dessen Blumenschmuck

sie bilden, aber ihre Wurzeln haben sie doch nicht eigentlich

in der inneren Form des Kunstwerks, sondern in einem anderen

Erdreich, eben in der Weltanschauung des Dichters. Ihr Vorkommen

ist eine Stileigentümlichkeit, die indessen nicht nur der Klassik zugehört;

sie können sich ebensogut im realistischen Roman finden,

etwa in den Gesprächen, die der alte Fontane in einer Plauderstunde

liebevoll ausgestaltet hat. Auch da ist es oft so, daß die Bonmots

nicht dem Charakter einer bestimmten Person angehören und aus

ihm heraus allein verständlich sind, sondern daß sie einem Mitteilungsbedürfnis

des Verfassers entspringen, genau so wie die allgemeinen

Betrachtungen, mit denen er als Erzähler sich in Beziehungen zur

Leserwelt setzen darf. Aus solchen Sentenzen und Aphorismen kann

die Analyse eines umfangreichen Einzelwerkes wenigstens Teilvorstellungen

von der Weltanschauung eines Dichters gewinnen.



Nietzsche hat in seiner „Geburt der Tragödie“ dem Roman, den er

auf das Vorbild des platonischen Dialogs zurückführen wollte, die

Stellung einer „ancilla philosophiae“ zuerkannt. In der Tat hat man

zeitweilig den unepischen Bestandteilen großer Romane mehr

Schätzung entgegengebracht als den epischen, und aus dem monströsen

„Arminius“ des Lohenstein sind alle Sinnsprüche ausgezogen

worden als „Arminius enucleatus“ oder „Lohensteinius sententiosus“.

Ähnliches könnte ebensogut bei modernen Gesprächsromanen wie

„Helianth“ oder „Zauberberg“ geschehen.



Der Roman bietet wie das Drama Gelegenheit zur Auseinandersetzung

verschiedenartiger Weltanschauungen, nur daß sie weniger

zum dramatischen Zusammenstoß gelangen, sondern mehr im duldsamen

Nebeneinander oder gar in epischem Nacheinander sich entfalten.

Insbesondere gehört es zum Wesen des Bildungsromans, daß der

Held zur Weltkenntnis durch Gegensätze hindurchgeführt wird, die

sich vor ihm auftun, und daß seine Entwicklung in vielfältigen Auseinandersetzungen

zur Eroberung einer eigenen gefestigten Lebensauffassung

gelangt. Dieses Ziel kann in der Abwandlung verschiedener

gedanklicher Systeme erreicht werden, wie in Wielands „Agathon“,

oder im Durchgang durch ästhetische, religiöse, pädagogische und

ökonomische Lebenssphären, wie in Goethes „Wilhelm Meister“, oder |#f0262 : 238|



durch die Bekanntschaft mit einer besonderen Philosophie, wie sie

Gottfried Kellers Grüner Heinrich bei den Feuerbachianern auf dem

Grafenschlosse erlebt. Die Auseinandersetzungen können sich in breiten

Gesprächen vollziehen, die die Entwicklung des Helden begleiten,

oder in Tagebucheinlagen und Briefen, die als Ruhepunkte der Selbstbetrachtung

den Fortschritt der Erzählung hemmen. Es können

episodische Gestalten eingeführt werden mit dem einzigen Zweck,

durch ihre Lehren, Warnungen und Weissagungen dem Leben des

Helden eine neue Wendung zu geben. Zu ihnen gehören Gurnemanz

und Trevrizent in Wolframs „Parzival“, der Narr, der Jupiter zu

sein vorgibt, in Grimmelshausens „Simplicissimus“ und die Abgesandten

der Gesellschaft des Turms im „Wilhelm Meister“. Als Raisonneure

kommen solche Mahner und Warner auch außerhalb des

Bildungsromans vor, z. B. in der Gestalt des Mittler in Goethes

„Wahlverwandtschaften“. Manchmal haben derartige Figuren auch

nur die Ansicht der Gesellschaft zu vermitteln, wie oftmals bei Fontane,

der allerdings selten sich in Widerspruch dazu stellt. Wie weit

Meinung und Weltanschauung des Dichters vertreten wird, entscheidet

sich im allgemeinen mit der Frage, ob der Verlauf den geäußerten

Ansichten recht gibt, ob die Befolgung oder Außerachtlassung ihres

Rates dem Helden zum Wohl oder zum Verhängnis ausschlägt. Unbedingte

Richtigkeit pflegen die Lebensregeln im Märchen zu haben,

das, wenigstens in seiner deutschen Form, eine ausgesprochen optimistische

Weltanschauung bekundet.



Es ist bei Betrachtung der dritten Stufe bereits angedeutet, in

welchem Maße die Prägung der Fabel von dem Weltbild des Dichters

abhängig ist. Auch andere Elemente der Analyse, wie wir sie in

Stimmung und Absicht, in Psychologie, Motiven und Charakteren

fanden, stehen mit diesem Zentrum in Zusammenhang. Die Schicksalsbegriffe

von Zufall, höherer Fügung und strenger Ursächlichkeit,

von Willkür oder Zwang des Handelns, die Wertbegriffe von Standhaftigkeit

im Leiden und Todesüberwindung, von sittlicher Freiheit,

von Pflicht der Entscheidung und Selbstbehauptung, die Relationen

endlich zwischen Schuld und Sühne, Belohnung der Tugend und Bestrafung

des Lasters, von diesseitiger und jenseitiger Vergeltung sind

durch das Weltbild des Dichters bestimmt. Der Ausgang jeder Tragödie

und jeder Komödie zwingt zu einem Bekenntnis. Wir wissen,

wie schwer es Lessing wurde, das Ende der „Emilia Galotti“ zu gestalten,

bei dem eine Schuld der Heldin gefunden und die Bestrafung

des Prinzen einer höheren Gerechtigkeit überlassen werden mußte.

Wir erkennen Grillparzers von Schopenhauer beeinflußten Pessimismus, |#f0263 : 239|



wenn am Schluß der „Medea“ der ungetreue Jason zur härtesten

Strafe, zu der des Weiterlebens, verurteilt wird. Die ganzen Fragen

der tragischen Schuld und der poetischen Gerechtigkeit bedeuten

weniger ästhetische als weltanschauliche Postulate, bei denen Wirkung

und Erfolg auch vom Einvernehmen mit den herrschenden Anschauungen

eines Kulturkreises und eines Zeitalters, eines Volkes und einer

das Publikum bildenden Gesellschaftsschicht nicht unabhängig sind.



b) Problemstellung



Der bisherige Weg der Analyse führt bereits an mehreren Stellen

auf den Begriff des Problems als Kern der Dichtung hin: sowohl bei

der Fabel und ihren Motiven als bei den Charakteren und ihrer

Psychologie erwies sich die Problemstellung als das Verbindungsglied

der Kette, in der diese Elemente mit der das Ganze beherrschenden

Idee verknüpft sind. Jedes Problem bedeutet eine Fragestellung, die

in der Idee ihre Beantwortung finden muß, und eine Idee kann

zur dichterischen Gestaltung gelangen nur in der Lösung von

Problemen. Wenn der dichterischen Idee selbst eine Polarität zugeschrieben

wird, wie es durch Ermatinger geschieht, so weist diese

Spannung entgegengesetzter Begriffe vielmehr auf ein zugrunde

liegendes Problem, das nach Lösung verlangt, zurück. Wenn andere

wiederum in Freiheit und Unsterblichkeit keine Ideen, sondern

Probleme sehen wollen, so rechtfertigt sich dieser Brauch nur, solange

Antithesen wie zwingende Notwendigkeit oder ewiger Tod der

Freiheit und Unsterblichkeit gegenüberstehen. Von den Problemen

gilt, was Jaspers als „antinomische Struktur des Daseins“ an den sogenannten

„Grenzsituationen“ aufgezeigt: „In jedem der Fälle: Kampf,

Tod, Zufall, Schuld liegt eine Antinomie zugrunde. Kampf und gegenseitige

Hilfe, Leben und Tod, Zufall und Sinn, Schuld und Entsündigungsbewußtsein

sind aneinander gebunden; das eine existiert nicht

ohne das andere.“ Immer liegt im Problem ein Entweder-Oder, gleichviel

ob es sich um Fragen praktischer Lebensgestaltung oder theoretischer

Erkenntnis, um ethische Grundsätze, Menschendeutung,

letzte weltanschauliche Entscheidungen oder metaphysische Wahrheiten

handelt.



Die Problemspannung kann das Erlebnis des Dichters gewesen sein,

von dem die Aneignung des ganzen Stoffes und die ganze Konzeption

des Werkes ihren Ausgang nahm. Wenn beispielsweise Rousseaus

Denkwürdigkeiten den Plutarch rühmten, weil er nur große Tugendhafte

oder erhabene Verbrecher darstellte, und in diesem Zusammenhang |#f0264 : 240|



der Graf von Lavagna als würdiges Gegenstück aus der neueren

Geschichte genannt wurde, so stand der junge Schiller vor der Frage,

welcher der beiden Typen menschlicher Größe in seinem Fiesco zu

verkörpern sei. Es handelte sich um das Problem des Verhältnisses

von Persönlichkeit und Staatswohl, das schon in den „Räubern“

berührt war, und als die Waagschale nach der Seite des Verbrechens

gegen die Freiheit sank, wurde ein Gegengewicht geschaffen: dem

Helden wurde ein großer Tugendhafter im starren Republikaner

Verrina gegenübergestellt. Ein ähnliches Charakterproblem entrollte

Heinrich von Kleist gleich im ersten Satz seines „Michael Kohlhas“,

indem er auf einen der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen

der Zeit vorbereitete. Hier lag das Problem in der Frage: wie kann

man aus Rechtschaffenheit zum entsetzlichen Menschen werden? Nicht

selten ist der Vorwurf einer Dichtung von vornherein als solche Fragestellung

formuliert worden. Beispielsweise schrieb Theodor Storm über

seine Novelle „Ein Bekenntnis“ an Gottfried Keller: „Mein Thema:

Wie kommt ein Mensch dazu, sein Geliebtestes zu töten? und wenn

es geschehen, was wird mit ihm?“ Auch Büchners „Woyzeck“ hat in

der ersten Frage sein Problem gefunden. Die Frage des „Warum“

kann sogar in der Dichtung selbst aufgeworfen werden, wenn sie keine

Antwort darauf zu geben weiß. So heißt es am Schluß von Müllners

Schicksalsdrama „Die Schuld“:



Das Warum wird offenbar,

Wenn die Toten auferstehen.



Rudolf Unger, der nach Wilhelm Dilthey am tiefsten in die Probleme

dichterischer Lebensdeutung eindrang, sieht in den großen,

ewigen Rätsel- und Schicksalsfragen des menschlichen Daseins den

Kerngehalt alles Dichtens. Wenn von ihm vier Beispiele gegeben

werden im Schicksalsproblem, im religiösen Problem, im Verhältnis

zur Natur und in der Auffassung des Menschen, so schließt jede

dieser Lebenssphären wieder vielerlei verschiedene Fragestellungen

in sich, die zu Problemen der Dichtung werden können.



Zum Schicksal werden die Gegenpole von Freiheit und Notwendigkeit,

von Geist und Natur, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit gerechnet,

deren zweites Paar auch unter das Verhältnis zur Natur, deren drittes

ebensogut unter die Auffassung vom Menschen gestellt werden könnte.



Zum religiösen Urproblem sind die Gegensätze zwischen der Endlichkeit

des Menschen und seinem unaustilgbaren Streben nach dem

Unendlichen und Ewigen gezählt, aber neben den subjektiven Verhältnissen

zum Unsichtbaren und Übernatürlichen, die in vielerlei Gegensätzen |#f0265 : 241|



wie Gefühlsgewißheit oder Vernunftbeweis, Autorität oder

persönliches Erlebnis, Glaubensdogma oder inneres Schauen, Fanatismus

oder Toleranz sich auswirken, stehen die objektiven Gegensätze

der Gottesvorstellung wie Transzendenz oder Immanenz, und die

religiösen Schicksalsfragen wie Erbsünde und Erlösung. Solche Weltanschauungsfragen

werden zu Problemen, sobald in der Dichtung ein

äußerer oder innerer Kampf um sie geführt wird. Aber in gleicher

Weise kann sowohl eigenes Gottgefühl als die Seelenlage des Menschen,

der für einen Gott gehalten wird (Gutzkows Maha Guru,

Hauptmanns Emanuel Quint) zum Problem werden. Das dritte von

Unger genannte Grundproblem des Daseins, das Verhältnis des Menschen

zur Natur, kann in Furcht und Aberglauben, Unterwerfung

und technischer Bewältigung wieder zu den Schicksalsfragen hinüberreichen,

während Fragen wie Vererbung, Anpassung und Rasse bereits

dem Kulturproblem sich nähern. Auch Liebe und Tod werden zu den

problematischen Naturformen des Menschenlebens gerechnet, und die

Gegensätze, die beiden gegenüberstehen, sind lieblose Ichsucht und

ideelle Todesüberwindung.



Das vierte Feld liegt in den gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen,

wie Familie, Staat, Bildung und Beruf; die Begriffspaarung

ist im Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft, Individuum

und Staat, Eigennutz und Gemeinsinn, Selbstentwicklung und Erziehung

gegeben. Doch könnten die Problemkreise noch weitere Ausbreitung

finden im Ethischen (Gesetz oder Selbstbestimmung, Pflicht

oder Neigung, Schuld oder Verhängnis, Sein oder Schein, Wert oder

Unwert des Lebens), wie im Ästhetischen (Schön oder Erhaben) und

im Politischen (Volk und Menschheit).



Die Steigerung zum Problem läßt sich, wie schon oben (S. 173)

gezeigt, aus der Stufenfolge von Bild, Zug und Motiv heraus entwickeln.

Beispielsweise gibt die Ähnlichkeit zweier Menschen, die

sich aus dem Gesicht geschnitten zu sein scheinen, ein Bild der Vererbung.

Ein Zug ist die auch im Charakter sich auswirkende Angleichung

an die Vorfahren, die im Stammbaumroman eine Rolle

spielt. Zum Motiv wird das Charaktererbteil, wenn es sich in Handlung

umsetzt. Die körperliche Ähnlichkeit schafft weiter als Erkennungs-

oder Verwechslungsmotiv sowohl im Komischen (Menächmen,

Shakespeares Lustspiele) als im Tragischen (Grillparzers „Ahnfrau“;

das Doppelgängermotiv in Hoffmanns „Elixieren des Teufels“ oder

W. v. Scholz' „Perpetua“) und sogar im Tragikomischen (Kleists

„Amphitryon“, insofern der Held am Schluß als Erscheinungsform

Jupiters erklärt wird), dankbare Situationen. Als Problem aber tritt die |#f0266 : 242|



Vererbung in Erscheinung, wenn sie umkämpft wird, wenn sie einen

angeborenen oder prätendierten Rechtsanspruch auf Reich und Thron

begründet oder wenn sie als Fluch ein ganzes Geschlecht bedroht. Im

einen Fall kann die Bestimmung entweder nach vielen Prüfungen

sich durchsetzen (Wolframs „Parzival“) oder sie kann trügerisch zusammenbrechen

(Schillers „Warbeck“ und „Demetrius“); im andern

Fall erfüllt sich entweder das unausweichliche Verhängnis (Schillers

„Braut von Messina“, Ibsens „Gespenster“, Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“),

oder die blutsmäßige Bedrohung wird willensmäßig überwunden

(Goethes „Iphigenie“, Hauptmanns „Friedensfest“) oder es

kann sogar eine zwiefache Lösung in Parallele gesetzt werden (Hesses

„Hyazinth und Goldmund“).



Während Gottesvorstellung und Schicksal sich in religiösen Problemstellungen

zusammenfinden, gehören auf der anderen Seite Liebe

und Tod zueinander; sie stellen nach einem sinnreichen Bilde Paul

Ernsts die beiden Arme des Gottes der Dichtung dar, dessen Schultern

die Unendlichkeit peitscht; aber sie bilden zugleich die ewigen Probleme

der Philosophie des Lebens.



„Philosopher c'est apprendre à mourir“ lautet ein Ausspruch

Montesquieus, der die Bedeutung des „Memento mori“ für Selbstschau

und Weltbetrachtung kennzeichnet. Das dichterische Todesproblem,

dessen literarhistorische Verfolgung mit Ungers Arbeiten

über Herder, Novalis, Kleist einen entscheidenden, durch Walter

Rehm, Fr. W. Wentzlaff-Eggebert und viele andere verfolgten Anstoß

erfahren hat, läßt für die Frage Tod oder Unsterblichkeit die ideelle

Lösung offen in einer Reihe von Glaubensvorstellungen: dem lebenden

Leichnam bei primitiven Völkern, dem Totenheer der alten Germanen,

der Erhaltung der Entelechie in Goethes Sinn, den Übergang

in ein höheres Leben nach christlicher Vorstellung, dem Sternenleben

nach Kinderträumen, der körperlichen Wiederkehr, der Seelenwanderung,

der Weltseele, der unio mystica und dem pantheistischen

Eingehen in das All.



Die Auffassung der Liebe, der Paul Kluckhohn ein grundlegendes

Buch gewidmet hat, führt gleichfalls zu Unendlichkeitsvorstellungen.

Teils reichen sie in Urewigkeit zurück wie Präexistenz und Androgynenmythus

(Platons Gastmahl), und nehmen in poetischer Gestaltung

die Frageform des Problems an (Goethes: „Warum gabst du uns

die tiefen Blicke ... Sag, was will das Schicksal uns bereiten?“), teils

erstrecken sie sich als Liebe, die das irdische Leben überdauert, in

künftige Ewigkeit (El. Rowe, „Friendship in Death“ und ihre empfindsamen

Nachahmungen; ewige Liebe des Künstlers zu seinem Ideal |#f0267 : 243|



bei E. Th. A. Hoffmann). Liebe und Tod treten in Verbindung

durch die Probleme des Liebestodes und der Todesliebe. So ist Friedrich

von Hardenberg nach dem Verlust seiner Braut zur Weltanschauung

eines magischen Idealismus gelangt, kraft dessen er die

Wiedervereinigung mit der Geliebten erzwingen wollte, wie es die

„Hymnen an die Nacht“ allegorisieren. Das Motiv des Nachsterbens

aber kommt im Problem der inneren Selbstvernichtung durch gewolltes

Auslöschen des Lebenstriebes zum Triumph der Liebesidee in

Kleists Penthesilea und Grillparzers Hero, wie in Wagners Senta,

Elisabeth und Isolde. Und in Rilkes Spätdichtung gelangen die Liebenden

erst jenseits des Todes zu wirklichem Können.



Bei allen Zusammenhängen zwischen dichterischer und philosophischer

Problemstellung liegt der Unterschied darin, daß dichterische

Lebensdeutung immer an konkreten, wenn auch erfundenen Einzelfällen

und Konflikten aufgezeigt wird, die als symbolisch gelten dürfen,

während die Antwort der Philosophie eine abstrakte ist, die nicht

aus dem Einzelfall hervorgeht, sondern höchstens zu dessen begrifflicher

Erfassung verhelfen kann. Wenn Rudolf Unger nun der Dichtung

eine Hilfsstellung für die Philosophie beimessen möchte, weil

sie dem verallgemeinernden Denken bereits vorgearbeitet hat durch

Auswahl, Steigerung, Deutung und Sinngebung des Rohstoffs der

Wirklichkeit, so geht diese Auswertung des Verhältnisses einseitig

vom Standort der Philosophie aus. Die literaturwissenschaftliche

Analyse wird dagegen mehr an sich selbst denken und sich weniger

der Philosophie dienstbar machen, als vielmehr deren Hilfe in Anspruch

nehmen für die Klärung, Ergründung und Benennung der

dichterischen Problemstellung. Dabei müssen neben dem Standpunkt

heutiger Beurteilung, dem eine jetzt geltende Systematik Wegweiser

und Maßstab sein kann, nicht minder die zur Zeit des Entstehens

herrschenden weltanschaulichen Strömungen, in deren Licht der Dichter

sein Erlebnis sah, wie seine eigenen, persönlichen Lebensprobleme

zur Deutung herangezogen werden. Es ist derselbe Fall wie bei der

dichterischen Psychologie, die gleichfalls aus den zur Entstehungszeit

geltenden Seelenvorstellungen wie aus den persönlichen Erlebnissen

verstanden werden muß und daneben nach allgemeingültigen Gesetzen

des Seelenlebens überprüft werden kann. In ihrer lebenswahrsten

Gestaltung bietet sie Anschauungsmaterial für die wissenschaftliche

Seelenkunde. So wird auch hier nach Ungers methodischen Richtlinien

„die positive Arbeit an den Einzelproblemen und die Ausbildung einer

philosophisch orientierten Prinzipienlehre und heuristischen Topik

zweckmäßigerweise Hand in Hand gehen.“

|#f0268 : 244|



9. Siebente Stufe: Geist und Idee



Die Beziehung des Begriffes „Idee“ auf die Dichtung hat in ihren

vielfältigen Spielarten eine wechselvolle Geschichte. Aus dem Neuplatonismus

der Renaissance emporgestiegen, findet das Wort in

Scaligers Poetik eine mehr aristotelische als platonische Anwendung,

wird von Winckelmann in den Mittelpunkt seiner Kunstbetrachtung

gestellt, von Herder seiner Transzendenz beraubt und mit naturphilosophischer

Immanenz ins Innere des Kunstwerks verlegt, bei Goethe

durch den Begriff des Urphänomens verdrängt und in Hegels Ideenlehre

dem absoluten Geist untergeordnet.



In positivistischer Reaktion gegen die konstruktiven Auslegungen

hegelianischer Ästhetiker gab die Dichtungslehre des 19. Jahrhunderts

zeitweilig den Begriff Idee ganz auf. Scherers Poetik wollte nichts

davon wissen und glaubte mit Stoff, Thema, Vorwurf, Hauptmotiv

auszukommen; zur gleichen Zeit hat auch Dilthey davor gewarnt, in

jeder Dichtung eine Idee zu suchen, wobei er auf das Inkommensurable

in Shakespeares „Hamlet“ hinwies und auf alle vergeblichen Bemühungen,

dort eine Idee ans Licht zu ziehen. Wollte Dilthey damals

das zu allgemeingültiger Bedeutung erhobene Erlebnis an die Stelle

der Idee setzen, so hat seine spätere Entwicklung dahin geführt, in

der Weltanschauung des Dichters den ideellen Kern seiner Gestaltung

zu erblicken. Von da führt der Weg weiter zur Thronerhebung des

Problems durch Unger, zur Wiederherstellung der Idee durch Ermatinger,

zur Krönung des Geistes durch Cysarz, und gegenwärtig

scheint sich bei Pongs eine Identität von Idee und Existenz herzustellen.





Für das Verhältnis zwischen Problem und Idee ist im vorausgehenden

Abschnitt eine Formel gefunden worden, wonach die Idee

sich als entscheidende Lösung des Problems offenbart. Fragen wir

weiter, woher diese Entscheidung stammt, so werden wir zur Weltanschauung

des Dichters zurückgeführt. Wenn oben gesagt ist, daß

die einzelne Dichtung keine eigene, totale Weltanschauung haben

kann, so bleibt ihr doch der Ausdruck einer bestimmten Idee vorbehalten.

Idee ist aber die auf ein Problem bezogene und in seiner

Lösung ausgeprägte weltanschauliche Haltung des Dichters. Die dichterische

Idee scheint damit zum Organ der Weltanschauung herabgesetzt,

aber zugleich ist sie innerhalb der Dichtung zur entscheidenden

Bedeutung erhoben. Man kann sagen, daß die Idee ihre Wirksamkeit

entfaltet, wenn der Dichter etwas von seiner eigenen Weltanschauung

in die schwebende Waagschale der Problemstellung wirft.

|#f0269 : 245|



Die Idee gäbe, wenn wir bei diesem Bilde bleiben wollen, mit

ihrem Tiefgang erst dem Ganzen Halt und Gewicht so wie das Schiff,

erst wenn es seine Ladung hat, gesteuert werden kann. So sieht Emil

Ermatinger in der Idee den dynamischen Mittelpunkt der ursächlichen

Ordnung aller inhaltlichen Elemente; er läßt die ganze Vielheit

einzelner Gedanken und Problemstellungen von ihr ausstrahlen.



Das gegenseitige Verhältnis von Idee, Stoff und Form erblickt

Ermatinger in demselben Anschauungsbild eines Dreiecks, das unser

an den Eingang dieses Kapitels gestelltes dispositionelles Schema

entworfen hat (S. 111). Aber indem er Idee und Stoff sich in der

Form zur Einheit vermählen läßt, legt er das, was wir als Spitze des

Dreiecks ansahen, auf den Boden. Die Verbindung von Idee und Stoff

bildet bei ihm die Basis, auf der sich die Form aufbaut. Wir legten

dagegen Stoff und Form zugrunde und begrenzten das aufsteigende

Ineinanderwirken von Gehalt und Gestalt durch die Schenkel, die in

der Idee als der Spitze des Dreiecks oder dem Gipfel der Pyramide

zusammentreffen. Die Idee liegt dann nicht im Kiel des Schiffes,

sondern bildet Kapitänsbrücke oder Flaggenmast; sie ist gewissermaßen

der Dachfirst des Hauses, dem alle Glieder als Tragpfeiler

dienen. Alle Gedanken, alle Gestalten, alle Motive, alle Problemstellungen

stehen in Verhältnis zu ihr und zeigen den Weg zur Idee,

selbst wenn sie ihr ausweichen und entgegengesetzt erscheinen.



Für die Genesis des Kunstwerkes wäre dieses Bild zweifellos irreleitend,

denn die Idee ist entstehungsgeschichtlich keineswegs das

letzte Glied des Gefüges. Nur einmal, beim „Gyges“ hat Hebbel

festgestellt, daß zu seiner eigenen Überraschung, wie eine Insel aus

dem Ozean, erst bei Abschluß des Stückes die Idee der Sitte als alles

bedingend und bindend hervorgetreten sei. Daran wird richtig sein,

daß diese Zentralidee erst jetzt ihm bewußt wurde, während sie doch

wohl von Anfang an als ein verhüllter Gipfel zu dem Ideen-Hintergrund

gehörte, den der Dichter bei allen Arbeiten wie eine die Landschaft

abschließende Gebirgskette vor sich sah. Von manchen Theoretikern

des Schaffensvorganges, z. B. Pierre Audiat, ist die schöpferische

Idee (l'idée créatrice) wie der Geist, der über den Wassern schwebt,

an den Anfang der Schöpfung gesetzt worden. Die Analyse dagegen

kann ihre genetische Rolle erst rückläufig erschließen, nachdem die

Idee gefunden ist, und dieses Ergebnis stellt sich in der Tat als letztes

erst nach Aufnahme der ganzen Dichtung her. Manchmal kommt die

Idee am Ende eines Werkes zur Erörterung, wie der Staatsgedanke in

Kleists „Prinz von Homburg“ V, 5 und in Hebbels „Agnes Bernauer“

V, 10. Entscheidend für die Lösung der Problemstellung kann sogar |#f0270 : 246|



das letzte Wort einer Dichtung sein, z. B. in Schillers „Braut von

Messina“:



Das Leben ist der Güter höchstes nicht,

Der Übel größtes aber ist die Schuld.



Auch Goethe hat im Chorus Mysticus, der den Schluß der Faustdichtung

bildet, den tiefsten Sinn des Ganzen zusammengedrängt,

ohne daß man allerdings in diesen Versen eine problemlösende Idee

erkennen könnte. Dagegen hat er selbst gelegentlich den vorausgehenden

Engelchor als Schlüssel zum Verständnis des Werkes

bezeichnet:



Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen,

Begegnet ihm die selige Schar

Mit herzlichem Willkommen.


Will man in der Tat an dieser Stelle die Idee des Werkes offenbart

finden, so hat man in der Zweigliedrigkeit keine Polarität zu sehen,

sondern eine Steigerung. Ein Ideenkomplex entsteht im Zusammentreffen

von zwei geistigen Mächten. Das eine ist die in den Menschen

gelegte Kraft unstillbaren Strebens, das andere die in Gott ruhende

ewige Liebe. Das erste wird Problem im Pakt des ersten Teiles, aus

dem die Idee des unbezwingbaren Strebens trotz aller Irrungen

siegreich hervorgehen soll (entsprechend der Voraussage des Prologs

im Himmel). Das zweite Problem ist das der irdischen und himmlischen

Liebe, das im ersten Teil mit dem Erlöschen von Fausts Leidenschaft

endet, also mit einer Niederlage des Menschen, während es im

zweiten Teil durch die entgegenkommende Liebe von oben dem guten

Ausgang entgegenwächst.



Wie schon bei Gelegenheit der Fabel (S. 140) erwähnt wurde, hat

der Faustdichter selbst es nicht wahrhaben wollen, daß alles von

ihm auf den Faden einer einzigen durchlaufenden Idee aufgereiht

worden sei. Umgekehrt kann man in andern Fällen, wo der Dichter

selbst den Sinn eines Werkes nachträglich zusammengefaßt hat,

zweifeln, ob damit das Rechte getroffen wurde. So hat H. A. Korff

bestritten, daß mit den späten Widmungsversen der „Iphigenie“:



Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit


wirklich die Idee der Dichtung, die Goethe selbst später als „verteufelt

human“ bezeichnete, ausgesprochen sei.

|#f0271 : 247|



Die Idee braucht nicht als Zitat, als geflügeltes Wort, als zum Mitnehmen

eingewickelter Gebrauchsgegenstand dargereicht zu werden,

wie der moralische Satz in der Aufklärungspoetik. Mit Recht sagt

Ermatinger, die Idee sei nicht Grundgedanke, Lehrsatz, sichtbare

Moral, sondern als seelische Schau und Triebhraft „ein imaginärer

Punkt, der im Unsichtbaren wirkt“. Man könnte sie also dem Augenpunkt

eines perspektivischen Gemäldes vergleichen, auf den alle

Linien in ihrer Verkürzung hinführen. Es bleibt dabei eine Stilfrage,

ob die Lage dieses Punktes, der im Unendlichen zu denken ist, sichtbar

wird, wie es bei klassischer zentraler Komposition der Fall ist,

oder ob, wie bei der Winkelperspektive der Barockmalerei, die Linien

sich seitwärts verlieren, so daß der imaginäre Punkt außerhalb des

Bildes zu denken ist.



10. Synthesen



Wenn die Idee allen Elementen der Dichtung übergeordnet ist, so

wäre zu zeigen, wie sie zu dieser Suprematie gekommen ist, wie sie

aus dem Stoff aufsteigt, nach der Form blickt, Erlebnis und Stimmung

bildet, die Wahl der Gattung entscheidet, die Fabel prägt, die Absicht

klärt, an die Technik Bedingungen stellt, die Psychologie in Bewegung

setzt, in Selbstdarstellung sich ausspricht, die Charaktere unter sich

zwingt, die Motive wählt, mit der Wirklichkeitsauffassung sich in

Übereinstimmung setzt, die Sprachform und den Rhythmus beseelt, im

Stil ihr Gewand webt, in der Weltanschauung ihren Boden hat, in

den Problemen ihr Sprungbrett findet, und wie sie so sich aufschwingt

zum Thron, der ihr die Herrschaft gibt, unter der allen Untertanen

ein harmonisches Einvernehmen gewährt ist.



Diese neue Bindung aller in der Analyse voneinander gelösten

Glieder bedarf aber der Tragkraft des Hauptelementes, das in dem

bisher zugrunde gelegten Schema eingeklammert war, nämlich der

Persönlichkeit des Dichters. Ohne ihn ist keine Kausalität möglich.

Die Idee kann nicht aus dem Stoff geboren werden, ohne daß der

Dichter sie in den Stoff gelegt hat. So wenig der Stoff ohne den

Keim der Idee zu lebendiger Gestaltung gelangte, ebensowenig kann

die Idee konkrete Existenz gewinnen, ohne daß der Dichter sie persönlich

aus dem Reich der Mütter heraufgeholt und sich angeeignet

hat. Nicht von einer abstrakten Idee, sondern nur von der lebendigen

Kraft des Dichters aus ist die Genesis des Werkes darzustellen und

das Geschaffene nachzuschaffen. Einer Wiederholung des Entstehungsvorganges

in allen seinen Phasen, den günstigen Falles der Einblick |#f0272 : 248|



in die Werkstatt des Dichters durch seine Selbstbekenntnisse ermöglicht,

kann kein wesentliches Element, das bei der Analyse gefunden

war, entgehen. Analyse und Genesis kontrollieren sich also gegenseitig,

denn sie gehen denselben Weg in entgegengesetzter Richtung,

indem die eine vom Werk aus den Dichter sucht, die andere vom

Dichter aus das Werk aufbaut. Früher einmal habe ich ihr Zusammengehen

dem Bau eines Tunnels verglichen, der von beiden Seiten aus

in Angriff genommen wird. Die Berechnung erweist sich als richtig,

wenn die Bohrungen in der Mitte zusammentreffen; die Durchschlagstelle

ist der Prüfstein der Methode. Dabei ist mit allen Widerständen

zu rechnen, die ein zu sprödes oder zu brüchiges Material bietet.

Voraussetzung der richtigen Errechnung muß auf beiden Seiten Kenntnis

der geologischen Schichten sein und Feststellung der Struktur. Auf

seiten des Werkes haben wir diese Beschaffenheit durch die Analyse

kennengelernt; auf seiten des Dichters stehen wir vor Geheimnissen.

Was weiterhelfen kann, ist erstens die Vertrautheit mit dem Menschen,

seiner Wesensbeschaffenheit, seinem äußeren und inneren

Leben und seiner typischen oder individuellen Schaffensweise, zweitens

die Vertrautheit mit den Gesetzen des dichterischen Schaffens

als generellem Vorgang. Diese Bedingungen weisen die Genesis des

Dichtwerkes den Betrachtungen des zweiten Buches zu.



Daneben aber gibt es eine Reihe weiterer synthetischer Verwertungen

der in der Analyse gewonnenen Elemente. Jedes kann zusammengetan

werden mit seinesgleichen in kategorienmäßiger Gruppierung. Die

Stoffe, Situationen, Fabeln, Charaktere, Motive und Probleme sind

typologisch zu ordnen; die Formen der Gattung, der Technik, der

Psychologie, der Sprache und des Stils können auf ihre Entwicklung

hin untersucht werden. Da jeder Teil auf das Ganze schließen läßt,

und da das Verhältnis sich aufrechterhält bei Ausdehnung auf das

Gesamtwerk eines Dichters, eines Zeitalters, einer Landschaft und

eines Volkes, so kann man aus dem Querschnitt zu einer Charakteristik

des Ganzen gelangen. Nur wird diese um so dünner und oberflächlicher

sein, je weiter das gruppenmäßig zusammengefaßte Element

von der geistigen Spitze entfernt bleibt. Die sogenannte Stoffgeschichte

kann so gut wie nichts für die Wesensart des Ganzen erbringen, es sei

denn, daß sie die verschiedenartige Behandlung desselben Themas

psychologisch, stilistisch und völkerpsychologisch auswertet; auch die

Betrachtung einzelner Formen, z. B. des deutschen Hexameters, des

deutschen Madrigals, des deutschen Sonetts oder des deutschen

Ghasels im Vergleich mit antikem, orientalischem oder romanischem

Versbau kann sowohl zu entwicklungsgeschichtlichen als zu charakterologischen |#f0273 : 249|



und völkerpsychologischen Ergebnissen führen; die Geschichte

der einzelnen Gattung, z. B. des Dramas, läßt sich innerhalb

einer Nationalliteratur, eines Kulturkreises (Creizenach) oder sogar

der Weltliteratur (Klein) unternehmen, aber Viëtors Versuch, die

ganze Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen zur Darstellung

zu bringen, ist bei verdienstvollen Einzeldarstellungen geblieben.





Dagegen muß eine Gesamtdarstellung der Technik sich nach den

Einzelgattungen verteilen, wobei sie mehr auf systematische als entwicklungsgeschichtliche

Betrachtung zielen wird. Auch Motivgeschichte

und Stilgeschichte sind als repräsentativer Ersatz für vollständige

Literaturgeschichte in Angriff genommen worden. Desgleichen fehlt es

nicht an Versuchen, die Weltanschauung und die Wirklichkeitsauffassung

(Fricke, Lugowski) als Richtschnur zu wählen; die Menschendarstellung

ist als günstiges Beobachtungsfeld durch Heinz Kindermann

zum methodischen Spezialgebiet erklärt worden in Nachfolge Diltheys,

der bereits die Nachbarschaft von Dichtung und Anthropologie erkannt

hatte. „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu betreiben,

hat Unger befürwortet, ohne zu bestreiten, daß es auch andere Blickpunkte

und Dimensionen gebe, und Martin Heidegger hat diese Wendung

als eine Bewegung zur Seinsfrage anerkannt. Endlich gibt es

Geistesgeschichte und Ideengeschichte. Der weiteste Ausblick bietet

sich von den Gipfeln, weil alle Richtungen auf sie hinführen und alle

Elemente ihnen unterworfen sind. In dieser Höhenlage hat schon

Hermann Hettner die Entwicklung überschauen wollen; sehr viel

weiter ist H. A. Korff gestiegen, der seinen „Geist der Goethezeit“

als „Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen

Literaturgeschichte“ bezeichnen durfte. Trotz dieser sublimen Stoffüberwindung

wird aber neben der Ideengeschichte auch die von

Hettner verworfene Geschichte der Bücher und nicht minder die

der Dichter, der Gesellschaftsschichten, der Landschaften und der

Stämme ihr Recht behalten.



Von allen diesen Darstellungsmethoden, die im dritten Buch unter

dem Begriff der „Ordnungen“ zur Sprache kommen werden, muß

gelten, daß sie die Analyse der Einzelwerke voraussetzen, und dies

um so mehr, als die Einzelwerke nur nach bestimmten Elementen ihrer

Existenz in Betracht gezogen werden. Aus der Analyse der Einzelwerke

sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer Darstellungen

zusammengewirkt werden kann.

|#f0274 : E250|



VIERTER HAUPTTEIL


DEUTUNG UND WERTUNG


Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte:

es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele

zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden.

Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung

des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand

von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit;

es ist geistgeladene Materie geworden. Und

hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt

von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang

und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines

Sinngehalts führen.



Hans Freyer.



1. Das Verstehen



Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von

sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer

Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut,

gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes,

der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung

im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten

Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten

Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel

setzt, nämlich „das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen

und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen

Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige

erregt und befruchtet werde“. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung,

die Erschließung des biographischen Anlasses und

persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der

Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung

der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das

alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht.

In seiner Handhabung liegt das eigentliche „Verstehen“, das man im

Anklang an Goethes Wort als ein „Erkennen von innen“ bezeichnet hat.



Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit

psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische

Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das „Verstehen“ |#f0275 : 251|



eines Textes sollte dann zustandekommen, „wenn in unserer Seele

eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber

desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für

die er bestimmt ist“.



Dagegen erhebt sich als erster Einwand die Frage, ob ein Werk der

Selbstbefreiung, das aus Lebenskrisen und innerem Zwang hervorbrach,

überhaupt auf ein bestimmtes Publikum berechnet gewesen

sein muß. Stifter sagt im „Nachsommer“: „Der Künstler macht sein

Werk, wie die Blume blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie

ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar

nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht.“ Wie

mancher, der zu seinem eigenen Behagen schrieb, mag nicht anders

gedacht haben als Wilhelm Raabe, der den Erzähler der „Alten Nester“

Gott dafür danken läßt, daß er nicht weiß, an welche Leser sich das

eben Niedergeschriebene wenden wird. Andere mögen bei der Niederschrift

nur an einen einzigen Leser gedacht haben. Aber auch,

wenn es ein bestimmter Kreis war, so ist zu fragen, wie zunächst die

Gesellschaft, der ein Text zugedacht war, und wie danach ihr Geist

festzustellen sei. Durch Widmungen oder Berichte ist solcher Leserkreis

unter Umständen zu ermitteln, aber damit ist immer noch nicht

erfaßbar, welches seine Vorstellungsassoziationen waren. Selbst dann,

wenn der ursprüngliche Widerhall, von dem wir annehmen, daß er

beabsichtigt war, in Urteilen kundgegeben ist, bleibt es höchst ungewiß,

ob wir heute die gleichen Assoziationen als Eindruck des Textes zu

erleben imstande sind.



Der von Paul geschilderte Vorgang kann sich eigentlich nur bei

Verständigung durch das gesprochene Wort von Mensch zu Mensch

herstellen, wenn räumliche und zeitliche Gegenwart durch keinerlei

Trennung behindert und der Sprachgebrauch gleichgestimmt ist. Ohne

solchen Kontakt ist völlige Identität der Vorstellungsassoziationen

unerreichbar. Auf welche Weise dürfte es möglich sein, gegenüber

Dichtungen, die für die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters bestimmt

waren, wie Minnesang und höfische Epik, ohne weiteres die

entsprechende Seelenhaltung zu finden, durch die das Verstehen verbürgt

sein soll? Nicht viel anders ginge es mit den gesellschaftlichen

Idealen des Absolutismus, wie sie in der klassischen Tragödie Frankreichs

gepflegt wurden. Und denken wir an Dantes „Göttliche Komödie“

so ist das ganze kosmische System, das sich in den drei Reichen

des Inferno, Purgatorio und Paradiso aufbaut, nur aus den Vorstellungen

mittelalterlicher Glaubenswelt zu verstehen. Das religiöse, naturwissenschaftliche,

politische, gesellschaftliche und ethische Weltbild |#f0276 : 252|



einer anderen Zeit und Kulturstufe ist einzuschalten. Wenn auch die

dichterische Kraft der Vision unmittelbar in Bann schlägt, so bleibt

für den unvorbereiteten Leser außer den sprachlichen Schwierigkeiten

viel Seltsames und Unerklärliches. Die vom Dichter gewollten Vorstellungsassoziationen

sind also durch den Erklärer erst auf großen

Umwegen historischer Reflexion zu erwecken.



Wenn französische Theoretiker, z. B. Pierre Audiat, an die Möglichkeit

einer vollständigen Reproduktion des Werkes aus der Einsicht

in die inneren Entstehungsbedingungen glauben, so muß dieses Verfahren

bei fremder Sprache, die zugleich Ausdruck anderen Denkens

ist, an der Verschiedenheit des geistigen Raumes scheitern. Aber selbst

bei einem nur zeitlichen Abstand entsteht das von E. G. Kolbenheyer

hervorgehobene Hindernis, daß die Lautgebilde und Werkmittel der

eigenen Sprache für uns verändert sind, „weil wir in einem anderen

Anpassungszustand des eigenen Volksstammes stehen“.



Will eine literarhistorische Methode bei Dichtungen entlegener Zeiten

und Länder die Vergegenwärtigung dadurch gewinnen, daß sie die

Kulturlage des Jahrhunderts und die gesellschaftliche Verfassung der

einstigen Leserschaft, für die das Werk bestimmt war, in Rechnung

zieht und sich mit historischer Einfühlung und Phantasie danach

umzuschalten bemüht, so verdoppelt sich die Aufgabe, und man nähert

sich den Gefahren eines Kreisfehlschlusses. Es müssen erst die allgemeinen

Voraussetzungen verstanden werden, ehe es an das einzelne

Werk geht, und diese allgemeinen Voraussetzungen sind wiederum

großenteils erst aus dem Verstehen vieler einzelner Werke jener Zeit

zu gewinnen.



Kommt man zu dem einzelnen Werk, dann liegen sowohl in den

Absichten des Urhebers als in der Reaktionsfähigkeit des Publikums,

für die es bestimmt war, unbekannte Variabeln. Selten sind die verschiedenen

Voraussetzungen so deutlich erkennbar wie bei Vergleich

der beiden altdeutschen Evangelienharmonien. Beim niedersächsischen

„Heliand“ sind die darstellerischen Mittel heidnischer Heldenepik zur

Volkspredigt verwendet, die eine Hörerschaft von Laien für die christliche

Idee gewinnen soll; die Mönchsdichtung Otfrids von Weißenburg

sucht dagegen, wie schon die verschiedenen Vorreden besagen,

auf dem Weg über die kirchlichen Vorgesetzten zu den Gläubigen

an Höfen und in Klöstern vorzudringen. Trotz dieser sichtbaren

Unterschiede bleibt das, was den Verfassern und dem Publikum beider

Dichtungen gemeinsam war, die Glaubensvorstellung und Seelenlage

des noch nicht lange christianisierten Germanen, für den Menschen

der Gegenwart und sein unmittelbares Erleben verschlossen.

|#f0277 : 253|



Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt,

die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein

hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen

zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers

innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre

die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des

mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des

sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer,

Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur

aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet,

sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben,

abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls

stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft,

aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist.



Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt

wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen,

von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen „Messias“, die auf

einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des

Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die

Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen

Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen

dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das

der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen

Versuche, für den „Messias“ in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit

eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen

das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist

ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts

mit tiefsten Eindrücken erschütterte.



Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem

Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen

nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit

des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß

sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso

subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener

Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung

objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen

Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges „Verstandenhaben“

vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir

uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden,

so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des

Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir |#f0278 : 254|



in früheren Urteilen das bestätigt finden, was unsere eigene Empfindung

ist. Solche Übereinstimmung muß zu dem Schluß führen, daß

unmittelbar ästhetisch erfühlbar und sinngemäß verstehbar bei jedem

Werk der Ferne nur das Überzeitliche und Überräumliche ist, was

unabhängig von besonderen Kultur- und Geschmacksverhältnissen uns

allgemein menschlich berührt. Das Wort Goethes bestätigt sich: „Im

Grunde verstehen wir nur, was wir lieben.“ Der Umweg des geschichtlichen

Verstehens aus allen uns fremden Voraussetzungen kann nur

ein „Zuverstehensuchen“ und ein möglichst geringes Mißverstehen

bedeuten. Das wäre die größtmögliche Annäherung an ein unerreichbares

Ziel.



Anders als die philologische, kulturhistorische, völkerpsychologische

und soziologische Methodenlehre faßt der Philosoph den Begriff des

„Verstehens“. Seit Wilhelm Diltheys Anknüpfung an Schleiermachers

Hermeneutik ist es zum Kernbegriff einer geisteswissenschaftlichen

Psychologie und zum Pfeiler für die theoretische Grundlegung der

gesamten Geisteswissenschaften geworden. Die Theorie des Verstehens

ist als gegebenes Zwischenglied zwischen der Arbeit der einzelnen

Geisteswissenschaften und der Philosophie anerkannt; die Philosophie

wird, weil die Regelung der Erkenntnis und Sinndeutung aller geistigen

Gegebenheiten in ihre Hand gelegt ist, zum Knotenpunkt und

zum Wegweiser, der seine Arme nach verschiedenen Richtungen

ausstreckt.



Die Entwicklung der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert,

wie sie Joachim Wach in einem dreibändigen Werk dargestellt hat,

steht in Verbindung mit den Anweisungen für hermeneutische Praxis,

und ihre Betrachtung kann trotz des Willens zu einheitlicher Begriffsbildung

nicht verhehlen, daß Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft

und Kunstwissenschaften notwendigerweise ihre besonderen

Wege gehen. Auf die schon von Schleiermacher gestellte Frage, ob

die Hermeneutik als Kunst oder als Wissenschaft anzusehen sei, kann

die Antwort der drei Gebiete nicht ganz die gleiche sein. In der

Fragestellung liegt bereits die Anerkennung, daß sowohl Wissenschaft

als Kunst an dem Werke der Auslegung mitzuwirken haben; die Antwort

hat eigentlich nur das Gewichtsverhältnis der Beteiligung zu

bestimmen und zu entscheiden, ob es mehr darauf ankommt, daß

Wissenschaft sich in ihrer Anwendung durch Kunstsinn leiten läßt,

oder darauf, daß künstlerisches Denken sich unter wisssenchaftliche

Leitung stellt.



Daß das Verstehen von Kunstwerken, gleichviel, ob man es als

Nacherleben, Nachschaffen, Einfühlen, Sichhineinversetzen oder von |#f0279 : 255|



innen gewonnenes Anschauen des Seelischen bezeichnet, auch bei rein

rezeptivem Verhalten mehr als alles andere Verstehen von den Organen

künstlerischen Schaffens getragen werden muß, liegt auf der

Hand. Für Kunstverstehen, mehr noch für Kunsterklären als Anweisung

zum Verstehen und am meisten für Besprechen eines Kunstwerkes

in darstellender Vermittlung seines alle Eindrücke verbindenden Sinnes

ist künstlerisches Empfinden und künstlerische Darstellungsgabe

unerläßliche Voraussetzung.



Dem unmusikalischen Menschen fehlt mit dem Gehör jede Empfänglichkeit

zum Genießen eines Musikwerkes. Wie sollte er es verstehen

können, geschweige denn anderen verständlich machen? Der

Mensch ohne angeborenen Schönheitssinn wird vielleicht einer gewissen

Geschmacksbildung fähig sein, aber ohne ein farbenhungriges

Auge, ohne das feinste Fingerspitzengefühl des Tastsinnes, ohne rhythmisches

Mitschwingen im Hinblick auf Bau und Gliederung, ja ohne

einen gewissen Antrieb zum Nachbilden der aufgenommenen Sinneseindrücke

wird er nicht imstande sein, über Werke der bildenden

Kunst ein selbständiges Urteil zu gewinnen und anderen die Augen zu

öffnen. Ebensowenig wird ein Mensch ohne motorisches Körpergefühl

und mimische Ausdrucksgabe auf die Bewegungseindrücke der Tanzkunst

oder des Schauspiels mit Verständnis eingehen können.



Vollends erweist sich der amusische Mensch blind und taub gegenüber

den Werten der Dichtung, und wenn es so ist, können alle Methoden

der Welt sein Gebrechen nicht heilen. Es bleibt der Satz des

Empedokles in Geltung, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden

könne, und es stellt sich das Gleichnis des Plotin ein, das Goethe

zu seiner berühmten Anwendung umprägte:



„Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft,

Wie könnt' uns Göttliches entzücken?“


Die Dichtung ist weder Ohrenkunst allein noch Augenkunst, sondern

Kunst allseitiger Phantasiesinnlichkeit, und wenn der Dichter mit

allen Sinnen das Leben in sich aufgenommen und ihm seinen Sinn

gegeben hat, so muß der Verstehende mit gleicher Sinnesanspannung

im Auditiven, Visuellen und Motorischen das gestaltete Leben entgegennehmen

und seinen Sinn begreifen. Bewegliche Phantasie muß

auf alle Anregungen eingehen; sie muß Bilder und Gleichnisse in

lebendige Vorstellung umsetzen, muß Farben-, Licht- und Klangreize

empfinden, Wohllaut, Rhythmus und Dynamik der Sprache erfühlen,

innere und äußere Bewegung miterleben, Landschaft und Innenräume

schauen und ihre Stimmung einatmen, menschliche Züge durchdringen |#f0280 : 256|



und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen

in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen

erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem

den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder

bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das

Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen

Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu

begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende

Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die

sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes

nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher

der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung

aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren

sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie

im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung

Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er

muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre

schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören

des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält.

Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er

entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in

Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker

Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das

Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die

hier zu verrichten ist: „Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und

befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist.“



Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter

Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige

Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der

mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen

Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer,

der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische

Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder

gleich dem Schauspieler, der mit seiner Menschengestaltung gedichtetem

Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und

nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen:

sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des

Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen

in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun

der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt.

So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans |#f0281 : 257|



R. G. Günther vom Verstehen des Menschen sagt, daß es nicht ein

Wiederverwirklichen von bereits Verwirklichtem sei, sondern grundsätzliches

Entwirklichen in Umbildung, Symbolisierung, Typologisierung

und Projektion eines plastischen Gebildes auf eine Ebene.



Dieser Vorgang kann bis zur begrifflichen Prägung einer schlagwortartigen

Formel führen, als Schlüssel, auf dessen Druck alle geheimnisvollen

Pforten der Dichtung aufspringen sollten. Hat der

Dichter selbst solche Losung ausgegeben, so scheint man sich getrost

ihm überlassen zu dürfen, aber man wird doch selten mehr als einen

bloßen Wink zum Verstehen finden. Wenn z. B. Heinrich von Kleist

das Verhältnis zwischen „Penthesilea“ und „Käthchen von Heilbronn“

dem Plus und Minus der Algebra gleichsetzt, so ist das nur ein verbindlicher

Hinweis auf die innere Verwandtschaft der beiden polar

entgegengesetzten Frauencharaktere, in denen das widerspruchsvolle

Wesen des Dichters sich spiegelt. Kündigt Jean Paul seinen „Titan“

als „den großen Kardinal- und Kapitalroman“ an, so bestimmt er

damit nur die Stellung, die er diesem Werk in seinem Gesamtschaffen

beimißt. Bezeichnet Friedrich von Hardenberg das Thema seines

„Heinrich von Ofterdingen“ als „Poesie der Poesie“ im Gegensatz zur

„Poesie der Prosa“, die in Goethes „Wilhelm Meister“, dem „Candide

gegen die Poesie“, herrsche, so zeigt er damit mehr ein Mißverstehen

Goethes, als daß er dem Verstehen seines eigenen Werkes die letzte

Pforte öffnet. Nennt Gottfried Keller seinen „Grünen Heinrich“ während

der Qualen der Umarbeitung den „alten Sündenroman“ und den

„dämonischen Simpel“, so beweist sein Überdruß, daß er kein Verhältnis

mehr zur Urgestalt hatte. Manches Dichterwort kann sogar

bedeuten, daß der Verfasser sich selbst und sein Werk schließlich nicht

mehr verstanden hat.



Gefährlicher noch sind geistreiche oder oft nur witzige Schlagworte

feuilletonistischer Kritik. Wenn Goethes „Faust“ die „deutsche Göttliche

Komödie“ und Hölderlins „Hyperion“ ein „griechischer Werther“,

Luthers „Ein feste Burg“ die „Marseillaise des Protestantismus“,

Lessings „Nathan“ der „Zwölfte Anti-Götze“, seine „Emilia Galotti“

ein „gutes Exempel dramatischer Algebra“, Klopstocks „Messias“ ein

„Emblem der Langeweile“, Schillers Wallenstein ein „Ifflandscher

Hofrat in der Uniform des Dreißigjährigen Krieges“ genannt wurde,

so gehen die Beziehungen, Vergleiche und Vorstellungsassoziationen

fast durchweg an Kern und Wesen des zu verstehenden Werkes vorbei.

Die blendende Zauberformel, die ein Sinngebilde des eigenen Geistes

ist, kann eine Fata Morgana aufleuchten lassen, die keinen Aufschluß

gibt und als Blendwerk und Irrlicht sogar zum Mißverstehen verleitet. |#f0282 : 258|



Diese Verfälschung droht dann einzutreten, wenn man allzu geistvoll

wird, d. h. wenn der Geist des Deuters sich selbst ins Licht setzt und

den Geist des Objekts überstrahlen will. Dem ins Innere eindringenden

Verstehen, mit dem das Entstehen und Bestehen des Werkes erhellt

wird, vermag überraschendes Blitzlicht und sprühendes Feuerwerk

keine dauernde Klarheit zu geben.



Weil alles Verstehen sich in Mitteilung umsetzen will und erst in

der Mitteilung zur Klarheit, erst im Widerhall zur Sicherheit gelangt,

sprechen wir von der Deutung als einer aus dem Verstehen erwachsenden

Aufgabe der Literaturwissenschaft. Auslegung ist nach Heidegger

die Ausbildung des Verstehens und Zueignung des Verstandenen. Deutung

fassen wir als die Weitergabe der Auslegung auf. Es handelt sich

darum, die Lebensdeutung, die in der Dichtung enthalten ist, zu verstehen,

und dieses Verstehen muß wieder in Deutung umgesetzt werden,

indem es anderen vermittelt wird. Ist der Dichter ein Mittler

des Lebens, so ist der Ausleger, dem die Deutung zufällt, ein Mittler

des Verstehens. Er hat ohne Preisgabe seines eigenen Standortes sich

in zweifacher Weise einzuleben und hineinzuversetzen in die Seele

des Werkes, das er zu deuten hat, und in die Seele derer, für die er

die Deutung unternimmt. In diesem Sinne muß er drei Sprachen

beherrschen: erstens die der Dichtung, zweitens seine eigene, drittens

die der Hörer, deren Verständnis er erwecken will. Die Deutung steht

in einer dreifachen Abhängigkeit, und die Frage, für wen sie unternommen

wird, ist dabei von nicht geringer Wichtigkeit.



2. Die Wertung



Mit der Deutung verbinden wir als etwas Untrennbares die Wertung.

Zwar hat man von Wertfreiheit gesprochen, namentlich beim

geschichtlichen Verstehen, und hat in der voreingenommenen Beurteilung

eine trübende Gefährdung des Verständnisses befürchtet.

Aber solche Objektivität ist beim Kunstwerk nicht zu erzwingen, weil

der Sinn bereits einen Wert darstellt und weil im Verstehen notwendigerweise

eine Bewertung sich herstellen muß. „Alles verstehen“

heißt hier nicht „alles verzeihen“, sondern: alles als sinnvoll und

zweckmäßig erkennen. Im Gelingen dieser Erkenntnis liegt eine

Urteilsbildung, im restlosen Gelingen sogar nichts anderes als Bewunderung.





Dem Verstehen sind Grenzen gesetzt nach unten und nach oben;

der Sinn liegt, wie Gomperz gesagt hat, zwischen den Gegensätzen

von Sinnfreiheit und Sinnlosigkeit. Man kann in der Allgemeinverständlichkeit |#f0283 : 259|



einen Wert erblicken; Bürger, der Erneuerer der deutschen

Volksballade, hat sogar die Popularität geradezu als das Siegel

der Vollkommenheit gepriesen. Aber man kann nicht einmal sagen,

daß Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit gleichbedeutend

seien; volkstümlich ist vielmehr gerade das, was Zusammenhänge,

die nicht auf der Oberfläche liegen, herzustellen aufgibt, wie Rätsel,

Sprichwort, Gleichnis, Symbolik. Das Allzuverständliche, Alltägliche,

Platte, das der Sinneserfühlung und -deutung gar keine Aufgabe stellt

weder in Form noch Gehalt, bleibt unter der Grenze des Verstehenswerten,

denn das Verstehen beginnt erst angesichts eines Unverstandenen.

Stefan George soll es sogar geradezu als ein Zeichen der Minderwertigkeit

erklärt haben, wenn ein Dichter von allen verstanden

würde.



Etwas an sich Unbedeutendes kann immerhin verstehenswert sein,

wenn es in weiter zeitlicher und räumlicher Ferne liegt, den Rest

einer verlorenen Welt oder eines verschlossenen Seelenlebens darstellt,

und als dessen bescheidener Sinnträger zu betrachten ist. Insofern

stellen auch die harmlosesten künstlerischen Lebensäußerungen der

Naturvölker ihre Aufgabe des Verstehens, die in einer Überbrückung

der weiten Ferne zu lösen ist. Auch der primitivste Volkssang übt

einen ästhetischen Reiz aus, ohne daß sein Sinngehalt irgendwelche

Probleme zu stellen scheint; vielmehr muß das Verstehen hier auf die

symbolischen Ausdrucksformen des einfachsten Gefühlslebens und auf

sein Miterleben gerichtet sein. Darin hat Hermann Ammann sehr

richtig zwischen dem logischen Zusammenhang anderer Geisteserzeugnisse,

die überpersönliche Gültigkeit beanspruchen, und dem Bewußtsein

seelischer Gemeinschaft, den das lyrische Gedicht hervorbringt,

unterschieden, daß er dort das Verstehen mit Begreifen, hier mit Ergriffenwerden

gleichsetzt.



Aber der Wert mehrt sich, wenn Überpersönliches und Persönliches

zusammentrifft, und er steigert sich beim Ineinandergreifen ästhetischer,

sozialethischer, religiöser und politischer Gegebenheiten; er

wächst im Ringen um das Verstehen, in der Verwicklung und Tiefendimension

der Probleme, die es zu enträtseln und in einheitlicher

Sinnesklarheit als kunstvollen Zusammenhang zu begreifen gilt. Dieser

Möglichkeit sind indessen Schranken gesetzt. Zwar hat Goethe von

den poetischen Produkten gesagt: „Je inkommensurabler, desto besser!“

und er hat sich nicht gescheut, in seine Altersdichtung manches

hineinzugeheimnissen, was nicht jeder verstehen konnte und sollte.

Aber wo eine Sinneseinheit überhaupt nicht zu gewinnen ist, wo der

beherrschende Geist im Dunkel bleibt und sich auf keinen Ruf enthüllen |#f0284 : 260|



will, schwindet der Wert, und was durchaus unverständlich

bleibt, scheint nicht die erfolglose Mühe zu lohnen, die an die Deutung

verschwendet wird.



Wo liegen indessen die Grenzen? Was ein Verfasser selbst nicht

verstanden hat, muß, auch wenn der sprachliche Aufwand noch so

groß ist, als künstlerisch mißglückt betrachtet werden. Aber wenn

alles, was sinnlos zu sein scheint, ohne weiteres als wertlos verworfen

wird, so besteht die Gefahr voreiliger Aburteilung, die schließlich

nicht die Unverständlichkeit, sondern den Unverstand bloßstellt.

Sinnlos erscheint jedes Wortgebilde, dessen Sprache man nicht versteht,

und wenn das Objekt gleichwohl seine unerkannte Intention

besitzt, so liegt die Schuld des Nichtverstehens beim Subjekt, das sich

nicht bemüht hat, die ihm fremden Hieroglyphen und Chiffren lesen

zu lernen. In seinem paradoxen Fragment „Über die Unverständlichkeit“

hat Friedrich Schlegel es geradezu als Vorzug gepriesen, wenn

die harmonisch Platten gegenüber einem irrationalen Geisteswerk

hilflos bleiben. Das Heil der Familien und Nationen, der Staaten

und Systeme wollte er von dem Unbegreiflichen abhängig sein lassen:

„Ja, das Köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit

selbst, hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem

solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber

auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke

verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“



Die dunklen Offenbarungen eines Jakob Böhme, eines Hamann sind

mit ihren sprachlichen Schwierigkeiten durch das zähe Bemühen,

jeden Begriff und jeden einzelnen Ausspruch aus der Gesamtheit einer

eigenartigen Gedankenwelt und ihrer Zusammenhänge zu erklären,

erhellt worden. Der Gedankengang eines schwer verständlichen Werkes

ist schwerlich in blitzartiger Intuition mit einem Handstreich ohne

Vorbereitung zu bezwingen. Erst nachdem ein Trommelfeuer Bresche

geschlagen hat, kann der Angriff der Vordringenden und Nachdringenden

den Drahtverhau aller Hindernisse überwinden. Dank der Gemeinschaftsarbeit

eines Jahrhunderts darf man den zweiten Teil des

„Faust“ heute nicht mehr als unverständlich und wertlos verspotten.

Goethe selbst schrieb einmal an Heinrich Meyer, der rechte Leser des

Faust werde sogar mehr finden, als er selbst ─ der Dichter ─ geben

konnte. (20. 7. 31.) Auch Rilkes „Duineser Elegien“ erschließen beim

ersten Lesen schwerlich den tiefen Zusammenhang ihrer Lebensauffassung,

wenn sie auch durch die Bilder, durch die sprachliche Bewegung

und ihren Wohlklang gefangennehmen. Aber eine eifrige Forschung

ist auf dem Wege, dank der brieflichen Hinweise des Dichters und |#f0285 : 261|



dank systematischer Sinnesdeutung ihrer eigenen Sprache und ihrer

Grundvorstellungen das durchdachte System einer Harmonie von Gedanken

und Aufbau zu erkennen und damit erst den vollen Wert dieser

Dichtungen als Lebensdeutung zu erobern. Selbst die Wahnsinnsgedichte

eines Hölderlin verlangen Achtung. Wenn ihre Sprache

kaum verständlich scheint, so ist sie doch kein sinnloses Lallen, gleichviel

ob man sie als Abglanz früherer Sinngebung und Nachklingen des

wohllautenden Instrumentes oder als Offenbarungen eines dem

Irdischen Entrückten werten will. Selbst wenn das einzelne Stück für

die Auslegung nicht viel Neues hergibt, behalten sie doch Wert und

Bedeutung in ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtwerk des Dichters.



Die wertende Deutung des Einzelwerkes kann sich zweierlei Aufgaben

stellen. Sie kann alle Elemente der Analyse als einen Akkord

empfinden, so daß in ihrem völligen Sinneszusammenhang eine Erscheinungsform

des Geistes und der vollendete Ausdruck einer tiefen

Idee begriffen wird. Sie kann zweitens in genetischer Erfassung,

wenn Erlebnis und Anstoß bekannt sind, die während der Ausführung

sich steigernde und zur vollkommenen Bewältigung der erlebten

Schicksalsprobleme reichende Verwirklichung der künstlerischen

Absicht als Auswirkung eines inneren Gesetzes verfolgen. Wenn

diese beiden Wege zusammentreffen, kommt die höchste Bewertung

des Kunstwerkes zustande, das schließlich „schlank und leicht, wie

aus dem Nichts entsprungen“, von aller stofflichen Schwere entbunden

vor dem verstehenden Beschauer schwebt. Nachdem es alle Proben

bestanden hat, kann es als eine von den Entstehungsbedingungen

losgelöste, erlebnistranszendente Objektivation des Geistes betrachtet

werden, als Durchbildung des Gehaltes in reiner Gestalt, als freies

Sein, als Erfüllung jener klassischen Idee des Schönen, das selig in

sich selbst ist.



Indessen gibt es auch Dichtungen, deren Sinn nicht in ihrer Form

aufgeht, sondern deren Bedeutung über sie selbst hinausreicht kraft

einer von ihrem Gehalt ausgehenden Wirkung, die sich nicht im

Ästhetischen erschöpft. Sie laden nicht zu ruhiger Betrachtung ein,

sondern rütteln zu leidenschaftlicher Erregung auf. Das sind Werke

der anspannenden, energischen Schönheit, wie sie Schillers Ästhetik

in Gegensatz stellte zur schmelzenden, lösenden Wirkung. Im religiösen,

vaterländischen, humanitären und sozialen Gemeinschaftserleben

liegen überästhetische Wirkungen, deren Ruf mit nicht geringerer Leidenschaft

beseelt, als Leid und Freud persönlichen Erlebens. Volksgeist

oder Zeitgeist, mit dem die Sinngebilde geladen sind, bilden einen

Sprengstoff für die reine Form, und wenn ihre befreiende Explosivkraft |#f0286 : 262|



die Mauern der Befangenheit niederlegt, so werden Tausende

taumelnd im Sturm mitgerissen.



Nationalhymnen, Choräle, Kriegslieder und Marschgesänge politischer

Bewegungen bewähren ihre zündende Wirkung erst als Verschmelzung

von Text und Melodie in verbindendem Gemeinschaftsbekenntnis.

Sie werden getragen von einem unterirdischen Strom der

Geschichte und führen mit sich die unbewußte Erinnerung an unzählige

Quellen der Begeisterung, die mit ihnen hervorbrachen. Die heiligende

Weihe kann solchen Gesängen schon mit der Entstehung zuteil geworden

sein oder bei späteren Anlässen sich gesteigert haben (der

Choral von Leuthen); aber sie können bei versickerndem Strom ihre

Wirkungskraft wieder verlieren wie die Geißlerlieder des Mittelalters

oder das Rheinlied von Nikolaus Becker. Dann ist ihr Wert nur noch

ein geschichtlicher, der uns Lebensziele und Zeitstimmung vergangener

Perioden in ihren Massensuggestionen verstehen läßt.



Auch im Drama stellen sich durch räumliche oder zeitliche Bindung

außerästhetische Beziehungen zum Leben der Gemeinschaft her.

Schillers „Wilhelm Tell“ steigerte erst durch Volksaufführung am

Vierwaldstätter See, dem Schauplatz des Geschehens, seinen Wert als

Schweizer Nationalfestspiel. Die geistlichen Dramen des Mittelalters

haben erst durch den Feiertag, für den sie bestimmt waren, ihre

Weihe erhalten. Ähnliche Wirkung stellt sich heute noch alljährlich

dar, wenn Vondels „Gisbert van Amstel“ in Amsterdam zu Silvester

gespielt wird oder Goethes „Faust“ an den beiden Ostertagen in

Weimar oder endlich Wagners „Parsifal“ an vielen Orten als Karfreitagsaufführung

und außerdem nach dem Willen seines Schöpfers

regelmäßig in den Bayreuther Festspielen.



Solch symbolischer Bedeutungswert wird mancher Dichtung erst

lange nach ihrem Entstehen zuteil. Ein Drama, wie Kleists „Hermannsschlacht“

ist in seinen leidenschaftlichen Haßverzerrungen und

seinem furchtbaren Wirklichkeitssinn entstehungsgeschichtlich zu

begreifen aus der Zeitlage, die die Gleichung zwischen Hermann ─

Marbod und Preußen ─ Österreich einerseits, zwischen den Römern

und Napoleon andererseits der tragenden Freiheitsidee auferlegte.

Die Deutung des Werkes muß auf die damalige Aktualität eingehen,

ohne daß damit das volle Verstehen gewonnen ist, denn dazu ist die

Ganzheit der deutschen Geschichte als Hintergrund notwendig. Zur

Zeit des Entstehens ist die von Kleist beabsichtigte politische Wirkung

keine geschichtliche Tatsache geworden, ebensowenig zur Zeit

des Erscheinens. Als das Werk zehn Jahre nach dem Tode des Dichters

ans Licht gezogen wurde, mußte der Aufruf, der noch 1813 gezündet |#f0287 : 263|



hätte, im Leeren verhallen. Die politische Wirkung hat sich erst in

späteren Zeiten eingestellt. Es tritt also in Erscheinung, was Nicolai

Hartmann als „geschichtliches Aufrücken künstlerischer Schöpfungen“

bezeichnet hat. Das Werk ist nun nicht mehr rein historisch zu betrachten

als dramatisiertes Flugblatt, das zum gemeinsamen Befreiungskampf

Preußens und Österreichs aufrufen wollte und seine Wirkung

damals verfehlt hat; die Gestalt des Realpolitikers Hermann ist auch

nicht mehr als Vorläufer Bismarcks zu würdigen; jetzt vielmehr, nachdem

die Auferstehung der Nation neue Begriffe von Einheit und Freiheit

mit sich gebracht hat, kann die hier gestaltete Idee des politischen

Führertums als großartige Vorausnahme aller geschichtlichen Erfahrung

aufgefaßt werden. Ähnliches geschah in den Jahren des Zusammenbruchs,

als Grabbes „Hannibal“ aus der Vergessenheit auftauchte

und erschütternde geschichtliche wie menschliche Analogien

erkennen ließ.



Wenn man in der allgemeingültigen Weisheit und dem Sehertum

einer Dichtung nicht nur das eigene Zeitgeschehen sich spiegeln sieht,

sondern in solcher Bewährung geradezu eine auf bestimmte gegenwärtige

Ereignisse und Zustände gerichtete Weissagung sehen will, läuft

man wiederum Gefahr, Beziehungen in eine Dichtung hineinzulegen,

die ihr nicht innewohnen. Es handelt sich bei derartiger Wiederkehr

des Gleichen um innere Gesetze und geschichtliche Notwendigkeiten

des Geschehens und um wiederholte Objektivierung des Geistes. Die

überzeitliche Gültigkeit der Idee offenbart sich gleicherweise im geschichtlichen

Verlauf wie in der dichterischen Gestaltung. Hier muß

der lebende Geist dem objektivierten Geist der Dichtung verstehend

entgegenkommen, ohne ihn seiner Freiheit zu berauben. Es darf nichts

untergelegt werden, was dem Werke nicht innewohnt, aber die Auslegung

wird immer das finden, was dem eigenen Standort am nächsten

liegt. Deshalb wird die Deutung aller Dichtungen und insbesondere

der größten, die die Zeiten überdauern, immer in einer Wandlung begriffen

sein und sich niemals in einer endgültigen Formel befestigen.



3. Wandelder Werte



Am klarsten kommt die ständige Metamorphose der Deutung bei

der Aufführung von Dramen und in der Gestaltung von Bühnencharakteren

zur Erscheinung. Die Theatervorstellung ist die sinnfälligste,

anschaulichste und eindringlichste Deutung, die einer Dichtung

zuteil werden kann, aber zugleich die willkürlichste, weil der

Darsteller sich nicht selbst aufgeben darf, sondern als Ausleger in |#f0288 : 264|



voller Person sich einsetzen muß. Man braucht nur an die Bühnenschicksale

des „Hamlet“ oder „Faust“ zu denken, um zu beobachten,

wie jedes Zeitalter seine eigene Auffassung solcher Stücke durchführt.

Jeder selbständige Darsteller versteht seine Rolle anders, und darin

findet nicht nur die Wandlung des Bühnenstils ihren Ausdruck, sondern

auch die veränderte Stellungnahme zum Sinn der Dichtung.



Es ist richtig, wenn Nicolai Hartmann zum Wesen der ästhetischen

Schau überhaupt eine synthetische Ergänzung von seiten des

Schauenden hinzurechnet, die in ihrem Spielraum der Freiheit des

Künstlers verwandt ist. Insbesondere steht diese Freiheit dem deutenden

Ausleger zu, der Aktualität der Wirkung zu suchen hat und andere

lehren muß, das Werk vom Standort und Geist der Zeit aus zu verstehen.





Es mag sogar an den Satz Kants erinnert werden, daß es nichts

Ungewöhnliches sei, einen Verfasser besser zu verstehen, als er sich

selber verstand. Ist dieser Ausspruch auf philosophische Wahrheiten

gemünzt, so kann er bis zu einem gewissen Grade auch in der Dichtungsdeutung

Bestätigung finden, ohne daß zu dem oben (S. 227 f.)

Gesagten ein Widerspruch entsteht. Wenn die Dichtung Gefäß göttlicher

Ideen ist, so kann sie sehnsuchtsvolle Vorahnungen künftiger

Erfüllung enthalten, die dem Verfasser kaum bewußt werden. Im

Mittelpunkt von Grimmelshausens „Simplizissimus“ steht beispielsweise

jene Weissagung eines Irren, der sich für den Gott Jupiter hält

und die Absicht verkündet, einen teutschen Helden zu erwecken, der

die ganze Welt bezwingen und zwischen allen Völkern Frieden stiften

werde. Die äußere Einkleidung scheint nichts als Hohn und Spott

über utopische Phantastereien anzudeuten, und so haben es vielleicht

die meisten Zeitgenossen verstanden, soweit sie nicht den wehmutsvollen

Kontrast zur Wirklichkeit empfanden. Aber der Inhalt der Verheißung

ist keineswegs verworren, wenn er auch alles zusammenschließt,

was in einem Jahrtausend an mystischen Erwartungen und rationalen

Erwägungen, wie die Welt zu bessern wäre, gehegt wurde, von den

apokalyptischen Märchenvorstellungen eines Wunderschwertes, das

alle feindliche Gewalten bannt, bis zum Auftreten eines aus dem Volk

aufsteigenden Diktators nach Art Cromwells in England und den neuen

Projekten wissenschaftlicher Organisation, wie sie Leibniz vertrat.

Um die Bedeutung der patriotischen Phantasie, die alles in einem

großen Wunschtraum vereinigt, zu verstehen, muß man sich der Herkunft

und der Beziehungen der Motive bewußt sein. Dann erweist

es sich als undenkbar, daß Grimmelshausen alles, was im deutschen

Volke seit Jahrhunderten als heilige Hoffnung und Sehnsucht lebte, |#f0289 : 265|



und alles, was an vernunftgemäßen Gedanken der Weltbesserung seiner

eigenen Zeit neue Wege zeigte, verhöhnen wollte. Die Absicht war

vielmehr, ein hohes Ideal als Gegenbild der trostlosen Gegenwart aufleuchten

zu lassen. Die Möglichkeit dazu boten jene literarischen Formen,

mit denen Moscherosch und seine Fortsetzer in Gesichten, Giordano

Bruno, Trajano Boccalini und andere in Göttergesprächen ihre

Urteile über Zeit und Welt ausgesprochen hatten. Grimmelshausen

konnte indessen im realistischen Roman nicht Jupiter selbst auftreten

lassen; so ließ er den Narren seine Rolle spielen, und es gelang ihm

durch einen genialen optischen Kunstgriff, in die Mitte des düsteren

Zeitbildes einen starken idealistischen Lichteffekt zu werfen, ohne daß

er sich zu dem Glauben, der seiner Sehnsucht entsprach, offen zu bekennen

brauchte. Vielmehr blieb er von Anfang bis Ende seiner

Schriftstellerei der skeptische Weltbetrachter, der im Zwielicht zwischen

den Gegensätzen von Schwarz und Weiß, von Höhe und Tiefe

sich mit gesundem Menschenverstand und Wissenstrieb zu behaupten

suchte.



Je mehr aber mit der Zeit die politische Wirklichkeit sich wandelte

und je mehr sich von dem, was vollkommen irreal erschienen war,

realisierte, desto mehr gewann die Verheißung an Gegenwartsnähe,

und desto ernstere Bedeutung fiel ihr zu. Schließlich war das Auftreten

dieser der Wirklichkeit entrückten Wirklichkeitsgestalt nicht

mehr als Episode, sondern als ideeller Mittelpunkt des Romans zu

verstehen, an dem die Probleme von Weltwirken und Weltabkehr,

von Wahn und Wahrheit, von beständiger Unbeständigkeit sich mit

dem Hintergrund der Zeitlage verknüpfen und zugleich von ihm

ablösten.



Grimmelshausens Roman ist ein treffendes Beispiel für das Wachsen

einer Dichtung im Laufe der Jahrhunderte. Der abenteuerliche Simplizissimus

hat auch als Buch seine Abenteuer gehabt. Damit ist nicht

der äußere Zuwachs gemeint, nämlich das sechste Buch und die Kontinuationen,

mit denen der Dichter selbst sich den geschlossenen Aufbau

verdarb, sondern das allmähliche Reifen, das dem Wirklichkeitssinn

kommender Zeiten und seinem Verstehen immer neue Seiten

erschloß. Von den lehrhaften Zeitgenossen trotz seines buchhändlerischen

Erfolges oder vielleicht gerade deswegen als elende Lumpenscharteke

verkannt, von den Nachahmern zerpflückt und zu Tode gehetzt,

wurde dieses bis auf den Namen des Verfassers in Vergessenheit

geratene Werk Grimmelshausens erst von den Romantikern wieder

ausgegraben; aber es wurde auch in der Folgezeit mehr als Kulturbild

denn als Kunstwerk geschätzt, bis man das Wunder des Zusammenklanges |#f0290 : 266|



von Gehalt und Form erlebte und neben der planmäßigen

Durchführung die Echtheit und Ursprünglichkeit volksverwurzelter

Lebenshaltung zu würdigen begann. Die Belesenheit des fleißigen

Exzerptors, die Anlehnung an Motive des Schelmenromans und der

Schwankliteratur und die Hineinziehung des Wissensschatzes fremder

Kompendien in seine eigene kleine Welt ist dieser Anerkennung nicht

im Wege. Der Vergleich mit den fremden Mustern zeigt vielmehr

gerade die Eigenart und Arteigenheit des Volksschriftstellers. Die

echt deutsche Haltung des besinnlichen Humors ordnet ihn der Linie

zu, die mit vielen Unterbrechungen von Wolfram von Eschenbach bis

zu Jean Paul und Wilhelm Raabe führt. Grimmelshausen konnte unter

die ewigen Deutschen aufgenommen werden, und diese Bewertung ist

es schließlich, die seinem Werk als dem wahrsten Ausdruck deutscher

Art, den jene Zeit finden konnte, Eingang in die Weltliteratur zu bahnen

im Begriff ist.



Die größten Dichtungen sind es, die im Aufstieg durch die Jahrhunderte

ihre Kraft bewähren, indem sie jeder Zeit etwas Neues, das

gerade für sie gesprochen zu sein scheint, zu sagen imstande sind.

In ihrem Reichtum bleiben sie dennoch unergründlich. Die Deutung

des Goetheschen „Faust“ findet kein Ende, und namentlich der zweite

Teil offenbart immer neue Ausblicke auf Lebensfragen der Gegenwart.

Aber man muß dieser Symbolik ihr Fließendes lassen, ohne den

ewigen Strom in einen Fischteich abzuleiten, aus dem man schmackhafte

Leckerbissen für die Tagesmahlzeit angelt. Man darf die Deutung

nicht festnageln auf erzwungene Aktualität, wie es in manchem

Faust-Kommentar geschehen ist. In solcher Didaktik bekennt das

Verstehen selbst seine ephemere Beschränktheit und setzt dem unendlichen

Leben der Dichtung ein endliches Ziel, durch dessen Treffpunkte

sie zur brauchbaren Tendenzschrift erniedrigt wird.



Goethe selbst hat sich manchmal Gedanken gemacht über die Antizipation

des Lebens durch die Dichtung; im eigenen Leben und Schaffen

hatte er Gelegenheit, die gestaltende Vorausnahme kommender Ereignisse

zu beobachten. Im Grunde ist jede große Dichtung ihrer Zeit

voraus und überragt sie. Wer am Fuße des Berges steht, sieht nicht

den Gipfel; der wächst, wenn man ihm näher kommt, aber das scheinbare

Wachsen hat seinen Grund im Aufsteigen und allmählichen Hinterherkommen

des Verstehens.



Weit häufiger als der Anstieg ist indessen die entgegengesetzte

Bewegung zu beobachten. Während Goethes klassische Werke einen

viel langsameren Weg zur allgemeinen Anerkennung gehen mußten,

als etwa dem „Werther“ beschieden war, haben die Werke anderer |#f0291 : 267|



Poeten den Gipfel ihres Erfolges gleich bei Erscheinen im Sturmlauf

errungen und sind dann von Stufe zu Stufe herabgesunken, bis sie

in völlige Vergessenheit untertauchten oder nur als Denkmäler unbegreiflicher

Geschmacksverirrung dem Gedächtnis erhalten blieben.

Der Überschätzung durch die Zeitgenossen folgte schon bei der nächsten

Generation eine abgestumpfte Gleichgültigkeit, die sich zum

Überdruß oder gar zur Verachtung steigerte, so daß weder der einstige

Erfolg noch das Werk selbst mehr verstanden werden konnte.

Übrig bleibt höchstens noch eine aufschlußgebende Bedeutung für

das geschichtliche Verstehen des Zeitalters, das solche Werke hervorbrachte,

und für den Geschmack, der sie zum Erfolge kommen ließ.



Man muß bei der Beurteilung derartigen Bedeutungswandels zwei

verschiedene Gruppen auseinanderhalten, deren Schicksale als Spekulationserfolg

und Modeerfolg zu trennen sind. Auf der einen Seite

stehen die Werke, die dank geschickter Berechnung und sicherer

Technik einen Massenerfolg errangen, der ihnen auch gegenüber

gewissen Publikumsinstinkten treu bleibt. Sie wurden indessen von

ernsthafter Kritik ihrer Zeit bereits als unecht bekämpft, wie das

etwa der Fall war bei Kotzebues Bühnenreißern, die zur klassischen

Zeit selbst über Deutschlands Grenzen hinaus den Spielplan beherrschten

und ihre unverwüstliche Wirkung auch heute noch nicht

ganz verloren haben. Zur anderen Gruppe sind Werke zu rechnen,

die zu ihrer Zeit nicht nur die Durchschnittsleserschaft, das „Man“,

von dem Heidegger spricht, sondern die Besten und Einsichtigsten

zu kritikloser Begeisterung hinrissen, weil darin neue Provinzen des

Seelenlebens erschlossen und den edelsten Gefühlen des Zeitalters

Ausdruck gegeben wurde. Als Beispiele solcher Wirkung sind die

moralischen Familienromane zu nennen.



„Unsterblich ist Homer,

unsterblicher bei Christen

der Brite Richardson“


lautete ein Epigramm Gellerts, das Lügen gestraft wird durch die

Tatsache, daß diese Modelektüre der empfindsamen Zeit heute nur

noch unter historischen Gesichtspunkten zu würdigen ist. Die Zeit

ist darüber hinweggegangen. Ein ähnlicher Fall ist der des Humoristen

Lawrence Sterne, bei dessen Tod Lessing schrieb, daß er ihm

mit Vergnügen ein paar Jahre von seinem eigenen Leben geschenkt

hätte, dem Jean Paul, der ohne ihn kaum zu denken wäre, die Totalität

eines Welthumors zusprach, und von dem Goethe wünschte, daß

auch das 19. Jahrhundert „wieder erführe, was wir ihm schuldig

sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können“. Sein |#f0292 : 268|



„Tristram Shandy“ heißt für einen ernsthaften Dichter unserer Zeit

wie E. G. Kolbenheyer „eine Monstrosität, die heute kein vernünftiger

Mensch auszulesen imstande ist“.



Die verschiedenartigen Erscheinungen des Zeiterfolgs stellen unterschiedliche

Ansprüche an ein geschichtliches Verstehen. Im Fall der

Spekulationserfolge muß es von der typischen, für jedes Zeitalter in

gleichem Maße geltenden Eindrucksfähigkeit und Geschmackshaltung

der großen Menge, im Fall des Modeerfolges von der charakteristischen

Geistesbeschaffenheit eines bestimmten Zeitalters den Ausgang

nehmen; im einen Fall liegen die Elemente der Analyse, durch deren

aufdringliches Hervortreten das Gleichgewicht gestört wird, bei

Situationen, Absicht und Technik, im anderen Fall bei Wirklichkeitsauffassung,

Weltanschauung und Problemen; im einen Fall ist das

Phänomen des Erfolges mehr soziologisch, im anderen Fall mehr

geistesgeschichtlich zu begreifen.



Neben den stetigen Entwicklungsrichtungen des Steigens und Sinkens

ist aber auch die fluktuierende Bewegung eines wechselnden

Auf und Nieder als häufige Erscheinung zu verfolgen. Nicht nur die

Bewertung einzelner großer Werke, etwa der „Äneis“ des Vergil oder

des Klopstockschen „Messias“, hat im Lauf der Jahrhunderte periodische

Schwankungen durchgemacht; auch das Nachleben einzelner

Dichter zeigt in wechselnder Wertschätzung den Zickzacklauf einer

Fieberkurve. Namentlich steht, wie wir schon sahen, die Statistik

des Bühnenspielplans wie ein Wetterhäuschen vor uns, das über

Sonne und Niederschläge im Schicksal des Dramatikers Rechenschaft

gibt. Selbst die Klassiker sind von den Schwankungen nicht unberührt;

es hat Zeiten der Shakespeare-Erweckung, der Goethe-Ferne,

der Schiller-Renaissance und der Grabbe-Entdeckung gegeben, denen

dann wieder Gegenschläge folgten. Unter den attischen Tragikern

steht bald Aischylos, bald Sophokles, bald Euripides an der Spitze;

ebenso schwankt das Stilbild der französischen „haute tragédie“ im

Kurs. Für die Stil- und Geistesrichtung ganzer Zeitalter wie Barock,

Sturm und Drang, Romantik gab es im Urteil der Nachwelt Hausse

und Baisse. Aber diese Schwankungen sind weder als mechanisches

Gesetz noch als Walten des Zufalls zu verstehen, sondern als Wandlungen

des Geschmacks, der Empfänglichkeit und seelischen Bereitschaft

zum Mitgehen, wie der ästhetischen Grundsätze und der

Autoritäten, deren Geltung von unzähligen, kaum übersehbaren Faktoren

des Zeiterlebens abhängig ist.



Selbst die Dichtungsgattungen haben oftmalige Verschiebung ihres

Gewichtsverhältnisses erlebt; es gab epische, lyrische, dramatische |#f0293 : 269|



Epochen gemäß dem Stoff und den Problemen des Zeiterlebens, aber

die Wertschätzung stimmt nicht immer mit der Produktionsstärke

überein. Beispielsweise hat die deutsche Poetik des 17. und beginnenden

18. Jahrhunderts dem Heldenepos traditionell den ersten Rang

zuerkannt, und es hätte nicht an Gegenständen für epische Darstellungen

gefehlt; trotzdem ist jene Zeit gerade auf diesem Gebiet unfruchtbar

gewesen. Etwas Ähnliches ist es, wenn Meister der Novelle

wie Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Paul Heyse mitten

in der Blütezeit der Erzählungskunst nach dem Lorbeer des Dramatikers

hungerten. Auch die stammhafte Veranlagung für Pflege

einer bestimmten Gattung kann sich wandeln. Während die Schweiz

im 16. Jahrhundert in einer Blütezeit dramatischen Schaffens stand,

ist im 18. und 19. Jahrhundert dieser Strom versiegt. Während

Österreich im Mittelalter Stammland des Minnesanges war, ist im

19. Jahrhundert die Lyrik so sehr hinter dem dramatischen Trieb

zurückgetreten, daß man geradezu die lyrische Unfruchtbarkeit eines

Grillparzer als sein „bayrisches Erbe“ bezeichnen konnte.



Endlich sind für die Stellung der Dichtung überhaupt gegenüber

den anderen Künsten Wertschwankungen im Gesamtbewußtsein von

Volk und Menschheit zu beobachten. Die periodische Generationsfolge,

in der Wilhelm Pinder die Entfaltung von Architektur, Plastik,

Malerei und Musik aneinanderreihte, nahm zwar die Dichtung von der

Einordnung in diese schematische Entwicklung aus, aber einen rhythmischen

Wechsel ihrer Leistung und Einschätzung wird man gleichwohl

innerhalb jeder Kultur kennen. Und schließlich hat sogar die

Geltung der Künste überhaupt im Verhältnis zu anderen Kulturwerten

ihr Auf und Nieder erlebt.



Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Leistungshöhe und Empfänglichkeit,

bei der man kaum im einen die Ursache des andern

erkennen kann. Haben die Künstler, in deren Hand der Menschheit

Würde gegeben ist, ihr Publikum erzogen, oder sind sie von ihm

emporgetragen worden, wie jener Hamburger Pfahlbürger meinte, der

beim Abschied des großen Schauspielers Schröder ausrief: „Wie hefft

em billd't.“? Sind in klassischen Zeitaltern die Künste groß geworden,

weil man sie zu schätzen und zu fördern verstand, oder sind die

Künste so hoch geschätzt worden, weil sie in unerreichter Blüte standen?

Oder ist es ein einheitlicher Zeitgeist, der Entstehen und Verstehen

im Gleichgewicht hält? Dem widerspricht die oben gezeigte

Erscheinung des Aufrückens und Wachsens ebenso wie die verschiedenartige

Abhängigkeit der Künste von wirtschaftlichem Aufstieg,

politischer Macht und völkischem Willen, wovon die Baukunst wohl |#f0294 : 270|



den stärksten, die Dichtkunst, wenigstens in Deutschland, vielleicht

den geringsten Eindruck gibt.



Jedes einzelne Werk, jeder Dichter, jede Dichtungsepoche hat ihre

Wirkungsgeschichte, in der sich zunächst weniger ihr eigenes Wesen

kundgibt als die wechselnde Richtung der Zeiten in den Widersprüchen

ihrer Beurteilung. Nur indirekt, insofern das Verstehen eine

Verwandtschaft, das Mißverstehen ein Abgewandtsein des jeweiligen

Zeitgeistes gegenüber Werk und Dichter offenbaren, sind Rückschlüsse

aus der Wirkung auf die Wesensart eines Werkes möglich.

Vielleicht kann man aus der Spannweite der Pendelschwingung kontrastierender

Urteile etwas über Sicherheit oder Unsicherheit des

Wertes erschließen.



Die Wirkungsgeschichte bietet der Geschmacksgeschichte kaum nennenswertes

Material, wenn sie keine unbegreiflichen Widersprüche

aufweisen kann. Je überschwänglicher dagegen Lob und Tadel

auseinandergehen, desto weniger ist ein objektiver, fester Wert zu

erkennen, und desto mehr dienen die Urteile zur Charakteristik

derer, die sie aussprachen, so daß Wirkungsgeschichte mit Geschmacksgeschichte

gleichzusetzen ist. Je geringer die zeitlichen

Gegensätze ausschwingen, desto mehr kann die Wirkungsgeschichte

zur Wertbestimmung beitragen. Wenn sich die Schätzung des Werkes

geschichtlichen Schwankungen entzieht, nähert sie sich jener unerschütterlichen

Wertbeständigkeit, die Nicolai Hartmann das „Stehenbleiben

des Monumentalen“ nennt. Es gibt aber auch literarische

Denkmäler aus ältesten Zeiten, deren einstmalige Wirkungskraft nur

aus der Tatsache ihrer Erhaltung zu erschließen ist, wie schon bei

der Frage der Überlieferung (S. 69 f.) erörtert wurde. Ihr Wert bleibt

von jedem Wandel des Geschmackes unabhängig, weil er in ihrem

Alter, in ihrer Einmaligkeit, ihrer repräsentativen Bedeutung für

Zeitalter, Sprachstand, Bildungswelt beruht. Die Erhaltung der

Patina als einer darüber liegenden Schicht, die dem ursprünglichen

Kunstwerke nicht angehörte, verbietet eine tieferbohrende Analyse.

Die Deutung aber darf sich nicht auf das Einzelwerk beschränken,

sondern sie muß ihre Schlüsse ziehen auf die Beschaffenheit einer

ganzen Kultur, als deren Sinnbild das erhaltene Teilstück zu verstehen

ist.



4. Wertmaßstäbe



Die Quersumme geschichtlicher Urteile, die zum Mythus geworden

ist, darf dem Ausleger eines Werkes nur als Bestätigung eigener Eindrücke,

nicht als wesentliche Grundlage seines eigenen Verstehens |#f0295 : 271|



bedeutungsvoll werden, selbst wenn er in der dauernd von ihr ausstrahlenden

Wirkung die eigentliche Existenz einer Dichtung erkennen

will. Die Überschau über alle von ihr ausgeübten Eindrücke und

über alle im Laufe jahrhundertelanger Geltung gefällten Urteile entheben

ihn nicht der Pflicht, den Wert aus eigenem Eindruck zu

begründen.



Der objektivierenden Rechenschaft über das persönliche Erleben

eines Kunstwerkes und dem Übergang zu seiner Deutung und Wertung

können drei Maßstäbe dienen, von denen der erste mehr die

innere Beziehung des Werkes zum Dichter, der zweite mehr den nach

außen gehenden Eindruck des Werkes auf den Betrachtenden, der

dritte die Beziehung des Werkes zur Welt erfassen will. Der eine

trifft die seelische und menschlich-individuelle Bedeutung des Werkes

mit der Frage nach der Echtheit, der zweite die ausstrahlende

Kraft des Werkes mit der Frage nach der Größe, der dritte

die Weltbeziehung und gültige Bedeutung des Werkes mit der Frage

nach seiner Sinnbildhaftigkeit. Jeder dieser Maßstäbe ist

in vierfacher Richtung anzuwenden als Einschätzung nach dem

ästhetischen, dem ethischen, dem religiösen, dem

volkhaften Wert.



Auf die Fläche gebracht stellt die Kreuzung dieser Wertkategorien

sich in folgendem Schema dar:



ästhetischethischreligiösvolkhaft
Echtheit
Größe
Sinnbildhaftigkeit


a) Echtheit:



Im ästhetischen Eindruck offenbart sich die Echtheit als

widerspruchsloser Einklang und organisches Gleichgewicht aller Elemente,

die sich bei der Analyse ergeben haben, also der Harmonie

zwischen innerer und äußerer Form, zwischen Erlebnis und Gestaltung,

zwischen Stil und weltanschaulicher Haltung, zwischen Technik und Problemen,

zwischen sprachlicher Darbietung und Idee. ─ Die ethische

Echtheit tritt aus dem gewissenhaften Ernst hervor, mit dem Probleme

und Ideen aus der Tiefe eigensten Erlebnisses geschöpft und als folgerichtige |#f0296 : 272|



Grundanschauungen, Erziehungsgedanken und charaktervolle

Lebensmaximen durchgebildet sind. ─ Die religiöse Echtheit

offenbart sich als Innerlichkeit wahrhaften Bekennertums, das aus

Zwang der Überzeugung und Kraft der Entscheidung hervorgeht. ─

Die volkhafte Echtheit wurzelt in arteigenem Verwachsensein

mit dem Empfinden der Gemeinschaft und in dem rassebewußten Verantwortungsgefühl

einer Gegenwart, die mit Geschichte und Zukunft

des eigenen Volkes und der Menschheit sich verknüpft fühlt.



In jeder der vier Kategorien ist aber auch eine Wertverneinung als

Feststellung der Unechtheit möglich. Die Gegensätze liegen auf dem

Felde des Ästhetischen im Einseitig-Artistischen, in spielerischer

Routine, angelernter Effekthascherei und unorigineller Nachahmung,

die kein selbsterrungener organischer Ausdruck des eigenen künstlerischen

Willens ist. ─ Auf dem Felde der Ethik ist das Unechte

im Konventionell-Moralischen, in verlogenen Gefühlen, falscher Sentimentalität,

unsicher schillernder Koketterie oder frecher Frivolität

zu finden, was sowohl in der Gesinnung des Dichters als in den dargestellten

Charakteren und in der Motivierung der Handlung zum Ausdruck

kommen kann. ─ Auf religiösem Boden liegt das Unechte

im Mangel fester Weltanschauung, in haltlosem Zwiespalt und Widersprüchen,

in Pietätlosigkeit, erheucheltem oder verleugnetem Glauben

und starrem Dogmatismus, der die Bekenntnisformen nicht mit persönlichem

Leben und erkämpfter Überzeugung zu erfüllen vermag. ─

In der Beziehung auf das Volkhafte wirkt unecht jede Verleugnung

der angestammten Eigenart und jedes manierierte Nachlaufen hinter

fremden Moden.



Es ist nun die Frage, ob Echtheit oder Unechtheit in allen vier

Kategorien durchaus übereinstimmen werden, oder ob ein positiver

Wert in der einen Richtung sich mit Wertlosigkeit in anderen Beziehungen

vermengen kann. Es ist denkbar, daß, wie z. B. im Fall

Heine, eine künstlerische Echtheit im Ästhetischen bestehen mag, der

aber keine Festigkeit im Ethischen und Religiösen gegenübersteht,

während die vierte Kategorie subjektive Echtheit im Bekenntnis der

rassischen Heimatlosigkeit und aller ihrer Folgewirkungen, aber objektive

Unechtheit in bezug auf den erhobenen Anspruch der Volkhaftigkeit

zur Erscheinung kommen läßt. Dabei bleibt zweifelhaft,

ob das Echte oder Unechte schon im einzelnen Werk zum unverkennbaren

Augenschein werden kann, oder ob erst der Vergleich

mehrerer Werke, ja der Überblick über das gesamte Schaffen und der

Blick auf die Persönlichkeit des Dichters aus Einheitlichkeit oder

Widersprüchen endgültige Schlüsse erlauben.

|#f0297 : 273|



b) Größe:



Im ästhetischen Eindruck stellt sich die Größe zunächst als

ein organisches Verhältnis zwischen den äußeren Proportionen des

Umfangs und der menschlichen, schicksalhaften oder sogar kosmischen

und metaphysischen Bedeutung des Gegenstandes dar, wie etwa in

Dantes „Göttlicher Komödie“ oder in Goethes „Faust“. Dazu kommt

Kraft und Reichtum der Darstellung in allen Formen des Sprachausdrucks,

im Format der Menschengestaltung und der göttlichen Erscheinungen,

in der Naturbetrachtung und in aller Motivierung des

Geschehens. ─ Die ethische Größe kommt in der Tragweite der

behandelten sittlichen Probleme und ihrer Lösung zum Ausdruck, wie

in der Gestaltung der Charaktere und ihrer Motive, im idealistischen

Wollen, im Pflichtgedanken, in Opferbereitschaft und in der Selbstbehauptung

des Menschen gegenüber einem unerbittlich waltenden

Schicksal. ─ Die Größe des religiösen Gehaltes beruht auf leidenschaftlicher

Glaubenskraft und sehnsüchtiger Hingabe, auf unendlichem

Weltgefühl und metaphysischer Blickrichtung. ─ Die Größe

des Volkhaften liegt in der Bezogenheit des Einzelschicksals auf

das Ganze, in weiter geschichtlicher Schau, im lebendigen Verantwortungsgefühl

gegenüber der Gemeinschaft und in bewußter politischer

Haltung.



Auch hier kann der Gesamteindruck absoluter Größe beeinträchtigt

werden durch Mangel an Gleichgewicht; es können Verzeichnungen

eintreten durch verhältnismäßige Überbetonung einer bestimmten Wertkategorie,

z. B. der ethischen Probleme und Gedanken in Schillers

„Jungfrau von Orleans“, wie in den meisten Dramen Hebbels und

Ibsens, der religiösen Gefühle in Zacharias Werners „Martin Luther“,

des Politischen in Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ und des

bodenständig Volkhaften im Gegenstück Grabbes. Es kann die ästhetische

Wirkung darunter leiden, daß die Durchführung in ihrer Gestaltungskraft

sich dem Gehalt als nicht ebenbürtig erweist wie bei

der alltäglichen Lustspielhandlung, die um die Ringparabel in Lessings

„Nathan“ herumgelegt ist, oder in Jean Pauls Romanen bei ihrer

manchmal in Gefühlsseligkeit zerfließenden Breite.



Die negativen Werte des Kleinen und Niedrigen offenbaren sich als

Bedeutungslosigkeit des Vorwurfs und Schwächlichkeit des Ausdrucks

im Ästhetischen, als menschliche Belanglosigkeit, Gleichgültigkeit,

Gefühllosigkeit und Roheit im Ethischen, als schwankende

Unsicherheit gegenüber dem Walten des Zufalls, als Verschwommenheit,

Unselbständigkeit oder Glaubenslosigkeit im Religiösen, als |#f0298 : 274|



dekadente Pathographie, zersetzender Psychologismus und überhebliche

Einzelgängerei im Volkhaften. Ganze Zeitalter werden durch

repräsentative Werke dieser Art in ihrer Kleinheit gekennzeichnet, so

daß der Verfasser, der dem Geist der Zeit seine Stimme lieh, kaum

die volle persönliche Verantwortung zu tragen hat. Auf der anderen

Seite können deshalb Vorzüge liegen, die jenen Werken einen geschichtlichen

Wert als Ausdruck ihrer Zeitstimmung verleihen. Der

Wahrheitsfanatismus, die unerbittliche Elendsmalerei von Degeneration,

Laster und Häßlichkeit bei den Naturalisten am Ende des 19. Jahrhunderts

oder der Expressionisten nach dem Weltkrieg haben keine

Größe, aber sie entbehren nicht der Echtheit im Ausdruck materialistischer

Öde oder perversen Zeiterlebens; ebensowenig darf der von ihnen

bekämpften Schönfärberei der vorausgehenden Generationen eine Sinnbildhaftigkeit

für den Geist des üppigen Epigonentums abgestritten

werden.



c) Sinnbildhaftigkeit



Dieser Begriff umfaßt alles das, was ein Werk über sich selbst und

seine Vereinzelung emporhebt und ihm einen bedeutunggebenden

Wert verleiht durch tiefere Beziehungen auf Menschheit und Weltgeschehen,

auf Volk und Zeit, auf Geschlechter und Lebensalter. Auf

ästhetischem Gebiet liegt der sinnhildhafte Wert im symbolischen

Lebensgehalt, in der Naturbeseelung und in der Leuchtkraft, mit der

ewige Ideen durch die Gestalt hindurchschimmern; im Ethischen

erscheint sinnbildhaft der Wirklichkeitssinn, der das Schicksal als

Weltgesetz unter dem Gesichtspunkt notwendigen Geschehens walten

läßt und für jeden Konflikt allgemein gültige Lösungen von typischer

Bedeutung findet. Im Religiösen tritt die Sinnbildhaftigkeit als

Ausdruck unmittelbaren inneren Gotteserlebnisses beim Einzelnen wie

als Glaubensform, die eine Gemeinschaft umfaßt, in Erscheinung; im

Volkhaften als schicksalmäßige Gebundenheit an die Gemeinschaft

und als Spiegelung des Ganzen in Sprache, Charakteren, Lebensbräuchen,

Gesinnung und Denkweise.



Den Gegensatz bildet das, was aus Mangel an Sinnbildhaftigkeit

bedeutungs- und beziehungslos ist. Es erscheint im Ästhetischen

als abstrakte Konstruktion und seelenlose Beschreibung, im Ethischen

als das leere Spiel des Zufalls oder die mechanische Kausalität

des Determinismus, im Religiösen als nihilistischer Materialismus,

im Volkhaften als Beziehungslosigkeit zur Gemeinschaft. Das

Sinnbildhafte gehört so sehr zum Dichterischen, daß man sich ein |#f0299 : 275|



formvollendetes Werk ohne symbolische Bedeutung überhaupt nicht

denken kann und daß das Fehlen jeder sinnbildhaften Züge nicht nur

Wert und Gültigkeit sondern geradezu den Charakter der Dichtung

aufhebt. So erblickte schon der junge Hebbel als werdender Dichter

in der Symbolisierung seines Innern durch Schrift und Wort die Aufgabe

seines Lebens.



Sinnbildhafte Werte können bereits in den einzelnen Teilen einer

Dichtung sichtbar werden. Dazu gehört ein bloßer Titel, der, wie

„Sturm und Drang“, einer ganzen Periode und ihrem Wirrsal den

Namen gegeben hat; dahin rechnen Charaktere, in denen sich wie in

Parzival, Werther oder Hyperion religiöse Erlebnisse, Zeitstimmungen

oder Freiheits-. Lebens- und Bildungssehnsüchte eines Standes, einer

Gesellschaft, eines Kulturzeitalters und eines Volkes spiegeln oder auch

deren Schwächen in humorvoller Selbstkritik offenbaren. So darf

Ibsens Peer Gynt sinnbildhaft genannt werden für den Norweger, wie

de Costers Ulenspiegel für den Flamen, Cervantes' Don Quixote für

den Spanier, Daudets Tartarin für den Südfranzosen, Jacobsens Niels

Lyhne für den Dänen, Lewis' Babbitt für den Nordamerikaner.



Zu diesen bezeichnenden Volkstypen gehören auch alle die Sagen-

und Schwankhelden anonymer Herkunft, in denen die Phantasie eines

Stammes oder einer Landschaft sich charakterisiert und verkörpert;

ebenso werden geschichtliche Gestalten durch Mythisierung sinnbildhaft,

und es kommt darauf an, wie ein Neugestalter diese Wesenszüge

persönlich erfaßt. Motive sind sinnbildhaft, wenn sie als bezeichnend

und deutend auf die Charakteristik einer Zeitlage, eines Stammes oder

bestimmter geschichtlicher Vorgänge übertragen werden können; so

symbolisieren die rasch dahinsterbenden indischen Blumenmädchen

in Lamprechts „Alexander“ die kurze Dauer der höfischen Dichtung,

oder jene „Frau Welt“, die in der Erzählung Konrads von Würzburg

dem Herrn Wirnt von Gravenburg gegenübertritt, stellt die Nichtigkeit

aller ritterlichen Ehren und Freuden dar als bezeichnend für den Verfall

der höfischen Ideale.



Das Sinnbildhafte ist endlich der Bereich, in dem allein die Ideen

zu sichtbarer Gestaltung gelangen können, ohne als Allegorien abstrahiert

zu werden.



Sinnbildhaft repräsentative Bedeutung kann ein einzelnes Werk für

die Gesamtleistung seines Dichters gewinnen ebenso wie ein einzelner

Dichter sinnbildhaft werden kann für die ganze Dichtung seines Zeitalters

und die geistige Haltung seines Volkes.

|#f0300 : 276|



d) Geltung



Die Anwendung dieser Wertmaßstäbe führt durchweg vom einzelnen

Werk zur Persönlichkeit seines Schöpfers, selbst wenn diese unbekannt

sein sollte. Dem Namen nach kann sie unbekannt bleiben; als Mensch

tritt sie gleichwohl in greifbaren Umrissen hervor und erweckt Liebe,

wenn die Echtheit ihrer Natur sichtbar wird, wenn ihre Größe erscheint

und wenn die Vertretung der Heimat, des Stammes, der Rasse, aber

auch der Generation und des Zeitalters in der Eigenart jedes Werkes

sich ausspricht. Gleichgültigkeit und Abneigung entstehen, wenn die

Proben der Echtheit, Größe und Sinnbildhaftigkeit nicht bestanden

werden. Während Liebe dauerndes Weiterleben verbürgt, pflegen die

Gegenstände der Gleichgültigkeit und der Abneigung sich unrettbar in

Vergessenheit zu verlieren.



Mit der Frage nach Geltung der Werte innerhalb einer umfassenden

Darstellung und nach der Rolle, die dem einzelnen Werk und der einzelnen

Dichtergestalt in der Literaturgeschichte beschieden sein kann,

soll dem letzten Buch des zweiten Bandes nicht vorgegriffen werden.

Aber im Rückblick auf bisher Besprochenes ist jetzt schon daran festzuhalten,

daß das einzelne Werk, wenn es nicht als Mannequin in einer

Modeschau des Zeitgeschmacks unterzubringen ist, sondern selbständige

Bedeutung beansprucht, nur durch die Beziehung zu seinem Schöpfer

in die Literaturgeschichte eingefügt werden kann. Der Name des Dichters

sagt nichts, wenn die Werke fehlen, wie etwa bei Heinrich v. Ofterdingen

oder Bligger v. Steinach. Aber das Werk ist obdachlos ohne

Vorstellung von seinem Dichter. Fehlt der Name, so lebt der Dichter

doch unter dem seines Werkes, etwa so wie ein unbekannter Bildhauer

als Naumburger Meister oder ein unbekannter Maler als Meister des

Marienlebens zur geschichtlichen Persönlichkeit werden kann. Es ist

beinahe so wie mit Voltaires Gottesbegriff: wenn es ihn nicht gäbe,

müßte man ihn erfinden, wie es denn auch mit unbekannten Größen,

als welche Homer oder der Dichter des Nibelungenliedes erscheinen,

geschehen ist. Sie leben in ihren Werken bis zu jener Ewigkeit, von

der einmal Caroline Schelling ein hyperbolisches Bild entworfen hat:

„Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln,

aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein Papierschnitzel, so

werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das

Haus Gottes gehen ─ dann erst kommt Finsternis.“

|#f0301 : E277|



ZWEITES BUCH: DER DICHTER


ERSTER HAUPTTEIL


DAS LEBEN


Eh' er singt und eh' er aufhört,

Muß der Dichter leben.   Goethe.



1. Grundsätzliches



Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft

scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden.

Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte

und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz

oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung

der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten

Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal

belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu

einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von

einer „Antinomie“ zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen

Darstellung gesprochen; wiederum hat man sich bemüht,

durch Untertitel wie „Der Mann und das Werk“ die beiden einander

ergänzenden Teile des Ganzen zusammenfassend in Beziehung zu

setzen. Dabei stellt das Kollektivum „Werk“ als Einheit von vielerlei

eine Synthese dar, während die Einzahl „Mann“ nach Analyse verlangt.

Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt

verhalten: ebenso wie die einzelnen Werke Gegenstand der Analyse

waren, wird im Begriff des Dichters sich alles das synthetisch vereinheitlichen,

was aus der Einzelbetrachtung der Werke für das Bild

ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese

eigentlich nicht zu trennen; sie müssen in ständiger Wechselwirkung

bleiben, wie es J. Huizinga für die Geschichtswissenschaft formuliert

hat: „Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine

Synthese vorhanden sein.“



In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.)

gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe

des von ihm Geschaffenen. Oder sogar mehr, insofern das organische

Ganze der Gestalt die Addition der Teile an Wert übersteigt. Zunächst |#f0302 : 278|



aber führt bereits die Zusammenfassung zu einer Einheit. Der Weg,

der ausging von der im Text vorliegenden Leistung, führt weiter zu

den anderen Texten gleichen Ursprungs und findet schließlich sein

Ziel im Dichter. Der Dichter bildet den Abschluß der Perspektive,

die Zusammenfassung und den Treffpunkt, auf den man von verschiedenen

Seiten hingeführt wird; er bedeutet den Generalnenner

für die „Gesammelten Werke“, von denen jedes einzeln verstanden

sein will, ehe aus ihrer Vielfältigkeit das Gesamtbild der literarischen

Persönlichkeit sich ergibt. Der Durchbruch zu dieser wesenhaften

Einheit, in der alle Schöpfungen ihren unmittelbaren Ursprung haben,

kann als erste Etappe zusammenschauender Synthese betrachtet

werden.



Von da aus eröffnen sich im Blick auf Vorgänger, Gleichstrebende

und Nachfolger die Perspektiven einer literarhistorischen Einreihung.

Man kann auch tiefer schauen und weiter zurückgehen, indem man,

wie Josef Nadler zur Begründung seiner Familien- und Stammestheorie

ausgeführt hat, die Persönlichkeit als etwas von allgemeineren

Mächten Abhängiges und Bewirktes betrachtet. Damit würde der

Urheberbegriff zum Anfangsglied einer höheren Begriffsbildung.



Vorerst aber müssen wir bei der vermittelnden Ursacheneinheit haltmachen,

ohne bereits das nächsthöhere Ganze in jenen allgemeineren

Mächten zu suchen. Alles geht durch den Dichter. Es gibt keine

unmittelbare Abhängigkeit eines Werkes von einem anderen; sie ist

nur mittelbar möglich, indem der Verfasser des einen dem Einfluß

des anderen erlegen ist. Selbst ein Plagiat charakterisiert den Plagiator

und wird nur durch seine Wesensart verständlich. Es gibt keine

bestimmenden Einwirkungen von erziehenden Bildungsmächten, Standesauffassungen,

gesellschaftlichen Anschauungen, Strömungen des

Zeitgeistes und religiösen Erlebnissen, die nicht zunächst die Persönlichkeit

des Schöpfers erfaßt hätten, ehe sie in seinen Werken zum

Niederschlag kommen konnten. Auch die Zugehörigkeit zu Rasse,

Volkstum, Stamm und Familie ist immer durch die Lebenseinheit des

Einzelnen vermittelt.



Dabei scheint das Leben des Dichters allerdings nur insoweit in

Betracht zu kommen, als es dichterisch gestaltet ist oder wenigstens

für die Gesamtheit der Werke einen Rahmen bildet, der sie in ihrer

Folge und Gliederung überschauen läßt. Der Philosoph Benedetto

Croce will deshalb überhaupt nicht die menschliche, sondern ausschließlich

die dichterische Persönlichkeit, nicht das Grundwesen des

Dichters, sondern nur die Entwicklung seiner Kunst zum Gegenstand

der Untersuchung werden lassen. Im biographischen Prinzip sieht er |#f0303 : 279|



eine natürliche Neugier, die zur Enttäuschung führen kann, wenn sich

hinter dem Künstler, Philosophen und Mann der Wissenschaft weniger

Anteilerregendes findet, als man erwartet hatte. Diese Enttäuschung

hat beispielsweise Friedrich Hebbel erlebt, als er den vorher von ihm

vergötterten Ludwig Uhland in Tübingen besuchte. Trotzdem wird

man sagen dürfen, daß der Eindruck des Menschen oberflächlicher

war, als das vorangegangene Erlebnis des Dichters, und daß sich bei

näherem Umgang auch das Verhältnis zum Menschen vertieft hätte.



Aber kann nicht umgekehrt die Erwartung übertroffen werden?

Und kann sich nicht auch die entgegengesetzte Enttäuschung einstellen,

wenn ein Werk in seiner Wirkung nicht das erfüllt, was

man sich nach der Person des Verfassers versprochen hatte? Die

Zielrichtung ist umgekehrt, sobald die Einheit der schöpferischen

Persönlichkeit bekannt ist und die verschiedenartigen Werke als ihre

Ausstrahlung aufgefaßt werden müssen. Der Fall scheint vornehmlich

in der Gegenwart möglich, in unmittelbarer Lebensnähe eines Dichters,

dessen Persönlichkeit uns vertraut, dessen äußere Erlebnisse uns bekannt

sind, den wir beim Schaffen beobachten und dessen entstehenden

Werken als neuen Selbstoffenbarungen mit Spannung entgegengesehen

wird. So schreibt z. B. Heinr. v. Kleist an Friedr. de la Motte

Fouqué, als er dessen neuestes Werk erwartet und von seinem eigenen

„Zerbrochenen Krug“ eine Probe sendet: „Die Erscheinung, die am

meisten, bei der Betrachtung eines Kunstwerks, rührt, ist, dünkt mich,

nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der

es hervorbrachte, und der sich, in unbewußter Freiheit und Lieblichkeit,

darin entfaltet.“



Für wissenschaftliche und geschichtliche Betrachtungen kann ein

ähnliches Verhältnis auch in der Vergangenheit gegeben sein, wenn

das Leben eines Dichters sich vollständig vergegenwärtigt, wenn seine

Persönlichkeit in außerdichterischen Zeugnissen, Bekenntnissen und

Taten offen vor uns liegt, wenn Dasein und Persönlichkeit menschliche

Werte darstellen auch ohne Bezug auf die Werke. Wenn, wie

Friedrich Schlegel von Lessing sagte, er selbst mehr wert war als alle

seine Talente, dann können die Dichtungen als Beiwerk des Lebens

betrachtet werden. Sie gleichen den Planeten im Kreislauf um die

Sonne oder dem Ring des Saturn, der die Erscheinung des Ganzen

formgebend bestimmt, oder den Monden, die sich um das Gestirn bewegen,

aus dem sie hervorgingen und an das sie, wenn auch äußerlich

losgelöst, nach ihrem inneren Gesetz gebunden bleiben.



Zwar klagte ein Dichter wie Anton Wildgans, daß die Sehnsucht,

„eins zu sein mit seinen dunklen Taten“, keine Erfüllung finde:

|#f0304 : 280|



Aber immer haben die ihr Leben

Abgetrennt von mir und neben

Mir geführt wie kühle Saaten,

Die die Hände, jene mühevollen,

Die sie säten, nicht erkennen wollen.


Trotzdem bleiben die Werke bei allem Trennungsschmerz Fleisch und

Blut des Dichters; sie gehören ihrer Substanz nach zu seinem Leben

und werfen ihr Licht auf den Urheber zurück als Ausprägungen seines

Wesens. Die Aufhellung ihres Lebenszusammenhanges wird also zu

einem Mittel, die schon bekannte Wesensart des Schöpfers in tieferem

Einblick zu erschließen. Die Werke dienen der Deutung des Lebens.

So sah Wilhelm Dilthey in der Biographie die literarische Form des

Verstehens von fremdem Leben und den inneren Ausgangspunkt zur

Entwicklung einer psychologischen Wissenschaft.



Man kann allerdings fragen, ob nicht eine Biographik, für die

Seelenkenntnis zum Selbstzweck wird, mit mehr Recht dem Bereich

der allgemeinen Menschenkunde als dem der Literaturwissenschaft

zuzurechnen sei. Aber kann Seelenkunde überhaupt Selbstzweck sein?

Kein Charakter vermag psychologisch zu interessieren, den nicht

außergewöhnliche Leistungen, Handlungen oder mindestens Anschauungen

auf irgendeinem Gebiet bedeutungsvoll machen. Die gestellte

Frage wird für die Literaturwissenschaft wesenlos, wenn die Probleme

der Biographie sich auf nichts anderes als auf die seelischen Ursprünge

der Kunstwerke beziehen.



Die Einsicht in den Schaffensvorgang, die man als Biographie des

literarischen Werkes bezeichnen kann, wird zur Analyse des Dichters,

sobald das psychologische Verstehen sich nicht mehr auf die im Kunstwerk

dargestellten Vorgänge richtet, sondern statt des gestalteten Seelenlebens

die gestaltenden Kräfte sucht. Dann wird die Entstehungsgeschichte,

die außerhalb des Werkes einsetzt, in allen ihren Bindungen

nacherlebt. Sind die genetischen Verbindungslinien, die vom Dichter

zum Werk führen, aufgedeckt sowohl für jede einzelne Dichtung wie

für das gesamte Schaffen, so kann man auch den umgekehrten Weg

zurücklegen und, vom Werke aus an den Dichter anknüpfend, die Beziehungen

suchen, die sich zwischen seinem Leben und seinen Schöpfungen

offenbaren. Aus diesen Zusammenhängen ist der dichterische

Mensch zu analysieren.



Namentlich durch die mehr oder minder positivistische Methodenlehre

der Franzosen Henequin Lacombe, Paulhan, Paschal, Audiat

ist die Dichteranalyse in den Mittelpunkt aller literarhistorischen Aufgaben

gestellt worden. Die Psychologie des Dichters wird nach dieser |#f0305 : 281|



Einstellung begrenzt auf der einen Seite durch die ästhetische Analyse

des Werkes, auf der anderen durch die soziologische Analyse der Umwelt.

So wenig indessen die im dritten Hauptteil des ersten Buches

besprochene Werkanalyse sich allein auf die ästhetische Beurteilung

beschränken konnte, so wenig vermag die jetzt in den Mittelpunkt

tretende Analyse des Dichters mit Individualpsychologie oder Psychoanalyse

sich zu erschöpfen. Vielmehr kann eine zur Normierung und

Typisierung neigende psychologische Betrachtungsweise höchstens gewisse

gesetzmäßige Verbindungslinien herstellen zwischen zerstreuten

Wesenszügen, die bei Sammlung des biographischen Materials gewonnen

werden. An der Deutung dieses Materials und an der Zurückführung

auf seine Ursachen müssen alle anderen Wissenschaften vom Menschen,

zum mindesten Anthropologie, Biologie, Charakterologie und

Soziologie Anteil nehmen.



Es sind teils der Naturwissenschaft teils der Gesellschaftswissenschaft

angehörige Hilfskräfte, die schon Wilhelm Scherer anrief, als

er das Wesen des Dichters mit den drei Kategorien des Ererbten,

Erlebten
und Erlernten zu erfassen glaubte. Das eine betrifft

die Vorwelt, das andere die Innenwelt, das dritte die Mit- und Umwelt

des Dichters. So werden bereits die drei Ordnungen des Raumes, der

Zeit und der Gesellschaft vorweggenommen, denen, wie im dritten

Buch zu zeigen ist, der Einzelne zugeteilt werden kann. In seinen

Lebensraum ist der Dichter hineingeboren als Glied eines Volkes, eines

Stammes, einer Familie und als Erbe seiner Ahnen. Die Lebenszeit,

die von Geburt und Tod begrenzt ist, bringt ihn in Schicksalsgemeinschaft

mit seiner Generation und läßt ihn an allem Geschehen teilnehmen.

Der Lebenskreis, in dem er sich bewegt, vermittelt die Einflüsse,

die in seinem Schaffen sich spiegeln.



An der bequemen Formel Scherers haben geisteswissenschaftliche

Psychologie, Intuitionsphilosophie und Phänomenologie nachmals

wegen der darin zutage tretenden positivistischen Orientierung scharfe

Kritik geübt. Heute, da die schroffe Scheidung von Natur und Geist

sich wieder gemildert hat und die Schlagbäume zwischen naturwissenschaftlicher

und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung vor biologischer

Betrachtungsweise hinfällig werden, kann die Dreiheit ihre

Auferstehung erleben. Allerdings hat sich das Gewicht etwas verschoben:

das Erlernte dürfte nicht mehr die Bedeutung haben, die

man ihm einst mit mehr oder weniger mechanischer Feststellung

sogenannter „Einflüsse“ beimaß; das Erlebte, das erst durch Dilthey

zum Zentralbegriff erhoben wurde, ist auch nicht mehr allein ausschlaggebend;

das Ererbte dagegen lenkt alles Augenmerk in viel |#f0306 : 282|



höherem Maße, als es zu jener Zeit möglich war, auf sich. Der

Dichter ist zugleich Erbe und Erblasser; er ist ein Mittelglied

mehrerer Ketten und Wirkungsreihen, die in ihm teils Anfang teils

Ende finden. Das rassisch bedingte Körper- und Geistesverhältnis, das

in Leibesbeschaffenheit und Antlitz äußerlich sichtbar wird, führt

bis zu unbekannten Quellströmen der Urzeit zurück; weiter hat der

Dichter im Erbgang Gesinnung und Glauben, Brauch, Recht und

Denkart seines angestammten Volkstums als heiliges Pfand überkommen;

er schaltet und waltet im tausendjährigen Reich der Sprache

und wuchert mit dem ihm anvertrauten Pfunde; er ist mit Kolbenheyers

biologischer Metaphysik zu sprechen in seiner Konstitution

„der erbbedingte Reaktionskomplex und Funktionsexponent des

lebendigen Plasma, das sich auf seinen Anpassungswegen der Individuation

in weiteren und engeren Formen (Art, Stamm, Familie, Einzelwesen

usw.) bedienen muß“.



Der Dichter ist also artgebunden durch das Blut seiner Vorfahren

wie durch Überlieferung und Erziehung seiner Familie. So ist er auch

in seinem Dasein durch Natur, Selbstbestimmung und Pflicht gegenüber

der Gemeinschaft an Fortpflanzung und Mehrung dieses Erbteils

gehalten. Er kann es verschleudern, verschwenden und verleugnen;

er kann es als eine Last mit sich herumtragen und „feindselig gegen

alles Ererbte“ sein, wie Rilke einmal sagte, oder er kann es als etwas

aus dem Bewußtsein Verlorenes suchen wie Chamissos Peter Schlemihl

seinen Schatten; immer verdankt er doch Leben und Existenz den

Wurzeln seines Ursprungs.



Indessen muß gesagt werden, daß auch beim geborenen Dichter

alles, was er als Anlage geerbt hat, nicht mehr bedeuten kann als eine

günstige Empfänglichkeit für die einmaligen göttlichen Gaben des

Genies, die erst durch das Leben zur Entfaltung gebracht werden. Das

Erbteil einer empfindlichen Aufnahmefähigkeit für alle sinnlichen und

gefühlsmäßigen Eindrücke des Lebens, das Erbteil einer kühnen Einbildungskraft,

die aus jenen ins Innere aufgenommenen Lebenseindrücken

eine eigene Weltschöpfung aufbaut, und das Erbteil einer

packenden Ausdrucksfähigkeit in sprachlicher Gestaltung und Formung

des inneren Lebens bilden den Mutterboden, durch den das

Schicksal seinen aufreißenden Pflug zieht, in den die Erlebnisse keimhaltigen

Samen streuen und aus dem ein günstiges Klima reifende

Frucht in sprießendem Wachstum aufgehen läßt. Die rassische, stammhafte

und familienmäßige Erbbedingtheit wird also bei der Analyse

der dichterischen Persönlichkeit die erste Voraussetzung bilden, ohne

daß damit die letzten Zugänge zur Individualität geöffnet wären.

|#f0307 : 283|



2. Ererbtes



Rasse, Stamm und Sippe sind die drei Grade körperlicher und geistiger

Erbgemeinschaft, deren Bereich sich über den unendlichen Weg

vom dunkeln Ursprung der Menschheit bis zur Geburt des Einzelnen

erstreckt. Wenn auch die Rasse das Weiteste, räumlich und zeitlich

Umfassendste ist, so gehen die beiden anderen Begriffe doch nicht in

ihrer Summe auf. Aus einer urzeitlichen Rasse können vielerlei Völker

und Stämme hervorgegangen sein, ebenso wie in einem Volk verschiedene

Rassen vermischt sind. In einem Stamm können unzählige

Familien verzweigt sein, ebenso wie in einer Familie der Blutstrom

verschiedener Stämme zusammenfließt. Das Volk ist nicht Teilbegriff

einer Rasse, wenn auch bestimmte Rassenmerkmale in seinem Typus

vorwiegen mögen. Ebenso wenig läßt sich der Stamm, der nach alten

Mythen auf einen Urvater heroischer oder göttlicher Abkunft zurückgeht,

in lauter Familien auflösen, wenn auch die Familie das Sinnbild

und das Fortpflanzungsmittel des Stammes darstellt. Im Laufe der

Jahrtausende sind neue Rassen, im Laufe der Jahrhunderte neue Völker

und Stämme entstanden, und neue Familien bilden sich fortwährend

in rasse- und stammerhaltender oder rassezerstörender Funktion.

Wenn Weltgeschichte und Weltverkehr für Kreuzung von Rassen,

für Ineinanderaufgehen von Völkern und Stämmen, für Wanderung

und Wechsel von Landschaft und Heimat, für Blutverbindung fremder

Familien oder für Seßhaftigkeit, Inzucht und Häufung des Erbgutes

gesorgt haben, so ließ das Würfelspiel des Schicksals aus dem Urbestand

immer neue Mischungen hervorgehen, als deren letzter Wurf

jedesmal ein Einzelner anzusehen ist. In seiner Eigenart müssen wir

die ererbten Züge suchen, weil er in Lebenskräften und Geisteshaltung

durch sie bedingt ist.



Dieses Erbgut kann in der äußeren Erscheinung des Dichters sich

offenbaren. Das Rassische ist in Schädelform, Augen-, Haar- und

Hautfarbe, Körperbau, Haltung, Gang und Ausdrucksbewegungen

erkennbar, während Volkszugehörigkeit und Sprache ebenso wie Geburtsort

und Familienname schon oft zu rassischen Fehldiagnosen

geführt haben. ─ Für die Merkmale des Stammes, dessen rassische

Züge nicht einheitlich zu sein brauchen, kommt als formgebend und

stilbildend die Sprache hinzu. Die Tätigkeit der Gesichtsmuskeln ist

es, die nach Fritz Lange in die ererbte Grundform neue Züge als Eindrücke

von Erlebnissen und Erfahrungen, Umwelt und Beruf einzeichnet.

Wenn vor allem die gewohnheitsmäßige Artikulation der

Sprache gestaltenden Einfluß auf das Antlitz und seine Muskulatur |#f0308 : 284|



ausübt, so können sich typische Erscheinungen herausbilden, wie sie

Willy Hellpach, ausgehend vom „fränkischen Gesicht“, in der Physiognomik

der deutschen Volksstämme beobachtet hat. Schon Lavater

sprach von der Naturgeschichte der Nationalgesichter, und Clemens

Brentano hat in seiner heiteren Novelle „Die mehreren Wehmüller“

Ausdruck und Motiv übernommen. Hellpach will für solche Einheitsbildungen

nicht die Rassenzusammensetzung verantwortlich machen,

sondern sieht sozial-psychische Ursachen in regionalem Temperament

und regionaler Mundart. Zum Wesen des Stammes gehört seine Heimat

und der Boden, mit dem er verwurzelt ist. ─ Als Familienerbteil

endlich übertragen sich zusammen mit Rassen- und Stammesmerkmalen

die konstitutionellen Eigentümlichkeiten, die mit persönlichen

Temperaments- und Charakteranlagen in Übereinstimmung

stehen. Sie sind, wie Ernst Kretschmer gezeigt hat, für Art, Richtung

und Stil des dichterischen Schaffens wie für Temperament und

Lebensauffassung bestimmend, womit aber nicht gesagt ist, daß ererbte

Konstitution und ererbte Dichtergabe von derselben Seite stammen

müssen. Goethe wenigstens hat in vielzitierten Versen, deren meist

unbeachtet bleibender Zusammenhang die Originalität und Selbständigkeit

des Individuums ironisch in Frage stellt, sein eigenes Familienerbteil

deutlich getrennt:



Vom Vater hab' ich die Statur,

Des Lebens ernstes Führen,

Vom Mütterlein die Frohnatur

Und Lust zum Fabulieren.



Die erbbedingten Eigenschaften spiegeln sich auch im Schaffen des

Künstlers. Die Selbstdarstellung, zu der jedes Werk bewußt oder unwillkürlich

sich ausprägt gibt den Gestalten des Bildhauers und Malers,

ja selbst der Sehweise des Landschafters, den Proportionen des Architekten,

dem Rhythmus des Musikers, den Bewegungen des Tänzers und

Schauspielers Formen, die seiner eingeborenen Anlage, seiner Sinnesempfänglichkeit,

seinen Schönheitsidealen, seinem inneren Gesetz und

seiner persönlichen Haltung entsprechen. So können auch dichterische

Gestalten, je nachdem ob sie mit Sympathie oder Antipathie dargestellt

sind, als Typen oder Gegentypen des rassischen, stammhaften und

konstitutionellen Bildes ihres Schöpfers angesehen werden. Schiller

hat gewiß in Karl Moor und Fiesko nicht sein Selbstbildnis geben

wollen, aber doch steht die indirekte Schilderung beider, gleichviel ob

sie mit dem Auge des Hasses oder der Liebe gesehen ist, nicht in

Widerspruch zum eigenen Rassetypus des Dichters. (Moor: „sein langer |#f0309 : 285|



Gänsehals, seine schwarzen feuerwerfenden Augen, sein finsteres

überhangendes buschichtes Augenbraun“; Fiesko: „stolz und herrlich

trat er daher, nicht anders als wenn das durchlauchtige Genua auf

seinen Schultern sich wiegte.“) Dagegen sind im mißgestalteten Franz

Moor, der ja eigentlich seinem Bruder gleichen müßte, ferner im

Juden Spiegelberg, im Mohren Muley Hassan, im kriecherischen Sekretär

Wurm die Gegentypen mit mehr oder weniger humorvoller Abneigung

gezeichnet. Wiederum hat Hebbel seinen orientalischen

Frauengestalten, ob sie nun Judith, Mariamne und Rhodope heißen,

durchaus nordische Charakterzüge verliehen.



Geschulter Blick kann Rasse und Stamm, ja sogar Konstitution des

Schöpfers aus den von ihm gestalteten Gebilden ablesen wie aus der

Gestalt seiner eigenen Bildnisse. Vielleicht sind die Gebilde sogar

zuverlässigere Blutzeugen, weil sie mehr Ursprünglichkeit besitzen,

während die Porträts, die man als rassekundliche Zeugnisse der Vergangenheit

heranziehen muß, bezeichnender sein können für Sehweise

und Wesensart der Maler als für die der Dargestellten. Das gilt

namentlich für die älteren Zeiten; beispielsweise erkennt man

in den Minnesängergestalten der Heidelberger Liederhandschrift

mehr Anpassung an die Motive der Dichtungen als individuelle

Charakteristik.



Trotzdem darf das, was an sichtbaren Spuren des Lebenswandels

eines Dichters erhalten ist, nicht übersehen werden. Gemälde und

Zeichnungen, Plastiken, Silhouetten und Kopfabgüsse stellen nicht

nur für oberflächliche Anschauung gefällige Illustration dar, sondern

sie können je nach Zuverlässigkeit zum wissenschaftlichen Studienmaterial

werden. Neben Beschreibungen des äußeren Eindrucks und

zufällig überlieferten Körpermessungen sind auch museale Erinnerungsstücke

unter Umständen von gewissem Vorstellungswert; freilich können

solche Reliquien nur dann wissenschaftliche Wichtigkeit beanspruchen,

wenn die daraus gewonnenen Schlüsse auf die äußere Erscheinung

des Dichters und seine rassischen, stammhaften und konstitutionellen

Merkmale in irgendeinen aufschlußgebenden Zusammenhang

zu bringen sind mit der dichterischen Eigenart.



Die Behandlung des Materials, das für die körperliche Erscheinung

eines Dichters überliefert ist, unterliegt gleichen Grundsätzen wie der

überlieferte Text; die Reihenfolge ist auch hier: Sammlung, Kritik,

Gliederung, Deutung. Die Ikonographie stellt ähnliche Aufgaben wie

die Bibliographie; Dichtermuseum und Bilderatlas bedeuten als Arbeitsstätte

und Material ungefähr dasselbe wie Bibliothek, Archiv

und Bücherkatalog. Wenn eine vollständige Sammlung des Bild- |#f0310 : 286|



materials vorliegt, wie sie etwa für Goethe in den Werken von Rollett,

Zarncke und Schulte-Strathaus, für Schiller durch O. v. Güntter,

für die ganze deutsche Literaturgeschichte durch Könnecke unternommen

worden ist, so wird die damit verbundene Prüfung jedes

einzelnen Stückes, die Ausscheidung des Unechten, die Anzweiflung

des Unsicheren, die Feststellung des Ursprünglichen, die Ermittlung

des Darstellers, seines Könnens und seiner Treue sowie die vergleichende

Untersuchung etwaiger Abhängigkeit vorausgesetzt. Mit

der Datierung verbindet sich die Eingliederung in den überlieferten

Lebensgang und die Beobachtung äußerlicher Wandlung, in der sich

nicht nur das allmähliche Reifen und Altern, sondern auch der tiefgegrabene

Eindruck der Erlebnisse und der Wechsel der Lebensstimmungen

offenbart. Übrig bleibt dann noch die Deutung nicht nur der

einzelnen Stücke, sondern des ganzen Materials, dem ein physiognomisches

Gesamtbild der Persönlichkeit, ihrer Ursprünge und ihrer Entwicklung

abzugewinnen ist.



In der Auswertung des Materials trennen sich die anthropologischen

Gesichtspunkte, die auf das Gruppenmäßige und Typische zielen, von

den literaturwissenschaftlichen, die das Individuelle erfassen sollen.

Wenn mit einer gewissen Vorliebe die Bilder großer Männer, deren

Genealogie, Lebensgeschichte, Persönlichkeit und Leistung als bekannt

gelten, zum Studienmaterial für Rassen- und Stammesforschung

herangezogen werden, so geschieht es in der Absicht, ihre im Äußeren

ausgeprägte Wesensart als Baustein für den Beweis typischer und artgemäßer

geistiger Leistung zu verwerten. Nicht das Verstehen des

einzelnen und seiner Schöpfungen, das vorausgesetzt wird, sondern

der Beweis einer Übereinstimmung von Morphologie und Psychologie

und die Feststellung allgemeiner Zusammenhänge zwischen körperlicher

und geistiger Ausdrucksform bilden das Ziel. Die Literaturwissenschaft

dagegen müßte gerade das, was anthropologisch erst

ermessen werden soll, als gegeben voraussetzen; sie müßte mit den

unerschütterlich feststehenden Ergebnissen der Rassen- und Stammesforschung

als Tatsachen rechnen dürfen, sowohl um sie für das verstehende

Eindringen in die Wesensart eines Dichters zu verwerten als

auch umgekehrt, um aus Gesinnung und Gestaltungsweise unanfechtbare

Schlüsse auf die Blutzugehörigkeit ziehen zu können.



Mangels fester Formeln für das Verhältnis zwischen der körperlichen

und geistigen Natur des Menschen bleibt die gegenseitige Hilfeleistung

unsicher. Die Literaturwissenschaft läuft Gefahr, in den von

Rassen- und Stammesforschung ihr überlieferten Ergebnissen ein allzu

weitmaschiges Netz von Grundsätzen entgegenzunehmen, während |#f0311 : 287|



umgekehrt die von der Literaturwissenschaft an die Anthropologie

übermittelten Fälle in bezug auf die geistige Leistung Ausnahmen darstellen,

auf die keine Gesetze zu gründen sind.



a) Rasse



Die Zusammenarbeit der aufblühenden Rasseforschung und der

jugendlichen Literaturwissenschaft befindet sich vorläufig in tastenden

Anfängen. Auf der einen Seite wird sie erschwert nicht nur durch eine

schwankende Terminologie (westlich oder mediterran, ostisch oder

alpin, fälisch oder dalisch), die zudem ungewiß läßt, welche Rassen

als primär, welche als sekundär anzusehen sind. Dazu kommt, daß die

psychologische Ausdeutung der Rassenmerkmale noch keineswegs einheitlich

geklärt ist. Auf der anderen Seite liegt das Hindernis darin,

daß die Literaturwissenschaft für die älteste Zeit so gut wie gar kein,

für die neuere Zeit aber verhältnismäßig wenig eindeutiges Bildmaterial

zur rassischen Diagnose beisteuern kann.



Schädelmessungen, wie sie schon bei Gräberfunden der Vorgeschichte

einen typischen Durchschnitt ermitteln lassen, stehen für Dichter der

mittleren und neueren Zeit selten zur Verfügung; auch da ist das

Material nicht immer zuverlässig, wie die peinlichen Schicksale der

Schillerschen Gebeine zeigen. Aus den Schiller-Bildnissen aber und

mehr noch aus seiner Dichtung werden verschiedene Ergebnisse gezogen:

Otto Hauser z. B. bezeichnet ebenso wie Richard Weltrich

Schiller als rein nordisch in Leben und Schaffen, während Hans F. K.

Günther einen dinarischen Einschlag betont, der sich auch in Schillers

Stil, in einer überfliegenden, ausladenden Sprache, die den Wirklichkeitssinn

und das Abstandhalten der nordischen Art zurückdrängt,

äußern soll. Bei Heinrich von Kleist besteht ebenfalls ein Widerspruch

nicht nur in der Bildüberlieferung (zwischen der umstrittenen Maske,

die auch für Achim von Arnim in Anspruch genommen wurde, und

der besser beglaubigten, aber weniger sagenden Miniatur), sondern

ebenso in der geistigen Haltung und im Stil der Dichtung. Hier sieht

Günther die nordische Rassenseele von einer krankhaften Veranlagung

durchsetzt, die von ihm als Störung der Erbanlage angesehen wird.

Auch von den Werken werden nur „Robert Guiskard“ und „Michael

Kohlhaas“ als rein nordisch anerkannt. Die Bildnisse konnten bei dieser

Charakteristik, die einer eigentlichen Bestimmung der rassischen

Elemente ausweicht, kaum eine Rolle spielen.



Je näher wir der Gegenwart kommen, desto eher findet sich dank

reicher photographischer Überlieferung die Möglichkeit exakterer |#f0312 : 288|



anthropologischer Untersuchung. Die seltene Gelegenheit, Rasse und

Volkstum einer lang ansässigen und in sich ziemlich abgeschlossenen

Bevölkerung, aus der mehrere Dichter, nämlich die drei Brüder

Kinau (darunter Gorch Fock) und Hinrich Wriede, hervorgegangen

sind, statistisch aufzunehmen, bot das Fischerdorf auf der Altona

gegenüberliegenden Elbinsel Finkenwärder. Die Bevölkerung hat sich

zwar nicht als durchaus reinrassig erwiesen, aber die nordischen

Kennzeichen in Schädelform, Augen-, Haar- und Hautfarbe herrschen

doch in ungewöhnlich reichem Maße vor. Gerade die vier Dichter

scheinen allerdings in ihrem Äußeren nicht ganz der Reinkultur des

Typus von Finkenwärder zu entsprechen und die in ihrer Generation

hervortretende Begabung ist in früheren Zeiten des Fischerdorfs nicht

bemerkbar, so daß ein bedeutungsvoller Beitrag für die Erbbestimmung

dichterischer Anlage aus dieser sorgfältigen Untersuchung

ebenso wenig herausspringen konnte als bei mangelnder Ahnentafel

die Erklärung der Abweichungen.



Anders liegt es in dem Falle Wilhelm Raabes, dessen Abstammung

durch den neuesten Biographen Wilhelm Fehse eingehende Untersuchung

erfahren hat. Führt die Ahnentafel väterlicherseits zurück

auf das Bergmannstum des Harzes, dessen Urwelt den symbolischen

Hintergrund vieler Erzählungen bildet, so hat sich damit das Blut der

Ebene vermischt, deren Geschlechterreihe im Gelehrten- und Beamtentum

des Braunschweigischen (Schottelius) eine ehrenvolle Rolle spielte.

In Raabes Körperlichkeit mischen sich nordische Züge, zu denen die

hohe, schlanke, langbeinige Gestalt, der stark nach hinten ausladende

Langschädel, das schmale, hellhäutige Gesicht, die graublauen Augen

und das dunkelblonde Haar gehören, mit Zügen, die der fälischen

Eigenart zugeschrieben werden, wie die viereckige Gestaltung der

Stirn und die breitgeformte Nase. Aber damit ist noch nicht gesagt,

welche Rassenzüge der väterlichen, welche der mütterlichen Familie

zugeschrieben sind. Wahrscheinlich hat schon früher mehrfache Kreuzung

stattgefunden. In Raabes geistiger Wesensart sind dieselben

Widersprüche bemerkbar: der Drang nach freiester Persönlichkeitsentfaltung,

das eigenwillige Schöpfertum, die von einer scharfen Intelligenz

gebändigte Phantasie, die abstandhaltende innere Vornehmheit

dürfen als Eigentümlichkeiten nordischer Haltung in Anspruch

genommen werden, während die innere Einsamkeit, das Behagen der

Enge, die nüchterne Sachlichkeit und die hellseherische Mystik dem

fälischen Wesen zufallen. Aus dieser Gegensätzlichkeit zwischen rationalen

und irrationalen Kräften werden nun die Spannungen und Konflikte

des Raabeschen Lebens und Dichtens erschlossen, deren Überwindung |#f0313 : 289|



schließlich dem Lebensgefühl des Humors gelingen konnte.

Was aber dessen Art betrifft, so wird durch Siegfried Kadner der gröbere

und deftige fälische Humor getrennt von dem feineren und milden

nordischen, der bei Raabe wohl vorwiegt.



Der Gegensatz der beiden verwandten und oft vermischten Rassen

kann nicht allein für die Widersprüche in Raabes Persönlichkeit entscheidend

sein; sicher haben auch berufliche und gesellschaftliche

Erfahrungen, Gewohnheiten, Schicksale der Vorfahren und die landschaftliche

Verschiedenheit ihrer Herkunft mitgewirkt. Immerhin

stellt der beobachtete Zwiespalt vor ungeklärte Probleme, denen Erbforschung

und Literaturwissenschaft in gemeinsamer Arbeit weiter

nachgehen sollten, nämlich inwieweit überhaupt rassische Zwiespältigkeit

Konflikte schafft, die dem in sich widerspruchsvollen Dichter

Erlebnis werden und ihn ohne Bewußtsein der Ursache zur Auseinandersetzung

und selbstbefreienden Gestaltung zwingen.



Die Fragestellung kann nicht bis zu der Folgerung ausgedehnt

werden, daß eine absolut reinrassige Herkunft, wie sie bei der europäischen

Vermengung äußerst selten, wenn nicht geradezu ausgeschlossen

sein muß, weniger gewaltsame Spannungen kenne und künstlerisch

minder produktiv bleibe. Oder gar, daß Dichtung überhaupt erst aus

Rassengegensätzen entstehe. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die

Untersuchungen über die Ursprünge des Genies, die seinerzeit Reibmayr

unternahm und die neuerdings von Kretschmer wieder aufgenommen

wurden, auf einen Vorzug der Kreuzung artverwandter

Rassen hinführten. Auf jeden Fall liegt in der Verschiedenheit der

von den Eltern ererbten Charakteranlage und in den daraus folgenden

inneren Spannungen eine Vertiefung und Bereicherung der Erlebnisfähigkeit

des werdenden Dichters. Man denke an E. T. A. Hoffmann,

dessen Doppelleben als gewissenhafter Beamter und ausschweifendes

Genie wie dessen ständiges Erlebnis des Gegensatzes zwischen Philister

und Künstler auf die Wesensverschiedenheit der Eltern und

ihrer Familien zurückzuführen ist. Moderne Gestaltungen des Gegensatzes

zwischen Bürger und Künstler scheinen auf ähnlicher Gegensätzlichkeit

der Erbgrundlagen zu beruhen. Wie dem auch sei, es

besteht die Forderung, den Auswirkungen verschiedenartiger Blutbindung

in allen erkennbaren Fällen nachzugehen.



Andere Literaturen geben dazu vielleicht noch mehr Anlaß und

bessere Beobachtungsmöglichkeit als die deutsche; z. B. Nordamerika,

wo die Rassenprobleme des Schmelztiegels noch in jüngerer Zeit zu

verfolgen sind, oder Großbritannien, wo die wallisischen, schottischen,

irischen, angelsächsischen und normannischen Elemente in der Siedlungsgeschichte |#f0314 : 290|



faßbar werden. Bisher ist aber diesen Vorgängen von

Mundartforschung und Volkskunde, die ganze Gruppen und Landschaften

als Einheit aufzunehmen in der Lage sind, mehr Beachtung

geschenkt worden als von der Literaturgeschichte. Mir ist keine Biographie

Lord Byrons bekannt, bei der die Auswirkung englischschottischer

Blutmischung in seiner Dichtung analysiert würde;

dagegen wird bei Dante Gabriel Rossetti in Bernhard Fehrs Darstellung

Italienisches und Englisches unterschieden, freilich mehr als

Bildungseinfluß denn als Erbteil. Die gleichen Probleme komplizieren

sich bei Joseph Conrad (Korzeniowsky) 1857─1923, wenn das, was

ukrainisch, was polnisch, was etwa jüdisch und was englisches Bildungsgut

ist, sich sondern ließe von dem Einfluß exotischer Erlebnisse, die

das Thema seiner Erzählungen bilden.



Für Deutschland hat Joseph Nadler vor allem im Kolonisationsgebiet

einen günstigen Boden zur Aufhellung geistesgeschichtlicher

Probleme gefunden. Er hat neuerdings in Auseinandersetzung mit

Günther der Rassenkunde die Aufgabe gestellt, für die beiden räumlich

weit getrennten Wohngebiete der ostischen Rasse, nämlich Oberrhein

und Ostmitteldeutschland, „die räumliche Dichte bestimmter

geistiger Vorgänge“ zu prüfen. Hatte sich ihm vorher das ostdeutsche

Kolonisationsland als Ursprungsland der Romantik dargestellt, so

konnte er die Augen gegenüber der Tatsache nicht verschließen, daß

auch in Westdeutschland schon im 18. Jahrhundert vorromantische

Strömungen ihr Quellgebiet haben. Die Übereinstimmungen führen

zu der Frage, ob nicht diese beiden Gegenden durch die Vorherrschaft

der ostischen Rasse zu Kernlandschaften des denkerischen und

mystischen Geistes in Deutschland geworden seien. Indessen hat dieser

Geist auch am Niederrhein seinen Sitz, und Ernst Kretschmer sucht

ihn auf Grund von Rassekarten auch dort durch alpine (ostische) Einsprengsel

zu erklären. Diese Fragestellungen, die weit über die Analyse

der einzelnen Persönlichkeit hinausgehen, werden im dritten Buch

zu erörtern sein.



Bleiben wir zunächst bei der Erbanlage einzelner Persönlichkeiten,

so stellt unter den Romantikern eine Gestalt wie Ludwig Tieck vor

das Rätsel, wie dieses in der Metropole der Aufklärung aufgewachsene

Berliner Kind überhaupt zum Romantiker werden konnte. Wenn

jetzt die amerikanische Biographie von Edwin H. Zeydel es wahrscheinlich

macht, daß das illegitime Pflegekind des Pfarrers Latzke,

das der Seilermeister Johann Ludwig Tieck aus Jeserig bei Brandenburg

heimführte, eine Russin zur Mutter hatte, so klärt sich aus dem

großmütterlichen slawischen Erbe vielleicht die lässige Apathie und |#f0315 : 291|



weiche Stimmungshingabe des Dichters auf, die wiederum ihr Gegengewicht

in einem vom Vater ererbten, sehr nüchternen kritischen

Intellekt fand. Der innere Widerstreit zwischen den beiden Anlagen

mag die Voraussetzung bilden für die Selbstzersetzung des Romans

„William Lovell“ und für die stimmungzerstörende Form der Ironie,

die in den Literaturkomödien in Blüte steht. Ein anderes Beispiel

haltloser Zerrissenheit aus rassischem und volkhaftem Zwiespalt mag

in der italienisch-französisch-deutschen Blutmischung Clemens Brentanos,

die Chamberlain zu Unrecht als die einer syrosemitischen

Bastardfamilie charakterisierte, sich darstellen. Weiter wird man bei

Paul Heyse, der das epigonale Artistentum nachgoethischer Zeit mit

gewissem Glanz repräsentierte, das Erbteil der jüdischen Mutter nicht

verkennen, wenn man seine weichliche Wesensart mit fester verwurzelten

Zeitgenossen wie Gottfried Keller, Theodor Storm oder Wilhelm

Raabe vergleicht. Mit Recht führt Ludwig Finckh die Geschlossenheit

seines Wesens auf rein schwäbische Abstammung zurück. Rilke wiederum

wollte seine „gründlichen Beziehungen zur französischen Geistigkeit“

aus der elsässischen Herkunft seiner mütterlichen Familie erklären,

was mehr kulturellen als rassischen Einschlag bedeuten würde.

Auch das versprengte französische Blut der Friedrich de la Motte

Fouqué, Willibald Alexis, Theodor Fontane, Luise von François, die

alle nach Norden gerichtet sind, stellt vor Aufgaben rassischer Untersuchung,

denen die Forschung bisher erst geringe Aufmerksamkeit entgegenbrachte.





Während der Bahnbrecher der genealogischen Literaturforschung,

August Sauer, als seine letzte literarische Gabe eine seitenlange, nach

Ländern geordnete Aufzählung aller deutschen Schriftsteller, deren

Ahnen aus der Fremde kamen, hinterließ, machte schon vorher Fernand

Baldensperger auf das fremdstämmige Blut in der französischen

Dichtung aufmerksam, das aus Italien bei Scudéry, Rivarol und Zola,

aus Spanien bei Guez, Balzac, Laclos, Florian, aus England bei Moncrif

und Gresset, aus Deutschland bei George Sand sich herleitet. Rassenkundliche

Untersuchungen sind an diese Feststellungen noch kaum

angeknüpft worden. Auf die sichtbar nordische Herkunft des Normannen

Flaubert, der von sich selbst sagte, „je suis Allemand“, hat

Günther hingewiesen, aber auch hier hätte nicht weniger als bei Kleist

die krankhafte Anlage, die Flaubert mit dem Epileptiker Dostojewski

teilte, beachtet werden sollen. Weiter bleibt die Fortwirkung des

Negerblutes der beiden Dumas, die in ihrem Äußeren sich nicht verbirgt,

zu erforschen. Die schwarze Rasse war auch in der Abstammung

des Russen Alexander Puschkin vertreten, der zum Urgroßvater mütterlicherseits |#f0316 : 292|



einen in Frankreich erzogenen Neger, der der Leibmohr

Peters des Großen wurde, gehabt hat. Unter den deutschen Dichtern

aber hat man in Ferdinand Freiligraths löwenartigem Haupt negroide

Züge entdecken wollen. Sollten danach die eigenartigen afrikanischen

Phantasien des „Mohrenfürst“ und „Löwenritt“ als Atavismen aufgefaßt

werden dürfen?



Bei solchen unerforschten Zusammenhängen fehlt vorläufig jede

Erfahrung dafür, über welchen Zeitraum hinaus und bis zu welchem

Grad der Verdünnung derartige Einsprengsel noch wirksam sein können;

denn die biologischen Pflanzen- und Tierexperimente, die durch

zahllose Generationen die Erhaltung bestimmter Erbmerkmale erweisen,

haben noch keine unmittelbare Beweiskraft für das Fortleben

geistiger Eigenschaften durch ebenso viele Glieder.



Als beinahe erheiterndes Beispiel des Äußersten an Kombinationsmöglichkeit

sei eine Folgerung aus Goethes Ahnenreihe erwähnt. Die

elfte Geschlechterfolge führt im 15. Jahrhundert auf die Frankenberger

Familie Soldan, deren Vorfahr nach Familienüberlieferung ein im

Anfang des 14. Jahrhunderts getaufter Türke (oder Araber) Sadok Seli

Soltan gewesen sein soll. Wäre es demnach erlaubt, die Flucht in die

Patriarchenluft des Ostens, die der Dichter des „Westöstlichen Divan“

antrat, als Wirken einer geheimen Stimme des Blutes, die in ferne

Ahnengefilde lockte, aufzufassen? Damit nicht genug. Ein jüdischer

Sprachforscher, der nach den Grundsätzen der Finckschen Sprachtypenlehre

Übereinstimmung zwischen Goethes Alterssprache und der

türkischen Syntax entdeckt hatte, glaubte nun in dem „Tropfen Türkenblut“

die Erklärung und schlagende Bestätigung seiner Hypothese

zu finden.



Mündliche Familientraditionen stellen immer eine sehr unsichere

Quelle dar. Nach dem Genealogen Karl Knetsch, der die grundlegende

Ahnentafel Goethes aufgestellt hat, ist jene abenteuerliche Verbindung

der Frankenberger Familie Solden mit dem seligen Sadok zu bezweifeln.

Aber wohl läßt sich auf Grund dieser Ahnentafel errechnen, daß

über die Marburger Familie Orth im 16. Jahrhundert das Blut sowohl

Karls des Großen als seines Gegners Widukind in Goethes Adern gekommen

ist. Was lassen sich daraus für Schlüsse auf seine staatsmännische

Begabung ziehen, zumal auch andere Fürstlichkeiten wie Heinrich

der Vogler, Otto der Große, die Staufer Friedrich Barbarossa,

Heinrich VI. und Friedrich II. sowie Landgraf Ludwig von Thüringen

und die heilige Elisabeth in die Reihe der Vorfahren treten. Ferner

ist in der Ahnenreihe ein Minister wie der Kanzler Brück und ein

Maler wie Lukas Cranach vertreten. Trotzdem gewährt das rassische |#f0317 : 293|



Bild Goethes keine ungemischte Freude; der Dichter, dessen Vatersname

auf gotische Abstammung hinweist, scheint kein rein nordischer

Mensch gewesen zu sein. Walter Rauschenberger, der diesen Schluß

aus vorhandenen Ahnenbildern zieht, glaubt aber, daß gerade auf dem

mannigfaltigen Erbanteil, der an mehrere Rassen und fast an alle deutschen

Stämme gebunden ist, der Universalismus Goethes in seiner einzigartigen

allumfassenden Menschlichkeit gegründet sei. Dagegen hat

Walther Tröge behauptet, die gewaltige dichterische Leistung Goethes

habe ihre blutsmäßige Voraussetzung in seinen thüringischen Bauernahnen,

denen er die Kraft für seine Sendung verdanke.



b) Stamm



Als Josef Nadler 1934 das Verhältnis zwischen Rassenkunde, Volkskunde

und Stammeskunde in ihrer Bedeutung für die literaturwissenschaftliche

Methode abwog, sprach er der Rassenkunde keineswegs

die große Bedeutung ihrer Aufgaben ab und zweifelte nicht an der

endlichen Lösung: „Erst von der Rasse her sind die letzten Aufschlüsse

zu erwarten, die weder die Volkskunde noch die Stammeskunde geben

können.“ Aber es wurde demgegenüber der Vorteil betont, in dem sich

gegenwärtig noch die beiden anderen Wissenschaften befinden, weil

nicht mehr Fragen von ihnen und an sie gestellt zu werden brauchen,

als sie zu beantworten in der Lage sind. Damit brach Nadler eine

Lanze für seine eigene Lehre, die von ihm in vielen grundsätzlichen

Darlegungen erörtert, vor allem aber in der großen „Literaturgeschichte

der deutschen Stämme und Landschaften“ zur Anwendung gebracht

ist. Auch in dieser glänzenden und bestechenden Darstellung, die auf

viele bisher kaum geahnte Zusammenhänge überraschendes Licht wirft,

sind indessen die klaren Beantwortungen, soweit sie den Einzelnen

betreffen, an Zahl geringer und methodisch primitiver als die Fragestellungen.





Gegen die Einseitigkeit, mit der die Stämme als die eigentlichen

Spieler des Dramas auf die Bühne geführt werden, wie gegen die Zweiseitigkeit,

die im Wechsel und Ineinanderwirken mit den stammhaften

Verkörperungen auch die Umwelt und den landschaftlichen Hintergrund

als Wandeldekoration mitspielen läßt, sind mancherlei Bedenken

geäußert worden. Das letzte Wort der Auseinandersetzung, das

zurzeit vorliegt, faßt höchte Anerkennung in dem Urteil zusammen,

daß ein Buch von deutscher Art und Kunst, eine Geschichte der Einswerdung

des deutschen Volkes entstanden sei, bei dem die Literatur

nur das Belegmaterial für die Stammeskunde bilde, so daß System und |#f0318 : 294|



Quintessenz des Werkes eigentlich in der kleinen Schrift „Das stammhafte

Gefüge des deutschen Volkes“ vorliege.



Eine synthetische Betrachtungsweise ist damit gekennzeichnet. Ihr

ist weniger an der Dichtung gelegen, als an dem Menschen, der sich in

ihr ausspricht, und im Menschen wird nicht der Dichter gesucht,

sondern die Stammesseele, deren Sprachrohr er ist. In der Tat hat

Nadler einmal auf einer Soziologentagung erklärt, es komme nicht

darauf an, etwas aus den Stämmen herzuleiten, sondern Material zu

erschließen für die Erkenntnis des Stammesproblems. Indem wir die

Besprechung dieser Methode den Ordnungen des Raumes im dritten

Buch zuweisen und die Erörterung der Darstellungsgrundsätze dem

fünften Buch vorbehalten, müssen wir uns hier zunächst auf den entgegengesetzten

Standpunkt stellen und fragen, was wir von der Analyse

des Stammeserbes beim einzelnen Dichter zu erwarten haben.



Wir begegnen aufs neue dem schon oben beobachteten Unterschied

zwischen anthropologisch-typisierender und psychologisch-individualisierender

Zielsetzung. Es ist etwas anderes, ob die Ergebnisse der Einzelanalyse

von vornherein zu Bausteinen eines allgemeinen Systems

bestimmt sind oder ob ein fertiges und zuverlässiges System bei der

Analyse des Einzelnen zur Verfügung steht. Um der Zusammenfassung

willen muß Nadler viele Ergebnisse der Einzelanalyse übergehen; die

Zwangslage der Einordnung läßt nicht zu, daß der verschiedenartige

Blutanteil bei einem Dichter in gleichem Maße zu Recht kommt; jeder

muß in seinem Paß zu einem bestimmten Stamm Farbe bekennen.

Selten wird den beiden Faktoren Herkunft und Umwelt ein Gleichgewicht

zugestanden wie bei dem alemannisierten Rheinfranken Fischart.

Unter Umständen ist einmal das Landschaftliche ausschlaggebend wie

bei dem geborenen Hessen Grimmelshausen, dessen Familie thüringischen

Ursprungs ist und der als Dichter des Schwarzwaldes Anschluß

bei den Alemannen findet. So entscheidet die Gelegenheit, auf welches

Feld des Schachbrettes die Figur geschoben wird, und der Meister kann

seine Partie immer nur um den Preis gewagter Opfer gewinnen. Die

Figuren haben verschiedene Bewegungsmöglichkeit: die eine kann als

Bauer nur zu den unmittelbaren Vorfahren rücken; die andere durchquert

als Läufer das ganze Feld, um an einem fernen Urahnen Anschluß

zu suchen, die dritte biegt als Springer um die Ecke und findet

neben der gradlinigen Abstammung eine Bestimmung in der landschaftlichen

Umgebung; der vierten sind wie der Königin Bewegungen aller

Art erlaubt. Goethe z. B. vertritt zunächst durchaus das fränkische

Stammesblut. Da aber die deutsche Klassik in Thüringen ihren angestammten

Boden hat, bleibt unausgesprochen, ob dem Klassiker |#f0319 : 295|



Goethe bereits im Blute seiner zahlreichen thüringischen Ahnen das

Schicksal vorausbestimmt war oder ob er erst mit der Übersiedlung

nach Weimar in den landschaftlichen Bannkreis klassischer Weltschau

trat.



Wie der Stil, so erscheinen auch einzelne Gattungen stammhaft

bestimmt; es muß beispielsweise dem bayrisch-österreichischen Spieltrieb

die Anlage für Drama und Theater seit frühester Zeit angeboren

sein (vgl. oben S. 269), während die Begabung des schwäbischen Stammes

in der Lyrik glänzt. Schiller scheint eine Ausnahme zu bilden.

Es hätte besser gepaßt, wenn er bajuwarischen Stammes gewesen

wäre. Für die Herleitung des dramatischen Naturells wäre deshalb die

Abstammung von einer wappengleichen Tiroler Adelsfamilie Schiller

von Herdern, die der Freiburger Archivar Albert nachzuweisen suchte,

willkommen. Inzwischen aber haben schwäbische Genealogen die

lückenlose Ahnenreihe der Remstaler Weinbauern Schilcher bis ins

14. Jahrhundert hinaufgeführt. Dem Biographen Richard Weltrich, der

die zusammenfließenden Blutströme sorgfältig prüfte, blieb nichts

anderes übrig, als die dramatische Begabung auf einen von der mütterlichen

Seite herkommenden fränkischen Einschlag zurückzuführen.

Nadler nun liebäugelt zunächst noch mit der Familie Schiller von

Herdern, während er später eine ununterbrochene alemannische Entwicklungslinie

des Dramas aufzudecken sucht, die von Nikodemus

Frischlin über den aus Ehingen stammenden Jesuiten Bidermann, den

„Höhepunkt der bairischen Barockkunst“, zu Schiller führt, in dessen

Geist Frischlinus redivivus ersteht. Das sind Versuche, stammesmäßig

zu begründen, was Günther durch den dinarischen Einschlag rassisch

erklären wollte. Unter den blutmäßigen Vorfahren Schillers findet

sich im übrigen keiner, der als Dichter oder Dramatiker hervorgetreten

wäre. Dem harten Beruf des Winzers, dem auch Grillparzers dinarische

Vorfahren oblagen, wird man schwerlich einen zum Drama führenden

Erbeinfluß zuschreiben.



Es bleiben noch zwei Probleme zu besprechen, die sich aus dem

Verhältnis von Stamm und Rasse ergeben. Einmal taucht die Frage

auf, ob ein aus Rassenmischung hervorgegangener Stamm tatsächlich

als psychische Einheit gelten darf. Wenn Erich Schmidt im Eingang

seiner Lessingbiographie von den zweierlei Obersachsen sprach, den

meist ruhig daheimbleibenden, sanften, artigen, wortreichen, maßvollen,

verträglichen, geduldigen (Leibniz, Gellert, Ludwig Richter)

und den rastlosen, heftigen, eigenrichtigen, wuchtigen, kampfbereiten

(Pufendorf, Lessing, Fichte, Moritz Haupt, Richard Wagner, H.

v. Treitschke), so bezeichnet er einen Gegensatz, der in der Siedlungsgeschichte |#f0320 : 296|



seine Erklärung finden kann. Ob man aber die unternehmenden

Kämpfernaturen auf die Germanen, die anderen auf das

Slawentum zurückzuführen hat oder ob es sich umgekehrt verhält, ist

nicht sicher. Daß der Name Lessing slawischen Ursprunges ist, entscheidet

nicht die Abstammung; es könnte auf dem Gehöft, das den

Namen „Wäldchen“ trug, ein germanischer Siedler gesessen haben,

dessen Nachkommen sich nach ihrer Heimat nannten. Nadler bestreitet

das und führt auf eine Abstammung von tschechischen Hussiten

das Ruhelose, Entwurzelte und den Mangel an geschichtlichem Empfinden

zurück. Ebenso sieht Sauer in Heinrich v. Treitschke, dem allerdings

das geschichtliche Empfinden nicht fehlte, den Nachkommen

hussitischer Eiferer. Im Falle Lessings beruht die Annahme auf einer

ungesicherten Tradition, an der die Familie selbst nicht festhält. Aber

selbst wenn ein Vorfahre zehnten Grades über den Kamm des Erzgebirges

gekommen wäre, so bliebe es zwar möglich, aber nicht zwingend

notwendig, daß unter Hunderten von Ahnen nun gerade sein

Erbteil allein sich ausschlaggebend durchgesetzt hätte.



Es besteht die weitere Frage, inwieweit und auf wie lange der heimatgebundene

Stammescharakter unverändert bleibt. Wenn sogar die

Rasse unter klimatischen Einflüssen und verwandelten Lebensformen

im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden durch Auslese sich

ändern kann, wie neuere anthropologische Forschung feststellte, so

wird derartige Wandlung in viel höherem Maße den Stamm treffen,

dessen Einheit sich erst in Lebens- und Schicksalsgemeinschaft geformt

hat. Er ist nicht allein in Sprache und Sitte, sondern auch in ständischem

Berufsleben, Erziehungswesen und Verfassung den Bedingungen

der Landschaft unterworfen, die er sich zu eigen machte und mit

der er verwuchs. Dabei ist das geistige Leben des Stammes und seine

Schöpferkraft auch von politischen Geschehnissen nicht unbeeinflußt

geblieben. Mit den kulturellen Schwerpunkten des deutschen Geisteslebens

verändert sich sogar die Häufigkeit besonderer Begabungen in

ihrer Verteilung auf die einzelnen Stämme. Das zeigen die zu oberflächlicher

Übersicht geeigneten Tabellen und Karten, die Kurt Gerlach

in Nachfolge Nadlers angefertigt hat und die für die verschiedenen

Zeiträume keineswegs das gleiche Bild geben. Vielmehr hat, wie

gerade Nadler zeigt, fast jedem Stamm des deutschen Volkes einmal

sein Tag in der Geschichte geglänzt, in dem alle seine Gaben zu besonderen

Ehren kamen.



Außer der familienmäßigen Blutsverbindung gehören zu den aufbauenden

Komponenten des Stammes die geopolitischen Faktoren und

alle die Einwirkungen, die Willy Hellpach als „Geopsyche“ zusammenfaßt. |#f0321 : 297|



Man kann, wie beim einzelnen Menschen, so auch beim Stamm

von erworbenen Eigenschaften sprechen, und es ist die gleiche umstrittene

Frage, bis zu welchem Grad daraus dauernde Prägung werden

kann, die sich vererbt. Das Problem gilt für den Stamm, wenn er, wie

in der Völkerwanderung, unter andere Lebensbedingungen versetzt

wird, und er betrifft in gleicher Weise den Vereinzelten, der sich in

der Diaspora befindet. Wenn die Ahnen bereits die unmittelbare Stammeszugehörigkeit

aufgegeben haben, indem sie fern von ihrem Ursprung

Wurzel schlugen, wie weit kann dann noch bei den Enkeln von

Stammesbewußtsein oder unbewußter Erhaltung ererbter Art die Rede

sein? Schon von der zweiten Generation der Losgerissenen läßt sich

sagen, daß zwar die Blutgebundenheit nicht erlöschen kann, daß aber

die etwaige Preisgabe aller angeeigneten Lebensformen und Bräuche,

insbesondere der Sprache, dem Stamm der Väter fremd werden läßt.

Bei dem besten Willen zur Arterhaltung bleibt immer fraglich, wieviel

den Nachkommen noch durch Erziehung und festgehaltenen Brauch

mitgegeben werden oder wieviel davon ohne diese Vermittlung erhalten

bleiben kann. Für die mögliche Übertragung erworbener Eigenschaften

bildet aber weniger der Stamm als die Familie das gegebene

Feld der Beobachtung.



c) Konstitution und Charakter



Der engste Bezirk, in dem die Vererbung nicht nur Möglichkeit,

sondern unentrinnbare Notwendigkeit bedeutet, ist die Ehe, die das

Rätsel „Aus zwei mach eins“ verwirklicht, indem ein eigenes Neues

aus zweierlei Erbmassen sich bildet. Vater und Mutter sind Träger

und Vermittler des Erbgutes zweier Familien, die mit den verschiedenen

Vermögen an rassischen und stammhaften Anlagen auch einen verschiedenartigen

Bestand an geistigen und körperlichen Dispositionen

aufwiesen, deren Charakter sich nicht nur aus Berufstradition, konfessioneller

Bindung, Umwelteinflüssen und Geschicken herleitet, sondern

auch in bestimmter physischer Konstitution Form gewonnen hat.



Bei den geistigen Anlagen treten wieder die Fragen der Übertragbarkeit

erworbener Eigenschaften auf. Wenn man von Stefan George

sagte, daß ihm der mittelalterliche Katholizismus im Blut lag, ohne

daß er irgendwelchen kirchlichen Einflüssen in seinem Leben nachgegeben

hätte, so ließe sich die ererbte Mentalität ebensowohl

rassisch als stammhaft begründen, da es den Glaubensbekenntnissen

an ethnologischen Voraussetzungen ihrer Verbreitung nicht fehlt.

Ältere Erbforschung, deren Gedankengänge heute nicht mehr verfolgt |#f0322 : 298|



werden, hat sogar das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion

der organisierten Materie aufgefaßt und angenommen, daß die gehäuften

Erfahrungen vergangener Generationen in der protoplasmatischen

Substanz der Zelle vererbbar seien und im Unterbewußtsein

weiter wirken. Es war ein romantischer Gedanke von Carus (1846),

den 30 Jahre später Ewald Hering erneuerte, der in R. Semons Lehre

von der „Mneme“ zurückkehrte und den Ludwig Klages im Begriff des

„Vitalen Gedächtnisses“ wieder aufgenommen hat. Wilhelm Jordan

hatte ihm in seinen „Andachten“ im Sinne eines biogenetischen Gesetzes

Ausdruck gegeben:



Erinnerung ist's, womit im Mutterschoße

Du selbst, o Mensch, erst alle Daseinslose,

Die deine Ahnen langsam einst erstiegen,

Befähigt bist, in Monden zu durchfliegen.



Der Ahnenglaube, wonach nicht nur Charaktere, sondern Schicksale

und Erlebnisse der Vorfahren erbgedächtnismäßig im Blute getragen

werden, ist ein beliebtes Motiv der Dichtung, das neuerdings zu Gestaltungen

wie dem „Cornet Rilke“, Maria Wasers „Geschichte der

Anna Waser“ und Jakob Schaffners „Gang nach St. Jakob“ Anlaß

gegeben hat. Die Dichter ahnen in ihrem eigenen Leben die Wiederkehr

der Vorfahren. Der Drang nach räumlicher Weite, der im Anblick

des Meeres Erfüllung findet, ließ Jeremias Gotthelf an eine im Bremischen

ansässige Familie Bitzius Anknüpfung suchen, um sich diese

Sehnsucht hereditär zu erklären. Ebensowenig überlieferungsmäßige

Grundlage hatte Hermann Löns, in dessen Adern schweres westfälisches

Bauernblut sich mit literarischer Tradition mischte, seine Vorfahren

im Fischerberuf zu suchen; es war eine lediglich aus eigener naturidyllischer

Neigung heraus gefühlsmäßig erschlossene freie Ahnenwahl.

Metempsychotische Dichterphantasie kann zu Erscheinungen führen,

die der französische Psychologe Pascal als „pseudo-hérédité“ bezeichnet.

Als ein Beispiel führt er Flaubert an, der gelegentlich mit

der eingebildeten Erinnerung an frühere Existenzen kokettierte: „Mon

individu actuel est le résultat de mes individualités disparues. J'ai

été le bâtelier sur le Nil, leno à Rome du temps des guerres puniques,

puis rhéteur grec dans Suburre, où j'étais dévoré des punaises. Je suis

mort, pendant la croisade, pour avoir mangé trop de raisin sur la plage

de Syrie. J'ai été pirate, moine, saltimbanque et cocher. Peut-être

empereur d'Orient aussi.“



Berufstradition braucht nicht erworbene Eigenschaft zu sein, sondern

kann auf Erbanlage beruhen, wie an den Erfinderfamilien der

Siemens und Krupp, an der Gelehrtenfamilie Planck, deren Begabung |#f0323 : 299|



auf theologischem, juristischem und naturwissenschaftlichem Gebiet

sich entfaltete, bei der Mathematikerfamilie Bernoulli, der Musikerfamilie

Bach, den Malerfamilien Holbein, Breughel, Tischbein, Kaulbach

zu sehen ist. Allerdings handelt es sich bei Musik und Malerei

um Künste, für die nicht nur ererbte Anlage, sondern auch persönliche

Unterweisung und Begabungsförderung von seiten des Vaters in

Betracht kommt. Diese Übermittlung des Handwerksmäßigen spielt

bei der Dichtung keine Rolle, es sei denn, daß man an die isländischen

Skalden denkt, deren Beruf teilweise das Privileg bestimmter Sippen

gewesen zu sein scheint. In neuerer Zeit gibt es trotz der Schlegel,

Dumas, Daudet, Hawthorne, Kurz, Seidel, Huch kaum ein Beispiel

für Dichterfamilien, bei denen sich die Gabe in außergewöhnlichem

Maße und in lückenloser Folge über mehr als zwei Generationen

gleichen Namens vererbt hätte. Wohl aber kommt es vor, daß bei

einem Urenkel die schlichte lyrische Ausdruckskraft des Ahnen wieder

hervorbricht, wie bei Hermann Claudius, dem Nachfahren des Wandsbecker

Boten. Es kann auch eine Enkelin sein, wie Lulu v. Strauß

und Torney, deren Großvater Victor v. Strauß schon in einem Roman

„Das Erbe der Väter“ (1850) das Problem angeschnitten hatte, das

die Enkelin in ihrem Jugendwerk „Ihres Vaters Tochter“ wieder

aufnahm.



Wie unter den Jenaer Romantikern Carolinens Wort von der Verschrobenheit

als dem Familienübel der Brentanos verbreitet war, so

ging unter dem preußischen Militäradel das Sprichwort um, alle

Kleists seien Dichter. Aber bei den drei Vertretern, die diese Familie

der Literaturgeschichte geschenkt hat, bei Ewald v. Kleist, Franz

v. Kleist und Heinrich v. Kleist, die nicht in unmittelbarer Erbfolge

verwandt waren, hat sich der Dichterberuf im offenen Gegensatz zur

militärischen Familientradition herausgebildet; bei dem Größten unter

ihnen kann man neben der vaterländischen Gesinnung allenfalls die

Ruhmsucht, die zu so vielen Kränzen noch einen auf die berühmte

Familie herabringen wollte, als verpflichtendes Ahnenerbe in Anspruch

nehmen. Dagegen hat einem Detlev v. Liliencron der Junker im Blut

gesteckt, obwohl er schon durch die Mesalliance seines Großvaters um

den Besitz, von dem er als Mäzen und Poggfred-Schloßherr träumte,

gekommen war; sein Dichtertum erwuchs aus dem Offiziersberuf, aber

seine Widersprüche lagen zwischen aristokratischer Haltung und erdgebundener

Sinnlichkeit. Ähnliches hat Strindberg („Der Sohn einer

Magd“) empfunden.



Der Bergmannsberuf, den Zacharias Werners Luther-Drama in der

schönen Gleichung zwischen der Reformation und dem Ausgraben |#f0324 : 300|



eines verfallenen Schachtes symbolisierte, hat auch in Wilhelm Raabe

und Paul Ernst tiefdringende poetische Nachkommen gefunden. Im

ganzen sind unter den Dichterahnen verhältnismäßig wenig Bauern,

mehr Handwerker und viele Gelehrte zu zählen. Dabei gewinnt die

Landpfarre, in der religiöse Bildungswelt, Volkstum und freie Natur

zusammenwirkten, besondere Bedeutung als Dichterwiege. Niemals

aber ist der Dichterberuf an eine Kaste gebunden, sondern immer

wieder tauchen aus der Tiefe wunderbare Kräfte auf, für die man im

Erbe der Vorfahren keine Erklärung findet: der Maurersohn Friedrich

Hebbel, der schon im fünften Jahr zu dichten begann und sich durch

eiserne Willenskraft und vielseitige Förderung zu den Bildungsquellen

seiner Entwicklung durchrang, oder in jüngster Zeit die Arbeiterdichter

Lersch und Bröger oder die schwedisch-finnische Dienstmagd

S. Salminen, die Verfasserin des Romans „Katrina“.



Die Berufstradition der Pfarrerfamilie kann man namentlich bei

Lessing verfolgen, dessen juristischer Großvater schon eine Schrift „De

religionum tolerantia“ verfaßte. Der Enkel Gotthold Ephraim fühlte

sich in der Gabe des Zornes ganz als Erbe seines Vaters, des eifernden

Primarius von Kamenz, und rief dessen Iraszibilität an: „Nun mach

bald, was du machen willst, knirsch mir die Zähne, schlage mich vor

die Stirn, beiß mich in die Unterlippe! Indem tue ich das letztere wirklich,

und sogleich steht er vor mir, wie er leibte und lebte ─ mein

Vater seliger. Das war seine Gewohnheit, wenn ihn etwas zu wurmen

anfing: und so oft ich mir ihn einmal recht lebhaft vorstellen will, darf

ich mir nur auf die nämliche Art in die Unterlippe beißen.“ Hier

erstreckt sich die Vererbung bis zu den charakteristischen Ausdrucksbewegungen

des Affektes, und man denkt an jene wunderbare

Mischung von Eigenheiten und Zügen eines Geschlechts, für die

Jakob Grimm in der Gedächtnisrede auf seinen Bruder Wilhelm

Zeugnis ablegt: „Da hält ein Kind den Kopf oder dreht die Achsel,

genau wie es Vater oder Großvater getan hatte, und aus seiner Kehle

erschallen bestimmte Laute mit denselben Modulationen, die jenem

geläufig waren; die leisesten Anlagen, Fähigkeiten und Eindrücke der

Seele, warum sollten nicht auch sie sich wiederholen?“



Die sichtbare Übereinstimmung zwischen ererbten Gewohnheiten

und Seelenleben, zwischen Ausdrucksformen des Leiblichen und Geistigen,

zwischen Körperbau und Charakter steht neuerdings als Gegenstand

morphologischer und psychologischer Forschung im Vordergrund.

Der Psychiater Ernst Kretschmer hat die Grundtypen leptosomer,

asthenischer oder athletischer Leibesbeschaffenheit auf der einen Seite

sowie pyknischen Körperbaus auf der anderen Seite in Parallele gesetzt |#f0325 : 301|



mit zwei verschiedenen Seelenlagen, die nicht nur in krankhaften Auswüchsen,

sondern auch als Eigenschaften gesunder Menschen zu beobachten

sind: schizothym und zyklothym. Es handelt sich dabei um

Erbanlagen, die sowohl in den rassischen Merkmalen als auch in den

geheimnisvollen Erscheinungen der inneren Sekretion begründet zu

sein scheinen. Sie können deshalb in den verschiedenen Lebensphasen

des Individuums Veränderung erfahren, die sich wieder seelisch auswirkt.

Kretschmer unterscheidet danach zwei Gruppen in Künstlertemperament

und Ausdrucksart, in Weltanschauung und Stil.



Die einen sind die Idealisten, die anderen die Realisten. Hochgewachsen

und hager sind die Pathetiker, Romantiker und formvollendeten

Stilkünstler; sie haben „autistische“ Neigungen zur Absonderung

von den Mitmenschen und zum humorlosen Ernst; sie schwanken

zwischen heroischen und idyllischen Kontrasten und kennen nicht

die Mitteltöne des ruhigen und naiven Geschehenlassens und Genießens.

Zu ihnen werden vornehmlich Dramatiker und Lyriker gezählt,

wie Schiller, Grillparzer, Kleist, Grabbe, Hölderlin, Novalis, Platen,

aber auch der Epiker Tasso.



Die wohlbeleibten Pykniker zyklothymen Temperaments dagegen

stehen als Realisten und Humoristen mitten in der Welt und lassen

die Dinge an sich herankommen. Auch sie sind nicht durchaus glückliche

Naturen, sondern zeigen zirkuläre Neigung zu periodischen

Schwankungen, zeitweiligem Stimmungswechsel und sogar zu melancholischen

Gemütserkrankungen. Bei ihnen überwiegt der Stofftrieb

den Formtrieb, und sie wenden sich als Dichter der unstilisierten

Prosa und der episch breiten Erzählung mit gemütswarmer und farbig

reicher Einzelschilderung zu. Die Alemannen Gottfried Keller, Jeremias

Gotthelf, Hermann Kurz, aber auch der Rheinfranke Goethe und

der Mecklenburger Fritz Reuter werden zu dieser Gruppe gerechnet.



Bei Legierungen aber wie der humorvollen Phantastik Mörikes, dem

romantischen Realismus Hebbels, dem sentimentalen Humor Jean

Pauls, der beschaulichen Pathetik Raabes und dem kritischen Menschenverstand

Lessings werden auch gemischte Körperformen erkannt.

Diese Zwischenstufen, die sich mannigfach vermehren lassen, beweisen

eine größere Reichhaltigkeit der Erscheinungsformen als der aufgestellten

Typen. So hat der Psychologe E. R. Jaensch als Kritiker des

Kretschmerschen Systems vielleicht nicht ganz unrecht, wenn er nur

dem pyknischen Typus, der auf Grund schwäbischen Beobachtungsmaterials

gefunden ist, volle Gültigkeit zuerkennt und in dem Gegentypus

der Nichtpykniker vielerlei wesensverschiedene Haltungen vereint

sieht. Allerdings hat Jaensch mit seiner eigenen Typologie des |#f0326 : 302|



Eidetikers und des Integrierten, von denen im zweiten Hauptteil dieses

Buches zu sprechen ist, (S. 345 ff.) sich demselben Einwand ausgesetzt,

da er den Gegentypen der Nicht-Eidetiker und Desintegrierten zunächst

keine positive Bestimmung geben konnte, sondern erst später dem

vielfach differenzierten Integrationstypus den des Synästhetikers gegenüberstellte.





Wie weit diese körperlichen und seelischen Anlagen auf rassische

Eigenschaften und stammhafte Eigentümlichkeiten zurückzuführen

sind, ist noch nicht geklärt, obwohl Kretschmer sowohl wie Jaensch

bereits Versuche zur Anknüpfung gemacht haben. Wenn auch die

schizothymen Züge mehr der nordischen, die zyklothymen Züge mehr

der ostischen Rasse zu entsprechen scheinen und der erste Integrationstypus

nach Jaensch in England, der zweite vor allem in Süddeutschland,

der Synästhetikertypus in Frankreich zu Hause sein soll, so sind

die Unterschiede von Schmalwüchsigkeit und Breitwüchsigkeit wie die

Charakter- und Temperamentverschiedenheiten gleichwohl in allen

Rassen, auch den nicht europäischen, vorhanden; die Konstitutionsunterschiede

spiegeln sich selbst in den ostasiatischen Buddhatypen.



Eine Weiterbildung des Kretschmerschen Systems im Kompromiß

mit älterer Typologie und neueren psychologischen Experimenten stellt

sich in der psychiatrischen Charakterkunde von Hermann Hoffmann

und in der pädagogischen von Gerhard Pfahler dar. Pfahlers Buch

„Vererbung als Schicksal“ nimmt wieder besonders Bezug auf die dichterischen

Anlagen und gewinnt aus der Mischung von verschiedenen

Graden der Aufmerksamkeit und Perseveration, der Ansprechbarkeit

des Gefühls und der vitalen Energie zwölf Grundformen menschlicher

Erbcharaktere. Für die Einordnung der Dichter ist die Unterscheidung

von festem und fließendem Gehalt bestimmend, aus der sich zwei

Gruppen ergeben, die weder rassisch noch stammhaft geschieden sind.

Zum Typus des festen Gehaltes, der sowohl Kretschmers schizothymer

Konstitution wie Schillers sentimentalischen Menschen und der Introversion

des Züricher Psychiaters Jung analog ist, werden außer Hölderlin,

Schiller, Hebbel auch C. F. Meyer, Stefan George und Rilke

gerechnet; zu den Charakteren fließenden Gehaltes, die den Zyklothymen,

den Naiven, den Extravertierten, den Farbensehern entsprechen,

rechnen Fritz Reuter, Ludwig Thoma, Jeremias Gotthelf, Matthias

Claudius, Gottfried Keller. Diese Einteilung wird durchkreuzt von

einer vertikalen Unterscheidung nach den Gegensätzen starker und

schwacher Aktivität, wobei Schiller, Kleist, Reuter und Keller auf die

eine, Rilke und Claudius auf die andere Seite treten. Offenbar zielt

diese Gliederung weniger auf den Stil als auf die Gattung: starke |#f0327 : 303|



Aktivität prädestiniert zu Drama und Erzählung, schwache zur

Lyrik.



Pfahler macht sogar den Versuch, durch ein primitives Schulbeispiel

die Erbbestimmung einer Dichterfamilie zu veranschaulichen: der

Vater besaß starke vitale Energie, enge fixierende Aufmerksamkeit,

starke Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach der

Unlustseite und konnte infolgedessen zum Tragiker werden; der Sohn

hatte von der Mutter weite fluktuierende Aufmerksamkeit, schwache

Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach Lustseite mitbekommen

und schrieb infolgedessen Romane; der Enkel aber hat das

Grundfunktionsgefüge des Großvaters geerbt, nur sind Aufmerksamkeit

und Gefühlsansprechbarkeit zurückgetreten, so daß er nun als

Gelehrter auf dem Felde der Naturwissenschaft seine Gaben bewähren

kann. Namen sind nicht genannt, und es bleibt zweifelhaft, ob der

Fall, der an sich möglich ist, aus der Erfahrung stammt; es ist kein

großer Tragiker bekannt, dessen Sohn Romane schrieb und dessen

Enkel Naturforscher wurde; vielmehr macht die Mannigfaltigkeit des

Lebens immer einen Strich durch solche Rechnungen, und die Lebenstragik

hat den meisten tragischen Dichtern männliche Nachkommen

versagt oder, wie im Fall Schiller, bei gesunder Erbfolge keine weitere

dichterische Bewährung gebracht.



d) Genialität



Literarhistoriche Genealogie wird zur Genialogie, wenn sie den

Ursprüngen der Dichtergabe nachgeht. Die Erbforschung, die aus dem

Erfahrungsstoff der Literaturgeschichte Schlüsse ziehen will, ist indessen

auf sehr lückenhaftes Material angewiesen. Eine so große Rolle

das Zwillingsmotiv in der Dichtung spielt, so wenig ist ein Fall eineiiger

Zwillinge, die nach Erbgesetzen als Dichter die gleiche Entwicklung

hätten nehmen müssen, bekannt. Anders liegt es bei den Musikern,

unter denen der Vater Johann Sebastian Bachs einen ganz gleich gearteten

Zwillingsbruder hatte. Geschwister ungleichen Lebensalters,

wie sie um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts besonders häufig

gleiches Erbgut bedeutsam vertraten (Humboldt, Schlegel, Hardenberg,

Tieck, Brentano, Eichendorff), haben sich meist (mit Ausnahme

der Gebrüder Grimm) nach den Unterschieden ihrer Anlagen und Charaktere

auseinander gelebt.



Es wäre zu untersuchen, wie weit die Verschiedenheit der Gaben

und Charaktere in solchen Fällen mit dem Übergewicht des väterlichen

oder mütterlichen Erbteils zusammenhängt. Es ist behauptet worden, |#f0328 : 304|



daß die ererbte Begabung bei Musikern in der Regel vom Vater ausging.

Stefan George meinte, wie Sabine Lepsius erzählt, daß der Mann

überhaupt immer die Begabung vom Vater habe und ihm ausschließlich

ähnlich sähe, was in seinem Fall zutraf. Rilke, der seine Erziehung

von der Mutter erhielt, würde das Gegenteil gesagt haben. Arthur

Schopenhauer, der Sohn einer bedeutenden Mutter, wollte es geradezu

als Gesetz ansehen, daß der Intellekt von der Mutter, die irrationalen

Gaben vom Vater vererbt würden. Ebenso schrieb Sainte Beuve der

Mutter entscheidenden Einfluß zu. Neuere Erbforschung scheint ihm

Recht zu geben. Auf jeden Fall ist es eine einseitige Anwendung der

Stammestheorie, wenn in der Regel der väterlichen Aszendenz nachgegangen

wird.



Genealogische Bemühungen haben mehrere Urmütter ermittelt, in

denen die Ahnentafeln bedeutender Dichter und Philosophen zusammentreffen.

So entdeckte Hanns Wolfgang Rath in Regina Bardili, geb.

Burckhardt (1599─1669), eine schwäbische Geistesmutter, zu deren

Nachkommen Uhland, Hölderlin, Schelling, Gerok, Ottilie Wildermuth

und der Philosoph Niethammer gehören, während Eduard Mörike auf

ihren Stiefbruder zurückzuführen ist. Eine poetische Ahnfrau von ähnlicher

Bedeutung findet sich unter Goethes Aszendenz in Esther Ley,

geb. Ritter (7. Ahnenreihe). Für sie ist keinerlei Zeugnis dichterischer

Begabung beizubringen, wenn man nicht aus der Tatsache, daß ihr

Mann poeta laureatus war, Schlüsse ziehen will. Aber durch sie ist

Goethe mit Hegel, Uhland, Hauff, Gerok und J. J. Moser blutsverwandt.





Was die weibliche Dichtergabe betrifft, so hat Ina Seidel im Hinblick

auf eigene Erbabhängigkeit feststellen wollen, daß in fast allen

Fällen „der Funke der Anlage im Zickzack von der männlichen, der

väterlichen Linie auf die weibliche „töchterliche übersprang“. Die

Literaturgeschichte kennt Gegenbeispiele. Die märkische Sappho Anna

Luise Karsch, die als Viehmagd auf dem Lande aufgewachsen war,

vererbte ihre Gabe als poetisches Kunkellehen über die Tochter Karoline

Klenke und die Enkelin Helmina von Chézy bis zum Urenkel,

dem Romanschriftsteller Wilhelm von Chézy, mit dem sie dann erlosch.

Aus den einzelnen Gliedern dieser Reihe ist zu sehen, daß in ihrer

Schriftstellerei mehr dem Zeitstil Tribut gezollt wurde als einer bestimmten

Richtung der Erbanlage. Ähnliches gilt von der langen

Ahnenreihe, die sich von der empfindsamen Sophie von Laroche über

Maximiliane Brentano, Bettina von Arnim, Gisela Grimm bis zu Elisabeth

von Heyking und Irene Forbes-Mosse hinzieht. Alle tragen geniale

Züge und stehen in ihrer Zeit. Unter den Kindern der von Goethe |#f0329 : 305|



einstmals geliebten Maxe Laroche hat aber das einzige, das sich zum

wirklichen Genie entwickelt hat, Clemens Brentano, keine Fortpflanzung

erlebt, und es ist die Frage, ob aus jenem Achim Ariel, den ihm

die Dichterin Sophie Mereau schenkte und der nur fünf Wochen alt

wurde, bei Lebensfähigkeit ein Dichter erstanden wäre. So endet in

Clemens ein Seitenzweig der Erbreihe, während durch die Nachkommen

seiner Brüder der Name in der Wissenschaft weiter zu hervorragenden

Ehren gelangte.



Das Wort Goethes, wonach eine ganze Familie eines Tages alle bisher

vereinzelten und angedeuteten Anlagen in einem ihrer Glieder

ausspreche, ebenso wie ein ganzes Volk in einem oder mehreren Männern

seine sämtlichen Verdienste zusammenfasse, hat nur im Vordersatz

mit Erbgesetzen zu tun. Daß aber dann höchste Steigerung und

Zusammenfassung soviel wie Erschöpfung bedeuten kann, hat in

Goethes eigener Familie tragische Bestätigung gefunden.



Das dichterische Genie scheint einen besonderen Fall innerhalb der

Erbgesetze darzustellen; es beruht zwar auf Erbanlagen, aber es ist

nicht vererbbar. Wenn es dem einmaligen günstigen Zusammentreffen

von vielerlei Erbgut entstammt, so kann der damit gesegnete Mensch

doch nicht in jedem Sinne glücklich genannt werden. „Selig, welchen

die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon liebten“, so hat zwar

Schiller, nicht ohne Beziehung auf Goethe, den Günstling des Schicksals

gepriesen:



Ihm ist, eh' er es lebte, das volle Leben gerechnet;

Eh' er die Mühe bestand, hat er die Charis erlangt.



Trotzdem hat gerade Goethe im Alter das bittere Wort gesprochen,

er könne sich keines Augenblicks in seinem Leben erinnern, in dem er

wahrhaft glücklich gewesen sei. Das Genie aus Geburtsanlage bedarf

zu seiner Entwicklung eines Lebens voller Schmerz und Entsagung.

Dichtung ist dem vertiefenden Leid verpflichtet, so wie die Perle nach

einem Worte Rückerts als Krankheitsträne der Muschel aufzufassen

ist. Hofmannsthal spricht in einem Brief an Stefan George von dem

purpurnen Licht verklärter Wundmale, das sein Werk ausstrahle. Es

wird soviel Selbstopferung in eigenen Qualen und mitfühlender Hingabe

an die Grausamkeiten des Daseins vom Dichter gefordert, er wird

von soviel Leidenschaften verzehrt und muß sich soviel Schmerz von

der Seele schreiben, daß Christian Morgenstern geradezu sagen konnte,

ein Dichter müsse siebenundsiebzigmal als Mensch gestorben sein, ehe

er als Dichter etwas tauge. Auch die Erbanlagen, die ihm als Disposition

zu Krankheit und körperlichem wie seelischem Leid in die Wiege |#f0330 : 306|



gelegt werden, haben ihren schicksalhaften Anteil an dem Gebot des

„Stirb und werde“, in dessen Zeichen sich die Entwicklung des Dichtergenies

vollzieht.



3. Lebensgang und Schicksal


a) Daten



Drei Wege der Darstellung eines Dichterlebens sind gekennzeichnet

durch die verschiedene Art, sich mit dem Zahlengerippe des äußeren

Verlaufs abzufinden. Das an geschichtliche Zeitfolge und Kausalität

gebundene biographische Herkommen führt nach Musterung der

Ahnenreihe an die Wiege des Helden und läßt ihn mit dem Tage seiner

Geburt und unter den Aspekten dieser Stunde von Jahr zu Jahr fortschreitend

zur Hauptperson werden. ─ Eine auf die Problemstellung

des Lebens und der Dichtung gerichtete essayistische Gestaltung dagegen

zieht es vor, mit einer charakteristischen, sinnbildhaften und

spannungweckenden Situation des entwickelten Daseins einzusetzen

und die Daten der Geburt und des frühen Werdens an einer nebensächlichen,

mehr oder minder versteckten Stelle verschämt nachzuholen,

da diese Tatsachen doch nicht ganz verschwiegen werden

können. ─ Ein rein künstlerisches Dichterporträt aber verschmäht

alle Zahlen und gibt sie höchstens in einer Zeittafel am Schlusse zur

Orientierung bei, so wie bei einem Gemälde für Angaben über die

Lebenszeit des Dargestellten Platz bleibt auf dem Rahmen oder in

einem daruntergesetzten Täfelchen, das dem Museumskatalog entspricht.





Als Reaktion gegen die positivistische Überschätzung des Meßbaren

entsteht eine ausgesprochene Abneigung gegen alles Ziffernmäßige, das

sprachkünstlerisch nicht in Eigenform zu bringen ist. Damit verbindet

sich eine Geringschätzung des übertriebenen Aufwandes, den die Einzelforschung

im Dienste unwesentlicher Feststellungen verschwendet

hat. Weiter kommt dazu die Gewißheit, daß die Lebensdaten berühmter

Männer als Bestandteil des Schulwissens und der allgemeinen Bildung

längst bekannt sind, daß sie im Konversationslexikon und auf

Abreißkalendern gefunden werden und daß die Presse unzählige

Schreiber ins Brot setzt, durch die bei Gelegenheit jedes Jubiläums

die Anlässe des Gedenkens ins allgemeine Bewußtsein zurückgerufen

werden.



Die drei Darstellungsmethoden stehen in einer entwicklungsgeschichtlichen

Reihenfolge, die auch von der Bedeutung des Gegenstandes

abhängt. Zunächst hat, wie Walter Muschg in seiner Untersuchung |#f0331 : 307|



über „Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte“ anerkennt,

die historisch orientierte Biographie als „Gefäß für die Dokumente

des Dichterlebens“ den Vorrang. Sie bleibt ein „die Ideen

nur andeutendes Vorspiel“, wenn mit Sammlung und Kritik des biographischen

Materials eine bisher noch nicht getane Arbeit geleistet

werden mußte. Sind diese Aufgaben restlos erfüllt, so kann die vollständige

Wiederholung feststehender Ergebnisse zum lähmenden Ballast

werden; eine Biographie, die als Nachschlagewerk alles Wissenswerte

vermitteln will, wie die auf zwölf Bände berechnete Goethe-

Biographie, die Wilhelm Bode begann, verliert das Wesentliche der

Erscheinung aus dem Auge und wird unlesbar. Das ist nicht erst eine

Erfahrung unserer Zeit, sondern schon der alte Christoph Martin Wieland

hat den klugen Ausspruch getan: „Wo es mir darum zu tun ist,

zu wissen, was für ein Mann einer war, ist ein einziger Zug, der uns in

das Innere seines Geistes und Herzens blicken läßt, wichtiger als ganze

Bogen voll gleichgültiger Begebenheiten ─ wiewohl freilich im gewissen

Sinn an großen Menschen nichts Gleichgültiges ist.“



Für vollständigen Überblick über den äußeren Verlauf eines bedeutenden

Lebens gibt es brauchbarere Hilfsmittel, die wissenschaftlicher

Sammeltätigkeit zu danken sind. Da ist z. B. die von Flodoard Freiherrn

v. Biedermann knapp zusammengestellte und erweiterungsfähige

Chronologie „Goethes Leben“ oder die von seinem Vater begonnene

und von ihm neu bearbeitete Sammlung von „Goethes Gesprächen“ zu

nennen. Für Schiller sind die ausführlichen Regesten Ernst Müllers

vorhanden, die fast jeden Tag des Lebens ausfüllen, sowie die Zusammenstellung

aller Urkunden und Berichte in dem dreibändigen Werk

„Schillers Persönlichkeit“. Die Tabellen werden gerade dadurch nützlich,

daß sie auf jede darstellerische Färbung verzichten; außer Kommentierung

und kritischer Beleuchtung der Zuverlässigkeit jedes Einzelberichts

verbieten auch die vollständigen Zusammenstellungen des

Urkundlichen alle persönliche Einmischung des Sammlers.



Eine Darstellung, die sich von solchem Rohstoff befreit sieht, darf

zur Gliederung des Ganzen fortschreiten, die um so klarer herauszuarbeiten

ist, je mehr die Probleme des Lebens in Zusammenklang

gebracht werden können mit denen der Dichtung. Endlich winkt als

letztes Ziel die eindringende Deutung, mit der die Gesamterscheinung

von ihrem Wesenskern aus erkannt und nach ihrer Lebensidee im

überzeitlichen Sein erfaßt wird. Damit ist die völlige Überwindung

des Rohstofflichen erreicht durch eine Gestaltung, der gleichwohl das

ganze biographische Material in unerläßlicher Vorarbeit zum Unterbau

dienen muß. Nirgends darf die eigene Auffassung um einer |#f0332 : 308|



aphoristischen Konzeption willen in Widerspruch treten zu den überlieferten

Tatsachen, und weder mag leichtfertige Unkenntnis als Entschuldigung

dienen, noch ist der spielenden Phantasie erlaubt, da, wo

ein Problem liegt, willkürliche Entscheidungen zu treffen. Darin

bestehen die wissenschaftlichen Schranken, die der künstlerischen

Freiheit des Biographen gesetzt sind. Wer mit dem Stoffe ringt, darf

den Ring, der ihm gezogen ist und der von den Kampfrichtern kontrolliert

wird, nicht verlassen.



Solch Großkampf einer um das letzte gehenden Entscheidung ist

indessen nur bei einem gewaltigen Lebensstoff, dessen Bewältigung

den härtesten Widerständen begegnet, lohnend und durchführbar. Es

gibt daneben Mittelgewichts- und Leichtgewichtskämpfe. Bei einem

Dichter mittlerer Bedeutung ist, nachdem die erste Aufgabe der

historischen Biographie Erfüllung gefunden hat, kaum über die zweite

Aufgabe des problem- und geistesgeschichtlichen Essays, der den Typus

in seine Zeit stellt, hinauszukommen. Bei einem Kleinen genügt überhaupt

die Ermittlung der Lebensdaten, um sein Werk nach Lebensraum,

Lebenszeit und Gesellschaft einzugliedern in den Gesamtverlauf.

Hier kommen wir zur lokalgeschichtlichen Würdigung und zu jener

Wertung, die Benedetto Croce (oben S. 63) nur als kulturgeschichtlich

anerkennen will. Der italienische Philosoph hat selbst ein Beispiel gegeben

in der reizvollen Skizze über Goethes ersten italienischen Sprachlehrer

Domenico Giovinazzi, wobei es ihm sichtliches Vergnügen bereitete,

dem Literarhistoriker zu zeigen, auf welchem Wege einer

solchen, an sich unbedeutenden Persönlichkeit, die nur als Statist fungiert,

hätte auf die Spur gekommen werden können.



b) Hilfsmittel



Die Quellen für die zeitliche Festlegung eines Lebenslaufs unterscheiden

sich zunächst kaum von denen der archivalischen Geschichtswissenschaft:

Kirchenbücher, Urkundensammlungen, Zeugenunterschriften

bei Verträgen, Gerichts- und Magistratsprotokolle, Zunftbücher,

Schul- und Klosterakten, Universitätsmatrikeln, Aufgebote,

Geburtsanmeldungen von Nachkommen und Totenbücher lassen die

Grenzsteine eines Lebens am Anfang, in der Mitte oder am Ende

entdecken. Von den damit gegebenen festen Punkten aus kann eine

Strecke nach vorwärts oder rückwärts abgeschritten werden. In

der Neuzeit zeigt die Fülle der Nachrichten manchmal Widersprüche,

zwischen denen, z. B. bei Ermittlung der Geburtstage von Schiller und

Kleist, erst ein endgültiger Ausgleich geschaffen werden mußte. Für |#f0333 : 309|



Heine wurde diese Datierung bei den unwahrhaftigen Angaben, die

er selbst gemacht hat, sogar ein Problem. In älteren Zeiten dagegen

ist man für jedes überlieferte Datum so dankbar, daß man an seiner

Glaubwürdigkeit ohne Not nicht zu rütteln wagt.



Nicht immer ergibt sich der Fund eines wichtigen Datums methodischer

Nachforschung, sondern oft fällt er als Beisteuer nachbarlicher

Hilfeleistung ab, wie es etwa bei Ermittlung des Ackermanndichters

geschah (oben S. 99 f.). Schwerlich wäre ein Walther-Biograph darauf

gekommen, die Reiserechnungen des Wolfger von Ellenbrechtskirchen

zu durchstöbern, in denen das einzige urkundliche Zeugnis für das

Leben Walthers von der Vogelweide versteckt ist. Vergebens hatte

man alle Vogelweidhöfe in Tirol und anderen Gegenden beachtet, um

etwas über die Familie zu erfahren, und umsonst hatte man im Würzburger

Lusamgärtlein eine Grabinschrift gesucht. Aber hier stand zu

lesen, daß der Bischof von Passau und spätere Patriarch von Aquileja

am Martinstage des Jahres 1203 Walthero cantori de Vogelweide in

der Gegend von Zeiselmauer 5 solidos spendierte, damit er sich einen

Pelzrock für den nahenden Winter anschaffen könne. Daß er damit

der Bitte eines verlorenen Spruches von Walther entsprach, ist nicht

ausgeschlossen; aber ein Riesengebäude von Hypothesen über Walthers

Parteistellung und über Wolfgers politische Bedeutung konnte außerdem

auf dieser Notiz errichtet werden.



Auch ein Grimmelshausen-Forscher wäre kaum darauf verfallen, die

Kirchenbücher von Offenburg einzusehen, um daraus etwas zu erfahren

über die am 30. August 1649 vollzogene Vermählung des ehrbaren

Johann Jakob Christoff v. Grimmelshausen, des löbl. Elterschen Regimentes

Secretarius, des Herrn Johanns Christoffel, Burger zu Gelnhausen

Sohn, mit der tugendsamen Catharina Henningerinn, der Tochter

eines Wachtmeister-Leutnants. Es ist vielmehr so, daß eine Grimmelshausen-Forschung

überhaupt erst mit der Entdeckung dieser

Urkunde ins Leben treten konnte. Vorher war der Verfasser des

Simplicissimus als Samuel Greifenson von Hirschfeld oder Melchior

Sternfels von Fuchsheim in den Bücherverzeichnissen zu finden, und

nun erst war der Beweis erbracht, daß die achtundzwanzig Buchstaben

des kaum weniger auffallenden Namens Christoffel von Grimmelshausen,

unter dem die höfischen Romane „Dietwald und Amelinde“ und

„Procimus und Lympida“ erschienen waren, kein Pseudonym darstellen.

Von hier aus fand man den Weg nach der Geburtsstadt Gelnhausen

und zu weiteren Spuren der dortigen Familie; nach der anderen

Seite konnte man den Lebensweg weiter verfolgen zum Amtssitz des

Prätors von Cernhein, mit welchem Anagramm der Schultheiß von Renichen |#f0334 : 310|



die Vorrede seines Lebensromanes gezeichnet hatte. In Renchen

fand sich auch die Sterbeurkunde. Von dem bayerischen Obersten

Johann Burkard Freiherrn v. Elter kam man zu seinem Schwager, dem

Freiherrn Hans Reinhard v. Schauenburg, der vorher dasselbe Regiment

und die Festung Offenburg kommandiert hatte. Das Familienarchiv

der Freiherrn v. Schauenburg erschloß eine Menge von Urkunden

über Grimmelshausens Tätigkeit nach dem Kriege als Schaffner

und als Wirt „Zum silbernen Stern“ in Gaisbach bei Oberkirch. Auf

der Spur der Obersten v. Schauenburg und v. Elter kam man zum

Münchener Reichsarchiv, wo die Kriegsberichte an den Kurfürsten von

Bayern in den Schriftzügen des Regimentsschreibers und sogar mit

Zeichnungen von seiner Hand erhalten sind und die Standorte des

Regiments in den letzten Kriegsjahren überliefern. So ist es schließlich

dahin gekommen, daß von kaum einem anderen Dichter des

17. Jahrhunderts so viele Lebenszeugnisse erhalten sind als von dem

bis vor 100 Jahren unbekannten Verfasser des Simplicissimus. Zwei

große Bände konnte die Urkundensammlung füllen, die der Marburger

Archivdirektor Gustav Könnecke zusammengebracht hat und die J. H.

Scholte aus seinem Nachlaß herausgab.



Aber eine Lücke liegt in den Jugendschicksalen von der Entführung

durch die Kroaten bis zur Verlegung der Götzschen Dragoner aus

Westfalen nach dem Schwarzwald. Diese Spanne umfaßt gerade die

Kriegsabenteuer des Heranwachsenden, die im Roman dargestellt sind.

Und nun entsteht die Frage, bis zu welchem Grad die Romanhandlung,

die in den Anfangs- und Endpunkten Spessart und Schwarzwald sich

mit dem Leben des Dichters deckt, als Ganzes eine autobiographische

Lebensdarstellung bietet. Hier muß abgezogen werden, und alles, was

sich als herkömmliches Roman-, Novellen- und Schwank-Motiv oder

als Entlehnung aus historischen Quellen („Theatrum Europäum“)

erweist, ist aus der Lebensgeschichte zu streichen, ebenso alles das,

was einen chronologischen Verstoß gegenüber dem geschichtlichen

Verlauf darstellt. Dann bleiben nur Hessen und Westfalen mit den

Hauptpunkten Hanau und Soest als erlebte Schauplätze übrig.



c) Dichtungen als biographische Quellen



Die Frage, wie weit aus der Dichtung Angaben über das Leben herausgelesen

werden dürfen, macht das besondere Problem aus, durch das

sich literarhistorische Biographik von der historischen unterscheidet.

Zunächst erscheint eine ganz einfache Gleichung folgerichtig: soweit

Dichtung aus dem Leben hervorgegangen ist, müssen Rückschlüsse aus |#f0335 : 311|



der Dichtung auf das Leben erlaubt sein. Blicken wir von hier aus

noch einmal auf Grimmelshausen, so hat es sich der Vorredner der

posthumen Gesamtausgabe von 1683/4, die „Der aus dem Grabe der

Vergessenheit wiedererstandene Teutsche Simplicissimus“ betitelt ist,

leicht gemacht, indem er die Schicksale des Romanhelden einfach mit

denen des Verfassers identifizierte. Das war, wie wir eben sahen, unberechtigt.

Umgekehrt konnte, wie oben (S. 102 f.) gezeigt wurde, ein

Zeitgenosse Grimmelshausens, Johann Beer, erst durch die Übereinstimmungen

zwischen seinem Leben und seinen Dichtungen ermittelt

werden. Offenbar hängt es von der Wesensart des Dichters, von der

Beweglichkeit seiner Phantasie oder dem Tatsachensinn seines Realismus

ab, bis zu welchem Grade seine Lebensgestaltung an wirkliche

Verhältnisse gebunden ist. Von diesem Unterschied zwischen Ichdichtern

und Sachdichtern soll im zweiten Hauptteil (S. 354) die

Rede sein.



Die Beurteilung hängt aber nicht allein von dem Typus des Dichters

ab, sondern auch von den Wirklichkeitsbegriffen seiner Stammesart,

seines Standes, seiner Gesellschaft und seines Zeitalters. Das Programm

einer groß angelegten Untersuchung über „Wahrheit und Dichtung im

Mittelalter“, an deren Durchführung der allzu frühe Tod ihn hinderte,

hat Arthur Hübner 1933 der Preußischen Akademie der Wissenschaften

vorgelegt. Es sollte sich dabei hauptsächlich um die Auffassung

geschichtlicher Wahrheit in der epischen Dichtung handeln, aber auch

die Wirklichkeitsverhältnisse, die dem Minnesang zugrunde lagen,

kommen in Betracht. In der Scheinwelt der höfischen Dichtung herrscht

ein Spiel poetischer Fiktion, das begründet ist in den romanischen

Anschauungen von hoher Minne als Lehensdienst und unterwürfigem

Werben um eine meist verheiratete Herrin. Ähnliche Entfernung von

wirklichen Lebensverhältnissen bleibt auch noch im Petrarkismus des

16. und 17. Jahrhunderts erhalten. Aber schon Wolfram v. Eschenbach

hat die Konvention durchbrochen, indem er die herkömmliche

Form des Tageliedes zu einem Preis des ehelichen Glückes umbog, und

Walther von der Vogelweide tat ein Gleiches, indem er eine neue Konvention

dörflicher Tanz- und Liebeslieder schuf, die sich an verlorene

volkstümliche Dichtung anschloß. Die Literarhistoriker aber hatten

Unrecht, die aus seinem Leben einen Roman von aufeinanderfolgenden

Erlebnissen hoher und niederer Minne machen wollten ähnlich wie

man es mit der Corinna in Ovids „Amores“, mit Catulls Lesbia oder

mit Dantes Beatrice und Petrarcas Laura versucht hat. R. M. Meyer

hat durch eine parodistische Anwendung auf Goethes Lyrik diese

Deutungsweise mit billigem Witz ad absurdum geführt. Dabei war |#f0336 : 312|



gerade Goethe in einer für frühere Jahrhunderte kaum denkbaren

Weise wirklicher Erlebnisdichter. Aber sein Leben ist in der Dichtung

Symbol geworden, und wenn er von seinen Gelegenheitsgedichten

sagte, sie seien alle durch die Wirklichkeit angeregt und hätten darin

Grund und Boden, so heißt es ein anderes Mal von den „Wahlverwandtschaften“,

alles sei darin erlebt, aber nichts so dargestellt, wie

es erlebt worden sei. Diese Äußerungen führen zu dem Unterschied

von Leben und Erleben, der im zweiten Hauptteil dieses Buches zu

besprechen ist.



Schon die Zeitgenossen haben Goethes Dichtung falsch verstanden;

sie haben Berichtigungen des „Werther“ verfaßt, weil sie ihn als

Schlüsselroman lasen und das Schicksal des Selbstmörders Jerusalem

wiedergegeben glaubten, oder sie waren gekränkt, weil sie, wie Lottes

Bräutigam Kestner, ihr eigenes entstelltes Bild am Pranger sahen. Unmittelbare

Wirklichkeitsspiegelung ist im „Werther“ weniger bei den

menschlichen Verhältnissen zu finden, als in den Naturerlebnissen, für

deren Niederschlag vielleicht die echten Briefe Goethes an Merck Verwendung

fanden.



Wohl gibt es Romane autobiographischen Gehaltes, wie „Anton

Reiser“, „Lucinde“, „Der grüne Heinrich“ oder in neuerer Zeit Liliencrons

„Leben und Lüge“, Schaffners „Johannes“ und „Der kleine Held“

von W. v. Molo, die zwar nicht durchweg, aber doch in bestimmten

Partien als Darstellung eigener Lebenslage oder als Jugenderinnerung

aufzufassen sind. Die Liebe Heinrichs zu Anna kann man, nachdem

Hunziker alle Übereinstimmungen in Glattfelden festgestellt hat, zur

Lebensgeschichte Gottfried Kellers rechnen, so wie die „Bekenntnisse

eines Ungeschickten“ zu der Friedrich Schlegels. So hatte wohl auch

der Gotthelf-Biograph Walter Muschg recht, wenn er aus den verhüllt

autobiographischen Romanen „Bauernspiegel“ und „Leiden und Freuden

eines Schulmeisters“ mancherlei zur Aufhellung des inneren Lebens

von Bitzius verwertete, zumal dieser selbst in einem Brief verraten

hatte, wie sehr die unterdrückte Natur der Käser und Jeremias

einer inneren Lage des Verfassers entsprach. Mit mehr kritischer Vorsicht

sind indiskrete Abrechnungen wie George Sands „Elle et lui“ oder

d'Annunzios „Fuoco“ zu betrachten, in denen unter ein erlebtes Liebesverhältnis

ein nicht unvoreingenommener Schlußstrich gemacht

wird.



Als Theoretiker der biographischen Darstellung redete Muschg in

der oben erwähnten Abhandlung auch der Anekdote das Wort, weil

sie der eigentliche Träger der Symbolik sei: „Sie zeugt, wenn auch

schwach und meist durch das Auge Dritter gesehen, von der sagen- |#f0337 : 313|



oder mythenbildenden Kraft der Persönlichkeit. Sie gibt nur den

Charakter, nicht die geschichtliche Wirklichkeit des Helden wieder.“



Wenn Nietzsche sagt, aus drei Anekdoten sei es möglich, das Bild

eines Menschen zu geben, so rechnete er mit der Treffsicherheit des

Karikaturisten. Wird der Dichter zum Anekdotenhelden, so pflegen

allgemein-menschliche Züge einseitig hervorzutreten. In einem Bändchen

„Gottfried-Keller-Anekdoten“ beispielsweise findet sich fast ausschließlich

das Bild des rauhbeinigen Saufkumpans überliefert, das eine

Maske des Dichters war.



Auf jeden Fall muß die Einschränkung gelten, daß die symbolhafte

Anekdote als solche zu kennzeichnen ist und nicht mit beglaubigten

Tatsachen durcheinander gebracht werden darf. Beispielsweise ist jene

ergreifende Erzählung Moritz Hartmanns von dem wahnsinnigen deutschen

Dichter, der wie ein Geist unter den griechischen Götterbildern

eines französischen Schloßparks auftaucht, trotz ihrer symbolischen

Bedeutung für den von Apoll Geschlagenen nicht als urkundlicher

Aufschluß über die Erlebnisse Hölderlins bei der Heimwanderung aus

Bordeaux zu verwerten.



d) Selbstbekenntnisse



Autobiographien. Die Anekdote spielt auch in den Selbstdarstellungen,

die für die Technik der Biographie vorbildlich wurden,

eine wichtige Rolle. In „Dichtung und Wahrheit“ bedeutet der Besuch

des jungen Leipziger Studenten bei Gottsched und die Ohrfeige, die

der mächtige Perückenträger dem säumigen Diener verabreicht, ein

schlagkräftiges Sinnbild für die Begegnung zweier Generationen. Man

wird sie deshalb nicht mit jedem Zug als wirklichen Vorfall in Goethes

Leben einsetzen dürfen. Nicht anders ist es mit dem faustischen Vorklang

des Frankfurter Gretchen, mit dem Märchen vom „Neuen Paris“

oder mit der Sesenheimer Idylle. Heinrich Düntzer hat mit hoffnungsloser

Nüchternheit nachgewiesen, daß der nächtliche Ritt nach Sesenheim

niemals stattgefunden hat, sondern dem Gedicht „Willkommen

und Abschied“ nacherzählt wurde. Ebenso hat man feststellen müssen,

daß der Familienbestand des Sesenheimer Pfarrhauses in der Zahl der

Kinder dem Personal des Goldsmithschen „Vicar of Wakefield“ angeglichen

ist. Nachdem in kritischen Untersuchungen von Gustav

v. Loeper, Gustav Roethe, Karl Alt und Kurt Jahn alle künstlerischen

Rücksichten, die im Titel des Werkes gerechtfertigt sind, alle Schwächen

von Goethes Gedächtnis und alle Hilfsmittel, die er benutzte,

erkannt wurden, bleibt die höhere Wahrheit des Kunstwerkes bestehen; |#f0338 : 314|



aber eine Biographie, die geschichtliche Wirklichkeit sucht, kann sich

gelegentlicher Berichtigung von „Dichtung und Wahrheit“ nicht entziehen.





Tagebücher und Briefe. Wären Tagebücher Goethes aus

der von ihm dargestellten Jugendzeit erhalten, so würden sich chronologische

Berichtigungen aller Art auf Schritt und Tritt einstellen;

es ist aber fraglich, ob der Dichter seine Selbstbiographie unter solcher

Kontrolle überhaupt geschrieben hätte. Für die Weimarer Jahre, für

die er alle Stützen seines Gedächtnisses zur Hand hatte, bedeuteten

sie keine Förderung. Die geplante Fortsetzung von „Dichtung und

Wahrheit“, deren Schema vorliegt, blieb unausgeführt, weil die allzu

nahe Wirklichkeit und der bedrängende Lebensstoff keine darstellerische

Distanz finden ließen. Erst mit den Reisen durch die Schweiz und

nach Italien konnte Goethe die Lebensbeschreibung fortsetzen, weil

er in den eigenen Reiseberichten, die in die Ferne führten, bereits

geformte Unterlagen besaß. Auch Briefe sind indessen nicht immer

objektive Quellen, da sie sich nach dem Verhältnis zum Empfänger

richten und manchmal durch allerlei Rücksichtnahme gefärbt sind. Die

Berichte, die Goethe aus Italien an Frau v. Stein und an den Herzog

richtete, haben verschiedenen Charakter, und die Redaktion des Reisewerkes

mußte einen Ausgleich herstellen.



Von fremden Fälschungen müssen wir natürlich absehen, aber auch

Briefe, deren Echtheit einwandfrei feststeht, geben durchaus nicht

immer zuverlässige Lebensnachricht. Die Meldungen z. B., die Schiller

aus Bauerbach nach Stuttgart schickte, enthalten erfundene Angaben

über Aufenthalt und Reisepläne, um etwaige Verfolgung auf falsche

Fährte zu lenken. Auch Goethe hat, wenn er sich selbst auf der Flucht

fühlte, wie bei der winterlichen Harzreise und bei der Fahrt nach

Rom, die Aufenthaltsorte verheimlicht, bis das Ziel, dessen Bezwingung

eine Schicksalsfrage bedeutete, erreicht war. Heinrich v. Kleist

wiederum hat über Zweck und Ergebnis seiner Reise nach Würzburg

in Briefen an die Braut so dunkle Andeutungen gemacht, daß ihr Sinn

noch heute umstritten ist.



Reiseeindrücke: Beschreibungen ferner Länder, die in literarischer

Form vor die Öffentlichkeit treten, können, auch wenn sie

nicht von Schellmuffsky oder Münchhausen verfaßt sind, mehr enthalten,

als der Verfasser sah. So hat Joseph Bédier nachgewiesen, daß

Châteaubriand gar nicht alle Gegenden Amerikas, die er beschrieb,

selbst zu besuchen imstande war, sondern daß er die Berichte anderer

Reisender mit solcher Einfühlung und so starkem Kolorit verarbeitete,

daß seine Schilderungen den Eindruck der Echtheit erwecken. Auch |#f0339 : 315|



Fontane ist bei seinen „Wanderungen durch die Mark“ nicht ohne

fremde Hilfe ausgekommen. Bei Schiller wollte man nicht glauben,

daß der Dichter des „Wilhelm Tell“ den Vierwaldstätter See nicht

gesehen habe, von dem er nach Beschreibungen, mündlichen Erzählungen

und Karten ein so anschauliches Bild entwarf. In anderer

Weise wiederum hat Jean Paul, ohne Italien zu kennen, im „Titan“

die Borromäischen Inseln und Ischia als traumhafte Phantasielandschaften

mit glühendem Farbenrausch in sprachliche Musik gesetzt.

Goethe dagegen hätte Mignons Sehnsuchtslied nicht angestimmt, ohne

Berg, Wolkensteg und Teufelsbrücke mit eigenen Augen gesehen und

die Italien-Sehnsucht auf der Höhe des Gotthard mit eigenem Herzen

erlebt zu haben. Auch Lord Byron begann seinen „Prisoner of Chillon“

unter unmittelbarem Eindruck des Schlosses, dessen Gefängniszelle

er besucht hatte; er hat mit seinem Manfred das Hochgebirge

erklettert, und er schwamm selbst von Sestos nach Abydos, um die

Leistung Leanders zu erproben. Aber daraus ist keine Herodichtung

entstanden. Chamissos „Salas y Gomes“ wiederum ist durch den Anblick

des verlassenen Eilands angeregt, aber wenn man nicht von der

Weltreise des Dichters wüßte, würde man ebensowenig als bei anderen

Robinsonaden auf erlebte Wirklichkeitseindrücke schließen.



Wollte man alle lokalen Angaben aus Dichtungen als erlebt ansehen,

so käme man zu phantastischen Folgerungen, und aus jedem Dichter

würde ein Weltreisender. Eher sind umgekehrte Schlüsse erlaubt. Aus

der geographischen Unbekümmertheit, mit der Calderon Jerusalem

ans Meer verlegte und Shakespeare Böhmen als eine Insel behandelte,

darf man wohl folgern, daß sie diese Länder nicht einmal auf einer

Karte gesehen haben. Dagegen ist für das dänische Lokalkolorit im

„Hamlet“ anzunehmen, daß dem Dichter Schilderungen vorlagen von

englischen Schauspielern, die Kroneborgs Schloßterrasse kannten.



Lokaltreue ist immer von der Art der dichterischen Einbildungskraft

abhängig und von der Nahrung, die sie benötigt. Der Romantiker

Achim v. Arnim, der in den „Kronenwächtern“ das alte Waiblingen

aus seiner Phantasie geschildert hatte, ließ bei einem späteren Besuch

den Wagen am Tor umkehren, weil die Stadt seiner Vorstellung nicht

entsprach und für ihn so nicht existieren sollte. Der finnische Dichter

Koskenniemi erzählt dagegen, daß er in seiner Jugend von Florenz

träumte und daß dieses phantastische Traumbild so fest in seiner Einbildungskraft

haften blieb, daß der spätere Besuch der Arno-Stadt mit

den ganz anderen Eindrücken es nicht verdrängen konnte. Flaubert

wiederum hielt es für nötig, als Vorstudien zu den „Versuchungen des

heiligen Antonius“ und zu „Salambo“ Reisen nach Ägypten und Tunis |#f0340 : 316|



zu unternehmen, um die Atmosphäre Nordafrikas einzufangen und

Klima, Art, Sitten und Lebensweise der Menschen zu beobachten. Er

glaubte schließlich, in „Salambo“ etwas gemacht zu haben, „was Karthago

ähnlich sieht“. Aber es bleibt die Frage, ob die Farbenorgien des

von ihm gezeichneten Stadtbildes archäologisch soviel getreuer sind

als das Traumbild von Florenz, das Koskenniemi in sich trug.



Lebenswirklichkeit und Dichtung. Der phantasievolle

Dichter ist, auch da, wo er zuverlässigste Wirklichkeit geben will, gar

nicht dazu imstande; er ist immer ein Künstler, der nach Goethes Wort

„aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Dasein

uns bezaubert“. Wie es im „Westöstlichen Diwan“ heißt:



Dichten zwar ist Himmelsgabe,

Doch im Erdenleben Trug.



Immer wieder drängt sich die Frage auf, welchen Zweck es denn

haben kann, gegen die Fata Morgana, mit der die Magie des Dichters

in Bann schlägt, eine nüchterne Wirklichkeit auszuspielen. Man kann

antworten, daß auch der Luftspiegelung irgendeine Wirklichkeit zugrunde

liegt und daß die Wissenschaft zur Erklärung des Mediums,

das solches Fernbild fortpflanzte, verpflichtet ist. Zur Errechnung

der Strahlenbrechung muß aber der Ausgangspunkt ermittelt werden.

Wieder ist es Goethe, der als Naturwissenschaftler sich mit allen Erscheinungen

der Spiegelung befaßte und in ihnen ein Gleichnis für

die innere produktive Kraft des Menschen fand. In einem Aufsatz

„Wiederholte Spiegelung“ hat er das Nachklingen seines Sesenheimer

Erlebnisses den entoptischen Erscheinungen verglichen, die durch wiederholte

Spiegelung die Leuchtkraft der Farben nicht abschwächen,

sondern steigern: „ein jugendlich seliges Wahnleben, das sich unbewußt

eindrücklich in dem Jüngling abspiegelte und viele Jahre in seinem

Inneren fortgehegt wird, kommt nach langer Zeit in lebhafter Erinnerung

zur Aussprache nach außen und spiegelt sich somit abermals ab,

das Bild drückt sich andern ein, die an der Örtlichkeit aus Trümmern

von Dasein und Überlieferung eine zweite Gegenwart schaffen, und

diese Spiegelung fällt auf den alten Liebhaber zurück, in dessen Seele

sich die Gegenwart der Geliebten von ehemals wieder lieblich erneuert.“



Wenn nach diesem Gleichnis das Erlebnis bereits als produktives

Verhalten zum Leben erscheint, so finden wir Übereinstimmung

mit der Stufenfolge, die ein Spruch Goethes unter Benutzung Leibnizscher

Begriffe herstellt: „Das Höchste, was wir von Gott empfangen

haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich

selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt ... Die zweite Gunst des |#f0341 : 317|



von oben wirkenden Wesens ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das

Eingreifen der lebendig bewegten Monas in die Umgebungen der

Außenwelt, wodurch sie sich selbst erst als innerlich Grenzenloses, als

äußerlich Begrenztes gewahr wird ... Als drittes entwickelt sich nun

dasjenige, was wir als Handlung und Tat, als Wort und Schrift gegen

die Außenwelt richten.“



Von der zweiten und dritten Stufe wird erst an späteren Stellen

dieses Buches zu sprechen sein: vom Erlebnis im zweiten Hauptteil,

der dem Seelenleben des Dichters gilt, während die als Wort und

Schrift gegen die Außenwelt gerichtete Tat als Schaffensvorgang das

Thema des dritten Hauptteils bilden soll. Zunächst haben wir bei der

ersten Stufe, dem Leben der Monade, zu bleiben.



e) Schicksal



Geburt und Grab bedeuten Anfang und Ende des individuellen

körperlichen Lebens. Wenn Goethes Selbstdarstellung im Einklang mit

dem ersten orphischen Urwort großen Wert legt auf den Zeitpunkt des

Eintritts ins Leben, so daß der geheimnisvolle Sternenglanz astrologischer

Zusammenhänge auf die Mittagsstunde des 28. August geworfen

wird, fallen Dichtung und Wahrheit zusammen. Die Stunde mag

unfaßbarem Einfluß der Gestirne als der Sinnbilder kosmischer Gesetze

unterliegen; der Tag, auf den die reife Frucht fällt, bringt in seinem

gesetzmäßigen Abstand von der Empfängnis alle erbmäßige Einwirkung

zum Abschluß und prägt die Form, die ihrer lebenden Entwicklung

entgegenstrebt; die Jahreszeit ist von Gewicht für die ersten

Lichteindrücke des Kindes und legt den Grund für die Aufnahmefähigkeit

seines Erlebens; das Jahr der Geburt aber bedeutet zwangsläufige

Einordnung in eine Altersgruppe von Zeitgenossen, die sich

zur Schicksalsgemeinschaft verkettet, indem sie gemeinsam lernt und

alle großen Ereignisse der Zeit auf gleicher Altersstufe und in gleicher

Empfänglichkeit miterlebt.



So ist das Datum der Geburt entscheidend für die ineinander

webende und wirkende Dreiheit von Ererbtem, Erlebtem und Erlerntem,

die erst in der Stunde des Todes auseinander fällt. Der Tod aber

ist schon mit dem Zeitpunkt der Geburt gesetzt, als äußerste Lebensgrenze,

die mit fortschreitenden Jahren immer bedrohlicher naherückt.

Gesteigertes Naturgefühl sucht den Kontrast des täglich wiederkehrenden

Sonnenaufgangs und des immer neu erwachenden Frühlings als

tröstende Symbole auf, wie es in Herders „Tithon und Aurora“ geschieht,

oder Abendstimmung und herbstliches Welken werden mit |#f0342 : 318|



ahnender Wehmut empfunden. Der Tod übt vorgreifenden Einfluß auf

das Leben aus, sei es, daß seiner sichtbaren Ankündigung ausgewichen

wird, wie es durch den alten Goethe geschah, sei es, daß die drohende

Ruhe allem Wollen und Schaffen eine überstürzte Beschleunigung gibt.

Der Tod kann mit Bewußtsein in das eigene Leben hineingezogen

werden, wie bei Novalis, der das Sterben als einen philosophischen

Akt betrachtete, oder bei Kleist, der den Tod als ewigen Refrain des

Lebens erkannte, oder bei Rilke, dessen Gebet dahin ging, seinen

eigenen Tod zu haben:



Das Sterben, das aus jenem Leben geht,

Darin er Liebe hatte, Sinn und Not.



Und ähnlich schreibt schon der von Rilke so sehr geliebte Jacobsen:

„Ich glaube, jeder Mensch lebt sein eigenes Leben und stirbt seinen

eigenen Tod, das glaube ich.“ (Frau Marie Grubbe, 17. Kap.)



Auch das Erlebnis des Todes anderer kann zum Schicksalsmotiv

des eigenen Daseins werden. So kam Zacharias Werner dazu, dem

24. Februar, an dem er seine Mutter und seinen Freund Mnioch verlor,

verhängnisvolle Bedeutung beizumessen, und Novalis begann mit dem

Todestag der Sophie v. Kühn eine neue Zeitrechnung. Auch Jean Paul

spielt beim Emanuel des „Hesperus“ wie im „Quintus Fixlein“ mit

solchem Fatalismus und soll sogar selbst einmal, wie der Schwede

Atterbom erzählt, seinen Todestag vorausgesagt haben, ohne daß diese

Ahnung sich erfüllte.



Tod und Liebe stehen in innerer Lebensverbindung, denn auch die

Liebe unterliegt biologischen Gesetzen. Das Goethe-Buch des Psychiaters

P. J. Moebius erregte 1903 Aufsehen mit der Beobachtung

eines siebenjährigen Rhythmus im Liebesleben und poetischen Schaffen

Goethes. Durch Hermann Swoboda wurde dieser Gedanke pythagoräischer

Zahlenmystik, der schon in der Fließschen Periodenlehre

medizinisch begründet worden war, aufgenommen und zu der Theorie

ausgebaut, daß jedes siebente Jahr des Menschen ein Hochjahr an

körperlicher und geistiger Zeugungskraft sei. Als Voraussetzung für

die Erzeugung eines Genies wird Zusammentreffen desselben Siebenjahrs-Pulses

in Homorhythmie der beiden Elternteile angenommen;

irgendeine Beziehung zur Siebenzahl wird bei fast allen großen Dichtern,

sei es in ihrem eigenen Leben, oder in dem ihrer Eltern nachgewiesen,

und wo die Rechnung nicht völlig aufgeht wie bei Goethe,

kann es durch Kreuzung mit dem weiterwirkenden elterlichen Siebenjahr-Rhythmus

erklärt werden.



Der Geopsychologe Hellpach und der Psychiater Kretschmer sind |#f0343 : 319|



von diesem Beispiel der Goetheschen Lebenskurve in gleicher Weise

angezogen worden und suchen nach Erklärungen, teils aus dem Einfluß

kosmischer Perioden, teils aus der zirkulären Konstitution. Aber

es muß gesagt werden, daß die Projektion der Wochentage auf Lebensphasen

nicht ungezwungen durchzuführen ist. Zweijährige Erregungsperioden

sollen nach Kretschmer mit siebenjährigen Zwischenpausen

abwechseln. Das würde neunjährige Gesamtperioden ergeben. Wenn

aber 1767 (Kätchen Schönkopf) und 1772 (Lotte Buff) als die ersten

Höhepunkte aufgefaßt werden, so fällt der weit stärkere Erregungszustand

des Sesenheimer Erlebnisses und des erwachenden Sturm- und

Drang-Geistes gerade in die Mitte der angenommenen Pause. Die Tatsachen

wollen sich dem klinischen Bild nicht einfügen. Für die Mitte

des Lebens muß Kretschmer selbst zugeben, daß die periodische Wellenbewegung

verwischt ist; er läßt in diesen Jahren größter geistiger

Gesundheit an die Stelle erotischer Erlebnisse die Freundschaft mit

Schiller treten, die 1794 einsetzt und 1800/1 einen Kulminationspunkt

erreicht; man kann aber nicht sagen, daß die dazwischenliegenden

sieben Jahre, in denen Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Balladen, Hermann

und Dorothea entstanden und der Faust wieder aufgenommen

wurde, die Bedeutung einer schöpferischen Pause hätten. Im Alter

allerdings, das in den Jahren 1807/8 (Minchen Herzlieb), 1814/5 (Marianne

v. Willemer), 1821/3 (Ulrike v. Levetzow) drei mit gesteigerter

Schaffenskraft verbundene Liebeszustände bringt und dann noch einmal

1830/1 mit dem Abschluß des Faust zu einer erstaulichen produktiven

Leistung sich steigert, scheint die Lebenskurve den angesetzten

regelmäßigen Wellengang zu bestätigen. Es ist aber wesentlich, daß

nur für den abnormen Zustand wiederholter Pubertät, den Goethe den

genialen Naturen zuschreibt, diese Periodizität zu erkennen ist, während,

wie man wohl sagen darf, für den jungen Goethe die Liebe Normalzustand

war.



Die Goethe-Biographie würde in einen Systemzwang geraten, wenn

sie diesen Siebenjahresplan als periodisches Aufbauprinzip benutzen

würde. Wohl aber muß sie eine grundlegende Beobachtung gelten

lassen, nämlich die, daß Liebe bei Goethe immer vor der Geliebten

da war, daß er Friederike fand, weil er einen Gegenstand für die in

ihm klingenden Liebeslieder suchte und daß er Suleika besang, noch

ehe ihm Marianne v. Willemer erschienen war. Denselben Zustand

hat Jean Paul, obwohl er kein Lyriker war, seinem Albano, dem Helden

des „Titan“ beigelegt, in dessen Herz bereits Freundschaft und Liebe

war, bevor er einen Freund und eine Geliebte gefunden hatte. Ein

anderes schicksalbestimmendes Wirken des Daimon, das sich in Goethes |#f0344 : 320|



Jugend mit beinahe gesetzmäßiger Regelmäßigkeit durchsetzt, ist

die von Schuldgefühl und Selbstquälereien begleitete plötzliche Flucht

vor der Liebe und vor jeder gesellschaftlichen Bindung. Die Analyse

des Psychiaters deutet auf Triebambivalenz und sieht die Problematik

solches biologisch begründeten Liebes- und Gefühlslebens mit den Voraussetzungen

der genialen Persönlichkeit und mit den Folgerungen aus

ihrer Anlage verbunden. Wenn Kretschmer auf ein Wort Nietzsches

verweist, wonach die konstitutionelle Triebnatur eines Menschen bis

in die letzten Gipfel seines Geistes hinaufragt, so verkennt er anderseits

nicht die Gefahr einseitiger Überspitzung. Die ist den Psychoanalytikern

oft zum Verhängnis geworden, indem sie den Zugang zu

allen seelischen Entwicklungen mit dem einzigen Passepartout unterbewußter

Triebe öffnen wollten. Sie blieben dabei auf der niederen

Stufe des Lebens, die noch kein bewußtes Erlebnis und noch weniger

Dichtung geworden ist, sondern nur unmittelbare oder mittelbare

Grundlage für das eine wie das andere bildet. Niemals bringt Triebleben

von sich aus Dichtung hervor, sondern in der Dichtung liegt eine

selbständige Kraft, das dunkle Triebleben ins Bewußtsein zu ziehen,

es durch lösende Aussprache zu überwinden und durch diese heilende

Selbstbefreiung krankhaften Zuständen zu entrinnen. So wird Dichtung

selbst zur rettenden Flucht aus der Lebenswirklichkeit. „Wenn

ich nicht Dramas schriebe, ginge ich zugrunde“, hat Goethe einmal

bekannt in der Zeit, da das Drama „Stella“ für das bedrängende Erlebnis

einer Doppelliebe zum Ventil werden mußte.



Das Fluchtmotiv, das im Mittelpunkt dieses Dramas steht, scheint

einen besonderen Schicksalszug im Leben der Dramatiker auszumachen.

Bei Grillparzer hätte Swoboda das Siebenjahr bestätigt

finden können, war er doch 28 (4 × 7) Jahre alt, als er nach Italien

reiste, und 7 Jahre später trat er seine erste Reise nach Norddeutschland

an. Bei Goethe fallen die Zeiten dramatischen Schaffens mit den

Fluchtperioden zusammen, wie sich an Götz, Clavigo, Egmont, Faust,

Iphigenie, Tasso zeigen läßt. Mit Schillers Flucht aus Zwang und Enge

der Heimat ist es anders beschaffen; da war die dramatische Entladung

bereits vorausgegangen, und die Flucht sicherte die einzige Möglichkeit

zur Freiheit weiteren dichterischen Schaffens.



Der Charaktergegensatz Goethes und Schillers, den Ludwig Klages

durch ein Mehr von Lebensabhängigkeit und ein Mehr von Geistesabhängigkeit

bezeichnen will, veranschaulicht sich in dem verschiedenen

Verhältnis zwischen Leben und Dichtung. Schillers Leben wird

gelenkt durch den Willen zur Dichtung, während Goethes Dichtung von

dem Willen zum Leben getragen wird; es gibt noch ein drittes Verhältnis, |#f0345 : 321|



das sich willenlos den Lebenswellen überläßt, aber das kann

nur dem lyrischen, nicht dem dramatischen Menschen zu eigen sein.

Nur selten, bei der Flucht von Mannheim nach Sachsen (Charlotte

v. Kalb) und bei der Entfernung von Dresden nach Tharandt (Henriette

v. Arnim) spielt für Schiller die Befreiung aus erotischen Konflikten

mit; die weiteren Schauplatzveränderungen seines Lebens sind von

ebenso klarbewußter Zielsetzung der dichterischen Entwicklung bestimmt,

wie die ideellen Bildungsreisen in die Welt des Altertums, der

Geschichte und der Philosophie. Der Weg nach Thüringen, die vorübergehende

Rückkehr zur Heimat, die Übersiedlung von Jena nach

Weimar um des Theaters willen und die noch im letzten Lebensjahr

geführten Verhandlungen über eine Berufung nach Berlin lassen die

starke Zielbewußtheit erkennen. Es ist trotz der Störung durch Krankheit

und Todesnähe eine ziemlich gerade verlaufende Schicksalslinie,

deren letzte Wendung der Tod, der schon vorher sich angemeldet hat,

vereitelte. Aber sein Schatten hat das Licht feuriger Kraftanspannung

verstärkt.



Bei Lessing vollzieht sich die häufige Schauplatzveränderung in

einem unruhigen Rhythmus, der in dreifach gespaltenem Lebensziel

seine Ursache hat: das dramatische Schaffen findet in Leipzig, Potsdam

und Hamburg, die kritische Publizistik in Berlin, die gelehrte Betätigung

in Wittenberg, Breslau und Wolfenbüttel angemessene Daseinsbedingungen.

In plötzlichen Sprüngen fluchtartigen Charakters vollziehen

sich die schroffen Übergänge, die zugleich durch die bald

anziehende, bald abstoßende Polarität zwischen dem rauschenden

Strom der Welt und der stillen Welt der Bücher bedingt ist. Noch

weit jäher und unstäter kreuzt der Zickzack-Kurs eines Heinrich

v. Kleist stoßweise von Ort zu Ort; die Verbindungslinien zwischen

Potsdam, Frankfurt, Paris, Bern, Weimar, Königsberg, Dresden, Berlin

bilden ein schwer zu entwirrendes Diagramm seines vom Dämon

gejagten Lebens.



Die Lebensläufe der Lyriker zeigen nicht solche Plötzlichkeit überraschender

Willensantriebe, sondern suchen in minder kontrastreichen

Kurven, aber mit nicht geringerer Unrast nach Veränderung der Eindrücke.

„Uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen“, steht über

dem heimatlosen Dasein der Hölderlin, Brentano, Platen, Lenau,

George, Rilke.



Dagegen setzt der Erzähler sich gern und bald zur Ruhe, um schließlich

in unveränderter Seßhaftigkeit auf seinem Beobachtungspunkt

gegenüber dem Leben, das er an sich herankommen läßt, zu beharren.

Wieland in Weimar, Jean Paul in Bayreuth, Gottfried Keller in Zürich, |#f0346 : 322|



Adalbert Stifter in Linz, Theodor Storm in Husum, Wilhelm Raabe

in Braunschweig, Hermann Stehr in Schreiberhau können als Beispiele

solches Sicheinnistens genannt werden. Am beharrlichsten war wohl

der Berliner Theodor Fontane, dessen Sarg aus derselben Wohnung

in der Potsdamer Straße 134c herausgetragen wurde, die er ein Vierteljahrhundert

vorher bezogen hatte.



Gleichviel wie es mit dem ursächlichen Zusammenhang beschaffen

sei, ob die auf stille Lebensbeobachtung verlegte Ruhe des Daseins

zur epischen Haltung des Berichtes hinführt oder ob es die beschauliche

Erzählkunst ist, die ein Dasein ruhiger Lebensbeobachtung fordert,

ein schicksalhafter Zusammenhang zwischen Charakter, Lebensgang

und Dichtungsgattung ist unverkennbar. Die leidenschaftliche

Ausdruckskraft des Dramatikers und die eindrucksempfängliche

Innerlichkeit des Lyrikers verschmähen das Gleichgewicht seelischer

Ruhelage und verlangen nach Gegensätzlichkeit und Wechsel im

eigenen Erleben, während der Erzähler mehr auf reiche Bildungseindrücke

der ihn umgebenden Welt angewiesen ist und sie zu erarbeiten

Grund hat. So wird sich die Periodisierung des Lebens beim

Dramatiker und Lyriker mehr nach den inneren Erschütterungen und

Problemen, bei dem Epiker mehr nach den Eindrücken der Umwelt

und dem Fortgang der Zeit zu richten haben. Für beides gilt die von

Goethe in den allgemeinen Betrachtungen der „Farbenlehre“ empfohlene

Dreiteilung, wonach das Leben jedes bedeutenden Menschen,

das nicht durch einen frühen Tod abgebrochen wird, in den Epochen

der ersten Bildung, des eigentümlichen Strebens und der Vollendung

sich abstufen läßt.



4. Anpassung und Beeinflussung



Erbgut und Umwelt sind die beiden Hauptfaktoren, die als Entelechie

und Determination, als innere Entwicklungsrichtung wie von

außen her formende Kraft im Leben des einzelnen Ausgleich suchen

und beim Aufbau der Persönlichkeit ineinander wirken. Wenn in

Goethes orphischen Urworten die zusammengehörigen Paare Daimon-

Eros und Tyche-Ananke getrennt werden, um sich in einer der Lebensfolge

entsprechend veränderten Reihe zu umschlingen, so entspricht

es dem Ineinanderübergreifen innerer und äußerer Schicksalsfügung.



Zeitweilig hat die Wissenschaft den Einflüssen der als Tyche und

Ananke bezeichneten Bestimmungen übertriebenes Gewicht beigemessen,

aber niemals konnte sie so weit gehen, den Menschen in seinem

Sein und Handeln ausschließlich als Produkt der Umwelt aufzufassen, |#f0347 : 323|



da diese ja keine Substanz hervorbringen kann. Selbst die sinnloseste

materialistische Formel „Der Mensch ist, was er ißt“ kann das nicht

gemeint haben; noch weniger war es der Sinn der oft einseitig mißverstandenen

deterministischen Milieutheorie. Wenigstens hat Taine die

rassische Erbanlage ausdrücklich vorangestellt vor der Umwelt, weil

sie durch diese erst geformt werden soll.



Auf der anderen Seite kann die äußerste Folgerichtigkeit von Erb-

und Rassenlehre trotz der bestimmenden Entwicklungsmächte des

Blutes, zu denen Daimon und Eros zu rechnen sind, die notwendige

Mitwirkung der Umwelt nicht ausschließen. Und wenn es nur soweit

ginge, daß die Rasse sich die ihr entsprechende Umwelt schafft oder

sucht, wie nach neueren biologischen Lehren (v. Uexküll) die Umwelt

nicht etwas das einzelne Lebewesen Bestimmendes, sondern eine durch

seine Sinne bestimmte Merk- und Wirkwelt darstellt, seine Eigenwelt,

wie man zwecks Vermeidung von Mißverständnissen zu sagen vorschlug.





Neben die Kraft des Blutes stellt sich die des Bodens und wenn nicht

außerdem die Einwirkung geistiger Kräfte anerkannt werden müßte,

wo blieben dann alle Bemühungen der Seelsorge, der Erziehung, der

Heilkunst ebenso wie alle Fortschritte der Kultur und Technik, wenn

sie auch noch so fragwürdig sind? Wo bliebe schließlich der Sinn der

Dichtung, wenn sie nicht nur als selbstbefreiender Ausdruck, sondern

als mitreißender Wirkungswille und als Sendung, für die eine Umwelt

vorauszusetzen ist, betrachtet wird?



Am wenigsten kann der Dichter in seinen Daseinsbedingungen von

der ihn umgebenden Welt losgelöst werden, verdankt er ihr doch allen

Erlebnisstoff, den er formt und an dem er sich bildet. Wie im dichterischen

Erlebnis Inneres und Äußeres, Schöpferisches und Leidendes

einander entgegenstreben, miteinander ringen und sich durchdringen,

so ist es auch im Werdegang der dichterischen Persönlichkeit. Zweierlei

Verhalten, das zur Entwicklung und Wandlung führt, ist dabei zu

unterscheiden: die Aktivität eines mehr oder weniger bewußten Hineinwachsens

in die Umwelt mit allen ihren zugehörigen Bereichen;

anderseits die Passivität der Hingabe an von außen wirkende Einflüsse.

Im Grunde geht beides zusammen, und das Mehr oder Weniger hängt

von dem Verhalten der Umweltfaktoren ab. Aktive Anpassung stellt

sich gegenüber einer passiven Ruhelage ein; passive Unterwerfung

gegenüber aktiv eindringenden und fordernden Mächten. Unveränderlich

sind, soweit sie als Ganzes dem Einzelnen gegenüberstehen, die

in sich beruhenden Verhältnisse des Raumes, wie Haus, Heimat, Landschaft,

Sprache, Volkstum, zu denen der Werdende anschmiegend und |#f0348 : 324|



sich einfügend vordringt, auch wenn er nicht in sie hineingeboren ist.

Eingreifend mit dem Anspruch auf Formung, ja oft auf Vergewaltigung

sind die dem Zeitgeist verschriebenen, in wirkenden Persönlichkeiten

verkörperten Bildungsmächte wie Schule und Lehre, Vorbild und Führertum;

zu ihnen gehört sogar die Dichtung selbst in ihrer ganzen

Dynamik. Alles dringt auf den Werdenden ein, und er muß sich von

ihm mitreißen lassen, wenn er nicht zum Widerstand gereizt wird.



a) Familie



Zwischen den Gegensätzen steht die Familie, die beides bedeuten

kann: Erbgut und Umwelt, feste Überlieferung und eingreifende Bildungsmacht.

Sie selbst schließt in ihrer Zusammensetzung oftmals

Gegensätzliches zusammen; die Wesensverschiedenheit der Eltern in

bezug auf religiösen Geist und Erziehungsgrundsätze führt zu Auseinandersetzungen

zwischen Verstand und Gefühl, deren unbewußter Gegenstand

das Kind ist. Schiller beispielsweise trug weit mehr Charaktererbgut

seines rationalistischen Vaters als seiner pietistischen Mutter

in sich; aber die Mutter, in deren Händen die erste Erziehung lag,

wußte die Kinder zu religiösen Ekstasen mitzureißen wie bei jenem

Spaziergang, da sie auf der Höhe des Berges schwärmerisch niederknieten

und den Allmächtigen anriefen. Goethe wiederum war viel

mehr Kind seiner mit pietistischen Kreisen befreundeten Mutter; aber

die Sorge für die Heranbildung faßte der rationalistische Vater als

seine Lebensaufgabe auf. In beiden Fällen also setzt die Erziehung

mit einem Gegensatz gegen das dominierende Erbgut der Anlage ein;

aber das tiefere Erlebnis stieg doch aus dem Unterbewußtsein auf;

schließlich haben die Müttergestalten in Goethes Dichtung und umgekehrt

die Väter in Schillers Dramen das Übergewicht behalten.



Wenn sich andere Glieder der älteren Generation einmischen, wenn

ihnen gar nach dem Tode des einen Elternteils oder nach Trennung

der Ehe eine Mitverantwortung zufällt, so mehren sich die Konflikte.

Der Großvater v. Labes bei Achim v. Arnim, der Komtur v. Hardenberg

bei Novalis, die Tante Massow bei Kleist, die Tante Möhn bei

den Brentanos, der Owehonkel und Tante Füßchen bei Hoffmann,

Tante Pinchen bei Fontane sind Gestalten, deren Geisteshaltung und

Persönlichkeit zu erforschen sind, um die ernsten oder heiteren Erlebnismotive,

die aus ihrer Einwirkung sich ergaben, zu erkennen.

Von nicht geringerer Bedeutung aber ist das frühe Verhältnis zu Geschwistern,

seien es ältere Schwestern, wie Ulrike v. Kleist, die eine

fast mütterliche Haltung annehmen, seien es jüngere, wie Cornelia |#f0349 : 325|



Goethe, an der der Bruder zum Schulmeister werden wollte. Die

psychoanalytische Annahme frühester Inzesterlebnisse, von der schon

oben (S. 166) die Rede war, kann nur dann von literarhistorischer Bedeutung

sein, wenn sie, wie bei Lord Byron, wirklich dichterisches

Erlebnis und, wie im „Manfred“, als solches gestaltet wurde.



b) Heimat



Der Biograph, der die Ursprünge seines Helden sucht, muß wortwörtlich

in Dichters Lande gehen. Es genügt nicht, daß er Landkarte

oder Stadtplan vor sich hat und aus Urkunden, Bildern und

Beschreibungen auf seinem Schreibtisch ein Papiermodell aufbaut,

das nur die Haltbarkeit eines Kartenhauses besitzt. Er muß sich

selbst auf die Wanderschaft begeben, muß Land und Leute, Sitte, Art

und Redeweise des Volksschlages kennenlernen, um mit offenen Sinnen

die Atmosphäre der Dichterheimat in allen ihren Stimmungen aufzunehmen.

Dieselbe Luft einzuatmen, die das Kind einsog, zu den von

der gleichen Morgensonne bestrahlten alten Giebeln aufzuschauen und

unter den noch heute dort spielenden Kindern ein Ebenbild zu finden,

die bergbekränzten Fluren zu durchstreifen, die den Natursinn des

Dichters weckten, die Geisterstimmen des Wipfelrauschens, das murmelnde

Lied des Flusses und den Glockenschlag der alten Turmuhr zu

vernehmen wie einst ─ wenn es möglich ist, bei veränderter Welt

noch etwas von all diesem Kindheitszauber der Heimat zu erhaschen,

so ist der Lebensquell der Darstellung erschlossen.



Je besser die Erinnerung des Dichters selbst die Umwelt, in der er

heranwuchs, festgehalten hat, desto mehr Verpflichtung besteht, die

Farben seiner Darstellung in eigenem Augenschein aufzufrischen.

Goethes Selbstdarstellung ist ein biographisches Muster für das Mitgehen

mit dem Helden in der schrittweise sich aufhellenden Weitung

des Horizontes. Konzentrische Kreise entwickeln sich wie Ringe auf

dem Wasserspiegel; der Weg führt vom Fensterausblick des Zimmers

durch das Haus und zu seiner Baugeschichte, vom Haus auf die Straße,

von der Straße in die Stadt, von der Stadt zu ihrer Geschichte und von

der Geschichte zur Vergegenwärtigung der Zeitereignisse, die Frankfurt

in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückten. „Zum Sehen

geboren, zum Schauen bestellt“ wuchs dieses Großstadtkind heran,

aber es fehlt in der Darstellung seiner Frühentwicklung zunächst der

Sinn für Natur, dessen Erweckung erst einer späteren Periode vorbehalten

ist. Anders verlaufen die Knabenjahre Hölderlins, der sich

vom „Wohllaut des Haines“ erzogen fühlte; seiner Kindheit sind, wie |#f0350 : 326|



Dilthey schön gezeigt hat, die weichen Linien der lieblichen Hügellandschaft,

die ein Gefühl der Geborgenheit, des sich Anschmiegens

und doch Sich-Fortsehnens vermitteln, frühe Begleitmusik; Hölderlins

Griechentraum hat später dem niegesehenen Sehnsuchtsland manche

Farben seiner ersten Kindheitseindrücke verliehen, sowie seine Kindheitserinnerungen

griechische Form annahmen. Jean Paul wiederum

hat weniger die Landschaft als das wärmere Verhältnis zu den Menschen

im Auge, wenn er die Enge der Heimat bevorzugt: „Lasse sich

doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern

wo möglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen.“



Mit der Eindrucksfähigkeit des Dichters und mit seiner tiefen

Empfänglichkeit für Sinneseindrücke steht die Klarheit der haftenden

Erinnerungsbilder im Zusammenhang und die Stärke des Gedächtnisses,

das weiter als bei anderen Sterblichen zurückreicht. Rudolf G. Binding

sah als früheste Erinnerung den Garten vor sich, in den er, noch

ehe er gehen oder sprechen konnte, hinausgetragen wurde; Spitteler

wollte das Bild der goldnen Türme von Solothurn als Erinnerung aus

dem dritten Lebensjahr in sich tragen; der finnische Dichter Koskenniemi

weiß, daß er in Gesellschaft seines Vaters, den er bald danach

verlor, an der Grenze des ersten und zweiten Lebensjahres zum ersten

Male das Meer erlebt hat, und dieses Erlebnis rechnet er als seinen

eigentlichen Geburtstag. Victor Hugo hat seine Kindheitserlebnisse

noch in spätester Dichtung verwendet, und Balzac erklärte, er habe

von Kindesbeinen an Erinnerungsbilder umrissen und fertig wie Wirklichkeit

vor sich gesehen. Wir werden auf diese als „eidetisch“ bezeichnete

Anlage zur Hervorbringung innerer Vorstellungsbilder im

zweiten Hauptteil zurückkommen; hier sei nur bemerkt, daß nach den

Untersuchungen von Jaensch diese Gabe namentlich den Kindern verliehen

ist, während sie bei Erwachsenen sich verliert. Weil aber der

Dichter in Empfänglichkeit und innerer Vorstellungskraft Kind bleibt,

sind gerade die frühesten Eindrücke von dauernder Bedeutung.



Wichtig wird die Heimatlandschaft nicht nur durch das Naturbild,

durch Klima, Luft, Licht, Farben und Linien, sondern auch durch

ihre geschichtlichen Beziehungen. Es ist möglich, daß bei dem Knaben

Grimmelshausen, so wenig Bildung er genoß, schon in der alten Reichsstadt

Gelnhausen angesichts der Kaiserpfalz Barbarossas ein Sinn für

Vergangenheit und geschichtliches Leben erwachte, dem er später in

historischen Romanen und als Kalenderschriftsteller nachging. Der

Phantasie des Knaben Herder haben sich die Trümmer der alten

Deutschordensburg über seiner Vaterstadt Mohrungen eingeprägt, und

die Heimatlandschaft blieb noch in späteren Jahren die immer wiederkehrende |#f0351 : 327|



Szenerie seiner Träume. Auf Klopstock hinterließ die Vaterstadt

als Stammsitz sächsischer Königsmacht weit nachhaltigeren Eindruck,

als der Humanismus Schulpfortas, der ihn für seine erste Bildungsepoche

zum „Lehrling der Griechen“ stempelte. Es ist bezeichnend,

daß er später den Schauplatz der Varus-Schlacht in der Nähe

Quedlinburgs suchte und daß er seinen Bardiet „Hermannsschlacht“

an Ort und Stelle zwischen den Felsen des Bodetals sich gespielt

dachte. Wilhelm Raabe wiederum hat geglaubt, daß bei Stadtoldendorf,

wo er seine Schulzeit verbrachte, in den Waldhöhen des Ith der

„Campus Idistavisus“ des Tacitus zu finden sei, und das nahegelegene

Odfeld, in dem er ein „Odinsfeld“ sah, hat er als Schicksalslandschaft

nicht nur zum Schauplatz, sondern geradezu zum Helden einer seiner

großen historischen Erzählungen gemacht.



Die altehrwürdige Herzogsstadt Heinrichs des Löwen, die Raabe

sich später als Alterssitz aussuchte, konnte wiederum die beiden

Frauen unserer Zeit, die im Geschichtsroman ihr Stärkstes geleistet

haben, schon mit den ersten Kindheitseindrücken auf geschichtliche

Weltbetrachtung lenken: Ricarda Huch und Ina Seidel. Die zweite

hat bekannt, daß das Deutschland der alten Kaiser und Herzöge, der

grauen Burgen und Dome, der großen Ströme und Waldgebirge, der

bunten Bauern- und Bürgerkultur und jener immer noch spürbaren

Tradition der Verbundenheit mit dem heiligen römischen Reich ihr

ebenso wirklich wie unwirklich war: „Ich lebte in ihm und aus ihm

wie ein Baum aus seinem Erdreich, der auch nicht weiß, welche Kräfte

sein Wachstum speisen.“



Von Walter Scott aber, dem Neubegründer des historischen Romans,

hören wir, daß er schon als Kind in den Schlössern seiner Heimat

zwischen alten Tapeten und Ahnenporträts wundersame Nerveneindrücke

hatte. „Die Vorstellung von mittelalterlichen Gewaltwesen und

Aberglauben erfüllte ihn mit einer Furcht, die etwas Ansteckendes

hatte.“



Wo Denken und Dichten in der Gestaltung geschichtlicher Stoffe

ihr Feld finden, pflegt der Keim schon in frühen Kindheitserlebnissen

zu liegen. Wenn ererbter geschichtlicher Sinn, wie z. B. bei Theodor

Fontane, außerdem durch den Vater lebendige Förderung erfährt, so

gehen wir von Anlage und Umweltanpassung bereits zu den Bildungseinflüssen

weiter. Dazwischen liegt, was an Mythen, Sagen, Märchen

und Liedern der Heimat mit der Landschaft verbunden ist und zugetragen,

zugeraunt und zugesungen wird. Die gruseligen Geschichten,

die der kleine Grillparzer von Mägden erzählt bekam, die schreckerregende

Ballade von der „Großmutter Schlangenköchin“, die die |#f0352 : 328|



Geschwister Brentano in der Kindheit hörten, die Märchenerzählungen

der Mutter, die den Knaben Mörike zur Erfindung eigener Geistergeschichten

anregten, sind für die Entwicklungsrichtung der Kindesphantasie

bereits bedeutungsvoll geworden. Nicht minder haben die

Spiele mit Geschwistern und Altersgenossen, bei denen der werdende

Dichter sich oft schon erfinderisch hervortat, z. B. der junge Schiller

als Prediger, der junge Goethe als Theaterleiter, der junge Lessing als

Liebhaber von Büchern, die er noch kaum lesen konnte, sinnbildhafte

Bedeutung für das spätere Wirken. Im Spiel wächst das Kind zuerst

in die Gemeinschaft des Volkstums hinein; mehr spielend als lernend

gelangt es zugleich in den ersten Besitz der Sprache noch ehe es zur

Schule geht.



c) Lehrer und Leiter



Während der Raum der Heimat und Kindheit eines Dichters zum

eigenen Erlebnis des Darstellers werden muß und nicht ohne ein gewisses

Maß von Intuition und dichterischer Empfindung ermessen

werden kann, beansprucht die Schulzeit und die Zusammenfassung

alles dessen, was „erlernt“ wurde, mehr objektives Zeitverstehen.

Hier hat der Pädagoge mitzusprechen aus Kenntnis der nationalen

und lokalen Bildungsgeschichte, aus geistesgeschichtlicher Einsicht in

die Erziehungsgrundsätze des Zeitalters, aus erfahrener Urteilsfähigkeit

über die möglichen Erfolge und Mißerfolge der angewandten

Lehrsysteme und aus Vertrautheit mit den typischen Erscheinungen

der Jugendpsychologie. Diese Voraussetzungen zwingen zu einer rationalen

Behandlung, ist doch das Anschauungsmaterial für diese künstliche,

zeitgebundene Umwelt ein völlig anderes als das der natürlichen,

räumlichen. Hier handelt es sich um Vergängliches und Veränderliches,

dessen Wiederherstellung auf papierenen Grundlagen beruht und

weniger erlebt als erwiesen werden kann. Der Geist der Schule ist aus

Aktenstücken zu beschwören, bei deren Sammlung auf Echtheitsprüfung

nicht verzichtet werden darf; auch das Anekdotische ist nur mit

Vorsicht zu benutzen, so hübsch es etwa klingt, wenn der Leipziger

Rektor Fischer seinen Thomanern von der philologischen Genialität

des einstigen Universitäts- und Stubengenossen vorschwärmte, der leider

seine großen Gaben nicht ausnutzte und auf Abwege geriet: „Und

nun ─ nun wurd' er nach und nach ─ ach ich mag's nicht sagen!

Frag' er nur die Leute, die's verstehn; der Kerl hieß Lessing.“



Aus Lessings Fürstenschulzeit sind Humanitätsbekenntnisse ans

Licht gezogen worden, die den Knaben bereits naseweis als künftigen

Nathan-Dichter präsentieren ─ die Mache liegt auf der Hand. Dagegen |#f0353 : 329|



ist Klopstocks Valediktion in Schulpforta, die den werdenden

Messias-Dichter mit erstaunlicher Zielbewußtheit in die Zukunft

blicken läßt, gegen jeden Einwand gesichert. Goethes „Labores juveniles“

reizen in der Handschrift des Knaben zur graphologischen Untersuchung,

ob in den Ergebnissen des Schönschreibunterrichts bereits

selbständige Charakterzüge zu finden sind. Ebenso stellt der Inhalt vor

die Frage, ob es sich um Diktat handelt, oder ob eine muntere Erfindungsgabe

sich frei betätigte.



Aus der Stuttgarter Militärakademie sind viele Schulreden überliefert,

in denen die Zöglinge vom Herzog gestellte Themen zu behandeln

hatten. Nur wo es protokollarisch feststeht, daß Schiller der Redner

war, darf ihm der Text zugeschrieben werden. Alle diese oratorischen

Übungen sind uniformiert und tragen des Herzogs Rock; sucht man

das Schillersche darin, so wird man das gestaute Pathos der Auflehnung

eher aus dem, was nicht gesagt wird, heraushören. Der Psychiater

Kretschmer spricht von biologischen Entwicklungshemmungen

des Pubertätsablaufes, die den üblichen Protest gegen die Autorität,

der sonst nur eine kurze Durchgangsphase bildet, bei Schiller fortdauern

lassen als Leitmotiv seines ganzen Schaffens und persönlichen

Empfindens bis zum ethischen Freiheitsidealismus der Reifezeit. Wenn

diese Diagnose richtig ist, so wäre das ganze Leben und Dichten eine

fortgesetzte Selbstbefreiung von dem in jungen Jahren erlittenen Zwang

gewesen.



Belege des positiven Wertes der Karlsschulbildung sind dagegen

in nachgeschriebenen Kollegheften erhalten, die zeigen, in welchem

Maße der Hochschulcharakter der Anstalt bereits für Schillers spätere

historische und ästhetische Schriftstellerei den Grund legte. Ein Vergleich

mit den eigenen Veröffentlichungen der nicht unbedeutenden

Lehrkräfte läßt erkennen, daß der Jenaer Professor noch für kleine

historische Aufsätze seiner „Neuen Thalia“ die Vorlesungen seines

Lehrers Nast nutzte, während der als engelgleicher Mann verehrte

Professor Abel ihm ein Fundament ästhetischer Anschauungen vermittelt

hat, das englische und schottische Grundsätze eklektisch zusammenzog

und das er noch beim Übergang zur Kantschen Ästhetik

brauchen konnte. Die neueste Schiller-Biographie von Reinhard Buchwald

tat recht daran, die Mittlertätigkeit dieses Lehrers auf Grund

seiner eigenen Schriften in neues Licht zu setzen, während die Nachlese,

die aus Karlsschulakten noch zu den persönlichen Verhältnissen

des Eleven Schiller beigebracht werden konnten, das Bild der Anstalt

und ihres Einflusses nicht mehr wesentlich verändert.



Die Gemeinschaftserziehung im Internat, gleichviel ob sie militärisch, |#f0354 : 330|



theologisch oder philosophisch organisiert war, ist auch bei

Klopstock, Wieland, Lessing, Hölderlin ein Urquell enthusiastischen

Freundschaftskultes gewesen. Die Einzelerziehung, die Goethe mit

seiner Schwester genoß, stellte mehr das empfangende Ich in den

Mittelpunkt; ein Gegenstück ist die Vereinsamung des begabten Klippschülers

Friedrich Hebbel, durch die sich die Willensanspannung der

Selbstbildung mit eiserner Kraft erhärtet hat, während er selbst den

Frost seiner sonnenlosen Jugend als Nachteil für das ganze weitere

Leben empfand.



Wenn, wie es Goethe in Straßburg erfuhr, sich die ganze Dynamik

neuer umwälzender Kunst- und Lebensauffassung in einem einzigen

Menschen verkörperte, so kann die Einwirkung nicht so sehr aus dem

Gesamtbild des genialen Anregers, der selbst viele Wandlungen durchgemacht

hat, erfaßt werden, sondern es sind die Ideen, mit denen Herder

gerade im Zeitpunkt der fruchtbaren Berührung sich trug, in den

Vordergrund zu stellen. Die Gelegenheit, in der mitteilende Gebefreudigkeit

und Empfänglichkeit zusammentrafen, ist entscheidend. Die

Schriften, die damals im Werden waren (Über die älteste Urkunde des

Menschengeschlechtes, Über Ossian und die Lieder alter Völker, Vom

Ursprung der Sprache) zeigen besser als die bereits vorher erschienenen

Werke Herders, welche Funken im mündlichen Verkehr übersprangen.





Handelt es sich um einflußreiche akademische Lehrer, wie Ernesti

und Christ, denen Lessing in Leipzig philologische Schulung und

kritischen Rechtssinn verdankte, oder Abraham Werner in Freiberg,

zu dessen Füßen die romantischen Naturphilosophen saßen, oder

Fichte in Jena, dessen ethisches Feuer den „Bund freier Männer“

entzündete, oder Schelling, von dem Platen in Erlangen aufs tiefste

ergriffen wurde, oder Platner, den Jean Paul in Leipzig hörte, und

Wünsch, von dem Kleist in Frankfurt a. O. beeindruckt war, so kommt

es ebenfalls darauf an, die unmittelbare Wirkung der Vorlesungen aus

später erschienenen Schriften zu rekonstruieren und so den Punkt zu

finden, an dem der Einfluß einsetzte. Andere Philosophen, z. B. Kant

und Hegel, haben mehr durch ihre Werke, in denen die Größe ihres

Systems entfaltet war, gewirkt als durch den persönlichen Eindruck

zündenden Vortrags.



Die Einwirkungen starker religiöser Persönlichkeiten, wie Johann

Michael Sailer oder Klemens Maria Hofbauer, die den Romantikern

in Süddeutschland Wege wiesen, müssen als Mittler nicht nur nach

ihrem Charakter und ihrem System, sondern nach der ganzen geistigen

Zeitlage der Kirche beurteilt werden.

|#f0355 : 331|



d) Einfluß und Nachahmung



Persönliche Einwirkung, auch wenn sie durch Gelegenheit und

Empfänglichkeit bedingt ist, geht gleichwohl immer von dem ganzen

Menschen aus, der hinter jedem seiner Aussprüche steckt. Ebenso ist

der literarische Einfluß selten auf ein einziges dichterisches Werk und

niemals auf einzelne Wendungen, die sich darin finden, zurückzuführen,

wenn auch durch Anklänge an bestimmte Stellen die Abhängigkeit

verraten wird. Voraussetzung jeder Beeinflussung ist Liebe, die bei

keinem zufälligen Begegnen erwacht, ohne daß Bereitschaft und Sehnsuchtsdrang

vorausgingen. Liebende aber nehmen voneinander vieles

an, auch in Rede und Schrift, und man kann beobachten, daß sie einander

ähnlicher werden. Das Verhältnis kann das einer unterwürfigen

Hörigkeit sein, aber die sklavische Nachahmung, die deren Ausdruck

ist, muß überwunden werden, wenn der Anspruch auf selbständige

Existenz erhalten bleiben will. Es kann sich auch um selbstbewußtes

Ringen mit dem andern und um eifernde Inbesitznahme handeln, wie

es bei Übersetzungen fremdsprachiger Werke, die zu eigener Sprachbereicherung

und Aneignung von Form und Stil unternommen werden,

sich abspielt (Schiller und Euripides, George und die französischen

Symbolisten). Es kann unbewußte Nachahmung ihren Gang fortsetzen,

obwohl der Träger alle Zeichen der Abhängigkeit ableugnet und nach

Anpassung ein durchaus Eigener zu sein glaubt.



Es können Häuser gegründet werden von familienmäßiger Gemeinschaft,

die mit neuen Zielen Schule bilden und in gegenseitiger Beeinflussung

einer kommenden Generation ihre Signale geben will. Jüngere

können die Älteren aufrütteln und mitreißen, wie es bei Goethe

und den Romantikern oder bei Fontane und den Naturalisten geschah.

Aber die Jüngeren können sich auch gegen die Älteren auflehnen und

die Meister verwerfen, zu denen sie eben noch geschworen hatten. So

blickt Schiller schon in Stuttgart geringschätzig auf die Zeit zurück,

da er noch ein Sklave Klopstocks war; so erkennt Goethe nach dem

Urgötz das Urteil Herders an, daß Shakespeare ihn ganz verdorben

habe; Herder wird der Kritiker Kants, der sein Lehrer war; Hölderlin

löst sich von Schiller, dem er sich vorher verschrieben hatte; Kleist,

der seine Penthesilea auf den Knien des Herzens Goethe zu Füßen

legte, zerstört, als er sich zurückgestoßen fühlt, das Bild der Verehrung

durch gehässige Epigramme; der „Heinrich v. Ofterdingen“ Hardenbergs

wird aus einer Nachahmung des „Wilhelm Meister“ zum Protest

gegen dessen Tendenzen; Gottfried Keller streicht aus seinem „Grünen

Heinrich“ die Huldigung an Jean Paul, die für die erste Fassung charakteristisch |#f0356 : 332|



war. Alle diese Untreue folgt aus der Erkenntnis, daß

der Erwählte doch nicht die endgültige Erfüllung aller Wünsche und

Erwartungen darstellt; die Abkehr ist ein Gericht über die eigene Vergangenheit

und bedeutet nach dem von Goethe gern gebrauchten Bilde

das Abwerfen einer Schlangenhaut.



Aber es gibt auch ein Glück der Beständigkeit und der unwandelbaren

Treue, zu der sich beispielsweise Ludwig Tieck, der im Leben

gerade kein Mustergatte war, gegenüber Shakespeare bekannte. Seit

er in Shakespeares Geist das Zentrum seiner Liebe und Erkenntnis

gefunden habe, so erklärt er in seinen „Briefen über Shakespeare“,

beziehe er alles unwillkürlich und unbewußt auf ihn: „Alles, was ich

erfahre und lerne, hat Zusammenhang mit ihm, meine Ideen, sowie

die Natur, alles erklärt ihn, und er erklärt die anderen Wesen, und so

studiere ich ihn unaufhörlich.“ Ähnlich hat der alte Goethe in den

Versen „Zwischen beiden Welten“ sein Bekenntnis zu dem „Stern der

höchsten Höhe“ erneuert. „Einen Einzigen verehren“ ─ diese Huldigung

hätte allerdings ebensogut der heilige Homer verdient, dem

die „Andacht liturgischer Lektion“ im Sturm und Drang, die „Nausikaa“

des Sizilienfahrers, die Anpassung des Homeriden in der klassizistischen

„Achilleis“ und die klassisch-romantische Phantasmagorie

des Helena-Dichters im Alter Tribut zollt. In diesen Höhepunkten des

Homerkultes erscheint eine Periodizität, ähnlich wie in Goethes Liebesleben,

und es fehlt auch dazwischen nicht die Flucht in andere Gefilde,

in die der römischen triumviri amoris und in die des Hafis, deren

Kostüm der Dichter der „Elegien“ und des „Diwan“ anlegte.



Wenn oben von einer gewissen Wahlverwandtschaft als Voraussetzung

für das Zustandekommen tiefer Beeinflussung die Rede war (S. 175),

so kann sich dieses Verhältnis ändern, sobald die Einstellung des

Empfängers in ihrer Wellenlänge wechselt. Bei zeitlicher und räumlicher

Ferne scheint eine Gegenseitigkeit der Einwirkung ausgeschlossen,

doch ist auch da das Verhältnis kein ganz einseitiges. Der Dichter,

der nicht nur für seine Zeit schreibt, sucht Verstehende, Ergriffene

und Nachfolger in weiter Zukunft und rechnet mit einer Tragweite von

Jahrhunderten. Als der alte Bodmer in Zürich durch den jungen Goethe

besucht wurde, begrüßte er ihn ähnlich dem biblischen Simeon mit

den Worten, er habe 77 Jahre auf ihn gewartet. Selbst Friedrich der

Große verglich sich dem biblischen Moses, der das gelobte Land aus

der Ferne schaute. Klopstock hat nicht nur die Gefolgschaft des Göttinger

Hains erwartet, sondern einem Schiller und Hölderlin, denen er

Bahn brach, entgegengesehen, auch wenn er sie nicht mehr erkannte.

Goethe glaubte in Lord Byron den wesensverwandten Nachfahren zu |#f0357 : 333|



finden. Wieland sah in Heinrich v. Kleist den Vollbringer dessen, was

Goethe und Schiller noch unvollendet gelassen hatten. Kleist beugte

sich im Geiste vor einem, der nach tausend Jahren kommen sollte, um

die Entdeckung, die ihm im Reiche der Kunst geglückt war, zu verwirklichen.

Er selbst fühlte sich einem Tasso verwandt, der über Jahrhunderte

hin aus der Barockzeit ihn als Bruder seines Geistes begrüßte.

So stellt sich für den Vorausschauenden wie für den Rückblickenden

eine Kette großer Wirkungszusammenhänge dar, in der nicht nur die

Vergangenen weiterleben, sondern die Kommenden geahnt sind.



Anklänge und Übereinstimmungen in Motiven und Bildern, in Technik

und Stilmitteln, ja gelegentlich in wörtlichen Wendungen sind

nicht einfach als mechanische Übernahme und Entlehnung zu erklären;

die Richtung zu gleichartiger Ausdrucksweise ist in gleichartiger Seelenlage

begründet, und die in sprachlichen Formen erscheinenden Zeichen

der Beeinflussung sind nur die äußeren Symptome einer inneren

Aufwühlung, die von Ideen, Problemen und Weltanschauung der verwandten

Seele ausgegangen ist. Das Wort wird im „Westöstlichen

Divan“ die Braut genannt, Bräutigam der Geist. So kommt eine liebende

Vermählung zustande, bei der nach Grillparzer „ein Innres

schmelzen muß, um eins zu sein mit einem andern Innern.“



Jene Symptome aufzugreifen, ist Sache der Stilforschung. Die tieferen

Vorgänge zu erfassen, fällt der Geistesgeschichte und Psychologie

zu, denen in den folgenden Hauptteilen unter den Begriffen des Erlebnisses

und des Schaffensvorganges Beachtung zu schenken ist. Hier

muß zur Methode der Einflußbestimmung nur noch einmal das früher

(S. 175) über die sogenannten „Parallelen“ Gesagte wiederholt werden,

nämlich daß äußere Anklänge an sich noch gar keine Beeinflussung

beweisen; es können selbst kleine wörtliche Übereinstimmungen ohne

unmittelbare Berührung aus Zeitstil oder gemeinsamen Vorbildern zustande

gekommen sein, und dann ist oft noch die Frage der Priorität

ungeklärt.



Gesichert ist der Einfluß erst nach chronologischer Feststellung, daß

das eine Werk unter der unmittelbaren Einwirkung, die das andere

auf seinen Dichter ausübte, entstanden sein kann. Dazu gehört Nachweis

der Priorität und der Verbreitung. Wird durch das eigene Zeugnis

des Dichters die starke Beeindruckung, die zum Erlebnis wurde,

bestätigt, so ist die zweite Voraussetzung erfüllt, und der Nachweis ist

schlagend. Wenn Schiller über seinen im Entstehen begriffenen „Don

Carlos“ schreibt, daß er Blut und Nerven von Leisewitz' „Julius von

Tarent“ haben solle, so ist an der Tatsache des Einflusses nicht zu

zweifeln. Man wird aber feststellen müssen, daß die spätere „Braut |#f0358 : 334|



von Messina“ in den Motiven und Charakteren viel mehr Ähnlichkeiten

mit dem „Julius von Tarent“ aufweist, als im „Don Carlos“ zu

erkennen sind. Motive des Leisewitzschen Bruderzwistdramas, wie die

Entführung der Geliebten aus dem Kloster, gehörten bereits der ursprünglichen

Ausführung der „Räuber“ an, aus denen diese Szene

wegen ihrer Maßlosigkeit entfernt wurde. Das Erstlingsdrama zeigt

auch in der Sprache engere Übereinstimmungen mit dem Vorbild von

Leisewitz. Man kann aus diesem Beispiel erkennen, daß die Motive

einer Dichtung sich dem Gedächtnis tiefer einprägen und eine längere

Nachwirkung haben können, so daß sich der Zusammenhang verliert

und sie aus dem Unterbewußtsein als scheinbare Eigenerfindung wieder

aufsteigen. Von einem Plagiat darf deshalb keine Rede sein; nur

die Reproduktion „mit begleitendem Erinnerungsurteil“ (Lucka), die

sich bewußt der fremden Motive oder sogar des fremden Wortlautes

bedient, ist als Entlehnung anzusehen. Die sprachliche Abhängigkeit

ist dabei bewußter als die der Motive; sie tritt am intensivsten zu

Anfang in Erscheinung als Überwältigung durch den ersten Eindruck.

Wie nach orientalischem Mythus die Liebe den Reim erfand, so lernt

ein Dichter durch den andern in einer neuen Sprache reden. Die

Abhängigkeit verliert sich, nachdem die Wasser der zusammenfließenden

Ströme ihre Farben vermischt haben und das Übernommene mit

dem eigenen Stil amalgamiert ist.



e) Belesenheit



Wenn die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Beeinflussung

chronologisch gestützt werden muß, so kommen der Untersuchung

außer Tagebüchern, Briefen und Gesprächen des Dichters in neuerer

Zeit die Ausleihbücher der benutzten Bibliotheken zu Hilfe. Wir sind

über alle Werke, die Goethe und Schiller aus der Weimarer und

Jenaer Bibliothek, Heinrich v. Kleist aus Dresden oder Wilhelm Raabe

aus den Bücherschätzen von Wolfenbüttel entlehnt haben, unterrichtet;

daraus kann auf die für eine bestimmte Arbeit benutzten Quellen und

auf den Zeitansatz dieser Arbeit geschlossen werden. Nicht immer ist

aber damit die erste Kenntnis eines Buches festgelegt. Wenn z. B.

Goethe erst im Jahr 1801 das Pfitzersche Faustbuch aus der Weimarer

Bibliothek entlieh, so ist zwar erwiesen, daß er es bei Wiederaufnahme

der Dichtung im Jahre 1797 noch nicht zur Hand hatte, aber es steht

keineswegs fest, daß er es nicht bereits in vorweimarischer Zeit für

den „Urfaust“ als Quelle benutzte. Wenn dagegen Heinrich v. Kleist

in Dresden die jüdische Geschichte des Josephus entlieh, so geht daraus |#f0359 : 335|



hervor, daß die „Zerstörung Jerusalems“, von der wir als letztem

dramatischen Plan hören, ihn länger beschäftigt hat, als man bisher

annahm.



Bücherentleihungen sind kein Beweis für großen und anhaltenden

Einfluß. Vielmehr haben wir Werke, die dauernde Wirkung ausübten,

eher im eigenen Besitz des Dichters zu vermuten. Auch hier fehlt es

nicht an Orientierung. Wir kennen die beachtenswerten Bücherbestände

des Hans Sachs, über die er selbst Buch führte; sie umfassen die meisten

deutschen Übersetzungen antiker Schriftsteller, die damals vorhanden

waren; Dares Phrygius, Herodot, Justinus, Suetonius und Valerius

Maximus sind auf dieser Grundlage in 6─12aktigen Tragödien versifiziert

und dialogisiert worden. Außerdem hat der Nürnberger Schuhmacher

lateinische Texte, die in keiner deutschen Übersetzung vorlagen,

wie Reuchlins „Henno“, bearbeitet und, da seine eigenen Sprachkenntnisse

dazu nicht ausreichten, muß man annehmen, daß ihm gelehrte

Hilfeleistung zur Verfügung stand. Ähnlich haben wir uns wohl

das Verhältnis Wolframs v. Eschenbach zu seinen französischen Quellen

zu denken.



Je näher wir der Neuzeit kommen, desto reicher ist der Einblick

in das Handwerkszeug der Dichterwerkstatt. In Darmstadt ließ

Moscherosch, der auf der Reise starb, seine Bücherei und den von

ihm selbst angefertigten Katalog zurück. In Frankfurt a. M. ist der

Bestand der Bibliothek von Goethes Vater bekannt, aus der der Knabe

Wolfgang seine erste Bildung zog, und in Weimar steht sein eigener

Besitz noch an Ort und Stelle; Goethes Bücher können samt ihren Benutzungsspuren

im Weimarer Goethehaus eingesehen werden, solange

die höchst erwünschte Veröffentlichung des Katalogs noch aussteht.

Auch Schillers Bibliothek, obwohl aufgelöst, ist nach ihren Titeln bekannt.

Der Buchbesitz der Romantiker Aug. Wilh. Schlegel, Ludwig

Tieck, Schleiermacher und Brentano wurde für die Versteigerungen,

die schon bei Lebzeiten oder nach dem Tode stattfanden, verzeichnet.

Diese Spuren literarischer Umwelt sind nicht nur für einzelne Feststellungen

brauchbar, sondern als Ganzes ist jede Bibliothek in ihrer

Zusammensetzung eine charakteristische Abspiegelung der literarischen

Physiognomie ihres Besitzers.



Wenn in älteren Zeiten die Bücherverzeichnisse von Klöstern, Schulen

und Sammlern nicht selten sind, so fehlen die Angaben der Benutzer.

Bei einem Dichter wie Shakespeare ist man daher zur

indirekten Ermittlung seiner Belesenheit aus allen Zitaten und Anspielungen,

die in seinen Werken zu finden sind, übergegangen. Indessen

braucht nicht immer das, was ein Schriftsteller zitiert, ihm bekannt |#f0360 : 336|



gewesen zu sein. Bei Grimmelshausens Schriften, namentlich

dem Satyrischen Pilgram, dem Simplizissimus und dem Ewigwährenden

Kalender, staunt man über die ausgebreitete Gelehrsamkeit und den

Reichtum an Lesefrüchten, Zitaten und Anspielungen, deren Häufung

ein Stilmittel des Humoristen ist. Das Rätsel klärt sich auf, indem genau

dieselben Zusammenstellungen in Kompendien, wie dem „Allgemeinen

Schauplatz“ (Piazza Universale) des Thomas Garzoni zu finden

sind. Obwohl sich die Benutzung dieses Buches durch Grimmelshausens

ganze Schriftstellerei hinzieht, ist doch nicht anzunehmen,

daß er es selbst besaß. Die Zitate sind aufgeteilt auf verschiedene

Werke, ohne daß jemals dieselbe Stelle wiederholt würde; es ist deshalb

zu vermuten, daß der Offenburger Regimentsschreiber in den

Anfängen seiner Selbstbildung das Wissensmagazin, dessen erste deutsche

Übersetzung 1619 erschienen war, exzerpierte und daß er aus

dem Zettelkasten seine spätere Schriftstellerei speiste. Die unpersönlichen

Zusammenstellungen des Italieners haben ihm den Eintritt in

die literarische Welt eröffnet, und sind für ihn offenbar zu einem entscheidenden

Bildungserlebnis geworden.

|#f0361 : E337|



ZWEITER HAUPTTEIL


SEELENLEBEN


Er ist in die bewegte Welt

Als fester Mittelpunkt gestellt,

Der unberührt von Ebb' und Flut,

In sich gesättigt, schweigend ruht,

Weil er in sich jedweden Kreis

Begonnen und beschlossen weiß,

Und weil in ihm der Urgeist still

Die Perl' sein Abbild zeugen will.


Hebbel.



1. Eindrucksfähigkeit



Schillers Anerkennung des Dichters als des einzigen wahren Menschen

erklärte sich Hebbel in seinen Tagebüchern aus dem Gleichgewicht

von Rezeptivität und Produktivität, aus der Harmonie von

Empfangen und Geben, aus der gegenseitigen Steigerung dieses Wechselverhältnisses

zu einem erhöhten Menschentum.



Außergewöhnliche Eindrucksfähigkeit und außerordentlich starke

Ausdrucksfähigkeit bilden in der Tat schon in der Anlage die beiden

Hauptvoraussetzungen künstlerischen Schaffens. Die Reizsamkeit und

Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke, der Lebenshunger, der nach

Welterfahrung, geistiger Bewegung und Erneuerung, nach Menschen-

und Gotterkenntnis drängt, und die Gabe, sich von der Wirklichkeit

abzuschließen und im Werk sich eine eigene Welt aufzubauen, ist

allem Künstlertum gemeinsam.



In der Ausdrucksfähigkeit trennen sich die verschiedenen Künste

und Begabungen nach Richtung und Mitteln der Gestaltung; aber es

bleiben Möglichkeiten der Wechselwirkung und wetteifernder Versuche,

es einander gleich zu tun. Die Malerei kann musikalische, die

Musik malerische Wirkungen erstreben; die Dichtung kann beides und

noch mehr, denn ihr unermeßlich Reich ist der Gedanke; die Phantasie

kann alle Sinne wecken, ohne an die Schranken der Sinnenwelt

gebunden zu sein. So erscheint die Natur dem Dichter, wie es in

„Künstlers Abendlied“ heißt, als lust'ger Springbrunn, der aus tausend

Röhren spielt:

|#f0362 : 338|



Wirst alle meine Kräfte mir

In meinem Sinn erheitern,

Und dieses enge Dasein hier

Zur Ewigkeit erweitern.


a) Sinneseindrücke



Die Bereitschaft, in hingebender Sinnenfreude die ganze Welt in

sich aufzunehmen, ist allen Künstlern gegeben, ohne daß alle ihre

Sinne mit gleicher Empfänglichkeit beteiligt wären. Nicht nur unter

den Malern, von denen Dürer das Sehen als den alleredelsten Sinn des

Menschen bezeichnete, sondern auch unter den Dichtern kennen wir

ausgesprochene Augenmenschen, deren Selbstbekenntnis dem sinnesfreudigsten

Organ, das der Sprachbildung am nächsten steht, den Vorrang

zuerkannte. So Goethe in seinem Abschiedslied von der Welt,

das er Lynkeus, dem Türmer, in den Mund legte. Vorher schon in

den Versen „Aug und Ohr“:



Was dem Auge dar sich stellet,

Sicher glauben wir's zu schauen;

Was dem Ohre sich gesellet,

Gibt uns nicht ein gleich' Vertrauen.



Oder Gottfried Keller, der die Augen als seine „lieben Fensterlein“

begrüßte:



Trinkt ihr Augen, was die Wimper hält,

Von dem goldnen Überfluß der Welt.



Auch Christian Morgenstern, aus dessen grotesken Klangassoziationen

man eher das Gegenteil schließen möchte, nannte das Auge sein

Hauptorgan: „Alles geht bei mir durch das Auge ein.“



Von dem französischen Sensualisten Marcel Proust wird erzählt,

daß der Rosenstrauch eines Schloßgartens ihn derart fesselte, daß der

weiter gegangene Begleiter bei seiner Rückkehr ihn noch immer an

derselben Stelle stehen sah, die Blicke in Verzückung auf die Rosen

geheftet, mit geneigtem Haupt, ernstem Ausdruck, hochgezogenen

Brauen, in Haltung angestrengtester Aufmerksamkeit. Von demselben

Dichter hören wir, daß er stundenlang in irgendeinen Farbeneffekt

versunken sein konnte, mit dem die Sonnenstrahlen, die ins Zimmer

fielen, Krug, Tasse oder Glas bemalten. Welche Gedankenwelt durch

Lichtwirkung dieser Art erregt werden kann, ist an dem berühmten

Beispiel des Jakob Böhme zu sehen, dem die Spiegelung der Sonne in

zinnerner Schüssel sein ganzes Weltsystem offenbarte. Gleichwohl hat |#f0363 : 339|



der Philosophus Teutonicus auch in der Sprache den Laut der Natur

zu erlauschen geglaubt, und die Musik betrachtete er als den Nachklang

des Paradieses.



Im 17. Jahrhundert haben Dichtergruppen wie die Nürnberger

Pegnitzschäfer mit sprachlicher Musik in Klangmalerei und Lautsymbolik

die Stimme der Natur äußerlich nachzuahmen gestrebt, und

während Martin Opitz in seinem Gedicht an den Maler Strobel die

Malerei als Schwester der Dichtung pries, wurde in der „Musikalischen

Kürbishütte“ in Königsberg die Dichtung als Gesang gepflegt. Es gibt

Menschen, die die Welt überwiegend mit dem Ohr in sich aufnehmen.

Wenn Klopstock in der Ode „Das Gehör“ ein Loblied anstimmt auf

alle klanglichen Genüsse, die dem Schwerhörigen und Tauben verschlossen

sind, so waren es nicht nur Trostgründe für einen Erblindeten,

an den diese Verse gerichtet sind, sondern es entsprach der überzeugtesten

Erfahrung und Veranlagung des Dichters, der in einer

anderen Ode (Der Bund, 1800) die schöpferische Eintracht der Musik

und Dichtkunst preist, hinter deren kosmischer Weite Malerei und

Plastik zurückbleiben:



Wenn so hoch das Gedicht sich erhebet, daß der Gesang ihm

Kaum zu folgen vermag, alsdann entzündet ein heißer

Streit sich; es wird Vollendung errungen,

Die nur selten den Friedlichen glückte.



Auch Kierkegaard hat das Ohr als das Werkzeug bezeichnet, mit

dem die Innerlichkeit erfaßt werde. In der englischen Literatur darf

Robert Burns, dessen Konzeption eine musikalische war und der immer

zuerst den Rhythmus im Ohr hatte, als ein auditiv veranlagter Dichter

gelten; in der deutschen Romantik spricht sich diese Richtung in verschiedener

Weise bei Wilhelm Wackenroder und Josef v. Eichendorff

aus. Ludwig Tieck hat für die Romantik das Motto „Süße Liebe denkt

in Tönen“ geprägt, und Brentano hat mit Görres im „Uhrmacher Bogs“

den Eindruck eines Konzertes in Wortklängen wiederzugeben gesucht.

Bei diesen Synästhetikern, zu denen auch Wilhelm Heinse und Jean

Paul gehören, werden die optischen Eindrücke nicht verschmäht, und

es treten ganze Licht- und Farbensymphonien in den Dienst musikalischer

Wirkung.



Nicht selten ist, wie Goethe, Keller, Stifter, Blake, Rossetti und viele

andere zeigen, die visuelle Eindrucksempfänglichkeit und Vorstellungskraft

mit einer dichterisch-malerischen Doppelbegabung verbunden,

während auf der anderen Seite die Paarung musikalischer und dichterischer

Begabung bei überwiegend auditiv veranlagten Menschen zu

finden ist. Niemals ist indessen bei diesen die visuelle Eindrucksfähigkeit |#f0364 : 340|



ganz ausgeschaltet. Otto Ludwig, der zwischen Musik und Dichtung

schwankte, sah die Gestalten seiner Phantasie aus einem Farbenspektrum

hervortreten, und der Dichterkomponist E. T. A. Hoffmann,

der sich auch als karikaturistischer Zeichner betätigte, besaß schärfste

Beobachtungsgabe für die optischen Wirklichkeitseindrücke. Der Plastiker

und Erzgießer Kurt Kluge wiederum behandelte in seiner Dichtung

vorzugsweise musikalische Motive.



Umgekehrt haben visuelle Dichter musikalische Stimmungen als

Ursprung ihrer Konzeption erlebt oder sich bei der Arbeit durch Begleitmusik

fördern lassen; so wurde Gottfried Keller sowohl zum

Schlußmotiv seiner „Regine“ als zu dem des „Tanzlegendchens“ während

eines Konzertes inspiriert, und Goethe ließ bei der Arbeit an

„Iphigenie“ sich durch ein Quartett aus dem Nebenzimmer in Stimmung

versetzen; ebenso wurde Schillers tragisches Schaffen durch

einen auf dem Klavier gespielten Marsch beflügelt, und Alfieri erzählt

in seiner Selbstbiographie, die meisten seiner Tragödien seien ihm

während oder nach dem Anhören von Musik aufgegangen.



Wenn Goethe über Klopstok das harte Urteil ausgesprochen haben

soll, ihm habe die Anlage zur Anschauung und Auffassung der sinnlichen

Welt gemangelt, und so habe ihm das Wesentlichste zu einer

epischen und dramatischen Dichtung, ja man könne sagen, zu einem

Dichter überhaupt gefehlt, so beruht die ungerechte Formulierung

wahrscheinlich auf einem Mißverständnis Eckermanns, und was

Goethe meinte, war nur der Mangel an jener visuellen Gestaltungskraft,

die besonders dem Epiker zukommt. Darunter leidet der „Messias“;

trotzdem steht Klopstocks tiefes Naturempfinden außer Frage.

Wenn er in Oden wie „Zürichersee“ und „Frühlingsfeier“ sich ins

Übersinnliche aufschwingt, so sind es vorwiegend Gehörseindrücke,

die hinüberleiten: im Gewitter ertönt die gewaltige Stimme des Herrn,

und der Regen läßt Jehova im stillen, sanften Säuseln erscheinen. Der

Regenbogen dagegen, der als Sinnbild des himmlischen Friedens das

Ganze krönt, ist in seinem Farbeneindruck nicht geschaut. Schiller

bezeichnet Klopstock als einen musikalischen Dichter, weil seine

Sphäre immer das Ideenreich sei und er alles ins Unendliche hinüberführe.





Das andere Beispiel eines musikalischen Dichters, der trotzdem

immer in der Welt der Wirklichkeit blieb, bietet Heinrich v. Kleist,

der sich erinnerte, als sechzehnjähriger Knabe am Rhein im Abendwind,

als die Wellen der Luft und des Wassers ihn zugleich umtönten,

ein schmelzendes Adagio gehört zu haben mit allem Zauber der Musik,

mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie. |#f0365 : 341|



Er sprach sogar von der Fähigkeit, sich ein solches Konzert

jederzeit wiederholen zu können, ohne Kapelle, so oft er es wolle;

aber sobald ein Gedanke daran sich rege, sei alles hinweggezaubert.

Daneben hat Kleist in seinem sogenannten „Ideenmagazin“ optische

Eindrücke gesammelt, die vielfach als Bilder in seinen Dichtungen

wiederkehren. Charakteristischerweise aber werden, anders als bei

Klopstock, die Gesichtseindrücke symbolisch ausgelegt und zu Betrachtungen

der Reflexion weitergeführt. „Sehen und hören“, so schrieb

Kleist, „können alle Menschen, aber wahrnehmen, das heißt mit der

Seele den Eindruck der Sinne auffassen und denken, das können bei

weitem nicht alle. Sie haben nichts als das tote Auge, und das nimmt

das Bild der Natur so wenig wahr, wie die Spiegelfläche des Meeres

das Bild des Himmels. Die Seele muß tätig sein, sonst sind doch alle

Erscheinungen der Natur verloren, wenn sie auch auf alle Sinne

wirkten.“



Neben den visuellen und auditiven Anlagetypus ist der des Motorikers

gestellt worden, der in kinästhetischen Empfindungen und

Vorstellungsbildern jeden Bewegungseindruck körperlich miterlebt,

mimisch ausdrückt oder haptisch ergreift. Wird die Gestaltung der

Bewegung willensmäßig beseelt, so wandelt sich der Motoriker in den

Dynamiker. Die Gleichsetzung dieses dritten Typus mit dem visuellen

und auditiven erregte allerdings den Widerspruch des Charakterkundlers

Ludwig Klages, der den Motoriker wohl anerkennt, aber nur als

Glied einer anderen Zweiteilung, in der er sich abgrenzt vom Sensoriker.

Klages beruft sich dafür auf den ungarischen Naturphilosophen

Palagyi, für den der Tastsinn, der immer eine eingebildete Bewegung

einschließt, die ursprünglichste aller Sinnesfunktionen und die Wurzel

unseres ganzen Empfindungslebens bedeutete. Ähnlich hat der Franzose

Ribot in den „images motrices“ die Elemente des unbewußten

Lebens erkennen wollen. Er nannte alle visuellen Vorstellungen bewegt,

alles innere Gehör kinästhetisch und sprach auch von motorischen

Halluzinationen.



Wenn der Tastsinn allen übrigen Sinnen bei Aufnahme der Außenwelt

zu Hilfe kommen muß, tritt auch unter den Sensorikern eine

Teilung zwischen den visuell-motorischen und den akustisch-motorischen

ein; zum mindesten besteht, wie G. E. Müller gezeigt hat, zwischen

dem Akustischen und Motorischen eine engere Verbindung. Für

Klages sollte der Unterschied zwischen Sensorikern und Motorikern

aber darin bestehen, daß bei den einen der Sinneseindruck vor der

Bewegung, bei den anderen der Bewegungspol vor dem Eindruckspol

das Übergewicht hat.

|#f0366 : 342|



Die herkömmliche Einteilung der Künste steht in Parallele mit diesen

Vorstellungs- und Gedächtnistypen, insofern die Musik dem

auditiven, die Malerei dem visuellen, die Plastik und Architektur dem

Körpergefühl wie dem Raum- und Tastsinn freiesten Spielraum läßt.



In der Dichtung kommt beim Lyriker die musikalisch-auditive, beim

Epiker die malerisch-visuelle Anlage zu bevorzugter Geltung, während

motorische Dynamik sich auslebt im Drama.



Wir finden beim jungen Schiller das körperliche Mitgehen mit

erlebten Vorgängen, wenn er auf der Militär-Akademie sich krank

meldet, um unter Schnauben, Toben und konvulsivischen Zuckungen

an seinem Drama weiter zu arbeiten, oder wenn er einen Patienten,

den er zu beobachten hat, durch bedrohliche Bewegungen erschreckt,

weil er innerlich mit einer sich losringenden Räuber-Szene beschäftigt

ist. Zur Zeit der Entstehung von „Kabale und Liebe“ beobachtete

der Musiker Andreas Streicher, wie Schiller während seines Klavierspiels

stundenlang im mondbeleuchteten Zimmer auf- und abging und

nicht selten in unvernehmliche Laute ausbrach. Von seinem Verleger

Schwan wurde er während der Umarbeitung des „Fiesko“ überrascht,

wie er hemdsärmelig in dem vom Tageslicht abgeschlossenen Zimmer

bei Kerzenschein herumtobte und barbarisch krakeelte. Er habe gerade

den Mohren am Kragen gehabt, war seine Erklärung.



Ähnliches wird von dem auditiven Motoriker Kleist berichtet, bei

dem Wieland die an Verrücktheit grenzende Eigenheit beobachtete,

„bei Tisch häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich selbst zu murmeln,

wobei er das Air eines Menschen hatte, der sich allein glaubt,

oder mit seinen Gedanken an einem anderen Orte und mit einem ganz

anderen Gegenstande beschäftigt ist“. Er gestand, daß er an seinem

Drama (Robert Guiscard) arbeite. Nach Ernst v. Pfuels Erzählung

kam er einmal in Dresden totenbleich und aufgelöst in dessen Zimmer

und stammelte auf die Frage, was ihm fehle: „Nun ist sie tot, nun ist

sie tot!“ Er hatte Penthesileas Liebestod erlebt, gespielt und gestaltet.

In einem Briefe sagte er, er habe sie von der Brust heruntergehustet,

was sowohl die Befreiung von drückender Qual als die krampfhafte

Schaffensweise kennzeichnet.



Auch von einem lebenden Dramatiker wie Wolfgang Eberhard Möller

wird berichtet, daß er beim Diktat einer Szene jede einzelne Rolle

mimisch zu verkörpern pflegt. Und Walter v. Molo, der mit Rücksicht

auf die Technik seiner historischen Romane ein „dramatischer Epiker“

genannt wurde, erweist sich als Motoriker durch den inneren Zwang,

jede Haltung und Bewegung seiner Gestalten, während er sie darstellt,

körperlich mitzuerleben und sich in sie zu verwandeln. Wenn alle |#f0367 : 343|



diese Beispiele zu den Vorgängen des Schaffens gehören, so führen sie

gleichwohl auf eine sinnliche Empfänglichkeit für Bewegungseindrücke

zurück.



Innere Bewegtheit und äußerer Bewegungsausdruck stehen in Wechselwirkung

bei allen Erscheinungen des Rhythmus. Er bringt in jeder

Kunst das Körpergefühl zur Geltung und verbindet aufs engste Musik

und Wortkunst. Dem musikalischen Vortrag entstammen die Theorien

von Rutz und Becking, die eine typische, auf Atem- und Stimmgebung

wirkende Körperhaltung sowie eine besondere Taktgebung als charakteristisch

für die Wesensart des Schöpfers und maßgebend für die

Wiedergabe des reproduzierenden Künstlers sein lassen. Waren die

danach abgeleiteten drei oder vier Typen der Körperhaltung und der

Taktkurve als rassisch oder national bedingt aufzufassen, so hat Eduard

Sievers in seinen schallanalytischen Theorien vielmehr feststellen wollen,

daß das persönliche Klangwesen nicht einheitlich zu sein brauche,

sondern daß der einzelne Mensch namentlich der sich einfühlende

reproduzierende Künstler über mehrere Typen der Vortragsart gebiete.

Trotzdem kann wohl nur eine die ihm angeborene und seinem innersten

Wesen entsprechende sein. Die psychologische Wissenschaft und

Charakterologie sind bisher noch zu keiner Einfügung dieser Klang-

und Bewegungstypen in ihr System gelangt, und auch die Rassenpsychologie,

die sich in den Untersuchungen von Clauß den mimischen

Ausdrucksformen zugewandt hat, ließ dieses verwandte Gebiet vorerst

beiseite.



b) Experimentalpsychologische Typenlehren



Beim Überblick über die Methoden psychologischer Forschung, die

auf das Gebiet der Literatur übergreifen, sei die naturwissenschaftlich

begründete Erfahrungspsychologie vorweggenommen, deren experimentelle

Beobachtung die äußerlich wahrnehmbaren Symptome des

Seelenlebens erfaßt. Die geisteswissenschaftliche Strukturpsychologie,

die auf das Innere gerichtet ist, kann erst an späterer Stelle, in dem

Abschnitt „Erlebnis“ (S. 353), Beachtung finden.



Das Verhältnis der wissenschaftlichen Psychologie zur Literaturwissenschaft

ist von ähnlicher Zweiseitigkeit wie die oben (S. 286)

charakterisierte Stellung der Anthropologie, Rassen- und Stammeskunde.

Es kommt darauf an, ob die Psychologie zwecksetzend oder

zweckerfüllend mit der Literaturwissenschaft in Verbindung tritt, ob

sie Hilfe sucht oder Hilfe bietet. Zwecksetzend kann sich die Psychologie

literarischen Materials bedienen, um aus der Dichtung allgemeingültige |#f0368 : 344|



Aufschlüsse über das Seelenleben des Menschen zu gewinnen;

in zweckerfüllender Weise ist die psychologische Typisierung

zum Verständnis dichterischer Individualitäten heranzuziehen. Man

kann sagen, daß beim Verhältnis der Experimentalpsychologie zur

Dichtung die erste Zielsetzung durchaus überwiegt.



Nun hat es aber mit dem Seelenleben des Künstlers überhaupt und

besonders mit dem des Dichters seine besondere Bewandtnis. Wenn

der Dichter nach Schiller der einzige Mensch ist, so ist er eben einzigartig

unter den anderen Menschen und kann nicht mit jedem Zug

unter allgemeingültige psychologische Normen fallen. Andererseits ist

der Dichter eben doch nur ein Mensch, der dieselben Empfindungen

und Triebe wie die anderen Sterblichen kennt, allerdings in gesteigertem

Maße. Wiederum ist er in dieser Steigerung der Repräsentant, ja

der Führer, der einer gleichgearteten Menschengruppe seines Volkes

und seiner Zeit vorlebt, so daß er durch sein Gestalten auf die Gestaltung

ihres Lebens Einfluß gewinnt.



Es drängen sich also folgende Fragen auf: 1. Sind aus den psychologischen

Qualitäten, die am Dichter und seinem Werk beobachtet

werden können, allgemeine Schlüsse auf das Seelenleben einer Rasse,

eines Volkes, eines Stammes oder eines Zeitalters zu ziehen, was eine

eigene Typologie ergäbe, oder wird durch ihre jedesmalige Zusammenstellung

nur der einzelne Dichter oder gar nur ein einzelnes Werk

charakterisiert? 2. Sind wenigstens in diesem Punkt die Grundbegriffe

psychologischer Typenbildung, die für den Menschen schlechthin

gelten, auf die Analyse einer dichterischen Persönlichkeit anzuwenden,

wie man es in sogenannten Psychogrammen für Hoffmann,

Hebbel und andere getan hat? 3. Gibt es eine eigene Dichterpsychologie,

die von der besonderen Veranlagung des Dichters ausgehend für

die Eigenheit seines Seelenlebens Gesetze findet?



Wenn es sich nur um die Bestimmung der Eindrucksfähigkeit für

Sinnesreize handelt, so ist eine überwiegend visuelle oder überwiegend

auditive oder eine motorisch-dynamische Anlage bei jedem einzelnen

Menschen, nicht nur beim Dichter, experimentell zu ermitteln. Darf

man aber aus der Frequenz von Gesichts- oder Gehörseindrücken, die

in der Sprache des Dichters festzustellen sind, prozentual ausgedrückte

Rückschlüsse auf seine Veranlagung ziehen, und hat diese Anlagerichtung

aufschlußreiche Bedeutung für die dichterische Wesensart? Oder

charakterisiert sie die eines Volkes?



Durch Karl Groos und seine Schule wurden seinerzeit statistische

Ergebnisse errechnet, wonach die Sprache Schillers doppelt soviel

akustische Ausdrucksmomente enthalte als die Goethes und sogar das |#f0369 : 345|



Siebenfache gegenüber Shakespeares Sonetten. Wenn bei Goethe die

visuellen Ausdruckswerte in der Mehrheit sind, so soll sich bei Shakespeare

ihr Übergewicht sogar verdoppeln. Ohne Vornahme einer Nachprüfung

muß gesagt werden, daß eine mechanische Abzählung dieser

Art wenig Erkenntniswert haben kann; denn sie berücksichtigt weder

die Qualität und Intensität der Sinneseindrücke, noch ihre Beziehung

zum dargestellten Gegenstand, noch ihre Originalität und ihre Vorbilder,

noch die Richtung des Zeitstils, der mehr nach der Musik hin

(Romantik, Expressionismus) oder mehr nach der Seite der Malerei

(Realismus, Impressionismus) orientiert sein kann und der in neueren

Stilperioden Farbeneindrücke künstlich gezüchtet hat. Infolgedessen

bleibt ungewiß, bis zu welchem Grad überlegter Wille und Anpassung

Anteil haben oder wie weit ein zwangsläufiges anlagemäßiges Nichtanderskönnen

vorliegt. Der unbedingte Rückschluß aus Sinneseindrücken

der Dichtung auf den psychologischen Typus scheint in seiner

Allgemeingültigkeit fragwürdig.



Einen andern Weg wies Oswald Külpe, der Durchschnittsmenschen

auf die Eindrucksfähigkeit ihrer Sinne prüfte und dabei zur Scheidung

von Form- und Farbsehern gelangte; es handelt sich um eine überwiegende

Empfänglichkeit für das eine oder andere; dazwischen steht

noch ein mittlerer Typus, der in gleichem Maße Farbe und Form

beachtet. Nachdem die Anerkennung der Kretschmerschen Konstitutionstypen

(vgl. S. 300 f.) sich durchgesetzt hatte, lag es nahe, sie mit

dieser Erscheinung in Parallele zu setzen, und ein Schüler Krohs, Robert

Scholl, hat die Übereinstimmung der Farbreaktion mit dem zyklothymen,

die der Formreaktion mit dem schizothymen Formkreis

erkannt. Nach Gerhard Pfahlers Typenlehre geht diese Unterscheidung

wiederum parallel mit der zwischen Menschen festen oder fließenden

Gehaltes. Ein Schüler Pfahlers hat nun den festen Gehalt mit der

nordischen, den fließenden Gehalt mit ostischer und westischer Rasse

in Verbindung gebracht. Man hat es auch schon umgekehrt gehört,

und jedenfalls muß die rassische Auswertung dieser Typenlehren einstweilen

zu den noch nicht ausreichend begründeten Hypothesen gerechnet

werden.



Einen eigenen Ansatzpunkt fand die Marburger Schule von E. R.

Jaensch in der schon oben (S. 302) erwähnten Erfassung eines eidetischen

Typus. Der Eidetiker besitzt die Fähigkeit, in seinem Innern

subjektive optische Anschauungsbilder von halluzinatorischer Deutlichkeit

zu erzeugen, die zwischen Nachbildern und Vorstellungsbildern in

der Mitte stehen und den Wahrnehmungsvorgang durch Eingriffe der

Vorstellung verändern. Zweifellos ist damit die erste Stufe dichterischen |#f0370 : 346|



Welterlebens erfaßt. Während nun diese Gabe besonders im

kindlichen Alter ziemlich allgemein verbreitet ist, geht sie beim Erwachsenen

zurück; aber den Dichtern bleibt sie treu und muß geradezu

als Voraussetzung ihres Phantasielebens betrachtet werden. Oswald

Kroh hat eine Reihe von Dichtern, die nach eigenem Bekenntnis

eidetische Anlage besaßen, wie Otto Ludwig, Ludwig Tieck, E. Th. A.

Hoffmann, J. V. v. Scheffel und Goethe, gemustert; aber man möchte

nun gern als Gegenprobe die Nicht-Eidetiker unter den Dichtern kennenlernen,

wenn es solche gibt. Oder sollte es sich immer nur um ein

Mehr oder Weniger an Schärfe der eidetischen Bilder handeln? Goethe

wenigstens hat darin geradezu eine Geburtsanlage alles Künstlertums

gesehen: „Es muß nämlich ihre innere produktive Kraft jene Nachbilder,

die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft

zurückgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig

hervortun, sie müssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen und

zusammenziehn, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche

Wesen zu werden.“



Zum mindesten darf das Festhalten der frühesten Kindheitseindrücke

und die Fähigkeit, sie immer neu hervorzurufen, als eine Gabe,

die allen Dichtern eignet, angesehen werden. Als ein ausgesprochener

Eidetiker hat der englische Romantiker Wordsworth, der zwischen

Meer, Bergen und Seen aufwuchs und herrliche Landschaftseindrücke

ins Leben mitnahm, mit einem visuellen Gedächtnis, das sich zu visionärer

Kraft steigern konnte, seine Dichtung von diesen Erinnerungen

zehren lassen:



the visions of the past

sustain the heart in feeling.



Für Jaensch ist inzwischen die Bedeutung des Eidetikers hinter

der des Integrierten zurückgetreten. Integration bedeutet „wechselseitige

Durchdringung und ungehemmtes Zusammenwirken der verschiedenen,

sowohl seelischen wie auch körperlichen Funktionsbereiche“.

Man kann mit Jaensch drei integrierte Typen unterscheiden:

den nach außen integrierten, der mit der sinnlich wahrnehmbaren

Umwelt kohärent ist, den bedingt Integrierten, der mit der

Außenwelt nur in Verbindung tritt, wenn sie einem gewissen festen

Kern seines Innern, vor allem seiner Werte und Ideale entspricht;

den rein nach innen Integrierten, der in Ideen wie Volk, Vaterland,

Heimat, Gemeinschaft feste Dauerkomplexe besitzt. Eine gewisse

Analogie zu den von Dilthey aufgestellten Weltanschauungstypen, von

denen später mehr zu sagen ist, scheint sich darzubieten. Wie jene |#f0371 : 347|



Dreiteilung schließlich auf Stilfragen ausgedehnt werden konnte (vgl.

oben S. 212 f.), so führt auch Jaenschs Gliederung mit Notwendigkeit

auf die Person des Dichters, die Art seines Schaffens und die Gestaltung

seiner Charaktere hin.



Diese Typologie konnte in dichterischer Charakterdarstellung eine

Bestätigung ihrer Brauchbarkeit suchen, wie an Thomas Hardys Romanen

erprobt wurde. Dabei bleibt es aber fraglich, ob eine unbefangene

Charakteranalyse, der das Schema nicht diktiert war, zu gleichen

Ergebnissen geführt hätte.



Nach Integrationstypen konnte auch die verschiedene Art dichterischen

Erlebens und Schaffens abgestuft werden, wie es Jaenschs

Schüler Berthold Leineweber in einer empirisch-psychologischen Untersuchung

unternommen hat. Dazu wurden des Dichtens beflissene Versuchspersonen

benutzt, wie sie gerade zur Verfügung standen. Es

waren acht an der Zahl, und es ist nicht gewährleistet, daß von diesen

anonym bleibenden Helfern auch nur einer in der künftigen Literaturgeschichte

sich einen Namen erwerben wird. Schwer wäre es dagegen

vorstellbar, wenn man sich einen Stefan George oder Rainer Maria

Rilke im Beichtstuhl des Experimentalpsychologen reagierend denken

sollte auf Rollettsche Platten oder Rorschachsche Klecksographien, wie

sie einstmals Justinus Kerners Phantasie anregten. Grundsätzlich wird

ausgesprochen, daß nicht Goethe oder Shakespeare, sondern nur Dichter,

deren individuelle Differenziertheit von geringerem Ausmaß sei,

für typenpsychologische Untersuchung nach sogenannten „Tests“ in

Betracht kämen. Wenn literarhistorische Grundsätze mit Bewußtsein

ferngehalten werden, so können die drei Gruppen des nach außen

integrierten kohärenten Typus, der vornehmlich dem Epos zugewandt

ist, des gefühlsmäßig nach innen integrierten kontemplativen Typus,

dessen Feld in der Lyrik liegt, und des nach innen integrierten dynamischen

Typus, der im Drama seine eigentliche Ausdrucksform findet,

keine allgemeingültige Bedeutung gewinnen, solange sie nur auf eine

so schmale Basis von Beobachtungsmaterial gegründet sind. Die Probe

steht noch aus, ob die Großen, deren Wesensart zu erfassen ist, vollzählig

in diese Gruppierung eingeordnet werden können, oder ob sich

nicht die Notwendigkeit neuer Zwischentypen von umfassenderer Art

herausstellen wird. Ein Gewinn dieser auf Lebensbeobachtung beruhenden

Typologie liegt indessen schon in der menschlichen Annäherung

an das Dichtererlebnis, die in einer mechanischen Statistik kein Genüge

finden kann.



Die statistische Methode früherer Richtungen ist weitergebildet

worden in einer Greifswalder Dissertation von Eva Langner, in der |#f0372 : 348|



die Form- und Farbbeachtung der Sinneseindrücke mit der dichterischen

Schaffensweise und der psycho-physischen Konstitution nach

Kretschmerschen Grundsätzen in Verbindung gebracht wird. Hier

werden bekannte Dichter der jüngsten Zeit einer, allerdings nur auf

Fernblick eingestellten Untersuchung unterworfen. Eine schizothyme

Reihe ist durch Binding, Dwinger, Johst, Grimm, v. Mechow, Rilke,

Emil Strauß, Tügel und Wiechert vertreten, eine zyklothyme durch

Blunck, Burte, Carossa, v. d. Goltz, Griese, v. Molo, v. Scholz, Stehr,

Timmermanns. Die körperlichen Erscheinungen sind durch Bilder

belegt und die Schaffensweise durch eigene Bekenntnisse; das Hauptuntersuchungsmaterial

aber liegt in einer statistischen Aufnahme der

Ausdrucksmittel. Es zeigt sich bei den Schizothymen ein qualvolles

Schaffen, ein persönlich forderndes Heraustreten, eine pessimistische

Grundhaltung, eine strenge Formbeachtung und ein Übergewicht

akustischer und musikalischer Qualitäten im Sprachgebrauch, während

bei den Zyklothymen naturhaftes Wachstum des Werkes mit persönlicher

Zurückhaltung, Lebensfreude und Lebensbejahung, starker Farbbeachtung

und Bevorzugung aller optisch-malerischen Stilqualitäten

verbunden sind. Dabei ist freilich nur erzählende Prosa untersucht

worden, in der nach Kretschmer die zyklothymen Pykniker das Übergewicht

hätten haben müssen. Wenn die Statistik jeder Prüfung standhält

und wenn nach den Bildern die Konstitution eindeutig festzustellen

ist, so ist mit dieser Methode immerhin der Fortschritt eines Anschlusses

der psychologischen Typenbildung an morphologische Erbfaktoren

vollzogen, und damit ist ein Schritt der Annäherung getan

an das gegebene Ziel, den Dichter in der Ganzheit seiner Erscheinung

zu erfassen.



c) Menschenkenntnis und Lebenserfahrung



Wie weit der Dichter selbst Psychologe ist, der in fremdes Seelenleben

verstehend eindringt, sich selbst in der Dichtung verstehen

lernt und aus der Dichtung sein eigenes Seelenleben verstehen läßt,

kam im ersten Buch (S. 157 f.) bei Gelegenheit der Werkanalyse zur

Sprache. Hier taucht nun die Frage auf, ob solche Fähigkeit ererbt,

erlebt oder erlernt ist. Daß die Gabe der Menschenkenntnis zum Erbgut

des Charakters gehört, ist ebenso gewiß, als daß das Leben erst die

Entwicklung und Bewährung dieser Anlage ermöglicht und daß die

Technik einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Menschen und Lebensverhältnisse

zu erlernen ist.



Die psychologischen Typenlehren führen auf einen Richtungsgegensatz |#f0373 : 349|



im Verhältnis zur Außenwelt und Innenwelt hin, der nur als Erbanlage

erklärbar ist. Der eine kann von Haus aus nicht anders, als das

Maß für die Beurteilung aller Dinge von der Außenwelt zu nehmen,

der andere nimmt es vom eigenen Ich. So hat der Psychiater Carl

Gustav Jung die Grundtypen der Extraversion und Introversion nach

der bewußten wie unbewußten Einstellung in Denken, Fühlen, Empfinden

und Intuition unterschieden und seine aus psychotherapeutischer

Praxis erwachsene Einteilung zu den von Schiller, Nietzsche, Worringer,

James u. a. aufgestellten Gegensatzpaaren in Beziehung gesetzt.

Wenn, wie wir sahen (S. 346), die Psychologie von E. R. Jaensch mit

der nach außen oder nach innen gerichteten Integration zu ähnlicher

Scheidung gelangte, so kann eine Beurteilung der Wirklichkeitseindrücke

in der Dichtung sich darauf stützen.



Die bestimmte Zuteilung jedes Dichters zu einem dieser Typen begegnet

indessen Schwierigkeiten, zumal ein Übergang von der einen

zur anderen Seinsform nicht selten ist. So hätte man den jungen

Heinrich v. Kleist, dessen Lebensplan auf Erkenntnis der Wahrheit

durch Naturstudium zielte, ohne Zweifel zu den Extravertierten und

nach außen Integrierten rechnen müssen, wenn nicht der für das

Werden des Dichters entscheidende Zusammenbruch über der Kantschen

Philosophie ihn der Introversion zugeführt hätte. Ebenso ist bei

Novalis und Hoffmann eine entscheidende Wandlung nach Innen zu

beobachten, die wohl als später Durchbruch der eigengesetzlichen Anlage

betrachtet werden muß. Von solchen umwandelnden Eindrücken

tiefgehender Erschütterungen ist erst im nächsten Abschnitt zu

sprechen.



Selbst bei einem so offenbaren Gegensatz der Anlage, wie er zwischen

Goethe und Schiller waltete, kommt es zu Wechselwirkung und

Veränderung. Jung möchte Schiller zu den Introvertierten rechnen,

ohne daß die Unterabteilung, der er zuzuordnen wäre, sich klar herausstellt;

als Dichter ist er intuitiv; als Denker erlebt er den typischen

Konflikt des introvertierten Typus zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit.

Schiller war sich dessen selbst bewußt, als er an Goethe schrieb,

der Poet übereilte ihn, wo er philosophieren sollte, und der philosophierende

Geist, wo er dichten wollte: „Auch jetzt begegnet es mir

häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktion, und der

kalte Verstand meine Dichtung stört.“ Durch Goethes Vorbild fühlte

er sich aus diesem Doppelzustand erlöst. Goethe wiederum dankte

Schiller, daß er ihn von der allzu strengen Beobachtung der äußeren

Dinge auf sich selbst zurückgeführt habe. „Sie haben mich die Vielseitigkeit

des inneren Menschen mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt.“ |#f0374 : 350|



Solche Bekenntnisse zeigen die Möglichkeit von Ergänzung

und Umbiegung der Anlagerichtung.



Bei Goethe vermutet Jung eine Zugehörigkeit zum extravertierten

Typus, die aber nur durch ausgedehnte und sorgfältige Untersuchung

und Analyse der Biographie bewiesen werden könnte. Von Jaensch

wird Goethe als sichtbare Vollendung des ersten Integrationstypus,

also der nach außen gerichteten Kohärenz mit der wahrnehmbaren

Umwelt, angesehen. Goethe selbst aber hat noch im Alter sich den

Befreier der Deutschen genannt, weil er in seinem Schaffen offenbart

habe, daß der Künstler wie der Mensch überhaupt von innen heraus

leben und nichts anderes zutage fördern könne als seine Individualität.



Ein anderes Mal soll Goethe über die Entstehung seines „Faust“ zu

Eckermann gesagt haben, er sei zwar für Bilder von Art der „feuchten

Glut der unvollkommenen Scheibe des späten Mondes“ auf Naturbeobachtung

angewiesen, aber Stimmungen wie den düsteren Zustand

des Lebensüberdrusses im Helden sowie die Liebesempfindungen Gretchens

habe er durch Antizipation in seiner Macht gehabt. Es ist fraglich,

ob Eckermann Goethes Ausspruch ganz richtig wiedergegeben hat;

wenigstens würden wir die innere Schau der Gestalten und die folgerichtige

Führung ihres Handelns eher Intuition nennen, während das,

was Goethe sonst als Antizipation zu bezeichnen pflegt, sich erst verwirklicht,

wenn zuvor Gedichtetes sich im Leben wiederholt und die

Lebenswahrheit des Gestalteten dadurch Bestätigung findet.



Goethe erblickte in der inneren Vorwegnahme des Lebens durch

Gestaltung das eigentliche Geheimnis seines Schöpfertums. Der Dichter,

so sagte er in den „Tag- und Jahresheften“, nähme durch Antizipation

die Welt vorweg, so daß die auf ihn losdringende wirkliche

Welt unbequem und störend für ihn werden können, weil sie ihn

zwingen will, das, was er schon hat, sich zum zweiten Male, aber anders

zuzueignen. Denselben Gedanken hat Nietzsche unter dem Titel „Die

Vorwegnehmenden“ in seiner „Morgenröte“ verallgemeinert: „Das

Auszeichnende, aber auch Gefährliche in den dichterischen Naturen

ist ihre erschöpfende Phantasie: die welche das, was wird und werden

könnte, vorwegnimmt, vorweg genießt, vorweg erleidet und im endlichen

Augenblick des Geschehens und der Tat bereits müde ist.“



Als Dichter des „Götz“ war Goethe zehn Jahre nach Abfassung

seines Jugendwerkes erstaunt über die Kenntnis mannigfaltiger menschlicher

Zustände, die er bereits als Zweiundzwanzigjähriger ohne Welterfahrung

durch Antizipation besaß. Auf der italienischen Reise wollte

er eine seiner Frühdichtungen als Antizipation erkennen, da er in

einem Wirtshaus genau dieselben Familienverhältnisse vorzufinden |#f0375 : 351|



glaubte, die er bereits in seinem Lustspiel „Die Mitschuldigen“ dargestellt

hatte. In „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ heißt es geradezu,

daß dem Dichter überhaupt „nichts in der Welt zur Anschauung

komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt.“ Und jene von

Eckermann vermittelte Äußerung wiederholt es, daß „die Regionen

der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die

Zustände und Leidenschaften der Seele heißen“, dem Dichter angeboren

seien, weshalb ihm ihre Darstellung gelinge.



Die Verschmelzung von Wirklichkeitsbeobachtung und Phantasie

ist auch in einer anderen Äußerung Goethes zu erkennen: „Wenn ich

jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwei

Stunden reden lassen.“ Einem phantasievollen Kinde, wie es Gottfried

Keller war, wurde derartiges Verhalten, das den werdenden Dichter

erkennen ließ, als Lügenhaftigkeit ausgelegt. Auch Grillparzer beschuldigte

sich in jungen Jahren des Wohlgefallens an der Lüge, und

Hebbel mußte gestehen, daß er ohne böse Absicht oftmals Menschen

seiner Bekanntschaft Redensarten untergelegt hatte, die sie nie gebrauchten.

Er sah darin eine Äußerung seines dichterischen Vermögens,

das in der Charakterauffassung eigenschöpferisch wurde: „Wenn ich

von Leuten spreche, die ich kenne, besonders dann, wenn ich sie

andern bekanntmachen will, geht in mir derselbe Prozeß vor, wie

wenn ich auf dem Papier Charaktere darstelle; es fallen mir Worte

ein, die das Innerste solcher Personen bezeichnen, und an diese Worte

schließt sich dann auf die natürlichste Weise sogleich eine Geschichte.“



Die Psychologie gerichtlicher Zeugenaussagen erweist das retuschierende

Mitwirken der Phantasie an jeder Erinnerung als unvermeidlich

und allgemein menschlich. Die hier gegebene Verbindung von Beobachtung

und Einfühlung, von Erfahrung und Phantasie, von Nachzeichnung

und sich frei machendem Schöpfertum bedeutet dagegen

eine über unbewußte Selbsttäuschung hinausgehende Steigerung, die

bezeichnend ist für die von Goethe behauptete Zwischenstellung des

Dichters zwischen Wahrheit und Lüge (vgl. S. 316). Die Verschmelzung

stellt sogar die absolute Anwendbarkeit der Extraversions- und Introversionstypen

in Frage. Nicht das Extrem der einen Richtung, sondern

die Polarität ist in jedem Dichter vertreten. Mögen rein extravertierte

und rein introvertierte Menschen im Leben vorkommen, beim

Dichter kann nur das relative Übergewicht der einen oder anderen

Richtung oder die Synthese beider in Erscheinung treten. Weder eine

phantasie- und stimmungslose Wiedergabe von Wirklichkeitseindrükken,

noch eine Phantastik, der jede gestaltende Beziehung zur Außenwelt

fehlt, kann als Dichtung wirken und anerkannt werden.

|#f0376 : 352|



2. Das Erlebnis



Während die experimental-psychologischen Methoden bemüht sind,

von der Basis normaler Lebensvorgänge aus sich an deren dichterische

Steigerung heranzutasten, kommt die geisteswissenschaftliche Strukturpsychologie

von der anderen Seite und befragt die Dichter selbst, um

aus der Deutung ihrer Werke und aus der Selbstbeobachtung ihrer

Schaffensweise in das Wesen der dichterischen Einbildungskraft einzudringen.

„Die Vorgänge“, so sagt Wilhelm Dilthey, „liegen in der

schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die wirkenden Kräfte

scheinen noch lebendig in dem Erzeugnis zu pulsieren. Die Vorgänge

vollziehen sich heute wie zu jeder früheren Zeit; der Dichter lebt vor

unserem Auge, Zeugnisse über sein Schaffen liegen vor. So kann das

dichterische Bilden, seine psychologische Struktur und seine geschichtliche

Variabilität besonders gut studiert werden.“



Schlüssel zur Enträtselung des dichterischen Schaffens wird für

Dilthey der Begriff des Erlebnisses, den er zuerst in seinem Aufsatz

über „Goethe und die dichterische Phantasie“ als Kernproblem auffaßte.

„Der Gehalt einer Dichtung, welche das einzelne Geschehnis

zur Bedeutsamkeit erhebt, hat seine Grundlage in der Lebenserfahrung

des Poeten und dem Ideenkreis, der sich an sie angeschlossen hat. Der

Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer das Erlebnis und

die Besinnung über dasselbe in der Lebenserfahrung.“ Goethe selbst

hatte dazu den Weg gewiesen, indem er das Erleben vom Leben trennte

und bereits als produktives Gestalten auffaßte. Auch ein Schillerscher

Gedanke aus den „Briefen über die ästhetische Erziehung des

Menschen“, wonach die Gestalt Leben werden müsse und das Leben

Gestalt, fügt sich mit einer leichten Korrektur ein, indem Leben durch

Erlebnis ersetzt wird; Dilthey spricht von dem Schillerschen Gesetz,

das eine Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt zum

Erlebnis beständig stattfinden läßt.



a) Leben und Erleben



Die Unterscheidung des inneren Erlebnisses vom äußeren Leben

wurde auch in der Dichtung um die Wende des Jahrhunderts aufgegriffen.

Aus dem Erlebnis dieses Gedankens ist Hofmannsthals

Spiel „Der Tor und der Tod“ hervorgegangen, dessen Held Claudio

wie Goethes Faust nur so durch die Welt gerannt ist; erst bei seinem

Ende wird er sich bewußt, daß er das Erdendasein nur gelebt, nicht |#f0377 : 353|



erlebt habe, und nun erst wird ihm der Tod zum Erlebnis. Wirklich

erleben können nur die Künstler, denen Desiderio im „Tod des Tizian“

die Alltagsmenschen gegenüberstellt:



Und liegen wir im tiefen Schlaf befangen,

So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht:

Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen,

Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern ─

Sie aber schlafen wie die Austern dämmern.



Das Verhältnis von Leben und Erleben beruht im Unterschied der

seelischen Anteilnahme, der Intensität und Dauer der Eindrücke und

ihrer gefühlsmäßigen Verinnerlichung. Erleben kommt zustande

durch künstlerische Auffassung des Lebens mittels der Einbildungskraft,

durch phantasievolles Weiterspinnen und vorahnendes Gestalten.

Dilthey hat es als ein Gesetz bezeichnet, unter dem der Dichter stehe,

daß nur die Mächtigkeit und der Reichtum seiner Erlebnisse das Material

echter Poesie gewähre. Das heißt: der wahre Künstler kann

nichts darstellen, was er nicht in seinem Inneren erlebt hat, und er

kann nichts erleben ohne Antrieb und Zwang zur Gestaltung. Jedes

Erlebnis muß Stoff werden, der nach Gestaltung drängt. Jeder Stoff

muß Erlebnis werden, um zur Gestaltung zu gelangen. Erlebnis ist

Besessenheit von einem Stoff und seinen Problemen; Gestaltung ist die

Befreiung vom quälenden Zwang des Erlebnisses.



Voraussetzung ist die Erlebnisfähigkeit des Künstlerherzens, die

mehr bedeutet, als die Sinnesempfänglichkeit, von der im ersten Abschnitt

dieses Buches die Rede war (S. 338). Durch sein Gefühlsleben,

das ihn eigenes wie fremdes Leid, eigene wie fremde Freuden mit

voller Hingabe durchkosten läßt, ohne Genüge zu finden, wird der

Künstler nach Goethes Wort zum Liebling der Götter:



Alles geben die Götter,

die unendlichen,

ihren Lieblingen ganz:

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.


Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das

in der Mitte liegende holde Bescheiden für sich in Anspruch nimmt,



Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden

Mich nicht überschütten,


so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher

Erlebnisempfänglichkeit.

|#f0378 : 354|



b) Strukturpsychologische Typenlehren



Wie die Eindrucksfähigkeit, von der im ersten Abschnitt die Rede

war, zwei einander scheinbar widersprechende Phasen in sich schließt,

den Hunger nach Lebenseindrücken und Erfahrungen, sowie den

Abschluß von der Wirklichkeit, so sind mit Dilthey auch zweierlei

Arten von Erlebnissen anzunehmen: als erstes das Erfassen der konkreten

Wirklichkeit, der äußeren Tatsachen und Situationen des Daseins,

als zweites die innere Erfahrung geistiger und seelischer Art.

Je nach dem Übergewicht des einen oder anderen nimmt der Phantasievorgang

eine andere Richtung; entweder wird die äußere Tatsächlichkeit

verinnerlicht, oder es wird der subjektive Zustand im

Symbol eines äußeren Vorgangs versinnbildlicht.



Nach dem relativen Vorwalten dieser entgegengesetzten Richtungen,

des Weges von außen nach innen oder des Weges von innen nach

außen, unterschied Dilthey Typen des objektiven und subjektiven

Dichters. Damit war das vorweggenommen, was psycho-analytische

und experimentelle Seelenkunde später ohne besondere Rücksicht auf

den Dichter als Extraversion und Introversion oder als Typen der

Integration unterschied (vgl. oben S. 348 f.). Die Zweiteilung findet

sich schon bei Schiller als naiv und sentimentalisch, bei dem Romantiker

Friedrich Schlegel als objektiv und interessant, bei Schleiermacher

als Werkbildner und Selbstbildner, bei Otto Ludwig als Sachdichter

und Ich-Dichter. Für die einen steht, wie bei Shakespeare, der

Geist der Sache im Vordergrund, für die andern, wie bei Schiller, der

eigene Geist; nach Otto Ludwig verherrlicht der eine seine Objekte,

der andere sich selbst. Dilthey nennt als Beispiele der einen Reihe die

Realisten Shakespeare, Cervantes, Dickens; für die andere die Romantiker

Rousseau, Novalis, Byron. Goethe dagegen, dem der Rhythmus

des Ein- und Ausatmens wie die Bewegung des Blutumlaufs in Systole

und Diastole Symbole der Polarität und des Gleichgewichts von Innen-

und Außenwelt geworden sind, hat seinen Platz in der Mitte. Gehörte

er als Stürmer und Dränger zum subjektiven Typus, so entwickelte

er sich mit der Reife immer mehr zum gegenständlichen Auffassen der

Welt, so daß seine Erlebnisform das vollendete Gleichgewicht zwischen

seelischem Zustand und objektiver Gegebenheit erreichte, bis im Alter

wieder das innere Leben zum Übergewicht gelangte.



Die Dreiteilung steht in einem gewissen Zusammenhang oder mindestens

in Parallele mit jenen Weltanschauungstypen, nach denen

Wilhelm Dilthey die metaphysischen Systeme gliederte, indem er sie

auf Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Zwecksetzung befragte. |#f0379 : 355|



Sein Lehrer Trendelenburg war darin vorangegangen; aber

unabhängig von dessen Anregungen findet sich schon in Diltheys Jugendaufzeichnungen

(1852) der keimhafte Ansatz zu einer Gruppierung,

in die er damals bereits die Verschiedenheiten des religiösen

und dichterischen Weltbildes einfügte. Weil die Dichtung grenzenlose

Möglichkeiten zeigt, das Leben zu sehen, zu werten und schaffend fortzugestalten,

sollten die Typen der Metaphysik in den Typen dichterischer

Weltanschauung ihre Vorbereitung finden und ihren Einfluß

durch Verbreitung auf die ganze Gesellschaft vermitteln. Diltheys

Nachfolger gingen noch weiter und suchten das Dreitypensystem auch

auf anderes künstlerisches Schaffen, z. B. Malerei und Musik, zur Anwendung

zu bringen (vgl. S. 212 f.).



Der erste Typus eines Naturalismus oder Materialismus oder eines

auf Naturerkenntnis gegründeten Positivismus, dem die Philosophen

Demokrit, Lukrez, Epikur, Hobbes, Comte, Avenarius zuzuzählen

waren, fand seine dichterische Vertretung bei Stendhal und Balzac,

die im Leben „ein aus der Natur selbst absichtslos, in dunklem Trieb

geschaffenes Gewebe von Illusionen, Leidenschaften, Schönheit und

Verderben“ sahen, in dem der starke Wille seiner selbst den Sieg

behält.



Für den zweiten Typus des objektiven Idealismus und Pantheismus,

der in der Philosophiegeschichte von Heraklit und der Stoa bis zu

Shaftesbury, Schelling und Hegel repräsentiert war, bot sich das dichterische

Beispiel in Goethe, der das Leben ansah als „eine gestaltende

Kraft, welche die organischen Gebilde, die Entwicklung der Menschen

wie die Ordnungen der Gesellschaft zu einem wertvollen Zusammenhang

vereinigt.“



Der Idealismus der Freiheit, als dritter Typus philosophischer

Weltanschauung vertreten durch Platon, die hellenistisch-römische

Philosophie der Lebensbegriffe und die christliche Spekulation, wie

später durch Kant, Fichte, Carlyle, schöpft seine Weltauffassung aus

dem freien Willen und verficht die Unabhängigkeit des Geistes von

der Natur. Als seine dichterischen Repräsentanten werden Corneille

und Schiller genannt, die im Leben den Schauplatz heroischen Handelns

erblicken.



Mehr als die ihr folgenden systematischen Weiterbildungen nahm

Diltheys Typologie von Anfang an Bezug auf konkrete Erscheinungen

und bot die Möglichkeit sowohl der geschichtlichen als der völkerpsychologischen

Anwendung. Wenn man aber die ganze Fülle individueller

Ausprägungen in diese Gliederung einordnen wollte, so machte

sich, wie schon oben (S. 212 f.) bei Betrachtung der Stilform zu sagen |#f0380 : 356|



war, eine weitere Differenzierung notwendig. Rudolf Unger hielt es

beispielsweise für angebracht, zwei Arten des objektiven Idealismus

(Typus 2) zu unterscheiden: eine mehr dem Naturalismus zugewandte,

die im naturhaften, ungebrochenen Gefühl der Einheit,

Harmonie und Vernunft des Weltalls lebt; eine andere dem Idealismus

der Freiheit näher stehende, „die die ethische Tatsache des Bruches,

der Sünde, der „Natur in Gott“ (Jakob Böhme) in ihr Bewußtsein

aufnimmt, ohne darum irgend die Grundthese des objektiven Idealismus

von der organischen Einheit und Wirklichkeit der Welt aufzugeben“.

Entsprach das eine dem griechischen und Goetheschen

Typus, das andere dem der Schelling und Hegel, so war damit zu einer

Scheidung des klassischen und des romantischen Weltbildes überzuleiten.

In ähnlicher Weise hat Max Wundt mit Rücksicht auf geschichtliche

Systeme der Philosophie den objektiven Idealismus und

den subjektiven, der sich mit Diltheys Idealismus der Freiheit deckt,

übersteigert durch eine dritte Gestalt des absoluten Idealismus, dem er

den Neuplatonismus sowie Fichte, den späten Schelling und Hegel

zuordnete.



Als Systematiker ergänzte Hans Leisegang in seinen „Denkformen“

die drei Weltanschauungstypen zur Vierzahl, indem er neben die kosmisch-organische

(Typus 2) und ethisch-persönliche (Typus 3) eine

physisch-mechanische und eine rational-mathematische Richtung des

Welterkennens stellte. Damit war eine Spaltung des ersten Diltheyschen

Typus vorgenommen.



In praktischer Anwendung auf die Charakteristik einzelner künstlerischer

Erscheinungen gelangte schließlich Hermann Nohl über Dilthey

hinaus zu fünf Typen, indem er als weiteren trennenden Gesichtspunkt

die Spannung zur realen Welt einführte. Danach mußte sich

sowohl der Idealismus der Freiheit auflösen in Typen der Verklärung

(Platon, Schiller) und der Versöhnung (Hölderlin, Hegel), als auch

der Naturalismus auseinandergehen durch Teilung zwischen einem

nüchternen Realismus ohne Spannung (Adolf Menzel) und einem Naturalismus

mit Spannung, der in grausiger Dissonanz oder zynischer

Satire endet (Goya, Hogarth, Dix, Groß).



Durch die vorgeschlagenen Teilungen wird die Dreizahl der Diltheyschen

Typen zum mindesten verdoppelt, und weitere Spaltungen wären

durchaus möglich, je mehr auf individuelle Erscheinungen Rücksicht

genommen wird. Daß der Platz, der einem Schelling, Hegel oder Hölderlin

zuzuweisen ist, bei den verschiedenen Beurteilungen wechselt,

erweckt ein gewisses Mißtrauen gegen die Schärfe der begrifflichen

Erfassung.

|#f0381 : 357|



Schließlich könnte man versucht sein, in einem ähnlichen Kreisschema,

wie es oben (SS. 125, 230) für Gattungen und Stilformen

aufgestellt wurde, Übergänge von einem Typus zum andern zu eröffnen.

So spricht Müller-Freienfels im Schlußkapitel seines Buches über

„Persönlichkeit und Weltanschauung“ die Meinung aus, die psychologischen

Typen würden „in ihrer relativen Berechtigung und gegenseitigen

Ergänzung über die bloße Zufälligkeit emporgehoben werden

und sich zu einem geschlossenen Kreise runden, der nach den Möglichkeiten

der menschlichen Begabung die Welt allseitig umspannt.“ Und

Rothackers Besprechung der Diltheyschen Typen, die dahin führt, daß

der radikale Idealismus mit dem radikalen Naturalismus im gleichen

Wirklichkeitsbegriff zusammentrifft, so daß die Extreme sich berühren,

gelangt ebenfalls zu einer in Kreisform verlaufenden dialektischen

Bewegung.



Geprägte Formen, wie sie in Gattungen und Stilrichtungen sich darstellen,

sind indessen leichter zu typisieren als menschliches Verhalten,

das erst durch Typisierung zur Form geprägt wird. Der Kreis müßte

sehr groß sein, um auf seiner Peripherie so viele Sektoren sichtbar

werden zu lassen, als der vollständige Überblick verlangt. Am Ende

wären bei weiter gehender Teilung gar keine ideellen Typen mehr in

ihrer Lebensrichtung zu erfassen, sondern Persönlichkeiten. Weltanschauungen

würden sich in vielfältige Weltbilder auflösen. Eine

Differenzierung aber, die allen individuellen Erscheinungsformen gerecht

werden wollte, würde den eigentlichen Sinn der Typologie, die

auf denkbarste Vereinfachung der Grundverhältnisse gerichtet sein

muß, aufheben. Ist die strukturpsychologische Durchleuchtung des

Inneren einem körperlichen Röntgenbild zu vergleichen, so teilt sie

mit diesem die Beschränkung auf ein schematisches Gerüst, dessen

schattenhafter Erscheinung die individuellen Farben fehlen müssen.



Wenn strukturpsychologische Systeme wie die von Karl Jaspers

und Richard Müller-Freienfels zur Vollständigkeit einer alle Menschenart

umfassenden Typisierung zu gelangen suchen, so weisen sie

der seelischen Haltung und dem Welterleben des Künstlers keinen

besonderen Platz zu; sie erblicken vielmehr in seiner verschiedenartigen

Anlage nur die Steigerung normalen Verhaltens.



Dagegen hat Diltheys Schüler Eduard Spranger dem ästhetischen

Menschen als idealem Grundtypus der Individualität eine eigene

Lebensform zugesprochen, für deren Grundrichtung er wieder drei

Möglichkeiten annimmt. Nicht allgemeine Grundsätze wie beim theoretischen

Menschen, nicht Nützlichkeitserwägungen wie beim ökonomischen,

nicht Selbstverleugnung wie beim sozialen Menschen, nicht |#f0382 : 358|



realpolitische Ziele wie beim Machtmenschen, nicht Abstandgefühl von

Gott, wie beim religiösen Menschen, bilden die Dominante seines

Wesens, sondern seine eigenste Lebensform liegt darin, daß er jeden

Eindruck zum Ausdruck formt, daß er sich auslebt in der Phantasiesphäre

der Kunst und daß der Formwille für ihn allein bestimmend

ist. Die drei Spielarten, mit denen sein Verhältnis zur Welt in Erscheinung

tritt, entsprechen sowohl den Diltheyschen Weltanschauungsrichtungen

wie den oben (S. 346 f.) besprochenen Typen experimentalpsychologischer

Beobachtung: zwischen den Gegenpolen einer

lebenshungrigen Hingabe an die äußere Welt und eines von innen nach

Ausdruck drängenden und den Lebenseindrücken zuvorkommenden

Ausströmens der Gefühlswelt liegt das Gleichgewicht des klassischen

Menschen, der die Entfaltung seines Ich mit einem Assimilieren der

Lebenseindrücke verbindet, in innerer Form sich bildet, die Harmonie

seines Wesens in die Dinge hineinsieht, die Einfühlung eines ästhetischen

Pantheismus als seine Religion betrachtet und sein ganzes Leben

zum Kunstwerk gestaltet.



Die ästhetische Seelenstruktur in ihren drei Verhaltensweisen ist

keineswegs auf den schaffenden Künstler allein beschränkt, aber sie

bildet die Grundlage seines Wesens und Schöpfertums und leitet über

zu den Stilrichtungen der Erlebnisgestaltung.



c) Erlebnisinhalt



Zu einer Teilung des Erlebnisbegriffes kam es, als mit Friedrich

Gundolfs Goethe-Werk die Begriffe Urerlebnis und Bildungserlebnis

in Kurs gesetzt wurden. Urerlebnisse wurden die Erschütterungen

genannt, denen der Mensch kraft seiner Struktur ausgesetzt ist; als

Bildungserlebnisse wurden die geistig-geschichtlichen Einflüsse und

Begebnisse wie die schon geformten Anschauungen aus Kunst, Wissenschaft

und Religion bezeichnet; daneben sollte noch eine Reihe

langsam und heimlich bildender Mächte zur Geltung kommen, die

weder als Urerlebnisse, noch als Bildungserlebnisse bezeichnet werden

können, weil sie weder in der Wesensart des Menschen gegeben sind,

noch etwas Geformtes, Geistiges darstellen: es sind die Zustände wie

Haus, Familie, Stadt, Landschaft, Volk gemeint.



Nun kann man heute das eigene Volk weder zu den Zuständen

rechnen, noch faßt man es als ein von außen eindringendes Erlebnis

auf; die Volkszugehörigkeit hat vielmehr wesentlichen Anteil an der

Struktur des Menschen. Als Blutsgemeinschaft und als Schicksalszusammenhang,

in den er hineingeboren ist, umschließt das Volk den |#f0383 : 359|



Dichter. Er ist ein Glied dieses Organismus, und nur wenn er an seiner

Emanation, dem Volkstum, bisher nicht teilhatte, kann es zum Erlebnis,

ja zum Urerlebnis für ihn werden, wie es etwa Goethe im Elsaß

erfahren durfte. „Deutschheit emergiert“ schrieb er darüber in der

ersten Skizze zu „Dichtung und Wahrheit“.



Den Begriffen Urerlebnis und Bildungserlebnis, die lediglich zu dem

einzelnen in Beziehung zu setzen sind, muß man das Gemeinschaftserlebnis

gegenüberstellen. Auch hier handelt es sich nicht um Zustände.

Was sich an Naturkatastrophen, Kriegsgeschehnissen, politischen Umwälzungen,

Entdeckungen oder Erfindungen als Schicksal ganzer

Völker und Zeitalter darstellt, kann sich in Wandlungen des Weltbildes

auswirken und so zur langsam und heimlich ihren Einfluß ausübenden

Bildungsmacht werden, aber es wird zuvor für jedes einzelne

Glied der Gemeinschaft, das unter dem Eindruck solchen Geschehens

steht und persönliche Stellung dazu sucht, ein unmittelbares Erlebnis.

Das Erdbeben von Lissabon beispielsweise, das dem Aufklärungsoptimismus

des 18. Jahrhunderts einen so schweren Stoß versetzte,

übte seine seelische Erschütterung zuerst auf Einzelne aus, z. B. auf

Voltaire. Das andere Erdbeben der französischen Revolution verpflanzte

seine Bewegung nach Deutschland; aber gerade in der Beobachtung

der Massenpsychose, die auch deutsche Jünglinge den Freiheitsbaum

taumelnd umtanzen ließ, konnte es für einen Goethe, der

in seiner Struktur erschüttert und immer mehr abgestoßen wurde, zum

problematischen Erlebnis werden, mit dem er sich jahrelang dichterisch

auseinanderzusetzen hatte (Der Großkophtha, Der Bürgergeneral,

Die Aufgeregten, Reineke Fuchs, Das Mädchen von Oberkirch,

Hermann und Dorothea, Die natürliche Tochter).



In diesen und anderen Fällen geht Gundolfs Unterscheidung weder

im Theoretischen noch in der praktischen Anwendung rein auf. Unter

Benedetto Croces Einfluß sollten die Dichtungsgattungen des Altertums

als überlebte Anschauungen preisgegeben werden, zugunsten

einer neuen Dreiteilung, die durch den Intensitätsgrad des Erlebnisses

bestimmt war. Es wurde eine Stufenfolge von Lyrik, Symbolik, Allegorik

hingestellt, die nicht ganz folgerichtig war, insofern wieder ein

Gattungsname Anwendung fand, dessen neuer Gebrauch mit dem herkömmlichen

in verwirrender Weise sich kreuzte. Gundolf rechnete

auch „Werther“ und „Urfaust“ zur Lyrik, in der er keinen Gattungs-

und Formbegriff mehr sah, sondern eine Erlebnisform. Die Lyrik sollte

die Urerlebnisse Goethes enthalten, dargestellt im Stoff seines Ich.

Wir sehen aber am „Werther“, daß das Ich nicht den Stoff, sondern

die Form hergab, und am „Faust“, daß der Stoff der alten Sage, dessen |#f0384 : 360|



Kenntnis als Bildungserlebnis bezeichnet werden könnte, erst allmählich

eine Reihe von Motiven und Problemen in sich aufnahm, in denen

sich Urerlebnisse des Dichters spiegelten. Der faustische Mensch aber,

wie ihn Oswald Spengler als neuzeitliches Kultursymbol auffaßte, ist

eigentlich bereits ein Urerlebnis der Renaissance gewesen.



Eine zweite Reihe Goethescher Schöpfungen, wie „Iphigenie“,

„Tasso“, „Die römischen Elegien“, wurden von Gundolf zur Symbolik

gerechnet, die die Urerlebnisse des Dichters darstellt im Stoffe einer

Bildungswelt. Die drei Beispiele bedeuten verschiedene Abwandlungen

des Begriffes Bildungswelt. Im einen Fall sind es Mythen und Sagen,

die bereits in dichterischer Gestaltung vorlagen. Im zweiten Fall sind

es geschichtliche Persönlichkeiten, denen die Lebenslage des Dichters

sich verwandt fühlen konnte, und zwar ist dies beim „Tasso“ viel

mehr der Fall als beim „Götz von Berlichingen“, der aus der ersten

Periode stammt. Im dritten Fall ist es die freie Lebens- und Liebesauffassung

einer vergangenen Kultur, mit der sich zwei andere Erlebnisse

des Dichters verbanden, nämlich Rom und Christiane. Soll man

nun Rom als Bildungserlebnis oder als Urerlebnis Goethes betrachten?



Die dritte Gruppe, die durch Goethesche Altersdichtungen, wie den

zweiten Teil des „Faust“, „Pandora“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“

vertreten ist, wird Allegorik genannt und soll abgeleitete Erlebnisse

im Stoff einer Bildungswelt darstellen. Dabei ist neu der

Begriff des abgeleiteten Erlebnisses, den man nur so verstehen kann,

daß die Urerlebnisse nicht mehr als solche wirken, sondern sich verloren

haben, indem sie in allgemeine Lebenserfahrung und Weltbild

des Dichters übergegangen sind.



So bestechend diese Darstellung wirken konnte durch die Erfassung

der Gestalt im Zusammenklang von Leben und Dichtung und durch

die organische Grundlinie einer zunehmenden Entfernung vom Urerlebnis,

so bedeutete Gundolfs Erlebnistheorie doch kaum mehr als

eine geschickte Improvisation zwecks Bewältigung der einmaligen Darstellungsaufgabe.

Jede Gültigkeit als allgemein anwendbares System

ist diesen willkürlich aufgestellten und kaum völlig durchdachten Erlebniskategorien

abzusprechen; es ist bezeichnend, daß der Verfasser

selbst in keinem weiteren Werk mehr davon Gebrauch machte, sondern

in seinem späteren verzerrten Kleist-Bild geradezu den Zusammenhang

zwischen Erlebnis und Dichtung bestritt.



Vor allem bleibt die geringe Bewertung des Bildungserlebnisses

bedenklich im Hinblick auf anders gelagerte biographische Aufgaben.

Die Bekanntschaft mit einem philosophischen System, einem politischen

Ideenvermittler, einem religiösen Führer oder einer großen Dichtung |#f0385 : 361|



kann stärker als irgendein Liebeserlebnis die ganze Struktur des Daseins

erschüttern. So bedeutet das Erlebnis der mißverstandenen Kantschen

Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung

Heinrich v. Kleists; der bisherige Lebensplan, der sein einziges

und höchstes Ziel gebildet hatte, sank zusammen, während die dichterische

Tat als neue Lebensaufgabe sich Bahn brach. Eine positivere

Offenbarung erlebte Schiller, für den der Freiheitsgedanke, den er als

physisches Postulat seit der Unterdrückung seiner Jugend in sich trug,

durch Kants Lehre zur Idee moralischer Freiheit erhoben wurde. Wenn

man nun Schillers Gedankenlyrik zur Goetheschen Erlebnislyrik in

Gegensatz stellt, so wird man ihr den Erlebnisgehalt keineswegs abstreiten

können; nur ist weniger das Erlebnis selbst als vielmehr sein

Ergebnis in der Dichtung gestaltet.



Nicht minder umwälzend als das Kant-Erlebnis für Schiller und

Kleist ist für Hölderlin der Eindruck Fichtes, für Gottfried Keller

der der Feuerbachschen Philosophie geworden; diese Gedankenerlebnisse

stellt Ermatinger als charakteristisch für die Erlebnisart des

Lyrikers und des Epikers dem dramatischen Kant-Erlebnis Kleists

gegenüber.



Wenn sinnliche Erlebnisse, Begriffserlebnisse und Ideen-Erlebnisse

zu unterscheiden sind, so gehen die ersten, deren irrationaler Charakter

sich schwer in Begriffe auflösen läßt, unmittelbar in die Dichtung

über und können deren Stoff werden. Es gehört, wie oben

(S. 114, 124, 175) gesagt wurde, zum Gattungscharakter der Lyrik,

daß sie keinen von außen überkommenen Stoff braucht, sondern das

Erlebnis unmittelbar gestaltet. Die Erfahrung philosophischer Begriffe,

die als zweite Kategorie gelten muß, bleibt der unmittelbaren

dichterischen Anschauung ferner; aber sie kann zu einer die Probleme

beleuchtenden Aussprache gebracht werden, sowohl in der dramatischen,

als in der epischen Dichtung, namentlich im Roman. Ordnet

sich in der dritten Kategorie das Gefühlserlebnis einem Ideenzusammenhang

ein, so kann das Begriffliche zur Anschauung gelangen,

und die Anschauung ist begrifflich zu fassen. Die Spannung aber führt

zu Problemen, die vor allem als Triebfedern der dramatischen Dichtung

zur Wirkung gelangen.



d) Erlebnisqualität



Emil Ermatingers Poetik, die „das dichterische Kunstwerk“ aus

den Erlebnissen herleitet, erweitert die Terminologie, indem Gedankenerlebnis,

Stofferlebnis, Formerlebnis als eine Kette aneinander

gereiht werden, so daß sich beinahe der ganze Schaffensvorgang an |#f0386 : 362|



diesen Anhaltspunkten wie ein Rosenkranz herunterbeten läßt. Indessen

besteht die Beziehung dieser Erlebnisphasen zueinander nur

in ihrem zusammenhängenden Anteil am einzelnen Werk; man könnte

in diesem Sinn auch andere Elemente der Analyse, die das erste Buch

überblickte, in die Reihe einfügen und von Situationserlebnis, Charaktererlebnis,

Motiverlebnis, Problemerlebnis, Ideenerlebnis, sprechen;

man hätte dann in jedem Werk einen Komplex von Erlebnissen, ohne

daß das, was persönlich ist, nämlich die emotionale Erschütterung, die

eine Voraussetzung jedes Erlebnisses bildet, bei dieser Übersicht zur

Geltung käme.



Vom Dichter aus gesehen sind von der größten Bedeutung jene

inneren Erfahrungen, die nicht nur in einem einzelnen Werk Gestaltung

finden, sondern im gesamten Schaffen, in der Bildung der Persönlichkeit

und im Aufbau des Weltbildes. Man wird die Tiefe eines

Erlebnisses nicht aus dem einzelnen künstlerischen Niederschlag, sondern

aus dem ständigen Nachschwingen, aus der Häufigkeit der

motivischen Anklänge, aus der Nachhaltigkeit und unvergänglichen

Dauer zu ermessen haben. Dabei kommt nicht nur das individuelle

Erlebnis, das mit seiner tiefdringenden Wirkung einen Menschen innerlich

völlig umformen kann, in Betracht, wie etwa der Tod der Sophie

v. Kühn für Novalis, oder die Künstlerliebe zu Julia Marc für Hoffmann

─ Ereignisse, die in ihrer Auswirkung weder als Stoff-, Form-,

Gedanken- oder Ideenerlebnisse zu charakterisieren sind, sondern als

Zentralerlebnisse einer Lebenswende. Es werden auch typische Erlebnisse

einer Altersstufe, einheitliche Bewegungen einer Generation

oder geistesgeschichtliche Ereignisse, wie das eindrucksvolle Auftreten

einer großen Persönlichkeit oder die mitreißende Wirkung einer Dichtung,

die den Nerv der Zeit trifft, zu berücksichtigen sein, z. B. das

Rousseau-Erlebnis oder die Werther-Stimmung für Sturm und Drang

und Empfindsamkeit, das Wagner-Erlebnis für Nietzsche, das Nietzsche-Erlebnis

für die Naturalisten.



Eine weitere Differenzierung des Erlebnisbegriffes vollzog Richard

Müller-Freienfels, indem er den Vorgang gliederte in Erlebnis-Akt,

Erlebnis-Inhalt und Erlebnis-Gegenstand. Das erste findet seine Erklärung

als gefühls- und willenshafte Reaktion des Ich auf eine jenseits

des Ich liegende Gegebenheit; das zweite als subjektives Bewußtseinsgebilde,

das wir von jener objektiven Gegebenheit in uns formen;

das dritte als objektiver Tatbestand, der jenseits des Bewußtseins

Realität gewinnt.



Die zwölf Typen des Erlebens, die danach unterschieden werden,

lassen sich vielleicht auf einfachere Grundbegriffe zurückführen und |#f0387 : 363|



in drei Gruppen zusammenstellen, die wieder mit dem Diltheyschen

Dreitypensystem in Zusammenhang gebracht werden können.



Die ersten vier Typen, die Müller-Freienfels aufstellte, sind durch

das Verhältnis zwischen Anlage des Dichters und Eindruck der Außenwelt

bestimmt: 1. das richtungsadäquate Erlebnis, das die Anlage nährt

und verstärkt (Goethes Elternhaus und das vielgestaltige Leben der

Stadt Frankfurt); 2. das verbesondernde Erlebnis, durch das die Anlage

spezifiziert wird (Goethes Begegnung mit Herder); 3. das richtungablenkende

Erlebnis (die falschen Tendenzen Goethes), und 4. das

konträre Erlebnis, das sich der Anlage entgegensetzt (Goethes Liebe

zur Klassik ist dafür kein glückliches Beispiel).



Es ist fraglich, ob die beiden letzten Erlebnisarten wegen ihres

Intensitätsgrades als eigene Kategorien unterschieden zu werden verdienen.

Dagegen kann man zu dieser Gruppe drei weitere Typen

rechnen, die bei Müller-Freienfels mit 9, 10 und 11 beziffert sind,

nämlich die aufgezwungenen Erlebnisse, worunter Krankheit, Krieg

und andere Zwangssituationen verstanden werden (Goethes Amtstätigkeit);

weiter das Erlebnis des Widerstands, das durch Unterdrückung

der Anlage zu ihrer Überkompensation führt, wofür Schillers Tyrannenhaß

und Freiheitstendenz als Beispiel genannt werden; endlich die

systematischen und Einfühlungserlebnisse, bei denen das Individuum

seinen eigenen Charakter durch Nachahmung und Unterordnung unter

ein fremdes Ich modifiziert (Hafis im „Westöstlichen Diwan“). Alle

drei wiederholen die richtungablenkende oder sogar der Anlage entgegengesetzte

Wirkung. Die Typen dieser Gruppe, die unter den Gesichtspunkt

einer mechanischen, sinnlichen oder geistigen Abhängigkeit

von der Umwelt gestellt und als Eindruckserlebnisse

zusammengefaßt werden können, finden im naturalistischen Weltanschauungstypus

ihre Entsprechung.



Der Unterschied zwischen den fördernden Eindruckserlebnissen,

die der Anlage des Dichters entsprechen, und den hemmenden, die

ihr entgegengesetzt sind, wird sich auswirken in der Problemstellung

der Dichtung. Die der Anlage entsprechenden Erlebnisse pflegen in

den Aufbau der Persönlichkeit und Weltanschauung überzugehen und

werden erst von da aus die Dichtung bestimmen. So hat z. B. Schillers

Kant-Erlebnis einen günstigen Boden in der früheren Denkrichtung

vorgefunden und diese mehr bestätigt und entwickelt als umgewandelt;

dafür ist diese Bereicherung auch nicht zum unmittelbaren Anstoß

einer großen Erlebnisdichtung geworden.



Die der Anlage widersprechenden Erlebnisse dagegen bedeuten

dramatischen Zusammenstoß, Erschütterung und Umbruch. So hat das |#f0388 : 364|



Kant-Erlebnis Kleists durch den Zusammenbruch des dogmatischen

Wahrheitsbegriffes geradenwegs zur schöpferischen Dichtung hingeführt,

und das erste Drama „Die Familie Schroffenstein“ veranschaulicht

lebendig die Verblendung derer, die des Wahnes sind, sich

auf ihre Sinneseindrücke verlassen zu dürfen.



Bei einer zweiten Gruppe, die mit dem Idealismus der Freiheit

in Vergleich zu setzen ist, werden Phantasie und Gefühl durch das

Erlebnis in freie Schwingung versetzt: das imaginative Erleben (5)

schafft sich im Streben nach einem Ideal Ersatz für den fehlenden

Erlebnisgegenstand (blaue Blume des Novalis); die Halbimagination (6)

läßt Triebe und Sehnsüchte des Ich auf einen Gegenstand niederschlagen,

„der ganz oder teilweise dem gesuchten Erleben inadäquat

ist, der jedoch für adäquat gehalten oder von der Phantasie zur Adäquatheit,

ganz oder teilweise unbewußt, umgeschaffen wird“. Dabei

erfahren wirklich vorhandene Züge eine verklärende Vergrößerung

und Steigerung; Friederike Brion wird als Inbegriff des Naturkindes,

Frau v. Stein als schwesterliche Seelenheilkraft, Christiane als heidnisch-sinnliche

Geliebte, Bettina als das mignonhaft aufblickende Kind,

Marianne v. Willemer als Suleika idealisiert. Sie nehmen Züge der

weiblichen Urbilder an, die des Dichters Sehnsucht in sich trug; in

ihnen sind Gegensätze repräsentiert wie Geist der Reinheit und hemmungslose

Hingabe, kindliche Unterwürfigkeit und kongenialer Dichtersinn.

Man darf dabei mit der Psychologie C. G. Jungs von einer

Projektion des Unbewußten als „Seelenbild“ sprechen, das bei Männern

in der Regel weibliche, bei Frauen männliche Verkörperung

findet. Sämtliche Typen dieser Gruppe sind als Ausdruckserlebnisse

der Innenwelt zusammenzufassen.



Unter den übrigbleibenden Typen dürften die von der Psycho-

Analyse hergeleiteten verdrängten Erlebnisse (7) die aus dem Bewußtsein

ins Unterbewußtsein abgeschoben werden, schwerlich mitzurechnen

sein, da die Verdrängung es gar nicht zum Erlebnis kommen

läßt, soweit wir dieses mit Rothacker als Aufnahme des Lebens ins

gegenständliche Bewußtsein auffassen. Auch ist das von Müller-Freienfels

gewählte Beispiel der religiösen Erlebnisse Nietzsches kaum in

Zusammenhang mit dichterischem Erleben zu stellen. Dagegen entspricht

dem objektiven Idealismus die Erscheinung, daß innere und

äußere Lebenslenkung ineinander wirken, so daß unter dem Einfluß

eines immanenten Lebensgesetzes Gleichartiges sich wiederholt. Zu

den wiederkehrenden Erlebnissen (8) wäre z. B. die oben (S. 319)

besprochene Periodizität im Liebesleben zu rechnen und die regelmäßige

Flucht vor der Bindung, die als Erlebnis der Untreue in der |#f0389 : 365|



Dichtung des jungen Goethe eine so große Rolle spielt. Sie wird von

Müller-Freienfels als Treue gegen die eigene Natur gerechtfertigt.



Die wiederkehrenden Erlebnisse führen zu gleichartigen Situationen

zurück. Alles, was der Dichter des „Werther“ sich im Roman von der

Seele geschrieben hatte, wurde nachträglich in Weimar erst zum persönlichen,

intensiv gesteigerten, leidenschaftlichen Erlebnis. Alle Qualen,

denen der empfindsame Romanheld nicht ins Angesicht zu schauen

vermochte, das Zusammenleben mit der geliebten Frau unter Zwang

eines freundschaftlichen Verkehrs mit dem Dritten, dem sie angehörte

─ das tägliche Geständnis, die seelische Hingabe, das gleichsam eheliche

Zusammengehörigkeitsgefühl ohne Besitz ─ das alles wird für

zehn Jahre Goethes eigenes Schicksal. An Frau v. Stein schickt er

zusammen mit dem „Werther“ die Verse:



Was ich da träumend jauchzt und litt,

Muß wachend nun erfahren.



Die Gelegenheit, die jene erste dichterische Gestaltung auslöste,

wiederholt sich in abermaliger befreiender Entladung, und die neue

Spiegelung heißt „Torquato Tasso“; seine Bezeichnung als „gesteigerter

Werther“ hat des Dichters ausdrücklichen Beifall gefunden.

Goethe selbst liebte es, die Erlebniswiederkehr seiner Dichtungen in

wechselseitige Beziehung zu setzen. Als das Entsagungs-Erlebnis in

der „Marienbader Elegie“ seinen wehmütigen Ausklang fand, wurde

ihm als Motto das Tasso-Wort „Und wenn der Mensch in seiner

Qual verstummt“ vorangestellt, und durch Hinzunahme des Jubiläumsgedichtes,

„An Werther“, stellte sich in der „Trilogie der

Leidenschaften“ eine dreimalige Wiederholung unter gemeinsamen

Nenner.



Von den wiederkehrenden Erlebnissen ist die als „fausse reconnaissance“

bezeichnete scheinbare Wiederkehr zu trennen, die begründet

ist in dem unbestimmten und eingebildeten Gefühl, eine Situation,

in der man sich befindet, schon einmal erlebt zu haben. In dichterischer

Gestaltung mag sich dieses Erlebnis, das religionspsychologisch als

Wurzel des Präexistenz- und Seelenwanderungsglaubens aufgefaßt werden

kann, zum Motiv wirklicher Wiederkehr realisieren; ja es werden

die dichterischen Gestalten, sobald ihr Schöpfer mit ihnen lebt und sie

in visionärer Deutlichkeit vor sich sieht, zu Bestätigungen dieses Vorganges.

Das zeigt sich in dem oben (S. 298) herangezogenen Beispiel

Flauberts.



Das Gegenspiel zu der zurückgreifenden Phantasie ist in der vorwegnehmenden

dichterischen Gestaltung späterer Erlebnisse gegeben, |#f0390 : 366|



die als Antizipation in Goethes Schaffen eine so bedeutende Rolle

spielt (vgl. oben S. 350). Beides erklärt sich aus der gleichen Disposition,

die den Dichter für bestimmte Situationen besonders erlebnisempfänglich

macht, so daß er sich vor Selbstwiederholungen in acht

nehmen muß. Gewisse Erlebnismöglichkeiten und Lebensrichtungen

sind der Persönlichkeit des Dichters immanent und gehören zu jenem

inneren Gesetz, das oft als äußerer Zufall erscheint und von Goethe

unter dem Begriff des Dämonischen erfaßt wurde.



Es schließen sich noch die von Müller-Freienfels als 12. Typus

bezeichneten dämonischen Erlebnisse an, bei denen eine überpersönliche

Macht sich gegen den Willen des Subjekts als innerer Zwang

durchzusetzen scheint und dem Gesamterleben, dem Charakter eine

schicksalhafte Notwendigkeit aufprägt. Es handelt sich um das Bewußtsein

göttlicher Sendung, das im religiösen, politischen und dichterischen

Genie zum Durchbruch kommt. „Mahomets Gesang“ symbolisiert

im Bild des mit sich fortreißenden Stromes dieses Führertum,

das der Dichter selbst in Werdegang und Wirkung als seine

Berufung erlebte.



Diese dritte Gruppe der wiederholenden, antizipierenden und

dämonischen Erlebnisse läßt sich unter den Begriff des immanenten

Schicksalsbewußtseins
zusammenfassen.



Wenn die Typik sich fast durchweg mit Beispielen aus Goethes

Seelenleben belegen ließ und ungefähr alle Voraussetzungen seines

Schaffens umfaßte, so bleibt gleich vollständige Anwendbarkeit auf

Dichter anderer Wesensart fraglich. Bei den realistischen Sachdichtern

werden Erlebnisse der ersten Gruppe überwiegen, bei den idealistischen

Ich-Dichtern solche der zweiten, und in der dritten Gruppe

scheint das wiederkehrende, das antizipierende und das dämonische

Erlebnis zu Goethes besonderer Eigenart zu gehören. Obwohl es auch

bei anderen Dichtern vorkommt. Z. B. kann in Chamissos „Peter

Schlehmihl“ das Schlußmotiv der Siebenmeilenstiefel als Antizipation

der großen Weltreise, die der Dichter nicht lange danach antrat, gelten.



Vielfach ist die Vorwegnahme nichts anderes als bewußte dichterische

Ausmalung eines Wunsches, der im späteren Leben Erfüllung

finden soll. So hat Klopstock schon in jungen Jahren „die künftige

Geliebte“ besungen, Coleridge machte ein eheliches Gespräch zwei

Monate vor der Hochzeit zum Gegenstand eines Gedichtes, und Jean

Paul ließ seine eigene Konjekturalbiographie in bescheidenen Zukunftsphantasien

schwelgen, die sich nicht durchweg erfüllten.



Die Frühromantik dagegen wollte im magischen Idealismus eines

Friedrich von Hardenberg die Lebenswirklichkeit entthronen und an |#f0391 : 367|



ihre Stelle die Dichtung setzen. Statt immanenten Schicksalsbewußtseins

brach ein emanativer Weltschöpfungswille durch, wenn durch

Magie und Erfindungskunst das ganze Leben poetisiert, die Welt zum

Traum, der Traum zur Welt und die Poesie zum absolut Reellen werden

sollte. Diese Überantizipation, zu der das Leben der Wirklichkeit

sich nicht zwingen ließ, gehört als Übersteigerung zu den imaginativen

Erlebnissen der zweiten Gruppe.



e) Erlebnis-Verlauf



Das Erleben des Dichters schreitet mit zunehmender Bewußtheit

zur Klarheit und Bedeutsamkeit fort. Die eigentlichen Urerlebnisse

sind jene Schlummerbilder der ersten Kindheitseindrücke, die durchaus

nicht, wie die Psychoanalyse wollte, ausschließlich im sexuellen

Triebleben zu suchen sind, auch wenn sie im Unterbewußtsein bleiben.

Heimat, Elternhaus, Familie und andere Umwelt-Eindrücke werden

vielleicht erst im späteren Lebensverlauf erinnerungsmäßig ins Bewußtsein

gezogen und bilden dann einen Erlebnisbestand, auf den immer

wieder zurückgegriffen wird. Dazwischen liegt das erste Erlebnis des

Ich-Bewußtseins, das z. B. für Jean Paul ein entscheidender Wendepunkt

seines Seelenlebens wurde; er erinnert sich noch später des

Grauens, das ihn befiel, als er sich plötzlich bewußt wurde, ein Ich

zu sein. Im Schicksal des Humoristen Schoppe im „Titan“ und „Siebenkäs“

führt die spätere Dichtung dieses Erlebnis bis an die Grenze

des Tragischen. Das Du-Erlebnis der ersten Liebe schließt sich an und

bildet für die meisten Dichter einen Schatz heiliger Erinnerung, der

vielfältig ausgemünzt wird. Auch das Erwachen des Natursinnes kann

schlagartig eintreten, wie man z. B. in Goethes Lothringer Brief vom

26. Juni 1770 eine neue Form des Erlebens, des Sichöffnens für die

Seele der Natur wahrnehmen darf.



Von größerer Tragweite ist das Durchbruchs-Erlebnis der religiösen

Selbstbesinnung, das als Erweckung und Bekehrung eine vollständige

Wandlung von innen heraus nach sich zieht. Die Seelen-Struktur

des religiösen Menschen besitzt die Empfänglichkeit für ein plötzlich

hereinbrechendes Gotteserlebnis von visionärer Kraft: des Paulus

Gang nach Damaskus, das „Tolle lege“ des Augustinus, der Blitzstrahl,

der Luther ins Kloster trieb, sind Beispiele für die Wucht einer durch

äußere Schicksalszeichen ausgelösten, aber doch von innen heraus

erfolgenden entscheidenden Wandlung.



Der Pietismus hat durch Vorbilder und Erziehungsgrundsätze eine

Art Schulung zur Bereitschaft für religiöse Erweckungen ähnlicher |#f0392 : 368|



Art durchgeführt, und wir sehen an dem Umschwung, den Hamann

1758 in London erlebte, daß auch ein ästhetischer Mensch in dieser

Weise erfaßt werden konnte. In seinem Rechenschaftsbericht: „Gedanken

über meinen Lebenslauf“ erzählt Hamann, wie er Rousseau

von sich warf und zur Bibel griff, um beim 5. Kapitel des 5. Buches

Moses seine Erweckung zu erleben. Er dachte an Abel und hörte in

der Tiefe seines Herzens die Stimme eines erschlagenen Bruders: „Ich

fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Tränen und ich

konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder,

der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist

Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet

des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine

Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und

die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland

immer mehr zu offenbaren.“



Die dichterischen Zentral-Erlebnisse haben oftmals den gleichen

Charakter plötzlicher Erweckung. Kleists Kant-Erlebnis, Sophiens

Verlust für Hardenberg und Hoffmanns Bamberger Leiden sind Beispiele

dafür, daß alles Erlebte erst durch den etwas wird, der es erlebt.

„Was sind denn unsere Erlebnisse?“ fragt Nietzsche. „Viel mehr das,

was wir hineintragen, als das, was darin liegt. Oder muß es gar heißen:

an sich liegt nichts darin? Erleben ist ein Erdichten?“



Unzähligen war schon vorher das gleiche Schicksal zuteil geworden,

daß ihnen ein Lebensplan zerstört, daß ihnen die Braut gestorben,

daß ihnen die Geliebte von einem Unwürdigen weggekapert wurde.

Nicht an dem Schicksal lag es, sondern an der Art, wie dieses Schicksal

überwunden werden kann, indem die künstlerische Einbildungskraft

Lebensersatz schafft. So wandelt sich das Eindruckserlebnis zum Ausdruckserlebnis.

Kleist wurde zum Dichter, als er einsah, daß Handeln

besser sei als Wissen; Novalis baute sich seine Weltanschauung des

magischen Idealismus auf, mittels deren er die Trennung von Tod und

Leben zu überwinden und die Vereinigung mit der Geliebten willensmäßig

erzwingen wollte; er verwarf in den „Hymnen an die Nacht“

das Tageslicht als Feind des Lebens und pries die Nacht als Erfüllung.

Bei dem dritten Beispiel eines Zentral-Erlebnisses lag das Ereignis

weniger in der Liebe Hoffmanns zu seiner Schülerin, als in dem brutalen

Ende, das durch die erzwungene Verlobung Julias herbeigeführt

wurde. Wenn das Tagebuch die bittere Bemerkung enthält „Das

Schicksal meint es mit mir und meinem Künstlerleben gut“, so ist aus

der Ironie Ernst geworden, denn nun erst entstand der Dichter, als

aus diesem Erlebnis die Idee der ewigen Liebe des Künstlers aufstieg, |#f0393 : 369|



dem sein Ideal nicht zu entreißen ist. Im „Hund Berganza“, im „Kapellmeister

Kreisler“, in den „Abenteuern der Neujahrsnacht“, den

„Elixieren des Teufels“, der „Fermate“, dem „Sängerkrieg“ kehrt

immer das gleiche wieder: „Und die, die du liebst, sie ist kein irdisches

Wesen, sie lebt nicht auf der Erde, aber in dir selbst als hohes reines

Ideal deiner Kunst, das dich entzündet, das aus deinen Werken die

Liebe aushaucht, die über den Sternen wohnt.“



Hier handelt es sich nicht um Wiederkehr derselben Erlebnisform,

wie sie in Goethes Anlage ihre Bedingung fand, sondern

um ein Dauer-Erlebnis, das sich in langer Nachwirkung in die Tiefe

eingrub und feste Charakterzüge in der Physiognomie des Dichters

prägte.



Umformende Erlebnisse dieser Art können auch von Kunstwerken

ausgehen; so ist, wie Rudolf Schlössers Biographie gezeigt hat, der

Graf von Platen durch das Erlebnis Venedigs ein anderer geworden,

so Rainer Maria Rilke durch seine Bekanntschaft mit Rodin; in Stefan

Georges Maximin-Erlebnis dagegen vereint sich der Kult menschlicher

Schönheit mit vergottendem Aufbau einer selbstgeschaffenen Religion.

Manchmal verbindet sich die Handlung mit dem Ende einer schweren

Krankheit; Beispiele bieten Christian Morgenstern, der den Abschluß

einer von Nietzsche beherrschten weltlichen Periode durch johanneische

Offenbarung erlebte, oder Rudolf G. Binding, bei dem die Dichtergabe

nach einer rätselhaften Krankheit im 40. Lebensjahr unter

dem Eindruck von Florenz und dem Erlebnis der italienischen Sprache

plötzlich durchbrach, doch stellen Anton Mayers Erinnerungen „Der

Göttergleiche“ eine von Berliner archäologischen Vorlesungen ihren

Ausgang nehmende und in der Griechenland-Reise reifende allmähliche

Entwicklung Bindings dar. Bei Reinhard Johannes Sorge, der in Norderney

durch die Vision Christi zur Umkehr gerufen wurde, trägt

diese Erschütterung selbst krankhafte Züge.



Plötzlich auftretende innere Wandlung ist vielfach auch als dichterisches

Motiv gestaltet worden, so in Hermann Hesses Roman „Narziß

und Goldmund“, wo der Klosterschüler Goldmund mit einem

Schlage, ohne daß er der Entwicklung bedurfte, durch Lösung seiner

Seele zum vollendeten Künstler wird, oder in Hermann Stehrs „Heiligenhof“,

wo mit der Erblindung des Kindes sein inneres Licht zu

leuchten beginnt.



Neben den Dauer-Erlebnissen, die als Folgen tiefer Erschütterung

und entscheidenden Durchbruchs weiterwirken, ist das Ziel-Erlebnis zu

nennen, das der Mystiker und Quietist als Aufgehen in Gott ständig

vor Augen hat und das der Ekstatiker erreicht.

|#f0394 : 370|



Außer den wiederholten Umschwungs-Erlebnissen, die von einem

Gegensatz zum andern führen, wie wir es etwa in Christoph Martin

Wielands Entwicklung mehrfach beobachten, sind noch die affektartig

drängenden Kurz-Erlebnisse zu berücksichtigen, deren intensive Gewalt

vielleicht nur in einem einzigen Werke zum Ausdruck kommt,

aber als befreiende Aussprache sich so restlos erschöpft, daß mit der

einmaligen Gestaltung das Erlebnis als dichterischer Gegenstand abgetan

ist. Der Anstoß zur Gestaltung tritt um so schneller und heftiger

auf, je mehr ein überraschendes, der Anlage des Dichters nicht entsprechendes

Erlebnis zum Widerstand aufruft und den Rhythmus des

Sprachausdrucks unmittelbar eingibt. Ein Beispiel ist „Wanderers

Sturmlied“, das Goethe, als er auf der Straße zwischen Frankfurt und

Darmstadt vom Unwetter überrascht wurde, im Vertrauen auf seinen

Genius den entfesselten Gewalten entgegensang.



f) Erlebnisbild



Bei Antritt der winterlichen Harzreise schreibt Goethe in sein

Tagebuch die Worte „Dem Geier gleich“ und verrät damit, daß schon

bei Beginn der Wanderung der Anfang der Ode „Harzreise im Winter“,

improvisiert wurde. Deren Abschluß erfolgte erst neun Tage

später, als die erspähte Beute erreicht und das sinnbildhafte Ziel der

winterlichen Brocken-Besteigung erzwungen war. Das Erlebnis vollendet

sich erst in der Ausführung; das Gedicht bringt es zum Abschluß.



Manchmal wiederum hat sich die Verschmelzung längst gefundener

Bilder erst mit einer späteren Gelegenheit eingestellt. Der oben

(S. 367) erwähnte Bericht Goethes über einen abendlichen Ritt durch

Lothringen schildert die vom Berg herabhängende schwere Finsternis

des Buchenwaldes als Sinnbild eines lastenden Druckes, gegen den das

Lebensgefühl der Sturm- und Drangjugend sich aufbäumt in der heldischen

Überzeugung, daß das Leben Kraftbetätigung ist und nur in

der Überwindung großer Mühen Freude schafft. Das hätte ein Gedicht

werden können, wenn das Naturerlebnis sich zum Weltbild verdichtete.

Andere nächtliche Wanderungen mögen neue Bilder geschenkt haben:

das der Eiche, die im Nebel wie ein getürmter Riese dasteht; das des

Mondes, der von seinem Wolkenhügel schläfrig aus dem Dunst hervorsieht.

Alles kristallisiert sich in einer Stunde, wo die verzehrende

Glut der Sehnsucht dazu treibt, der Geliebten zu sagen, wie durch

Schauer und Fährnisse der Nacht der Zug des Herzens zu ihr hinzwingt.

Da entsteht als Gelegenheitsgedicht der gewaltige Eingang von

„Willkommen und Abschied“:

|#f0395 : 371|



Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!

Und fort! wild wie ein Held zur Schlacht.

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht;

Schon stund im Nebelkleid die Eiche

Wie ein getürmter Riese da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.



So sind die vorhandenen Bilder vorauserlebter Naturstimmung im

Gefühlserlebnis der Gelegenheit zusammengezogen.



Aber auch der umgekehrte Hergang ist möglich, daß für eine erlebte

Stimmung, die ihren brieflichen Niederschlag gefunden hat, sich erst

später das sinngebende poetische Bild einstellt. Der Werther-Brief vom

10. Mai, erfüllt vom Wehen des All-Liebenden, der uns in ewiger

Wonne schwebend trägt und erhält, klagt über die Ohnmacht des Gestaltens,

und erst als die Fabel von Ganymed sich findet, wird der

lyrische Keim entfaltet in der Gestaltung der gleicher Stimmung entwachsenden

Ode.



Es kann auch vorkommen, daß das Sinnbild erst in einer späteren

vom Erlebnis weit entfernten Umarbeitung seine charakteristische

Prägung erhält. Conrad Ferdinand Meyer wurde um die Mitte der

sechziger Jahre, als er auf der Fahrt durch das Bergell im Garten eines

verfallenen Salis-Schlosses das Zusammentreffen von Arven und Kastanienbäumen

beobachtete, durch diese charakteristische Mischung

nördlicher und südlicher Vegetation beeindruckt. Im Jahr 1873 entstand

das Gedicht „Die Grenzfeste“, das Kastanie und Eiche als symbolische

Hüter der Länderschwelle nebeneinander stellt. Daraus ist

später mit gesteigerter Sinnbildhaftigkeit das Gedicht „Die Schlacht

der Bäume“ geworden, das im Gegensatz von Arve und Rebe, im

Kampf der Nadeln mit den Blättern, die Erinnerung an einstige blutige

Grenzkämpfe wieder aufleben läßt.



Erlebnis und Gestaltung können durch dazwischenliegende Jahrzehnte

getrennt sein, und zwar sind es gerade die der Anlage entsprechenden

Erlebnisse, die viel längere Zeit zur Reife brauchen, weil

sie in das Weltbild des Dichters aufgenommen werden und erst aus

der Tiefe dieses Urgrundes gestalthaft auftauchen. Als Goethe im

Jahre 1823 das Wort „gegenständlich“, mit dem der Anthropologe

Heinroth die Art seines Denkens bezeichnet hatte, dankbar auf die

Charakteristik seiner ganzen Dichtweise übernahm, machte er das bedeutsame

Geständnis, daß er gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich

Überliefertes 40 bis 50 Jahre lebendig und wirksam im

Innern getragen habe, ehe er sie gestaltete: „Mir schien der schönste |#f0396 : 372|



Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu

sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich

zu verändern, einer reineren Form, einer entschiedenern Darstellung

entgegenreiften.“ Er nannte Beispiele aus seiner Balladendichtung,

wie: „Braut von Korinth“, „Gott und Bajadere“, „Graf und Zwerge“,

„Paria“. In der Tat hat die Paria-Legende 40 Jahre in Goethe als

Erlebnis geschlummert, ehe die Gelegenheit eintrat, ihr Gestalt zu

geben. Dafür ist diese Dichtung dann ein besonders vielsagendes

Symbol der Weltanschauung des Dichters geworden.



3. Weltbild


a) Einstellung



Kein Einzelerlebnis wird zur Dichtung, ohne daß die Gestalt geboren

würde aus dem Mutterschoß des Weltbildes, das der Dichter

als Ordnung aller Lebenseindrücke in sich trägt. Es kann entweder

ein Zusammenstoß erfolgen, der diese Ordnung erschüttert; er muß

in dichterischer Befreiung ausgetragen und überwunden werden.

Oder es tritt eine widerstandslose Übernahme in die Summe von

Lebenserfahrung ein, die dadurch Bestätigung und eindrucksvolle

Bekräftigung erfährt. Schließlich kann sich das aus Anlage und Erlebnissen

aufgebaute Weltbild auch als geprägte Form weiter entwickeln

und um problematische Erfahrungen bereichert werden, die

auf Stellungnahme und Verarbeitung hindrängen.



Nicht durch jeden Lebenseindruck wird das Weltbild in gleicher

Weise berührt und in Schwingung versetzt. Unter allem, was sich

herandrängt, wird vielmehr eine Auswahl vollzogen, für die nichts

anderes maßgebend ist als die Bedeutsamkeit der Beziehung. Wenn

künstlerisches Erleben bereits den Anfang des Gestaltens darstellt,

so liegt der Übergang in der Verschmelzung mit den persönlichen

Anschauungen, aus denen Motive und Probleme Beleuchtung erfahren.

Das gestaltete Erlebnis erhält also sinnbildhafte Bedeutung

erst durch den Hintergrund des Weltbildes, von dem es sich abhebt.



Wenn im ersten Buch bei der Analyse des Einzelwerkes (S. 232 ff.)

von weltanschaulicher Haltung die Rede war, die nur ein Bruchstück,

einen Ausschnitt, ein wandelbares Glied der Weltanschauung bildet,

so soll auch hier das Wort Weltanschauung zunächst vermieden werden,

weil wir darunter eine überpersönliche Totalität, etwas Ganzes

und Universales verstehen müssen. Das Wort Weltbild dagegen bedeutet

wohl, wie Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ |#f0397 : 373|



sagt, „die Gesamtheit der gegenständlichen Inhalte, die ein

Mensch hat“, aber es ist doch nur „eine individuelle Perspektive,

ein individuelles Gehäuse, das als Typus, aber nicht als das absolut

allgemeine Weltbild generalisiert werden kann“.



Perspektivisch kann dieses aktuelle Weltbild des einzelnen auf

eine allgemeingültige Weltanschauung hinzielen; es kann sogar in

eine eigengesetzliche Welt des Allgemeinen hineinwachsen und in

Eigenschöpfungen für den Gestalter objektiv werden. Gleichwohl

liegt im Begriff des „Bildes“ mehr Subjektivität als in dem der „Anschauung“;

das Bild ist künstlerische Weltgestaltung, die in allen

ihren Zügen durch die Wesensart des Schöpfers bedingt ist.



Das Weltbild des einzelnen ist genetisch auf zwei Quellen zurückzuführen:

die eine fließt aus dem, was dem Individuum von außen

geboten wird, was ihm als Erfahrung zuströmt und was, mag es auch

noch so reich sein, begrenzt und lückenhaft bleibt; die andere besteht

in den vom Individuum ausgehenden Perspektiven und in der Auswahl,

die durch Anlage und Charakter auf das ihm Adäquate gelenkt

wird. Subjektive Einstellung, die sich des Gegenständlichen bemächtigt,

und Gegenständliches, das in dem Gehäuse des seelischen Lebens

eingefangen ist, bilden die Komponenten.



Unter den Einstellungen unterscheidet Jaspers die gegenständliche,

die selbstreflektierte und die enthusiastische mit den Unterabteilungen

des aktiven, des kontemplativen und des mystischen Verhaltens. Die

enthusiastische Einstellung ist die des Schaffenden, die in Selbsthingabe,

Liebe und Glaube ein Selbstwerden bedeutet; sie bringt in

Auseinandersetzung zwischen Einstellung und Gegebenheit, zwischen

Ich und Welt neue Werte hervor.



b) Bedingtheit



Wenn die Betrachtung schon mehrfach nahe herangeführt wurde

an die Übereinstimmungen zwischen weltanschaulicher Haltung und

Stil, so bietet sich ein vermittelndes Bindeglied in dem Begriff „Lebensstil“,

den Erich Rothackers „Geschichtsphilosophie“ als Synonym für

„Kultur“ zur Anwendung gebracht hat. Mit diesem Wort wird die einheitliche

Haltung von Gruppen bezeichnet, die in bestimmten Formen

leben, seien es Gemeinschaften der Rasse oder einer loseren Abstammung,

seien es territoriale oder staatliche Gemeinschaften oder

solche der Sprache, des Rechts, der Religion und der Sitte. Man hat

von „Kulturseelen“ gesprochen wie von „Rasseseelen“, und Rothacker

möchte jeder dieser Totalitäten eine besondere, individuelle und |#f0398 : 374|



unverwechselbare stilistische Physiognomie zuschreiben. Von dieser

totalen Physiognomik bis zu dem Stilprofil, das im ersten Buch

(S. 231) für das einzelne Werk gesucht wurde, ist ein weiter Weg,

der in der Bestimmung von Weltanschauung und Weltbild seine

Parallele findet. Hier wie dort wird eine einheitliche Richtung verfolgt,

die von der Totalität zur Individualität herabsteigt. Wie das

einzelne Werk Anteil haben kann an Rassestil, Nationalstil, Stammesstil,

Zeitstil und Generationsstil (vgl. S. 202), ohne dadurch bis ins

letzte bestimmt zu sein, so ist der einzelne Mensch, soweit er dem

Typus einer Rasse, eines Volkes, eines Stammes, einer Familie oder

einer Zeit und Generation zuzurechnen ist, in seinem Weltbild von

diesen Gemeinschaften durch Erbe oder Umweltanpassung abhängig.

Der organischen Ganzheit, zu der diese Bedingtheiten sich vereinen,

ist erst als Tüpfchen auf dem I die Individualität aufgeprägt.



Die zukunftsvolle aber noch in den Anfängen liegende Arbeit einer

Rassenpsychologie kann von zwei Seiten aus vorgehen, indem sie entweder

den Zugang zur Rassenseele von den äußerlich erkennbaren

Körpersymptomen aus sucht oder indem sie vom Seelenbild ausgehend

dessen typische Verkörperung erfassen will. Den ersten Weg beschritt

Ludwig Ferdinand Clauß, der zwar bei den Tatsachen des gegenseitigen

„Verstehens“ und „Nichtverstehens“ einsetzte, aber das hauptsächliche

Beobachtungsmaterial seiner als Psycho-Anthropologie bezeichneten

mimisch-physiognomischen Methode in der phänomenologischen

Deutung von Gesichtstypus, Gestalt und Ausdrucksbewegungen

fand. So wurden die Rassenstile des nordischen Leistungsmenschen,

des fälischen Verharrungsmenschen, des mittelländischen Darbietungsmenschen,

des wüstenländischen Offenbarungsmenschen, des vorderasiatischen

Erlösungsmenschen und des ostischen Enthebungsmenschen,

von denen jeder die Welt anders sieht, physiognomisch glänzend charakterisiert,

und die Umwelt der Landschaft wurde als stilhafter und

stilbildender Lebensraum hinzugenommen.



Diese Typologie, die nicht einmal alle europäischen Rasseformen,

geschweige denn die der anderen Erdteile umfaßt, beansprucht keine

erschöpfende Vollständigkeit. Infolgedessen ist das typologische

Schema, das Eduard Ortner darauf aufgebaut hat, indem er die überhaupt

möglichen Formen des Verhältnisses zwischen Organismus

und Umwelt als intrahärent-fälisch, intrafugal-westisch, extrapetalnordisch,

intralinquent-ostisch, extrafugal-orientalisch, intrapetal-vorderasiatisch

deduziert, mehr willkürliche Anpassung als bestätigendes

Zusammentreffen. Auch die möglichen Ausdrucksformen des Stils

und der Religiosität lassen sich auf dieser Grundlage nicht hiologisch |#f0399 : 375|



systematisieren. Vielmehr bleibt es bei einer auf induktiver Beobachtung

beruhenden Charakterologie.



In Blick und Haltung des nordischen Menschen, der das betonte

Abstandnehmen, das Suchen nach Ferne und einen weltumspannenden

Zug zur Weite in Gebärden des Ausgriffs erkennen läßt, versinnbildlicht

sich nach Clauß die Bejahung des Schicksals. Auch der einsame

Held nordischer Dichtung sieht dem Schicksal frei ins Auge, indem er

es auf sich nimmt, in sich aufnimmt, beantwortet und gestaltet. Der

mittelländische Darbietungsmensch kennt dagegen kein von innen

sprechendes Schicksal, sondern nur eine von außen waltende Macht,

der er sich durch gewandtes Spielen zu entwinden sucht. Der morgenländische

Fatalismus leidet das Schicksal, indem er es gebeugten

Nackens über sich hingehen läßt. Die Seele des ostischen Enthebungsmenschen

aber lebt zentripetal „wie in einer dumpfen Kugel, deren

Dunsthülle sich dehnen kann und sich so an die Dinge heranschiebt,

aber immer in Bereitschaft ist, wieder in sich zusammenzuschnurren.“

Der fälische Verharrungsmensch wiederum in seinem schweren und

erdgebundenen Verhaftetsein sperrt sich gegen das Schicksal, ohne

es zu gestalten, und wenn es über ihn kommt, zertrümmert er in

trotzigem Zerstörungskrampf alles, was ihm in den Weg tritt.



Aus den Widersprüchen des nordischen und fälischen Wesens, von

denen schon oben (S. 288 f.) die Rede war, konnten sich die charakteristischen

Treuekonflikte des germanischen Menschen ergeben. Bei

Siegfried und Hagen beispielsweise mag nordische und fälische Treueauffassung

in Gegensatz stehen. Clauß hält es sogar für möglich, daß

die Erinnerungen frühgermanischer Sage an Kämpfe Asgards und

Midgards gegen uralte Riesengeschlechter, ähnlich wie die antike

Titanomachie, noch etwas von jener Urzeit festhalten, da das nordische

Heldentum mit fälischem Riesentum zusammenstieß. In gleicher Weise

mag auch die Göttersage vom Krieg der Asen und Vanen auf rassische

Auseinandersetzung zurückgehen, denn in den istväonischen Asen

gipfelt das nordische Kriegerideal; die ingväonischen Vanen dagegen

sind Fruchtbarkeitsgötter, die dem seßhaften Wesen der fälischdalischen

Rasse entsprachen. Den Stil der altgermanischen Dichtung,

dessen Einheit der beste Kenner Andreas Heusler in Zweifel zieht,

erklärt Clauß ebenfalls aus Gegensätzen des rassischen Weltbildes:

„Der Edda-Stil ist Ausdruck nordischen Wesens, der Saga-Stil ist

nordisch-dalischer Ausdruck, während die Form der Skalden-Dichtung

auf ein durch die alt-irische Kultur vermitteltes mittelländisches

Ausdrucksvorbild hinweist.“



In viel stärkerem Maße noch hat H. F. K. Günther Belege der |#f0400 : 376|



Dichtung für rassisch bestimmte Weltbilder herangezogen, sowohl in

seiner Charakteristik des nordischen Menschen, als in der des

dinarischen, den Clauß nicht als eigenen Rassetypus anerkennen

wollte. Günthers geistesgeschichtliche Methode ist durch den Anthropologen

v. Eickstedt in seinem kritischen Überblick über die „Grundlagen

der Rassenpsychologie“ als „intuitive Schilderung von als

typisch angenommenen Verhaltensweisen rassenkörperlich gekennzeichneter

Einzelner oder Gruppen“ charakterisiert worden; ebenso

verfiel Clauß der Kritik, weil er durch Ablehnung der Rassensomatik

als des eigentlichen Ausdrucksfeldes der Stilentfaltung sich den Weg

zur Gesamtschau verbaut habe. v. Eickstedt selbst sucht von der

Naturwissenschaft aus zur Einheit körperlicher und seelischer Erscheinungsbilder

durchzudringen, wobei die psychologische Seite

Gefahr läuft, zu kurz zu kommen.



Das letzte Ziel solcher Betrachtungsweise ist kaum erreichbar; es

müßte darin bestehen, daß im Zusammentreffen somatischer und psychischer

Züge ein festes Verhältnis erkannt würde, so daß man das

Weltbild des Einzelnen wie seinen Charakter mit Sicherheit aus dem

Ausdruck seiner körperlichen Erscheinung erkennen könnte, wie aus

geistigem Gehalt und Stilform mit Sicherheit auf seine rassische Beschaffenheit

zu schließen wäre. Solche Zielsetzung liegt etwa dem

„Physiognomischen Weltbild“ zugrunde, das Rudolf Kaßner entwerfen

wollte. In dilettantischer Handhabung, für die der Wunsch meist

Vater des Gedankens ist, hat diese Methode schon oft zu Fehlschlüssen

geführt; bei wissenschaftlichem Vorgehen ist um so mehr Vorsicht

geboten, als bekanntlich bei Rassenkreuzung Körperbild und seelische

Haltung des einzelnen nach verschiedenen Seiten auseinandergehen

können, so daß beispielsweise einem vorwiegend nordischen Körperbau

die geistige Haltung eines vorwiegend ostischen Seelenbildes

gegenüberstünde.



Die zweite Schicht der Bedingtheit liegt im Volkhaften, in der

„blutsverwandten Kulturformgruppe“, die v. Eickstedt unterscheidet

von der als Rasse geltenden „blutsverwandten Körperformgruppe“.

Die dritte Schicht besteht in der als „Gautypus“ bezeichneten Stammhaftigkeit.

Von Ethnologie, Völkerpsychologie, Philosophiegeschichte

und Geschichte der einzelnen Künste ist mancherlei Bemühung aus

gegangen, den Anteil von Volks- und Stammeszugehörigkeit an der

Prägung des Weltbildes und des Stiles zu erkennen. Beispielsweise

hat Wilhelm Wundt in seiner durch den Weltkrieg veranlaßten Schrift

„Die Nationen und ihre Philosophie“ die theoretische Anlage des

französischen Geistes in der Mischung von Dogmatismus und Skeptizismus, |#f0401 : 377|



die englische Weltauffassung in ihrem Utilitarismus, den

Idealismus der deutschen Art und den zwischen Nord- und Süditalienern

bestehenden Unterschied der Verstandesklarheit und der überquellenden

Macht von Phantasie und Affekt charakterisiert. Die Rekonstruktion

des Weltbildes vergangener Kulturen ist dem gefolgt.

So hat P. Masson-Oursel das philosophische Denken im Abendland, in

Vorderasien, Indien und Ostasien einem geschichtlichen Vergleich

unterzogen. Ludwig Klages hat dem Weltbild der Pelasger den dritten

Band seines großen Werkes „Der Geist als Widersacher der Seele“

gewidmet, und das indische Weltbild ist in vielerlei Untersuchungen

zu dem europäischen in Vergleich gesetzt worden.



Wie aus der Art der Stämme ihr verschiedenes Verhalten zur Welt

herzuleiten ist, gehört zu den Problemen der Nadlerschen Literaturgeschichte.

Es erwies sich oben (S. 294), daß nicht für jeden einzelnen,

sobald seine auf verschiedene Wurzeln zurückgehende stammhafte

Herkunft auch noch durch Anpassung an verschiedene Landschaften

durchkreuzt wird, die Konflikte in einheitlicher Folgerichtigkeit

zu lösen sind. Es bleibt die Frage, ob in solchen Fällen ein

widerspruchsvolles Weltbild zustande kommt, oder ob unter den bedingenden

Faktoren, wie bei der Vererbung körperlicher Eigenart

ein bestimmter Typus sich durchsetzt. Von solchen Problemen soll

im dritten Buch die Rede sein.



Spielt bei Volk und Stamm bereits die Macht der Tradition neben

der Blutbindung eine wesentliche Rolle, so ist dies in noch höherem

Maße bei den religiösen Gemeinschaften und den in ihnen erzieherisch

ausgebildeten Gesinnungen der Fall. Zwar sprechen auch hier die

rassischen Grundlagen entscheidend mit. In den Glaubensformen

primitiver Völker wie in den Weltanschauungen vergangener Kulturen

suchen wir den Ausdruck einer Rassen-Seele. Wo sich die Weltvorstellung

eines „Paideuma“, das Leo Frobenius sogar rassebedingend

und rassebildend nannte, in Widerstreit und Wandlung entwickelt,

mag der Zusammenstoß verschiedener Rassen und Kulturen sich auswirken.

So kreuzen sich solare Lichtreligion und dunkle chthonische

Mythen im Altertum. Arische Elemente werden in der indischen

Religion verdrängt und beherrschen die iranische; apollinisches und

dionysisches Griechentum stehen einander gegenüber.



Auch in der Urlehre Christi treten nach Chamberlain und Rosenberg

nordische Züge in Erscheinung, die Eduard Wechßler aus

griechischen Einflüssen zu erklären suchte, und die germanische

Färbung des christlichen Gotteserlebnisses kommt mit dynamischer

Innerlichkeit bei den deutschen Mystikern, bei Meister Eckart und |#f0402 : 378|



Seuse, bei Luther, bei Paracelsus und Jakob Böhme, wie im Freiheitswillen

des ganzen Protestantismus zum Durchbruch als Gegensatz zu

den aufgezwungenen romanischen Denkformen der mittelalterlichen

Scholastik.



Jede Kirche prägt nun ihr eigenes Weltbild. Das Luthertum führt

zur Berufsethik; der Kalvinismus rechtfertigt, wie Max Weber gezeigt

hat, in seiner realistischen Diesseits-Tendenz den Kapitalismus; der

Puritanismus gewinnt nach Herbert Schöfflers Darstellung bestimmenden

Einfluß auf die englische Lebensanschauung; die Soziallehren

der christlichen Kirchen stehen nach Tröltschs großem Geschichtsbild

in fortschreitender Entwicklung unter dem Einfluß des

Zeitgeists; der Jesuitismus greift mit der Gegenreformation in politische

Grundsätze wie in Erziehungsmethoden ein und wird zur Stütze

des Absolutismus; in derselben Zeit aber entwickelt sich als Folgewirkung

großer Entdeckungen das von Dilthey in seiner Entstehungsgeschichte

dargestellte natürliche Weltbild, worin Naturrecht, natürliche

Religion und natürliche Gesellschaftsordnung eingeschlossen sind.



Eine weitere Bedingtheit besteht in der Standeszugehörigkeit und

in den gesellschaftlichen Anschauungen, die einem Wandel der Werte

unterliegen. Das Weltbild der höfischen Gesellschaft wird gegen Ende

des Mittelalters durch das Aufblühen des städtischen Bürgerstandes

abgelöst. Man kann schon an dem Gegensatz des ritterbürtigen

Aristokraten Wolfram v. Eschenbach, der im „schildes ambet“ seine

angestammte Art erblickte, und des Meisters Gottfried von Straßburg,

von dem erworbene Zucht und Bildung verherrlicht wurden, die ganz

verschiedene Einstellung des ritterlichen und bürgerlichen Sängers

beobachten. Ein ähnlicher Übergang vollzog sich um die Wende des

17. und 18. Jahrhunderts in England seit der großen Revolution und

bald danach in Frankreich, für das B. Groethuysen das Werden eines

bürgerlichen Weltbildes dargestellt hat. In Deutschland aber setzt

sich mit Überwindung des Bildungsdünkels der Aufklärung im letzten

Viertel des Jahrhunderts ein organisches Weltbild durch, das von

Herder bis zur Romantik den Begriff des Volkes zur Ehre bringt als

einer gegliederten Einheit, die den unerschöpflichen Lebensquell und

schöpferischen Untergrund der Kultur bildet. Zersetzungen dieser

Einheit sind in der Folgezeit wieder durch einen extremen Individualismus,

der den „Einzigen“ in den Mittelpunkt der Welt rückte,

und durch den Materialismus eines proletarischen Weltbildes, das die

„Masse Mensch“ in den Kampf ums Dasein stellte, erfolgt, bis schließlich

durch den Nationalsozialismus dem Begriff des Volkes eine

wahrhaft religiöse Bedeutung zurückgegeben wurde.

|#f0403 : 379|



Was nur in flüchtigen Zügen und andeutenden Stichworten hier

aneinandergereiht werden konnte, soll im dritten Buch unter den

„Ordnungen“ eine ausführlichere Behandlung finden. Vorerst muß

der Hinweis genügen, aus wie vielerlei Voraussetzungen ein persönliches

Weltbild sich entwickelt, das schon in der Geburtslage nach

Abstammung, Raum und Zeit wie im gesellschaftlichen Lebenskreis,

in den der einzelne hineinwächst, Grundlagen empfängt, von denen

er sich teils gar nicht, teils nur infolge eingreifender Erlebnisse und

unter schweren Kämpfen losringen kann.



c) Horizont



Wenn sich das Weltbild als Genotypus wie als Phänotypus, in seinen

rassischen und ererbten wie in seinen zeitlichen und gesellschaftlichen

Grundlagen erkennen läßt, so muß es weiter darauf ankommen, diese

Abhängigkeiten mit den typischen psychologischen Strukturen in Einklang

zu bringen und einem System einzufügen, das die verschiedenartigen

Richtungen inhaltlich gliedert.



Ohne die Rücksicht auf kulturelle Bedingtheit an erste Stelle zu

setzen, hat Karl Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“

die gegenständlichen Inhalte, die im Weltbild des Menschen

zusammengeschlossen sind, in so reicher Mannigfaltigkeit und sorgfältiger

Unterscheidung dargelegt, daß an diese Einteilung angeknüpft

werden kann. Jaspers ordnet die Verhältnisse nach dem Bild konzentrischer

Kreise, die vom unmittelbaren Horizont des im Mittelpunkt

stehenden Ich bis zur absoluten Unendlichkeit sich ausweiten.

Es sind drei Sphären, deren erste als die erlebte, mit der Seele verwachsene

Welt sinnlich greifbares Objekt bleibt, während die zweite

als Bereich der Seele mit einem Sprung hinter die Dinge Vergangenes,

Erinnertes, Abwesendes, Zukünftiges subjektiv zusammenschließt;

über beiden steht die dritte Welt als Einheit von Subjekt und

Objekt, als das Absolute, das Metaphysische, das Totale, als Weltseele,

als Gott. Fast scheint es, als fänden sich die drei Gruppen, nach

denen oben (S. 362 ff.) die Typen des Erlebnisses gegliedert wurden,

wieder; doch wird ein gewisser Wechsel zwischen zweiter und dritter

Gruppe wahrzunehmen sein.



Das sinnlich-räumliche Weltbild der ersten Sphäre ist entwicklungsmäßig

als naturmythisch, naturgeschichtlich und naturmechanisch abgestuft;

es ist geschichtlich bedingt durch fortschreitende Naturerkenntnis

und wird jedem einzelnen in bestimmten Vorstellungen

als Bildungsgut seiner Zeit auferlegt. Allerdings gibt es, wie Jaspers |#f0404 : 380|



meint, noch heute manchen Menschen, der bei aller Erhebung über

die sinnlich-räumliche Gegenwart in dem begrenzten Kosmos der

Griechen lebt und nur in ihm existieren kann. Es darf hinzugefügt

werden, daß auch Dichter der Neuzeit anzutreffen sind, die über die

Schwellen der zeitlich geltenden Naturauffassung in naivem Vertrauen

auf ihre Sinne oder ihre Phantasie nach rückwärts oder vorwärts

hinwegschreiten; z. B. Johannes Schlaf, der das kopernikanische

System leugnen wollte, oder August Strindberg, dessen Absicht es

war, Newton zu widerlegen, die chemische Elementenlehre aufzuheben

und nach eigener Transmutationstheorie Gold herzustellen.



Die seelisch-kulturelle Sphäre, die an zweiter Stelle steht, ist die

des Verstehbaren, worunter alle Gebiete des Geistigen, die Formen

des Logischen, Ästhetischen, Religiösen, Politischen, Ökonomischen

begriffen sind. Vergangene Kulturen, menschliche Persönlichkeiten

und Seelenmythen werden hier zum Erlebnis, das zu künstlerischer

Gestaltung aufruft. Das wissenschaftliche Verstehen aber gelangt

schließlich in der Ordnung von Kulturkreisen, Typen und Geistesformen

zur Verabsolutierung in Historismus, Psychologismus und

Ideenlehre.



Das metaphysische Weltbild, das für den, der darin lebt, das

schlechthin Wirkliche bedeutet, kann nicht die Projektion in einen

leeren Raum des Jenseits sein, sondern es durchdringt und umfaßt

alle konkreten Weltbilder. Wenn nach seinem Ort gefragt wird, so

kann die Trennung zwischen Jenseits und Diesseits in einer neuen

Synthese aufgehoben werden, die, mit Jaspers zu sprechen, als Hierarchie

von Wirklichkeitsstufen sich aufbaut. Der Inhalt des metaphysischen

Weltbildes ist als mythologisch-dämonisch oder als philosophisch

in verschiedenen Spielarten zu charakterisieren. Die Geistestypen

sind bestimmt durch ihre Stellung zu subjektiven oder objektiven

Werten und deren Gegensätzen, wie zu Werten der menschlichen

Gemeinschaft; sie finden in den Antinomien des Denkens,

Wertens, Handelns und Leidens, wie in Kampf, Tod, Zufall und

Schuld ihre Grenzsituationen (vgl. oben S. 239); ihre Struktur teilt

sich zwischen Skeptizismus und Nihilismus, Halt im Begrenzten und

Halt im Unendlichen. Schließlich kann sich nach Art der Wirklichkeit,

die wesentlich und beherrschend wird, im dämonischen Leben

der Realist, der Romantiker und der Heilige unterscheiden.



Suchen wir in diesem Aufbau den Ort des dichterischen Weltbildes,

so deutet der letzte Hinweis an, daß sein Schwerpunkt in der zweiten

Sphäre liegen wird. Das seelisch-kulturelle Weltbild birgt in seinem

Subjektivismus die eigentlichen Schaffensantriebe. Zwar bilden alle |#f0405 : 381|



Vorstellungen und Eindrücke des sinnlich-räumlichen Weltbildes die

Bausteine, und die metaphysische Ganzheit gibt die Höhendimension

als emporstrebende Zielrichtung; aber in der Mitte liegt der Innenraum,

der im verstehenden und nachlebenden Gestalten von Kulturproblemen,

Persönlichkeiten und Mythen die Aufgaben der Formung

stellt. Gleichwohl kann, je nach der Beschaffenheit des Typus, auch

ein Übergewicht des im sinnlich-räumlichen Weltbild befangenen

Realismus oder der nach letzter Wirklichkeit und Ganzheit strebenden

Metaphysik gegeben sein.



Teilbegriffe des Weltbildes nehmen in jeder der drei Sphären eine

andere Problemgestalt an. Der Schicksalsgedanke, dessen rassische

Bedingtheit oben (S. 375 f.) besprochen wurde, erscheint in der ersten

Sphäre als mechanische Kausalität oder als blindes Fatum; in der

zweiten Sphäre nimmt er die Form einer vom Charakter unlösbaren

Immanenz an („In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“); im

dritten Bereich gibt es eine finale Kausalität, einen Weltwillen und

eine Transzendenz göttlicher Fügung. Wenn die Geschichtsauffassung

im Weltbild des ersten Kreises materialistisch ist und wirtschaftliche

Faktoren als ausschlaggebende Schicksalsmächte betrachten

kann, so ist sie deshalb dichterischer Gestaltung nicht unzugänglich,

wie etwa Bernard Shaw beweist; nur setzt sie sich in diesem

Fall ironisch auseinander mit dem Gegenbild des zweiten Kreises,

ohne das sie nicht denkbar ist, mit der heroischen Auffassung, die

alles entscheidende Geschehen auf das Wirken großer Männer zurückführt;

doch bleibt sie unberührt von der Teleologie des metaphysischen

Weltbildes.



Der Wille ist im ersten Kreis äußerlich, im zweiten innerlich

determiniert, im dritten frei oder gottgelenkt. Das Göttliche des sinnlich-räumlichen

Weltbildes erscheint in vielerlei Gestalten, die wie

Griechenlands Götter oder die der Germanen als versinnbildlichte

Naturkräfte sich darstellen; innerhalb der seelischen Sphäre waltet

Gott im eigenen Gewissen des Menschen („Nehmt die Gottheit auf

in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron“); metaphysische

Spekulation führt dagegen zur Allheit Gottes hin. Doch

läßt das dichterische Weltbild verschiedenartige Erscheinungsformen

nebeneinander bestehen, wie bei Goethe zu zeigen ist, der sich als

Künstler zum Polytheismus, als Naturforscher zum Pantheismus, als

sittlicher Mensch zum persönlichen Gott bekannte.



Die Begriffe von Recht und Vergeltung, von Gut und Böse

können im ersten Kreis durch Naturzweckmäßigkeit bestimmt sein,

im zweiten durch die Autonomie eines kategorischen Imperativs, |#f0406 : 382|



im dritten haben sie absolute Geltung. Ebenso unterscheidet sich die

Kunstauffassung, die im sinnlich-räumlichen Weltbild als Wirklichkeitsnachahmung,

im zweiten Kreis als ein aus dem Innern bestimmtes Schöpfertum,

im dritten als Gottesdienst und Heiligung der Welt erscheint.



Jede dieser im Weltbild begründeten Auffassungen gibt Richtlinien

der Gestaltung für Handlung, Motive und Charaktere der Dichtung,

für die Frage von Schuld und Sühne, für optimistische oder pessimistische

Lösung, für Problemstellung und Idee. Es konnte z. B.

durch Paul Böckmann aus Schillers geistiger Haltung die ganze Form

seines Dramas erklärt werden. Wenn Schiller den Mikrokosmos der

inneren Welt als den tiefen Schacht bezeichnet, aus dem des Menschen

Taten und Gedanken quellen, so trifft es nicht nur für den Charakter

des Schöpfers zu, sondern für alle seine Schöpfungen:



Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht,

So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.


d) Persönliche Prägung



Während die Ausdehnung des objektiven Weltbildes sich in dem

besprochenen System konzentrischer Kreise veranschaulicht, wird

eine andere Schichtung sichtbar beim Aufbau des Subjektes, als des

Schöpfers seines eigenen Weltbildes. Für Erich Rothacker liegt die

Ich-Schicht der Persönlichkeit als Überbau über der Tiefenperson

des Unbewußten. Ihre Stellung wird in mancherlei Gleichnissen gekennzeichnet

als die eines Armeebefehlshabers oder eines Reiters,

der das „Es“ wie ein Pferd lenkt. Die Personenschicht des Ich

diszipliniert die primitiven seelischen Funktionen; das Reitzeug

scheint dem „Es“ auferlegt zu sein wie ein Netzwerk, dessen Maschen

die aus dem Unbewußten aufsteigenden Regungen in Kontrolle

halten.



Das Unbewußte hat seine Grundlage in einer vegetativen und

animalisch-triebhaften Schicht; aber zugleich lagern in ihm all die

Zustandsgefühle und die Bilder, die im Traum oder in der Einbildungskraft

des Dichters aus der Tiefe auftauchen. Es kommt darauf

an, ob die unbewußten Gewalten, zu denen auch das Dämonische,

das Mystische, das Numinose gehörten, über das Ich die Herrschaft

gewinnen oder umgekehrt. Entweder zügelt der Reiter das Roß, oder

er unterwirft sich und läßt sich willenlos von ihm tragen, wohin es

ihm gefällt. Auch dieser Gegensatz trägt im Verhältnis von Gefühls-

und Intellektleben zur Bestimmung von mehr rationalen oder mehr

irrationalen Typen bei.

|#f0407 : 383|



Mit der Typenpsychologie setzt sich Rothacker ins Einvernehmen,

indem er Kinder, Frauen, Pykniker, Integrierte und Künstler mehr

aus dem Unbewußten, der Seele und dem Herzen heraus leben läßt,

als es den Schizoiden oder gar dem modern-rational-technischen Menschentyp

gegeben ist. Mit der Rassenpsychologie wird ein Zusammenhang

hergestellt, indem die Passivität der slawischen oder der orientalischen

Seele zu dem aktiven Wirklichkeitssinn und Ich-Bewußtsein

des nordischen Leistungsmenschen in Gegensatz gebracht wird. Freilich

ist auch der Typ des Romantikers, der als schizothym und nordisch

anzusprechen ist, ebenso wie der dämonische Mensch, der im

fälischen Wesen eine besondere Grundlage zu finden scheint, der

Übermacht des Unbewußten ausgeliefert. Ehe zu einer Schematisierung

geschritten werden kann, bedarf es weiterer Klärung.



Ähnlich wie Brentano und wie Goethe („Nicht hab' ich sie, sie

haben mich gedichtet“) gab Grillparzer dem Gefühl der Passivität

in seinem „Selbstbekenntnis“ Ausdruck:



Du nennst mich Dichter? Ich verdien es nicht,

Ein anderer sitzt, ich fühl's, und schreibt mein Leben,

Und soll die Poesie den Namen geben,

Statt Dichter fühl' ich höchstens mich Gedicht.



Gleichwohl haben in Grillparzers Weltbild die dunkeln und unbewußten

Elemente nicht die uneingeschränkte Herrschaft; vielmehr

mischen sich rationale Züge ein, etwa wie in seinem Traumspiel, das

hie und da durch wache Momente der Wirklichkeitsbesinnung unterbrochen

wird. Es verdankt einem Aufklärungsroman Voltaires seine

Fabel. Überhaupt scheint die österreichische Nachklassik der Biedermeierzeit

in demselben Maße auf einem Zusammenfluß von Aufklärung

und Romantik zu beruhen, wie die Weimarer Klassik als

Synthese von Aufklärung und Sturm und Drang gelten darf, indem

sie das irrationale Chaos des Gefühlslebens durch das Maß und den

normierenden Formsinn des aufklärerischen Neuhumanismus bändigte.



Für Goethes Weltbild hat Ewald A. Boucke das Charakteristischste

im Wechselspiel und Ausgleich antagonistischer Tendenzen wie Natur

und Geist, Erfahrung und Idee, Anschauung und Begriff gefunden.

Diese dynamische Polarität, die auch ein Gleichgewicht von Rationalismus

und Irrationalismus in sich schließt, war auf Herders

Pandynamismus zurückzuführen und berührte sich mit Kant, um

später in der Begegnung mit Schellings Naturphilosophie neue Bestätigung

zu finden. Ferdinand Weinhandls Buch über die Metaphysik

Goethes hat darüber hinaus die Goethe eigensten Begriffe des

Urphänomens und des Symbols in den Mittelpunkt gestellt und ist |#f0408 : 384|



von da aus zu den Deutungsproblemen dunkler Dichtungen wie des

„Märchen“, der „Weissagungen des Bakis“ und des „Faust“ vorgestoßen.

Obwohl der Dichter selbst solchen Schöpfungen eine einheitliche

Idee abstritt und überhaupt bekannte, daß er erst mühsam

durch Anschauen und Betrachten der Dinge zu Begriffen gelangt sei,

spiegelt sich doch in ihnen die Totalität des Lebens, wie er sie in

seinem Weltbild erlebte.



In bezug auf die Auslegung knüpft Weinhandl an diese Beispiele

beachtenswerte methodische Hinweise, indem er empfiehlt, die grundlegende

Physiognomie jeder einzelnen Gestalt zu erfassen, ja sogar

das Lokale in seinem Anschauungswert kartographisch festzulegen

und niemals einen einzelnen Zug isoliert auszudeuten, der nicht mit

dem weiteren und größeren Zusammenhang der Dichtung in Einklang

zu bringen ist. Das Ausgehen vom größten zugänglichen Ganzen ist

für jede Deutung im Goetheschen Sinne unerläßlich. Das Ganze muß

letzten Endes in dem Spiegelbild der ganzen Welt, die der Dichter

in sich trägt, zu finden sein, aber es ist nicht aus der einzelnen Dichtung

zu erschließen, sondern aus der Gesamtheit des Schaffens, so

widerspruchsvoll es erscheinen mag. Goethe selbst hat in einem

Altersbrief die vielerlei gegensätzlichen Beziehungen, an denen eine

symbolische Sinnesrichtung erfüllt werden kann, hervorgehoben:

„Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen

und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt,

durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde

Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu

offenbaren. Da alles, was von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung

beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine

Dichtungen auch wieder erleben wolle und werde.“



Solche Deutungsgrundsätze verlangen, daß das in Weltbild und

Werk übergegangene Erlebnis gesucht und das Ganze der Dichtung

aus der Ganzheit des Menschen, der sie geschaffen hat, verstanden

werden muß. Die Einfühlung aber setzt, wie schon oben (S. 253 ff.)

zur Beurteilung des einzelnen Werkes gesagt wurde, einigermaßen

gleichartige Lebenserfahrung voraus, und das Zustandekommen der

Intuition, die in das Innere des Werkes und des Dichters eindringt,

ist davon abhängig, ob sich der Empfänger auf gleiche Wellenlänge

mit dem Sender einzustellen vermag.



Eine andere, rationale Methode geht auf Interpretation aller außerhalb

der Dichtung liegenden Bekenntnisse aus, um in ihnen ein objektives

System zu finden, das dann wieder zur Deutung der Dichtung

verhelfen kann. Nicht immer aber, namentlich in älteren Zeiten, sind |#f0409 : 385|



die theoretischen Bekenntnisse so reichhaltig und eindeutig, daß sie

ohne konstruktiven Zwang sich zu einem klaren und eindeutigen

Weltbild zusammenschließen. Auch dann bleibt es fraglich, ob

theoretische und dichterische Sicht sich zur völligen Deckung bringen

lassen.



Besonders schwierig ist beispielsweise die Beurteilung Lessings,

dessen Bekenntnisse meist durch eine bestimmte Gelegenheit hervorgerufen

sind. Die Polemik zwang ihn gelegentlich, seine wahre

Meinung aus taktischen Gründen zu verbergen und gymnastikṽw

eine Stellung einzunehmen, die er dogmatikṽw nicht vertreten hätte.

Wenn die dabei erkennbare Mischung von Rationalismus und Individualismus

für Kurt May „eine wahre Merkwürdigkeit der Geistesgeschichte“

darstellt, so hat Franz Koch die eindeutige Abstempelung

zum Rationalisten mit Recht bekämpft und auf die irrationalen Züge

aufmerksam gemacht, die am wenigsten in der Dichtung, am stärksten

aber in den religiösen Auffassungen vertreten sind, so daß man

in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ sogar eine Annäherung

an mystisches Gedankengut finden kann. Lessings Weltbild scheint

sich demnach nicht nur als geschichtlich wandlungsfähig, sondern als

ein Aufbau, der aus verschiedenen Schichten der Innerlichkeit besteht,

zu offenbaren. Das empfand auch Goethe, der seine Prometheus-

Ode aus einer religiösen Überzeugung verstanden sah, der er sich

nahe fühlen konnte.



Lessing selbst hat geradezu bestritten, daß der Dichter ein System

haben könne: „Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget,

und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und

ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem

halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln und

wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern Gestalt in seine Wohnungen

mit sich, weiter aber auch nichts als die Gestalt. Der Dichter

ist ein philosophischer Dichter und der Weltweise ein poetischer

Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum

noch kein Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch

kein Poet.“ Diese Sätze, in denen das Wort „Gestalt“ anders als im

heutigen Sinne angewandt wird, stehen in der von Lessing und Mendelssohn

gemeinsam verfaßten Schrift „Pope ein Metaphysiker!“. Sie

nehmen Stellung zu der Preisaufgabe der Berliner Akademie der

Wissenschaften, die eine Untersuchung des Popischen Systems und

seines Verhältnisses zum Optimismus verlangt hatte.



144 Jahre später wurde Lessings eigenes System zum Gegenstand

einer Preisaufgabe, als die Stadt Braunschweig den 200. Geburtstag |#f0410 : 386|



des in ihren Mauern verstorbenen Dichters feierte und einen vom

Reichspräsidenten v. Hindenburg gestifteten Preis für die beste Darstellung

von „Lessings Weltanschauung“ aussetzte. Von 21 eingereichten

Arbeiten sind vier zum Druck gekommen und erlauben einen

Vergleich der zur Anwendung gebrachten Methoden. Drei von ihnen

stellen ein formuliertes Ergebnis voran, das auf den Gebieten der

Theologie, Ästhetik, Kritik, Dichtung und Philosophie verschiedenartige

Bestätigung findet: Für Eckart Jacobi heißt das System dynamischer

Monismus; für Albert Malte Wagner ist es ein Irrationalismus

nicht dumpfschauender Haltung, sondern hellen Kämpfertums,

das sich nicht kümmert um die Welt, wie sie ist, sondern um die

Welt, wie sie sein soll. Lessings Kampf um die Kunst, um Gott und

um den Menschen bilden drei Kapitel, in denen mehr die Kraft und

das Temperament als das System des Nichtsystematikers Darstellung

finden. ─ Benno v. Wiese wiederum, der Lessings Lebensleistung in

der persönlichen Weiterbildung ideengeschichtlicher Aufklärungszusammenhänge

erblickt, will zwar auf eine endgültige Formel verzichten,

glaubt aber doch im Begriff einer prästabilierten Harmonie

zwischen den Gegensätzen des christlichen und natürlichen Weltbildes,

des exoterischen und esoterischen Denkens, der objektiven und

subjektiven Vernunft einem Lessingschen System am nächsten zu

kommen. ─



Der einzige von den vier Darstellern, der sich nicht von vornherein

am Stützpunkt einer geprägten Formel angeseilt hat, sondern mit

Steigeisen emporklimmt, ist der Preisträger Hans Leisegang, der an

dieser Aufgabe das System seiner „Denkformen“ zu erproben Gelegenheit

fand. Bestanden in Lessings Zeit neben der Orthodoxie drei

Weltanschauungsmöglichkeiten, nämlich als erste der Materialismus,

als zweite Mystik, Pantheismus und monistischer Personalismus, als

dritte der Idealismus, so konnte nun die Prüfung der Lessingschen

Bekenntnisse auf Zugehörigkeit zur einen oder andern dieser Richtungen

vorgenommen werden. Ohne Trennung der dichterischen,

ästhetischen und religiösen Wirkungssphäre, doch mit Bevorzugung

der letzteren wurde eine Reihe von Schriften ausgewählt, die unter

Hinzuziehung anderer Äußerungen eine sorgfältige philologisch-philosophische

Interpretation fand. Es stellte sich eine Entwicklung heraus,

die zu jener „heimlichen Religion der Deutschen“ hinführt, die

dem zweiten Typus entspricht und als monistischer Personalismus

zu formulieren ist. Lessing soll diese seine Weltanschauung, die

zugleich seine Religion war, als ein Geheimnis mit sich durchs Leben

getragen haben, aber es wob sich soviel davon in seine Schriften |#f0411 : 387|



hinein, daß die Goldkörner zusammenzusuchen und sinnvoll aneinanderzureihen

sind.



Das Diadem, das Leisegang als Lessings heimliches Weltbild schmiedete,

hat der Dichter nicht zur Schau getragen; aber der Typus scheint

so folgerichtig gesichert, daß Leisegang es gelegentlich wagen kann,

einem mißverständlichen dichterischen Ausdruck die eigentliche Meinung

Lessings gegenüberzustellen. Eine philosophische, nicht philologische

Konjektur ist es, daß Lessing im „Nathan“ bei den Versen:



Der du allein den Menschen nicht

Nach seinen Taten brauchst zu richten, die

So selten seine Taten sind, o Gott!


hätte sagen müssen: „die niemals seine Taten sind.“ Leisegang

hat nach seiner eigenen Denkform recht: „Eine so komplizierte

Verknüpfung von Menschen und Geschehnissen kann nur dann zu

einem guten Ende kommen, wenn alle Menschen nicht ihre, sondern

Gottes Taten tun, der durch sie hindurch handelt, nicht nur durch

die guten, sondern auch durch die bösen Menschen. Wir haben aber

gesehen, daß Lessing vor dieser Konsequenz, das Böse mit dem Gott

aufzunehmen, immer zurückschreckte; und so setzt er auch hier ‚selten‘

ein, wo ein ‚niemals‘ hätte stehen müssen, wenn das Ganze

einen befriedigenden und dem ganzen Verlauf der Sache entsprechenden

Sinn erhalten sollte.“ Das ist nicht zu bestreiten, aber der

Schluß kann nur der sein, daß das persönliche Weltbild Lessings

gegenüber dem ausgeprägten Typus an letzter Folgerichtigkeit

zurückstand.



Als eine andere Stelle des „Nathan“, die nach Lessings eigentlichem

Weltbild zu ändern wäre, erwies sich die Umdeutung der Ringparabel

aus dem Boccaccio. Nach der Überlieferung war einer der Ringe, obzwar

unerkennbar, der echte. Nach Lessings eigentlicher Überzeugung

aber waren die durch drei Ringe versinnbildlichten positiven

Religionen gleich wahr und gleich falsch, während als vierte die Vernunftreligion

in ihnen allen enthalten und ihnen übergeordnet wäre.

Ihr würde ein vierter Ring als der eigentlich echte entsprechen. Lessing

läßt zwar die Vermutung äußern, daß dieser vierte Ring verlorengegangen

sein könne, aber es ist ihm nicht möglich, die Parabel in

diesem Sinne umzugestalten. Er hat also in seinem reifsten Werk die

frühere Behauptung, daß Dichtung und Gedankensystem nicht durchaus

in Einklang zu bringen seien, bestätigt.



Die vier Bearbeiter der Preisaufgabe, der Theologe, der Literarhistoriker,

der Journalist und der systematische Philosoph haben in

Lessing, der alle vier Berufe und einige andere mehr erfüllte, jeder |#f0412 : 388|



etwas Eignes hineingelesen. Wenn auch ihre Ergebnisse nicht so weit

auseinandergehen, wie die oben (S. 46) erwähnten vier verschiedenen

Kleistbilder, so scheint doch kaum ein sicherer Weg des Ausgleichs

zu bestehen, wie ihn Gerhard Frickes Kritik der Gegensätze

schließlich für Heinrich v. Kleist eingeschlagen hat.



Allerdings liegen die Probleme des Kleistschen Weltbildes wesentlich

anders. Der Introvertierte schrieb 1807 an die Frau seines Vetters:

„Sie haben mich immer in der Zurückgezogenheit meiner

Lebensart für isoliert von der Welt gehalten und doch ist vielleicht

niemand inniger damit verbunden als ich.“ Gefühl und Schicksal

wurden durch Gerhard Fricke als die zwei Brennpunkte des Kleistschen

Weltbildes erfaßt, das im Erlebnis der heiligen und unbedingten

Wirklichkeit des Ich seinen Existenzgrund findet. Damit ist die

weiteste Spannung zwischen Irrationalismus und Wirklichkeitssinn

bezeichnet. Sie schließt sich aber nicht erst zu einem theoretischen

System zusammen, sondern selbst da, wo Ansätze zu einem solchen

sich finden, wie in dem Aufsatz „Über das Marionettentheater“, ist

sie auf die Verkörperung eigener Seelenlage in menschlichen Charakteren

und Situationen gerichtet; schon das Erlebnis zielt über das

Weltbild hinaus auf dramatische Auseinandersetzung und auf die

Phantasiekraft dichterischer Gestaltung.



4. Phantasie, Traum-und Gefühlsleben


a) Phantasie



Wenn Wilhelm Dilthey in der Phantasie, die das Erlebnis nachbildet,

das eigenste Gebiet des Dichters und den Mittelpunkt der

Literaturgeschichte erblickte, so stellte er sich in offenen Widerspruch

zu jener Psychologie, der es genügte, das Wesen der Einbildungskraft

unabhängig von ihrer künstlerischen Funktion zu ergründen.

Die Experimentalpsychologie ging dabei von festen Vorstellungen

aus, in deren Veränderung durch Assoziation, Verschmelzung

und Apperzeption ein klarer Mechanismus zu spielen schien.



War die Phantasie in der spekulativen Ästhetik eines Fr. Th.

Vischer metaphysisch als die „subjektive Existenz des Schönen“ gedeutet

worden, so ist sie umgekehrt in einem psychologischen Lehrbuch

wie dem „Grundriß“ von Oswald Külpe nur als „neue Anordnung

und Verbindung der nämlichen Bewußtseinselemente, die bereits

in der sinnlichen Wahrnehmung enthalten waren“, also als eine

Art Umgruppierung des Gedächtnisses erklärt. Ähnlich hatte Wilh. |#f0413 : 389|



Scherers Positivismus die Phantasie als „verwandelnde Reproduktion“

mit dem Gedächtnis gleichsetzen wollen. Ernst Elster, der in

seinen „Prinzipien der Literaturwissenschaft“ gegen diese Entwürdigung

Einspruch erhob, betont mit Recht, daß die Beschaffenheit

der einzelnen Vorstellungen von der Frage nach ihrem Verlauf zu

trennen sei. Das einzelne Erinnerungsbild sinnlicher Wahrnehmung

mag in der Phantasie mit verstärkter Deutlichkeit wiederkehren, aber

die Verknüpfung, die sich als Denken in Bildern darstellt, wird

schließlich zu einem schöpferischen Vorgang, der auch der willensmäßigen

Regelung nicht entbehrt.



Unter Zugrundelegung der Wundtschen Unterscheidung von anschaulicher

und kombinatorischer Phantasie analysierte Elster die

verschiedenartige Phantasiebegabung Goethes, Schillers und Lessings

mit dem Ergebnis, daß bei Goethe die Gegenständlichkeit und Anschaulichkeit

im Übergewicht ist gegenüber der kombinatorischen

und erfinderischen Fähigkeit; bei Schiller dagegen stehen schnelle

Assoziation und stärkerer Anteil des Verstandes einer geringeren

Anschaulichkeit gegenüber; bei Lessing ist der induktive Verstand

(nicht der deduktive wie bei Schiller) stärker entwickelt, während die

kombinatorische und assoziative Phantasie gegenüber der Anschaulichkeit

im Hintergrund bleibt.



Wollte man diese auf die Klassiker angewandten Grundbegriffe

auch bei Analyse der Romantiker im Auge haben, so würde durchgehend,

wenn auch in verschiedenem Grade, ein stärkeres Zurücktreten

des Verstandes- und Willensmäßigen, ein weit freieres Walten

des Unbewußten, ein Eintauchen in das Traumleben und demgemäß

eine mehr sprunghaft assoziative als gegenständlich anschauliche

Phantasie zu beobachten sein. Es bleibt aber die Frage, wie weit

hier die ererbte Anlage, mit der ein bestimmter Typus nach den

Forderungen der Zeitströmung in den Vordergrund gedrängt wird,

oder das Stilgesetz, das die Anlage nach bestimmter einseitiger Richtung

lenkt, von ausschlaggebender Wirkung ist. Wenn ein Vollromantiker

wie Clemens Brentano im Alter darüber klagt, daß er

zeitlebens seine Phantasie verhätschelte und überfütterte und dafür

schließlich von ihr aufgefressen worden sei, so konnte er dafür mehr

die Stilrichtung der Zeit verantwortlich machen, als seine romanische

Abstammung. Anderseits hat ein Theodor Fontane, den man als rationalen

Sinnenmenschen charakterisiert hat, seine mehr anschauliche

als kombinatorische Phantasie im Zeitalter des Realismus zugunsten

psychologischer Folgerichtigkeit verkümmern lassen, und es ist die

Frage, wie weit daran die französische Abstammung Anteil hatte. |#f0414 : 390|



Diese Probleme sollen im dritten Buch bei der Zeitordnung der

Generation zur Behandlung kommen.



Eine scheinbar ganz andere Einteilung ist bei dem Franzosen

Théodule Ribot zu finden, in dessen „Essai sur l'imagination créatrice“

der schöpferischen Einbildungskraft, die von der reproduktiven

getrennt wird, auch eine mystische, eine wissenschaftliche, eine

praktische und mechanische, eine geschäftliche oder kommerzielle

und eine utopische Betätigung zugewiesen ist. Das kommt beinahe

auf die oben (S. 357) besprochene Vielfältigkeit der „Lebensformen“

von Eduard Spranger hinaus, der an anderer Stelle neben dem künstlerischen

Schaffen auch den Wundern und Geheimnissen der Religion,

den großen Intuitionen der Philosophie und den Idealen und Zielen

der Menschheit einen Sitz in dem ewig regen Schaffen der Phantasie

zugesteht.



Bei Ribot bleiben dem künstlerischen Schaffen die gegensätzlichen

Funktionen einer plastischen und einer zerfließenden Phantasie überlassen.

Wenn die erste unter bestimmten Assoziationen mehr räumliche

und weniger affektive, die zweite unter bestimmten Assoziationen

mehr zeitliche und musikalische Elemente in sich trägt, so weicht die

Unterscheidung wenig ab von der durch Wundt und Elster vollzogenen

Trennung des Anschaulichen und Kombinatorischen. Es ist sogar

eine Übereinstimmung zu erkennen mit der gebräuchlichen Einteilung

der Künste in optische und akustische oder in solche des Raumes

und der Zeitanschauung.



Der Dichtung bleibt eine Heimat auf beiden Feldern offen. Der

plastischen Dichterphantasie werden Victor Hugo und die Parnassiens

zugeteilt, der schweifenden, zerfließend musikalischen solche

Erscheinungen wie E. Th. A. Hoffmann und E. A. Poe. Damit wäre,

falls verallgemeinert werden darf, ein Unterschied romanischer und

germanischer Wesensart getroffen. Es wäre weiter eine Anknüpfung

an die gangbare Zweiteilung des Klassischen und Romantischen möglich,

wenn diese Polarität erschöpfend wäre und wenn nicht außerdem

Stilrichtungen wie Realismus und Impressionismus Beachtung

verlangten, die der Phantasie überhaupt weniger freien Spielraum

lassen.



Walzel spricht der Ribotschen Einteilung jeden Wert ab im Vergleich

mit den exakter unterscheidenden kunstgeschichtlichen Grundbegriffen

Wölfflins. Ein neueres Buch vollends, wie das von Max

Nußberger, das den Titel „Die künstlerische Phantasie in der Formbildung

der Dichtkunst, Malerei und Musik“ trägt, nimmt überhaupt

keinen Bezug auf die Phantasie-Anlage des Künstlers wie auf alle |#f0415 : 391|



Produktionsfaktoren, sondern richtet sich ausschließlich auf formale

Eigenschaften der Kunstwerke, auf die Gestaltungsgrundformen der

Steigerung, Häufung, Schlichtung und Ordnung, von denen die erste

und dritte in den bildenden Künsten, die zweite und vierte in der

Musik vorherrschen sollen, während die Dichtung an allen vier Grundformen

beteiligt ist. Über der entwicklungsgeschichtlichen Konstruktion,

die das Prinzip der Steigerung im Märchen, das der Häufung bei

Homer, das der Schlichtung bei Shakespeare und das der Ordnung

bei Goethe zum Vorrang gelangen läßt, werden aber die zeitlosen

psychologischen Voraussetzungen so völlig übersehen, daß die im

Titel erregten Erwartungen unerfüllt bleiben.



b) Anschaulichkeit



Wenn von den beiden Grundrichtungen der Phantasie zunächst die

erste in ihrer dichterischen Auswirkung betrachtet werden soll, so

ist der oben (S. 346 f.) besprochene Typus des Eidetikers in seiner

stärksten Ausprägung zweifellos der anschaulichen und plastischen

Phantasieanlage zuzurechnen. Ob die inneren Anschauungsbilder, die

hervorzubringen ihm gegeben ist, bis zu halluzinatorischer Deutlichkeit

sich steigern können, hängt von der Stärke der Phantasie ab.

Es können ins Bewußtsein zurückgerufene Erinnerungen auftauchen

oder erdichtete Situationen und Gestalten mit der Deutlichkeit neuer

Wirklichkeits- und Sinneseindrücke vor ihren Schöpfer treten. Im

zweiten Falle wird sich das innere Anschauungsbild keineswegs nur

auf optische Eindrücke beschränken, sondern im gleichen Maße Akustisches

und Bewegungsmäßiges sich abspielen lassen.



Goethe, der (vgl. oben S. 351 f.) die charakteristische Sprechweise

eines Menschen nach langer Beobachtung fortzusetzen und ihn seinem

Charakter entsprechend weiterreden zu lassen imstande war,

beschreibt in „Dichtung und Wahrheit“, wie er inmitten einer dramatischen

Schaffensperiode diese Gabe pflegte und einsames Denken

in gesellige Unterhaltung verwandelte: „Er pflegte nämlich, wenn

er sich allein sah, irgendeine Person seiner Bekanntschaft im Geiste

zu sich zu rufen. Er bat sie, niederzusitzen, ging an ihr auf und ab,

blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der

ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich oder gab

durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen;

wie denn jeder Mensch hierin etwas Eigenes hat ... Das wunderlichste

war dabei, daß er niemals Personen seiner näheren Bekanntschaft

wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die |#f0416 : 392|



weit in der Welt entfernt lebten und mit denen er nur in einem vorübergehenden

Verhältnis gestanden.“



Unbeschadet seiner visuellen Anlage hat Goethe bei solcher Gedankendisputation

Wort und Bewegung wichtiger werden lassen als das

optische Bild. Kann auch hier keineswegs von Halluzinationen, sondern

nur von einem Spiel der Willkür gesprochen werden, so kommen

andere Beispiele, in denen sich dichterische Gestalten zu sinnlicher

Realität verdichten, näher an das Halluzinatorische heran und

können zum mindesten visionäre Anschaulichkeit für sich in Anspruch

nehmen. Goethe fand, während er mit der ersten Gestalt des

„Wilhelm Meister“ und mit „Tasso“ beschäftigt war, kein besseres

Wort für seine Arbeit, als „mit den Geistern reden“. In der Jugendzeit

wurde er zu einem seiner Phantasiegeschöpfe, der verführerischen

Adelheid des „Götz“, leidenschaftlich hingezogen. In der

Zueignung des „Faust“ sprach er von den schwankenden Gestalten,

die ihm wieder nahten und die er festzuhalten suche; sie brachten

mit sich die Bilder froher Tage und ließen liebe Schatten aufsteigen;

also hatten sie sich dem Dichter gegenüber noch nicht völlig objektiviert,

sondern trugen in sich ein Stück seines eigenen Erlebens.



Balzac wiederum fand in sich das Vermögen, „wie der Derwisch

in Tausend und Eine Nacht Körper und Seele der Personen anzunehmen,

die er darstellen sollte“. Flaubert schrieb an Taine: „Die

Gestalten meiner Einbildungskraft affizieren mich, verfolgen mich,

oder vielmehr, ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich beschrieb, wie

Emma Bovary vergiftet wird, hatte ich einen so deutlichen Arsenikgeschmack

auf der Zunge, daß ich zwei Indigestionen davontrug.“

Diese vielzitierte Selbstbeobachtung, auf die Taine eine Halluzinationstheorie

gründete, wurde allerdings von Freunden Flauberts, die

seine Übertreibungssucht kannten, angezweifelt und von A. Daudet

lediglich für ein „parole de lyrique“ erklärt.



Wie sehr sich aber die Phantasiegeschöpfe des Schöpfers selbst

bemächtigen können, hat Turgenjeff verraten; er dachte, sprach und

ging so wie seine Romanhelden, und als er an dem Roman „Väter

und Söhne“ schrieb, will er für lange Zeit die charakteristische

Sprache seines Basaroff angenommen haben.



Ein ähnliches Selbstzeugnis legte Gontscharof ab, dem die Personen

in solcher Deutlichkeit erschienen, daß er Bruchstücke ihrer Gespräche

zu hören glaubte. Auch Jean Paul verlangte, daß der Dichter

im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer seiner

Charaktere sei: „er schaut sie lebendig an, und dann hört er sie.“



Andere wiederum geben den Helden unbewußtermaßen ihre eigene |#f0417 : 393|



Sprache. So bleibt es eine ständige Wechselwirkung von Objektivierung

des Subjektiven und Subjektivierung des Objektiven. Alle zur

scheinbaren Eigenexistenz und Wirklichkeit werdende Loslösung

dichterischer Gestalten von ihrem Schöpfer aber hat zur Voraussetzung,

daß er sich selbst von der Außenwelt abschließt und mit

seiner eigenen Welt allein ist. So konnte etwa der einsame Otto

Ludwig an seinen einstigen Lehrer Ambrunn schreiben, sobald er es

wünsche, bevölkere sich das stille Tal mit edeln, guten, ernsten,

komischen, bösen Bewohnern. „Wenn mir's gefällt, gehe ich mit

Göttern und Königen um.“



Berühmt geworden sind die Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs „Mein

Verfahren beim poetischen Schaffen“ und „Das Farben- und Formenspektrum“.

Aus einer musikalischen Stimmung entwickelte sich

vor seinem inneren Auge eine Farbe, entweder ein tiefes, mildes

Goldgelb, oder ein glühendes Karmosin und in dieser Beleuchtung

wurde allmählich eine Gestalt sichtbar. Die Fabel erfand sich, und

ihre Erfindung war nichts anderes, als das Entstehen und Fertigwerden

der Gestalt und Stellung. „Nun weiß ich“, so schrieb er, „was

jene Gestalt und ihre Gebärde war; nichts anderes als der sinnlich

angeschaute, tragische Widerspruch; der eine Faktor die Gestalt, die

Existenz (der Grund davon), der andere die Gebärde, der sinnlich

angeschaute prägnante Moment, in welchem am schärfsten Kontraste

die Einheit erscheint.“



Auch mehrere Gestalten traten zusammen und erschienen wie

Marmorstatuen einer plastischen Gruppe, auf welche die Sonne durch

einen Vorhang fiel, der jene Grundfarbe hatte. Wunderlicherweise

gab die Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe wieder,

sondern manchmal erschien nur eine charakteristische Figur in irgendeiner

pathetischen Stellung, und an diese Situation schossen

immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis das

ganze Stück in allen seinen Szenen da war.



Diese Beschreibung pflegt als genaueste Wiedergabe einer dichterischen

Konzeption angeführt zu werden, aber zu Unrecht, sonst

würde sie auf einer Selbsttäuschung beruhen. Ehe der Dichter bestimmte

Situationen und Gestalten schauen konnte, mußte ihm der

Stoff mit seinen Motiven und Problemen bereits vertraut sein. Es

kann sich nur um einen späteren Ausbau der ersten Konzeption handeln,

um die Fabel, die geprägt, nicht erfunden wurde, wobei die

dem Eidetiker eigene Gabe des inneren Anschauungsbildes von Bedeutung

wurde. Bestimmte Farbenempfindungen wurden auch von

anderen Dichtern als Grundstimmung eines werdenden Werkes erlebt, |#f0418 : 394|



z. B. wollte Flaubert in „Salambo“ etwas Purpurnes erscheinen

lassen und in „Madame Bovary“ nichts anderes, als die Schimmelfarbe

der Kellerassel, während Hebbel erzählte, beim ersten Akte

seiner „Genoveva“ habe ihm die Farbe eines Herbstmorgens vorgeschwebt,

beim „Herodes“ vom Anfang bis Ende das brennendste

Rot.



Gustav Freytag, der die Aufzeichnungen Otto Ludwigs zuerst veröffentlichte,

machte dazu die sachkundige Bemerkung, dies sei nicht

die Schaffensweise des Dramatikers, der viel mehr die Seelenbewegungen

der Charaktere empfinde, als daß er ihre Haltung und Stellung

in Ruhelage vor sich sehe. „Das Wesen des dramatischen Bildens

ist nicht ein Hängen an Situationen, sondern das kräftige unablässige

Fortbewegen der Charaktere und Handlung.“ Freytag charakterisiert

damit die motorische Phantasie des Dramatikers, der

nicht Statiker, sondern Dynamiker ist, der seine Gestalten nicht allein

schaut, sondern innerlich durchlebt und äußerlich in Bewegung setzt.

In seiner schauenden Haltung dagegen verrät sich Otto Ludwig als

versetzter Epiker. Unter den Erzählungen, nicht unter den Dramen,

findet sich dieser Anlage entsprechend sein Meisterstück.



c) Erfindung



Alles Erfinden und Entdecken im höheren Sinn wird in Goethes

„Sprüchen in Prosa“ als Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls

bezeichnet als eine aus dem Innern am Äußeren sich entwickelnde

Offenbarung, als „eine Synthese von Welt und Geist, welche von der

ewigen Harmonie des Diesseits die seligste Versicherung gibt“. Bei

Eckermann steht eine Variation dieses Gedankens, wonach die Erfindung

in niemandes Gewalt ist, sondern der Mensch sie als unerhofftes

Geschenk von oben zu betrachten habe.



Mag der erste Ausspruch sich vor allem auf Wissenschaft und Technik

beziehen, so schließt der zweite gewiß die Dichtung ein; beide

treffen darin zusammen, daß zwischen Entdeckung und Erfindung

kein großer Unterschied angenommen wird, daß vielmehr auch in

der Erfindung mehr eine Erschließung bisher verborgener Zusammenhänge

als ein freier Akt der Willkür zu sehen ist.



Das Wesentliche der dichterischen Erfindung liegt darin, daß in

der Darstellung etwas Neues zur Anschauung kommt. Es kann nicht

so sehr im Stoff bestehen als in der Entstofflichung. Der Stoff wird

gefunden, nicht erfunden. Auch die Situationen und Motive brauchen

und können, wie im ersten Buch (S. 134, 170) gezeigt wurde, durchaus |#f0419 : 395|



nicht immer ganz neu sein. Wenn sie nicht auf unmittelbarer Beobachtung

des alltäglichen Lebens oder auf geschichtlichem Geschehen

beruhen, so handelt es sich um Erfindungen der Völker, die

in Märchen, Sagen und Mythen Jahrtausende lange Wanderungen

vollzogen haben. Unter ihnen sind schon die häufigsten Grundmotive

der Dichtung vorhanden.



Das Motiv wandelt sich weniger als der Gedanke, von dem Lichtenberg

sagte, daß einer ihn zeugt, während der andere ihn aus der

Taufe hebt, der dritte Kinder mit ihm zeugt, der vierte ihn am

Sterbebett besucht und der fünfte ihn begräbt. Das Motiv besitzt

zähere Langlebigkeit, aber dafür weniger Mannigfaltigkeit. Schon

Herder meinte, wo es bloß auf sinnliches Verhältnis ankomme, seien

überhaupt keine neueren Erfindungen ins Unendliche möglich.



Neugeschaffenes tritt infolgedessen weniger bei den Motiven an

sich hervor als bei der Motivierung, der die Wandelbarkeit des Gedankens

gegeben ist. Auch Charaktere können nicht eigentlich erfunden

werden, es sei denn als Kontrastfiguren, und dann liegt das

Erfinderische mehr in den Mitteln der Charakterisierung. Auch erscheint

Neues weniger in der Fabel als im Fabulieren, weniger im

Stil als in der Stilisierung, und nicht in der Idee, sondern in der

Idealisierung.



So wenigstens ist es um die Einstellung einer gegenständlich anschauenden

Phantasierichtung beschaffen. Wenn Goethe an Lord

Byron die immer überraschende neue Erfindung bewunderte, so

konnte er nur die sprudelnde Eingebung meinen, durch die eine Fülle

von Motiven verknüpft wurde. Wenn er dagegen an Schillers Natur

eine gewisse Gewaltsamkeit auszusetzen hatte, die dem Gegenstand

wenig Achtung erwies und ihn mehr von außen ansah, als aus dem

Innern entwickelte, so charakterisierte er damit die ihm fremde kombinatorische

Phantasie, die nicht für vieles Motivieren war. Goethes

gegenständliche Anschaulichkeit konnte mit der schnellen und leichten

Verknüpfung der Motive nicht mitkommen. Selbst bei einem

geformten Mythos wie der Tell-Sage hielt er einen Eingriff für nötig

und verlangte, daß Geßler erst durch die herausfordernden Worte

des Knaben auf den teuflischen Einfall des Apfelschusses gebracht

werde. In „Wallensteins Lager“ drang er auf Erklärung, wie der

Bauer in den Besitz der Würfel gekommen sei. So schien es ihm notwendig,

durch kleine Erfindungen die lockere Verknüpfung der Handlung

zu verdichten.



Die Jugenddramen Schillers gaben viel mehr Anstoß, etwa bei

der Leichtgläubigkeit des alten Moor gegenüber dem als Überbringer |#f0420 : 396|



einer gefälschten Todesnachricht vermummten Hermann, oder bei

dem plötzlichen Entschluß des Räuberhauptmanns, von der Donau

nach Franken zu marschieren, bloß weil ihn der Name Amalia rührte.

Auch im „Don Carlos“ treten noch bei der Einfädelung des Stelldicheins

mit Prinzessin Eboli derartige Schwächen unkontrollierter Erfindung

in Erscheinung. Gleichwohl trägt der Schwung, der von einer

wirkungsvollen Situation zur anderen springt, über die fehlende

innere Folge hinweg.



Heinrich v. Kleist dagegen, der die Erfindung als ausschlaggebend

für ein Kunstwerk ansah, wollte in ihr „nicht das, was den Sinnen

dargestellt ist, sondern das, was das Gemüt durch diese Wahrnehmung

erregt“, erkennen. Für ihn lag Erfindung in der eigentümlichen

psychologischen Spannung, die manchmal, wie in der Anschauungsfülle

des „Zerbrochenen Krugs“, fast zu viel an realistischer

Motivierung mit sich schleppt.



Wenn bisher hauptsächlich von der dramatischen Erfindung als

Motivverknüpfung die Rede war, so tritt in der Lyrik das erlebte

Anschauungsbild an die Stelle des Handlungsmotivs (vgl. oben S.

175) und die Erfindung besteht in metaphorischer Beseelung der

Sinneswahrnehmungen. Nikolaus Lenau tadelte in einem Brief an

Anton Schurz die auf Beschreibung beschränkte schwäbische Naturdichtung

eines Karl Mayer als „Lauern auf Naturerscheinungen und

Herumspionieren“. Im Gegensatz dazu meinte er: „der Dichter soll

seine Gebilde im Innern und aus seinem Innern hervorschaffen, und

die äußere Natur soll ihm nur aus der Erinnerung, die im Augenblicke

der dichterischen Tätigkeit freilich zur fruchtbaren Anschauung werden

muß, gewisse Mittel suppeditieren.“ Er verlangte also auch im

lyrischen Naturbild eine Beteiligung der Erfindung im Durchgang

durch das Weltbild.



Ebenso hat derselbe Gottfried Keller, der mit trunkenem Sinn den

goldenen Überfluß der Welt in sich aufnehmen wollte, es im „Grünen

Heinrich“ als wahren Nachgenuß der Schöpfung gepriesen, wenn

man erst einmal eine Landschaft selbst hervorbringen könne ohne

Vorbild: „Wälder, Täler und Gebirgszüge oder nur kleine Erdenwinkel,

frei und neu und doch nicht anders, als sie irgendwo entstanden

und sichtbar sein müssen.“ Als solchen Erdenwinkel erfand er sein

„Seldwyla“, die kleine Stadt, die irgendwo in der Schweiz gelegen

sein muß. Sie ist keine Märchenerfindung und keinem Phantasielande

zugeteilt, sondern mit soviel Wirklichkeitsbeobachtung ausgeschmückt,

daß sie als Typisierung heimatlicher Lebenseindrücke

gelten darf.

|#f0421 : 397|



Ein anderes Motiv, das bei Kellers epischen Erfindungen mitwirkt,

liegt in den Wunschträumen, denen die Dichtung als resignierter

Lebensersatz eine behagliche Verwirklichung gewähren kann. Wie

Jean Pauls armes Schulmeisterlein Wuz aus eigener Erfindung die

Bücher schreibt, von deren Titeln er gehört hat und die er sich

nicht anschaffen kann, so verschreibt sich der einsame Züricher

Stadtschreiber die Geliebten, deren er im Leben nicht teilhaftig werden

konnte, und versammelt sie um seinen Landvogt von Greifensee.

Wie Erfahrung und Erfindung dabei ineinandergreifen, wird dadurch

gekennzeichnet, daß der Hagestolz Sebastian Landolt eine geschichtliche

Persönlichkeit war, während die ihn umgebenden Frauengestalten

in Erlebnis und Phantasie des Dichters Wurzel und

Ursprung haben.



Umgekehrt ist in Novalis „Heinrich v. Ofterdingen“ die mythische

Figur des Zauberers Klingsor mit dem Bilde Goethes als Meisters

der Dichtung verschmolzen. Klingsor verlangt, daß die Poesie als

strenge Kunst betrieben werde: „Als bloßer Genuß hört sie auf,

Poesie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen

und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der

verkehrte Weg.“ Es ist die Frage, ob damit Goethesche Grundsätze

wiedergegeben werden sollten, oder die des Dichters Hardenberg,

der zeitweilig ernstlich über die Geheimnisse einer Erfindungskunst

nachsann. Seine fließende Phantasie war anders beschaffen, als die

Gegenständlichkeit des Weimarer Meisters; in flüchtiger Beweglichkeit

band sie die einzelnen Motive nicht durch kausale Verkettung

aneinander, sondern an die Stelle innerer Folge trat ein Gewebe symbolischer

Beziehungen zum Ganzen. Auch das Bild der blauen Blume

ist weder Naturbeobachtung noch eigene Erfindung. Das Neue liegt

in der eigenartigen Traumeinkleidung und in der Deutung als Sinnbild

der Poesie.



Französische Forscher versuchten die Psychologie der Erfindung

zu systematisieren. So hat F. Paulhan auf Grund vieler Selbstzeugnisse

von Dichtern, Musikern und Forschern vier Typen aufgestellt,

die durch die Begriffe Entwicklung, Umgestaltung, Abweichung

sowie Nachahmung und Routine bezeichnet sind. Es handelt sich

dabei im wesentlichen um von außen kommende stoffliche Anregungen

und ihre mehr oder weniger bewußte Weiterbildung im Kunstwerk.

Instinkt, Gedächtnis und Nachahmung werden beteiligt, aber

weder der bewußte Seeleninhalt des persönlichen Weltbildes, der der

Erfindung seine inneren Gesetze diktiert, findet Berücksichtigung

noch das Chaos von Schlummerbildern, Urbildern, Wunschbildern |#f0422 : 398|



und erfühlten Sinnbildern, das den Inhalt des unbewußten Seelenlebens

bildet.



Inzwischen ist unter dem starken Einfluß der Psychoanalyse wieder

ein Umschlag nach der anderen Seite erfolgt und dem Unbewußten

auch in den Fragen dichterischer Erfindung ein Übergewicht über

das Bewußtsein und den verstandesmäßigen Willen zugestanden worden.

Der amerikanische Psychologe Fr. C. Prescott hat in seinem

Buch „The poetic mind“ den Dichter wieder, wie es schon oft geschah,

dem Träumer gleichgesetzt. Wenn auch das Bewußtsein nicht

ausgeschaltet ist, so kommt doch das „Es“ gegenüber dem „Ich“ zu

neuer Geltung unter dem Motto von Wagners Hans Sachs:



All Dichtkunst und Poeterei

Ist nichts als Wahrtraumdeuterei.


d) Traumleben



Die unbewußte Erlebnisgestaltung des Traumes führt so nahe an

die Dichtung heran, daß sie schon oft mit ihr in Vergleich gesetzt

wurde. Ja sie ist geradezu für die Wesenserkenntnis dichterischer

Phantasie in Anspruch genommen worden. Als unmittelbare Vorstufe

der Dichtung hat Fr. Theodor Vischer den Traum anerkannt, und

Dilthey sprach von ihm als dem verborgenen Poeten in uns. Wenn

auch nicht der Ursprung des menschlichen Kunsttriebs überhaupt auf

das Traumleben zurückgeführt werden kann, wie versucht wurde, so

bedeutet es doch eine fortlaufende, die Dichtung speisende Quelle.

Mythen und Sagen sind Träume der Völker; so bildet z. B. die Vorstellung

der goldenen Zeit zugleich eine traumhaft verklärte Erinnerung

und einen Wunschtraum zukünftiger Erfüllung. Die Märchen

teilen mit dem Traum die Anschauungsform einer ideellen Zeit, die

Vergangenheit und Zukunft verbindet, sowie die eines ideellen Raumes,

in dem die Landschaften als Wandeldekorationen vorüberziehen

und das Gesetz der Schwere sich verliert. Im Märchen herrscht auch

jene von der Folgerichtigkeit des Denkens unterschiedene Logik der

Phantasie, die als scheinbare Entfesselung von der Gebundenheit des

Leibes den Traum charakterisiert.



Gleichwohl ist der Traum kein ungebundener Schöpfer und Erfinder,

sondern an Leben und Erleben geknüpft. Die inneren Bilder,

die auf Sinneserfahrungen und Wirklichkeitseindrücke zurückgeführt

werden müssen, sind in einer anderen Ordnung als der des wachen

Denkens aneinander gefügt, so daß der Träumende ein zweites Leben

zu führen scheint in der Teilung zwischen hervorbringender und |#f0423 : 399|



beobachtender Haltung. Dabei verdunkelt der Schlaf das Ich-Gefühl

des Subjektes; der Träumende hält sich nur für ein passives Objektiv,

das die Eindrücke einer anderen Welt aufnimmt. Der Traum wird

als Begnadung mit Offenbarungen, die anderen verschlossen sind,

empfunden und als tiefste Erkenntnisquelle, da alle Wunder des

Glaubens und Aberglaubens in ihm zu Hause sind.



Nachdem die Romantik eine Metaphysik des Traumes entwickelt

hatte in der Dichtung des Novalis und in der Naturphilosophie der

Schelling, Schubert, Carus und Kerner, hat Arthur Schopenhauer

Leben und Träume als Blätter eines und des nämlichen Buches bezeichnet:

„Wenn die Lesestunde des Tages zu Ende und die Erholungszeit

gekommen ist, so blättern wir oft noch müßig und schlagen,

ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier, bald dort ein Blatt

auf; oft ist es ein schon gelesenes, oft ein noch unbekanntes, aber

immer aus demselben Buch.“ Das Buch der Träume ist danach kein

anderes als das des Lebens; es ist derselbe Inhalt an Erfahrung und

Eindrücken; nur werden die aus dem Inneren des Organismus empfangenen

Reize dem wachen Zustand kaum bemerklich. Hat aber

das Gehirn im Schlaf seine Tätigkeit eingestellt, so kommen diese

aus dem Nervenherd heraufdrängenden Eindrücke dem Intellekt zum

Bewußtsein, und er formt sie um zu raum- und zeiterfüllenden Gedanken,

die sich am Leitfaden der Kausalität bewegen.



Der von Schopenhauer angedeutete Einfluß körperlicher Reize auf

das Nervensystem ist später von der Naturwissenschaft zu physiologischen

Theorien erweitert worden, wonach sich das Wesen der

Traumphantasie erklären sollte als Umbildung innerer Leibreize zu

Bildern. Der Traum erschien dem Materialisten nur als Gleichnis des

körperlichen Innenlebens, so wie Schiller seinen Franz Moor sagen

läßt, die Träume kämen aus dem Bauch. Der Magenreiz sollte das

Bild eines von Häusern umgebenen Platzes erzeugen, der Eingeweidereiz

den eines Labyrinthes von Gängen; beim Zahnreiz erschien der

Mund als hochgewölbter Hausflur, die Öffnung des Schlundes als nach

unten führende Treppe; das Atmen der Lunge erzeugte die Illusion

des Fliegens, und das Herzklopfen die einer holprigen Wagenfahrt.



Das hat alles mit Dichtung nicht viel zu tun. Betrachtete man aber

diese Erscheinungen nicht rein materialistisch, so konnte für einen

Ästhetiker wie Johannes Volkelt in der Gleichnisbildung die Kraft

der unbewußt schaffenden Phantasie aus erster Hand zu fassen sein.



Eine ganz andere Stellung nahm die Psychoanalyse ein, die im

Traum nicht Wahrheit, sondern Verstellung erblicken wollte. Was

hinter den Traumkulissen sich birgt, war aufzufassen als ein Chaos |#f0424 : 400|



verdrängter infantiler Urerlebnisse, die bis in den Mutterleib zurückführen

sollten. Die einseitige Verfolgung dieser Theorie hat eine verheerende

Wirkung auf Mythenforschung und Herleitung dichterischer

Motive ausgeübt in dem grauenhaften Buch von Otto Rank über das

Inzest-Motiv in Dichtung und Sage; auch hat sie einen nicht minder

verhängnisvollen Einbruch in die Psychologie des Dichters vollzogen,

indem sie jeden Dichter als Neurotiker auffassen ließ und die

Hysterie als Prinzip des Fortschrittes anpries.



Der Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel hat sich in mehreren

Büchern mit den Träumen der Dichter befaßt und es fertig gebracht,

das Material, das in Aufzeichnungen Verstorbener wie in Mitteilungen

Lebender von ihm gesammelt war, fast ausschließlich auf kriminelle

und erotische Züge hin zu analysieren.



Die Gleichsetzung von Dichter und Träumer, wonach jeder träumende

Mensch als Dichter anzusehen sei, bewahrheitet sich dabei

ebensowenig als die Annahme, daß die Dichterträume poetischer seien

als die der anderen Menschen. Stellt man normale Traumerlebnisse

daneben, so bestätigt sich vielmehr der Satz Wilhelm Raabes, „daß

die Dummen und Armen im Geiste die allerwundervollsten und geistreichsten

Träume haben können; ebenso geistreiche und sonderbare.

als wie die Klugen, die Weisen sowohl am Tage wie bei Nacht“.



Das aber unterscheidet den Dichter von dem gewöhnlichen Träumer,

daß er die Traumdeutung selbst vornimmt und alles, was dem

gewöhnlichen Menschen zerfließt, festzuhalten, zu zügeln und zu bändigen

versteht, daß er ihm Sinn und Gestalt gibt und sein unbewußtes

Phantasieleben willensmäßig formt.



Kein anderer Dichter hat so viel über das Verhältnis von Traum

und Dichtung reflektiert als Hebbel. Bald verglich er die dichterische

Begabung mit einem Traumzustand, der in der Seele des Dichters

vorbereitet, was er selber nicht weiß; bald wieder sah er im künstlerischen

Vermögen eine Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tiers,

das nur ein Traumleben führt, und dem Bewußtsein des Menschen.

In den Tagebüchern finden sich vielerlei weitere Abwandlungen dieses

Gedankens: „Phantasie ist nur in Gesellschaft des Verstandes erträglich“,

... „Das Schöne entsteht, sobald die Phantasie Verstand

bekommt“, ... „In die dämmernde duftende Gefühlswelt des begeisterten

Dichters fällt ein Mondenstrahl des Bewußtseins, und das,

was er beleuchtet, wird Gestalt.“ In allen diesen Formulierungen

kommt das gleiche Ergebnis der Selbstbeobachtung zum Ausdruck,

daß der Traum an sich noch keine Dichtung ist.



Mindestens ebensogut wie mit dem Seelenleben des Tieres hätte |#f0425 : 401|



Hebbel die dichterische Phantasie mit dem traumhaften Dasein des

Kindes vergleichen können. Das Kind entfaltet seine Einbildungskraft

im Spiel und wird in Belebung toter wie Zerstörung lebender

Gegenstände zum waltenden Schicksal seiner Eigenwelt. Das spielende

Kind offenbart seine Anlage zum Dichter und Schauspieler, so

wie im zeichnenden Kind unverbildete künstlerische Begabung ans

Licht tritt. Aber nur Begabung und Anlage. Noch fehlt Erlebnis,

Erfahrung und gereiftes Weltbild, um Wirklichkeit zu gestalten.

Deshalb gibt es auch selten dichterische Wunderkinder. Mozart und

Haydn haben schon mit drei und vier Jahren als schöpferische

Musiker Staunen erregt, während dichterische Gestaltungsgabe

frühestens mit der Pubertät in Erscheinung zu treten pflegt. Eine

Ausnahme eigener Art bildet der englische Vorromantiker Thomas

Chatterton, der sein erstes Werk „Elinour and Juga“ mit zwölf Jahren

geschrieben haben soll. Er vergiftete sich mit 18 Jahren; das

Wunderkind war nach Bernhard Fehrs Charakteristik größer als der

Wunderdichter.



Als Graf Tolstoi auf den Gedanken kam, in seiner kleinen Volksschule

die dichterische Fähigkeit der Bauernkinder auf die Probe zu

stellen, ließ er sie ein von ihm begonnenes Märchen fortsetzen und

konnte mit Erstaunen und Entzücken beobachten, welcher Reichtum

an Phantasie sich offenbarte. Aber sein Eindruck, daß der berühmteste

Dichter keine so wundersamen Märchen hätte ersinnen können,

wie sie die unerfahrene Dorfjugend spielend zusammenbrachte, war

insofern ein Trugschluß, als er selbst es ja war, der zu erzählen anfing;

er warf den Kindern den Faden hin, den sie unter seiner Suggestion

weiterzuspinnen hatten. Zu eigener Konzeption wären sie

schwerlich fähig gewesen. Außerdem waren es Märchen, und wenn

allein diese Dichtungsart mit kindlicher Phantasie erfaßt werden

kann, so liegt es daran, daß ihr leichtes Spiel allen ernsten Lebensproblemen

aus dem Weg geht.



Das aber unterscheidet die Phantasie des Erwachsenen und auch

sein Traumleben von dem des Kindes, daß es mit Problemen belastet

ist, und daß die Einbildungskraft nicht nur spielend, sondern auch

denkend sich betätigt. So wenig das wissenschaftliche Denken der

Mitwirkung der Phantasie entraten kann, so wenig darf dichterische

Phantasie gedankenlos sein. Es gibt auch ein Denken im Unterbewußtsein.

Goethe will im Schlaf auf wissenschaftliche Entdeckungen gekommen

sein; er faßte die Inspiration im Traum als Wirken des Dämonischen

auf, das übermächtig mit dem Menschen spielt, während er

aus eigenem Antrieb zu handeln glaubt. „In solchen Fällen ist der |#f0426 : 402|



Mensch oftmals als Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten,

als ein würdig befundenes Gefäß eines göttlichen Einflusses.“



Goethe erzählt auch, daß er in Versuchung gekommen sei, sich wie

Petrarca eine weiße Lederweste machen zu lassen und mit ihr zu

Bett zu gehen, um sich alle nächtlichen Einfälle aufzeichnen zu können.

Es handelt sich um Einfälle, nicht um geformte Dichtungen.

Bei Lafontaine dagegen werden zwei Fabeln genannt („La fable

des plaisirs“ und „Les deux pigeons“), die er im Schlafe gedichtet

haben soll. Noch auffallender ist die Behauptung Voltaires, der einen

ganzen Gesang seiner „Henriade“ im Traum verfaßt und seinem Sekretär

im Schlaf diktiert haben wollte. Wenn es zutrifft, so würde dadurch

bewiesen, daß Voltaire kein Träumer war. Wenn wiederum

von Lessing gesagt wurde, er habe niemals geträumt, so dürfte, die

Richtigkeit vorausgesetzt, ihm daraufhin nicht etwa jede Phantasie

überhaupt abgesprochen werden. Es wäre nur festzustellen, daß er

sich eines gesunden Schlafes erfreute und im übrigen mit stets

wachem Verstand das Unterbewußtsein in seiner Gewalt hatte.



Bei manchem, der sich nach Petrarcas Vorbild zum Protokollieren

erträumter Dichtung trainierte, konnte das Ergebnis vor der wachen

Kritik des nächsten Morgens nicht bestehen. Varnhagen v. Ense erzählt

in seinen „Denkwürdigkeiten“ von dem Romantiker Sigmund

v. Seckendorf, der einen wunderbaren Traum nach erfolgtem Erwachen

weiterzuträumen sich bemühte, schließlich im Traum ein

Gedicht auf seinen Traum machte und diese Verse im Traum komponierte.

Als er dann wieder aufwachte, konnte er nicht mehr im Bett

bleiben, ließ sich ein Licht bringen und schrieb den ganzen Traum

nebst Gedicht und Komposition auf. Varnhagen teilt auch den Text

mit und stellt fest, daß sich Seckendorfs Leistungsfähigkeit im Traum

nicht gesteigert habe. Ein gewisser Reiz der leeren Reimerei liegt

höchstens im eigentümlichen Klang und in einem Rhythmus, der

innerem Pulsschlag zu entspringen scheint.



Auch Mörike, der wie Jean Paul, Grillparzer und Hebbel seine

Träume aus der Erinnerung aufzeichnete, hat einmal den halbwachen

Zustand „An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang“ zum Gegenstand

eines Gedichtes gemacht; ebenso ist ihm die Ballade „Schön

Rothraut“, die vom Klang des Namens ausging, am frühen Morgen

zwischen Schlafen und Wachen eingefallen. Uhlands Gedichte „Die

Harfe“ und „Die Klage“ sind aus Träumen hervorgegangen; Hebbel

hat für „Herodes und Mariamne“ einen Traum seiner Frau verwertet;

Christian Morgenstern wollte, einem wirklichen Traum folgend, ein

dramatisches Märchen orientalischen Charakters schreiben, das aber |#f0427 : 403|



nicht zur Ausführung kam; Paul Heyses Novelle „Kleopatra“ entstand

aus dem unheimlichen Traumringen mit einem phantastischen

Getier, und ein ganzer Geisterroman wie Horace Walpoles „Castle of

Otranto“ hat aus einem Traum des Dichters seinen Anstoß empfangen.





Oft aber ist die Traumeinkleidung rationale Zutat, ebenso wie es

zweifelhaft bleibt, ob eine Handlungsverknüpfung, die sich sprunghafter

Traumpsychologie bedient, Erlebnis oder technische Berechnung

darstellt. Neuere Erzähler haben, wie vorher schon E. Th. A.

Hoffmann und Edgar Allan Poe, nicht nur eingelegte Träume, sondern

wache Darstellung in dieser lockeren und wunderbaren Verknüpfung

wiedergegeben. Dies geschah besonders im Zeichen der

Psychoanalyse, deren Begründer wiederum in der Analyse der Träume

aus Jensens „Gradiva“ eine Bestätigung seiner Theorie erkennen wollte.



An Märchendramen wie Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ und an

dramatischen Traumdichtungen wie Grillparzers „Traum ein Leben“

oder Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ kann eigene Traumerfahrung

des Dichters mitgearbeitet haben, während „Die versunkene

Glocke“ und „Elga“ davon unberührt sind (vgl. oben S. 145).



Schon früh hat dichterische Technik die Möglichkeit erfaßt, in der

Traumvision einen Übergang zur Darstellung des Transzendenten zu

finden, ohne daß im Labyrinth des Unbewußten die leuchtende Klarheit

der Anschauung sich verwirrt hätte. Bewußtermaßen haben auch

Satiriker wie Quevedo und Moscherosch die Traumeinkleidung angewandt.

Sie haben ins Realistische abgewandelt, was in der mittelalterlichen

Visionsliteratur und in ihrem stolzesten Gipfel, der Weltdichtung

Dantes, kosmische Schau geworden war.



e) Gefühlsleben



Wenn mit Dilthey in der Analysis des Gefühls der Schlüssel für die

Erklärung des dichterischen Schaffens erblickt wird, so besteht kein

Widerspruch zu der Schlüsselstellung, die zuvor dem Erlebnis und

nachher der Phantasie zugesprochen wurde. Vielmehr übernehmen

die emotionalen und affektiven Regungen eine Mittlerrolle zwischen

Erlebnis und Phantasie. An jeder der oben (S. 361 ff.) besprochenen

Erlebniskategorien sind sowohl Gefühl als Einbildungskraft beteiligt

in der Weise, daß jedes Erlebnis Gefühlserlebnis ist und als solches

die Phantasie in Bewegung setzt. Das Gefühl ist der Motor, dem das

Erlebnis zündenden Antrieb gibt, bis er in der Phantasie zur vorwärtsdrängenden

Triebkraft wird. Die im Unterbewußtsein lagernde |#f0428 : 404|



Bildermasse bildet den Brennstoff, der durch das Gefühl zur Explosion

gebracht und in seiner entfesselten Stärke der Phantasie zugeleitet

wird, die die Räder ins Rollen bringt. Das alles kann mit solcher

Geschwindigkeit ineinandergreifen, daß die Vorgänge kaum zu trennen

sind.



Die Gefühle von Lust oder Unlust wiegen vor bei den Eindruckserlebnissen,

die als richtungsadäquat oder konträr bezeichnet wurden;

anschauliche oder schweifende Phantasie wird beflügelt durch

die halbimaginativen oder imaginativen Ausdruckserlebnisse; beides

hält sich das Gleichgewicht in der dritten Erlebnisgruppe, die

als immanentes Schicksalsbewußtsein bezeichnet wurde. Schließlich

kann auch die entfesselte kombinatorische Phantasie, die sich erfinderisch

betätigt, des fortgesetzten emotionalen Antriebs nicht entraten

und läßt sich lenken durch das aus dem Erlebnis aufsteigende

Gefühl, das in den neuen Gebilden Werte sucht und geschaffen sehen

will.



Diltheys Poetik hat die Verknüpfung der elementaren Gefühle zu

zusammengesetzten Gefühlszuständen in sechs Kreisen geordnet und

analysiert. Der Weg führte von außen nach innen und gelangte von

sinnlichen Gefühlen über Empfindungsinhalte, zusammengefaßte

Wahrnehmungen, denkende Vorstellungsverknüpfungen und Lebensgefühle

elementarer Antriebe schließlich zu den gefühlsbestimmten

Willenserregungen. Das Gefühlsleben bildet danach die Brücke von

der Vorstellung zum Willen auf ähnliche Weise wie es in engerem

Rahmen eine Mittelstellung zwischen Erlebnis und Phantasie einnahm.

Diltheys Analyse wendet sich damit mehr dem seelischen

Inhalt des Kunstwerkes zu, als den gestaltenden Kräften; sie gleitet

von der Poetik zur Ästhetik ab, um von deren Gesetzen aus das

Schaffen des Dichters zu normieren.



In Ernst Elsters Analyse des Dichters stellen dagegen Gefühle und

Willensimpulse Anfang und Ende einer Kette dar, deren Mittelglieder

durch die Lebensanschauungen der Dichter gebildet sind. Die Gefühle,

die sich mit den verschiedenen Lebensanschauungen und Willensimpulsen

verbinden, werden als Selbstgefühl, Mitgefühl, Gemeinschaftsgefühle

und religiöse Gefühle unterschieden, und in jeder

Kategorie werden Gefühle, die nicht durch äußere Eindrücke erregt

sind, nämlich Stimmungen, getrennt von den Gefühlen, die durch

äußere Eindrücke erregt werden, nämlich Schicksalsgefühle, Willensgefühle

und Persönlichkeitsgefühle. Zu den Willensgefühlen werden

Affekte und Leidenschaften, die sich in Aktivität oder Passivität

unterscheiden, gerechnet; zu den Stimmungen die Temperamente. |#f0429 : 405|



Endlich ist eine weitere Teilung nach Inhalt, Qualität und Intensität

vorgenommen. So entsteht eine Kategorientafel, in die sich besser die

festen Charaktereigenschaften als die wandelbaren Gefühle einordnen

lassen. Wenn, wie vorher die Phantasie-Anlage, so jetzt das Gefühlsleben

einzelner Dichter nach diesem Schema analysiert werden soll,

so fehlt es sowohl an einer Typenbildung, wie sie bei den Lebensanschauungen

möglich ist, als auch an einer erfahrungspsychologischen

Untersuchung und grundlegenden Systematisierung, wie sie für die

Empfindungen besteht. Das naturwissenschaftliche Verfahren kann

hier nichts helfen. Das vielfältige Gefühlsleben läßt sich zwar in

Einzelbeobachtungen verschiedenartiger Dynamik aus Leben und

Dichtung verzetteln, aber es läßt sich als Ganzes so nicht erfassen.

Höchstens kann in einem Vergleich, z. B. zwischen Goethe und

Schiller, etwas über die verschiedenartige Grundanlage ihrer Charaktere,

deren Teilgebiet das Gefühlsleben bildet, ermittelt werden.

Eine vollständige Inventarisation aller Gefühlsmotive eines Dichters

würde aber auf ebenso öde Statistik hinauslaufen, wie die sogenannten

Psychogramme (vgl. oben S. 344), bei denen der eigentliche Wesenskern

des Menschen nicht erfühlbar wird.



Die Schwierigkeit der Charakteranalyse des Dichters liegt darin,

daß er eigentlich ebensoviele Charaktere hat, als in seiner Dichtung

auftreten; alle sind, soweit sie lebensvoll sind, Stücke seiner Proteusnatur.

Ebenso schwer ist es, sein Seelenleben in einem zentralen

Zusammenhang zu sehen, weil alle Gefühle, die in seiner Dichtung

zum Ausdruck kommen, erlebt sein müssen.



So überreich daher die dichterischen Zeugnisse für Charakter und

Gefühlsleben sich darstellen, so lückenhaft sind sie auf der anderen

Seite. Beschränkt man sich auf die Lebenszeugnisse, die außerhalb

der Dichtung liegen, auf die Selbstcharakteristik in Briefen und

Tagebüchern, so ist man vor launenhafter Färbung, die auf vorübergehende

Verstimmung zurückgeht oder auf den Empfänger des Briefes

berechnet ist, nicht sicher, ebensowenig vor einer Selbsttäuschung,

die gegenüber dem eigenen Spiegelbild eingetreten sein mag. Nimmt

man die Charakteristiken durch Mitlebende, gleichviel ob sie fern oder

nahe standen, hinzu, so sind diese Beobachtungen ebenfalls gefärbt.

Sie sind nicht ohne kritische Untersuchung der Charaktere, von denen

sie ausgehen, sowie ihres eigenen Gefühlsverhältnisses zu verwerten.

Legt man indessen das in der Dichtung zum Ausdruck gebrachte

Gefühlsleben in der ganzen Fülle, in der es zum Niederschlag gekommen

ist, zugrunde, so tritt mit der Bewertung dieser Zeugnisse die

Frage der Echtheit in den Vordergrund. Sie kann positiv entschieden |#f0430 : 406|



werden auf Grund der überzeugenden Kraft, Eigenart und Intensität

eines dichterischen Ausdrucks, der es erlaubt, auf die innere Wahrheit

des Erlebens zurückzuschließen. Das Gegenteil der Schwächlichkeit,

Unoriginalität, Gemachtheit, Stillosigkeit und mangelnden

Folgerichtigkeit gibt für eine negative Bewertung den Ausschlag.



Eine andere Überzeugung von der Erlebnisechtheit ist auf die Übereinstimung

zwischen dem Gefühlsleben, das in privater Selbstschau

sich ausspricht, und dem Ausdruck, den es in der Dichtung gefunden

hat, zu begründen. Zur völligen Deckung kann beides nur im Zustand

großer Leidenschaft gelangen, die schon das Leben zur Dichtung werden

läßt und der Dichtung Lebenswahrheit gibt. Das Gewahrwerden

dieser Identität von gesteigertem Leben und Dichtung ist Sache einer

einfühlenden Intuition, eines tiefen Mit- und Nacherlebens, letzten

Endes einer hingebenden Liebe, die selbst zur Leidenschaft geworden

ist.



Dichtung ist nach einem Worte Lord Byrons überhaupt nichts

anderes als Leidenschaft. Ibsen sprach es ihm nach, wenn er sagte,

um sich in der Kunst zu behaupten, sei noch anderes nötig als ein

natürliches Talent: „Leidenschaften, Schmerzen, die das Leben erfüllen

und ihm einen Sinn geben. Sonst schafft man nicht, sondern

schreibt man Bücher.“ Platon sagt im „Gastmahl“, auch in der Beherrschung

der Künste glänze nur der und werde bewundert, den

Eros unterwiesen habe; im Schatten und ohne Ruhm bleibe, den der

Gott nicht berührte. Nach Dante ist jede Dichtung ein Diktat der

Liebe. Auch der junge Goethe mußte die drängende Gefühlskraft,

von der sein Künstlertum besessen war, als Liebe bezeichnen: „Was

der Künstler nicht geliebt hat, nicht liebt, soll er nicht schildern,

kann er nicht schildern.“ Der Alte sagte zu Eckermann, er habe nur

gedichtet, wenn er liebte.



Jeder Künstler ist ein Liebender. In seiner Leidenschaft lebt ein

erotischer Drang, und das künstlerische Schaffen ist Zeugung, Vermählung

von Ich und Welt, mit dem Willen, ein Neues hervorzubringen,

Leben zu schaffen.

|#f0431 : E407|



DRITTER HAUPTTEIL


DER SCHAFFENSVORGANG


Über einen Dichter reden oder schreiben,

ist nie mehr als ein Herumgehen um das

Unaussprechliche.



Wilhelm v. Humboldt.



1. Lösung von der Wirklichkeit



Wenn die ältere Poetik unter Berufung auf Demokrit, Platon,

Aristoteles, Horaz und Shakespeare vom schönen Wahnsinn oder der

göttlichen Verrückung des Dichters zu sprechen pflegte, so war es ein

Gleichnis für die Besonderheit des Genies gegenüber der Norm des

Durchschnittsmenschen und für die Enthebung aus der gewöhnlichen

Wirklichkeit, wodurch der Lebensvorgang von Zeugung und Geburt

des Dichtwerkes in ein nicht zu enträtselndes Dunkel gerückt wurde.



Erst als die Dichter selbst auf die Beobachtung ihres Schaffens verfielen

und für das Wunder, das in und mit ihnen vorging, Erklärung

suchten, als sie in autobiographischen Bekenntnissen sich ihrer Antriebe

und Seelenvorgänge bewußt zu werden strebten und durch

Rechenschaft darüber den Biographen Material für die innere Entstehungsgeschichte

ihrer Werke zur Hand gaben, konnte die Dichtungslehre

dem Wesen schöpferischer Einbildungskraft mit Einblick

in allgemeingültige oder typische Vorgänge näher kommen. Die Poetik

sah von da an ihre Aufgabe nicht mehr darin, Regeln für das

Schaffen aufzustellen, die aus der äußeren Form abgeleitet waren;

sondern nun ergaben sich Möglichkeiten, aus den schöpferischen

Innenvorgängen, wie sie der Dichter selbst beschrieb, etwas über die

Gesetzmäßigkeit des Verlaufs zu ermitteln.



Der Zeitpunkt, in dem diese Umstellung von normativer zu induktiver

Dichtungslehre begann, liegt um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts.

Für England nimmt Brandl an, daß die biographischen

Werke Samuel Johnsons allerlei dichterische Selbstbeobachtungen

und Selbstbekenntnis nach sich zogen; in Frankreich mögen Rousseaus

„Confessions“ nach dieser Richtung vorbildliche Wirkung gehabt

haben; in Deutschland wurde durch Karl Friedrich Cramers viel

verspottetes Werk „Klopstock. Er und über ihn“ (1782 bis 1793) wie |#f0432 : 408|



durch die Lessing-Biographie des Bruders Karl Gotthelf Bahn gebrochen,

ehe sich in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und in den

Gesprächen mit Eckermann die reichsten Selbstoffenbarungen erschlossen.

Durch Veröffentlichung von Tagebüchern, unter denen

die Hebbels und das Journal der Brüder Goncourt besonders aufschlußreich

sind, wie durch Dichterbriefwechsel z. B. zwischen Goethe

und Schiller, Keller und Storm, Conrad Ferd. Meyer und Luise

v. Francois, endlich durch Flauberts briefliche Selbstbekenntnisse

ist das Material zu immer größerer Reichhaltigkeit angewachsen. In

neuerer Zeit ist es noch durch die Ergebnisse von Um- und Anfragen

bei lebenden Dichtern vermehrt worden. So lassen sich endlich bestimmte

Typen der Schaffensweise gruppieren. Die Dichtungslehre

empfängt diese Beobachtungen und Beschreibungen durch die Dichter

und ihre Biographen, um das gebotene Material psychologisch zu

durchdringen und systematisch gesichtet der Literaturwissenschaft

zurückzugeben.



Zahlreiche Aussagen bestätigen, daß zwar im Erlebnis bereits der

Keim der Gestaltung liegt, daß aber nur in den verhältnismäßig seltenen

Fällen einer inspirierten Gelegenheitsdichtung, wie sie bei

Goethe sich finden (vgl. oben S. 370), der Schaffensvorgang zu sofortigem

Anschluß und Abschluß gelangt. Regel ist es vielmehr, daß erst

die Loslösung vom Leben die darstellerische Objektivierung des Erlebnisses

möglich macht. Je tiefer das Erlebnis gegangen ist, um so

länger wirkt es nach, und desto größer muß der künstlerisch bedingte

Abstand sein, in dem es zur Gestaltung gelangt. So stehen neben den

improvisierten Gelegenheitsdichtungen Goethes jene anderen, deren

Entstehung sich über die zeitliche Ferne von vier Jahrzehnten erstreckt

(vgl. oben S. 371).



Für Schiller mag es charakteristisch sein, wenn er in seiner Bürgerkritik

den Dichter, ähnlich wie Hamlet die Schauspieler, vor Hingabe

an den Wirbelwind der Leidenschaft warnt. Der Dichter soll nicht

mitten im Schmerz den Schmerz besingen: „Aus der sanften und fernenden

Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je

mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter

der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen

soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß

die Liebe, die Freundschaft usw. selbst dem Dichter den Pinsel dabei

geführt habe, hätte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu

werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität

loszuwickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne

anzuschauen.“

|#f0433 : 409|



Da die Erinnerung keine bloße Gedächtnis-Reproduktion, sondern

eine unter Mitwirkung der Phantasie aus dem Weltbild wiedergeborene

Vorstellung gibt, konnte der Philosoph Alois Riehl die Behauptung

aufstellen, daß alle Dichtung nur als zeitliches Fernbild künstlerisch

lebenskräftig werde. Sein Aufsatz war das Gegenstück zu Adolf Hildebrands

„Problem der Form in der bildenden Kunst“, das im räumlichen

Fernbild die gesetzliche Erscheinungsform der Kunst sah. Bei

Riehl heißt es in unverkennbarer Verallgemeinerung der eben zitierten

Schillerschen Sätze: „In der unmittelbaren Empfindung der Leidenschaft

löst sich kein Lied von der Seele des Dichters, Lust und

Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Liede neues Leben empfangen

können, ein Leben in der Erinnerung.“



Äußerungen von Jean Paul, Novalis, Wordsworth und Annette

v. Droste-Hülshoff stimmen überein, daß der Fieberpuls der Leidenschaft

den lyrischen Pinsel nicht festhalten läßt, daß in Momenten

innigster Vertrautheit mit der Natur am wenigsten von ihr gesagt

werden kann, daß die Dichtung ihren Ursprung in einer Gemütsbewegung

hat, die sich in ruhiger Zurückgezogenheit sammelt, während

man in höchst poetischen Augenblicken ungeeignet zur Arbeit

sei, weil der Genuß den regelrechten Gedanken nicht aufkommen läßt.

Aus dieser Erfahrung heraus sagt Rilke, der Dichter müsse sich so

viel wie möglich vom Erleben zurückziehen, und schrieb sogar, die

großen Menschen hätten ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten

Weg und hätten alles in ihre Kunst getragen, so daß ihr Leben verkümmert

sei wie ein Organ, das sie nicht mehr brauchten.



Daß die Leidenschaft flieht und nur in der Erinnerung bleibt, daß

nach einem anderen Worte Jean Pauls nicht das hochauffahrende

Wogen, sondern die glatte Tiefe die Welt spiegelt und daß der rechte

Genius sich von innen beruhigt, ist unbestreitbar. Aber daß sogar

das Leid, das die Leidenschaft erregte, bereits vergangen sein muß,

um zur Darstellung gelangen zu können, wird auf keiner Seite Bestätigung

finden. Vielmehr braucht der Dichter das Leid, um sich von

ihm zu befreien; er ruft es zurück, es verstärkt sich bei der Zurückgezogenheit

von der Welt ins Metaphysische. Das in Vereinsamung

gestaute Leid, das kein anderes Ventil findet, kann in dichterischem

Ausdruck überwunden werden. Indem der Sinnenmensch sich zum

Innenmenschen wandelt, kann er im Spiel seiner Phantasie Ersatz

für die Wirklichkeit finden, unter der er zu leiden hatte.



Hugo v. Hofmannsthal zog in seinem Gespräch „Über Charaktere

im Roman und im Drama“ zwei Beispiele für die erlösende Wirkung

des künstlerischen Schaffens heran: das eine ist das des Benvenuto |#f0434 : 410|



Cellini, der im Gefängnis der Engelsburg aus qualvollen Delirien befreit

wird durch die Vision des leidenden Christus in Gestalt eines

herrlichen Goldschmiedewerkes; das zweite Beispiel, das von Balzac

stammt, ist das Gleichnis des Heizers, der gelegentlich aus der Tiefe

des Schiffes auftaucht und ein paar scheue, fast schwachsinnige

Blicke auf die schönen und fröhlichen Passagiere wirft: „Das sind die

Aufenthalte des Künstlers unter den Menschen, wenn er taumelnd

und mit blöden Augen aus dem feurigen Bauch seiner Arbeit hervorkriecht

... In seiner Arbeit hat er alles: er hat die namenlose

Wollust der Empfängnis, den entzückenden Ätherrausch des Einfalls,

und er hat die unerschöpfliche Qual der Ausführung. Da hat er Erlebnisse,

für welche die Sprache kein Wort und die finstersten

Träume kein Gleichnis haben.“



Besonders die französischen Dichter haben nach immer neuen

Gleichnissen für die Selbstopferung des Künstlers gesucht; so fand

Alfred de Musset in seiner „Mainacht“ das Bild des Pelikans; Flaubert

in seinem Bildungsroman „Jules et Henri“ (der ersten Fassung der

„Education sentimentale“) schwelgt in dem grausamen Bild der Straßburger

Stopfgans, die man auf rotglühenden Metallplatten herumhüpfen

ließ, damit die Leber genügend gedunsen und geschwollen

werde, um zart und schmackhaft zu sein: „So muß auch der Genius

in langsamem Dulden emporsteigen; der Schrei seines Herzens, den

du bewunderst, seine hochfliegenden Gedanken, die dich mitreißen,

haben ihre Quelle in den Tränen, die du nicht gesehen, in den

Qualen, die dir verborgen sind.“ Nun aber folgt eine überraschende

Pointe: während Jules seine eigene Traurigkeit beschreibt, entschwindet

sie und geht aus seinem Herzen über auf die Natur, wird

allgemeiner, universeller und sanfter. „Sein persönlicher Schmerz

lehrte ihn die Schmerzen aller seiner Mitmenschen verstehen, und er

hat einen genügend tiefen Blick in dieses Schauspiel getan, um es

immer betrachten zu können; einen Augenblick hat die Kunst ihn geblendet,

ihm schwindelte wie denen, die sich in außerordentlicher

Höhe befinden; er mußte die Augen schließen, um nicht blind zu

werden; dann aber nahmen alle Linien wieder ihren früheren Platz

ein, die Dinge rückten in die richtige Entfernung, die Einzelheiten

traten hervor, das Gesamtbild erschien, der Horizont dehnte sich

weit; die Ordnung, die er in der Welt sah, ging auf ihn über; seine

Kraft verteilte sich gleichmäßig, sein Geist kam ins Gleichgewicht.“



Wird das reifende Werden des Künstlers durch Leid und die Lösung

des Leides durch befreiende Aussprache in diesen Gleichnissen als

Doppelvorgang charakterisiert, so denkt man beim ersten Teil an |#f0435 : 411|



Byrons Ausspruch vom Kainszeichen des Genies oder an den Skalden

in Ibsens „Kronprätendenten“, der die Gabe des Leides als Quelle

seiner Lieder bezeichnet, oder an Grillparzers Verse aus dem

„Abschied aus Gastein“:



Und was euch so entzückt mit seinen Strahlen,

Es wird erzeugt in Todesnot und Qualen.



Als Gegengewicht stellen sich Goethes Tasso-Worte ein von der

Gottesgabe des Dichters, zu sagen, was er leide, wenn der Mensch in

seiner Qual verstummt; dazu gehört auch das Bild des Seidenwurms,

dem man nicht verbieten kann, zu spinnen, auch wenn er sich an

seinem eigenen Faden dem Tode näher spinnt. Friedrich Hebbel

führte das Gleichnis weiter mit der Bemerkung: „Du armer Seidenwurm,

du wirst spinnen und wenn auch die ganze Welt aufhörte,

Seidenzeug zu tragen.“



2. Produktive Stimmung und Konzeption



Das Tasten in der Nacht der Einbildungskraft wird von den Brüdern

Goncourt zu den schrecklichsten Tagen des Dichters gezählt.

Das Wogen von Gefühlen und Leidenschaften, das Brüten, Kreißen

und Gären ohne lichtvollen Ausblick, der Dämmerzustand eines drängenden

Gestaltungswillens, dem die Gestaltungsmöglichkeit fehlt,

das alles kann zur namenlosen Qual werden. Dieser depressiven Passivität

des Naturalisten steht die aktive Gespanntheit des enthusiastischen

Idealisten gegenüber, für den das noch unklare Bewußtsein

innerer Berufung ein Lustgefühl gehobener, festlicher Bereitschaft

in sich schließt.



Wenn Schiller von einer gewissen musikalischen Gemütsstimmung

spricht, die sich vor der poetischen Idee einstellt, von einem Spielen

mit schwankenden Bildern, Phantasien und Gedanken, von einem

unbestimmten Drang nach Ergießung strebender Gefühle, der noch

zu keiner lebhaften Vorstellung des Stoffes gekommen ist, so schwingt

in der Beschreibung dieser Stimmung ein seelischer Feierklang des

Gestaltungswillens. Nach einer anderen Äußerung von ihm ist das

ungeduldige Verlangen nach der neuen Produktion bereits die halbe

Stimmung.



Eine geradezu schwärmerische Schilderung vorahnenden Schöpferbewußtseins

gibt Graf Friedrich v. Stolberg in seinem Aufsatz „Von

der Fülle des Herzens“: „Empfangen ist süßer als Gebären; Dichten

süßer als Darstellen. Groß und hehr umschweben den Dichtenden |#f0436 : 412|



strahlende Göttererscheinungen; sobald er darstellt, strahlen sie nicht

mehr; sie schweben nicht mehr, aber sie wandeln leicht als schwebten

sie, in dem schimmernden Gewande, in welches der Dichter sie

kleidet.“



Den Unterschied von Dichten und Darstellen, der dem Sprachgebrauch

Klopstocks entspricht, sollen Verse dieses Dichters veranschaulichen,

die Stolberg in solchem Zusammenhang heranzieht:



Wenn schon die Seele werdender Lieder ihm

das Haupt umschwebet, eh' das nachahmende

Gewand der Sprache sie umfasset.



In einer anderen Ode aber, die nach Vollendung des „Messias“

auf die Entstehung des Lebenswerkes zurückblickt, schildert Klopstock

auch die vorangegangenen Qualen des Suchens, aus denen eine

plötzliche Inspiration befreiend erlöste:



Flog und schwebt' umher unter des Vaterlands Denkmalen,

Suchte den Helden, fand ihn nicht, bis ich zuletzt

Müd hinsank; dann wie aus Schlummer geweckt, auf Einmal

Rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah!


Welch Anschaun war es! Denn ihn, den als Christ ich liebte,

Sah ich mit Einem schnellen begeisterten Blick

Als Dichter, und empfand: Es liebe mit Innigkeit

Auch der Dichter den Göttlichen!

Erstaunt über seine so späte Wahl, dacht' ich nur ihn!



Die Konzeption des „Messias“ ist demnach gleich einer pietistischen

Erweckung als Durchbruch des Innern erfolgt und gibt ein

Beispiel für die Mitwirkung visionärer Inspiration bei der Entstehung

einer großen Dichtung.



Konzeption ist die Verschmelzung von Stoffwille, Erlebnis, Weltbild

und Sinnbildern der Phantasie. Sie kann sich als Ergebnis eines

langen, zähen Ringens und qualvoller Arbeit einstellen oder als ungewollte

glückliche Eingebung und blitzartige Erleuchtung eines

Momentes, dessen Zündkraft das ganze Werk mit einem Schlag gleichsam

fertig vor der Phantasie des Schöpfers stehen läßt. Zwischen

den Gegensätzen der gewaltsam willensmäßigen Bezwingung und dem

ungewollten Geschenk des Augenblicks gibt es Zwischenstufen im

Zusammenwirken von qualvoller Pein, die geradezu einer Krankheit

gleicht, und einer plötzlichen befreienden Erweckung, in der die

Krisis ihre Heilung findet.



Théodule Ribot hat darnach drei Arten der Konzeption unterschieden:

die mystische Inspiration, die fieberhaft schmerzhafte |#f0437 : 413|



Inspiration, und die bewußt intuitive Konzentration. Der deutsche

Romanist Heinrich Gelzer hat noch einen weiteren Vorgang hinzugefügt,

indem er den ersten als unmittelbare Erlebnisgestaltung, den

zweiten als chaotisch, den dritten als konstruktiv bezeichnete und

viertens einen meditativen Typus anreihte.



a) Die unmittelbare und unvermittelte Inspiration,

die mystisch genannt wird, ist die des Erweckungs- und

Durchbruchs-Erlebnisses, bei dem der Betroffene völlig passiv zu

bleiben scheint, indem er eine plötzliche innere Erleuchtung und

Berufung erfährt. Sowohl denkerische als dichterische Erlebnisse

können eine Besessenheit nach sich ziehen, bei der der persönliche

Wille zu erlöschen scheint. Nach Lichtenberg sollte man sagen: Es

denkt, wie man sagt: Es blitzt, und Hebbel spricht einmal von solchem

Zustand: „Nie blitzte das Gehirn mir mehr wie heut.“ Annette berichtet

von ähnlicher Stimmung, „wo die Gedanken und Bilder mir

ordentlich gegen den Hirnschädel pochen und mit Gewalt ans Licht

wollen“. Richard Dehmel aber saß wie im Dunkel, in Angst und Erwartung

des Kommenden. „Und plötzlich zuckte das Licht auf. Gleich

einer feurigen Kugel begann es ihn rasch zu umkreisen. Und er mußte

danach haschen und drehte sich um sich selbst. Es war ein unnennbares

Glück, eine Erlösung in Tränen und Wonne. Es warf ihn um.“



Ribot führt als Beispiel der passiven Haltung des Inspirierten jene

Vision Jacob Böhmes an, die ihm im Bild der sonnbeglänzten Zinnschüssel

mit einem Schlag das ganze System seiner Weltanschauung

offenbarte. Ein anderer Philosoph, Friedrich Nietzsche, hat in seinem

„Ecce Homo“ einen gleichen Zustand als dichterische Inspiration beschrieben:

„Hat jemand, Ende des 19. Jahrhunderts, einen deutlichen

Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? ...

Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der

Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium

übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff

Offenbarung in dem Sinne, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit

und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas das einen im

Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand.

Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt;

wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der

Form ohne Zögern ─ ich habe nie eine Wahl gehabt ... Alles

geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber in einem Sturme von

Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ...

Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein

will hier Wort werden; alles Werden will von dir reden lernen.“ |#f0438 : 414|



Nietzsche selbst wurde auf diese Weise bei einem Spaziergang in

Rapallo von seinem Zarathustra überfallen.



Solche schöpferische Inspiration kann vor allem dem Musiker zuteil

werden, wie in Hans Pfitzners „Palestrina“ wundervoll dargestellt

ist. Der Himmel öffnet sich, die Engel steigen herab, kosmische

Sphärenharmonien ertönen, und am Morgen ist die große Messe

fertig. So entstand Mozarts Don-Juan-Ouvertüre in einer Nacht; so

fand Händel als Traumeingebung den Schluß des „Messias“, und als

Haydn die Töne vernahm, durch die er das Werden des Lichtes in

der „Schöpfung“ dargestellt hatte, rief er mit ausgebreiteten Armen:

„Das kommt nicht von mir, das kommt von oben.“



Einen heiligen Moment dieser Art erlebte Klopstock, nachdem er

den letzten Gesang seines „Messias“ an den Verleger gesandt hatte.

Seine Frau erzählte, wie sie ihn mit ungewöhnlichem Ernst, die Hände

auf dem Rücken, im Zimmer stehen sah. Plötzlich stürzten ihm Tränen

aus den Augen; er eilte zum Schreibtisch, und in wenigen Minuten

war sein Dank aus dem Herzen hingeströmt in der Ode „An den

Erlöser“:



Beginn den ersten Harfenlaut,

Heißer, geflügelter, ewiger Dank!

Beginn, beginn, mir strömt das Herz!

Und ich weine vor Wonne!



Auch Goethe gibt eine dichterische Selbstdarstellung solcher plötzlichen

Inspiration in den schon oben (S. 75) zitierten ersten Versen

des „Ewigen Juden“. In diesem Fall ist es bei dem ersten Anlauf

geblieben, und die Stimmung zur Fortsetzung hat sich verloren. Nach

langer Pause kann eine neue Eingebung folgen, die aber anderer Art

ist. So berichtete z. B. Graf Leopardi, daß er bei Eintreten der Inspiration

Grundzüge und Einteilung des ganzen Gegenstandes in zwei

Minuten niederlegen könne, daß er dann aber auf einen anderen

glücklichen Augenblick warten müsse, der gewöhnlich erst nach

Monaten sich einstelle: „Dann fange ich an zu entwickeln, aber so

langsam, daß ich auch ein kurzes Gedicht kaum eher als in zwei bis

drei Monaten erledigt habe. Dies ist meine Arbeitsweise. Wenn die

Inspiration nicht da ist, könnte leichter Wasser aus einem trockenen

Holzklotz herauskommen als ein einziger Vers aus meinem Kopfe.“



Die Inspiration der Ausarbeitung ist eine andere als die der Konzeption.

Namentlich Schriftstellerinnen, z. B. Harriet Beecher-Stowe,

George Elliot, George Sand, Clara Blüthgen haben bekannt, daß sie

während des Schreibens das Bewußtsein hätten, ein fremdes Wesen

habe von ihnen Besitz genommen und führe ihnen die Feder. Von |#f0439 : 415|



solchem Schreibzwang sprachen auch die Brüder Goncourt: Das aus

den Händen des Schriftstellers hervorgehende Werk erscheine wie

von unbekannten Kräften an den Tag gefördert; „es erstaunt euch,

wie etwas, das in euch war, und von dem ihr kein Bewußtsein

hattet.“



b) Ein Beispiel der fieberhaften und schmerzvollen

Inspiration
findet Ribot in der Beschreibung, die Alfred

de Musset von seinem Schaffen gibt: „Die Schöpfung verwirrt mich

und läßt mich erzittern. Die für meinen Wunsch stets zu langsame

Ausführung erregt mir furchtbares Herzklopfen und Weinen; nur

mit Mühe lautes Schreien zurückhaltend, gebäre ich eine Idee ─ sie

berauscht mich einen Augenblick, und am andern Morgen ekelt sie

mich an. Forme ich sie um, so wird es noch schlimmer; sie entschlüpft

mir. Besser ich vergesse sie und erwarte eine andere. Aber

diese andere überkommt mich so verworren und so unermeßlich, daß

mein armes Wesen sie nicht fassen kann. Sie drückt und quält mich,

bis sie realisierbar geworden ist, und dann stellen sich die anderen

Leiden, die Geburtswehen ein, wahrhaft physische Schmerzen, die

ich nicht definieren kann. So vergess' ich mein Leben, wenn ich

mich von diesem Riesenkünstler, der in mir ist, beherrschen lasse.

Es ist also besser, daß ich lebe, wie ich mir vorgenommen habe zu

leben, daß ich Exzesse jeder Art begehe, um diesen nagenden Wurm

zu töten, den andere bescheiden Inspiration, ich ganz offen ‚Krankheit‘

nenne.“



Während diese Selbstbetrachtung nur die negative Seite der Schaffensqualen

betont, tritt die plötzliche Klärung eines chaotischen Zustandes

in der Konzeption von „Werthers Leiden“, wie sie Goethe

im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, als befreiende

Wohltat entgegen. Im Nachklang des Wetzlarer Erlebnisses, im

eigenen Lebensüberdruß, in den Reflexionen über Selbstmord war

eine Masse drängender, ängstigender Elemente im Gären begriffen,

die der Dichter versammelte, ohne daß sie sich gestalten wollten.

Noch fehlte zur Verkörperung die Fabel. Da kam die Nachricht vom

Selbstmord des jungen Jerusalem aus Wetzlar, „und plötzlich schoß

das Ganze von allen Seiten zusammen, so wie das Wasser im Gefäß,

das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste

Erschütterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird.“ Hier stellt

sich der Kristallisationsprozeß der Konzeption in klassischer Formulierung

dar; in Richtung auf den Ausgang, den das Schicksal eines

anderen bestimmte, wird die lyrische Erlebnismasse zur Fabel zusammengedrängt,

die zunächst als Drama konzipiert wurde und sich |#f0440 : 416|



dann episch ausbreitete. Ähnlich erging es Rilke, als er in Muzot die

vor Jahren in Duino konzipierten Elegien ausführte. Ein „namenloser

Sturm“, ein „Orkan im Geist“, ein „heiliger Wirbel im Herzen“

kam über ihn, so daß er sich nur als ein blindes und reines Werkzeug

fühlte, das irgendwie gebraucht wurde und ihn zwang, in atemlosem

Gewahren das wiederzugeben, was als inneres Diktat ihn überstürzend

überfiel und ihm geschenkt wurde.



Die dramatische Konzeption verläuft anders. Während sich im

„Werther“ ein Zusammenfluß persönlichen Erlebens und fremden

Schicksals vollzog, ist dem Zusammentreffen zweier literarischer Stoffkreise

die Konzeption von Lessings „Miß Sara Sampson“ zu danken.

Das eine ist Lillos Drama von dem Kaufmannslehrling in London, der

durch die Liebe zu einer Verworfenen zum Verbrecher wurde; das

andere Richardsons Roman von der unschuldigen Clarissa, die dem

Verführer Lovelace zum Opfer fällt. Aus dem Zusammenschluß entsteht

die neue Fabel vom schwachen Verführer, der der einen Frau

erlegen ist, während die andere ihm verfällt. Die neue Situation des

Mannes zwischen zwei Frauen gestaltete sich zur bürgerlichen Analogie

der antiken Medea-Sage.



Eine Selbstdarstellung der plötzlichen Vereinigung zweier Gedankenreihen,

die lange ohne Verbindung nebeneinander hergegangen

waren, gibt Grillparzer als Entstehungsgeschichte seiner „Ahnfrau“.

Es waren Motive der Hintertreppenliteratur. Das eine war die Geschichte

des französischen Räubers Mandrin, der in ein herrschaftliches

Schloß flüchtete, auf dem er unerkannt ein Liebesverhältnis

unterhielt. Das andere war der auf Lewis' „Monk“ zurückgehende

Gespensterroman von der „blutenden Gestalt mit Dolch und Lanze,

die auf dem Schlosse Stern bei Prag beschworen wurde.“ Plötzlich

schossen die Fäden zusammen. „Einmal des Morgens, im Bette liegend,

begegnen sich beide Gedanken und ergänzen sich wechselseitig.

Eh' ich aufstand und mich ankleidete, war der Plan zur ‚Ahnfrau‘

fertig.“



In ähnlicher Art muß auch die oben (S. 115) berichtete Konzeption

von Bethges „Marsch der Veteranen“ verlaufen sein.



c) Von der Konzeptionsweise, die Ribot als bewußt-intuitive

Konzentration
bezeichnet, hat Grillparzer aus der Erfahrung

seiner späteren Arbeitsweise eine Beschreibung gegeben:

„Die eigentliche Begeisterung ist Konzentration aller Kräfte und

Fähigkeiten auf einen Punkt, der für diesen Augenblick die ganze

übrige Welt nicht sowohl verschlingen, als repräsentieren muß. Die

Steigerung des Seelenzustandes entsteht dadurch, daß die einzelnen |#f0441 : 417|



Kräfte, aus ihrer Zerstreuung über die ganze Welt in die Enge des

einzelnen Gegenstandes gebracht, sich berühren, wechselseitig unterstützen,

heben, ergänzen. Durch diese Isolierung nun wird der Gegenstand

gleichsam aus dem flachen Niveau seiner Umgebungen herausgehoben

─ statt nur an der Oberfläche, von allen Seiten umleuchtet,

durchdrungen ─ gewinnt Körper, bewegt sich, lebt. Dazu gehört

aber die Konzentration aller Kräfte. Nur wenn das Kunstwerk für

den Künstler eine Welt war, wird es auch eine Welt für den Beschauer.“





Ausgesprochenermaßen ist in dieser Darstellung eine Schöpfung

beschrieben, die ohne Beteiligung eines bestimmten, persönlichen Erlebnisses

aus dem Weltbild des Dichters hervorgeht; in ihm liegt der

Kristallisationspunkt, der als Idee festgehalten wird. Grillparzer

selbst erzählt in einem anderen Zusammenhang, wie seine „Sappho“

konzipiert wurde. Er suchte nach der „Ahnfrau“ einen Stoff von

denkbarster Einfachheit, um zu beweisen, daß er keiner Gespenster

und Vatermörder bedürfe, um zu wirken. Da trifft er beim Spaziergang

im Prater einen Bekannten, der ihm Sappho als Opernstoff

empfiehlt. Bei der Heimkehr vom Spaziergang war der Plan fertig;

am gleichen Abend wurde das Szenar niedergeschrieben, und am

folgenden Tag begannen die Quellenstudien auf der Hofbibliothek.

Den Grundgedanken der Konzeption aber nannte der Dichter selbst

eine Fiaker-Idee, nämlich: „Gleich und gleich gesellt sich gern.“



Ebenso setzte bei Hebbels „Gyges“ auf fremde Empfehlung des

Stoffes hin am selben Abend die Ausführung ein.



Nicht selten sind intuitive Konzeptionen unter dem Eindruck eines

Gemäldes erfolgt, dessen Situation die Phantasie in Bewegung versetzte.

So stellte ein Kupferstich die Aufgabe für Kleists „Zerbrochenen

Krug“, und das Gemälde von Kretschmann gab das Thema

für den „Prinzen von Homburg“, ebenso wie Hebbels „Judith“ durch

ein Gemälde von Giulio Romano in der Münchener Pinakothek,

Flauberts „Tentation de St. Antoine“ durch Breughels Gemälde in

Genua, Mallarmées „L'après-midi d'un faune“ durch ein Gemälde

Bouchers in der Londoner Nationalgalerie angeregt wurde. Auch

Grillparzer erinnert sich, wieviel Anteil an der Konzeption seines

„König Ottokar“ ein Bild hatte, nämlich das Titelbild eines Quellenwerkes

„Mars Moravicus“, das den Kriegsgott in voller Rüstung ungefähr

so darstellte, wie er sich die äußere Erscheinung Ottokars

gedacht hatte: „Diese Figur reizte mich an, meine Gestalten nach

auswärts zu werfen, und auch während der Arbeit kehrte ich jedesmal

zu ihr zurück, so oft sich meine Bilder zu schwächen schienen.“

|#f0442 : 418|



Auch Zeitungsnachrichten können zu Quellen einer konstruktiven

Konzeption werden. Gottfried Keller las in der Züricher Freitags-

Zeitung vom 3. September 1847 die Nachricht vom Selbstmord eines

Liebespaares aus dem Dorfe Altsellerhausen bei Leipzig, das in den

Tod ging, weil die Feindschaft der Eltern ihrer Verbindung im Wege

stand. Ermatinger sucht in diesem Stoff die polare Idee der Kellerschen

Weltanschauung aufzuzeigen, nämlich den Zwiespalt zwischen

Naturkraft und Hemmung durch Pflichtgebot. Zur Konzeption der

Dichtung konnte es erst kommen, als die Frage nach der Ursache der

tödlichen Feindschaft durch ein Bild beantwortet wurde, das mit

visionärer Kraft aufstieg: der verwilderte herrenlose Acker, von dem

die zu beiden Seiten pflügenden Bauern jedesmal einige Furchen abschnitten.

Wenige Tage, nachdem er die Zeitungsnachricht kennen

lernte, hat Keller diese Anfangssituation, die den Keim der Konzeption

bildete, in sein Tagebuch eingezeichnet.



Die Konzeption aus einem symbolhaften inneren Bild hat auch

Conr. Ferd. Meyer als den Kern bezeichnet, aus dem sein Erstling

„Huttens letzte Tage“ entsprungen sei. Nach häufigem Besuch der

Insel Ufenau entstand eine Skizze, „wo der kranke Ritter ins verglimmende

Abendrot schaut, während ein Holbeinscher Tod von der

Rebe am Bogenfenster eine Goldtraube schneidet. Sie bedeutete

‚Reifsein ist Alles‘“.



Aus der französischen Literatur ist Balzac zu nennen, der in der

Vorrede seines Romans „Physiologie du mariage“ erzählt, daß ihn

das Wort „adultère“ im Code civil in Erregung versetzte und eine

Reihe bedrückender Vorstellungen erweckte, von denen er erlöst

wurde, als ihm eine Fabel einfiel, die zwei Eheleute nach 27jähriger

Gemeinschaft zum ersten Male in Liebe zusammenführte. Das war als

psychologisches Problem zu gestalten. Erst aus der seelischen Durchdringung

des konstruierten Falles konnte sich eine Idee entwickeln.

Bei dieser Entstehungsweise zeichnet sich der Zeitpunkt der eigentlichen

Konzeption, die im organisierenden Eingreifen der Idee zu

sehen ist, nicht so deutlich ab, wie bei unmittelbarer Erlebnisdichtung.

Es handelt sich nicht, wie bei der Inspiration, um eine schlagartig

einsetzende Befreiung und Erlösung, sondern um eine Stufenfolge

allmählichen Werdens.



d) Für den meditativen Typus, den Ribot nicht kennt, steht

die Idee am Anfang, sie bildet den Ausgangspunkt der Konzeption;

sie wird nicht hineingetragen, um ein Problem zu lösen und vielerlei

Erlebnismotive zur Konzentration zu bringen, sondern sie ist von

vornherein der Kern, der wie ein Magnet alle Eisenspäne an sich |#f0443 : 419|



zieht. Als Beispiel nennt Gelzer Romain Rollands „Jean Christophe“.

In einem deutschen Musiker soll der Idealtypus reinen

Menschen- und Künstlertums dargestellt werden; dafür fliegen ihm

in der Konzeption allerlei Züge aus dem Lebensgang und der Persönlichkeit

eines Beethoven, eines Richard Wagner, eines Hugo Wolf

zu, die bereits vorher in die Vorstellung dieses Idealtypus übergegangen

waren. In ähnlicher Weise scheinen nach den Selbstbekenntnissen

des Verfassers Joseph Conrads Romane „Lord Jim“ und

„Nostromo“ angeregt worden zu sein. Bei dieser Schaffensart ist die

Phantasiebetätigung überwiegend assoziativ.



Die schöpferische Seite der Phantasie wird völlig verleugnet oder

tritt wenigstens hinter der reproduktiven ganz zurück bei den Arbeitsmethoden

eines Emile Zola. Dessen grundsätzliches Verfahren

ist in den Büchern von Toulouse und Massis aus persönlicher

Beobachtung und aus dem Nachlaß dargestellt. Häufig ist in den

Aufzeichnungen des Schriftstellers von einer „idée générale“ die

Rede, die allem anderen vorangehe, aber dieser erste Schritt ist

gleichbedeutend mit der Entscheidung für ein Milieu, eine Gesellschaftsklasse,

eine Tendenz und ein Kräftespiel sozialer Mächte.

Auch eine „tendence philosophique“ wird erwähnt, als welche sich

der Materialismus empfehle, aber sie soll nicht entwickelt werden,

sondern nur den Büchern eine gewisse Einheit geben. Von Anfang

an werden Stand und Gesellschaftsverhältnisse einzelner Personen

zusammen mit dem Schauplatz in Aussicht genommen, aber erst nach

Häufung unendlicher Materialien, die mit einer ungeheuren Arbeitsenergie

zusammengetragen sind, geht es an Aufstellung der Charaktere

und Disposition der Handlung. Von greifbaren Momenten der

Inspiration oder Intuition ist bei diesem der Naturwissenschaft nacheifernden

Verfahren nicht die Rede, weshalb es auch kaum als

eigener Typus dichterischer Konzeption gelten kann.



In Fragmenten des Schillerschen Nachlasses ist einmal ein ähnliches

Verfahren eingeschlagen beim Entwurf des Dramas „Die

Polizei“. Die Materialsammlung zur Schilderung des Pariser Großstadtlebens

war aber höchstens geeignet zum epischen Hintergrund,

während zur Konzeption einer straffen dramatischen Handlung solche

Vorarbeiten nicht führen konnten.



Mit Aufstellung dieser Typen ist nicht gesagt, daß jeder Dichter

seiner Wesensart nach an einen von ihnen gebunden ist. Wenn auch

Richtung und Anlage der Phantasie mitsprechen, so scheint doch

keine Einordnung in ein psychologisches Typensystem durchführbar.

Eher entspricht die Einteilung den Unterschieden der Gattungen. |#f0444 : 420|



Die Inspiration führt auf schnellstem Wege zur Lyrik, die Intuition

zum Drama; an der konstruktiven Konzentration haben Drama und

Roman Anteil; der Erzähler aber ist es, der durch die Meditation auf

dem langsamsten Wege zur epischen Gestaltung kommt.



e) Ist noch ein weiterer Typus zu erkennen, so würde ich ihn mit

reaktiver Konzeption bezeichnen oder mit jenem Wort, durch

das Friedrich Schlegel Lessings gesamtes Schaffen charakterisierte:

produktive Kritik. „Nathan der Weise“ gibt ein Beispiel

dafür. Lessings Erklärung, daß ihm das Verbot seiner theologischen

Polemik in schlafloser Nacht plötzlich auf den Einfall gebracht habe,

ob man ihm nicht auf seiner alten Kanzel, dem Theater, noch einmal

das Wort lasse, könnte als eine Art Inspiration aufgefaßt werden,

wenn wir nicht wüßten, daß das Szenar des Dramas schon seit längerem

vorlag. Der bewußte Widerspruch kann als negative Inspiration

bezeichnet werden, die oft erst während der Arbeit eintritt.

Aus der Polarität der Problemstellung kann sich der produktive

Widerstand gegen eine Idee und die Gestaltung, die sie gefunden

hat, herausbilden. Cervantes' „Don Quixote“ ist aus dem Gegensatz

zu den Amadis-Romanen und ihrer Wirkung konzipiert worden, und

Fieldings „Joseph Andrews“ als Antwort auf Richardsons „Pamela“;

Lessings „Emilia Galotti“ entstand als produktive Kritik an verschiedenen

Virginia-Dramen; Hardenbergs „Heinrich von Ofterdingen“

wurde als Gegenstück zu Goethes „Wilhelm Meister“ entworfen;

Oscar Wildes „Dorian Gray“ ist eine bewußte Variation von Huysmans

„A rebours“; Schillers „Jungfrau von Orleans“ entstand im

Widerspruch gegen Voltaires „Pucelle“, und Shaws „Saint Joan“

wiederum im Gegensatz zu Schiller. Die Gegensätzlichkeit wird zum

Antrieb der Satire; der Widerspruch gegen die Satire führt dazu,

das Verspottete wieder ernst zu nehmen.



Der Dichter selbst kann sich veranlaßt sehen, ein Problem, das er

nach der einen Seite hin zu lösen versuchte, nun einmal von der

anderen anzusehen. So gehören Hebbels „Maria Magdalena“ und

„Julia“ zusammen in der verschiedenen Stellungnahme zu dem,

„worüber kein Mann hinwegkann“; so hat Kleist die Zusammengehörigkeit

von „Penthesilea“ und „Käthchen“ dem Verhältnis von

Plus und Minus in der Algebra verglichen. Ibsens Dramen stehen

eine Zeitlang in gegenseitiger Abhängigkeit, indem das nächste jedesmal

ein Problem aufgreift, das vom vorangehenden übrig gelassen

war. Ina Seidels „Labyrinth“ ist ein Ableger des schon länger geplanten

und später erschienenen „Wunschkindes“. Hermann Stehr

hat im „Geigenbauer“ und im „Meister Cajetan“ dieselbe Geschichte |#f0445 : 421|



zweimal konzipiert und im „Peter Brindeisener“ die Vorfälle auf dem

„Heiligenhof“ aus anderem Blickwinkel noch einmal erzählt. Ähnliche

Beziehungen bestehen zwischen Schaeffers „Joseph Montfort“

und „Helianth“. Ebenso behandeln Hauptmanns „Einsame Menschen“

und „Gabriel Schillings Flucht“ dasselbe Problem. Keinmal bedeutet

das eine die Verwerfung des anderen, sondern beide stehen als selbständige

Konzeptionen nebeneinander, wie im Atelier des Künstlers

zwei Gemälde, die dieselbe Landschaft in verschiedener Beleuchtung

und Beseelung darstellen.



So bearbeitete Lessing nebeneinander zwei oder drei Faust-Pläne,

von denen jeder auf einer eigenen Konzeption beruhte. Schiller soll

drei Pläne der „Jungfrau von Orleans“ nebeneinander erwogen

haben, unter denen man einen streng historischen und einen antikisierend

stilisierten vermuten darf neben dem romantischen, der zur

Ausführung kam. Damit war aber eine spätere Wiederaufnahme des

historischen Entwurfes nicht ausgeschlossen. Auch die „Braut von

Messina“ ist gewissermaßen eine neue Konzeption der „Räuber“, mit

deren Fortsetzungsmöglichkeit der Dichter sich gleichzeitig beschäftigte.

Alle derartigen Selbstwiederholungen und Selbstverbesserungen

sind technische Experimente, die bereits zu dem Thema des folgenden

Abschnittes hinüberreichen.



3. Plan und Gestaltung


a) Plan



Fabel, Absicht und Technik wurden im ersten Buch (S. 136 ff.)

als die analytisch erfaßbaren rationalen Elemente des Kunstwerkes

zusammengefaßt unter dem Begriff des Planes. Die Kritik des Werkes

läßt erkennen, ob es nach einem festen Plan gearbeitet wurde, oder

ob der Plan während der Entstehungszeit sich verschob, veränderte,

verwirrte. Eine genetische Betrachtung, die nicht vom Werk, sondern

von der Person des Dichters ihren Ausgang nimmt und aus der

Entstehung der Dichtung die Gesetze ihres Werdens erkennen will,

hat konkretere Beziehung zu suchen. Der Plan ist dann im ersten

schriftlichen Niederschlag der Konzeption zu finden.



Während deren innerer Verlauf nur mittelbar bezeichnet sein kann

in Vorreden oder späteren Berichten und Erinnerungen, die vom

Dichter der Mit- und Nachwelt mitgeteilt werden, offenbart der aufgezeichnete

Plan unmittelbar die erste Rechenschaft, die der Dichter

sich selbst über sein Vorhaben gegeben hat. Tritt dieses Protokoll |#f0446 : 422|



der frühesten Arbeitsphase, das die Grundsteinlegung des Baus als

eingemauerte Urkunde überliefert, aus dem Nachlaß ans Licht, so

muß es mit der vom Dichter selbst gegebenen Darstellung in Einklang

gebracht werden. Es stellt eine Kontrolle jenes Berichtes dar

und kann zu dessen Bestätigung oder Berichtigung führen.



In solchem Falle hat die kritische Arbeit des Philologen einzusetzen

und im ersten Niederschlag des Planes Beziehung zu suchen

zur stofflichen Überlieferung, die der Dichter vorfand, oder zum

Erlebnis, das ihm den Anstoß gab. Wie oben (S. 116) gezeigt wurde,

löst sich mit Abzug des Stofflichen die in der Konzeption vollzogene

Verschmelzung wieder auf, und die von Erlebnis und Weltbild aus

eingeleitete Umgestaltung des Stoffes wird äußerlich sichtbar.



Was sich für die Analyse des Einzelwerkes ergibt, kann bei Wiederholung

desselben Verfahrens als charakteristisch für die Schaffensweise

eines Dichters angesehen werden. Z. B. hat Schiller es als

seinen Grundsatz ausgesprochen, das Geschichtliche zu überwinden,

aber im möglichsten Umfange zu benutzen ─ eine Methode, die sich

bei Konzeption des „Wallenstein“ und der „Maria Stuart“ für ihn

herausgebildet hatte.



In gleicher Weise kann von jenem festen Punkt des ersten Planes

Ausblick gehalten werden zum fertigen Werk hin. Der Vergleich mit

ihm steckt den Weg ab, den die weitere Arbeit zurückzulegen hatte.



Nicht immer läßt sich der aufgezeichnete Plan in Übereinstimmung

bringen mit dem Bericht des Dichters, der bei getrübter Erinnerung

manchmal der Versuchung ausgesetzt ist, vom fertigen Werk aus dessen

Werden zu rekonstruieren. So geschah es z. B. Goethe, der in

„Dichtung und Wahrheit“ die Entstehung seines „Prometheus“ erzählte,

ohne die ersten Entwürfe zur Hand zu haben. Seiner Erinnerung

stellte sich die Prometheus-Ode als Monolog aus dem geplanten

Drama dar, während sie in dem überlieferten Szenar keinen

Platz hatte. Man muß sie also entweder als nachträgliche Konzentration

auffassen, die verschiedene, auseinander hervorgehende dramatische

Szenen in eine einzige lyrische Situation zusammendrängte,

oder als eigene Konzeption, die dem Drama vorausging und in dessen

Szenar aufgelöst wurde.



Wenn mit Aufzeichnung des Planes das werdende Werk über die

Schwelle des Bewußtseins geführt und den Einflüssen des absichtvollen

Willens und der technischen Berechnung überantwortet wird,

so bedarf allerdings nicht jede Konzeption dieser überlegten Weiterführung.

Am wenigsten die reinste Form der Inspiration, die das

Werk fertig vor der inneren Anschauung erscheinen läßt. Konzeption |#f0447 : 423|



und Ausführung fallen dann zusammen, indem das Bewußtsein

ohne Reflexion die aus dem Unterbewußtsein auftauchenden Gaben

entgegennimmt.



Ein Ringen zwischen Unbewußtem und Bewußtem, das zueinander

nicht finden kann, geht der zweiten Stufe der fieberhaften, schmerzvollen,

chaotischen Konzeption voraus. Einzelne Momente des werdenden

Werkes stellen sich der Phantasie bereits in visionärer Deutlichkeit

dar, ohne daß ein planmäßiger Zusammenhang zwischen

ihnen zustande käme. In dieser Weise glaubten die Stürmer und

Dränger das Schaffen des Naturgenies Shakespeare als schöne Raritäten

auf dem Jahrmarkt des Lebens zu verstehen, als eine Reihe von

Guckkastenbildern, wie Goethes Rede zum Shakespearetag ausmalt:

„Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane,

aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch

kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche

unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem

notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.“



Der junge Goethe charakterisiert damit seine eigene Schaffensweise,

die in der dramatisierten „Geschichte Gottfriedens v. Berlichingen“

abgerissene Einzelauftritte locker aneinanderfädelte, so

wie sie den Anfang des „Ewigen Juden“ als „ersten Fetzen“ hinwarf

und auch die Szenen des „Urfaust“ nicht nach ihrer inneren Folge

ausarbeitete. Ein Besucher Frankfurts, dem das Genie in das Werden

seiner gewaltigsten Dichtung Einblick gewährte, bekam kein zusammenhängendes

Manuskript zu sehen, geschweige denn einen aufgezeichneten

Plan, sondern beobachtete nur, wie der Dichter aus

einem Papiersack lauter einzelne Blätter, Zettel und Schnitzel ausstreute,

aus denen er vorlas. Das auf Postpapier geschriebene Manuskript,

das 1775 nach Weimar mitgebracht wurde und dem Inhalt

nach durch die Abschrift des Fräulein v. Göchhausen bekannt ist,

stellt also gar nicht den eigentlichen „Urfaust“ dar. Den wirklichen

Urzustand versuchte Gustav Roethes überscharfsinnige Untersuchung

durch Auflösung in lauter Fetzen zu gewinnen, die er nach Form-

und Stilkriterien datierte und innerhalb von drei Schaffensperioden

unterbrachte. Die naturalistische Prosa sollte vorangehen. In Widerspruch

dazu meinte Schuchardt die ältesten Knittelvers-Partien der

akademischen Satire bereits in die Leipziger Zeit versetzen zu dürfen.



Goethe selbst glaubte kurz vor seinem Tode sich zu erinnern, daß

die Konzeption „jugendlich“ (d. h. in himmelstürmender Improvisation)

und „von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger

ausführlich vorlag“. Es scheint demnach, daß er zunächst nur die |#f0448 : 424|



Szenenfolge des Eingangs geordnet vor sich sah; es ist eine viel umstrittene

Frage, ob in weiterer Planung bereits über das Schicksal

des Helden entschieden war. Auch wenn der alte Dichter als eine

seiner ältesten Konzeptionen die Gestalt der Helena erklärte, so ist

damit noch nicht gesagt, ob das Stück in der Hölle oder im Himmel

enden sollte. Erst in Rom, am 1. März 1788 heißt es: „Zuerst ward

der Plan zu ‚Faust‘ gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir

geglückt sein.“



Wie der verlorene römische Plan aussah, wissen wir nicht; wir

können nur aus der Funktion der neueingefügten Szenen „Hexenküche“

und „Wald und Höhle“ Schlüsse ziehen. Auch hier bleibt

die Frage unentschieden, ob Untergang oder Erlösung das Ziel war.

Gesichert ist der Erlösungsgedanke erst durch den neuen Anlauf,

der 1797 genommen wurde. Jetzt setzte sich Schillers Forderung

durch, einen poetischen Reif um die hochaufquellende Masse zu

schlagen und das Ganze einer philosophischen Idee zu unterwerfen.

Die Einschlagstellen dieses Reifens sind „Prolog im Himmel“ und

Paktszene, die dem „Urfaust“ wie dem 1790 erschienenen Fragment

fehlten. Mit ihnen war die Idee des nirgends beharrenden rastlosen

Vorwärtseilens und der Erlösung durch strebendes Bemühen festgelegt.

Eine von Riemer und Eckermann auf Grund Goethischer

Äußerungen hergestellte „Chronologie“ besagte für das Jahr 1797:

„Das Schema zum ‚Faust‘ vervollständigt.“



Charakteristisch für Goethes jetzige Arbeitsweise ist das erste

Paralipomenon, für dessen Datierung Goethes Milton-Lektüre im

Jahre 1799 in Anschlag gebracht werden kann. Zunächst gibt es eine

abstrakte Schematisierung des bereits Ausgeführten, das nachträglich

der Idee unterworfen wird:



Ideales Streben nach Einwircken und Einfühlen in die ganze Natur.

Erscheinung des Geists als Welt und Thaten Genius.

Streit zwischen Form und Formlosen.

Vorzug dem formlosen Gehalt

Vor der leeren Form.

Gehalt bringt die Form mit,

Form ist nie ohne Gehalt.

Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen.

Helles kaltes wissensch. Streben Wagner

Dumpfes warmes ─ ─ Schüler.



Für das Neue, d. h. für den zweiten Teil, der mit Ausnahme des

Anfanges des Helena-Aktes noch lange unausgeführt blieb, genügt

vorerst die Andeutung der Idee in wenigen Stichworten, deren Überschrift

„Lebens Thaten Wesen“ durchgestrichen ist:

|#f0449 : 425|



Lebens Genuß der Person von außen gesehen 1ster Theil in der Dumpfheit

Leidensch.



Thaten Genuß nach aussen zweyter Theil und Genuß mit Bewußtseyn.

Schönheit.



Schöpfungs Genuß von innen. Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle.



Wenn in Goethes Alter planmäßiges Schematisieren zu einer Regel

wurde, die sich in Italien mit dem Szenar zur „Nausikaa“ herausgebildet

hatte und dann bei der „Achilleis“, der „Natürlichen Tochter“

und der „Novelle“ Fortsetzung fand, so entwickelt sich im

Weitergang des zweiten Faust-Teiles dieses Verfahren unter vielfachen

Wandlungen der ursprünglichen Konzeption zu ausführlicher

Selbstberatung und zu Vorankündigungen an die Leserschaft.



Schillers Arbeitsweise scheint eher die umgekehrte Entwicklung

genommen zu haben. Vorarbeiten zu den Jugenddichtungen fehlen;

aber briefliche Äußerungen deuten an, daß die Konzeption ihren

Ausgang nahm von der Begeisterung für einen großen Menschen, und

daß diesem Helden Gelegenheit zur Charakterentfaltung in starken

Situationen gegeben werden mußte.



Solchem Ansatzpunkt entspricht aber nicht der erste Plan des „Don

Carlos“, der im Bauerbacher Entwurf aus dem Winter 1782/3 erhalten

ist. Das Stoffliche, das sich enger als die spätere Ausführung

an St. Réals Novelle anschließt, ist nicht nach Szenen und Akten disponiert,

sondern nach dem psychologischen Fortgang in fünf Schritten:

Schürzung des Knotens ─ Der Knoten verwickelter ─ Anscheinende

Auflösung, die alle Knoten noch mehr verwickelt ─ Don

Carlos unterliegt einer neuen Gefahr ─ Auflösung und Katastrophe.

Jeder Schritt wird weiter in der Gegenbewegung von Spiel und Gegenspiel,

in der Spannung zwischen Entwicklung der Liebe und sich

steigernden Hindernissen abstrakt analysiert, ohne daß die Charaktere

umrissen würden oder der Zusammenstoß der Gegensätze in bestimmten

dramatischen Situationen ins Auge gefaßt wäre.



Es ist kaum anzunehmen, daß solch nüchterne Planmäßigkeit bereits

bei den Jugend-Dramen zur Anwendung kam. In dem Werk des

Übergangs und der Läuterung mag die Reflexion an den Anfang

gesetzt sein als erzwungene Selbsterziehung, die über die Mängel an

psychologischer Motivierung, unter denen die ersten Jugenddichtungen

litten, Herr werden will.



In der folgenden großen Pause des dramatischen Schaffens klärte

sich der Gattungsbegriff dahin, daß „das erwirkte Erlebnis weniger

Wirkung des Stoffes als der am besten benutzten tragischen Form

sei“. Die Abhandlung „Über die tragische Kunst“ führte aus, daß die |#f0450 : 426|



Form in allen Teilen dem Zweck der Mitleiderregung durch Verkettung

von Ursache und Wirkung und durch die Übereinstimmung

der vorgestellten Affekte und Charaktere mit der Natur unserer

Seele dienen müsse. Gleichwohl hat sich Schiller in seiner weiteren

Praxis einen möglichst elastischen Begriff der Form freigehalten:

„Die Idee eines Trauerspiels muß immer beweglich und werdend sein,

und nur virtualiter in hundert und tausend möglichen Formen sich

darstellen.“ Damit konnten so entgegengesetzte Formprinzipien, wie

sie in „Braut von Messina“ und „Wilhelm Tell“ zutage treten, ihre

Rechtfertigung finden. Während beim „Wallenstein“ noch ein detailliertes

Szenarium entworfen worden war, „um die Übersicht der

Momente und des Zusammenhangs auch durch die Augen mechanisch

zu erleichtern“, ist der Aufbau des „Tell“ so locker, daß noch während

der Arbeit die Stellung einzelner Auftritte wechseln konnte.



Wie frei sich die spätere Arbeitsweise Schillers von Pedanterie und

Dogma hielt, zeigen die Fragmente des Nachlasses. Zwar waren die

Bruchstücke des „Demetrius“ von den ersten Herausgebern in einer

Folge geordnet, die vom Allgemeinen zum Besonderen fortschritt.

Aber die sorgfältige Untersuchung Gustav Kettners, die jedes einzelne

Blatt nach äußeren Kriterien (Schriftzügen, Beschaffenheit des Papiers

und seiner Wasserzeichen, Rücksichtnahme auf den wechselnden

Bestand des Weimarer Bühnenpersonals) datierte und das Ganze

nach Analogie der bei anderen Entwürfen eingeschlagenen Arbeitsweise

ordnete, kam in bezug auf die Chronologie zu entgegengesetzten

Schlüssen. Zunächst wurden einzelne Situationen und Theaterwirkungen

ins Auge gefaßt, ehe an die Stützpunkte des Aufbaus, die von

Schiller als „punctum saliens“, „aufbrechende Knospe“, und „prägnanter

Moment“ bezeichnet werden, zu denken war. Erst nachdem

die Eignung zur dramatischen Form und zur tragischen Wirkung sich

in einer „Echtheitsprobe“ (nach Spenglers Wort) erwiesen hat, erfolgt

die planmäßige Konstruktion des Knochengerüstes. Die bereits vorher

entworfenen Situationen werden ihm eingefügt oder verworfen,

aber es kommt nirgends zu so nüchterner Schematisierung, wie es

Goethes spätere Art gewesen ist.



Mit der auf Anschaulichkeit und Wirkungsberechnung eingestellten

Schaffensart erweist Schiller seine Zugehörigkeit zu dem dritten

Typus des intuitiven und konstruktiven Arbeiters, der einem Durchbruch

der Idee suchend entgegensieht. Charakteristisch dafür ist

auch das Sammeln von Stoffen, die in den Titelverzeichnissen des

Nachlasses als Programm neuer dramatischer Möglichkeiten sich zur

Wahl stellen. Schiller ging darin zwar nicht so weit, wie der französische |#f0451 : 427|



Theaterroutinier Victorien Sardou, der seinen Besuchern

Einblick in eine Vorratskammer von über hundert in Angriff genommenen

Stücken gewähren konnte, aber er gehörte auch nicht zu

jenem Dichtertypus, der, wenn er erlebnismäßig von einem Thema

besessen ist, nicht nach rechts und nicht nach links schaut, sondern

nur in diesem einen Werk leben und wirken kann. Das Gegenteil

davon führt leicht zur Zersplitterung, wie z. B. Jos. Vict. v. Scheffel

nach dem „Eckehard“ zwischen den Stoffen zu acht geschichtlichen

Romanen schwankte, von denen keiner mehr zur Vollendung gelangt

ist.



Dem vierten Typus, der als meditativ bezeichnet worden ist, scheint

Hebbels dramatisches Schaffen nahezukommen, das meist von einer

Ideenkonzeption ausging. Bei einem Meinungsaustausch zwischen ihm

und Gutzkow gestanden sich beide, daß sie keine ausführlichen Pläne

zu machen pflegten, obwohl Gutzkow es für ratsam erachtete. Hebbel

hielt an seinem ungebundenen Verfahren, das der abkühlenden Verstandesarbeit

wie der pedantischen Schematisierung auswich, fest.

Aber der ursprüngliche Schwerpunkt verschob sich dabei nicht selten,

und die erste Konzeption wurde im Verlauf der Arbeit mit Änderung

der Problemstellung durch einen neuen Plan verdrängt. So ist während

der Entstehung der „Genoveva“ die Situation des Golo wichtiger

geworden, als die der Heiligen. Ähnlich trat bei der „Agnes Bernauer“,

deren erster Plan von der Idee der Schönheit als Schuld ausging, in

der Umgestaltung mehr und mehr das Problem des Staatsgedankens

in den Vordergrund. Lag im Stoff zunächst die Eignung zum Intrigenstück,

so gewann es mit der neuen Dynamik, die aus der Spannung

zwischen Vater und Sohn erwuchs, den Charakter des Problem- und

Ideendramas. Das „Trauerspiel in Sizilien“ wiederum wurde mit der

Sicherheit eines Nachtwandlers in einem Zug begonnen, bis eine

gesundheitliche Hemmung eintrat und die Wiederaufnahme durch

einsetzende Reflexion gelähmt wurde.



Das eigentliche Feld der meditativen Konzeption und Schaffensweise

liegt, wie schon oben (S. 418) gesagt wurde, in der erzählenden

Dichtung. Während Theodor Fontane bei der Ausführung seiner

sprunghaften Stimmungsballaden intuitive Inspirationen erlebte, z. B.

bei „Schloß Eger“, das er während des Ankleidens in wenigen Minuten

auf das Papier warf, oder bei „Archibald Douglas“, dessen

Strophen er am Abend der Stoffindung im Vorraum des Schauspielhauses

auf herausgerissene Blätter seines Notizbuches schrieb, tat er

sich sehr schwer als Prosa-Erzähler. Sein Romanschaffen, das an der

Hand seines Nachlasses sich bis ins einzelne verfolgen läßt, gibt das |#f0452 : 428|



Beispiel einer Arbeitsweise, die in mancher Beziehung mit der des

Naturalisten Zola übereinstimmt. Fontane nannte sich den „langsamsten

Arbeiter der Welt“: Es käme darauf an, daß wir in den Stunden,

die wir einem Buch widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches

Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten

Leben kein Unterschied sei als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit

und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität,

die die verklärende Aufgabe der Kunst ist. Der unvollendet gebliebene

erste Berliner Gesellschaftsroman „Allerlei Glück“ plante

eine lockere Verwebung mannigfachster Charaktere und Schicksale

aus allen Ständen; es kam aber schließlich zu keiner Konzentration.

Der letzte Roman „Der Stechlin“ wählte ein begrenzteres Thema und

machte sich zur Aufgabe, den Adel darzustellen, „wie er ist und wie

er sein sollte“. Die Idee führte zunächst auf den Gedanken eines Erziehungsromanes,

indem Woldemar v. Stechlin zum Vertreter des

„Adels, wie er sein sollte“, heranzubilden war. In der Ausführung

ist es schließlich bei dem „Adel wie er ist“ geblieben, als dessen Repräsentant

der alte Dubslav v. Stechlin im Vordergrund steht. Trotz

dieser Verlegung des Schwerpunktes hat sich der Aufbau des Ganzen,

der im ersten Plan festgelegt war, selbst in der Folge und Einteilung

der Kapitel nicht so wesentlich verschoben, als man erwarten sollte.

Nur haben sich alle Partien, in denen der Vater das Wort hat, durch

die Lebensfülle der Charakteristik und die Freude am Gespräch verbreitert,

während die Entwicklung des Sohnes trotz der Absicht, ihn

mit allen Zeitideen in Berührung zu bringen, sich nicht in Handlung

umsetzte, sondern blaß und wirkungslos blieb.



b) Wandlungen des Planes



Wenn in lyrischer Inspiration das Werk wie Minerva aus dem

Haupte Jupiters hervorspringt, kann von Veränderungen der Grundkonzeption

kaum die Rede sein. Es ist ein seltener Fall, daß ein

lyrisches Gedicht nach Jahren unter dem Eindruck neuer Erlebnisse

derartige Umgestaltung erfährt wie Goethes „An den Mond“, dessen

erste Gestalt Frau v. Stein zugedacht war und als intimes Bekenntnis

in ihren Händen blieb, während nach zehn Jahren für die erste Ausgabe

der Gedichte aus veränderter Seelenlage eine objektivere

Fassung hergestellt wurde.



Gedankenlyrik, die einer meditativen Entstehungsweise zuneigt, erfährt

viel häufiger formale und sogar inhaltliche Umgestaltung, wie

etwa Hölderlins späte Hymnen zeigen, die in zwei oder drei Fassungen

nebeneinander stehen. Auch Schiller wußte von seinen |#f0453 : 429|



„Künstlern“ zu sagen, daß gerade das, was ihn zu diesem Gedicht

antrieb, weggestrichen worden sei, als es fertig war.



Als Dramatiker hat Grillparzer geklagt, daß er bei länger dauerndem

Arbeiten leicht dem ersten Plan untreu werde, weil alte Lieblingsthemata

und Ansichten, die er mit sich herumtrug, unbewußt

sich einmischten. Meistens aber bestehen in neuen Erfahrungen wie

in gereifter Kunst- und Lebensanschauung die Ursachen für Veränderung

eines Planes. So hat Schiller in den „Briefen über Don

Carlos“ zugegeben, daß während der langen Entstehungszeit sich in

ihm selbst vieles verändert habe: „Neue Ideen, die indes bei mir

aufkamen, verdrängten die früheren; Carlos selbst war in meiner

Gunst gefallen, vielleicht aus keinem anderen Grunde, als weil ich

ihm in Jahren zu weit vorausgesprungen war, und aus der entgegengesetzten

Ursache hatte Marquis Posa seinen Platz eingenommen. So

kam es denn, daß ich zu dem vierten und fünften Akte ein ganz

anderes Herz mitbrachte.“ Die in Bauerbach entworfene Liebesgeschichte

aus einem königlichen Hause, die den Titel „Kabale und

Liebe“ hätte tragen können, hatte Carlos und Elisabeth zu Hauptpersonen;

daraus war in der zweiten Phase des Planes eine Kronprinzen-Tragödie

geworden, bei der die Spannung in der Auseinandersetzung

zwischen Vater und Sohn lag; inzwischen entwickelte sich

als dritte Phase mit dem Gegenüber von Posa und Philipp ein politisches

Ideendrama. Die Verteidigung des Dichters gegen seine Kritiker

in den „Briefen über Don Carlos“ legte endlich dem fertigen

Werk nachträglich eine vierte Konzeption zugrunde, die seine Einheitlichkeit

hätte retten können. In der Ausführung besteht diese

Einheitlichkeit nicht, da der erste und fünfte Akt durch den ersten

Plan festgelegt sind, der zweite und vierte durch den zweiten Plan

und der Mittel-Akt durch den dritten. Das gewagte Spiel, mit dem

Posa aus dem Stück scheidet, ist ein verzweifeltes Mittel, aus dem

dritten Plan wieder zum ersten zurückzulenken.



Ganz anders verhielt sich Lessing bei der durch 18 Jahre sich

hinziehenden und mehrere Arbeitsphasen durchlaufenden „Emilia

Galotti“. Die Umsetzung des zunächst geplanten Virginia-Dramas in

ein dreiaktiges italienisches Hofstück aus dem Zeitalter des Absolutismus

und dessen Erweiterung zum fünfaktigen Drama durch Einfügung

der Gegenspielerin Orsina, brachten mancherlei Veränderungen

mit sich, aber das Ganze wurde jedesmal mit solcher Überlegung

umgeschmolzen, daß die Analyse keine Spuren verschiedener Bauperioden

in bezug auf Stil und Motive entdecken kann. Nur eines

bleibt unsicher, nämlich die innere Motivierung des Tochtermordes, |#f0454 : 430|



der den Kern der Virginia-Sage bildete. Wir wissen, daß Lessing bis

zur letzten Stunde über das Ende im Ungewissen war und daß erst

die Drohung des Braunschweiger Theaterdirektors, einen Schluß aus

eigener Erfindung anzufügen, ihn zur Entscheidung zwang.



Theaterrücksichten haben auch den Jugendstücken Schillers, den

„Räubern“ wie dem „Fiesko“, Änderungen des Schlusses auferlegt.

Ebenso hat der Theaterleiter Goethe 1806 das Graf-v.-Gleichen-Motiv

in „Stella“ durch einen tragischen Ausgang ersetzen müssen. Auch

Ibsen wurde durch die Moral des Publikums dazu bestimmt, in einem

Theaterschluß seine „Nora“ zu ihren Kindern zurückzuführen. Heinrich

v. Kleist aber hat es beklagt, daß er sein als Märchendrama

angelegtes „Käthchen von Heilbronn“ durch Bühnenrücksichten in

die Bahn des Ritterdramas gelenkt und damit ganz verdorben habe.

Ebenso hat Grillparzer die Verantwortung dafür, daß seine „Ahnfrau“

als Schicksalsdrama gelten konnte, dem dramaturgischen Berater

Schreyvogel zugeschoben.



Eine Theaterrücksicht war es auch, daß Schiller seinen „Wallenstein“,

der zunächst als fünfaktige Tragödie aufgebaut war, in eine

sogenannte Trilogie zerlegte. Um die zwei letzten Akte der ursprünglichen

Komposition zur fünfaktigen Tragödie „Wallensteins Tod“

aufzufüllen, war die Einlage neuer Szenen erforderlich, die im Urplan

noch nicht vorgesehen waren. Goethes Verteilung des „Götz von Berlichingen“

auf zwei Theaterabende war dagegen eine äußerlichere

dramaturgische Unternehmung, die nur den großen Umfang bewältigen

wollte, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen.



Umgestaltungen des Planes können auch durch neue Quellenstudien

verursacht sein, mit denen der Dichter während der Arbeit seine

Geschichtskenntnis erweiterte. So hat sich für Schiller der Charakter

König Philipps umgeprägt, als er den spanischen Historiker Ferreras

und den Engländer Watson kennen lernte. „Tasso“ veränderte sein

Gesicht unter dem Eindruck der Lebensbeschreibung von Serassi, die

Goethe in Rom las. An die Stelle des Gegenspielers Battista Pigna

trat nun der Staatsmann Antonio Montecatino. Aus äußeren wie

inneren Anzeichen ist zu erkennen, welche Partien dem früheren oder

dem späteren Plan ihrer Ausführung nach angehören. Zu den äußerlichsten

Kennzeichen gehört die Betonung des Namens Antonio, der

in den neuen Partien viersilbig erscheint, während sein dreisilbiger

Gebrauch verrät, wo ursprünglich an seiner Stelle Battista stand.

Die im Verlauf des Stückes veränderte Haltung des Gegenspielers

bestätigt in denselben Szenen, welche Wandlung auch im Organismus

des Dramas durch den neuen Plan eintrat.

|#f0455 : 431|



Es können auch politische Tendenzen zur Umgestaltung und Erweiterung

verlocken. So hat Schiller für den „Demetrius“ eine Kerkervision

Romanows erwogen, in der nach Shakespearescher Weise die

Zukunft des russischen Kaiserhauses prophezeit werden sollte, verbunden

mit einer Huldigung für die Großfürstin Maria Paulowna,

Weimars künftige Herzogin. Im Kleistschen „Michael Kohlhaas“ aber

ist das Schlußmotiv der Prophezeiung, die Preußen über Sachsen

erhebt, entgegen dem ursprünglichen Plan eingefügt.



Im allgemeinen gibt die erzählende Dichtung weniger Anlaß zur

Umarbeitung als das Drama, das die Probe der Bühnenwirkung bestehen

muß; nur der autobiographische Roman ist notwendigen Veränderungen

ausgesetzt, wenn das Leben des Dichters über den

geistigen Raum des ersten Planes hinausgeführt hat. Bei der Jugendgeschichte

bleibt der stoffliche Bestand, und die Änderungen beziehen

sich mehr auf die Mittel der Erzählungstechnik, als auf den Erinnerungsinhalt;

dagegen können sich Weiterführung und Schluß mit Verschiebung

der Lebensziele wesentlich wandeln. Als Goethe „Wilhelm

Meisters theatralische Sendung“ schrieb, war die Aufgabe des Helden,

durch Einbürgerung Shakespeares zum Schöpfer eines deutschen

Nationaltheaters zu werden, durchaus ernst gemeint, und die Hamlet-

Aufführung sollte nach damaligem Plan den Höhepunkt darstellen.

In den „Lehrjahren“ aber bedeutet dieses Ereignis nicht mehr den

Gipfel der Komposition, sondern nur einen Übergang, der als Abkehr

von der Welt des Scheines zur Richtung auf das tätige Leben hinführt.

„Wilhelm Meisters Wanderjahre“ wiederum entsprechen so wenig

dem Plan der „Lehrjahre“, an den sie äußerlich anzuknüpfen hatten,

daß sie kaum mehr als Fortsetzung gelten können. Zwischen den

beiden Fassungen des Alters-Romans ist nochmals eine Verschiebung

des Zieles eingetreten in bezug auf das Verhältnis zur neuen Welt.

Die amerikanischen Schicksale der Auswanderer hätten nun das

Thema einer weiteren Fortsetzung „Wilhelm Meisters Meisterjahre“

abgeben können, aber dieser Plan gewann keine feste Form mehr und

konnte mit der eigenen Lebenserfahrung des Dichters nicht bestritten

und bewältigt werden.



Auch Grimmelshausens „Simplicissimus“ hat mehrere Fortsetzungen

erlebt, zunächst in dem Anhängsel des sechsten Buches, das die

wundervolle Rundung, die im fünften Buch mit der Rückkehr zum

Einsiedlerleben gefunden war, zerstört. Die angefügte Robinsonade,

die der Anregung einer literarischen Quelle folgt, verbindet das

Motiv der Weltflucht mit dem des kuriösen Erlebnishungers; es zeigt

sich, daß der künstlerisch bessere Abschluß des fünften Buches doch |#f0456 : 432|



keine ganz dem Lebensgefühl des Dichters entsprechende Echtheit

besaß.



Jede Umarbeitung eines früheren Werkes trägt der gewandelten

Lebenserfahrung Rechnung. So hat auch Gottfried Kellers „Grüner

Heinrich“, der nach ursprünglichem Plan in einem zypressendunkeln

Schluß das verfehlte Leben erlöschen ließ, sich in der zweiten Gestalt

dem neuen Aufbau eines tätigen Lebens zugewandt. Damit war dem

Beruf, den der Dichter selbst inzwischen gefunden hatte, entsprochen.



Endlich sei noch die Wiederaufnahme eines Planes nach jahrzehntelanger

Pause erwähnt mit Goethes „Novelle“, die auf das

dreißig Jahre zurückliegende Stanzenepos „Die Jagd“ zurückgeht.

Wilhelm v. Humboldt hat von dem Plan des Jahres 1797 berichtet,

und es ist zu sehen, daß wesentliche Motive erhalten blieben. Aber

Gattungswechsel und Übergang zur Prosa haben neben dem Altersstil

die Ausführung unter andere Gesetze gestellt.



c) Ausführung



In und mit dem Plan pflegt bereits die sprachliche Gestaltung einzusetzen

in einem Maße, das den verschiedenen Typen der Schaffensweise

entspricht. Mit der unmittelbaren Inspiration ist der Rhythmus

des Ganzen eingegeben; bei der intuitiven Schaffensweise kommen

während des Suchens nach der Idee und bei ihrer Herausarbeitung

einzelne Partien probeweise zur sprachlichen Gestaltung; bei der

meditativen Arbeit beginnt die Sprachgebung erst nach Feststellung

des Planes, um sogleich der endgültigen Form zuzueilen.



Es kommt darauf an, ob die erste Konzeption festgehalten wird.

Wie Goethes eben erwähnte „Novelle“, so wurden, ohne gleichgroßen

Abstand von der endgültigen Ausführung, Hölderlins „Hyperion“ und

Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ zunächst als

Versdichtungen begonnen. Schiller war genötigt, seinen „Don Carlos“

für den Gebrauch kleiner Bühnen in elende Prosa zurückzuübersetzen,

und es bleibt umstritten, ob er dafür ursprüngliche Entwürfe,

die der Versifikation vorausgegangen waren, verwendet hat. Den

„Wallenstein“ begann er nach den gemachten Erfahrungen in Prosa

und lebte als Dichter erst wieder auf, nachdem er sich für die Versform

entschlossen hatte. Goethe hat sogar um die Form der Iphigenie

in vier verschiedenen Fassungen von Prosa und rhythmischer Prosa

gerungen, bis er am Ufer des Gardasees die endgültige Form fand.

Eine Änderung des Planes war damit nicht verbunden.



Bei dramatischen Dichtungen kann eine Prosa-Skizze des Dialogs

zwischen dem Szenar und der Versgestalt die Zwischenstufe bilden, |#f0457 : 433|



so daß das ursprüngliche Manuskript in zwei- oder dreispaltiger Anlage

die Phasen des Werdens veranschaulicht. Dieses Bild bietet

beispielsweise der erste Entwurf von Lessings „Nathan“, und in

gleicher Weise hat Schiller stückweise bei den Fragmenten des Nachlasses

gearbeitet. Er hat auch als Lyriker bei dem Entwurf des Gedichtes

„Deutsche Größe“ die Prosa-Skizze und die Anfänge der

Versifikation auf demselben Blatt nebeneinander gestellt. Ein anderes

Stück seiner Gedankenlyrik, nämlich „Die Führer des Lebens“, benutzt

Bild und Wortlaut des Anfanges einer damals noch ungedruckten

ästhetischen Abhandlung „Vom Erhabenen“ zur Umgießung in Verse.



Im Zeitalter des Rationalismus waren sogar prosaische Oden möglich

und galten, wie Lessings Versuche zeigen, als rhetorische Kunstleistungen,

nicht als vorläufige Entwürfe. Wieland bekannte, daß er

bei seinen Oden-Dichtungen zuerst alle Hauptvorstellungen, die darin

vorkommen sollten, in seinem Kopfe sammle, sie anordne und dann

erst in poetischen Enthusiasmus versetzte. Das war gewiß nicht die Art

Klopstocks, dessen Odendichtung vom Enthusiasmus eingegeben war.



Die rationalistische Methode ist indessen noch im 19. Jahrhundert

von Dichtern angewandt worden, bei denen man es nicht erwartet.

So berichtet E. A. Poe selbst über die mühevolle Disposition seines

Gedichtes „Der Rabe“. Ähnliche Methoden scheinen von Dowson

und Keats gehandhabt worden zu sein, und von Dante Gabriel

Rossettis Arbeitsweise gibt sein Bruder folgende Beschreibung: zuerst

schuf er den Umriß des Gedichtes; erst dann erfolgte die Ausarbeitung

der Einzelheiten, die unzählige Veränderungen zur Folge hatte. Dazu

hat er sogar Wörterbücher nachgeschlagen und einen Briefwechsel

mit Freunden über strittige Fragen unterhalten. Das Endergebnis

wurde erst nach längerer Zeit veröffentlicht.



Dichterhandschriften verraten die Gleichmäßigkeit oder Erregtheit

des Seelenzustandes beim Schaffen. Émile Zola, der täglich seine

bestimmten Arbeitsstunden hatte, setzte sich nicht eher an den

Schreibtisch, als bis er sein Material geordnet und völlig durchdacht

hatte. Um jährlich einen Roman von 500 Seiten zu liefern, schrieb

er täglich etwa 50 Zeilen in seiner sauberen großen Schulschrift, ohne

zu ändern. Ähnlich hielt Paul Heyse seine regelmäßigen Arbeitsstunden

inne und förderte mit flüssiger Feder das innerlich fertige

Werk.



Anders war es bei Flaubert, der unter schmerzlichsten Anstrengungen

schuf und beim Schreiben öfter innehielt, das Geschriebene durchstrich,

darüberschrieb, die Ränder anfüllte und Worte quer darüberzog.

Von zwanzig Seiten, die er geschrieben hatte, konnte er schließlich |#f0458 : 434|



nur eine verwenden; unter hundert Ausdrücken konnte er nur

einen als den allein richtigen herausfinden, und öfters erlebte er

einen Zusammenbruch im Kampf mit den Worten. Er sagte einmal:

„Ich habe vier Stunden verbracht, ohne eine Phrase fertigzubekommen.

Ich habe heute keine Zeile geschrieben, oder vielmehr, ich habe

hundert gekritzelt. Was für eine furchtbare Arbeit!“



Während Wieland gestand, drittehalb Tage über einer Strophe beim

Suchen eines einzigen Wortes hingebracht zu haben, erzählte der Verfasser

der „Emilia Galotti“ von einem jungen Tragikus, der ähnlich

arbeite wie er selbst. „Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er

erweitert unaufhörlich seinen Plan und streicht unaufhörlich etwas

von dem schon Ausgearbeiteten wieder aus.“



Wieder ein anderes Bild zeigen die Romanmanuskripte Theodor

Fontanes, der sich selbst als einen „Pußler“ bezeichnete und unaufhörlich

an der Form feilte. Er beginnt mit Bleistifteintragungen in

seinem Notizbuch, das Blatt schreibt er ab, oder klebt es auf und

schreibt wieder ab, bis endlich nach neuer Ausarbeitung die Druckvorlage

durch die Hand seiner Frau zustandekommt. Die Rückseiten

der Manuskript-Blätter waren ursprünglich Vorderseiten und enthalten

viele Skizzen vorausgegangener, inzwischen ausgeführter Entwürfe.



Die zeitliche Folge in der sparsamen Ausnutzung desselben Papierblattes

zeigt immerhin kein so chaotisches Durcheinander verschiedener

Pläne, wie es in Handschriften Clemens Brentanos zu sehen

ist, oder wie dem undisziplinierten Genie Peter Hille nachgesagt

wird, dessen Manuskripte in Bierbaums „Stilpe“ folgende Beschreibung

finden: „Ein Konzeptbogen in Quart, der außer den ersten

Szenen zu einem Drama zwei Kapitel aus verschiedenen Romanen,

sechs Gedichte in Prosa, drei in Versen und außerdem etwa fünf

Dutzend Aphorismen und verschiedene Essay-Brouillons enthielt,

alles durcheinandergeschrieben, erst waagerecht, dann in senkrechten,

dann in diagonalen Zeilen dazu.“



Einen ähnlichen chaotischen Eindruck machen auch die Korrekturfahnen

Balzacscher Romane, die zwar nur dem einen Werk galten,

aber den Text noch im Satz des Druckes siebzehn- oder achtzehnmal

völlig umwarfen.



4. Arbeitsweise



Das graphologische Charakterbild der Dichterhandschrift, das in

einer Vielheit von Manuskripten sich vermannigfaltigt und immer

neue Einblicke in Wesen und Werden, Werkstatt und Arbeitsweise,

Seelenlage und Stimmung des Schaffenden gibt, erfährt anschauliche |#f0459 : 435|



Ergänzung durch alle Berichte aus der Umwelt des Dichters, die über

die von ihm selbst gesuchten oder hergestellten Arbeitsbedingungen

Aufschluß geben.



Klima und Jahreszeit fördern die Schaffensfreudigkeit in verschiedener

Weise. Für Schiller brachte der Eintritt des Frühjahrs eine

traurige Stimmung unruhigen und gegenstandslosen Sehnens mit sich,

die dem bei anderer Gelegenheit (vgl. S. 411) geschilderten Zustand

vor der Konzeption entspricht. Das alljährliche Erlebnis der erwachenden

Natur geht wohl an keinem Poeten spurlos vorüber, aber

die Frucht folgt der Blüte oft viel später. Selbst Uhland, der recht

eigentlich ein Frühlingsdichter war, hat Lenzlieder in den Wintermonaten

verfaßt. Jean Paul fühlte sich in trüben Zeiten besonders

zur Arbeit aufgelegt; sein Exkurs über die natürliche Magie der Phantasie

im „Quintus Fixlein“ erklärt, der dichterische Regenbogen wölbe

sich, ebenso wie der optische, bei niedrigstem Stande der Sonne am

höchsten (also abends und im Winter). Auch Wilhelm Raabe hat den

November, den die meisten Menschen hassen und fürchten, als den

willkommensten Monat für seine Arbeit gepriesen. Den 15. November

1854, an dem er die Inspiration zur „Chronik der Sperlingsgasse“

erlebte, hat er als „Federansetzungstag“ gefeiert, und noch 25 Jahre

später wird in „Fabian und Sebastian“ der Zauber, den der erste

Flockenfall im Bilde der Welt hervorruft, als Kern tiefsinniger Symbolik

gepriesen.



Man wird bei diesen beiden Beispielen fragen, ob es gerade eine

Eigenart des Humoristen sei, aus der trüben Jahreszeit Stimmung zu

schöpfen. Aber auch der Tragiker Hebbel war im Sommer unproduktiv.

Es ist möglich, daß der Unterschied zwischen nach außen und

nach innen integrierten Menschen sich in der Abhängigkeit von der

Jahreszeit auswirkt. Goethe jedenfalls, dessen Wohlbefinden von der

Sonne abhängig war, pflegte den kürzesten Tag des Jahrs und die ihm

vorausgehenden Wochen in deprimierter Stimmung zu verseufzen:

„Wenn das Barometer tief steht und die Landschaft ohne Farbe ist,

wie kann man leben?“



Wie Tag und Nacht trennen sich Früh- und Spätarbeiter. Während

der Licht-, Farben- und Sonnenmensch Goethe für sein „Hauptgeschäft“,

die Vollendung des zweiten Teiles „Faust“, im Alter nur

noch die ausgeruhten Morgenstunden benutzte, in denen er am

schaffensfrohesten war, dankte sein „Epilog zu Schillers Glocke“ dem

Freunde für das Opfer seiner durchwachten Nächte, die unseren Tag

erhellt haben. Allerdings wollte Goethe in Schillers Schaffensweise

etwas Gewaltsames erkennen.

|#f0460 : 436|



Schiller hat in der Jugend sogar bei Tag sein Arbeitszimmer verdunkelt

und künstlich beleuchtet (vgl. S. 342). Andere suchten durch

eine besondere Art magischer Beleuchtung sich in Stimmung zu versetzen;

so arbeitete Edward Young, der Dichter der „Nachtgedanken“,

beim Licht einer Kerze, die in einen Totenkopf gestellt war, und

E. Th. A. Hoffmann hatte in seinem schwarztapezierten, mit Gerippen,

Totenköpfen und Teufelslarven ausgeschmückten Zimmer die

Lampen mit grünen, weißen und blauen Schleiern verkleidet. Selbst

die Arbeitsweise kann im Sinne der Dichtung stilisiert werden.



Zu den künstlichen Mitteln der Vorstellungssteigerung gehört auch

eine phantastische Kleidung, wie Alexander Pope, Voltaire und

Richard Wagner sie anzulegen pflegten. Alexander Dumas d. J. soll

sogar ein rotes Priestergewand mit wallenden Ärmeln und Sandalen,

Pierre Loti orientalische Gewänder getragen haben.



Auch Geruchsempfindungen üben ihren Reiz auf die Nerven aus.

So wurde Lord Byrons Phantasie durch das Aroma von Trüffeln

angeregt; Jens Peter Jacobsen konnte am besten schreiben, wenn er

Hyazinthen im Zimmer hatte; aus Schillers Schreibtisch stieg, wie

Goethe einmal bemerkt haben will, ein Duft von faulen Äpfeln auf,

was als Heimatgefühl des Schwaben gedeutet worden ist, der sich

gern an den Duft gärenden Apfelmosts erinnern ließ.



Schon im Altertum war nicht nur von Anakreon, sondern von

Aischylos berichtet, daß er im Rausch gedichtet habe. Auch das

berühmte Trinklied des chinesischen Kaisers Wang-Kan soll seine

Echtheit dem gleichen Zustand verdanken. Wo Inspiration und Intuition

nicht natürlich quellen, verhelfen Stimulantien wie schwarzer

Kaffee, Spirituosen, Absinth oder Tabak zur Überwindung von Hemmungen

und zur produktiven Erregung. Die gesteigerten Phantasie-

Erlebnisse des Opium- oder Haschisch-Rausches, die zwischen Traum

und Wahnsinn schwebend in einer Stunde mehrere Menschenschicksale

erfahren lassen, sind auch zum Gegenstand der Dichtung geworden,

indem Baudelaire und de Quincey aus eigener Erfahrung sie

besangen und beschrieben.



Für manche Dichter ist dagegen der Dienst der Muse eine Askese.

Dickens und Daudet sollen im ausgehungerten Zustand besonders produktiv

gewesen sein. Wieder andere, z. B. der jüngere Dumas, verspürten

beim Schaffen einen gesteigerten Appetit und erhöhte

Lebensfreude.



Zu den gewählten Schaffensbedingungen gehört auch eine der

Gemütslage entsprechende körperliche Situation. Die Romantiker

scheinen sogar angenommen zu haben, daß der Leser sich auf dieselbe |#f0461 : 437|



Haltung einstellen müsse, um eine Dichtung zu verstehen;

wenigstens berichtete Achim v. Arnim einmal an Clemens Brentano:

„Deinen Ponce hat sie Abends im Bette gelesen, Du hast ihn im Liegen

geschrieben.“ Der amerikanische Humorist Mark Twain arbeitete

tagsüber im Bett und rauchte dabei seine große Zigarre. Andere

liegen auf dem Boden oder stehen am Pult oder laufen im Zimmer

umher. Sie wandern in Gedanken durch die dargestellte Gegend; es

werden Karten ausgebreitet auf dem Schreibtisch und Landschaftsbilder

eingesehen, um sich im Schauplatz zurechtzufinden. So hatte

Schiller, der den Meeresstrudel des „Taucher“ an einem Mühlrad

studierte, für die Lokalisierung des „Wilhelm Tell“ eine Landkarte

des Vierwaldstätter-Sees vor sich, an die er sich genau hielt; ebenso

verfolgte er den Zug des Demetrius nach Moskau auf dem Atlas.

Als die Brüder Goncourt an einem Roman arbeiteten, der in Rom

spielte, hingen sie einen Stadtplan an der Türe auf: „pour continuer

à y être, à nous y promener les yeux.“



Ortsnamen auf der Landkarte verhalfen gelegentlich zur Benennung

von Personen. Auf einer Karte der Umgebung von London stehen

nebeneinander Barnelms und Telham hill, und es ist wohl möglich,

daß Lessing dadurch auf die Namen des Liebespaares in seinem

Lustspiel verfiel, ebenso wie Goethe auf den Vornamen seines Faust,

statt des überlieferten Georg oder Johann, dadurch gekommen sein

könnte, daß Heinrich und Margarete im Kalender nebeneinander

standen.



Theodor Fontane hat viele seiner Adelsnamen durch Ortschaften

bestimmen lassen, die er als Wanderer durch die Mark kennen lernte;

im übrigen hat er, um seine lokale Anschauung zu stützen, den genauen

Lageplan einer Ortschaft, eines Gutes, einer Straße, die Einteilung

eines Hauses, die Einrichtung eines Zimmers, ja sogar die

Tischordnung einer Gesellschaft mit Feder oder Bleistift skizziert ─

ein Verfahren, das sich ebenso bei Zola angewandt findet und von

geringer innerer Anschauung wie von starkem äußeren Anschauungsbedürfnis

zeugt.



Der visionären Kraft kann nachgeholfen werden durch Anfertigung

eines Personenverzeichnisses, das die äußere Erscheinung jeder

einzelnen Gestalt aufs genaueste beschreibt. Walter Scott, Spielhagen

und Zola haben solche Steckbriefe entworfen, nach denen sie

sich im Verlauf der Arbeit richteten. Galsworthy hat einen Stammbaum,

wie er ihn zunächst wohl für eigenen Gebrauch angefertigt

hatte, zur Orientierung des Lesers seiner Forsyte-Saga beigegeben.

Das ist sonst nur im Drama notwendig, das außerhalb des Dichterwortes |#f0462 : 438|



den Darstellern Anweisungen gibt. Schillers Personenverzeichnis

zum „Fiesko“ geht in seiner steckbrieflichen Genauigkeit

über das Übliche hinaus und nähert sich epischer Beschreibung; es

ist wohl als Rest ursprünglicher Vorarbeiten anzusehen. Ebenso sind

im Drama des frühen Naturalismus, z. B. in Hauptmanns Jugendstücken,

die Angaben über Äußeres und Bewegung der Personen in

novellistischer Schilderung stecken geblieben.



Wir hören weiter mancherlei Kulissengeheimnisse. Von einem

lebenden Dramatiker, Wolfgang Eberhard Möller, wird berichtet,

daß er sich für die Arbeit am „Sturz des Ministers“ eine Struensee-

Maske modellierte, in die er alle quellenmäßigen Charakterzüge

hineinlegte, um so mit der Physiognomie seines Helden am Schreibtisch

Zwiesprache zu halten. Für das „Frankenberger Würfelspiel“

ließ er sich den noch erhaltenen echten Würfelbecher, aus dem die

Bauern um Leben und Tod warfen, kommen. Auch Ibsen hatte geschnitzte

Figuren vor sich stehen und empfing von ihnen Suggestionen.

Flaubert stellte einen ausgestopften Papagei auf seinen

Tisch, um nach der Natur zu „malen“.



Während manches Dichteratelier mit schwelgerischem Luxus

prunkt, wissen wir von Goethe, daß er in seinem spartanisch einfachen

Arbeitsraum jede Verweichlichung von sich wies: „Eine Umgebung

von bequemen geschmackvollen Möbeln hebt mein Denken

auf und versetzt mich in einen behaglichen, passiven Zustand. Eine

geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir

sind, ein wenig unordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das

Rechte und läßt meiner Natur volle Freiheit, tätig zu sein.“ Zum

Niederschreiben konnte Goethe sich nicht zwingen. Im Herumgehen

diktierte er. „Was ich Guts finde in Überlegungen, Gedanken, ja sogar

Ausdruck, kommt mir meist im Gehn. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt.

Drum das Diktieren weiter zu treiben“ schrieb er schon 1780

in sein Tagebuch, und an Frau v. Stein berichtete er über die auf

der Reise nach Gotha bedachte Situation im Wilhelm Meister: „Ich

wollt gern Geld drum geben, wenn das Capitel ... aufgeschrieben

wär; aber man brächte mich eher zu einem Sprung durchs Feuer.

Diktieren könnte ich's noch allenfalls, wenn ich nur immer einen

Reiseschreiber bei mir hätte. Zwischen so einer Stunde, wo die Dinge

so lebendig in mir werden, und meinem Zustand in diesem Augenblick,

wo ich jetzt schreibe, ist ein Unterschied wie Traum und

Wachen.“ Später gewöhnte er sich ganz an das Diktat unter der Voraussetzung,

daß er mit sich im Reinen war. Eine Dichtung mußte

innerlich fertig sein, ehe sie zur Niederschrift kam.

|#f0463 : 439|



Über dieses Fertigsein haben sich allerdings viele Dichter, die die

Ausführung unterschätzten, großen Selbsttäuschungen hingegeben,

weshalb die eigenen Angaben, z. B. bei Lessing und bei Gottfried

Keller, nicht immer ganz zuverlässig sind. Goethe hat sich zur Fertigstellung

einmal zwingen wollen, indem er sich vornahm, für das

Epos „Die Geheimnisse“ an jedem Tag des Kalenders eine Stanze

zu absolvieren. Aber dieses Kommandieren der Poesie widersprach

seiner Natur. Die italienische Reise erlöste ihn aus der Gewaltsamkeit

und führte sein Schaffen zum natürlichen Ausreifen zurück.



Auf Reisen wurde Goethes Schaffenstrieb besonders angeregt. Am

Ufer des Gardasees fand sich die endgültige Form der „Iphigenie“.

Auf der erwähnten Fahrt nach Gotha (5. Juni 1780) hatte er seine

Lieblings-Situation im „Wilhelm Meister“ ausgeführt: „Ich ließ den

ganzen Detail in mir entstehen und fing zuletzt so bitterlich zu weinen

an, daß ich eben zeitig genug nach Gotha kam.“ Ganze Gedichte

kamen im Reisewagen zustande; die Verse „An Schwager Kronos“

tragen den Untertitel: „In der Postchaise 10. Okt. 1774“; vierzig

Jahre darnach (am 25. Juli 1814) flogen ihm auf der Fahrt nach der

Heimat in der Erfurter Gegend drei Gedichte des „Westöstlichen

Diwan“ zu, und noch die „Marienbader Elegie“ verdankte ihre Unmittelbarkeit

der Entstehung auf der Heimreise: „Morgens acht Uhr

auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete

ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis

Gefaßte nieder, so daß es Abends fertig auf dem Papier

stand.“



Durch die minder besinnliche moderne Hast des Reisens scheint

die ambulante Produktion weniger begünstigt zu sein, wenn auch

der geübte Journalist heute seine Schreibmaschine mit ins Flugzeug

nimmt. Der fliegende Poet ist eine Zukunfts-Utopie. Aber der Behauptung,

daß die Eisenbahn der Tod der Poesie sei, wurde schon

von vielen Dichtern widersprochen. Peter Rosegger bekannte, daß

er im Eisenbahnwagen leicht und viel gearbeitet habe, und Cäsar

Flaischlen fühlte sich nirgends freier und wohler: „Man kann dort

nichts tun, nichts, als allenfalls Verse machen.“



Voraussetzung der fliegenden Arbeitsweise ist allerdings, daß man

nicht einen Berg von Vorarbeiten zu bewältigen braucht, wie Jean

Paul, der nach den Zettelkästen sogar seine Romankapitel im

„Quintus Fixlein“ bezeichnete. Auch Otto Ludwig, von dem die berühmtesten

Beispiele visionärer innerer Schau stammen, war durch

seine Arbeitsweise wie durch seine Gesundheit an den Schreibtisch

gefesselt. Liegen doch die Vorarbeiten zu seiner „Agnes Bernauer“ |#f0464 : 440|



in 49 Heften vor und stellen fast 20 verschiedenartige Versuche dar,

worunter drei Fassungen vollständig ausgeführt sind. Keine konnte

der Selbstkritik des Dichters, der die Kunst schließlich mit einer beinahe

wissenschaftlichen Grübelei betrieb, voll genügen.



Im Abschluß von der Welt und in der stillen Konzentration kann

der dichterische Schaffensvorgang mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise

mancherlei Gemeinsames haben. Die eigentümlichen Begleiterscheinungen

auf beiden Seiten sind individuell; sie sind weniger

durch Konstitution und Seelenverfassung als durch äußere Lebensverhältnisse

und Nerven bestimmt; auch gehören sie schwerlich dem

Typus einer Rasse, eines Stammes oder eines Zeitalters allein an,

noch entsprechen sie einer bestimmten Art geistiger Arbeit, sei es

Kunst oder Wissenschaft. Das geht aus dem reichen Material anekdotischer

Züge, den sogenannten „Idiergasten“ hervor, die ein belesener

Kuriositätensammler Heinrich Klenz in Aufsätzen der „Zeitschrift

für Bücherfreunde“ zusammengetragen hat. Aus allem ergibt

sich, daß die Leistung, sei sie künstlerisch oder wissenschaftlich, in

ihren letzten Ergebnissen gleich wenig von den äußeren Umständen

ihres Entstehens und von den Schaffensgewohnheiten beeinflußt ist.



Selbst wenn die äußere Entstehungsgeschichte einzelner Werke

durch Kenntnis solcher Umstände erhellt werden kann und, da Dichter

und Werk eines sind, der Zusammenhang nicht als rein zufällig

zu erachten ist, wird das Wesen des Schöpfers in seinem innersten

Kern dadurch nicht berührt. Das eigentliche Sein von Dichter und

Dichtung ist in seinem Sinn und Wert aus den äußeren Arbeitsverhältnissen

nicht zu verstehen.



Für den Dichter selbst sind seine Arbeitsmethoden nur Behelfe,

zur Entfaltung und Offenbarung der eigenen Existenz zu gelangen.

Er pflegt wenig dafür übrig zu haben, daß man ihm nachrechnet,

wann er aufgestanden und welchen Weg er gegangen ist und ob er

mit Seil oder Steigeisen oder Kletterschuhen den Gipfel erreicht hat.

Die Hilfen und Stützen fallen ab, wie das Gerüst eines Denkmals,

sobald es in seiner Erscheinung vollendet ist. Auf seiner Höhe kann

der Dichter, ohne der vorausgegangenen Handgriffe zu gedenken,

gleich dem Menschenschöpfer Prometheus sagen: „So bin ich ewig,

denn ich bin.“

|#f0465 : E441|



VIERTER HAUPTTEIL


DIE EXISTENZ DES DICHTERS


Gesang ist Dasein.

Rilke.



1. Spektrum



Wenn in Goethes „Wilhelm Meister“ der Dichter als „Lehrer,

Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen“ gepriesen wird,

so läuft diese Zusammenfassung, die einem nüchternen Skeptiker in

den Mund gelegt ist, weder auf systematische Zergliederung hinaus,

noch erhebt sie den Anspruch, den ganzen Aufbau der dichterischen

Existenz zu deuten; aber in ihrer Viergliedrigkeit trifft sie ziemlich

genau zusammen mit jenen Kategorien, die am Schluß unseres ersten

Buches (S. 271 ff.) als Maßstäbe für die Wertung des einzelnen

Werkes eingeführt wurden: ästhetische, ethische, religiöse und volkhafte

Bestimmung. Diese Gesichtspunkte sind nun, nachdem sie der

Einschätzung des Werkes gedient haben, auch auf die Gesamtschau

des Dichters zu übertragen.



„Lehrer“ ist nicht als Berufsstand aufzufassen. Lehren ist wirkendes

Sein in der Ausstrahlung von Gedanken und Gefühlen wie von

Weisheit und Welterfahrung. Es ist Selbstdarstellung und Übertragung

des eigenen Erfahrungsinhaltes auf andere. Es ist Deutung von

Geheimnissen in tiefem Einfühlen, in packendem Mitsichfortreißen

und ergriffenem Miterlebenlassen. Das alles geschieht durch das einzige

Mittel der Sprache. So ist der Lehrer der Steller und Beantworter

von Fragen, der Erreger von Spannungen, deren Lösungen

er bringt, der Wecker von Lebensgefühlen, der die Augen öffnet für

die Zusammenhänge des Weltgeschehens, für das Wesen des Menschen

und seine Schicksale. Er bereitet die, die ihm folgen, auf ihr eigenes

Schicksal vor, indem er sie mit fremdem vertraut macht; er formt

Charaktere und bildet die Seelen, die er in Bann zwingt durch die

Zaubergewalt seines Mundes.



Bei Platon wird Homer als Erzieher ganz Griechenlands gefeiert;

er ist es geworden dadurch, daß ganz Griechenland seine Sprache

verstand. Firdusi hat in seinem Königsbuch ein iranisches Nationalepos |#f0466 : 442|



geschaffen, aus dem sein Volk neu erstehen konnte. Dante, der

in seiner Schrift „De vulgari eloquentia“ wie in seinen Dichtungen

zur nationalen Literatursprache den Grund legte, kann als erster

Schöpfer der italienischen Einheit betrachtet werden. Auch das finnische

Volksepos „Kalewala“ ist durch seine sprachliche Wiederherstellung

ein Sinnbild des Nationalbewußtseins und der politischen

Selbständigkeit seines Volkes geworden, und sein Neuschöpfer Lönnrot

wurde dem legendarischen Lykurg verglichen, der die homerischen

Gesänge nach Griechenland brachte und die einzelnen Stämme sich

als Nation fühlen ließ.



Das stolze Volksbewußtsein solchen Besitzes faßt die Sprache nicht

als das allgemeine Verständigungsmittel zu jedermanns handen auf,

sondern als das eigenste Organ der überlegenen Kraft, in der der

Dichter seine Existenz kund tut. Die Sprache ist die Kunstform, in

der er nicht für die Dauer eines Augenblicks lebend wirkt, sondern

in der seine Wirkung dauernd lebt. Sie lebt nicht als eindrucksvolle

Erinnerung, sondern als stets sich erneuernde Gegenwart. Die sprachlichen

Gebilde, die sich von dem Dichter abgelöst haben, sind Wirklichkeiten

geworden und bilden die einzige Erscheinungsform sinnlich

erfaßbarer Existenz, die von ihm bleibt. Die Sinnlichkeit der

Sprache, sowohl mit ihrer unmittelbaren klanglichen Wirkung im

Ton und Rhythmus, als auch des mittelbaren Reichtums der auf die

Phantasie übertragenen Sinnesreize in Bildern und Vorstellungen, in

Stimmungen und Gefühlen ─ das alles ist gestaltetes Sein.



„Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Dies Hölderlin-Wort hat

Martin Heidegger unter die Leitmotive seiner Erörterung über das

Wesen der Dichtung gestellt, die mit Würdigung der Sprache als des

Geschehens, das über die höchsten Möglichkeiten des Menschseins

verfügt, ihren Anfang nimmt. Dieses gestiftete Dasein ist in seinem

sinnlichen Wert nur dem ästhetischen Sprachsinn erfaßbar.



„Wahrsagen“ scheint ebenfalls in den Bereich der Sprache zu gehören,

aber der Nachdruck liegt auf dem ersten Bestandteil des

Wortes. Der Wahrsager ist richtig zu verstehen aus dem, was er nicht

ausspricht, sondern in Symbolen andeutet. Was er als Welt erblickt,

ist Schicksal; was er kündet, ist Fügung; was er enträtselt, ist Sinn

des Daseins; was er gestaltet, ist kein Spiel freier Willkür, sondern

inneres Gebot. Während die Sprache das Arbeitsfeld des Lehrers

ist und den Boden darstellt, in dessen Tiefe jeder Schritt des Dichters

die eindrücklichen Spuren seines Daseins eingräbt, liegt das Gesichtsfeld

des Wahrsagers im Gegenüber; sein Seherblick ist gerichtet auf

die Bilder des Lebens, das ihm zum Problem wird, das er als Ganzes |#f0467 : 443|



in sich aufnimmt und das seinem Dasein Gewicht, seiner Haltung

Gleichgewicht gibt. Was er als tiefen Zusammenhang des Geschehens

erkennt, wird seine Schicksalsdeutung. Was er als Sinn in die Dinge

hineinschaut, ist für ihn Gesetz, selbsterrungene Ethik, Richtschnur

und Schwerpunkt seines Daseins.



Dem „Freund der Götter“ aber, dessen Blick nach oben gerichtet

ist, winkt Erlösung von drückender Lebenslast und Erhöhung des

Daseins durch die Dichtung. Dem in Qual Verstummenden gibt ein

Gott, zu sagen, was er leidet. Des Erdenlebens schweres Traumbild

sinkt und sinkt, wenn Herakles die Angst des Irdischen von sich

wirft und zur Göttlichkeit aufsteigt, wenn Ganymed, der Götterliebling,

emporgetragen wird in die Arme des alliebenden Vaters,

wenn der Florentiner verzückt aufschaut in das Licht des Empyreums,

wenn Faust die entgegenkommende himmlische Gnade und ewige

Liebe erfährt, oder wenn der andächtige Beter des „Stundenbuches“

um Gott kreist ─ zahllos sind die Sinnbilder für Gottsuchertum und

Gottbegegnung, die der Existenz des Dichters ihren religiösen

Inhalt verleihen und Erfüllung finden in seinem Glauben.



Der „Freund der Menschen“ aber gelangt zu jener in „Wilhelm

Meisters Wanderjahren“ verkündeten Ehrfurcht vor denen, die uns

gleich sind; „Nun steht er stark und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt;

nur in der Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte

gegen die Welt.“ Sein Umblick wendet sich zu denen, die in Schicksalsgemeinschaft

sich an seine Seite heften und hinter ihm stehen.

Er ist ihr aller Vorsprecher, als führende Stimme des Chores, als der

Vorfühlende der Gemeinschaft und ihres Empfindens. So lebt er im

kosmischen Sinn allein in der Wahrheit als Mittler zwischen Gott und

Volk, und in diesem volkhaften Wirken besteht seine heilige

Sendung, wie sie ihren herrlichsten Ausdruck in Hölderlins

Versen gefunden hat:



Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,

Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,

Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand

Zu fassen und dem Volk ins Lied

Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.



Wenn in den aufgezählten Hauptrichtungen die Existenz des Dichters

sich auswirkt, so steht man, um das Ganze im Einzelnen zu begreifen,

vor einem Nebeneinander jener vier Begriffe, in denen Faust

nacheinander den Logos des Evangeliums erfassen wollte: Wort, Sinn,

Kraft, Tat. Jede dieser Ausstrahlungen aber kann eine weitere |#f0468 : 444|



Brechung und Lichtspaltung erfahren nach denselben drei Dimensionen,

die im ersten Buch auf die Bewertung des einzelnen Werkes

als Maßstäbe angewandt wurden: Echtheit, Größe, Sinnbildhaftigkeit.



2. Sprache


a) Echtheit



Der italienische Sprachphilosoph G. Bertoni hat in seinem Buch

„Lingua e pensiero“ einen Unterschied gemacht zwischen „lingua“

als der allgemeinen Verständigungsmöglichkeit, die einem ganzen

Volke gemeinsam ist, und „linguaggio“, der eigenen Ausdrucksform,

die als fortwährende Neuschöpfung eins ist mit der künstlerischen

Persönlichkeit. Im Deutschen gibt es keine Möglichkeit solcher

trennenden Wortbildung, aber wir unterscheiden bereits durch die

bloße Betonung. Wenn wir von einem Dichter reden, so ist seine

Sprache der allgemeine Ausdruck seines Volkstums und der Werkstoff,

den sein Künstlertum zu formen hat. Was er aus diesem

Instrument hervorlockt, ist seine Sprache, die aus der allgemeinen

Ausdrucksweise als sein eigenster Ton hervorklingt, über den er allein

verfügt als sprachliche Verwirklichung seines Wesens.



Ob es nun wirklich seine Sprache ist, sein unverkennbarer persönlicher

Stil und sein unverfälschter Wesensausdruck, diese Frage

führt wieder zu dem Kriterium der Echtheit hin. Der Dichter

ist sprachlicher Eigenschöpfer nicht allein als Neutöner, der bisher

ungebräuchliche Wortbildungen und Wortzusammensetzungen in

Kurs bringt, sondern er kann ältestes Sprachgut aufwerten, indem

sein Gebrauch die sinnliche Urkraft wiederherstellt; er kann dem

Wort sein eigenstes Leben einhauchen durch den Platz, den er ihm

anweist, durch den Rhythmus, von dem er es tragen läßt, durch den

Nachdruck, den es damit erhält, und durch den Sinn, den es im Verhältnis

zu seiner sprachlichen Umgebung ausspricht. Die Dichtersprache

muß von einer eindeutigen Dichte und Festigkeit sein, die

keine windige Nebenluft durchläßt; das Wort muß die Prüfung auf

einer Goldwaage bestehen, die jede Falschmünzerei entlarvt und abgegriffene

Wertlosigkeit des Papiergeldes emporschnellen und davonwehen

läßt, während der wahre Gefühlsgehalt in Ausdruckskraft sein

Gewicht erweist. So sagt Schiller in einem seiner Kalliasbriefe, der

Dichter müsse die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die

Größe seiner Kunst überwinden und den Stoff durch die Form besiegen.

Nicht das ist künstlerisch, was im Stoff des eigenen Lebens

und Leidens stecken bleibt und nach einem Wort Rilkes geklagt |#f0469 : 445|



wird, statt gesagt zu werden. An jene Dichter, die in einer Sprache

voller Wehleid beschreiben, wo es ihnen weh tut, wird die Echtheitsforderung

gestellt, sich hart in Worte zu verwandeln.



Wie sich der Steinmetz einer Kathedrale

Verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut!


b) Größe



Die Größe, die schon zum Teil in dieser Wägung und Prägung

Ausdruck findet, besteht sowohl in einer nach außen erscheinenden

Quantität als in einer von innen hervorstoßenden Intensität und in

einer Relation zwischen beiden. Der objektive Umfang des Wortschatzes

zeigt bei den größten Dichtern ─ wie man z. B. für Shakespeare

und Goethe errechnet hat ─ einen Reichtum, der allen Zeitgenossen

des gleichen Volkes überlegen ist. Die Treffsicherheit und

Anschaulichkeit in Sinn und Sinneseindruck ist als subjektive Spiegelung

der Welt zu messen an der Größe der Vorstellungen, die im

Sprachgebilde gestaltet werden. Die Beziehung der Wörter zueinander

verleiht in Dynamik und Rhythmik dem schöpferischen Willen einen

Kraftstrom, der mit sich reißt. Endlich bilden sich im Fluß der

Wörter die Gedanken, die nicht erst, nachdem sie fertig sind, in der

Sprache Form suchen, sondern die, wie Heinrich v. Kleist in seinem

Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim

Reden“ zeigte, aus der Sprache heraus sich formen, so daß die Größe

der Gedanken abhängig ist von der Größe der Sprache. Schon Herder

verlangte vom Leser jenes dichterische Auge, „das den Ausdruck als

einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denkt und spricht und

handelt.“



c) Sinnbildhaftigkeit



In sprachlicher Verkörperung leuchtet der Geist aus den Bildern

der Dichtung. Der Engländer Middleton Murry hat in seinem Buch

über das Problem des Stiles als persönliche Kristallisationen der Gefühle

und Gedanken und als den einzigen Ausdruck der individuellen

Sehweise eines Dichters die Bilder bezeichnet. Die Sinnbildhaftigkeit

der Sprache, die in ihnen als Verschmelzung von Ich und Welt zum

Ausdruck kommt, ist nur auf induktivem Wege zu erkennen; aber sie

kann nicht einfach durch eine tabellarische Zusammenstellung aller

Metaphern und Gleichnisse erfaßt werden. Damit wäre wohl der

zahlenmäßige Reichtum zu überschauen, aber nicht die Bedeutsamkeit.



In dem Bestand der Bilder muß charakteristische Eigenschöpfung

gesondert werden von literarischer Tradition, der jeder, auch der |#f0470 : 446|



Größte unterworfen ist. Auch Shakespeares Bilderreichtum ist, wie

Wolfgang Clemen gezeigt hat, vom Zeitstil bedingt. Es genügt aber

nicht das Subtraktionsexempel jenes Filtersystems, das bei der Werkanalyse

(S. 201 f.) für die Sichtung des Materials sich empfahl; vielmehr

sind die Bilder eigenster Prägung, die nicht nur in der einzelnen

Dichtung hervortreten und ihrer Grundidee entsprechen, sondern im

Gesamtwerk charakteristisch wiederkehren, als Sinnbilder der Seele,

als Bestandteil des persönlichen Weltbildes, als geformte Erlebnisse

und Gleichnisse tiefster Daseinserfahrung zu begreifen. Als solche

sind sie von existenzieller Bedeutung und geben der Stilforschung

eine Möglichkeit, in die Tiefen des Seelenlebens einzudringen.



Nicht in jedes Dichters Sprache liegen die Durchblicke des inneren

Lebens gleichermaßen offen. Eine fruchtbare Gegenüberstellung

bringt Gerhard Frickes Buch über die „Bildlichkeit in der Dichtung

des Andreas Gryphius“, das einen Vergleich zieht zwischen der naiven

Bildhaftigkeit Homers, der allegorischen Bildhaftigkeit des Gryphius

und der symbolischen Bildhaftigkeit Heinrich v. Kleists. In Kleist ist

ein Dichter herangezogen, für den die äußere Form des Bildes nur

zur Offenbarung des Inneren da ist; seine Bilder stellen im vollsten

Sinne Selbstdeutungen seiner Existenz dar.



Kleists „Ideenmagazin“, das er sich in früher Zeit anlegte, bestand,

wie man aus den Briefen an die Braut schließen darf, in Wirklichkeitsbeobachtungen,

denen ein symbolischer Lebensbezug beigelegt

wurde. Ein Bild wie das des Torbogens, der feststeht, weil seiner

Steine jeder stürzen will, kehrt nach Jahren wieder als Sinnbild der

Lage Penthesileas. Es war auch die Seelenlage des Dichters, die aus

ihrer Labilität Widerstandskraft zog. Andere Bildsymbole wie Sonne,

Stern, Jagd, Höhe, Baum, Berg und Hagelsturm, in denen Kraft

und Maßlosigkeit, Unrast und Stolz Penthesileas wie ihrer Gefolgschaft

charakterisiert werden, sind gleichfalls aus der Erlebnistiefe

geschöpft. Die früheren Dichtungen fanden andere Sinnbilder

für ihre Lebensstimmung und die des Dichters; so wird das Schicksal

der Schroffensteiner als stürzende Eiche, in deren Krone der

Sturm gegriffen hat, versinnbildlicht, wie das bewegte Volk im

„Robert Guiscard“ durch das in immer neuer Steigerung wiederkehrende

Bild des brandenden Meeres. In „Penthesilea“ aber ist der

Gebrauch der Bildsymbole am reichsten, weil der Dichter in dieses

sein liebstes Werk „den ganzen Schmerz und Glanz seiner Seele“

gelegt hat.



Mit ganz ähnlichen Worten hat Goethe von seiner „Novelle“ gesprochen:

„Man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde |#f0471 : 447|



seines Wesens losgelöst hat.“ Auch hier läßt ein Bildsymbol, wie

das des Löwen, der von einem Kinde gezähmt wird, als Sinnbild gebändigter

Kraft die Idee der Dichtung im Zusammenhang mit dem

inneren Wesen und Weltbild des Dichters sichtbar werden.



Solche Bilder sind Perlen zu vergleichen, die aus der Tiefe der

Seele heraufgeholt werden; in diesem Sinne hat Hans Carossa die

Arbeit Rilkes an den „Duineser Elegien“ mit der eines Perlentauchers

verglichen.



Bei Schiller hat man von einem Bilder-Pluralismus gesprochen,

weil seine Metaphorik in reicher Fülle auf der Oberfläche sich ausbreitet,

ohne aus der Erlebnistiefe des Unbewußten emporzusteigen.

Er springt von einem Teil der natürlichen Welt zum andern, vom

Sonnenuntergang zum Frühling, vom Sturm zur Sphärenmusik: „wir

lassen die rauschende Folge nur noch an unserm Ohr vorüberfluten,

ohne uns die Mühe zu geben, das Bild mit allen Organen erleben zu

wollen.“ Das einzelne Bild gräbt sich nicht symbolhaft in unsere

Vorstellung ein, wie etwa der Kleistsche Gegensatz der kranken abgestorbenen

und der gesunden Eiche im Sturm. Wallensteins „Da

steh' ich, ein entlaubter Stamm!“ geht ohne gesättigte Bildwirkung

vorüber. Nach dieser Unverbindlichkeit, die auch zu Goethes Symbolik

im Gegensatz steht, mag Schillers Bildhaftigkeit dem allegorisierenden

Brauch zuzurechnen sein.



Shakespeares Bilderwelt hinwiederum, so oft sein Stil barock genannt

wurde, ist symbolisierend. Wie Carolin F. Spurgeon und Wolfgang

Clemen gezeigt haben, weisen seine Bilder in bestimmte Bereiche,

die sowohl der Grundstimmung jedes einzelnen Stückes wie

dem Weltbild des Dichters entsprechen. Die Metaphorik des „Othello“

bewegt sich vorwiegend in der wogenden Leidenschaft des Meeres,

die des „König Lear“ im körperlichen Leiden, die des „Timon von

Athen“ im Gold. Durchgehende Hauptsymbole der Shakespeareschen

Dramatik aber sind in den Gebieten des Pflanzenlebens, der Krankheit

und des Sturmes zu erkennen.



Während das Buch von Clemen sich zum Ziel setzt, eine stilgeschichtliche

Entwicklung Shakespeares auch in der dramentechnischen

Anwendung seiner Bilder festzustellen, geht die Spurgeonsche

Untersuchung darauf aus, in Shakespeares Bildern ihn selbst zu

finden und seine eigenste Vorstellungswelt als Erkenntnisquelle für

die Persönlichkeit und Menschlichkeit des Dichters auszuwerten.

Damit sind Aufgaben einer existenziellen Stilforschung, wenn nicht

gelöst, so doch in Angriff genommen.



Frickes Untersuchungen über Gryphius sind, wie der Untertitel |#f0472 : 448|



„Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literatur-

Barock“ ausspricht, mehr auf den Zeitstil, als auf den Personalstil

eingestellt. Die Bilderwelt des Gryphius erscheint als ein Teilgebiet

des Barock, und man könnte mit Pongs wünschen, daß in ihr mehr

der Eigenausdruck des Gryphius und der Einblick in die unbewußten

Schichten des Ursprungs gesucht würde. Doch fallen auch für die

persönliche Vorstellungswelt des Dichters Beobachtungen ab. Wenn

das Material ohne entwicklungsgeschichtliche Folgerungen systematisch

geordnet ist, ─ wozu Pongs noch das Wirkungsfeld der Sachsymbole

hinzufügen möchte, ─ so bildet die Bedeutungsgruppe, die

der Verbildlichung von Welt und Leben, Zeit und Vergänglichkeit,

Tod, Schicksal, Körper, Natur usw. gewidmet ist, einen Übergang

von der Stilgeschichte zur Problemgeschichte. Ohne daß die letzten

Aufgaben einer Stilmonographie erfüllt wären, bedeutet Frickes Buch

einen beachtenswerten methodischen Fortschritt in der Richtung auf

das Ganze der Erscheinung, von deren äußeren Symptomen aus ein

Vorstoß zum inneren Zusammenhalt und zur Wesenheit unternommen

werden muß.



3. Gesetz


a) Echtheit



Das unentrinnbare „Gesetz, wonach du angetreten“, ist in Goethes

„Urworten“ dem Walten des Dämons und der Nötigung unterworfen,

während Tyche und Eros die strenge Grenze gefällig umgehen und

überfliegen. Die „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“, ist als

Charakter, inneres Eigengesetz und Entelechie in ständiger Beweglichkeit

und stetiger Metamorphose begriffen. Goethe selbst spricht in

jungen Jahren von der Pyramide seines Daseins, die er von der gegebenen

Basis aus so hoch als möglich in die Luft spitzen wolle, und

häufiger noch gebraucht er das Bild von den abgestoßenen Schlangenhäuten

seiner Entwicklung.



Auch Schiller erkennt ein Gesetz des Werdens an, das aber mehr

oder weniger Diktat des Willens ist. Er verlangt, daß der Dichter

seine Individualität veredle und zur reinsten herrlichsten Menschheit

hinaufläutere, um sie vor Mit- und Nachwelt auszustellen: „Der

höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer sein, als daß es der

reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, eines interessanten

vollendeten Geistes ist ... Kein noch so großes Talent kann

dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben

gebricht, und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst

die Feile nicht wegnehmen.“

|#f0473 : 449|



Diese Worte, mit denen nicht nur über den Naturdichter Bürger,

sondern auch über den Naturalismus der eigenen Jugend-Lyrik Gericht

gehalten wird, verbinden die Forderung der Echtheit mit dem

Verlangen nach einer Idealisierung, die nur Ausfluß des in der Dichterseele

wohnenden Ideals von Vollkommenheit sein könne.



In einer modernen Charakterkunde, wie der von Paul Häberlin,

gelten die Lebensideale als moralische Angelegenheit und als Religiosität

in der tätigen Hinwendung zur Welt; aber zugleich werden

auch ästhetisch bestimmte Ideale anerkannt, die auf Veränderung und

Reinigung der eigenen Ästhetizität eingestellt sind. In ihrer Befolgung

kommt die Echtheit künstlerischen Strebens zum Ausdruck. Schillers

berühmter Brief an Goethe vom 31. August 1794 nennt es das

Höchste, was der Mensch aus sich machen könne, „seine Anschauung

zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen“.

Sieben Jahre später wird die Meinung wiederholt, daß die objektive

Kunst auf dem Ideellen beruhe: „Totalität des Ausdrucks wird von

jedem dichterischen Werk gefordert, denn jedes muß Charakter haben

oder es ist nichts; aber der vollkommene Dichter spricht das Ganze

der Menschheit aus.“



Man wird, obwohl der briefliche Meinungsaustausch die Gegensätzlichkeit

nicht berührte, sondern eine Einheit der Überzeugungen

feststellte, dennoch den verschiedenartigen Ausgangspunkt nicht verkennen.

Für den objektiven Idealismus beruhte er im Einklang des

Innern mit dem Naturgesetz, für den Idealismus der Freiheit dagegen

im Vorrang der Idee.



Aber auch einer dritten Art von Echtheit ist ihr Recht zuzugestehen:

sie hält sich nur an die naturgesetzmäßige Wirklichkeit und findet

in ihr den Maßstab der Dinge und ihrer Einschätzung. So sprach

Hugo v. Hofmannsthal von einem einzigen Gesetz, unter dem der

Dichter stehe, nämlich „keinem Ding den Eintritt in seine Seele zu

wehren“. Wenn er den Dichter „einen Sklaven aller lebendigen Dinge

und ein Spiel von jedem Druck der Luft“ nennt, so entsprach es dem

Bekenntnis des Impressionismus. Echtheit war aber auch dem leidenschaftlichen

Naturalismus des von Schiller verurteilten Bürger nicht

abzustreiten, nur fehlte seiner zerrissenen Persönlichkeit wie seiner

Ausdrucksform die innere und äußere Größe.



b) Größe



Eckermann überliefert ein Goethewort vom 14. April 1824: „Im

Ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines

Innern; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor |#f0474 : 450|



klar in seiner Seele, und will jemand einen großartigen Stil schreiben,

so habe er einen großartigen Charakter.“ Der schulmeisterliche

Imperativ ist vermutlich der Wiedergabe Eckermanns zuzuschreiben;

denn Goethe kann nicht gemeint haben, daß die Absicht eines großartigen

Stils zur Charaktergröße verhelfe, sondern umgekehrt, daß

nur der große Charakter eines großartigen Stils fähig sei. Insofern

stimmt Größe mit Echtheit überein. Conrad Ferdinand Meyer

schreibt: „Das Mittelmäßige macht auch deshalb so traurig, weil es

in uns selbst verwandten Stoff findet ─ darum suche ich so sehnsüchtig

das Große.“ Schon während der ersten italienischen Reise

bemerkt er: „Den Sinn des Großen raubt mir keiner mehr.“



Größe des Charakters aber hat zum Hintergrund eine Größe des

Weltbildes, worin das kosmische Bewußtsein des Einzelnen sich einordnet,

indem es im Sinn seiner Existenz sich einer transzendenten

Weltordnung und metaphysischen Gesetzen verantwortlich fühlt. Die

Größe solches organischen Weltbewußtseins kann sich damit bescheiden,

am farbigen Abglanz das Leben zu haben und dennoch alles

Vergängliche als Gleichnis des Ewigen zu betrachten. Diese faustischen

Bilder sind in einem Prosaspruch Goethes auch auf die Existenz des

Dichters bezogen. „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt

sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz,

im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen;

wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem

Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“



c) Sinnbildhaftigkeit



Der französische Philosoph Emile Boutroux hat den Unterschied

deutscher und französischer Geisteshaltung zu fassen versucht, indem

er auf der einen Seite die „Idee des Ganzen“, auf der andern die

„Idee des Einen“ als Lebensgesetz bezeichnete. Ernst Robert Curtius

versuchte in seiner Balzacmonographie, den Gegensatz zu versöhnen,

indem er in beiden Richtungen nur das doppelte Gesicht des Weltwesens

überhaupt erblickte und den französischen Geist von der Einheit

zur Ganzheit, den deutschen von der Ganzheit zur Einheit streben

ließ. „Aber der Geist selbst ist einig und ewig, und vor seiner Wirklichkeit

vergehen die Gegensätze.“



Soviel Unterscheidendes nun Rassen, Nationalitäten, Stämme, Landschaften,

Zeitalter und Generationen in Daseinsrichtung, Erlebnisform

und Problemstellung ihrer Natur nach mit sich bringen, für sie alle

liegt im Wesen der Dichtung das Gesetz des \̑en kaì pãn, wonach das

Einzelne zum Sinnbild des Ganzen wird. Indem der Dichter seine |#f0475 : 451|



Seele zum Spiegel der Welt werden läßt, prägt er aus seinem inneren

Eigengesetz Sinnbilder des Lebens. Mag der Denker vor unüberwindlichem

Zwiespalt stehen, der Dichter muß eine Harmonie der Gestaltung

finden, indem er das Ganze als Eines sieht unter dem Gesichtspunkt

einer leitenden Idee, und das Eine als Ganzes unter dem zwingenden

Gebot der Form.



Wenn Inhalt und Form, wie die Analyse des Einzelwerkes (S. 244 f.)

begründete, in der gipfelnden Idee zusammentreffen, so kann gleicher

Aufbau auch für die Gesamterscheinung des Dichters gelten. An

die Stelle der einen Idee, die das einzelne Kunstwerk beherrscht, tritt

ein Ideenkomplex, der im Weltbild und Lebensgesetz zusammengefaßt

ist und in Bildern und Gleichnissen sich symbolisch entfaltet.



Die Sicht des Dichters ist, wie Pongs in seiner Grundlegung einer

existenziellen Literaturwissenschaft ausgeführt hat, eine andere als

die des Analytikers der Existenz. Das Krisenhafte der Entscheidung

tritt innerhalb der Dichtung zurück hinter dem Ganzen der symbolischen

Existenz und ihrer Gültigkeit. Für den großen Dichter

fällt das Existenzielle mit dem Symbolischen zusammen. Goethe

schrieb nach der winterlichen Besteigung des Brocken an Charlotte

v. Stein: „Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist.“ Ein späteres

Goethe-Wort aber sagt, man müsse seine Existenz aufgeben, um zu

existieren. Darin sind zwei Begriffe der Existenz zur Ablösung gebracht;

das reale Dasein und das dichterische, dem es geopfert wird.



In der Ideenwelt des Dichters, die gleich Charakter und Weltanschauung

bei angeborener Grundanlage erlebnismäßige Wandlung

und Entwicklung durchlaufen muß, ist der Zusammenhalt seines ganzen

Schaffens gegeben; sie ist das Prisma, das seine bunten Strahlen aussendet

und ein farbiges Spiegelbild des Lebens hervorzaubert auf dem

düsteren Hintergrund persönlichen Leides, das stellvertretend das

Leid der Zeit, der Volksgemeinschaft und der ganzen Menschheit in

sich schließen kann:



Zart Gedicht, wie Regenbogen,

Wird nur auf dunkeln Grund gezogen;

Darum behagt dem Dichtergenie

Das Element der Melancholie.



Das erlebnisgesättigte Weltbild des Dichters gibt der Dichtung ihre

Bilder, so wie die Dichtung Sinnbild der Welt wird. Wandlung und

Werden aber kristallisieren sich nach Aufgabe der realen Existenz zu

einem neuen Sein von Unvergänglichkeit, worin sich das schöne Wort

Adalbert Stifters erfüllt: „Was im Menschen rein und herrlich ist,

bleibt unverwüstlich und ist ein Kleinod in allen Seiten.“

|#f0476 : 452|



4. Glaube



„Das letzte der Persönlichkeit ist immer ein Glauben; aus ihm fließt

jede ihrer Äußerungen.“ Mit diesen Worten begründete Paul Ernst

den Titel „Ein Credo“ für die Sammlung seiner Bekenntnisse. Die

Daseinsganzheit des Dichters, die sich als seine Existenz offenbart,

hat ihren Kern im Glauben an sich selbst, in dem das Verhältnis des

Ich zu Gott und Welt eingeschlossen ist. Rilke in den „Geschichten

vom lieben Gott“ und im Drama „Das tägliche Leben“ hat die Auffassung,

daß hinter allem Dichten eigentlich ein einziger großer

Dichter sei ─ Gott. Jedes Heraustreten der Persönlichkeit ist bestimmt

durch die Stellung zum Universum und vereint Selbstbewußtsein

mit demütiger Einordnung in das Ganze. Diese Haltung gelangt

aber erst auf Grund innerer Erfahrung und als Ertrag eines Lebens

zu entwicklungsgeschichtlicher Ausprägung.



a) Echtheit



Die religiöse Verfassung des Menschen ist ein im Erleben entwickeltes

dispositionelles Erbteil: in rassischen Anlagen sind die Typen des

immanenten oder transzendenten Mystikers, des Ekstatikers, des Quietisten,

des Fatalisten, des Rationalisten, des nordischen Gottsuchertums

und der orientalischen Erlösungssehnsucht begründet, und aus

der Seelenstruktur der Rassen und Völker sind die Glaubenslehren

hervorgegangen, deren Tradition die religiöse Seelenstruktur des Einzelnen

in ihrem Werden formen hilft. Während das Eigengesetz des

Charakters auch ohne bewußte Erziehung sich aus angeborener Anlage

herausbilden könnte, bedarf der Glaube bestimmter Vorstellungsformen,

zu denen nur Gemeinschaft und Erziehung hinführen. Jede

Untersuchung und Darstellung einer religiösen Existenz wird daher

die Umwelt der Kindheit und Jugend, die Glaubenshaltung der Eltern,

den Geist der Schule, die maßgebenden Einflüsse bestimmender Persönlichkeiten,

die Autorität der Kirche und die Vermittlung ihrer damals

geltenden Lehre in Betracht ziehen müssen. Man wird bei

Luther den Geist der Eisenacher Schule und den des Augustiner-

Ordens, bei Wieland wie bei Schleiermacher und Hardenberg die

pietistische Atmosphäre ihrer Jugendbildung, bei Adalbert Stifter die

der Klosterschule, bei Annette v. Droste-Hülshoff das theologische

Gesamtbild des damaligen Katholizismus heranziehen müssen, um

den Unterbau der Glaubensanschauungen zu finden, der auch bei späteren

Wandlungen oft noch in untilgbaren Spuren sichtbar bleibt.

Von einer Echtheit des Glaubensbekenntnisses kann indessen erst |#f0477 : 453|



dann die Rede sein, wenn autoritäre Lehren nicht mehr unselbständig

und automatisch nachgesprochen werden, sondern in der Tiefe eigenster

Glaubenserlebnisse innerste Aneignung, Bestätigung und Bekräftigung

gefunden haben.



Mystisches Gottsuchertum kann allerdings auch unabhängig von

dogmatischen Lehren und im Gegensatz zu ihnen schon in früher

Jugend eigene Wege nehmen, wie der junge Goethe zeigt, dessen

Gemütsbedürfnis in der trockenen Moral des aufklärerischen Religionsunterrichtes

kein Genüge fand. Er errichtete sich mit dem

Musikpult des Vaters und den einzelnen Stücken seiner Naturaliensammlung

einen Hausaltar, auf dem Feueropfer darzubringen waren,

die in der brennenden Flamme das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende

Gemüt des Menschen bedeuten sollten. So skeptisch der alte

Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ den frühen Kult ironisiert, so

kann man doch mit Obenauer in diesem Kindheitserlebnis den Durchbruch

einer tief eingeborenen Religiosität erblicken: „So früh leuchtet,

in dem Bewußtsein des Kindes schon, der Weg vor ihm auf, den

er einmal gehen muß, auf dem er Gott in der Natur auf seine

Weise lieben, schauen, verehren und ihm dienen wird.“



Goethe selbst hat eine Rückkehr von der natürlichen Religion zu

anerzogenen Offenbarungsdogmen für unmöglich gehalten. Andere

gingen gleichwohl diesen Weg und fanden zum Kindheitsglauben

zurück, wie Clemens Brentano, dessen Umkehr allerdings von erotischen

Erlebnissen (Luise Hensel), wie vom Einfluß geistlicher Führung

(Joh. Mich. Sailer) begleitet war. Die Rettung, die nach Schiffbruch

des Lebens in den Armen der Kirche gesucht wird, kann zur

Ableugnung nicht nur der Freigeisterei, sondern auch der anerzogenen

Glaubensformen führen, wie es bei Johannes Scheffler, Friedrich

Schlegel, Zacharias Werner nach ihrem Übertritt geschah. Man

mag bei der krampfhaften Überkompensation des typischen Konvertiten

zwar die Echtheit der Glaubenshaltung in Frage ziehen, aber

man wird doch in der vorausgehenden Seelenverfassung, z. B. in

Schefflers Serafinismus oder in Werners freimaurerischer Mystik und

Liebesreligion bereits die Vorbereitung des späteren Schrittes erkennen

können.



b) Größe



Mag das große Gotteserlebnis in der Natur oder im Geiste sich

vollziehen, jeder Künstler steht vor der Aufgabe, aus der eigenen

Endlichkeit in gläubiger Schau Unendliches zu gestalten.



Nach englischen Lehren der Aufklärungszeit erschien die Schönheit |#f0478 : 454|



als Vorhof der ewigen Wahrheit, und das Wort eines heutigen

englischen Ästhetikers Bridges besagt noch dasselbe, indem es den

Dichter als Pionier bezeichnet, der bis an die Tore der Ewigkeit

führt. Auch die größte Kunst kann indessen nicht Religion werden,

sondern nur einen Altar religiöser Sinnbilder erbauen. Sie kann

ebensowenig irreligiös sein, sonst würde sie jede Größe verlieren. Der

Dichter ist kein Religionsstifter; aber ein glaubensloser Dichter ist

ebenso undenkbar wie eine Dichtung, der nichts heilig wäre. Wenn

man mit Häberleins Charakterkunde Frömmigkeit schlechthin als

Geistigkeit auffaßt, die sich entweder ins Ästhetische oder ins Moralische

wendet, so kann der Weg zum Ästhetischen sich wohl vom

kirchlichen Dogma entfernen, weil es zu eng ist, aber dieser Weg

kann nur in Ausweitung des großen Glaubens gegangen werden, der

eine ganze Weltanschauung trägt. So heißt es in der Schillerschen

Votivtafel, die „Mein Glaube“ überschrieben ist:



Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,

Die du mir nennst! ─ Und warum keine? ─ Aus Religion.



H. A. Korff findet im „Geist der Goethe-Zeit“ die Absicht, an Stelle

des Christentums den humanen Glauben eines bis zur Religion gesteigerten

Kunstevangeliums zu setzen. Für den alten Goethe aber,

der sich das eine Mal als einen „dezidierten Nichtchristen“ bezeichnet

hat, das andere Mal als einen „Hypsistarier“, der aus allen

Religionen das Beste nimmt, mündet die Parallele zwischen Natur

und Kunst in das göttliche Wesen ein. Beide sind in stetiger Wechselwirkung

auf eine Identität von Gott und Wahrheit gerichtet, in die

alle lebenskräftigen Glaubenssymbole, auch die des Christentums, eingehen.

So sagt das „Künstler-Lied“ der „Wanderjahre“:



Wie Natur im Vielgebilde

Einen Gott nur offenbart,

So im weiten Kunstgebilde

Webt ein Sinn der ew'gen Art.

Dieses ist der Sinn der Wahrheit,

Der sich nur mit Schönem schmückt

Und getrost der höchsten Klarheit

Hellsten Tags entgegenblickt.



Die Kraft des bergeversetzenden Sturm-und-Drang-Glaubens hatte

im göttlichen Schöpferdrang des Prometheus als eines ins Titanische

gesteigerten Menschen ihr Sinnbild gefunden; das geplante Epos „Die

Geheimnisse“ wollte alle Weltreligionen im Geist der Herderschen

Humanität zusammenführen; der zweite Teil des „Faust“ aber konnte |#f0479 : 455|



nur mit einer Anleihe bei den mittelalterlichen Himmelsvorstellungen,

die in das zur Unendlichkeit geweitete Weltbild Aufnahme fanden,

beendet werden. So allein war die Lösung der entgegenkommenden

ewigen Liebe zu begründen, die dem auf Erden Unerlösten als

Götterliebling Rettung bringt. So stellt sich die Größe geprägter

Mythen und Glaubensvorstellungen in den Dienst der Dichtung, die

nur in Bildern und Gleichnissen das Unendliche fassen und ergreifen

kann.



c) Sinnbildhaftigkeit



Der Schmuck des Schönen, mit dem nach Goethes Versen der Sinn

der Wahrheit ausgestattet wird, besteht in den Bildern als Ausdrucksmitteln

der großen Vorstellungseinheit. Das Vielgebilde der Natur,

das den einen Gott offenbart, teilt sich in Sinnbilder seines Waltens,

denen Göttergestalt verliehen wird. Solche Personifikation bedeutete

für den Griechen sinnenfrohe lebendige Wirklichkeit, für das Mittelalter

totes Götzentum, für Renaissance und Barockzeit allegorische

Gebilde, in denen die Wesenszüge des Weltgeistes gedankliche Verkörperung

fanden. Die Göttergestalten neuerer Kunst vereinen dagegen

die Erscheinung sinnlich naturhafter Wirklichkeit mit der

bildhaften Bedeutung der Zeichen göttlichen Geistes. In dieser Doppelbeziehung

liegt ihr Symbolgehalt.



Der Dichterglaube durchwandelt jene drei Reiche der sichtbaren

Wirklichkeit, der symbolischen Welt und der Allegorie, die schon bei

der Werkanalyse des ersten Buches auseinandergehalten wurden

(vgl. oben S. 186 ff.).



Der Dichter legt sich auf keines der drei Felder fest. Als Künstler

bekannte sich Goethe zum Polytheismus, während er als Naturforscher

Pantheist, als sittlicher Mensch Monotheist sein wollte.



Klopstocks Oden-Dichtung ersetzte von einem bestimmten Zeitpunkt

ab die griechischen Götternamen und Sinnbilder durch solche

der germanischen Mythologie; bei alledem blieb er doch der gläubige

Christ und Messias-Sänger.



Hölderlin beschwor die Götter Griechenlands und erlebte gläubig

in feierlichem Nennen ihre Wirklichkeit; er führte sogar Dionysos

und Christus zusammen und wollte schließlich auch Baldur ihnen

zugesellen, ohne zu Konflikten mit seinem christlichen Glauben zu

gelangen.



Spitteler stellte den Göttern Griechenlands als neue Allegorie und

Repräsentation der Neuzeit den automatischen Urgötzen gegenüber,

der die Allmacht der seelenlosen Maschine verkörpert.

|#f0480 : 456|



Alle künstlerischen Glaubenssymbole sind nur in übertragenem

Sinn als existenzielle Entscheidungen eines religiösen Bekenntnisses

zu werten. Was von philosophischer Seite im Lauf der Jahrtausende

gegen die Wahrheitsbegriffe der Dichtung eingewandt wurde, auch

von abgefallenen Dichtern wie Kierkegaard, richtet sich gegen die

Lässigkeit und Unverbindlichkeit ihrer Symbole, die aus der Glaubenswelt

in die Gefühlswelt entgleiten.



Man kann die religiöse Existenz des Dichters kaum als widerspruchslose

Einheit begreifen, wenn die ästhetische Sinnbildhaftigkeit

der Dichtung in seine Bekenntnisse einbezogen wird. Und wenn

sie ausgeschlossen würde, was bliebe dann vom Dichter übrig?



Die Methode, der religiösen Existenz eines Dichters nahe zu kommen,

kann entweder eine geschichtlich-deskriptive sein, indem alle

Glaubenszeugnisse aus Leben und Dichtung gesammelt werden, um

aus ihrer Folge das Bild einer Entwicklung zu gewinnen. Für den

Kern der religiösen Persönlichkeit wird auf diesem Wege aber kaum

eine eindeutige Formel gefunden. Auf der anderen Seite bietet sich

der phänomenologische Weg, alle bekenntnismäßigen Widersprüche

zu lösen und aufzuheben, um mittels Intuition zur religiösen Existenz

durchzudringen. Aber die Einheit, die schließlich gefunden wird, ist

eine subjektive und kann eigentlich nur dadurch Überzeugungskraft

gewinnen, daß sie auf Grund von Einfühlung zum Eigenbekenntnis

des Darstellers geworden ist.



Selbst beim religiösen Menschen, der in der Glaubensentscheidung

seine ausschließliche Existenz findet, verhält es sich nicht viel anders

als beim ästhetischen. Sein Glaube ist mehr zu erfühlen als zu beweisen;

er muß erlebt werden, um Gestaltung zu finden, und die

Gestaltung sucht nach Symbolen. Nicht nur ein dichterisches Buch,

wie das der Ricarda Huch über „Luthers Glaube“, das mehr das

Bekenntnis der Verfasserin als das des Reformators erkennen läßt,

sondern viele wissenschaftliche Untersuchungen verdanken ihre

Überzeugungskraft dem persönlichen Einleben in die Glaubenswelt

des Dargestellten. Auch beim religiösen Menschen kann im übrigen

seine Existenz nicht von Sendungsbewußtsein und Wirkung losgelöst

werden.



5. Sendung



Erfüllt sich die volkhafte Sendung des Dichters in seiner Tat, so

liegen deren Voraussetzungen in Wort, Sinn und Kraft. Bietet die

Sprache das Mittel, so verleiht das innere Gesetz den ethischen Willen

und sittlichen Gehalt; der Glaube aber gibt die Weihe und Kraft |#f0481 : 457|



der Begeisterung. Von diesen drei Dimensionen der dichterischen

Existenz steht bei der ersten die Echtheit, bei der zweiten die Größe,

bei der dritten die Sinnbildhaftigkeit im Vordergrund, während das

Gleichgewicht der Dreieinigkeit in der Sendung zustande kommt.



a) Echtheit



Die Echtheit der dichterischen Sendung ist durch innere Berufung

gewährleistet, und diese ruht im Bewußtsein einer magischen Sprachgewalt,

der es gegeben ist, die Menschen zu fesseln und zu lenken.

Der innere Ruf kommt in der Sprache zur Wirkung nach außen; die

äußere Erfahrung sprachlicher Wirkungsmöglichkeit verstärkt die

innere Berufung. Bedeutet die Selbstbefreiung durch Aussprache

eigenen Leidens und eigener Freude beim überschwenglichen Erleben

des Ich-Dichters ersten Antrieb und inneren Zwang, so stellt sich

doch selbst beim persönlichkeitsbewußten Individualisten ein Gemeinschaftsgefühl

her, das ihn ein stellvertretendes Aufsichnehmen und

Vorerleben des gemeinsamen Schicksals als Aufgabe ergreifen läßt,

wie Goethes „Vermächtnis“ es ausspricht:



Denn edlen Seelen vorzufühlen,

Ist wünschenswertester Beruf.



Der Beruf des Dichters war nach einem von Paul Kluckhohn gegebenen

Überblick im Altertum als der eines Erziehers der Gemeinschaft

aufgefaßt, in der altgermanischen Zeit als Fürsten- und Herrendienst,

im christlichen Mittelalter als gottwohlgefälliges Werk, in

der höfischen Kultur als Dienst der ritterlichen Gesellschaft. Humanismus

und Renaissance fügten zu erhöhtem Selbstbewußtsein und

Anspruch auf Unsterblichkeit das Ziel des Ruhmes, der für die ganze

Nation zu erwerben war. Damit wurde zum ersten Male eine nationale

Sendung des Dichters begründet. Bei Klopstock trat die innere

Berufung des Dichters, dem Gott, Freundschaft, Freiheit, Vaterland

bestimmende Erlebnisse wurden, in den Vordergrund; sein stolzes

Selbstbewußtsein beanspruchte trotz fürstlicher Gunst, die er als ihm

zukommend entgegennahm, volle Unabhängigkeit für die Erfüllung

seiner Sendung. Diese Selbständigikeit, die noch von den Romantikern

mit aller Scheu vor gesellschaftlichen Fesseln gewahrt wurde,

verlor sich, als das Schriftstellertum mehr und mehr zum bürgerlichen

Beruf wurde. Der Zivilisationsliterat drängte sich an die Stelle

des Dichters. Damit riß auch jene Verwahrlosung der Sprache ein,

über die schon Friedrich Nietzsche im Kampf gegen den Bildungsphilister

die Lauge seines Spottes goß. Nach ihm schrieb Stefan |#f0482 : 458|



George in den Blättern für die Kunst: „Die Gestalt des Dichters

scheint dem Deutschen ganz verloren gegangen zu sein. Es gibt jetzt

nur den Gelehrten, Beamten, Bürger, der Gedichte macht, und das

Schlimmste: den deutschen Literaten, der Gedichte macht.“



George forderte damals eine autonome Kunst, „frei von jedem

Dienst“; aber das Bewußtsein der eigenen Sendung führte seine Entwicklung

über den scheinbar wurzellosen Egotismus und Ästhetizismus

der Anfänge hinaus, so wie der Kreis, der im Bann seiner Persönlichkeit

stand, sich weitete. Nach dem Versuch einer Religions-

Stiftung kehrte George zu Heimat und Volk zurück und endete mit

der prophetischen Verkündigung politischen Führertums im Neuen

Reich.



Unter dem Gebot der Zeitlage wurde nach dem Weltkrieg auch

in den anderen europäischen Ländern, in Frankreich, England, Italien

der dekadente l'art-pour-l'art-Standpunkt im Sinne von geistiger

Erneuerung und wirklichkeitsnaher Aktivität überwunden. In

Deutschland erschien im Jahr der Wiedergeburt die Sammlung „Des

deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart“, die die Stimmen

von 28 lebenden Dichtern vereinigte zum gemeinsamen Bekenntnis

der Verantwortlichkeit vor Nation und Volkheit und zum Willen, der

Kunst Lebenswert und Lebenswirkung zu erhalten. Der echte Dichterberuf

wurde wieder in den Dienst der Gemeinschaft gestellt.



b) Größe



Goethe sprach zu Eckermann von der bedeutenden Wirkung, die

ein großer dramatischer Dichter von mächtiger edler Gesinnung erreichen

könne, indem die Seele seiner Stücke zur Seele des Volkes

werde. Er nannte als Beispiel den Einfluß Corneilles, der die Fähigkeit

zur Bildung von Heldenseelen besaß. Unausgesprochenerweise

lag darin auch ein Hinweis auf Schiller, der schon in seiner Mannheimer

Rede von der Schaffung und Entzündung des Nationalgeistes

durch die Wirkung der Schaubühne gesprochen hatte. Athen war

das unerreichte Vorbild: „Was kettete Griechenland so fest aneinander?

Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? ─

Nichts anderes als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische

Geist, das große überwältigende Interesse des Staats, der

besseren Menschheit, das in demselbigen atmete.“



Wenn Aufklärung und Neu-Humanismus den Erziehungsgedanken,

der auf Gemeinschaftsempfinden in Menschheit und Nation zielte,

als Sinn und Aufgabe der Dichtung neu belebt hatte, so blieb diese

Sendung nicht auf Theater und Drama beschränkt, sondern nahm |#f0483 : 459|



auch die anderen Gattungen in Anspruch. Schiller selbst hat in dem

unausgeführten Entwurf, dem der Titel „Deutsche Größe“ gegeben

wurde, die dem Dichter zugeteilte Mission sogar auf die ganze Nation

übertragen. Die Stellung des Deutschen innerhalb der Menschheit

sollte analog sein der des Dichters in seinem Volke: „Ihm ist das

Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden

und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem

Kranze zu vereinen ... Er ist erwählt von dem Weltgeist, während

des Zeitkampfs an dem ew'gen Bau der Menschenbildung zu arbeiten.

Seine Aufgabe ist nicht, im Augenblick zu glänzen und seine Rolle

zu spielen, sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen.“



Der eigene vom Politischen abgesonderte Wert, der damit für den

Deutschen begründet werden sollte, entsprach dem Los des Poeten

in der „Teilung der Erde“:



Willst du in meinem Himmel mit mir leben ─

So oft du kommst, er soll dir offen sein.



Es war ein idealistischer Verzicht, der zum späteren praktischen

Geltungswillen des Bühnendichters allerdings in Widerspruch stand.

Er wurde überwunden durch den wachsenden Wirklichkeitssinn des

kommenden Jahrhunderts. Für Heinrich v. Kleist bereits war es ein

tragisches Los, die Sendung, die er auf sich genommen hatte, nicht

erfüllen zu können:



Wehe, mein Vaterland, dir, die Leier zum Ruhm dir zu schlagen,

Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt.



Die glücklicheren Altersgenossen, denen die Erhebung mitzuerleben

beschieden war, konnten ihre Kunst ganz in den Dienst des

Freiheitskampfes stellen, und ihr aus der Not geborener Enthusiasmus

vererbte sich auf die folgenden politischen Dichter, die der inneren

Befreiung und der Einswerdung des großen Vaterlandes dienen wollten.

Aber der religiöse Mittlergedanke zwischen Gott und Volk, der

von Hölderlin und den Romantikern dem Dichter zugedacht war,

schwand dahin, als im jungen Deutschland der Zeitgeist zum Frondienst

aufforderte. Im Streit, ob der Dichter Partei nehmen oder auf

einer höheren Warte über den Kämpfen stehen solle, ging Größe und

Echtheit der Berufung verloren.



Der Geist des Biedermeier kehrte zu der Resignation zurück, daß

unter Aufopferung des eigenen Lebensglücks aus tiefem Leid die

harmonische und trostgebende Versöhnung aller Mißklänge in der

Dichtung zu schaffen sei. Die Echtheit wurde gegenüber aufgedonnerter

Scheingröße gewahrt, wenn Adalbert Stifter in seinem Aufsatz |#f0484 : 460|



„Die Poesie und ihre Wirkungen“ aller von außen diktierten

Tendenz absagte: „Der echte Künstler hat nie Tendenzen, außer die,

ein Schönes zu bringen. Außer den allgemeinen ewigen Empfindungen

des menschlichen Geschlechtes, die er in seinem Werke gibt, hat er

allerdings auch die Färbungen seiner Zeit und seines Volkes, er hat

sie aber naiv und unbewußt, wie er in einer Zeit und in einem Volke

lebt und leben muß, und dies ist es, was man das Volkstümliche, das

Zeitalterliche eines Kunstwerkes nennt. Wenn aber ein Künstler absichtlich

ein deutscher, welscher usw. zu werden strebt und, wie man

sich ausdrückt, ‚auf der Höhe der Zeit stehen‘ will, so wird er etwas

zuwege bringen, was seiner Partei Freude macht, was einer Zeitrichtung

eben schmeichelt, er wird wahrscheinlich das Nationale zum

Zerrbilde machen, in seltenen Fällen aber ein dauerndes Kunstwerk

liefern.“



c) Sinnbildhaftigkeit



Von der Größe des Dichtergeistes, deren einprägende Wucht die

Seele eines ganzen Volkes gestalten und gewinnen kann, unterscheidet

sich die entgegengesetzte Richtung des Volkhaften, die vom organischen

Sein ausgeht. Hier erscheint der Körper, der die Seele

nicht erst bildet und gewinnt, sondern in sich trägt. Der Dichter,

der in seiner eigenen Leiblichkeit, seiner Abstammung, seiner Wesensart,

seiner Sprache, seinem Denken und Fühlen ein Glied des Volkskörpers

ist, verkörpert sinnbildhaft das Ganze der Volksseele, zu

deren Vertretung er durch seine Sendung berufen ist. Echtheit und

Größe brauchen hinter dem Wertmaßstab der Sinnbildhaftigkeit nicht

zurückzustehen, sondern gehen in ihm auf. Die Echtheit der Sprache

beruht in ihrer volkstümlichen Sinnbildhaftigkeit; sie greift desto

weiter um sich, je weniger sie provinziell bleibt, sondern dem Sprachgefühl

des ganzen Volkes und aller seiner Landschaften gerecht wird.

Die Größe der Gesinnung findet die Wurzeln ihrer Kraft im Boden

des Volkstums. Die Bodenständigkeit ist heimatverwurzelt, aber sie

ragt mit um so stolzerer Krone empor, je breiter der Begriff der

Heimat ist, aus dem sie ihre Kraft zieht. Das innere Gesetz des Daseins

wird um so gültiger, je umfassender der Dichter das Schicksal

seines ganzen Volkes durchlebt als Geschichte sowohl wie als

Sorge der Gegenwart und als Fürsorge der Zukunft. Seine Selbstbesinnung

kann zur Stimme des Gewissens für das ganze Volk werden,

und sein Glaube ist um so repräsentativer, je artechter er ist

und je mehr er dem Erlebnis der Gemeinschaft entspricht und von

ihr geteilt wird.

|#f0485 : 461|



Wie die Sinnbildhaftigkeit im Ästhetischen, Ethischen, Religiösen

und Volkhaften einen entscheidenden Wertmaßstab für die Einschätzung

des einzelnen Werkes darstellt (vgl. S. 274 f.), so ist sie

es in erhöhtem Maße für die Sendung des Dichters, der mit der Einheit

seiner Existenz für das Ganze einsteht. Will man einwenden,

daß der Wert des Kunstwerkes in seiner Form liege und der des

Künstlers in seinem Können, so ist zu sagen, daß auch die kunstvollste

Form erst durch das Gewicht ihres sinnbildhaften Gehaltes

Dauer erhält und daß diese Substanz, wenn sie echt ist, keine andere

als die des Dichters sein kann.



Von dem Wert der einzelnen Dichtung gilt das Wort Wilhelm

Raabes: „Nur diejenigen Kunstwerke haben Anspruch auf Dauer, in

denen die Nation sich wiederfindet.“ Denselben Gedanken hat Paul

Ernst auf die Geltung des Dichters übertragen: „In einem Dichter

kommt eine Nation zu ihrem Selbstbewußtsein; der Dichter sagt das

mit deutlichen Begriffen, in klaren Bildern und in festen Worten,

was in der Nation unbewußt lebt. Das ist nur so möglich, daß im

Dichter das Wesen der Nation zu seiner schärfsten Ausprägung

kommt, das Wesen der Nation, wie es sich in seiner Zeit äußert; denn

dasselbe Wesen äußert sich ja in den verschiedenen Zeiten verschieden;

man mache sich etwa klar, daß Parzival, Simplizissimus und

Wilhelm Meister alle drei von deutschen Dichtern gedichtet sind, alle

drei deutsches Wesen darstellen, aber in den drei verschiedenen Zeiten,

in so verschiedener Art, daß der oberflächliche Blick kaum Verwandtschaft

zwischen ihnen feststellen kann. Bei der Einheit von

Erleben und Dichten muß man annehmen, daß das Erlebnis des Dichters

auch das Erlebnis seiner Nation in seiner Zeit sein muß.“



Man kann weitergehen, wenn man über diese Sinnbilder deutschen

Wesens zu seiner größten überzeitlichen Ausprägung gelangt, zu

Goethes „Faust“, in dem nicht nur eine Nation, sondern die Menschheit

sich selbst, ihr Schicksal und ihr Streben erkannt hat. Die Gestalt

konnte solche sinnbildhafte Geltung nur erhalten, weil sie keine

humane Abstraktion bedeutet, sondern erlebnisgesättigt aus der Volkheit

aufgestiegen ist und in ihrer Wesensart das Ganze darstellt, das

in seiner verkörperten Wirklichkeit sinnbildhaft werden kann für

Schicksal und Gemeinschaft der Menschheit.



Die Großen sind dadurch aufgestiegen, daß alle Kräfte des Volkstums

in ihnen lebendig sind; ihre Deutung hat zu zeigen, daß sie nicht

nur sich selbst, sondern Blut und Stamm, Landschaft und Gesellschaft

vor der Menschheit voll vertreten. Schon zu Goethes Lebzeiten

hat der kerndeutsche Ernst Moritz Arndt in seinen „Briefen an |#f0486 : 462|



Freunde“ (1810) von der deutschen Allgemeinheit Goethes gesprochen,

weil sein Sinn seines Volkes sei. Er fuhr fort: „Ein großer

Mensch steht nicht allein in den Schranken seines Volkes und seiner

Zeit, das Größte und Höchste aller Zeiten und Völker nennt er durch

Geburtsrecht sein, weil er der Hochgeborene ist.“



6. Widerhall



Wie der Ton von seiner Resonanz, so hängt die Existenz des Dichters

von der Wirkung ab, in der sich seine Sendung erfüllt. Die

Kausalreihe, die durch das Verhältnis zwischen Dichter und Werk

begonnen wird, setzt sich fort in der Gemeinde, die der Dichter

durch seine Werke findet in Raum und Zeit. Es ist eine endlose

Kette, in der, wie Rudolf Alexander Schröder einmal ausgesprochen

hat, Dichtung erst Wirklichkeit wird. Wenn man in gleicher Weise

sagen kann, daß der Dichter in seiner Wirkung erst zur Existenz

gelangt, so entscheidet nicht der unmittelbare Erfolg. Die Aufnahme,

die jedes einzelne Werk und schließlich die Gesamterscheinung des

Dichters bei zeitgenössischer Kritik und Leserschaft gefunden haben,

wird zur Geschichte von Widerständen, die aus rückständigen Vorurteilen

erstarrter Autoritäten, überlebter Geschmacksrichtung und

der Befremdung bedrohter Gesellschaftsschichten hervorgegangen

sind. Der Satz, daß der Lebende recht hat, pflegt sich weder in der

Haltung des Publikums, noch in der Erfahrung des Dichters zu bewahrheiten.

Es ist vielmehr eine traurige Wahrheit, daß oftmals erst

dem Toten das Recht zuteil wird, um das der Lebende vergebens gerungen

hat. Aber wenn es eine Tragik ist, so ist sie erhebender Art,

insofern es den Rechtsspruch eines ästhetischen Weltgerichtes gibt,

vor dem wahrhafte Echtheit und Größe sich als Ewigkeitswerte

durchsetzen, während aller bloß zeitliche Glanz verblaßt.



Das Nachleben entscheidet über die wirkliche Existenz des Dichters

in einem zweiten Dasein, das ihm in seinen Werken verliehen

ist. Alle Untersuchungen über seine Fortwirkung finden indessen ihre

Berechtigung nur in der Tatsache, daß er heute noch lebendig ist und

daß seine Sendung fortbesteht. Das Weiterleben eines Vergessenen,

der keinerlei Wirkung mehr auf die Gegenwart ausüben kann, bis zu

dem Zeitpunkt zu verfolgen, an dem die Wirkung erlosch, also bis zu

seinem zweiten Tode, hätte wenig Sinn, auch wenn ein Weiterbestehen

der Geltung durch Jahrhunderte zu verfolgen wäre. Diese

geschmacksgeschichtliche Frage könnte zu existenzieller Bedeutung

erst dadurch gelangen, daß sich die Vergessenheit als Scheintod erweist |#f0487 : 463|



und der Wiederbelebte zu neuer Wirkung und Ausübung seiner

Sendung erweckt wird, wie es Hans Sachs und Grimmelshausen durch

Goethe und die Romantiker zuteil wurde, also durch Dichter, nicht

durch Wissenschaft oder Kritik.



Ist diese Existenz gleichzusetzen mit der sich immer erneuernden

Gegenwart des Dichters, also mit der zeitlichen Dauer seiner Wirksamkeit,

so läßt sich auf der anderen Seite die räumliche Ausdehnung

als die Breite seines geschichtlichen und gegenwärtigen Wirkens erkennen

und abgrenzen. Wir streifen damit den bereits im Eingang

(S. 9 ff.) berührten Begriff der Weltliteratur, der erst im vierten

Buche eingehende Erörterung finden kann. Für den einzelnen Dichter

kommt es nicht nur auf die vielfältige Wandlung seiner Existenz

durch Übersetzungen an, wobei sich außer der Sprache auch der

Gehalt, der Glaube, die Sinnbildhaftigkeit und Bedeutung der Sendung

leise verändern können, sondern ebenso sehr auf die Fortwirkung

seines Geistes in fremden Dichtungen, für die er als Bildungsgut,

Vorbild, Mythos und Maßstab ideeller Existenz in Anspruch genommen

wird. Weltgrößen wie Homer, Dante, Shakespeare, Goethe

sind als Bildner der Menschheit mit den Strömen ihrer unzerstörbaren

Lebenskraft in so unendlich viele Kanäle eingeflossen, daß,

selbst wenn einmal niemand mehr sie läse, ihre Sendung nicht beendet

wäre, sondern in mittelbarer Nachwirkung weiter bestände.



Die Wirkung der Größten in ihrem vollen Umfang räumlich und

zeitlich zu ermessen, ist eine darstellerisch kaum zu bewältigende

Aufgabe. Michael Bernays, der den Plan hatte, die Geltung Homers

in der Weltliteratur darzustellen, ist in der Sammlung eines unerschöpflichen

Materials stecken geblieben; ein geglückter Versuch, wie

er in Thaddäus Zielinskis Buch über das Nachleben Ciceros vorliegt,

hat keinen eigentlichen Dichter zum Gegenstand. Die unübersehbare

Wirkungsbreite eines Dante, eines Shakespeare, eines Goethe kann

kein Ende und keine abschließende Darstellung finden. Vergleichende

Zusammenfassung der bisher nur auf einzelne Länder gerichteten

Untersuchungen könnte von völkerpsychologischer Bedeutung und

Ergiebigkeit sein, indem sie zu den Fragen seelischer Verwandtschaft

oder Gegensätzlichkeit hinführt, aber sie kann nicht von der Tatsache

ablenken, daß der Dichter die erste und eigentliche Erfüllung

seiner Sendung in seiner eigenen Sprache und beim eigenen Volke

erlebt und daß seine Wirkung und Geltung in erster Linie innerhalb

dieses Zusammenhanges Darstellung finden kann und muß.



Wenn die Frage des Geltungsbereichs wieder zu den am Schluß

des ersten Buches gestreiften Darstellungsaufgaben hinblicken läßt, |#f0488 : 464|



deren grundsätzliche Erörterung dem fünften Buche vorbehalten

bleibt, so zeigt sich, daß die Sichtung nach Wert, Wirkung und

Größenverhältnis durch die sinnbildhafte Bedeutung jedes Einzelnen

bestimmt sein muß.



Jeder Dichter ist Vertreter seines Volkes und Stimme seiner Zeit,

so wie der Baum in seiner Form Vertreter eines Waldes ist und in

seinem Rauschen die Bewegung lautwerden läßt, von der alle berührt

werden. Das Unterholz wächst aus demselben Boden wie die hochstämmigen

Gipfel; es besteht aus Seitentrieben, die derselben Wurzel

entstammen; es verbreitert die Wachstumsrichtung der großen

Stämme in seinem niederen Lebenskreise. Wenn man es lichten muß,

geschieht es, um Wege zu bahnen, Durchblicke zu schaffen und freien

Zug zu gewinnen für den Sturmwind der Zeit.



Wie weit die Zahl der Kleineren zur Darstellung kommen kann

und was von ihren Werken als charakteristisch hervorzuheben ist,

hängt hauptsächlich von der Raumfüllung ab und von der Beschaffenheit

des Bodens. Je nachdem es sich um das geistige Leben einer

Stadt, einer Landschaft, einer Nation, eines Erdteils, einer Rasse oder

der ganzen Menschheit handelt, ist die Bedeutung bemessen und

die Auswahl der Vertreter beschränkt. Von der Stadtverordnetenversammlung,

die der Lokalforschung entspricht und manche Größe

zu Ehren bringt, die in der Gesamtvertretung keine Beachtung verdienen

würde, bis zum Weltparlament oder Fürstenkongreß und der

ihnen gleichenden Weltliteratur, die in Überwindung räumlicher

Trennung die Größten als erkorene Vertreter ihrer Nationen zusammenführt

und in gelegentlichem Treffen sich messen läßt, besteht

eine Stufenfolge, die mit beschränkender Auslese und gesteigerten

Anforderungen aufsteigt. Die Bedeutung des Einzelnen bestimmt den

Aufwand, der an seine Einführung und Würdigung gesetzt wird. Nach

den Verhältnissen des Raumes, in dem die Versammlung sich vereinigt,

und nach dem Umkreis der Geladenen hat sich Rangordnung

und Ausmaß der Berücksichtigung zu richten.



Die Werke sind die Reden, mit denen der auserwählte Vertreter

seines Amtes waltet und seiner Berufung Folge leistet. Ob sie im

engen Raum oder unter freiem Himmel, vor der Nation oder vor der

Welt gehalten werden, sie sind kennzeichnend für die Größe dessen,

der sich in ihnen ausspricht; sie sind sinnbildhaft für die Gemeinschaft,

die hinter ihm steht; in ihrer Echtheit liegen Kraft und Tragweite,

Wirkung und Widerhall begründet. So bedeutet die entscheidende

Abstimmung ihrer Werte das Schicksal, das als Literaturgeschichte

zu betrachten und darzustellen uns zufällt.

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FRAGMENTE UND VORARBEITEN

ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH


Aus dem Nachlaß


Einleitung zu Buch III und IV:

SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT


Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt

und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist

nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen,

wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft.





Goethe



1. Werke und Gattungen



Das Schlagwort „synthetische Literaturgeschichte“, das der geisteswissenschaftlichen

Revolution zu Anfang unseres Jahrhunderts entstammt,

bedeutete als neue Losung eine in Vergessenheit geratene

Selbstverständlichkeit. Es war eine Art Pleonasmus, denn jede Geschichtsdarstellung

muß synthetisch sein und strebt in zusammenfassendem

Aufbau über die Analyse hinaus.



Das Gegenbild, dem der Name „analytische Literaturgeschichte“

beigelegt wurde, war um so widersinniger, denn die Mittel der Zerlegung,

der immer ein geschlossenes Einzelnes zugrunde liegen muß,

sei es ein Wortsinn, ein Satz, eine Strophe, der Ausdruck einer Stimmung,

ein ganzes Werk oder die Seele des Dichters, können zu geschichtlichem

Aufbau nicht führen. Selbst große Einheiten, die in

Vielfältigkeit bestehen, wie der Charakter einer Familie, eines Stammes,

eines Volkes, einer Rasse oder das Programm einer Schule, das

Ideengut eines Kreises, einer Generation, das Wesen einer geistigen

Bewegung und die innere Form eines Stiles sind zu analysieren, indem

die einheitlichen Züge auf ihre verschiedenen Ursachen zurückgeführt

werden. Das Ergebnis solcher Untersuchung ist Voraussetzung |#f0490 : 466|



geschichtlicher Gestaltung; es muß in eine Darstellung der

Taten aufgenommen werden, aber es kann den Fluß nicht beleben

und zum Ziele führen. Es gleicht der Exposition eines Dramas, aber

nicht seiner Handlung.



Das Mißverständnis kommt zum Ausgleich, sobald nicht mehr von

Gegensätzen der Literaturgeschichte, sondern von zwei Seiten der

Literaturwissenschaft gesprochen wird. Dann ist die formale Einzeluntersuchung

von der gestaltenden Zusammenfassung, das Nebeneinander

von der Folge, die Kritik von der Geschichte, das Verstehen

von der Darstellung unterschieden, ohne daß die untrennbare Beziehung

zwischen beiden einen Riß erfährt. Analytische Philologie

und synthetische Geistesgeschichte sind innerhalb der Literaturwissenschaft

aufeinander angewiesen. Der Philologe darf nie das Ziel,

der Geistesgeschichtler nie die Grundlagen aus dem Auge verlieren.



Bleiben wir bei der knappen Formel, daß Analyse Untersuchung,

Synthese Darstellung sei, so sehen wir, daß Darstellungen ohne

vorausgegangene Untersuchung Luftschlösser bleiben; Untersuchungen

ohne den Zweck belebender Darstellung sind dagegen Maulwurfsarbeit,

Katakomben im doppelten Sinne der lichtlosen Behausung und

der Totengruft. Einzeluntersuchungen bilden die Basis des Aufbaus,

und die Zusammenfassung muß sich jederzeit der Vielfältigkeit, die

ihr zugrunde liegt, bewußt bleiben. So hat auch der Erbauer eines

Turmes, einer Brücke, eines Flugzeugs für seine Konstruktion mit

dem aus den Erzgruben verschiedener Länder stammenden Werkstoff

in bezug auf Gewicht und Tragfähigkeit zu rechnen.



Der Weg von der Analyse zur Synthese ist der Wissenschaft von

der Dichtung vorgezeichnet und bestimmt die Zweiteilung der darzulegenden

Aufgaben. Beim Rückblick auf den ersten Band dieses

Unternehmens ist als Grundstein des systematischen Unterbaus die

Überlieferung des einzelnen Werkes zu finden. Von den Elementen,

aus denen sich die Erscheinungswelt der Dichtung aufbaut, wurde der

Ausgang genommen. Im zweiten Buch, das dem Dichter galt, vollzog

sich schon ein Übergang, insofern seine menschliche Einheit als

Gegenstand der Analyse, die Einheit seines vielfältigen Werkes aber

als Ergebnis einer Synthese aufzufassen war.



Bei aller Vereinzelung konnte es in den beiden vorausgehenden

Büchern an Ausblicken auf die Dichtung überhaupt mit allen ihren

möglichen Problemen und Formen, wie auf die Tätigkeit des Dichters

in ihren bewußten und unbewußten Funktionen nicht fehlen. Nun,

vom dritten Buch an, hat die Dichtung im Vordergrund zu stehen,

und ihr allein gilt die Betrachtung, während Werk und Dichter nur |#f0491 : 467|



noch als Beispiele, Teilglieder und Vertreter eines Größeren und Allgemeineren

oder sogar des Ganzen, dessen Organe sie sind, herangezogen

werden. Auch dann bleibt immer noch die doppelte Aufgabe:

1. Das Gesamt der Dichtung als geschichtliche Gegebenheit synthetisch

zu begreifen. 2. Das Wesen der Dichtkunst, die der Menschheit

als göttliche Gabe verliehen ist, in ihrer Seinsweise zu verstehen

und zu analysieren. Beide Aufgaben sind aufsteigend in gegenseitiger

Annäherung begriffen. Der Vortritt aber hat gewechselt. Jetzt steht

die Frage im Vordergrund, wie eine synthetische Zusammenfassung

der einzelnen Werke und Dichter im Sinne einer Gesamt-Darstellung

zustande kommen kann. Wenn nicht als allumfassendes Ganzes, so

doch als ein gegliederter Organismus soll die Dichtung begriffen

werden.



Die Zusammenfassung der Schöpfungen eines Dichters im Begriff

seines Gesamtschaffens, das schlechthin sein „Werk“ genannt wird,

ist schon im 2. Buch behandelt. Die folgenden Bücher werden mit

der Zusammenfassung der Dichtungen eines Volkes in der Einheit

dessen, was seine Dichtung genannt wird, ihr Ziel finden und schließlich

auf die Zusammenfassung der Dichtungen aller Völker und

Zeiten im Begriff einer Dichtung der Menschheit oder der Dichtung

überhaupt den Ausblick nehmen.



Abseits von diesem Stufengang liegt die Zusammenfassung gleichartiger

Dichtungen im Begriff der Gattung; es ist ein Seitensprung

vom geschichtlichen Wege auf das Gebiet der Kunsttheorie,

aber der Umweg muß zwecks Prüfung aller Möglichkeiten gemacht

werden, da eine geschichtliche Darstellung bei der Entwicklung des

Gehaltes und der Technik jeder Gattung nicht ausgeschlossen ist.



War der Gattungsbegriff bisher als Mittel der Analyse angewandt

worden, so stehen wir jetzt vor der Frage, ob er Entwicklungsmomente

genug enthält, um das schaffende und wirkende Leben einer

Gattung als einen sich entfaltenden Organismus zur Darstellung zu

bringen. Sind die Gattungen wiederum lebendige Glieder der Dichtung,

so daß sich deren ganzer Umfang in Darstellung ihrer Gattungen

erfassen ließe? Führt die Synthese weiter dahin, daß die Geschichten

einzelner Gattungen sich zur Dichtungsgeschichte ergänzten,

so daß deren Aufgaben mit solcher Zusammenlegung erfüllt wären?

Das wäre nur möglich, wenn man sich auf jenen Begriff der Dichtungsgeschichte

beschränkte, der schon im ersten Band (S. 62) seine

Ablehnung gefunden hat. Sobald die Literaturgeschichte zur Geschichte

des geistigen Lebens wird, verlieren die Dichtungsgattungen

die Bedeutung einer erschöpfenden Einteilung.

|#f0492 : 468|



a) Gattungsgeschichte



Um den Gattungsbegriff in den Dienst der Werkanalyse zu stellen,

mußte das erste Buch die reinen Typen in vielerlei Zwischenarten

auflösen. (S. 120─128.) Dabei wurde auch bereits mit den Problemen

einer Gattungsgeschichte die Frage der Synthese aufgeworfen.

(S. 248.) Gattungsgeschichte kann nur Formgeschichte sein. Aber ein

Beispiel, wie die vierzehnbändige „Geschichte des Dramas“ von

Julius Klein, läßt bandweise nur Einzeldarstellungen des griechischen,

des römischen, des indischen, italienischen, spanischen, englischen

Theaters zustande kommen, wobei das italienische fünf, das spanische

vier, das englische zwei Bände in Anspruch nahmen und französisches

wie deutsches Drama gar nicht mehr erreicht wurden. Auf diese

Weise konnte eine fortlaufende Entwicklung des geschichtlichen Zusammenhanges

nicht durchgeführt werden. Glücklicher war vorher

A. W. Schlegel gewesen, der in seinen berühmten Wiener Vorlesungen

gleichfalls die Länder trennte, aber doch einen Zusammenhang zwischen

ihnen aufrecht erhielt, indem er sie in verschiedener Weise an

dem Widerspiel zwischen klassischem und romantischem Drama teilnehmen

ließ.



Auch die auf kleinere Zeitabschnitte beschränkte Gattungsgeschichte

ist nur in räumlicher Gliederung zu bewältigen. So erkannte

schon Wilhelm Scherer, daß allein die landschaftliche Aufteilung

eine Möglichkeit zur Darstellung des deutschen und lateinischen

Dramas der Reformationszeit biete. Er wurde damit der

Vater des Programms, das später sein Schüler August Sauer in der

Rektoratsrede „Literaturgeschichte und Volkskunde“ vorlegte. Sein

Erbe wurde dessen Schüler Josef Nadler mit seiner „Literaturgeschichte

der deutschen Stämme und Landschaften“, die nun allerdings

auf die einzelnen Gattungen nur noch insofern Rücksicht

nimmt, als sich ihre Bevorzugung in bestimmten Gebieten aus Stammescharakter

und landschaftlichen Bedingungen erklären läßt. Dagegen

hat Hans Naumann, als er es unternahm, „Die deutsche Dichtung

der Gegenwart“ darzustellen, eine Einteilung in die drei Abschnitte

„Das neue Schauspiel“, „Der neue Roman“, „Die neue Lyrik“

für zweckmäßig gehalten. Das ging an unter Verzicht auf geschichtliche

Entwicklung; aber inzwischen ist die Dichtung, die zwischen

1885 und 1933 an der Tagesordnung war, größtenteils bereits historisch

geworden und in eine andere Sicht getreten; es haben sich Verschiebungen

und Risse bemerkbar gemacht, die das innerhalb einer

Gattung Zusammengestellte auseinanderfallen lassen. Dafür treten |#f0493 : 469|



über die Gattungsgrenzen hinweg bisher nicht gesehene räumliche

und zeitliche Zusammenhänge neu in Erscheinung.



Zu den räumlichen Voraussetzungen für die zeitliche Blüte einer

Gattung gehören die gesellschaftlichen Bedingungen, durch deren

Gleichartigkeit Beziehungen zwischen den Ländern hergestellt werden.

Das ist besonders beim Drama zu zeigen, dessen Grundlagen

in der sozialen Gemeinschaft eines Theaters und seines Publikums

bestehen. Wo wir Ursprünge des Theaters erkennen können, nicht

nur im alten Griechenland, sondern auch in anderen Erdteilen, liegen

sie in religiösen Kulten begründet. Die germanischen Stämme

kannten theatralische Kultformen verschiedener Art, deren Ausläufer

noch im Brauchtum unserer Tage weiterleben. In manchen Landschaften

haben sich Schwertertänze und wilde Männer, Pferdeweihe,

Perchtenlaufen, Haberfeldtreiben und Bräuche der Rauhnacht bis

in unsere Zeit erhalten. Man mag die Ursache im dramatischen

Spieltrieb des bayrisch-österreichischen Stammes erkennen oder

in der gläubigen Anhänglichkeit an Althergebrachtes, die auch

im freien Bauerntum anderer Stämme vorhanden ist. Auch in anderen

Ländern Europas ist es dasselbe Verhältnis. So entspricht

dem norddeutschen Schimmelreiter das englische hobby horse, das

von Otto Höfler auf den Wodankult altgermanischer Männerbünde,

also auf religiöse und gesellschaftliche Gemeinschaftsbildung zurückgeführt

wird.



Die Kirche, die sich vergebens um Unterdrückung bemühte, hat

manches Übernommene den gottesdienstlichen Riten ihrer Feste angepaßt;

die Klöster sorgten für literarische Verbreitung; in den

Städten des späten Mittelalters bildeten sich Spielgemeinschaften

unter geistlicher Leitung, deren Texte und Bühnenpläne auch in der

umgebenden Landschaft Verwendung fanden. Wie in Frankreich die

Pariser „confrérie de la passion“ für das ganze Land maßgebend

wurde, so wurden Wetterau, Hessen und Rheinland vom Frankfurter

Dom aus mit Spieltexten versorgt; Freiburg i. Br. und Luzern wurden

Mittelpunkte für die alemannischen Spielkreise, Freiberg für den

sächsischen, Augsburg für den schwäbisch-bayrischen, Bozen für den

tirolischen.



Das profane Drama aber stützte sich auf die städtischen Zünfte, zu

deren Privilegien die Veranstaltung von Tänzen und Aufführungen

gehörte; aus dem Nürnberger Schembartlaufen wuchs das Fastnachtsspiel,

das Meister Folz von Worms dorthin verpflanzt hatte und das

dann in Basel und Bern mit dem politischen Leben Fühlung suchte.

Wenn in Lübeck sich eine höhere Gesellschaftsschicht der ernsteren |#f0494 : 470|



Form widmete und in den Spielen der Zirkelbrüder lehrhafter Allegorie

huldigte, so entsprach es niederdeutscher Stammesart. Gleicherweise

wurde in England und in den Spielen der niederländischen

Rederijkerkammern die Moralität gepflegt. In Frankreich dagegen

parodierten die jungen Rechtsgelehrten der Basoche den ernsten

Prozeßgang und führten komische Rechtsfälle in der Art des „Maître

Pathelin“ auf. An das lateinische Drama der Humanisten, wie es

auch an deutschen Universitäten und Höfen in Aufnahme kam, schloß

sich das Schuldrama, das in protestantischen Gegenden die alte

Passion verdrängte, während im katholischen Gebiet das Ordensdrama

zum Propagandamittel der Gegenreformation wurde.



Wir dürfen auch religiöse Wandlungen zu den soziologischen Bedingungen

der Dichtung rechnen und sehen ihren Einfluß namentlich

in der Geschichte des Dramas sich auswirken. In England trat der

Puritanismus dem volkstümlichen Laienspiel entgegen; dagegen

hielten die Großen des Landes ihre eigenen Schauspieltruppen, aus

denen ein Berufsstand hervorging, der seine eigenen Dichter brauchte

(Shakespeare). So lange diese Truppen unbeschäftigt waren, gingen

sie auf Reisen und führten ihre Kunst und ihren Spielplan dem Festland

zu. Sie fanden zunächst an nord- und mitteldeutschen Höfen

Unterkommen und standen hohen Fürstlichkeiten zur Verfügung für

Aufführung eigener Dramen, die auf ihr Spiel berechnet waren. An

großen katholischen Höfen dagegen wie in Wien und München übernahmen

die Jesuiten, die ihre eigenen Dichter hatten, mit prunkvollen

Spielen die Repräsentation des Hoftheaters. Während die englischen

Wandertruppen weiter in den großen Handelsstädten ihr Brot

suchten und auf der Frankfurter Messe die Nürnberger Handwerker

aus dem Felde schlugen, übernahmen deutsche Wandertruppen ihre

Nachfolge. Sie behielten auch den Spielplan bei, den sie mit Elementen

des Barockdramas, der commedia dell' arte und der Oper durchsetzten.

So entstand die „Haupt- und Staatsaktion“, deren Verwahrlosung

sich aus dem Mangel gesellschaftlichen Rückhaltes erklärt.

Erst als die deutschen Truppen des 18. Jahrhunderts sich in den

großen Handelsstädten seßhaft machten, schufen sie sich ein Publikum;

auch brauchten sie eigene Theaterdichter und bestellten klassizistische,

bürgerliche und Sturm- und Drang-Dramen bei Gottsched,

Lessing, Klinger und Schiller für Leipzig, Hamburg, Mannheim.

Der in Hamburg gescheiterte Gedanke eines Nationaltheaters

fand Aufnahme bei den Höfen, und die Münchener Akademie erließ

ein Preisausschreiben für Stücke aus der nationalen Geschichte, wodurch

eine Überschwemmung Bayerns mit Ritterdramen verursacht |#f0495 : 471|



wurde. Erst in Weimar wurde der klassischen Dichtung die Herrschaft

über das Theater erobert.



An dem Wege dieser Entwicklung haben fast alle Stände des deutschen

Volkes teil: Bauern und Handwerker, Bürger und Geistlichkeit,

Schule und Universität, Hof und Adel. Diese Vielfältigkeit der

Stände und Gesellschaftsschichten hat mindestens ebensoviel Bedeutung

für die Entwicklungsgeschichte des deutschen Dramas wie die

stammhaften Anlagen und landschaftlichen Verschiedenheiten oder

das Fortschreiten der Gattungstechnik. Nur hängt das Theatralische

mehr von der Gesellschaft ab als das Dichterische, das in der Stammesart

wurzelt. Die Gattung, die vom Strom der Zeit getragen wird,

erfährt ein rhythmisches Auf und Nieder im Wechsel dieser Einflüsse.

Die Geschichte des Dramas ist von der des Theaters nicht zu trennen,

und diese fällt in den großen Zusammenhang der Kulturgeschichte

und Soziologie. Deshalb liegen die Blütezeiten des Dramas in jeder

Kultur, ja bei jedem Volke in einem anderen Zeitpunkt: Griechenland,

China, Indien, Rom. Auch die Renaissance läßt die in Kulturgemeinschaft

lebenden europäischen Völker nacheinander in das Amphitheater

der großen Tragödie ihren Einzug halten: Italien, Spanien, England,

Frankreich, Holland, Deutschland, Skandinavien, Rußland. Man hat

diese Reihenfolge trotz aller gegenseitigen Beziehungen nicht als

Übertragung von einem Lande zum andern zu betrachten, sondern als

autarke Bewegung, die von geschichtlichen, politischen und sozialen

Entwicklungsbedingungen gefördert ist. Der Höhepunkt der dramatischen

Kunst ist nicht immer der Gipfel politischer Machtentfaltung,

aber immer mit politischem Aufschwung, Zielsetzung, Selbstbesinnung

und Kampfwillen verbunden. Müde und gesättigte Völker führen das

Drama zu keinem neuen Aufstieg.



Die erzählende Dichtung ist schon ihrer Form nach mehr

auf das vergangene Geschehen als auf zukunftträchtige Vergegenwärtigung

gerichtet. Aber die gesellschaftliche Abhängigkeit, die dem

Drama zuzuschreiben ist, hat in anderer Art auch für die Erzählungskunst

Geltung. Deshalb ist auch hier kein einheitlicher Zeitablauf

einer Entwicklung zu verfolgen. Gewisse technische Fertigkeiten, die

in allmählicher Entwicklung zur Aufnahme kommen, sind unleugbar,

und solche Fortschritte mögen sich in Wechselwirkung zwischen verschiedenen

Ländern vollziehen. Es gibt Übertragungen des Erzählungsstoffes

von Volk zu Volk durch Handel und Verkehr wie durch

Bildungseinflüsse. Daher könnte eine allgemeine Geschichte der erzählenden

Dichtung bei der unaufhörlichen Wanderschaft von Stoffen,

Fabeln und Motiven noch eher einen fortlaufenden Faden finden, als |#f0496 : 472|



die Geschichte des Dramas, bei dem das Stoffliche und seine Neuheit

nicht so wesentlich ist.



Obgleich die Stoffe des Dramas weniger erfunden als übernommen

werden, darf diese Gattung nicht allein unter dem Gesichtspunkt der

Wiedergeburt antiker Vorbilder betrachtet werden; der eigenständige

Ursprung aus Kult und Brauchtum jedes Volkes ist nicht zu übersehen.

Wo lägen nun aber bei einer Geschichte der Erzählungskunst

die Urformen, von denen der Ausgang zu nehmen wäre? Sie könnten

vielleicht als Typen erfaßt werden, aber schon ein Überblick über das

Gebiet der Märchenforschung zeigt, daß die inventarisierten Motive

verschieden zu lokalisieren sind und unter wechselnden kulturellen

Verhältnissen ihr Gesicht verändern. Es sind weit mehr Analogien

als Zusammenhänge erkennbar.



Zwar läßt Heldenlied und große Epik entfernter Völker, wenn sie

sich auf übereinstimmender Kulturstufe befinden, ohne zeitliche

Übereinstimmung oder Abhängigkeit einen Gleichschritt erkennen.

Das konnte, worauf schon im ersten Band (S. 8) hinzuweisen war,

zum Gegenstand paralleler Darstellung werden, nachdem schon

Frazer, Olrik, Heusler die typische Kulturstufe eines heroischen Zeitalters

charakterisiert hatten. Stets ist die Blütezeit des Epos ein

Rückblick auf große Taten.



Für Nordeuropa kehrten homerische Zeiten in der Völkerwanderung

wieder, die zugleich eine Dichterwanderung bedeutete, denn alle

Heldendichtung lag in den Händen von Berufssängern, die an den

Höfen ihr Brot fanden und im Umherziehen die Stoff- und Stilgemeinschaft

der germanischen Stämme aufrechterhielten. Europäische

Sonderentwicklung führt weiter zur Christianisierung, wodurch die

Klöster, die miteinander in Austausch standen, zu Dichtungszentren

wurden. Seit der Karolingerzeit kamen bestimmte landschaftliche Gebiete,

wie das fränkische, alemannische und bayrische, durch die

Kunst ihrer geistlichen Sänger zur Vormacht, während der niederdeutsche

Heliand-Dichter, dessen Heimat und Stand noch immer umstritten

ist, im Festhalten an den Stilmitteln der alten Epik abseits

steht. Spielleute erhielten indessen die Stoffe der Heldensage am

Leben und versetzten sie mit vielen aus dem Orient kommenden

Motiven. Das nahm ein Ende, als mit dem höfischen Roman der

Kreuzzugszeit eine neue Heldendichtung vor die herrschende Gesellschaft

des internationalen Ritterstandes tritt. Aber sie hat nur kurze

Dauer; die ritterlichen Ideale schwinden, die aristokratische Haltung

wird aufgegeben, die Form zerstört; der Widerhall einer höfischen

Hörerschaft verklingt. Mit der Verbreitungsmöglichkeit des Buchdrucks |#f0497 : 473|



tritt wieder eine neue Erzählungskunst vor ein neues Publikum,

und der Leserkreis teilt sich in verschiedene Bildungsschichten.

Der Prosaroman, in dem sich spätgriechische, morgenländische, ritterliche,

novellistische und Märchenelemente mit der Erzählungsform

der Volksbücher vereinigen, zeigt zwar im 17. Jahrhundert noch eine

sehr lebhafte Wechselwirkung der verschiedenen Länder in Übersetzung

und Nachahmung. Aber schon zeichnen sich die Charaktere

der Nationen deutlich ab: in der italienischen Novellistik; in der

spanischen novela picaresca; im utopischen Staatsroman, zu dem auch

„Robinson“ gerechnet werden kann, wie im bürgerlichen Familienroman

Englands; in der langatmigen galanten Geschichtserzählung

wie im kurzen psychologischen oder im sentimentalen Leidenschaftsroman

Frankreichs; und im abenteuerlichen Entwicklungsroman

Deutschlands. Alle diese Erzählungsarten spiegeln die verschiedenen

Staats- und Gesellschaftsformen ihrer Länder.



Die gesellschaftlichen Leser- und Bildungsschichten blieben außerdem

in jedem Lande getrennt, und zu den landschaftlichen Verschiedenheiten

kamen die religiösen: so fand der volkstümlich-realistische

Schelmenroman spanischen Musters zuerst im katholischen Süddeutschland,

der idealistische Geschichtsroman in Hofkreisen des protestantischen

Nordens Aufnahme. In humoristischer, empfindsamer

und romantischer Richtung wie im Zeitroman stellte sich während

des 18. und 19. Jahrhunderts wieder ein europäisches Gleichgewicht

her, aber der Sieg des Realismus ließ trotz gleichartiger Erzählungstechnik

und vermittelnden Übersetzergewerbes die Verschiedenheiten

des nationalen Lebensgehaltes immer mehr hervortreten. Wenn

schließlich der russische, der skandinavische, der amerikanische Roman

in den Vordergrund getreten sind, die alle von der Eigenart

ihrer Gesellschaftsverhältnisse und Lebensprobleme Zeugnis ablegen,

so war (wenigstens vor den großen politischen Umwälzungen dieses

Jahrhunderts) eine vergleichende Betrachtung des Gegenwartsromans

möglich, aber schwerlich die Darstellung einer fortlaufenden Entwicklung

der Gattung bis zur jüngsten Zeit.



Vollends eine allgemeine Geschichte der Lyrik, namentlich des

gesungenen Liedes, ist undenkbar; sie würde, wenn sie möglich wäre,

in das Gebiet der Völkerkunde und Völkerpsychologie fallen; ihre

Entwicklungsgeschichte müßte bei der Gegenwart beginnen, d. h. bei

den Gesängen der primitivsten Naturvölker unserer Zeit, wie sie noch

eben lebendig gehört und aufgenommen werden können. Von da aus

müßte sich die Darstellung in zeitlichem Krebsgang rückwärts bewegen

zur ältesten Überlieferung von Sprüchen und Arbeitsliedern |#f0498 : 474|



der Kulturvölker, um sich von da aus wieder vorwärtsschreitend zu

verzweigen zu den vollendeten Formen fernöstlicher, vorderasiatischer,

griechischer und nordeuropäischer Kunstlyrik, die sich ohne

gegenseitigen Zusammenhang zu ganz verschiedenem Charakter entwickelt

haben. Die Hexagramme des chinesischen Schi-King, die arabischen

Ghaselen, die alkäischen Oden, die italienischen Sonette, die

skaldischen Stabreime haben nichts miteinander zu tun. Die Übernahme

ihrer metrischen Gebilde, nicht ihres Lebensgehaltes in andere

Literaturen der Neuzeit wäre zu verfolgen und würde mit Rückkehr

in die Gegenwart einen zeitlichen Kreislauf, nicht eine geradlinige

Entwicklung zum Abschluß bringen. Auch da, wo man die Übernahme

einer Gattungsform aus einem Raum in den andern annimmt,

wie es bei der Hypothese eines arabischen Ursprungs des Minnesangs

der Fall ist, wäre ─ wenn es sich beweisen ließe ─ die höfische Gesellschaftsform

des Mittelalters in beiden Raumgebieten eine Voraussetzung.

Es ist also außer der räumlichen und zeitlichen Kategorie

auch hier wieder die dritte, nämlich die räumlich-zeitliche der Gesellschaft

in die Entwicklung einzuschalten. Nur durch solche

Vermittlung lassen sich Verpflanzungen dieser Art erklären.



Gerade das lyrische Gedicht ist im übrigen mehr als jedes andere

Kunstwerk in seiner intimsten Wirkung an den Boden, aus dem es

hervorsproßt, an den Raum, in dem es sich entfaltet, an artverwandtes

Gefühlsleben, in dem es Widerhall findet, an Melodie und

Rhythmus, in denen der Charakter der Landschaft und die Seele

des Volkes zum Klang werden, gebunden. Selbst das politische Zeitgedicht,

das den Spannungen der Stände, der Bekenntnisse, der

Völker entspringt, beschränkt sich in seiner Wirkung auf einen

Raum, und sei es auch der eines ganzen zeitbewegten Erdteils.



Wie wäre also eine andere Gattungsgeschichte denkbar als raumbedingte,

die als Längsschnitt durch eine nationale Literaturgeschichte

gelegt ist und die zeitbedingten Kapitel ihrer Entwicklung

unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse

durchläuft? Da würden allerdings einzelne Werke über die Bedeutung,

die ihnen im Rahmen der Literaturgeschichte zukommt,

hinausgehoben werden müssen, dann nämlich, wenn sie als Musterbeispiele

ihrer Gattung aufzufassen wären, deren Regeln, Gesetze,

Stil und Technik an ihnen in besonderem Maße sichtbar werden.

Lessings „Emilia Galotti“ verdient in einer Geschichte des deutschen

Dramas besondere Beachtung als Probe auf die Regeln der „Hamburgischen

Dramaturgie“ und ist innerhalb der Gattungsgeschichte

vielleicht bedeutsamer als das Lustspiel „Minna von Barnhelm“. |#f0499 : 475|



Ebenso verdienen Gustav Freytags „Fabier“, das mit dem Schiller-

Preis gekrönte, längst vergessene Musterdrama, als Beispiel für die

klassizistische „Technik des Dramas“ hervorgeholt zu werden, obwohl

es heute niemand mehr liest, geschweige denn spielt. „Die

Journalisten“, die weit lebenskräftiger geblieben sind, haben im

Kostüm des Biedermeier ihre Geltung mehr als Zeitstück wie als überzeitliches

Muster eines Lustspiels, wofür man sie früher gehalten hat.



Wie es seit Urzeiten an Homer und Vergil versucht worden ist, so

wurde „Hermann und Dorothea“ in Wilhelm v. Humboldts „ästhetischen

Versuchen“ zum Schulbeispiel klassischer Verstechnik erhoben.

In dieser Eigenschaft hätte Goethes idyllische Homer-Spiegelung

neben Vossens „Luise“ innerhalb einer Geschichte der deutschen

Versepik ─ die wir im übrigen nicht haben ─ Anspruch auf mindestens

ebensoviel Platz wie der sowohl in seiner literarhistorischen

und geistesgeschichtlichen Bedeutung wie an Umfang, Gehalt und

Stoff gewichtigere „Messias“ Klopstocks, der formal dem deutschen

Hexameter und inhaltlich der religiösen Empfindsamkeit Bahn

brach. Trotzdem dürfte dieses gewaltige Ereignis, obwohl vielfach

nachgeahmt, in einer Gattungsgeschichte nicht den beherrschenden

Platz einnehmen, der ihm in der Literaturgeschichte gebührt: die

Haltung des Dichters ist eben nicht durchaus die eines Epikers, was

sie bei diesem Stoff auch gar nicht sein kann, sondern mehr die eines

religiösen Lyrikers. Das war schon Schillers Urteil: „So ist mir die

Messiade als ein Schatz elegischer Gefühle und idealischer Schilderungen

teuer, wie wenig sie mich auch als Darstellung einer Handlung

und als ein episches Werk befriedigt.“ Damit ist zugestanden, daß

manches literarhistorisch bedeutsame Werk innerhalb einer Gattungsgeschichte

gar nicht seiner Wirkung entsprechend gewürdigt werden

kann.



Sehr richtig erklärt Friedrich Beißners „Geschichte der deutschen

Elegie“ es als Mißverständnis, in einer Gattungsgeschichte ausgewählte

Kapitel aus der allgemeinen Literaturgeschichte sehen zu

wollen: „Sie setzt ganz andere Akzente, da das Schicksal der Gattung

oft von Dichtern entscheidend gelenkt wird, die auf anderm Gebiet

überhaupt nicht hervortreten und deshalb von der allgemeinen

Literaturgeschichte nicht selten übergangen werden.“



b) Bedingtheit der Gattung



Nicht weniger als durch die räumlichen Begriffe Volk und Stamm

wird die Bevorzugung bestimmter Gattungen durch die jeweilige

Zeitlage und die allgemeinen Erlebnisse begünstigt. Die Behauptung, |#f0500 : 476|



daß jede Stammesanlage ebenso wie die Anlage jedes Dichters zu

einer bestimmten Gattung neige und unveränderlich auf sie festgelegt

sei, läßt sich nicht halten. Daß Grillparzer kein großer Lyriker werden

konnte, liegt weniger in seinem Österreichertum begründet, wie

behauptet werden konnte, als vielmehr in seiner Zeit. Von des

Minnesangs Frühling über Walther von der Vogelweide und Neithart

von Reuenthal bis zu Rilke, Trakl und Weinheber ist der Gegenbeweis

geführt gegen die Stigmatisierung einer auf das Dramatische

beschränkten Stammesanlage des Österreichers. Es gibt überhaupt

kein Volk ohne Lyrik, eher ein solches ohne Drama, wenn die religiösen

Voraussetzungen für theatralische Kultformen fehlen und

wenn das Schicksal nicht zu dieser Gattung drängt. Insbesondere

setzt die Tragödie tragisches Volksschicksal voraus. Deshalb wechselt

die Bedeutung der Gattung als Ausdruck nationalen Lebens. Niemals

hätte das kleine niederländische Volk (auch wenn es Seneca zum Vorbild

hatte) zur großen Tragödie der Vondel und Hooft gelangen

können, wenn nicht der politische und religiöse Freiheitskrieg des

vorausgehenden Jahrhunderts es erhoben hätte. Und wäre Norwegen

zur tragischen Dichtung Ibsens und Björnsons einfach durch den Anschluß

an gesamteuropäische Strömungen gelangt, wenn nicht ein

leidenschaftlicher Drang nach Freiheit und Selbständigkeit durch das

ganze Volk gegangen wäre?



Andere Völker zeigen die umgekehrte Folge der Erscheinungen.

Beim Überblick über die dramatische Produktion des Reformationszeitalters

hätte man für die Schweiz zu derselben Folgerung, die

fälschlich für Österreich angenommen wurde, nämlich der Verdrängung

des Lyrischen durch das Dramatische gelangen können.

Aber in unserer Zeit scheint diese Ader, die in den Reformationskämpfen

pulsierte, dort versiegt, während dem alemannischen Stamm

mit Pestalozzi, Gotthelf, Keller, Meyer, Spitteler, von den Lebenden

nicht zu reden, die Gabe des lehrhaften Erzählens angeboren scheint,

die sich im übrigen, wie an Keller und Meyer zu zeigen ist, mit der

des Lyrikers durchaus verträgt.



Die Zeit scheint für die Bevorzugung bestimmter Gattungen wichtiger

als der Raum: Zeiten gesteigerten Gefühlslebens schaffen sich

in der Lyrik, Perioden großer Erinnerung im Heldenepos, Spannungen

innerer Kämpfe und Gegensätze im Drama und in der Satire,

Perioden erwachenden Wirklichkeitssinnes im Roman ihren Ausdruck,

und friedlose Zeiten wenden ihre Sehnsucht der Idylle zu.

So geht durch jede Gattungsgeschichte ein schicksalsmäßiger Zug,

und der Wechsel des Übergewichts kann sich innerhalb eines Raumes |#f0501 : 477|



mit gewisser Regelmäßigkeit vollziehen, wenn die berufenen Vertreter

der Gattung, der das Wort der Zeit zufällt, zur Hand sind.

Denn für den einzelnen bleibt die typische Gattungsveranlagung Voraussetzung.

Man wird zum Dramatiker, Epiker oder Lyriker geboren,

und wenn die Entwicklung des episch oder lyrisch veranlagten Dichters

in eine Zeit dramatischer Konjunktur hineinwächst, so wird er

entweder von der bevorzugten Gattung sich fernhalten oder Dramen

epischen oder lyrischen Charakters schreiben. Ein allgemein gültiges

Gesetz im Geltungswechsel der Gattungen kann nicht erkannt werden.

Aus dem griechischen Paradigma darf man nicht schließen, daß

immer und überall auf ein episches Zeitalter ein lyrisches, auf dieses

ein dramatisches folge und ein didaktisches den Schluß bilde, wie es

Friedrich Schlegel mit seiner Aufeinanderfolge von dorischer, jonischer,

attischer und alexandrinischer Schule als Schema aufstellte.

Die Übernahme dieser Reihenfolge, die durch Ernest Bovet dem

Wechsel der Tageszeiten verglichen wurde, kann man für ein paar

Jahrhunderte der französischen Literaturgeschichte allenfalls gelten

lassen, aber keineswegs für die Dichtung aller Nationen. Noch

weniger ist die biologische Generationsfolge, in die Brunetière die

Gattungen bringen wollte, indem er sie dem menschlichen Lebensgang

der Geburt, des Wachstums, des Absterbens und des Todes unterwarf,

als ein literarhistorisches Gesetz anzuerkennen. Die Gattung ist kein

individuelles Lebewesen, sondern eine relativierende Anschauungsform

der Dichtung, die als Kennzeichen bei der Analyse des Einzelwerkes,

bei der Typisierung der Anlage des einzelnen Dichters, wie

bei dem ersten ordnenden Überblick über die gesamte Überlieferung

unentbehrliche Dienste tut, aber nicht als Grundstein und Pfeiler für

den Aufbau des Ganzen verwendbar ist.



c) Überwindung der Gattung



Es gibt Schöpfungen, die alle herkömmlichen Formbegriffe

sprengen, weil sie nicht ihresgleichen haben und wegen ihres Größenmaßes

und Tiefganges gar nicht durch das Schleusenwerk enger Gattungsbestimmung

hindurchzulotsen sind. Dantes „Divina Commedia“

bildet eine Gattung für sich, da sie trotz der Beschwörung Virgils

und der erzählenden Form weder als Epos noch ihrem Titel gemäß

als Drama noch in ihrem Visionscharakter als Lyrik zu bezeichnen

ist. Das Werk stellt in sich einen Kosmos dar und bringt den Geist

eines ganzen Zeitalters in höchster Verklärung zum Ausdruck. Von

da aus, mehr als vom persönlichen Erlebnis des Dichters, am wenigsten

aber von dem System textkritischen, genetischen, sprachlichen, |#f0502 : 478|



stilistischen, problemgeschichtlichen Begreifens, das am Ganzen nur

Einzelnes, am Einzelnen nicht das Ganze erfassen kann, ist solche

Symphonie in ihrem letzten Geheimnis als Einheit zu ergründen.



Nicht anders ist es mit Goethes „Faust“, auf den gleichfalls alle

drei Gattungsbegriffe angewandt worden sind, indem man diese Dichtung

als „die deutsche Göttliche Komödie“, als „l'épopée du siècle“

(Taine) und als das Hohelied der Menschheit bezeichnet hat. Im

Werden dieses einzigartigen Bekenntniswerkes konnte nicht nur die

ganze Lebensgeschichte seines Dichters aufgerollt werden, was Eugen

Kühnemann versucht hat, sondern es wurde danach durch Günther

Müller die ganze Stoff- und Gedankenentwicklung, die vom Volksbuch

zu Goethes Dichtung reicht, als eine „Geschichte der deutschen

Seele“ dargestellt. Und im Typus des „faustischen Menschen“, in

dem Oswald Spengler den Geist des Abendlandes charakterisierte,

war sogar ein weltgeschichtlicher Kulturkreis umschrieben. Ein

solches Werk trägt nicht allein den ganzen Dichter in sich, der ihm

seine Seele verliehen hat, es repräsentiert in seinem Werden und

vollendeten Sein zugleich die Gemeinschaft des ganzen Volkes, dessen

Stimmführer der Dichter geworden ist, ebenso wie der Geist seines

Zeitalters und der ganzen Menschheit in ihm wesend und wirkend zu

finden ist. Was hätte dabei der Gattungscharakter zu bedeuten?



Wenn die Form gewaltiger Schöpfungen so inkommensurabel sein

kann, begreift man den Widerspruch eines Philosophen wie Benedetto

Croce gegen die Gültigkeit aller kunsttheoretischen Einteilungen.

Gattungen sind keine Teilgebiete der Dichtung, aus deren Zusammenfassung

sich ihr Ganzes restlos begreifen ließe. Eher als von

den Gattungen könnte man sich von dem einzelnen großen Werk

zum Begriff der Dichtung hinführen lassen. Und doch ist an einer

einzigen Schöpfung, und sei es die allergrößte, das Wesen der Dichtkunst

überhaupt nicht erläuternd zu veranschaulichen. Das wäre nur

im Vergleich mit Nicht-Dichtung durchführbar, und damit käme man

wieder zur Analyse, die mit dem Vergleich zwischen Stoff und Ausführung

beginnt. Dabei würden nur Teilergebnisse für die Erscheinung

des Dichterischen zum Vorschein kommen.



Die Erscheinungsformen der Dichtkunst und ihre Möglichkeiten

sind zu reichhaltig und vielseitig, auch in ihren räumlichen und zeitlichen

Bedingtheiten zu verschiedenartig und in ihren Bedeutungswerten

zu ungleich, als daß auf induktivem Wege zu einem einheitlichen

Begriff gelangt werden könnte, geschweige denn, daß eine allgemein

gültige Formel aus irgendeinem einzelnen Werke abzuziehen

wäre. Das ist so wenig möglich wie aus der Beobachtung eines einzigen |#f0503 : 479|



Menschen das Wesen des Lebens zu erschließen. Durch seinen

Zusammenhang mit einem bestimmten Dichter, dessen Sprache, dessen

Denken, dessen Fühlen einer bestimmten Zeit und einem bestimmten

Volke angehört, bleibt der Charakter jedes Werkes individuell

oder darf als typisch gelten, aber es kann niemals generell allumfassend

sein. Wenn aber ein einzelnes Werk die Grenzen der

Gattung sprengt, so stellt es uns deshalb noch nicht das All der Dichtung

dar. Läßt es in der Vollendung seines Seins vergessen oder

gleichgültig werden, aus welchen Bedingungen es entstanden ist, so

hebt es in seiner Einmaligkeit doch nicht den organischen Werdegang

des Ganzen auf.



2. Dichtertypen



Wie die Werke nach Gattungen, so können die Dichter nach Typen

gruppiert werden, nur daß solcher Zusammenschluß nicht auf die

ohne weiteres sichtbare äußere Form sich gründet, sondern auf die

seelische Verschiedenheit des Schöpfertums, deren Ausdruck der Stil

ist. Wie die Gattungsbestimmung als Mittel der Werkanalyse (Buch I,

S. 120 ff.), so ist der Dichtertypus bereits (Buch II, S. 343 ff.) als

Hilfe für die Personalcharakteristik und Erkenntnis der dichterischen

Eigenart behandelt worden. Hier aber kommt es auf die Möglichkeit

einer gliedernden Zusammenfassung an.



Es ergibt sich dieselbe Frage, die für die Gattungen beantwortet

werden mußte: Sind die Typen Einheiten synthetischen Charakters,

mit deren Zusammensetzung wir das Ganze gewinnen können?

Typen werden durch vergleichende Analyse erkannt. Auch der Dichter,

der, wie schon im Eingang des 2. Buches (S. 277) und oben

(S. 466) gesagt wurde, eine Synthese darstellt, kann in seiner Einform

wieder Gegenstand der Analyse werden. Führt diese Analyse zum

Typus hin, so ist damit nicht gesagt, daß die so gewonnenen Typen

wieder zu einer neuen Synthese, die die Vollständigkeit aller denkbaren

und zu beobachtenden Typen als ein Ganzes ergibt, zusammenzuschließen

sind.



Das im 1. Buch (S. 111) aufgestellte Schema der Werkanalyse

klammerte den Dichter ein, weil sein Name und seine Person, falls

sie unbekannt sind, nicht mit Sicherheit auf analytischem Wege aus

dem Werk selbst festzustellen sind. Eher hätte an dieser Stelle das

Erlebnis eingesetzt werden können. Erlebnisse, deren Niederschlag

in dem Werk zu erkennen ist, können sogar zur Ermittelung des Verfassers

verhelfen, wie es bei Johann Beer der Fall war. (Buch I, |#f0504 : 480|



S. 102.) Fehlen alle Handhaben dieser Art, so können Sprache,

Mundart, Technik, Stil zu einer räumlichen und zeitlichen Einkreisung

führen, die zwar keine bestimmte Person erreicht, wohl aber

einen Typus, dem der Unbekannte zuzurechnen ist. Unbekannte

Dichter treten überhaupt nur als Typen vor uns, aber jeder Typus,

dem wir sie zurechnen, kann repräsentiert sein durch einen anderen

bekannten Dichter, von dem der unbekannte vielleicht abhängig ist,

mit dem er aber nicht bis zur Identifikation gleichgesetzt werden

kann.



Die Ermittelung eines Dichters kann schließlich über den erkannten

Typus zum Individuum führen. Umgekehrt kann die erkannte

Individualität einem Typus zugerechnet und dadurch in ihrer Wesensart

verstanden werden.



a) Typenreihen



Der Dichter steht in dreierlei Gestalt vor uns: als Mensch hinterläßt

er in jedem einzelnen seiner Werke persönlichen Lebensausdruck,

Selbstausprägung und ein Bekenntnis, das im Zusammenhang

mit seinem Dasein und dessen Geheimnissen begriffen werden muß;

als Ideenträger und Mittler erfüllt er den Auftrag seines Zeitalters

wie seines Volkes und steht sowohl wirkend als bewirkt, treibend und

getrieben, mitten in den Wirren der Zeit, die in seiner Dichtung

einen typischen Niederschlag finden; als Schöpfer gewinnt er in der

Gesamtheit des durch ihn Hervorgebrachten eine je nach seiner Bedeutung

dauernde Existenz, die von den Bedingungen des Werdens

losgelöst und vieler individueller Züge entkleidet ist. In der ersten

Gestalt ist er seinen eigenen Erlebnissen verpflichtet, die in der Vergangenheit

liegen; in der zweiten hat er sich vor der Gegenwart zu

verantworten, auf die er wirken will; in der dritten überantwortet er

sich der Zukunft, die über ihn das Urteil zu sprechen hat. Dieser

Weg bedeutet in zunehmender Entfernung von individuellem Erleben

und Zeitbedingtheit nicht nur Mythisierung, sondern auch fortschreitende

Typisierung.



Wie schon ein einzelnes außergewöhnliches Werk in Deutung und

Wertung Forschungsaufgaben stellen kann, die mit der Lotung unerschöpflicher

Tiefen ins Unbegrenzte übergehen und ein ganzes

wissenschaftliches Leben erschöpfen, so mag auch die überragende

Erscheinung eines großen Dichters ausschließliche Hingabe fordern

und im kultmäßigen Dienst zum Ausbau einer Eigenwissenschaft von

besonderen Maßstäben führen. Homer-Forschung, Shakespeare-

Forschung, Goethe-Forschung sind neben der Dante-Forschung Beispiele |#f0505 : 481|



für ein ausgefülltes Spezialistentum, das in der Größe des Individuums

seine Rechtfertigung findet. „Einen Einzigen verehren!“

rief Goethe aus im Hinblick auf William, den Stern der höchsten

Höhe. Für die Beschäftigung mit ihm selbst ist dieser Vers oft zum

Motto geworden.



Während nun aber die Goethe-Forschung durch übertriebenes

Augenmerk für biographische Einzelheiten sich Blößen gegeben haben

mag, kann bei der Hingabe an die andern genannten Dichter davon

nicht die Rede sein. Das Gedicht des jungen Fontane auf „Shakespeares

Strumpf“ war nur ein Spott über den in Leipzig beobachteten

Schillerkult. An Reliquien und Dokumenten des Shakespeareschen

Lebens haben wir wenig, und mehr ist über sein Menschentum aus

den Dichtungen zu erschließen. Die Verfasserschaft wird ihm von

manchen, die allerdings nicht gerade Shakespeare-Forscher zu nennen

sind, abgestritten. Ein witziger Kopf (war es der Amerikaner Mark

Twain oder der Ire Bernard Shaw?) soll dafür eine hübsche Formel

gefunden haben, Shakespeares Werke stammten nicht von ihm, sondern

von einem Manne gleichen Namens. Selbst wenn nachzuweisen

wäre, daß Bacon, Rutford oder ein anderer Großer der elisabethanischen

Zeit sich hinter dem Namen des Schauspielers versteckt

hätten, würde doch der Dichter der Shakespeareschen Dramen eine

lebendige Einheit bleiben, die unter diesem Pseudonym zu verehren

wäre; die Shakespeare-Gesellschaft brauchte ihren Namen nicht

zu ändern; die Existenz des größten dramatischen Genius der Weltliteratur,

die in dem Reichtum seiner Werke begründet ist, bliebe

unberührt.



Bei Homer liegt es noch anders; seine Person ist ein Mythos. Schon

im Altertum stritten sich Städte und Landschaften um seinen Ursprung;

im 18. Jahrhundert noch glaubte Alexander Pope aus seinen

Werken den Nachweis führen zu können, daß er unehelicher Herkunft

gewesen sei, und Wieland entgegnete darauf im „Teutschen

Merkur“: „Wir wissen soviel als gar nichts von seinen Lebensumständen;

aber wir haben das wodurch sein Leben allen folgenden Zeiten

ehrwürdig und wohlthätig worden ist, das wodurch er war was er war,

das worinn sein Genius, sein Herz, seine die ganze Menschheit, ja

(soweit es in seiner Zeit möglich war) die ganze Natur umfassende

Individualität ewig fortlebt, wir haben seine Werke ─ und in seinen

Werken ihn Selbst; was kümmert uns alles übrige?“



Nun ist neuerer Forschung auch die Individualität Homers zweifelhaft

geworden; die beiden großen Epen, die unter seinem Namen

überliefert sind, gehen schwerlich auf denselben Dichter zurück; |#f0506 : 482|



trotzdem bedeutet der Name als bewußte Synthese, als Prototyp des

archaischen Epikers eine unauflösbare Einheit. Der Typus hat die

Individuen verschlungen.



Aber ist ein Dichter überhaupt als Einzelner zu betrachten? In

einer neuartige Ausblicke eröffnenden Erörterung literaturwissenschaftlicher

Aufgaben und Gegenstände ist diese Frage kürzlich verneint

worden. Der Dichter könne als solcher überhaupt niemals ein

Einzelner sein, da ja schon seine Sprache allen, an die er sich wendet,

als ein Gemeingut gehöre. Deshalb könne er auch nicht einem einzelnen

Vorgänger verpflichtet sein. Der Schweizer Emil Staiger will

mit dieser Begründung den ärgerlichen Begriff des „Erlernten“ aus

der Schererschen Poetik und aus der Welt schaffen. Die Sprache ist

dafür allerdings nicht das glücklichste Beispiel, denn gerade sie ist

zum Erlernten zu rechnen. Erlernt nicht bei einem Einzelnen, sondern

durch Hineinwachsen in eine Gemeinschaft, die das Sprachvermögen

unzähliger Vorgänger vermittelt. Selbst der eigene Sprachschöpfungstrieb

des Kindes wird durch die Gemeinschaft in Familie

und Schule zunächst reguliert und eingeschränkt, ja oft erstickt, und

erst in einem weit späteren Lebensalter bricht der eigenwüchsige Charakter

wieder durch. Er ist dabei oftmals entbunden durch einen einzelnen

Vorgänger, dessen Richtung eingeschlagen wird, vielleicht

nur vorübergehend, solange das Erlebnis dieser Erscheinung einen

mächtigen Einfluß ausübt, oder dauernd, wenn in dem Vorgänger ein

innerlich verwandter Typus angetroffen wurde. Wenn das Erlernte

so verstanden wird, dürfte man ihm seinen Anteil, auch wenn er geringer

wäre als Scherer meinte, nicht streitig machen. Das erkennt

Staiger auch an, aber er scheut weiter nicht die Paradoxie, daß das

Frühere erst von der Höhe aus als Vorstufe verständlich werden

könne. Ohne weiteres mag das für die Sprachgeschichte gelten, da ja

jede Etymologie eine Frage nach den Vorstufen ist, um aus ihnen

den gegenwärtigen Wortsinn zu erklären. Auch für die Literaturgeschichte

ist es keine ganz neue Fragestellung, bezeichnete doch

schon vor vielen Jahren in Vorahnung volksbiologisch-organischer

Literaturbetrachtung Wilhelm v. Scholz die Erscheinung Johann

Christian Günthers als ersten Versuch der Natur, einen Goethe hervorzubringen.





Ebenso dürfte Immanuel Pyra als verfrühter Versuch, Klopstock

hervorzubringen, aufgefaßt werden oder Johann Elias Schlegel als

erster Anlauf des meißnischen Stammes, schon in der vorausgehenden

Generation zu einem Lessing zu gelangen. Lessing selbst hat sich in

der „Hamburgischen Dramaturgie“ auf die Übereinstimmung berufen, |#f0507 : 483|



ohne daß er sich einer Abhängigkeit von den lange nach Schlegels

Tod ans Licht getretenen Reformgedanken bewußt gewesen wäre.



Gerade die Dichter pflegen solches Gefühl für die Wiederkehr des

Gleichen in sich zu tragen. In Vorahnung eines Nachfolgers, der

seine Entdeckung im Reich der Kunst verwirklichen werde, schrieb

der Dichter des „Robert Guiscard“ am 5. Oktober 1803 an seine

Schwester Ulrike: „Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist,

und beuge mich, ein Jahrtausend im voraus, vor seinem Geist.“ Und

ungefähr ein halbes Jahrtausend zuvor sind die isländischen Sagas

entstanden, deren Wirklichkeitsauffassung nach Lugowski in Kleists

Erzählungen ihre Wiederauferstehung erlebt, ohne daß ein anderer

Zusammenhang nachzuweisen wäre als der des germanischen Lebensgefühls

und der volkhaften Erinnerung. Auf stilistische Übereinstimmungen

des Kleistschen Verses mit den Variationen und Verschränkungen

der altgermanischen Dichtung hatte ich schon vorher hingewiesen.

Solches Vorläufertum erfüllt eine Teleologie, indem immer

gerade die Kräfte vorhanden sind, denen eine bestimmte Sendung

auferlegt werden kann. Von den vielfältigen Typen, über die jedes

Volk und jedes Zeitalter verfügt, tritt in rascher Aufeinanderfolge

gerade der in den Vordergrund, dessen die Gesamtlage bedarf, um

eine Förderung zu erfahren.



Auf ähnliche Fälle der Anamnese stößt man an vielen Orten: Klopstock,

der mit Wiedererweckung der Bardendichtung auf falscher

Fährte war, kommt in seinen freien Rhythmen dem Wesen des germanischen

Versbaus unbewußt auf die Spur, während er des Glaubens

ist, die hebräischen Psalmen nachzubilden. Martin Opitz nimmt

als Reformator des deutschen Verses eine ähnliche Stellung ein wie

Otfrid von Weißenburg als Schöpfer althochdeutscher Reime, und

beide schicken ihrem Unternehmen die Frage voraus, warum allein

die deutsche Sprache den andern nicht ebenbürtig erachtet werden

solle. Hundert Jahre nach Opitz beginnt Gottsched sein vielverkanntes

Reformwerk mit demselben Blick auf überlegene Vorgänger und

mit der patriotischen Absicht, ihren Vorsprung auf Grund der richtigen

Regeln einzuholen. Grimmelshausen hat im Waldidyll des „Simplicissimus“

eine Begegnung mit Wolframs „Parzival“, ohne ihn zu

kennen, und bei Jean Paul tauchen wieder die märchenhaften Motive

weltentrückter Kindheit und des tumben Toren auf. Das typisch

Deutsche ist durch einen Vergleich Wolframs mit Chrestien, bei dem

das Waldidyll fehlt, Grimmelshausens mit Mateo Aleman, bei dem

wohl Einsiedler und hohler Baum, aber nicht die Naturstimmung

zu finden ist, oder Jean Pauls mit Lawrence Sterne zu erkennen.

|#f0508 : 484|



Mit dem Nationaltypus verbindet sich ein Schicksalstypus. So begrüßte

Daniel Schubart, der Gefangene von Hohenasperg, in Nikodemus

Frischlin den schicksalsgleichen Bruder seines Geistes, und

David Friedrich Strauß ging daraufhin von der Biographie des einen

Landsmannes zu der des andern über. Auch Georg Büchner wäre

schwerlich zur Abfassung seiner Lenznovelle gekommen, wenn er

nicht eine innere Gleichheit empfunden hätte, und es ist kein Zufall,

daß sich diese Wahlverwandtschaft im Naturalismus der neunziger

Jahre des vorigen Jahrhunderts fortsetzt, indem die ersten literarhistorischen

Bemühungen von Max Halbe und Gerhart Hauptmann

Lenz und Büchner zum Gegenstand hatten. So lassen sich durchgehende

Fäden im Gewebe der neueren Literaturgeschichte erkennen,

und man kann den Versuch machen, aus dem Gefüge des Ganzen bestimmte

Typenreihen herauszulösen.



Für eine wirklich organische Auffassung muß das Verhältnis

zwischen dem einzelnen Dichter und seinen Vorläufern ein wechselseitiges

sein. Er steht auf ihren Schultern; die Vorgänger bleiben

unter ihm und tragen ihn. Sie teilen ihm die Richtung ihres Strebens

mit, und er bringt zur Ausführung, was sie gewollt und nicht erreicht

haben. Oder er bleibt unter ihnen als Nachtreter, den die Lehre unselbständig

werden ließ, so daß er vergebens sich zur Höhe aufzuschwingen

sucht. Endlich kann er sich von dem Vorbild frei machen

und seinen Platz gegenüber den Vorläufern einnehmen, indem er mit

Bewußtsein zu ihnen in Gegensatz tritt. So ist Hardenbergs „Heinrich

von Ofterdingen“ aus einer Nachahmung Goethes zu einem Anti-

Meister geworden und Hauffs „Mann im Mond“ zu einer Parodie des

zuerst nachgeäfften Clauren. Das sind verschiedene Formen der Abhängigkeit

zwischen den Gliedern des Organismus, als welchen wir

die Nationalliteratur betrachten.



Verfolgt man weiter das von Staiger angewandte Gleichnis, das den

Samen nach der Blüte, aber nicht die Blüte nach dem Samen abschätzen

läßt, so müßte wiederum die Blüte entsprechend der Frucht

gewertet werden, soweit sie nicht fruchtlos verwelkt. Dann wäre es

durchaus sinnvoll, wenn der Dichter weniger nach seinen Vorläufern

als nach seiner Folgewirkung beurteilt würde; denn nach dieser bestimmt

sich der Platz, der ihm von der Nachwelt zugewiesen wird.

Seine Ernte ist es, wenn er sowohl in geschichtlicher Betrachtung als

in Abmessung seiner Bedeutung zur Einordnung gelangt in das Gesamtbild

der Dichtung seines Volkes, oder sogar der Dichtung der

Menschheit. Von den drei Gestalten des Dichters, die eingangs auseinandergehalten

wurden, ist die dritte die endgültige.

|#f0509 : 485|



Wenn Nachwirkung und Geltung, Dauer und Wert des Dichters als

seine eigentliche Existenz bezeichnet werden kann, so soll deshalb das

Werden aus Samen, Wurzel und Wachstum ebensowenig unbeachtet

bleiben, wie das unmittelbare Wirken, in dem das endgültige Sein

sich vorbereitet. Die Erscheinung jedes Dichters richtet ihren Blick

auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er ist Glied einer unendlichen

Kette, und damit geht seine individuelle Existenz in einem

größeren, ja in dem größten Zusammenhang auf.



Es kann aber zu einer neuen Vereinzelung kommen, die allerdings

nur scheinbar ist und partiell genannt werden muß, weil sie zwischen

Einheit und Vielheit vermittelt. Dies tritt, wie oben schon angedeutet

ist, dann ein, sobald von der Individualität des Dichters abgesehen

wird und er als Typus erscheint. Er kann als repräsentativer Vertreter

seines rassischen Erbteils, seiner psychologischen Anlage, seiner

Volks- und Stammesart, seiner Generation, seiner Gesellschaft, seiner

Geistesrichtung, seiner Stilform eingeführt werden. Dann steht der

einzelne für viele, die in bedeutenden Wesenszügen ihm gleich sind;

er wird aus dieser Gruppe als Stimmführer herausgenommen. Der

Dichtertypus gleicht dann dem künstlerischen Symbol, indem seine

Existenz eine ganze Kategorie versinnbildlicht, und diese Kategorie

gleicht wiederum der Dichtungsgattung, die sich am einzelnen Werk

veranschaulichen läßt.



Die Gleichheit, die eine Voraussetzung alles Typischen ist, läßt sich

entweder auf räumliche Gemeinschaft zurückführen, wie bei Rasse,

Volk und Stamm, oder auf zeitliche Zusammengehörigkeit, wie bei

Generation und Zeitgeist. Oder es tritt ein räumlich-zeitliches Zusammenwirken

in Kraft. So bei der Gesellschaft, die zugleich eine

Schicht des Volksganzen und eine zeitlich veränderliche internationale

Erscheinung darstellt; so beim Geist, der Nationen und Zeitalter,

räumlichen und zeitlichen Einheiten gemeinsam ist; so beim Stil, der

neben dem individuellen Personalstil in den Spielarten des wandelbaren

und in gewissen Zügen regelmäßig wechselnden Epochalstils

und des bei zeitlicher Veränderung doch im Kern unwandelbaren Nationalstils

uns entgegentritt. (Buch I, S. 197 ff.) Der Stil ist die greifbarste

Erscheinungsform der Geistesrichtung eines menschlichen

Typus, und der Typus ist gewissermaßen die allegorische Personifikation

eines Stiles, Zeiterscheinung und Raumerscheinung ergänzen

sich dabei und stehen in ständiger Wechselwirkung.



Im einzelnen Dichter kann man sogar verschiedene Typen repräsentiert

sehen, je nachdem sie in Raum, Zeit, Gesellschaft oder Stil-

und Geistesrichtung ihren Bereich haben. Je größer der Dichter ist, |#f0510 : 486|



desto weniger ist sein Stil auf eine einzige sich gleichbleibende Formel

zurückzuführen oder sein Wesen auf den Nenner eines einzigen

Typus zu bringen. Die Verschiedenheiten zeigen sich teils in Aufeinanderfolge

verschiedener Lebensstufen, denn je umfassender der

Mensch ist, desto mehr Umfang beansprucht der Spielraum seiner

Entwicklung; aber auch ein Nebeneinander verschiedener Typen ist

im Reichtum großer Gestalten zu erfassen. In Shakespeare z. B.

verbindet sich der Rassetypus des germanischen Dramatikers, der sich

bei Vergleich mit antiker Tragödie oder romanischem Klassizismus

herausstellt, mit dem Nationaltypus des Engländers wie mit dem Zeittypus

eines Dichters der Spätrenaissance, die bereits zur Barockzeit

übergeht. Auch kann in ihm nach Otto Ludwig der Typus des Sachdichters

im Gegensatz zum Ichdichter erkannt werden. Oder in Gemeinschaft

mit Molière der des schauspielerischen Dramatikers, von

dem Grillparzer sagte: „Shakespeare war in erster Linie Theaterdirektor,

aber weil er ein Genie war, ist er hinter seinem eigenen

Rücken der größte Dramatiker geworden.“ Das unvergleichliche

Genie schließt in sich eine Summe von Möglichkeiten typischer Entfaltung,

aber jede Einseitigkeit wird überwunden, je mehr die Individualität

alles Durchschnittliche übersteigt. So repräsentiert

schließlich die Vielfältigkeit seiner Gestaltungskraft ein ganzes Volk

und eine ganze Welt.



Wenn, wie oben gesagt, der Dichtertypus in gewissem Sinne dem

Gattungscharakter des Werkes entspricht, der gleichfalls durch die

Größe vielfältiger Entwicklung gesprengt werden kann (z. B. sind

Dantes „Göttliche Komödie“ oder Goethes „Faust“ weder auf lyrische

noch auf epische oder dramatische Gattungsbegriffe einzuschränken),

so verengt sich dieser Zusammenhang, sobald der Typus, dem der

Dichter zuzurechnen ist, einer bestimmten Gattung sich zuneigt. In

den Erzählungen Schillers, Kleists, Grillparzers, Hebbels schlägt der

Puls des Dramatikers, in den Dramen Otto Ludwigs, Paul Heyses,

Paul Ernsts der langsamere des Erzählers, und wenn Jean Paul, Adalbert

Stifter oder Wilhelm Raabe sich jemals im Drama versucht

hätten, so wäre es ihnen kaum anders gegangen als Gottfried Keller,

Theodor Fontane und Conr. Ferd. Meyer, deren dramatische Experimente

Fragment blieben.



Nun kann ein bestimmtes Werk in seinem Gattungscharakter ganz

besonders dem Typus seines Dichters entsprechen. Es würde in diesem

Fall für ihn charakteristisch sein. Typisch wäre es erst zu

nennen bei Gegenüberstellung mit dem Werk eines wesensverschiedenen

Dichters, das für diesen ebenso charakteristisch wäre als jenes |#f0511 : 487|



für den Typus des ersten. Durch den Vergleich erst würden die

beiden charakteristischen Werke typisch, indem sie die Verschiedenheit

ihrer Dichter hervorzukehren und damit deren Typen zur Schau

zu stellen hätten. Solcher Vergleich kann nur bei einer gewissen Ähnlichkeit

der Grundlagen fruchtbar werden.



Wir wählen als Beispiele zwei Dichtungen, die nach Gattung, Form

und Zeitalter ihrer Entstehung zusammengehören, nämlich Goethes

„Werther“ und Hölderlins „Hyperion“, den man nicht ganz zutreffend

als „griechischen Werther“ bezeichnet hat. Beide Werke

haben die gleiche Form des einseitigen Briefromans und liegen auf der

Grenze zwischen epischer und lyrischer Gattung. Wenn die Gegenüberstellung

allerlei Beobachtungen für die Feststellung von zwei

nicht allzuweit voneinander entfernten Dichtertypen ergibt, so ist

die Einschränkung zu machen, daß „Werthers Leiden“ nur für eine

bestimmte Lebens- und Schaffensperiode des jungen Goethe charakteristisch

ist, daß der zeitliche Abstand sich auf Hölderlins Seite als

Abhängigkeit auswirken konnte und daß räumliche Herkunft den

Schwaben vom Franken trennt, obwohl er sein Werk in der Nähe

Weimars begann und in Goethes Vaterstadt weiterführte.



Von diesen Umständen kann indessen bei einem Vergleich, der

auf Bestimmung des dichterischen Typus ausgeht, abgesehen werden.

Wir stellen zwei ähnlich aufgebaute Perioden einander gegenüber,

die aus gleicher Situation und Stimmung, aber ungleicher weltanschaulicher

Haltung verschiedene Gefühle sich entwickeln lassen:



[Beginn Spaltensatz]

Werther am 10. Mai



Wenn das liebe Tal um dich dampft,

und die hohe Sonne an der Oberfläche

der undurchdringlichen Finsternis meines

Waldes ruht, und nur einzelne

Strahlen sich in das innere Heiligtum

stehlen, und ich dann im hohen Grase

am fallenden Bache liege, und näher an

der Erde tausend mannigfaltige Gräschen

mir merkwürdig werden. Wenn ich das

Wimmeln der kleinen Welt zwischen

Halmen, die unzähligen, unergründlichen

Gestalten all der Würmchen, der

Mückchen näher an meinem Herzen

fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen,

der uns all nach seinem

Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden,

der uns in ewiger Wonne schwebend

trägt und erhält. Mein Freund,

[Spaltenumbruch]

Hyperion an Bellarmin



Und wenn ich oft dalag unter den

Blumen und am zärtlichsten Frühlingslichte

mich sonnte, und hinaufsah ins

heitre Blau, das die warme Erde umfing,

wenn ich unter den Ulmen und

Weiden, im Schoße des Berges saß, nach

einem erquickenden Regen, wenn die

Zweige noch bebten von den Berührungen

des Himmels, und über dem

tröpfelnden Walde sich goldne Wolken

bewegten, oder wenn der Abendstern

voll friedlichen Geistes heraufkam mit

den alten Jünglingen, den übrigen Helden

des Himmels, und ich so sah, wie

das Leben in ihnen in ewiger müheloser

Ordnung durch den Äther sich fortbewegte,

und die Ruhe der Welt mich

umgab und erfreute, daß ich aufmerkte

[Ende Spaltensatz] |#f0512 : 488|



[Beginn Spaltensatz]

wenn's denn um meine Augen dämmert.

und die Welt um mich her und Himmel

ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt

einer Geliebten; dann sehn ich

mich oft und denke: ach könntest du

das wieder ausdrücken, könntest du

dem Papier das einhauchen, was so voll,

so warm in dir lebt, daß es würde der

Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist

der Spiegel des unendlichen Gottes.

[Spaltenumbruch]

und lauschte, ohne zu wissen, wie mir

geschah ─ hast du mich lieb, guter

Vater im Himmel? fragt' ich dann leise,

und fühlte seine Antwort so sicher und

selig am Herzen.

[Ende Spaltensatz]



Beginnen wir mit dem Satzbau, so sind unter den drei mit „wenn“

eingeleiteten Bedingungssätzen Goethes die zwei ersten mit mehrfachem

„und“ weitergeführt, ohne zum Abschluß zu gelangen, während

der dritte die Lösung der Spannung bringt. Deutlich scheidet die

Dreigliedrigkeit stimmunggebende Landschaft, beseeltes Lebensgefühl

und versagenden Gestaltungsdrang. Hölderlins Periode ergibt ein

anderes rhythmisches Bild; ihr gleichmäßigerer Fluß ist durch vierfaches

„wenn“ im Aufgesang schneller emporgeführt, um dann mit

vierfachem „und“ sich zu verbreitern, zu verfließen und abzusinken.

Nicht der ferne Freund, sondern der immer nahe gute Vater im

Himmel wird gerufen, und das lösende „dann“ ist nicht Höhepunkt,

sondern abklingende Senkung. Das Zeitverhältnis ist ein verschiedenes:

bei Goethe ist alles einmalige Gegenwart, die schon hier im

Augenblick die Ewigkeit erfassen will; bei Hölderlin ist es stetig

schweifende Erinnerung. Im „Werther“ ist die Stimmung des

frischen Frühlingsmorgens einheitlich festgehalten, während Hyperions

Landschaftsbild in gleitendem Farbenwechsel sich entwickelt

vom heiteren Mittagsblau des Himmels über die vom Sinken der

Sonne vergoldeten Wolken bis zum Aufgehen des friedlichen Abendsterns,

der die mit heroischen Namen ausgezeichneten anderen Sternbilder

nach sich ziehen wird und das zur Ruhe gegangene Leben der

Erde in der ewig mühelosen Ordnung des Äthers sich fortbewegen

läßt. Bei Goethe führt der Weg zunächst von der großen Umgebung

zur Kleinwelt; durch das dampfende Tal und die undurchdringliche

Finsternis des Waldes stehlen sich einzelne Sonnenstrahlen und

lenken die Wahrnehmung auf die Halme und Gräser am fallenden

Bache; zwischen ihnen offenbart sich nun erst das Gewimmel der

Würmchen und Mückchen, deren Kleinleben die wirkende Gegenwart

des Allmächtigen, Alliebenden und Allerhaltenden gegenständlich

fühlen läßt. Die Empfindung Hölderlins schwingt sich dagegen

von der Beobachtung des Einzelnen, der Blumen und der noch

tröpfelnden Ulmen- und Weidenzweige empor ins Metaphorische und |#f0513 : 489|



Kosmische, um dann mit abgeschlossenem Kreislauf wieder im

eigenen gotterfüllten Herzen zu enden. Wenn „Werther“ sich wie

Ganymed emporgetragen fühlt zu dem alliebenden Vater, der der

Bildner des Universums ist, zieht Hyperion den himmlischen Vater

zu sich nieder. Die Sehnsucht des einen ist schaffensmutiger

Künstlerdrang nach dem Bild, das die Seele zum Spiegel Gottes werden

läßt; die des andern kehrt zurück zum kindlichen Gottempfinden

goldener Jugendzeit und friedlichen Naturlebens.



Beachten wir, daß bei Hölderlin das stillbewegte Pflanzendasein,

die Ruhe der Welt und die mühelose Ordnung des Himmels zu einem

makroskopisch ausgedehnten, bei Goethe das Gewimmel der

Mückchen und Würmchen zu einem fast mikroskopisch verengten

Gotteserlebnis führt, so offenbart sich auch ein grundverschiedenes

Verhältnis zur Natur, ein aufschauendes und ein eindringendes. Begegnet

bei Goethe im dampfenden Tal, in den sich stehlenden

Strahlen, im fallenden Bach die bewegende Kraft des Zeitworts,

bei Hölderlin im zärtlichen Frühlingslicht, im heitren

Blau, in der warmen Erde die Vorliebe für das malende Beiwort,

so kommt auch darin der Gegensatz zwischen aktivem Schöpferwillen

und hingebender Empfänglichkeit zum Ausdruck. Die Verba finden

wir bei Hölderlin mehrfach in Doppelformen angewandt, die alle

hastige Bewegung mäßigen und zum Ausgleich bringen, z. B. wenn

die „Ruhe der Welt mich umgab und erfreute, daß ich aufmerkte und

lauschte“. Bei Goethe tritt solche Doppelform nicht als Abschwächung,

sondern als eine für den Höhepunkt der Schilderung

aufbewahrte Verstärkung auf: „der uns in ewiger Wonne schwebend

trägt und erhält.“



Bei Anwendung der Leisegangschen „Denkformen“ würde Goethes

Vorstellungsfolge als kreisförmig, die Hölderlins als Kreis von Kreisen

sich erkennen lassen. Ebenso findet Diltheys Typologie mit der

Zuteilung Goethes an den „objektiven Idealismus“ und Hölderlins

an den „Idealismus der Freiheit“ in stilistischer Beziehung Bestätigung.

Aber dazu kommen Unterschiede des Temperamentes,

durch die das Typische differenziert wird: hier die aktive Dynamik

des fordernden Sturm und Drang; dort die anders geartete Empfindsamkeit

des beginnenden romantischen Zeitalters, das in sehnender

Rückschau die unendliche Harmonie glücklicher Kindheitsträume

sucht oder in passiver Ruhe der Wiederkehr goldener Zeiten entgegensieht.





Bei der von Hermann Nohl vorgenommenen Spaltung des Freiheitsidealismus

ist Hölderlin deshalb einem Typus der Versöhnung zugerechnet, |#f0514 : 490|



der von dem Verklärungstypus Schillers unterschieden

wird. Es käme nun darauf an, die verschiedene Haltung dieser beiden

Dichter in ihren Werken aufzuzeigen. Dilthey selbst hat in Hölderlins

Weltauffassung einen Panentheismus gesehen, der das Universum

durch eine von den Elementen der endlichen Wirklichkeit getrennte

göttliche Kraft hervorbringen läßt und den menschlichen Geist in

seiner unsterblichen Entwicklung über das endlich bestimmte Erdendasein

hinausführt. Diese Charakteristik gilt den Hymnen an die

Ideale der Menschheit, die nicht nur als melodischer Nachklang der

Schillerschen Jugenddichtung aufzufassen sind, sondern bereits den

eingeborenen Sinn für die Melodik der Sprache als Eigenausdruck

offenbaren.



Die Loslösung Hölderlins von Schiller ist seitdem durch Kurt

Wendt dargestellt worden an der Hand zweier Gedichte, die das

gleiche Thema, nämlich die Erziehung des Menschen durch die

Kunst, zum Gegenstand haben: „An die Muse“, und „Die Künstler“.

An Stelle der Diltheyschen Typologie treten da die kunstgeschichtlichen

Kategorien Wölfflins, mit deren Hilfe zwei verschiedene Stiltypen

charakterisiert werden, die flächenhafte und tektonisch geschlossene

Form Schillers und die mehrschichtige Tiefenhaftigkeit

und offene Atektonik Hölderlins. Nun ist Wölfflin oft mißverstanden

worden, als sei er auf ein allgemein gültiges Typensystem ausgegangen,

während er den geschichtlichen Vorgang veränderter Sehweise

im Übergang von Renaissance zu Barock erfassen wollte.

Bei Wendt ist die Anwendung ziemlich gezwungen, und es zeigt

sich die Mißlichkeit, literarische Vergleiche in das Prokrustesbett

eines aus anders geartetem Kunsterlebnis stammenden Schemas zu

pressen.



Unbefangener und vorurteilsfreier sind jedenfalls die Gegenüberstellungen

motivgleicher Gedichte, wie sie an verschiedenen Abendliedern

in eigenen Schriften von Lewandowski und Pfeiffer vorgenommen

wurden. Ein Vergleich zweier Gedichte von Eichendorff

und Mörike, wie ich ihn bereits im ersten Buch versuchte (S. 177 ff.),

ergab das Übergewicht des musikalischen Wohllautes auf der einen

Seite und der Bildhaftigkeit auf der andern. Solcher Einzelvergleich

bedürfte noch der Bestätigung durch weitere Gedichte derselben Verfasser,

um zu einer Typisierung erweitert zu werden, in die dann

auch andere Lyriker eingeordnet werden könnten.



Einen neuen Gesichtspunkt des Vergleiches bei Betrachtung

lyrischer Kunstwerke hat nun Emil Staiger in dem oben erwähnten

Buch eingeführt, indem er an Stelle der Weltanschauung die reine |#f0515 : 491|



Form der Anschauung und an Stelle des Diltheyschen Erlebnisbegriffes

den Heideggerschen Begriff der Zeit zur Geltung bringt.

Die „reißende Zeit“ bei Clemens Brentano, dem immer Hingerissenen,

der „Augenblick“ als die auf das Dauernde gerichtete Einbildungskraft

bei Goethe und die „ruhende Zeit“, die sich bei Gottfried

Keller in die Ständigkeit des Raumes auflöst, sind nicht nur in drei

beliebig herausgegriffenen Gedichten zu erleben, sondern dienen

zum Ausgangspunkt tiefdringender Wesensschau bei allen drei

Dichtern. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, drei allgemein

gültige Typen gegeneinander abzugrenzen, was möglich gewesen

wäre bei Gegenüberstellung der verschiedenen Welten des Klanges,

der Form und des Lichtes. Das sind die hauptsächlichsten Sinnesbereiche

dieser Dichter, die demnach als überwiegend musikalisch,

plastisch und malerisch aufgefaßt werden könnten. Aber indem der

eine als Romantiker, der andere als der Symboliker, der in Wissenschaft,

Kunst und Dichtung das Gesetz der Dinge sucht, der dritte

als Vertreter des Schweizer Geistes betrachtet wird, verteilt sich die

Verallgemeinerung auf die drei verschiedenen Ebenen der Generation,

des Stils und des Stammes, in denen jedesmal eine eigene Typologie

ihren Boden findet. Und obwohl die Reihenfolge weder durch Wertskala

bestimmt wird noch durch Chronologie (Goethe steht als Überwinder

der „reißenden Zeit“ in der Mitte), wird auf den Versuch

einer geistesgeschichtlichen Einordnung nicht verzichtet. Die Lebensfülle

der Charakteristik, die namentlich im Bilde Brentanos die individuellsten

Züge herausarbeitet, durchbricht allen Schematismus.

So darf dieses hochkultivierte, feinfühlige Buch, dessen drei Charakteristiken

ein auf andere philosophische Haltung gegründetes

Gegenstück zu den vier berühmten Diltheyschen Essays bedeuten,

als Anlauf, von abstrakter Typologie zu synthetischer Darstellung vorzudringen,

begrüßt werden.



Wenn der Verfasser bedauert, seine Schau nicht durch Heranziehung

weiterer Dichtungen verbreitern zu können, so bleibt allerdings

der Wille zur Typologie unverkennbar, und es erhebt sich die

Frage, welche weiteren Zeitformen der dichterischen Einbildungskraft

möglich wären. Ebenso bleibt zu beantworten, ob solche Typologie

sich, wie es im Falle Kellers geschehen ist, in eine Entwicklungsgeschichte

nach räumlichen und zeitlichen Kategorien einbauen läßt.

Ergänzend ist zu fragen, inwieweit Brentanos Eigenart durch sein

italienisches Blut bestimmt war und Goethes Einbildungskraft mit

seiner Generation übereinstimmt.

|#f0516 : 492|



b) Methoden der Typenbildung



Jede Typologie bleibt zahlenmäßig begrenzt und beginnt mit einem

ungleichen Paar, da der Typus zunächst an seinem Gegentypus zu

erkennen ist. Nach durchgeführtem Vergleich ergibt sich als logische

Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit die ergänzende Hinzuziehung

eines dritten Typus, der entweder eine Zwischenstellung zwischen den

beiden im Vergleich gewonnenen Gegensätzen einnimmt, oder ihre

Reihe fortsetzt, indem er den Gegensatz nach der einen Seite hin

steigert. Alle Typenbildung findet in der Dreizahl eine vorläufige

Abrundung. Wenn der dritte Typus C sowohl mit dem ersten Typus A

als mit dem zweiten B Gemeinsamkeiten teilt, die jeweils zu dem

andern in Gegensatz stehen, so werden durch seine Zwischenstellung

die Pole verbunden. Wenn aber der dritte Typus den Gegensatz verschärft,

indem er über einen der anfangs festgestellten Typen, sagen

wir A, in einseitiger Steigerung oder neuer Richtung weit hinausgeht,

dann kann das Gleichgewicht durch einen vierten (D) wieder hergestellt

werden, der die Übersteigerung des Typus B nach der anderen

Seite hin vollzieht. Es können sich also die zwei Reihen:

A C B oder C A B D ergeben.



Im einen Fall bleiben A und B die Extreme, die am weitesten voneinander

entfernt sind. Im anderen Fall können sich zwischen den

neuen Extremen (C und D) und den ursprünglich aufgestellten Gegensätzen

(A und B) bei Heranziehung weiteren Vergleichsmaterials

neue Zwischenstufen ergeben, so daß die Sechszahl erreicht wird in

der Reihe C E A B F D.



Oder es kann sogar, wenn jetzt erst das Mittelglied zwischen A und

B gefunden wird, ohne Zahlenmystik ein Siebengestirn aufleuchten:

C E A G B F D.



Solche Spaltung trat beispielsweise bei Weiterbildung der Diltheyschen

Weltanschauungstypen in Erscheinung (Buch II, S. 356). Ebenso

bei den Rutz-Sieversschen Schalltypen, die mit der Dreizahl begannen,

oder bei den Integrationstypen Jaenschs, die sich mit ihr

nicht begnügten. Zur Sechszahl gelangten Eduard Sprangers „Lebensformen“

in weitergreifender Ausdehnung der Strukturpsychologie auf

alle menschlichen Anlagen. Der eine seiner Typen, der uns hier

allein angeht, der des ästhetischen Menschen, ist wieder in drei Unterabteilungen

gegliedert, die des Impressionisten, des Expressionisten

und des dazwischenstehenden Klassikers. Der eine gibt sich

der äußeren Welt und ihren Eindrücken hin, der andere kommt den

Lebenseindrücken in ausströmender Gefühlswelt zuvor; beim dritten |#f0517 : 493|



harmoniert die Entfaltung des Ich mit Assimiliation der Lebenseindrücke.





Literarhistorische Beispiele für das Nebeneinanderbestehen dieser

drei Typen werden wir am besten in der Zeit der beginnenden

deutschen Klassik und der vorausgehenden Sturm- und Drangbewegung

finden. Soll zur Ergänzung der bisher aus Roman und

Lyrik gegebenen Proben auch einmal das Drama Berücksichtigung

finden, so ist es natürlich weit schwerer, auf motivgleiche Gegenbilder

zu kommen, die im kleinen Ausschnitt bereits eine Veranschaulichung

des ganzen Unterschiedes ermöglichen. Eine günstige Gelegenheit

bieten die zwei Rivalen Klinger und Leisewitz, deren Bruderzwistdramen

zu gleicher Zeit völlig unabhängig voneinander entstanden

und bei dem Hamburger Ausschreiben 1776 in Wettbewerb traten.

Beide Stücke gipfeln im Brudermord und im Gericht des Vaters, der

sein eigenes Geschlecht auslöschen muß, indem er selbst das Urteil

über den Mörder vollzieht. Der Unterschied liegt darin, daß bei

Leisewitz als Motiv der tragischen Verkettung die Liebe zu demselben

Mädchen vorherrscht, während bei Klinger außerdem das strittige

Recht der Erstgeburt die ungeheuerliche Tat des Zurückgesetzten erklärt.

Wichtiger für den Vergleich ist der Umstand, daß Leisewitz

mit ganzer Sympathie auf der Seite des Ermordeten steht, während

Klinger sich in die Rolle des Mörders einlebt und seine Tat durch

unbändiges Temperament, kraftstrotzende Wildheit und die unerträgliche

Benachteiligung verständlich macht. Das kann schon expressionistisch

genannt werden, wenn widernatürliches Handeln als Ausbruch

der eigenen Natur zu erklären ist. Man darf also sagen, daß

Leisewitz in seinem Helden Julius, Klinger dagegen, der „Löwenblutsäufer“,

wie er genannt wurde, in der Kraftnatur des Guelfo sich

selbst ausspricht. Es mögen demnach die zwei Liebesszenen einander

gegenübergestellt werden, in deren einer Julius seine ihm vorenthaltene

Geliebte im Kloster aufsucht, während in der andern Guelfo

die Braut des Bruders, die dieser eben heimgeführt hat, gewaltsam

in die Arme schließt.



[Beginn Spaltensatz]

Julius von Tarent II 2



Blanca: Lassen Sie mich, hören

Sie, die Glocke zur Hora läutet.



Julius: Aber ein Andenken deines

itzigen Standes mußt du mir geben. (Er

nimmt ihr den Rosenkranz von der

Seite.) Pfand der klösterlichen Liebe,

wie will ich dich schätzen ─ Mir für

[Spaltenumbruch]

Die Zwillinge II 5



Kamilla: Stehn Sie auf! Wir können

uns unmöglich wiedersehen, das ich

doch wollte.



Guelfo: Das war Kamilla! Da entquillt

ihren Lippen Erquickung, daß

sich Ritter Guelfo aufrichten kann! Oh,

Kamilla kann einen aus Todesschlaf
[Ende Spaltensatz] |#f0518 : 494|



[Beginn Spaltensatz]nichts feil, als deinen ersten Morgenkuß

an unserm Hochzeitstage; dafür

kannst du ihn einlösen, und alsdann soll

er dein bestes Hochzeitsgeschmeide sein.



Blanca: Mein Hochzeitstag ist

schon gewesen.



Julius: Zerreiß deinen Schleier,

Blanca ─ ich will den großen Streit

mit dem Himmel wagen ─ Ich weiß,

du liebst mich, aber ich muß es jetzt

aus deinem Munde hören ─ ich beschwöre

dich bei den Tagen der Freude,

die vorbei sind, und die kommen sollen,

versichre es mir noch einmal. (Er küßt

sie.)



Blanca: Abtissin ─ helfen Sie mir.

(Sie wird ohnmächtig.)



Julius: Sie liebt mich. Sehen Sie,

Abtissin, das ist eine Versicherung,

unsrer Liebe würdig, sie liebt mich

wahrhaftig ─ und wenn ein Engel seinen

Finger auf das Buch des Schicksals

legte und schwöre: Blanca liebt Julius,

so wäre es für mich nicht wahrhaftiger.



Abtissin: Ich bitte Sie, verlassen

Sie uns.



Julius: Erst will ich diese göttlichen

Augen wieder offen sehen ─

(Blanca schlägt die Augen auf). Es ist

genug ─ Abtissin, ich danke Ihnen ─

winselnd sehen Sie mich nicht wieder.

(Ab.)

[Spaltenumbruch]

wecken, kann einen umwenden mit

einem Blick! Nun ist mir doch gar

wohl.



Kamilla: Und Tränen im Auge?



Guelfo: Sehen Sie das? Pfui,

Guelfo! sei Mann! folg' dem Bescheid!



Kamilla: Kommen Sie ans Fenster!

Es ist prächtig Abendrot; die Sonne

geht herrlich unter. Freuen Sie sich

doch mit mir!



Guelfo: Die letzten Sonnenstrahlen

durch die Bäume her ─ Ich möchte

mich in die Feuerhelle dort schwingen,

auf jenen Wolken reiten mit vergoldetem

Saume! ─ Kamilla! (Faßt sie an

die Hand.) Ach! und ich bin wieder so

hin ─ ich möchte diese Feuerwolken

zusammenpacken, Sturm und Wetter erregen

und mich zerschmettert in den

Abgrund stürzen! ─ Kamilla! Kamilla!

Kamilla! (Küßt sie heftig.)



Kamilla: Guelfo! Guelfo! Lassen

Sie mich! Heda!



Guelfo: Schrei nicht! Und noch

einen! und noch einen! ─ Ha! so der

letzte Kampf! ─ Zu deinen Füßen gestreckt

─ bleib! bleib! ich geh'! ─

Schrei nicht, Kamilla! Ritter Guelfo

heult; und wenn er heult, heult Lieb'

aus ihm.

[Ende Spaltensatz]



Die impressionistischen Züge des „Julius von Tarent“ liegen in der

Klosterstimmung, in der Symbolik des Rosenkranzes und des

Schleiers, in der Teilnahme der Äbtissin, die selbst seit Jahrzehnten

verlorener Liebe nachtrauert (bei Klinger beklagt dagegen Guelfos

Vertrauter Grimaldi eine dahingegangene Juliette); dazu gehört endlich

das zarte Bild des Engels, der seine Finger auf das Buch des

Schicksals legt. Es ist ein unpersönlich harmonisches Eindrucksbild,

während Klingers Gleichnisse ichbetonte Metaphern des eigenen

Seelenzustandes darstellen. Wenn Leisewitz durch die Liebe vergangene

Tage der Freude zurückrufen läßt, so gibt Klingers vorwärtsstürmende

Rhetorik ihr die Kraft, aus dem Todesschlaf zu

wecken. Das Naturbild des herrlichen Sonnenuntergangs wird gewaltsam

gesteigert in der ausströmenden Leidenschaftlichkeit des |#f0519 : 495|



weltverachtenden Liebhabers, der sich als Reiter auf die Wolken

schwingen und mit ihnen, zu Sturm und Wetter geballt, in den Abgrund

stürzen möchte.



Als Gegensatz finden wir ein lieblich ausgemaltes Landschaftsbild,

das dem Natursinn des Impressionisten Leisewitz entspricht, an einer

anderen Stelle. Wir können ihr nun gleich das Beispiel eines dritten

Sturm- und Drangdramas, das Bruderzwist zum Thema hat, aber Brudermord

vermeidet, entgegensetzen. Die monologisch gesprochenen

Worte Karl Moors an der Donau, da er die Sonne sinken sieht, als

sterbe ein Held, vergleichen wir mit dem Monolog des Julius vor

dem Abschied von der Heimat:



[Beginn Spaltensatz]

Julius von Tarent IV, 1



Nie dich wiedersehn, Tarent, nie wieder

die Sonne hier heller scheinen und

die Blumen frischer blühen sehen als an

jedem andren Orte.



Und ihr Freuden der Rückkunft,

bestes Produkt des mütterlichen Landes,

ich werde für euch tot sein ─ nie das

Jubelgeschrei des Schiffsvolks hören,

wenn es diese väterliche Küste sieht ─

nie in einer Abendsonne die Türme von

Tarent wieder glänzen sehn und mein

Pferd schärfer spornen.



Niemals werde ich wieder in diesem

Saale alles, was ich liebte, an einem

Tische versammelt finden, nie wieder

hören, daß mein Vater spricht: Gott

segne euch, meine Kinder!



Und alle diese Bande, die ich zum

Teil eh'r trug, ehe ich die Welt betrat,

zerreiß' ich um eines Weibes willen ─

um eines sterblichen Weibes willen ─

nein, nicht für ein sterbliches Weib, für

dich, Blanca, du bist mir Vaterland,

Vater und Mutter, Bruder und Freund.

[Spaltenumbruch]

Die Räuber III, 2



Meine Unschuld! Meine Unschuld! ─

Seht! es ist alles hinausgegangen, sich

im friedlichen Strahl des Frühlings zu

sonnen ─ warum ich allein die Hölle

saugen aus den Freuden des Himmels?

─ daß alles so glücklich ist, durch den

Geist des Friedens alles so verschwistert!

─ die ganze Welt Eine Familie

und ein Vater dort oben ─ Mein

Vater nicht ─ Ich allein der Verstoßene,

ich allein ausgemustert aus den

Reihen der Reinen ─ mir nicht der süße

Name Kind ─ nimmer mir der Geliebten

schmachtender Blick ─ nimmer,

nimmer des Busenfreundes Umarmung!

(Wild zurückfahrend.) Umlagert von

Mördern ─ von Nattern umzischt ─

angeschmiedet an das Laster mit eisernen

Banden ─ hinausschwindelnd ins

Grab des Verderbens auf des Lasters

schwankendem Rohr ─ mitten in den

Blumen der glücklichen Welt ein heulender

Abbadona!

[Ende Spaltensatz]



Wenn man Schillers Bruderzwistdrama zwischen die beiden Vorgänger

stellt, so ist der Dualismus von impressionistischer und expressionistischer

Stimmung ebenso charakteristisch wie der Kontrast

zwischen dem Frieden der Natur und den Stürmen des Innern. Die

Anlage zum späteren klassischen Stil aber zeigt sich in der Gewichtsverteilung

zwischen Spiel und Gegenspiel: während bei Leisewitz und

Klinger die zweiten Brüder, sowohl der wilde Guido als der milde |#f0520 : 496|



Ferdinando, blaßgezeichnete Folien bleiben, springen sich in Karl

und Franz Moor zwei gleichmäßige Gestalten an, der erhabene Verbrecher

und der niedrige, und die zwei Weltanschauungen des Idealismus

und des Materialismus, die durch sie in Kampf treten, geben den

Charakteren symbolische Bedeutung. Diese weltanschauliche Antinomie

entspricht nicht der Einseitigkeit des Sturm und Drang.



In Klinger und Leisewitz nehmen zwei verschiedene Dichtertypen

an der Bewegung teil, in der eine empfindsame und eine gewaltsame

Spielart des Geniewesens auftritt. Während bei Goethe ganymedisches

und prometheisches Verhalten sich ergänzen, bilden sie hier

einen Gegensatz. Nehmen wir Schiller hinzu, so finden wir drei

verschiedene Entwicklungsstufen des deutschen Dramas vertreten:

der Impressionist Leisewitz, der noch an Lessing anzuknüpfen ist,

gehört zur Vorstufe des Sturm und Drang und hat seinen Gipfel

nicht erreicht; der von Shakespeares Feuer und Urkraft entzündete

explosive Expressionist Klinger ist über den Sturm und Drang nachmals

hinausgekommen und hat in späterer Abklärung als Medeadichter

zum Stoffkreis der Antike gefunden. Trotzdem wurde er kein

Klassiker. Die Entwicklung Schillers aber ist den schon in den

„Räubern“ vorgezeichneten Weg weiter gegangen. Don Carlos sollte

als Held Blut und Nerven des Julius von Tarent mitbekommen; dann

erhielt in der Spannung zwischen Vater und Sohn der Realpolitiker

Philipp II. das Übergewicht, und in der dritten Arbeitsphase tritt die

realidealistische Gestalt des Marquis Posa beherrschend in den Vordergrund.

Das ebenbürtige Gegenspiel von Realismus und Idealismus

liegt weiter als Spannungsmoment zwischen Wallenstein und Max

Piccolomini, zwischen Elisabeth und Maria Stuart, zwischen Talbot

und Johanna und begegnet zum letztenmal in den feindlichen Brüdern

von Messina und den ihnen zugeteilten Chören. Damit gelangt

das Bruderzwistthema des Sturm und Drang zur antikisierend-klassizistischen

Gestaltung, die als extremer Stilgegensatz sowohl dem

Julius von Tarent, mit dem die Fabel mehr Ähnlichkeit hat, gegenübergestellt

werden kann als den „Zwillingen“, denen der tragische

Ausgang in der Bereitschaft des Schuldigen, über sich selbst Gericht

zu halten, näher kommt.



Schiller repräsentiert aber wieder einen andern Typus des Klassikers

als Goethe. Wenn er als Dramatiker dem Expressionismus

näher steht, so zeigt seine Lyrik mehr rationale Elemente. Wo die

Gemeinschaft beider in engster Zusammenarbeit erscheint, ist der

Unterschied ihrer Wesensart am deutlichsten zu erkennen: in den

Balladen. Da begegnen sich im Totenspuk der „Braut von Korinth“ |#f0521 : 497|



und in der sonnenklaren Moral der „Kraniche des Ibykus“ irrationale

und rationale Einstellung, und wenn man noch eine frühere Ballade

Goethes hinzuziehen darf, so erscheint die gänzlich verschiedene

Haltung gegenüber dem Naturelement, dessen magische Anziehungskraft

den Fischer willenlos zu sich niederzieht, während der Taucher

in Erhabenheit die brandende Gewalt überwindet und erst beim zweitenmal

ihr erliegt. Damit wäre ein impressionistisches oder expressionistisches

Übergewicht auch in der Klassik zu unterscheiden.



Wie der Typus des Klassikers, so würden sich auch Impressionist

und Expressionist, die bei Spranger Untertypen des ästhetischen

Menschen sind, in neuen Spaltungen verdoppeln und immer weiter

differenzieren lassen. Aber mit jeder Vermehrung würde der Wert

einer ordnenden Übersicht sich verwaschen und verlieren. Das Streben

nach einer Vollzähligkeit der Typen, die in Erschöpfung aller

Möglichkeiten sich zum Kreis rundete, widerstreitet dem Vorteil

klarer Sonderung und Vereinfachung. Diese bleibt in ihrer Bestimmtheit

ein Hilfsmittel zur Charakteristik des Einzelnen, aber sie kann

nicht eigentlich zum Gerüst synthetischen Aufbaus für das Ganze werden.

Immerhin ist der Versuch, einen geschichtlichen Rhythmus der

Ablösung zwischen den einzelnen Typen herzustellen, öfters unternommen

werden.



c) Geschichtliche Typenfolge



Eine der ersten und folgenreichsten Typologien der Dichtung war

Schillers Unterscheidung zwischen naiv und sentimentalisch. Es ist

lehrreich zu sehen, wie die Grenzen der Anwendbarkeit dem Verfasser

während seiner Arbeit selbst zu Bewußtsein kamen. Der Ausgangspunkt

war, wenn wir dem Gang der Abhandlung folgen, die

Selbstanalyse, die das eigene Interesse für die Natur als ein moralisches,

auf eine Idee gegründetes erkannte. Wenn nun in Auseinandersetzung

mit Kant dem Naiven der Überraschung ein Naives

der Gesinnung gegenübergestellt wurde, so schien dies zweite vorwiegend

im Menschen des Altertums vertreten. Damit bereitet sich als

Ergebnis vergleichender Analyse, bei der z. B. Goethes Werther dem

Sauhirten Homers entgegentritt, die Bezeichnung der antiken Dichtung

als naiv, der der modernen als sentimentalisch vor.



Als Entwicklung vom Altertum zur Neuzeit zeichnet sich also der

Weg vom Naiven zum Sentimentalischen ab. Aber schon wird mit

der Bemerkung, daß jedes wahre Genie naiv sei, dieser Aufbau erschüttert.

Shakespeare und Molière sind naive Dichter und Goethe

soll, gerade im „Werther“, naive und sentimentalische Züge vereinigen. |#f0522 : 498|



Der geschichtliche Gang wird abgebogen zugunsten der

Gegenwartsaufgabe einer Überbrückung der Gegensätze. Der Rangstreit

der Alten und Modernen muß fallen, wenn beide Dichtertypen,

der naive und der sentimentalische, unter einem „gemeinschaftlichen

höheren Begriff“ verglichen werden. Ein dritter Typus, der in der

deutschen Klassik sich herausstellen soll, wird in dialektischer Synthese

programmatisch konstruiert.



Aber nun tritt wieder die Analyse in Erscheinung: neben die

Selbsterkenntnis des sentimentalen Dichters Schiller, der nach naiven

Stoffen zu suchen sich vornimmt, tritt die Analyse Goethes, der sentimentalische

Stoffe mit naiver Kunst behandelt. Es kommt also auf

die Selbstbehauptung sowohl der neueren Dichtung gegenüber der

Antike als auch des Dichters Schiller gegenüber seinem großen Nachbarn

an. Schließlich kehrt nach Betrachtung verschiedener Gattungen,

die sowohl naive als sentimentalische Empfindungsweise ausdrücken

können, die Abhandlung wieder zu einer moralischen Betrachtung

zurück. Wird von dem naiven und sentimentalischen Charakter

das abgesondert, was beide Poetisches haben, dann bleiben im

praktischen Leben die zwei Klassen des Realisten und des Idealisten

übrig, deren Unterschied jetzt nicht mehr durch das Verhältnis zur

Natur, sondern durch den Gegensatz von Natur und Vernunft bestimmt

ist. Es ist nicht mehr die Rede davon, daß diese beiden Typen

im höheren Begriff des Dichters zusammenfallen, daß der Gang der

Dichtung entwicklungsmäßig durch sie bestimmt sein könnte oder

daß naive und sentimentalische Dichtung in ihrer Vereinigung den

höheren Begriff, den Inbegriff der Dichtung überhaupt, repräsentierten.

Es ergibt sich letzten Endes, daß nicht die Dichtung, wie

nach dem Titel anzunehmen war, in Typen aufgeteilt werden kann,

sondern daß solche Gruppierung unmittelbar nur den Menschen

und insbesondere den Dichtern zukommt.



Bei einem Dichter unserer Zeit, in Erwin Guido Kolbenheyers

„Bauhütte“, findet sich ein ähnlicher Ansatz zu entwicklungsmäßiger

Periodisierung nach zwei sich ablösenden Typen. Wenn sie als Idealisten

und Naturalisten auseinandergehalten werden, kann man eine

Weiterführung der Schillerschen Reihe sehen, insofern der Naturalismus

in seinem Verhältnis zur biologischen Wirklichkeit die naive

Bejahung des organischen Lebensbewußtseins wieder aufnimmt,

während der Idealismus ungefähr dieselbe Rolle spielt, die bei

Schiller dem sentimentalischen Menschen zufiel.



Es handelt sich bei Kolbenheyer um Denkformen, nicht um Dichtungsformen.

Nicht bis Sokrates und den Vorsokratikern wird die |#f0523 : 499|



Kurve der Entwicklung zurückgeführt, sondern von Descartes, der

an den Anfang des neuzeitlichen Idealismus gesetzt wird, bis zu Ernst

Mach, der die Auflösung bedeutet, reicht der Überblick über die

idealistischen Denkertypen. Bei Goethe taucht in den Jahren seiner

Vollkraft bereits ein Vorgefühl für die Schwelle der kommenden

Zeit auf und eine Vorahnung des biologischen Naturalismus und

seiner Anpassungsformen, die den Bauplan der Gegenwartsmetaphysik

bilden. Trotz des Übergangs über die Schwelle wird nun aber

doch eine als Logochorismus bezeichnete gegenseitige Ergänzung und

Anregung der formlogisch-idealistischen und der inhaltslogischnaturalistischen

Denkartung als notwendig anerkannt, wobei der

Idealismus sein funktionelles Übergewicht in Zeiten verhältnismäßiger

Anpassungsruhe, der Naturalismus in Zeiten verhältnismäßiger

Anpassungsbewegtheit findet. Also wird mit mehrfachem

periodischem Wechsel gerechnet. Es kommen aber beide Typen nicht

nur in wechselndem Nacheinander, sondern auch nebeneinander vor,

genau so wie Schiller zwischen den Gegensätzen des Naiven und

Sentimentalischen, aus denen er die Charaktertypen des Realisten

und des Idealisten ableitete, ein ständiges Gleichgewicht hergestellt

hat. Bei Kolbenheyer scheidet sich der Typus des Tat- und Willensmenschen

von dem des Geistesmenschen logisch-ordnender Funktion.

Wie nun Schillers Stellungnahme als Selbstbehauptung des sentimentalisch-idealistischen

Typus gegenüber dem naiv-realistischen aufzufassen

ist, so fehlt auch dem Naturalismus Kolbenheyers nicht der

persönliche Bekenntnis-Charakter. Wenn Schiller von der Dichtung

zum Menschen absteigt, so nimmt Kolbenheyers biologischer Weg in

umgekehrter Richtung vom niedersten Lebewesen den Ausgang und

kann vom Menschen zur Dichtung weitergeführt werden. Wenigstens

ist in einer anderen Schrift des Dichters dem Naturalismus das Verdienst

zugesprochen, den Roman zur Dichtung erhoben zu haben.



Vor allem aber wird dem Naturalismus die Erkenntnis der biologischen

Gründe für die Notwendigkeit wachsender Typisierung der

Einzelwesen unter immer weiter umfassender überindividueller

Funktion zugesprochen. Wenn als Organ der in Entfaltung begriffenen

polytypen Individuation das Gehirn des Menschen gilt und von der

funktionellen Durchbildung der Gehirne der Bestand eines Volkes

und einer Rasse abhängig gemacht wird, so soll damit nicht gesagt

sein, daß erst die Anatomie der Großhirnrinde über den Typus eines

Dichters Aufschluß geben könne. Aber wohl wird der biologische

Grund der menschlichen Typenbildung in erbmäßigen Reaktionsbedingungen

gesucht, „die der aktiv-bewußten Anpassung der Individuen |#f0524 : 500|



erst ihre typische Richtung geben“. Hier ist ein Sprung

gemacht von der grundlegenden Plasmogenese des tierischen Lebens

zum entwickelten Menschen, der, wie man gesagt hat, ins Überbiologische

hineinreicht. Zwar müssen wir uns daran gewöhnen, daß Wille,

Geist, Bewußtsein und Seele durch den Naturalismus als idealistische

Hypostatik verworfen und durch Ordnungsvorstellung, Reaktionsablauf

des Organismus, Differenzierungsstufe der plasmatischen Individuation

oder Anpassung des Erregungssystems an das lebendige

Plasma ersetzt werden, aber wenn auch der einzelne Kulturmensch

nur als ein ephemerer Funktionsexponent des überindividuellen

Plasmalebens aufgefaßt wird, so bedeutet das persönliche Schaffen

des einzelnen Dichters und das Entstehen des einzelnen Werkes doch

eine Absonderung, deren psychologischer Vorgang durch eine Reihe

von allgemeinen Faktoren bedingt sein kann. Wenn Geistesrichtung,

Lebenshaltung und ethischer Charakter biologischen Sinn nur als ausgebildete

nervöse Erregungssysteme erhalten, so müssen deren Ursachen

gesucht werden. Wenn typische Familien-, Standes-, Stammes-

und Volksreaktionen als Erbdispositionen erklärt werden, die unter

aktiver Anpassung zur Funktion gelangen, so wäre diese Skala weiterzuführen

zu rassischen Reaktionen, die in den Völkern sich auswirken.

Werden nun aber die Probleme der Erbsubstanzen einer

Spezialforschung überlassen, die sich abschließen darf, aber noch

nicht abgeschlossen ist, so bleibt eine Lücke in bezug auf die rassische

Individuation, die der biologischen Typenbildung zugrunde liegen

müßte.



Die Brücke zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist

hier noch nicht geschlagen. Von beiden Seiten sind Versuche gemacht

worden, etwa in der Konstitutionslehre Kretschmers, in der

Integrationspsychologie Jaenschs, in der Claußschen Rassenpsychologie

und in der stammeskundlichen Literaturgeschichte Nadlers, ohne

daß der Versuch gelungen wäre, naturwissenschaftlich-biologische und

geistesgeschichtliche Typen endgültig zur Deckung zu bringen.



d) Rasse- und Schicksalstypen



Schiller war von der Kulturkreislehre Herders, die im kurz vorausliegenden

vierten Band der „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte

der Menschheit“ auf die hellenische Kultur zurückblickte,

nicht unberührt, aber ihm lag nicht daran, das Naive als ethnische

Eigentümlichkeit des Griechentums zu erklären und ihm das Sentimentalische

als Charakter der germanischen Kultur Nordeuropas |#f0525 : 501|



gegenüberzustellen. Noch weniger dachte er daran, die sentimentalischen

Züge, die er schließlich auch bei den Griechen finden mußte,

als Einwirkung rassischer Fremdkörper zu erklären. Erst neuerdings

ist man darauf gekommen, das Dionysische und das Apollinische,

deren Zwiespalt Nietzsche im Griechentum erkannte, auf eine

Kreuzung orientalischen und nordischen Blutes zurückzuführen und

damit eine Typenbildung aus dem Raum zu begründen, die allerdings

noch mit mancherlei ungeklärten Hypothesen arbeiten muß.



Eine Zuteilung verschiedenartiger Dichtertypen an bestimmte Rassen,

die bis zur restlosen Deckung von Rassentypus und Dichtertypus

führen würde, ist durch die Verschiedenheit der Denk- und Ordnungsgrundsätze

ebenso erschwert wie durch Zahlenverhältnis und

Veränderlichkeit. Während alle psychologische Typenbildung sich

aus dem Dualismus des relativierenden Vergleichs entwickelt, ist die

physiologische Mannigfaltigkeit der Rassen von vornherein pluralistisch

aufgebaut. Muß die Zahl der Idealtypen des Dichters für den

Gebrauch gegensätzlicher Charakteristik möglichst gering gehalten

werden, so bleibt die Zahl der Rassen, wenn man ihre Entfaltung seit

Urzeiten und ihre Vermischung im Lauf der Jahrtausende in Rechnung

zieht, kaum übersehbar.



Dabei ist zu bemerken, daß die psychologische Typenbildung, obwohl

sie von Raum und Zeit absieht, in räumlicher und zeitlicher

Nachbarschaft die günstigsten Vergleichs- und Unterscheidungsmöglichkeiten

findet, während die Typisierung der Rassen von den entferntesten

Gegensätzen ihren Ausgang nehmen muß. Die primitivsten

Rassenmerkmale, die zuerst ins Auge springen, sind die Farben von

Haut, Haar und Auge. Nach ihnen trennen sich die Bevölkerungen

der Erdteile. Bei den Europa bewohnenden weißen Rassen gelangt

man weiter von Körperbau und Schädelmessung zu den charakteristischen

Ausdrucksbewegungen, zum Seelenleben, zu den Künsten,

zur Sprache und Literatur, Weltanschauung und Philosophie. An

diesem letzten Punkt, der zur feinsten Differenzierung des Denkens

einlädt, setzt die Strukturpsychologie ein und bedient sich der vergleichsweise

gewonnenen Typen zur Ausdehnung ihres Bereichs auf

immer ferner liegende Felder. Beide Bewegungen haben also eine

entgegengesetzte Richtung: im einen Fall führen sie von der Ferne

zur Einzelanalyse, im andern von der Nahbeobachtung zur Verallgemeinerung.





Die Begriffe liegen trotz unverkennbarer Analogien auf verschiedenen

Ebenen, und es besteht die Gefahr, daß die einander entgegengesetzten

Bewegungen aneinander vorbeigehen. Erstrebt die Rassenpsychologie |#f0526 : 502|



oder Psycho-Anthropologie, wie dieser neue, der Völkerpsychologie

zur Seite gestellte Wissenschaftszweig genannt wird, zwischen

geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Typisierung

eine Einigung, so ist sie vorerst durch die räumliche Beschränkung

auf europäische und vorderasiatische Typen in der Hälfte

des Weges stehen geblieben.



Sieht die psychologische Typisierung der menschlichen Anlagen,

sobald sie auf geschichtliches Leben angewandt wird, eine ewige

Wiederkehr gleicher Erscheinungen vor, oder wahrt sie zum mindesten

den unveränderten seelischen Grundformen eine Unabhängigkeit

von zeitlichen Einflüssen, so kann die Rassenforschung trotz der

Neigung, in Erbgesetzen eine stetige Folge festzuhalten, doch nicht

den zeitlichen und räumlichen Wandel ganz ausschalten. Diese Entwicklung

ist beispielsweise ein Grundgedanke der biologischen Anpassungslehre

Kolbenheyers.



In jeder Rasse, in jedem Volk, jedem Stamm, ja sogar jeder Familie

wird ein Nebeneinander verschiedener psychologischer Typen

beim Einsatz der vergleichenden Methode zu beobachten sein; ja,

eigentlich wird nur bei einer gewissen Verwandtschaft die Feststellung

auseinandergehender Typen sich mühelos ergeben. Allerdings

können sie nicht im gleichen Verhältnis vertreten sein. Die

Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel bedeuten z. B. geradezu

Gegenpole der Frühromantik; einig sind sie darin, daß beide

nicht eigentlich dem rein romantischen Typus, wie er durch Wackenroder

und Friedrich von Hardenberg vertreten war, entsprachen.

Wenn es auch kaum zur Alleinherrschaft eines bestimmten Typus in

den genannten Gruppen kommen wird, da ihre Analyse um so mehr

zur Differenzierung einlädt, je einheitlicher sie dem äußeren Blick

erscheinen, so kann doch auch kein Gleichgewicht ihres gegenseitigen

Verhältnisses zu allen Zeiten bestehen.



Nicht die Einheitlichkeit, sondern das Übergewicht eines bestimmten

Typus wird charakteristisch sein für die Eigenart einer Familie,

einer Stadtbevölkerung, eines Standes, eines Stammes, ja sogar eines

Volkes oder einer Rasse. Besondere Typen bilden sich heraus im Bereich

des Witzes, der seit alters an bestimmte Ortschaften, wie Abdera

oder Schilda, sich heftet und in der Anwendung auf bestimmte Stämme,

Völker und Rassen zur Karikatur wird. Die einseitige Festlegung des

Geistes eines Stammes oder Volkes auf einen ausgesprochenen Typus

pflegt zur Verfälschung zu führen, und die Mannigfaltigkeit der Dichtung

als Ausdruck des Volksgeistes ist der sicherste Prüfstein des

wahren Verhältnisses. Zweifellos haben unter den Franzosen die |#f0527 : 503|



Rationalisten das Übergewicht, und Voltaire war der typische Franzose

seines Zeitalters. Gleichwohl hat dieses Volk unter seinen Dichtern

klassische Menschen wie Racine, Romantiker wie Rousseau,

Victor Hugo und Verlaine gesehen. Wenn wiederum in französischem

Licht jeder deutsche Dichter als mehr oder weniger romantisch

aufgefaßt wird, so ist eine subjektive Verallgemeinerung aus dem

Bewußtsein der Gegensätzlichkeit hervorgegangen. Dagegen ist nicht

zu verkennen, daß gerade Denker deutscher Herkunft wie die Enzyklopädisten

Holbach und Grimm im französischen Geistesleben eine

antiromantische, materialistische und naturalistische Richtung vertreten

haben.



Deutscherseits hinwiederum hat man rationale Strömungnen allzugern

auf fremde Einflüsse zurückgeführt. Das Berlin Friedrichs des

Großen hat das Gepräge der nüchternsten Aufklärung, wie sie bei

Friedrich Nicolai und seinem Kreis vertreten war. Soll das auf den

Einfluß der herbeigeholten französischen Philosophen oder auf den

Anteil, den die angesessene französische Kolonie an der Zusammensetzung

des Berlinertums hatte, beruhen? Beides ist möglich; im

zweiten Fall würde die kalvinistische Religiosität mitspielen. Gleichwohl

lagen in derselben Stadt und zur selben Zeit die frühen Romantiker

Tieck und Wackenroder in der Wiege, von denen der erste sich

aus dem Nicolaischen Aufklärertum befreien mußte, um in seinen

letzten Novellen wieder in den Realismus zurückzufallen. Unter den

Vertretern der späteren Berliner Romantik finden sich wiederum

französische Namen wie Friedrich de la Motte Fouqué und Adalbert

Chamisso, deren Familien man auf normannischen Ursprung zurückführen

kann. Die folgende Generation der französischen Kolonie

aber hat sich mit Willibald Alexis und Theodor Fontane dem Realismus

zugewandt. In der bretonischen Refugiéfamilie Harenc, der der

erste angehörte, kann man nordisches Blut vermuten, aber der Ursprung

des zweiten führt nach Gascogne und Cevennen.



In der Heimat Hamanns und Herders hat man wiederum das Ursprungsgebiet

der deutschen Romantik erblicken wollen. In der Tat

gibt der Königsberger Freundeskreis der musikalischen Kürbishütte

im 17. Jahrhundert mit seinem Kult des Todesgedankens bereits

einen Vorklang. Und doch hat von dort der Erzrationalist Gottsched

seinen Ausgang genommen und nach ihm der Philosoph der

deutschen Klassik, Immanuel Kant. Auf die Naturalisten Arno Holz,

Max Halbe und Hermann Sudermann sind wiederum in unserer Zeit

die Romantiker Agnes Miegel und Ernst Wiechert, sowie der Expressionist

Alfred Brust gefolgt. Alle sind Kinder desselben Landes, aber |#f0528 : 504|



verschiedener Zeiten. Es ist zu sehen, daß bei unverkennbarem Festhalten

an gewissen Zügen der Stammeseigentümlichkeit sich innerhalb

desselben Raumes ein zeitlicher Wandel der Richtungen und ein

Wechsel der Typen vollzieht, wie er sogar innerhalb der Erbfolge

einer Familie zu beobachten ist.



Phänotype Wandlungen verwischen das Bild der rassischen Einheit,

soweit von einer solchen überhaupt die Rede sein kann. Man ist zwar

versucht, das räumliche Nebeneinander verschiedener Typen auf

genotype Unterschiede zurückzuführen, die nach Mendelscher Erblehre

auch in derselben Sippe mit sprunghafter Wiederkehr wechseln

können. Aber bei aller Anziehungskraft, die begreiflicherweise die

junge Rassenforschung auf jugendliche Literarhistoriker ausübt, ist

vor blindem Übereifer in rassischer Analyse von Dichtungen zu warnen.

Die Rassenforschung ist zu ernst und gewichtig, als daß sie zum

Kinderspielzeug oder zur unverstandenen Formel für Zauberlehrlinge

werden darf. In ihren eigenen kritischen Auseinandersetzungen ist

oft genug betont worden, daß man, mit den bekannten volkstümlichen

Darstellungen bewaffnet, noch kein Rassenforscher ist. Wenn

etwa, wie es geschehen ist, das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin

als Ausdruck einer bestimmten Artgesetzlichkeit der nordischen

Seele erkannt werden soll, während Kleists Sehnsucht nach

Verstandenwerden ostische Stilgesetzlichkeit verrate (sind deshalb

seine meisten Werke vollendet?), so mag bei solchen Folgerungen aus

ihren Lehren den Urhebern vielleicht selbst nicht ganz wohl sein.

Auch wenn die deutsche Dichtung keine Erscheinung von der üppigen

Fruchtbarkeit eines Lope de Vega aufweist und das Fragmentarische

(bei Lessing, Goethe, Schiller, Grillparzer, Hebbel) häufiger zu finden

ist als bei den Klassikern anderer Nationen, so zerbrach doch Kleists

und Hölderlins Schaffen unter einem besonders tragischen Schicksal,

an dessen Immanenz man glauben kann, das auch für typisch deutsch

gehalten werden darf, das aber auf ein von geschichtlichen Einwirkungen

unberührtes rassisches Erbteil nicht zurückzuführen ist.



Noch weniger kann man mitgehen, wenn sogar ganze geistige Bewegungen,

die räumlich nicht begrenzt sind, ausschließlich aus rassischen

Ursachen erklärt werden sollen. Da wird z. B. in jugendlichem

Überschwang der deutsche Sturm und Drang als das Werk

zweier Rassen, der dinarischen und ostbaltischen, erklärt mit dem Ergebnis,

den Ostbalten (Hamann, Herder, Lenz) bleibe die Wiederentdeckung

der wachstümlichen Bereiche, der magischen Mächte und

grotesk-realistischen Möglichkeiten im Dichten vorbehalten, den Dinariern

(Klinger, Schiller) der große leidenschaftliche Kerl, der mit |#f0529 : 505|



hymnischer Rhetorik die theatralische Gebärde gegen Menschen,

Schicksal und Himmel richte. So sind zwei Typen der Stürmer und

Dränger nach Stämmen und Landschaften geteilt. Wird damit die

früher aufgestellte Hypothese verbunden, daß der ganze Barockstil

seine Entstehungen der dinarischen Rasse verdanke, so käme man zu

dem Schluß, daß der eine Teil des Sturm und Drang nichts anderes

als wiederauflebender Barock sei, wobei der gleiche Rassetypus sich

durchgesetzt habe. Beide Richtungen, zwischen denen einzelne verwandte

Züge zu erkennen sind, müßten also in denselben Gegenden

ihre Stammgebiete haben. Aber gerade in Bayern und Österreich, wo

die meisten dinarischen Menschen zu finden sind und der Barockstil

in Blüte stand, gab es keinen Sturm und Drang, der sich gegen

die josephinische Aufklärung erhoben hätte. Vielmehr herrschten die

Aufklärer nach Überwindung des Barock auf lange hinaus und wurden

erst im neuen Jahrhundert durch die Romantiker verdrängt.

Dann erst kam zur Zeit Grillparzers als Synthese von Aufklärung und

Romantik eine österreichische Klassik zustande, die durch den Namen

„Biedermeier“ keine Herabsetzung erfahren soll.



Was soll man aber dazu sagen, daß in Schillers Jugendwerken die

dinarische Geistigkeit dominiere, während in den Werken der Reife

mehr nordische Formen hervortreten, und daß Goethe, der als vorwiegend

dinarisch und ostisch mit nordischen Einschlägen erklärt

wird, nur gerade in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 von

seinem Dinariertum Gebrauch machte und es vorher wie späterhin

verleugnete? Von der ganzen Hypothese bliebe, wenn wirklich ein

dinarisches Rassenerbteil für Goethe bestimmend wäre, nur eine umstürzlerische

Haltung in der Jugend übrig; aber dem steht gegenüber,

daß schon der junge Goethe eigentlich der gemäßigteste unter

den Sturm- und Dranggenossen gewesen ist und manche Züge des

werdenden Klassikers vorausahnen ließ. Dasselbe gilt von Schiller,

der sogar wegen seiner philosophischen Haltung von der Sturm- und

Drang-Generation abgerückt wurde.



An solchem Beispiel wird augenscheinlich, daß auch der einzelne

Dichtertypus zeitlichen Veränderungen ausgesetzt ist. Lebensalterstil

(das ist der Sturm und Drang) und Rasse- oder Stammesstil kreuzen

sich in Zeit und Raum.



Die Erkenntnis, daß die geniale Persönlichkeit nicht durch Unterordnung

unter einen bestimmten Typus erschöpfend charakterisiert

werden kann, findet wie bei Shakespeare, so auch bei Goethe Bestätigung.

Der junge Goethe als Stürmer und Dränger, der Klassiker

Goethe und der verjüngte Greis, der mit der romantischen Generation |#f0530 : 506|



zusammentrifft und an ihr Anteil nimmt, stehen nebeneinander

als drei Typen. Sie können gegeneinander ausgespielt werden,

wie es in Weitbrechts „Diesseits von Weimar“ geschah. Es besteht

ein Wettstreit, wem mehr Verehrung zu erweisen sei, ungefähr wie

bei drei verschiedenen Madonnenbildern, die im Volksglauben durch

ihren Standort individualisiert sind. Für den Stürmer und Dränger

ist der oberrheinische Raum Umwelt und Schauplatz seines Wirkens,

für den Klassiker Italien, für den Weimaraner Weltbewohner das

Universum. In Ausweitung des Lebensraumes und zeitlichem Reifen

entfaltet sich eine Persönlichkeit, die die verschiedensten Typen,

Weltanschauungen und Stilarten umfaßt und mit den Mitteln psychologischer

Analyse kaum zu erfassen ist.



In der zeitlichen Gemeinschaft der Generation können ebenso wie

in der Gemeinschaft des Raumes verschiedene Typen nebeneinanderstehen.

Das Auftreten einer neuen Jugendgemeinschaft pflegt immer

als Auflehnung gegen den bisher herrschenden Typus und als dessen

Ablösung zu erscheinen. Ein bestimmter Typus, der vorher unterdrückt

war, ergreift die Führung; hinter ihm tritt der andere, der

bisher die Führung hatte, zurück und bleibt entweder verspäteter

Vertreter einer überlebten Geisteshaltung oder verkündigt als verfrühter

Vorbote das Kommende; ein dritter Typus aber, den man den

umgelenkten nennen kann, leistet entgegen seiner ursprünglichen Anlage

dem führenden Typus Gefolgschaft und paßt sich ihm an, während

er vielleicht in der folgenden Generation zur selbständigen

Opposition oder sogar zur Führung gelangen würde. So findet jeder

Typus in der Erbanlage seine Vorbestimmung, aber in der Zeitlage

sein Schicksal.



Das Nebeneinander entgegengesetzter Typen innerhalb der Dichtung

eines Volkes kann in einem bestimmten Zeitpunkt als Doppelgipfel

zweier gleichwertiger Größen emporsteigen, und nach Jahrhunderten

wiederholt sich dieser Gegensatz in gleicher Weise. So

taucht der nicht nur im Ständischen und Stammhaften begründete

Antagonismus zwischen Wolfram v. Eschenbach und Gottfried von

Straßburg in Grimmelshausen und Philipp von Zesen, in Haller und

Hagedorn, in Klopstock und Wieland, in Hebbel und Stifter wieder

auf. Die Gegensätze solcher in Raum und Zeit zum Zusammenstoß

kommenden Paare lassen die Spannweite erkennen, die im deutschen

Charakter und im Typus des deutschen Dichters gegeben ist. Auch

Goethe und Schiller kamen sich beim ersten Zusammentreffen geradezu

als Gegenfüßler vor, als seien sie, wie Goethe sagte, „durch mehr

als einen Erddiameter getrennt“; Erfahrung und Idee waren die |#f0531 : 507|



Parolen der Auseinandersetzung; Realist und Idealist schienen zunächst,

wie noch die Abhandlung „Über naive und sentimentalische

Dichtung“ ahnen läßt, unversöhnlich einander gegenüber zu stehen.

Wie zwischen den Menschen aber, so ist auch zwischen den beiden

Dichtern unter Überwindung der Gegensätze eine einzigartige Gemeinschaft

zustande gekommen, und es bildete sich, mit Herz und

Vernunft wie mit Einsicht und Willen herbeigeführt, der Typus des

deutschen Klassikers heraus. Es wurde oben schon betont, wie verschieden

die Anlagen waren. Aber durch Schicksalsfügungen wie die

räumliche Begegnung in Thüringen, das zeitliche Zusammentreffen an

der Jahrhundertwende, die gesellschaftliche Verknüpfung an Hof und

Hochschule und durch geistige Einfügung in die Weltanschauung des

deutschen Idealismus wird dieser Typus zur geschichtlichen Größe.



Nicht nur mit Typenspaltung also, sondern auch mit Typenzusammenschluß

haben wir es zu tun. Nicht anders hatte es Schiller selbst

vorausgesehen, als er am 21. März 1796 an Wilhelm von Humboldt

schrieb: „Man wird uns, wie ich in meinen mutvollsten Augenblicken

mir verspreche, verschieden spezifizieren, aber unsere Arten einander

nicht unterordnen, sondern unter einem höheren idealischen

Gattungsbegriff einander koordinieren.“ Analyse und Synthese begegnen

sich auch hier; die typenbildende Analyse als Mittel vergleichender

Wesenserkenntnis muß auf Unterscheidung ausgehen,

die Synthese als Mittel einer geschichtlichen Darstellung der Schicksalsgemeinschaft

auf Zusammenschau und Zusammenspiel. Diese

Einigung muß eintreten, sobald die in Einzelvergleichen gefundenen

und bestätigten Typen in das Panorama von Raum und Zeit gesetzt

werden, etwa wie einzelne Porträt- und Kostümstudien in ein großes

historisches Gemälde. Der Analytiker gleicht dem Schauspieler, der

eine Rolle psychologisch durchdringt und im Verhältnis zu seinem

Gegenspieler zur Wirkung bringt; der Synthetiker ist dem Spielleiter

zu vergleichen, der die einzelnen Rollen und Szenen zum Ganzen des

dargestellten Dramas harmonisch zusammenfügt.



Auch einem Epiker kann der synthetische Darsteller gleichgestellt

werden, wenn er den einzelnen Typus, dessen Bild durch vergleichende

Analyse gewonnen ist, zum Helden nimmt und seinen

Werdegang durch Jahrhunderte verfolgt. So setzte Max Wieser in

seinem Buch über den sentimentalen Menschen ohne Gegenüberstellung

des naiven Gegenparts einem Typus der neueren Geistesgeschichte

und ihres religiösen Lebens sein Denkmal; Bernhard

Groethuysen tat in seiner Entstehungsgeschichte des bürgerlichen

Denkens dasselbe für den Bourgeois-Typus, und die Typen des Dandy |#f0532 : 508|



oder des Zerrissenen wurden gleichfalls in eigenen Kapiteln der Soziologie

als typische Zeiterscheinungen behandelt. Ebenso hat Paul

Hoffmann auf Grund einer Analyse des Mönches Notker den

deutschen Menschen des Mittelalters als Zeittypus zu entwickeln gesucht.

Das Bemühen, den deutschen Menschen überhaupt als Typus

im europäischen Raum zu erfassen, geht noch weiter. Schon Arthur

Moeller van den Bruck hat in seinen, unter dem Titel „Die Deutschen“

zusammengefaßten Essaysammlungen aus den Gruppen der verirrten,

führenden, verschwärmten, gestaltenden, scheiternden, entscheidenden

Deutschen, deren typische Schicksale er zusammenstellt, einen

Beitrag zum Gesamtbild des deutschen Menschen gewinnen wollen.



Aber alle diese Monographien, seien sie von psychologischer,

geistesgeschichtlicher oder kulturgeschichtlicher Einstellung, vermögen

vom Einzelnen nicht zum Ganzen zu führen. Indem sie dichterische

Selbstzeugnisse und Selbstgestaltungen neben Bekenntnissen

und Handlungen anderer Art als Schlüssel benutzen, um in menschliche

Wesensformen einzudringen, lassen sie die künstlerische Entfaltung

der Dichtung unbeachtet; sie benutzen literarhistorisches Material,

aber in ihrer Zielsetzung entfernen sie sich von der Literaturgeschichte.

Selbst wenn sie dazu beitragen, bestimmte Dichtertypen

zu analysieren, führen sie zu Spielarten der Dichtkunst hin, aber

nicht zum Ganzen der Dichtung.



3. Dichtung und Dichtkunst


a) Unterscheidung



Indem wir die Abstraktion „Dichtkunst“, der sowohl die Gattungen

als die Dichtertypen unterzuordnen sind, neben die konkretere

Tatsache der „Dichtung“ stellen, nehmen wir aufs neue den

Unterschied zwischen Analyse und Synthese auf.



Dichtung ist immer ein Gewordenes, ein synthetisches Ganzes,

sei es, daß sie als künstliche Schöpfung der Wahrheit gegenübergestellt

wird wie im Titel von Goethes Lebensbeschreibung oder der

Geschichte, von deren Überlieferung sie sich befreit, oder den Lebensproblemen,

die in ihr Gestaltung fanden, oder endlich der Wissenschaft,

zu deren Forschungsgegenstand sie gemacht werden kann.

Wir sprechen von der Dichtung Nürnbergs oder Berlins, von der

elisabethanischen oder victorianischen, von der des jungen Deutschland

oder des Biedermeier, von höfischer oder bürgerlicher, von

japanischer oder amerikanischer, von der der Gegenreformation, des |#f0533 : 509|



Pietismus oder des Nationalsozialismus. Immer handelt es sich um

Gehalt, Gesinnung und Bewegung einer Gemeinschaft, die in der

Dichtung Ausdruck findet. Die räumliche, zeitliche, gesellschaftliche

oder weltanschauliche und geistesgeschichtliche Bestimmung weist

jeder dieser Erscheinungen einen Platz im Aufbau eines noch größeren

Ganzen, nämlich der Dichtung einer Nation oder eines Zeitalters,

an.



Dagegen kann von der Dichtkunst der Nürnberger Pegnitzschäfer

oder des Göttinger Hains, der Skalden oder der Minnesänger,

der Neulateiner oder der Jesuiten, des Irrationalismus oder des Naturalismus

auch bei zeitlicher Festlegung vorwiegend im Sinne einer

analysierenden Charakteristik der Form, des Technischen und Stilistischen

die Rede sein. Gehalt und Gesinnung spielen dabei eine

geringere Rolle. Je enger allerdings Weltanschauung und Stil zusammenhängen,

desto eher kann man Dichtung und Dichtkunst in Beziehung

setzen, und in zeitlich bestimmten Begriffen wie Renaissance,

Klassik, Romantik fallen die Erscheinungen beinahe zusammen. Man

kann Dichtung und Dichtkunst in gegenseitiger Annäherung aufsteigen

lassen zum Treffpunkt des Geistes, so wie im ersten Teil (S. 111)

für das einzelne Dichtwerk eine Begriffspyramide von den Grundlagen

des Stoffes und der Form bis zum Zusammentreffen in der Idee

emporgeführt wurde. Wie dort, so würden hier auf der einen Seite,

auf der der Dichtung, alle Qualitäten des Gehaltes, auf der anderen,

der Dichtkunst, alle Formbegriffe, aber auch die der Gattung liegen.

Aber ohne die Wechselbeziehung können, für sich betrachtet, die

Elemente der Dichtkunst keine Bausteine der Synthese bedeuten, weil

es an Substanz fehlt. Wie in der Mittelsäule jenes Schemas hat man

auch hier einen tragenden Pfeiler anzunehmen im Volkskörper und

seinem Erleben. An den Platz, der dort dem Dichter zugedacht ist,

wäre hier die Nation zu setzen, die in den verschiedenen Typen ihrer

Dichter repräsentiert ist.



Dichtung besagt durchweg einen Sammelbegriff, der auf ein einzelnes

Werk eigentlich nur bei wahrhaft allumfassender Bedeutung,

wenn es den Geist einer Nation oder eines Zeitalters repräsentiert,

anzuwenden ist; Dichtkunst bezeichnet eine Leistungsfähigkeit, kraft

deren schon ein kleineres Meisterstück Anerkennung finden kann.

Dichtung erscheint immer als etwas Hervorgebrachtes, Dichtkunst als

ein Vermögen hervorzubringen. Was in der Dichtung als unbegreiflicher

Vorgang innerer Notwendigkeit, unter deren Zwang nicht nur

der Einzelne, sondern die Gemeinschaft steht, sich vollzogen hat, wirkt

bei der Dichtkunst als ein mehr oder weniger bewußtes Können, |#f0534 : 510|



nicht als Müssen. Gleichwohl ist Können und Müssen ein Spiel und

Müssen ohne Können ein Trauerspiel. Dichtung setzt immer Dichtkunst

voraus, und deren Anwendung ist wiederum dem Gebot der

Dichtung unterworfen, so daß auf dem ganzen Wege eine Wechselwirkung

zu erkennen ist, die durch das Gemeinschaftserlebnis in Zusammenhang

und durch die Kritik in Fluß gehalten wird.



Beides sind Wertbegriffe, die im einen Fall durch das ausdruckgebende

Schöpfertum, sei es eines einzelnen Dichters, sei es einer

Stadtkultur, eines Freundeskreises, einer Gesellschaftsschicht, eines

Volkes Bedeutung gewinnen, im anderen Fall durch die Ausdrucksmöglichkeit

überhaupt, die besonders im Verhältnis zu anderen

Künsten sich auszeichnet. Auch bei der Dichtkunst kann die Frage

nach Urheber und Vervollkommner aufgeworfen werden, aber die Antwort

führt weder auf eine individuelle Persönlichkeit noch auf das

Ganze, sondern auf einen Typus des Künstlers, der sich als Dichter

von dem Typus des Malers, des Bildhauers, des Tonsetzers, des Baumeisters,

des Schauspielers unterscheidet. Die Frage mündet also

in die psychologische Typenlehre, auch insofern, als Doppelanlagen

in den Gattungen und Arten der Dichtkunst Gestalt werden, sobald

deren sprachliche Ausdrucksmittel musikalische, malerische, plastische,

rhythmische, schauspielerische Werte fördern. Man darf also

sagen, daß die Dichtung, gleichviel welchen Umfang wir ihr geben,

einem bestimmten Charakter, die Dichtkunst einem bestimmten

Typus Ausdruck verleiht. Beide Reihen streben einander zu und

treffen erst in der Spitze zusammen als Vereinigung des menschlichen

Charakters und des künstlerischen Typus in edelster Gestalt. Ist nach

Schiller der Dichter allein der wahre Mensch, so ist in der Dichtung

der wahrste Gehalt reiner Menschlichkeit und in der Dichtkunst ihre

wahrste und reinste Form zu finden.



b) Überblick über die Dichtung



Der Weg der ersten beiden Bücher, der in der Reihenfolge von

Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung zu Werk und Dichter hinführte,

braucht im Blick auf das Ganze der Dichtung nicht einmal

von vorne anzufangen; die ersten beiden Stufen bleiben erspart, denn

gesammelt werden können nur Werke, und kritisiert werden Dichter.

Die vollständige Sammlung aller Dichtung, etwa alles dessen, was

in den verschiedensten Sprachen der Erde jemals rhythmisch gewogen

oder gereimt wurde, was der Einbildungskraft entsprang oder

die Phantasie erregte, wäre eine unübersehbare und unermeßliche |#f0535 : 511|



Masse von gesprochener, gesungener oder geschriebener und schließlich

gedruckter Überlieferung. Keine Bücherei der Welt wäre groß

genug, auch nur den tausendsten Teil des im Laufe von Jahrtausenden

Fabulierten und Versifizierten, soweit es erhalten ist, aufzunehmen,

geschweige denn, daß es als Rohstoff der Wissenschaft jemals

von einem Einzelnen oder sogar von dem organisierten Aufgebot der

Gesamtheit zu registrieren, zu durchdringen, zu beherrschen oder gar

darzustellen wäre. Wenn in der modernen Naturwissenschaft die

Theorie eines wachsenden Universums aufgestellt worden ist, so steht

für das All der Dichtung diese unendliche Expansion außer Zweifel.

Um so weniger ist es möglich, diese geistige Welt als Summe einzelner

Teile zu erfassen. Es wäre ein ebenso unmögliches als wertloses

Unterfangen. Jede Sammlung setzt Sichtung, Zusammenziehung,

Umwechselung der Scheidemünzen in Gold oder große

Schatzanweisungen voraus.



Von der Unsumme muß zu den Werten fortgeschritten werden, von

der Quantität zur Qualität. Diese Umwandlung der Zahl in

den Wert liegt bereits hinter uns durch die jahrhundertelange Tätigkeit

einer teils unbewußten, teils bewußten Kritik, die auf dem

Dreschboden des Geschmacks die echte Dichtkunst und die charakteristische

Literatur von der wesenlosen Spreu abgesondert hat. Es gilt

das Gleichnis vom Sämann. Was sich nicht als fruchtbar erwiesen

hat, bleibt tot. Was verbrannt, verdorrt, verfault oder vom Winde

verweht ist, kann nicht wieder aufgelesen werden. Was aber standhielt,

bedarf der Pflege und muß vor Unkraut und Entartung bewahrt

werden; die Befreiung von Entstellungen und die Wiederherstellung

der echten Form ist Sache der wissenschaftlichen Kritik.



Ist diese Arbeit an den einzelnen Werken getan, so bleibt noch

immer eine unübersehbare Masse, die der Gliederung bedarf und

einer ordnenden Erkenntnis der Zusammenhänge zu unterwerfen ist.

Gliederung bedeutet nicht eine Übersicht, die aus der Zusammenstellung

formaler Gleichheiten übereinstimmender Motive oder gleichartiger

Typen zu gewinnen ist, sondern einen alle Gegensätze und

Spannungen berücksichtigenden Aufriß des Organischen nach seinen

Entstehungsbedingungen. Wir gelangen damit zur Kategorie der

Relation.



Die scheinbar äußerlichste, ohne weiteres gegebene und den Sinnen

erkennbare Einteilung liegt in der Sprache, die ein vom Dichter in

Höchstleistung verfeinertes und verstärktes Gut der Allgemeinheit ist.

Das Instrument, aus dem er Töne hervorzaubert, die nur ihm eigen

zu sein scheinen, ist entlehnt. Als ein Pfund, mit dem er zu wuchern |#f0536 : 512|



hat, stellt es einen Besitz der Gemeinschaft dar. Aber nur einer

bestimmten Gemeinschaft, die in räumlichem Zusammenschluß lebt.

Es handelt sich hier nicht um die Idee der Sprache, um die Sprache

an sich, deren geheimnisvolle Schöpfer- und Bildkraft imstande ist,

unerhörte Schätze an Erkenntnissen zu vermitteln und dauerndem

Leben zu überliefern. Diese allgemeine Sprachkraft als göttliche

Gabe ist das unteilbare Substrat der Dichtkunst. Anders steht es um

das Verhältnis der greifbaren Dichtung zu ihrer Sprache, deren Geltungsbereich

begrenzt ist. Der Boden, in dem die Dichtung wurzelt

und aus dem sie ihre Kraft zieht, ist kein ungeteiltes Ganzes, sondern

eine umgrenzte Allmende, neben der noch andere Äcker liegen. Mag

es auch ursprünglich ein einheitliches Feld gewesen sein, so ist es

jetzt in Umzäunung auseinandergerissen in Gebiete, die durch die

Art ihres Anbaus Eigentümlichkeit gewonnen haben. Ungezählte

Sprachen sind nach Schrift- und Klangbild wie nach Bau und Sinngebung

unterschieden. Zwischen ihnen besteht die räumliche Trennung

der Sprachgrenzen, die in Wanderungen und Kreuzungen der

Rassen und Stämme, durch Besiedlung des Bodens und durch seine

Kultur, im Wechsel der Besitznehmer, im politischen Zusammenschluß

oder Wettbewerb der Völker, unter wirtschaftlicher und kultureller

Ausstrahlung der Städte und auf den Wegen des Handels und

Verkehrs im großen wie im kleinen Umfang sich herausgebildet

haben. Ein menschlicher Urbestand wirkt noch im Charakter jedes

Volkes und jeder Landschaft nach, und dieser Volkscharakter mit

allen Schicksalen, die ihn im Laufe der Zeiten geformt haben, prägt

sich in der Mundart wie in der Schriftsprache aus. Die Raumbegriffe

der Rasse, des Volkes, des Stammes, der Landschaft wirken sowohl

als unmittelbares im Volkskörper sich fortpflanzendes Charaktererbteil

wie als mittelbar an die Sprache gebundene Ausdrucksform auf

die Dichtung ein. Und wurzelechte Dichtung selbst trägt zur Wahrung

der Eigenart bei.



Wenn nun der räumliche Bestand durch schicksalsmäßige zeitliche

Einwirkungen verändert wird, so geschieht dasselbe mittelbar durch

die Sprache, die in ihrer Geschichte alle großen Erlebnisse der Gemeinschaft

aufbewahrt hat, wie unmittelbar durch das Zeiterleben,

unter dessen Eindruck die Dichtung steht. Die Dichtung aber ist

nicht nur der örtliche Seismograph jedes erschütternden Geschehens

und der Zeitweiser, der erkennen läßt, was die Stunde geschlagen

hat; sie gleicht einem astromonischen Uhrwerk, das in Weltweite den

Stand der Gestirne anzeigt. Sie treibt, wie es Schillers Gleichnis für

die Wirkung der Freude war, als starke Feder die Räder der großen |#f0537 : 513|



Weltenuhr. Bei allen zeitlichen Wandlungen besteht das Verhältnis

zwischen Sprache und Dichtung keineswegs nur darin, daß alle Veränderungen

der Umgangssprache auch in den sprachlichen Formen

der Dichtung sich auswirken. In Wahrheit sendet die sprachschöpferische

Dichtung Leuchtraketen aus, die den Vormarsch in ein zu eroberndes

Neuland vorbereiten. Nur so lange Dichtung in lebendigem

Werden begriffen ist, zeigt sich auch die Sprache unverbraucht und

zeugungsfähig; es entstehen kühne Neubildungen in Wörtern und

Bildern, die einer Weitung des Raumes und Horizontes, einer Umgestaltung

des Weltbildes, einer veränderten Seelenlage, politischen

Schicksalen, gesellschaftlicher Umschichtung, religiösen Sehnsüchten

und Gemeinschaftserlebnissen wie jeder inneren Erneuerung Rechnung

tragen und Ausdruck verleihen.



Herders These, daß Dichtung die älteste Sprache des Menschengeschlechtes

sei, scheint gestützt zu werden durch die Tatsache, daß

in den ältesten Kultursprachen die Überlieferung religiöser, philosophischer,

rechtlicher Urkunden an dichterische Form gebunden zu

sein pflegt. Diese Prägung hat nicht allein ihre Erhaltung bestimmt,

sondern auch entscheidende Wirkung auf den Fortgang der Sprache

ausgeübt. In der neueren Zeit aber wiederholt sich eine gleichartige

Erscheinung, wenn an der Spitze der italienischen Sprachbewegung

kein anderer steht als der Dichter Dante, dessen Name zugleich

Sinnbild der nationalen Einigung wurde. Wiederum hat sich

in Deutschland die schon vor Luther auftretende Einigungstendenz

der hochdeutschen Schriftsprache erst in der klassischen Dichtung

voll erfüllt, und damit wurde die Grundlage zur nationalen Erneuerung

geschaffen.



Allerdings ist solcher Fortgang nicht allein als raumgebunden zu

betrachten. Es treten Wechselwirkungen im Wettbewerb benachbarter

Sprachen auf, und es sind zeitweilige Einungsbestrebungen, die

über die Sprachgrenzen hinausreichen, in Gang gekommen. So wurde

auf die Sprachen des Altertums zurückgegriffen. So haben die Kirche

des Mittelalters und die Renaissancebewegung des Humanismus das

Latein als Einheitssprache der Gelehrten und Gebildeten über die

Volkssprachen zu setzen versucht, ohne daß die Dichtung dauernden

Gewinn hatte. Die zeitweilige Einigung gelang dank zeitlicher Strömungen,

die den Raum durchquerend getragen waren von gesellschaftlichen

Schichten wie Geistlichkeit und Gelehrten. Auch die

zeitweilige Vorherrschaft einzelner lebender Sprachen hat sich auf

bestimmte Gesellschaftsschichten beschränkt wie die des Spanischen,

später des Französischen, auf Hof, Adel, Diplomatie oder die des Englischen, |#f0538 : 514|



früher des Italienischen, auf den Handel. Eine einheitliche

Dichtersprache, wie sie für den Humanismus im Latein gegeben war,

gibt es heute nicht mehr. Und alle esperantistischen Bemühungen,

die mit Übersetzungen begannen, ohne ein wirkliches Publikum zu

finden, konnten keine Eigenschöpfungen nach sich ziehen, weil der

eigentliche Lebensgrund der Sprache, der in einem Volkstum liegen

muß, fehlt. Jacob Grimm sprach im Hinblick auf die neulateinische

Dichtung von dem fehlenden calor vitalis, der Lebenswärme. Gegen

rationale Vorherrschaft dieser Art, sei es, daß sie auf Kunstfertigkeit,

Gelehrtendünkel oder Zweckmäßigkeit begründet war, hat sich in

regelmäßigem Rhythmus die immer wieder notwendige Gegenbewegung

entwickelt, durch die in Überwindung der gesellschaftlichen

Unterschiede und Bildungsschichten die volkhafte Einheit

raumfüllend auch in Sprache und Dichtung sich wiederherstellte.



Sprachliche Einheitsbewegungen, die unter Führung der Dichter

stehen und auf das Volkstum sich gründen, sind allgemeine Erscheinungen;

sie sind aber nicht nur auf den Lebensraum eines Volkes beschränkt,

sondern haben seit Renaissance und Reformation alle Nationen

Mittel- und Westeuropas und schließlich auch Osteuropas ergriffen

in ungleicher Intensität und zu verschiedenen Zeitpunkten,

aber doch nicht so, daß das Nacheinander lediglich als Einwirkung

des einen Vorbildes auf die anderen sich erklären ließe. Vielmehr

scheinen sie alle einem inneren Gesetz zu folgen, das auf einer bestimmten

Entwicklungsstufe sich geltend macht, sobald die allgemeine

Strömung diesen Punkt erreicht. Geistige Bewegungen und nationale

Zielsetzungen solcher Art durchmessen einen größeren Raum als den

einer einzelnen Sprache und eines Volkes. Zwar bestehen Grenzen,

wie sie zunächst einmal durch die europäische Kulturgemeinschaft gegeben

sind, die Räume zusammenschließt in gleichartigem zeitlichem

Erleben, aber innerhalb der räumlichen Einheiten wirken Bewegungen,

die weder im Raum selbst ihren Ursprung haben noch sich auf

diesen beschränken.



Das Sprachleben, das einen Volksraum füllt, wird durch die Einwirkung

internationaler Bewegungen zeitlich gegliedert. Ebenso entwickelt

die zeitliche Bewegung, deren Auswirkung in jedem Lande

durch Lage, Nachbarschaft und gesellschaftliche Schichtung bestimmt

ist, ihre räumliche Eigenart. Jede Kulturerscheinung verdankt somit

ihren geschichtlichen Ort einer Wechselwirkung von Beharrlichkeit

und Fortschritt in Raum und Zeit. Sind die Sprachgrenzen ziemlich

unveränderlich festgelegt im begrenzten Raum, so ist die Zeit an sich

unbegrenzt, und die Marksteine ihrer Gliederung werden willkürlich |#f0539 : 515|



festgestellt und wissenschaftlich umstritten. Man kann beispielsweise

die Romantik als eine auf den Neuplatonismus zurückgehende, im

18. Jahrhundert in Italien wiederauflebende und von England aus

nach Deutschland übertragene Bewegung des Irrationalismus betrachten;

man kann sie als eine deutsche Bewegung auffassen, die

von dem Ostraum ihren Ausgang nimmt; man kann sie in dem Zeitraum

einer oder mehrerer Generationen wirksam sehen; man kann

sie gesellschaftlich mit den Umwälzungen der französischen Revolution

in Zusammenhang bringen oder politisch als Gegenbewegung dazu

betrachten. Man kann sie wie in der Dichtung in Musik, Malerei und

Baukunst, aber auch in Philosophie, Geschichtsauffassung, Naturwissenschaft

und Medizin ungefähr gleichzeitig vertreten sehen. Endlich

bleibt es doch eine ideelle Geistesrichtung und eine ausgesprochene

Form des Denkens und Fühlens, die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich

verschieden in Erscheinung treten.



Das Zeiterleben ist ein gemeinschaftliches Schicksal, das die Altersgenossen

um so mehr verbindet, je enger sie im Raum vereinigt sind.

Jede Altersstufe nimmt die Ereignisse ihrer Zeit mit einer gleichartigen

ihr eigenen Empfänglichkeit auf, die anders beschaffen ist

als die der Vorgänger oder der jüngeren Nachfolger. Dadurch wird

sie zur Einheit einer Generation verschmolzen. Ein Begriff, der

ursprünglich der Erbfolge einer Familie entstammt, wird auf eine

schicksalsbedingte Gruppenbildung im Volkskörper übertragen, die

auch bei anderen Völkern ihre gleichzeitige Entsprechung finden

kann. Damit entsteht das eigentliche Zeitmaß geistesgeschichtlicher

Entwicklung, das auch für die Entwicklung der Dichtung entscheidende

Bedeutung hat. Jede Periode beginnt mit dem Auftreten einer

neuen Generation; nicht jede Generation eröffnet eine neue Periode;

wohl aber sind die Entwicklungsphasen jeder Periode durch Generationswechsel

bedingt.



Sind die Mächte des Lebens, die der Dichtung zum Dasein verhelfen,

mit Raum und Zeit zu allgemein umschrieben, so gehört zur

Umwelt, in der die Dichtung wächst, die Gesellschaft als zeitlich

bestimmtes Raumgebilde. Sie ist ein Teil des Volkes und damit

dem Raum verhaftet, aber sie ist der veränderliche Teil des Volkes,

der allmählich von einer Altersschicht zur anderen seine Zusammensetzung

und seine Anschauungen wechselt, indem er sie mit gleichen

Gesellschaftsschichten anderer Völker in Übereinstimmung zu bringen

sucht. Was die Sprache für die räumliche und die Generationen für

die zeitliche Ordnung bedeuten, sind die Stände für die gesellschaftliche.

Es gibt verschiedene Gesellschaftsschichten innerhalb des |#f0540 : 516|



Volkes, aber die wandelbarste ist immer die, die sich selbst als die

„Gesellschaft“, nicht als das „Volk“ fühlt. Sie steht oft der gleichartigen

Gesellschaftsschicht anderer Völker näher als der Ganzheit

des eigenen; sie ist dem Neuen ergeben und holt es oft aus der Ferne;

sie nimmt den Geschmack für sich in Anspruch und spielt Schicksal

in der Zuteilung großer Erfolge; sie verkörpert die sogenannte öffentliche

Meinung und bildet das tonangebende Publikum, das der Dichtung

Wirkungsraum schafft; sie pflegt auf der Höhe ihrer Lebenskraft besondere

gesellschaftliche Tugenden, die in dichterischen Charakteren zu

Idealtypen der Vollendung sich steigern; sie gibt damit der Richtung

des Schaffens Antriebe und Vorbilder bis zum Überdruß, der schließlich

den Umschlag der Übertreibung zur Karikatur nach sich zieht.



Wie der einzelne Dichter gesellschaftsfromm oder gesellschaftsfeindlich

sein kann, so gibt es Zeiten ausgesprochener Gesellschaftsdichtung

und solche, in denen das Neue in Einsamkeit sich vorbereitet.

Die Dichtung ist bald Erzeugnis einer bestimmten Gesellschaftsschicht,

bald Auflehnung gegen ihre Herrschaft und Ankündigung

drohender Umwälzung. Daran hat auch der Gegensatz der Geschlechter

seinen Anteil. Die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft,

die Rolle, die sie sowohl als Gegenstand der Dichtung wie als

empfängliches und geschmackbestimmendes Publikum wie als

Schöpferin spielt, kann entscheidend sein, daß man von männlichen

und weiblichen Perioden der Literaturgeschichte geredet hat. Selten

ist die dichtende Frau eine isolierte Erscheinung. Die Frauenklöster,

die eine Hrotsvith von Gandersheim und zwei Jahrhunderte später

die großen Mystikerinnen beherbergten, waren zu ihrer Zeit Stätten

einer gewissen Emanzipation. Die Römerin Vittoria Colonna und ihre

französische Zeitgenossin Louise Labé waren Produkte der neuen

weltlichen Renaissancebildung. Die deutschen Fürstinnen wie Elisabeth

von Nassau-Zweibrücken und Eleonore von Vorderösterreich,

die französische Volksbücher übersetzten, folgten einer höfischen

Bildungstendenz, und die großen französischen Romanschreiberinnen

des 17. Jahrhunderts wie Madeleine de Scudéry und Madame de Lafayette

sind aus dem Salon der Marquise von Rambouillet hervorgegangen,

wie die deutschen Romantikerinnen später in Jena, Berlin

und Heidelberg ihre literarischen Kreise hatten. Jede Gesellschaft

nimmt unter Anteil der Frauen besondere Gattungen der Dichtung

in Pflege und begünstigt sie in dem Maße, daß mit Übergang der

literarischen Führung an eine andere Gesellschaftsschicht auch das

Übergewicht der Gattungen wechselt, wie oben (S. 469─475) bereits

gezeigt wurde.

|#f0541 : 517|



Der Kunsthistoriker A. E. Brinckmann hat der Zeit die Stellung

der Probleme, der Gesellschaft die Lieferung der Motive zugeschrieben.

Um die Dreizahl zu vervollständigen, darf man die Sprache, den

Stil und den Gehalt aus dem Raum herleiten. Aber nun fehlt noch

ein viertes, das die drei so verstrickten Glieder zusammenhält. Wenn

die drei Dimensionen der Gliederung nach Raum, Zeit und Gesellschaft

in Sprache, Generation und Stand ihre greifbaren Symbole

finden, so führt eine vierte übersinnliche Dimension zum Geist, der

von Raum, Zeit und Gesellschaft bestimmt ist und doch in keinem

dieser Bereiche seinen festgelegten Ort hat. Er kann weder sinnlich

noch rational begriffen, sondern nur in seinem Wert erfüllt werden.

Die Aufgabe der Gliederung nach der Kategorie der Relation wird

abgelöst durch die weit schwerere der Deutung und der Bestimmung

der Modalität. Die ästhetische Deutung ist in Übereinstimmung

zu bringen mit der Deutung des Sinnes der Dichtung überhaupt. Wie

beim einzelnen Dichtwerk liegt in Deutung und Wertung das letzte

und höchste Ziel. Der Geist der Dichtung, die in allen Formungen

räumlich, zeitlich und gesellschaftlich bedingt ist, erhebt sich über die

Grenzen und Abhängigkeiten der drei sinnlichen Dimensionen, sobald

er nicht zu einem Volke allein in seiner Sprache spricht, sondern

zur ganzen Menschheit, nicht zu einem Zeitalter, sondern zu Jahrtausenden,

nicht zu einer Gesellschaft, sondern zur Gesamtheit aller

Stände.



Die Weltdichtung bedeutet schließlich eine große geistige Einheit,

die dem Leben überhaupt, aus dem sie hervorgegangen ist, gegenübersteht.

Heben sich aus der in ihren Grundlagen kaum übersehbaren

Masse überragende Gipfel heraus, die sich gegenseitig grüßen, so sind

sie die eigentlichen Repräsentanten der Dichtung. Aus ihrer Betrachtung

ist aber zugleich der höchste Begriff der Dichtkunst zu gewinnen.

Die großen Dichter erscheinen nach Wilhelm Diltheys Wort

als „Seher der Menschheit“ und stellen eine Gemeinschaft dar, die

hinausragt über die ursprungsgemäße Zugehörigkeit zu bestimmten

Sprachen, die vielleicht nur noch in ihnen lebendig sind, zu Ländern,

Zeiten und Völkern, die wir in ihnen suchen müssen, zu einer gesellschaftlichen

Umwelt, die wir nicht mehr kennen. Nirgends wird das

materialistische Schlagwort einer „histoire sans noms“ widersinniger

als auf der höchsten Höhe, wo die Geschichte aufhört, wo der Geist

sich personifiziert in der Dichtung und die Dichtung in ihren großen

Schöpfern.



Dies Reich, in dem die größten Dichter leben, ohne entwurzelt zu

sein, ist nicht etwa das Reich der Schatten oder das Reich der Formen, |#f0542 : 518|



wie Schiller es nennen wollte und als Ideal suchte, sondern

reale Wirklichkeit. Das unsterbliche Werk, in dem der Geist der

Dichtung sich verkörpert, bleibt hinter keinen unerreichbaren Idealen

zurück, sondern verwirklicht ihre Vollkommenheit. Meisterdichtung

ist keine Abstraktion, obwohl aus ihr Begriffe und Gesetze der Kunst

sich erschließen lassen; sie ist konkrete Daseinsverwirklichung, Spiegel

des Lebens im farbigen Abglanz, Offenbarung der Würde der

Menschheit, Gewebe des lebendigen Kleides der Gottheit.



Der Anblick der im Schleier der Dichtung waltenden Wahrheit verlangt

von dem Beschauenden nur noch innere Sammlung; die Kritik,

die den Wert in Zweifel zieht, ist verstummt und begnügt sich mit

der Sorge um Herstellung und Wahrung der reinen und echten

Form; der Zergliederungstrieb unterwirft sich dem Eindruck alleiner

Ganzheit, und die Deutung muß beides zusammenschließen; Sinngebung

des Lebens, die das Ziel der Dichtung ist, trifft zusammen

mit Sinngebung jener Kunst, deren Ausdrucksmittel die Sprache ist.

Wenn Dichtung und Dichtkunst im Geist als der größten Synthese

ihre Vereinigung erleben, ist der Aufstieg der beiden Strebepfeiler

zur Höhe geführt, wie es den Worten des Pater seraphicus entspricht:



Steigt hinan zu höherm Kreise,

Wachset immer unvermerkt,

Wie, nach ewig reiner Weise,

Gottes Gegenwart verstärkt.

Denn das ist der Geister Nahrung,

Die im freisten Äther waltet:

Ewigen Liebens Offenbarung,

Die zur Seligkeit entfaltet.



Der Weg, der zurückzulegen ist bis zur letzten Deutung, schließt

eine zunehmende Vergeistigung der Aufgaben in sich; trotzdem bleibt

der Gegenstand, zu dem der Aufstieg emporführt, ein konkreter.



Abstrakt wird erst die allegorische Personifikation einer Göttin der

Poesie, die im Musenhain oder Tempelheiligtum ihren Sitz hat oder

im Zaubergarten, in dem die Romantiker (Tiecks „Zerbino“) Dante,

Shakespeare, Cervantes und Goethe als Gäste gesellschaftlich vereint

sahen.



Die Personifikation der Dichtkunst steht indessen nicht allein, sondern

verschlingt sich in einem Reigen mit ihren Schwestern, den anderen

Künsten, mit denen sie, indem sie bald zur Malerei, bald zur

Musik sich mehr hinneigt, Farbe, Körperausdruck, Klang, Rhythmus

und Bewegung austauscht. Von diesem Verhältnis zu den Nachbarkünsten

geht eine eigene theoretische Betrachtungsweise des Wesens |#f0543 : 519|



der Dichtkunst aus. Was für die Dichtung Gliederung bedeutet, ist

für die Dichtkunst ihre Stellung im Verhältnis zu den anderen

Künsten.



4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes

und der Zeit



Nach Benedetto Croces Ästhetik bilden alle Künste als menschlicher

Ausdruck eine Einheit, und da sie gleichartigen geistigen

Schöpferakten entspringen, sind keine theoretischen Grenzen zwischen

ihnen zu ziehen. Sind die Unterschiede ihrer Ausdrucksmittel

so unwesentlich, so wäre als letztes Erkenntnisziel nicht mehr das

Wesen der Dichtung, sondern das der Kunst überhaupt zu ergründen.

So kannte auch Schiller, der durch Albrecht von Haller den Menschen

als unselig Mittelding von Göttern und von Vieh zu betrachten

gelernt hatte, im Grunde nur eine Kunst:



Im Fleiß kann dich die Biene meistern,

In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,

Dein Wissen teilest du mit vorgezogenen Geistern,

Die Kunst, o Mensch, hast du allein.



Die vorausgehende Kunstlehre vieler Jahrhunderte hat sich mehr

um die Sonderung der einzelnen Künste bemüht, als daß sie das

Einende überhaupt erkannt hätte. In der mittelalterlichen Scholastik

beispielsweise hatte die Dichtung unter den „septem artes liberales“

überhaupt keinen Platz, wie ihn etwa Frau Musica einnahm; sie

konnte dagegen Unterschlupf suchen bei „Grammatica“ oder „Rhetorica“,

wenn sie nicht wie die Malerei Aufnahme fand bei der anderen

Gruppe, die unter dem Namen „artes mechanicae (illiberales)“

auf eine tiefere Stufe herabgedrückt war.



Mit der Renaissance kam man zur Aufstellung einer entwicklungsgeschichtlichen

Reihenfolge, bei der auf Grund der Nachahmungslehre

zunächst der Malerei die Priorität zufiel. Narcissus, der zum

Staunen über sich selbst gelangte Mensch, erschien als mythisches

Sinnbild des ersten Kunsttriebes (Leon Battista Alberti 1540).



An die Stelle der Naturnachahmung trat zwei Jahrhunderte später

der Schöpfergedanke. Für die deutsche Bewegung des Sturmes und

Dranges, die bei Hamann und Herder einsetzte, war die Poesie als

Ursprache des Menschengeschlechtes allen anderen Künsten voraus;

auch die Romantiker suchten die Ursprache teils in der Natur, teils

in Hieroglyphen, teils in der Musik.

|#f0544 : 520|



Anders war es in Hegels Kunstphilosophie, die den Gang des Geistes

durch die Geschichte verfolgte. Da begann die Entwicklungsreihe

der Künste mit der rein symbolischen Architektur und stieg empor

über die Stufen der Plastik, der Malerei, der Musik zur Poesie als

der Vereinigung aller Gegensätze auf der Höhe geistiger Innerlichkeit.





Wir erkennen diese Konstruktion heute nicht mehr an. Aber wenn

auch die Architektur nicht als Urkunst gelten kann, sondern diesen

Platz eher der Mimik und dem Tanz als frühesten menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten

einräumen muß, so ist doch der Geltungsbereich

und die Entfaltungsmöglichkeit der verschiedenen Künste einem fortschreitenden

Wechsel unterworfen. Die kunstgeschichtliche Generationslehre

Wilhelm Pinders rechnet heute noch mit Hegels Aufeinanderfolge

von Architektur, Plastik, Malerei, Musik und begründet

sie induktiv im Hinblick nicht auf die Entstehung, sondern vielmehr

auf die wechselnden Blütezeiten, die periodisch in regelmäßiger Folge

sich wiederholen. Von diesem Aufbau wird aber die Dichtkunst ausdrücklich

ausgenommen und nur insofern eingereiht, als sie jeweils

mit der gerade lebenskräftigsten Vertreterin der anderen Künste in

Generationsverbindung stehe. Die Richtigkeit der These, die in Pinders

Kunstgeschichte „Wom Werden und Wesen deutscher Formen“,

von dieser Seite aus gesehen, vorsichtige Anwendung gefunden hat,

wäre nun für den Gang literarhistorischer Entwicklungen nachzuprüfen.

Sie dürfte, auf die Dichtung übertragen, mehr Bedeutung

für die Wandlungen der Stilgeschichte haben als für eine feststehende

Wesensergründung. Eine endgültig sich gleichbleibende Grenzbestimmung

des Verhältnisses zu den anderen Künsten ist auf diesem Wege

schwerlich zu gewinnen.



Um eine solche hat sich seinerzeit Lessing bemüht, als er im

„Laokoon' die Grenzen der Poesie und der Malerei festlegen wollte

und sowohl die Entgleisungen der bildenden Kunst auf dem Irrweg

gedanklicher Allegorie als auch die Ausschreitungen der Dichtkunst

in Richtung malerischer Wirkungen bekämpfte. Er bediente sich dabei

der hergebrachten Unterscheidungen zwischen Künsten des Raumes

und der Zeit, die mit der neuerlichen Trennung simultaner und

sukzessiver Darstellung zusammenfielen. Die Dichtkunst wurde auf das

Nacheinander zeitlicher Folge und auf bewegte Handlung beschränkt,

und jeder simultane Eindruck malender und beschreibender Darstellung

wurde ihr abgestritten. Aber schon Herder hat im ersten „Kritischen

Wäldchen“ dieser Einschränkung widersprochen. Zwischen

Raum und Zeit stand für seinen Dynamismus der von Leibniz entnommene |#f0545 : 521|



Begriff der Kraft. Sie fand ihr Wirkungsfeld in der Dichtkunst.

Zwischen den Raumkünsten und den Zeitkünsten sollte die

Poesie ihren eigenen Platz einnehmen, da ihr durch die Kraft der

Worte, durch den in sie gelegten Sinn und durch die innere Kraft der

Seele eine Herrschaft in Raum und Zeit zugleich zufiel. Die Wirkung

der Plastik und Malerei vollzog sich im Raum und durch den Raum,

die der Musik durch die Zeit in die Zeit, aber die Wirkung der Poesie

nahm ihren Weg aus dem Raum in die Zeit.



Es war, von einer anderen Seite gesehen, dieselbe Einteilung, die

Kants „Kritik der Urteilskraft“ zwischen bildender, redender und

Kunst des schönen Spiels der Empfindungen traf nach einer weiteren

Dreiheit der Ausdrucksmittel, der Ausdrucksarten und des Ausdrucksinhalts.

Die Dichtkunst fand ihr Ausdrucksmittel im Wort, ihre Ausdrucksart

in der Artikulation, ihren Ausdrucksinhalt in Gedanken.

Im Gegensatz zu Herder hat Kant die Ausdrucksformen von Raum

und Zeit, die im Bereich der reinen Vernunft unbestimmbaren Umfang

und Inhalt hatten, nicht auf die Künste angewandt, aber er vermied

es auch, in der Kraft ein nicht ganz entsprechendes Drittes

zwischen Zeit und Raum zu stellen. Kraft waltet ja auch in der Zeitkunst

der Musik (nach Kant dem schönen Spiel der Empfindungen)

und ist nicht allein der Dichtkunst vorbehalten. Eindeutiger hätte

von der Einbildungskraft als Antrieb, Spielraum und Verlauf der

dichterischen Wortkunst gesprochen werden können. In diesem Sinne

hat spätere Ästhetik (Vischer, Volkelt) den Begriff der Phantasiesinnlichkeit

eingeführt, die an Stelle der unmittelbaren optischen

oder akustischen Eindrücke der anderen Künste alle Sinnesbereiche

beherrsche und gleicherweise Raum und Zeit in ungehemmter Entfaltung

ausfülle.



An Kant schloß sich Schiller an, als er in der „Huldigung der

Künste“ die Unbegrenztheit der Poesie hervorhob:



Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,

Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.


In den vorausgehenden Versen war trotzdem eine räumliche Beziehung

hergestellt, wenn die Dichtung zwar nicht in den einheitlichen

und unendlichen Raum versetzt wurde, aber sich rühmen

durfte, in fortschreitend sich ausbreitender Bewegung alle Räume zu

durchmessen:



Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,

Frei schwing' ich mich durch alle Räume fort.
|#f0546 : 522|



Wenn Herder in scheinbarer Umkehr dieser Bewegungsrichtung die

Dichtung aus dem Raum in die Zeit hatte wachsen lassen, so war es

weder auf den vom Dichtwerk (als Buch oder Text einer Vorlesung

oder Gegenstand einer Aufführung) für seine Verwirklichung beanspruchten

bescheidenen Raum angekommen noch auf den Raum, der

in ihm dargestellt war; ebenso wenig auf die zur Darstellung gebrachte

oder für Wiedergabe und Aufnahme benötigte Zeit, sondern

auf die Dauer der Wirkung.



Die Herkunft aus dem Raum betraf bei Herder die sinnliche Erscheinungswelt

der bildenden Kunst und ihres Vorbildes, der Natur,

zu der auch der Mensch zu rechnen war. Den Natureindruck vermag

mittelbar auch die Dichtung zu erreichen durch Einprägung in die

Phantasievorstellung der Genießenden. Da baut sich die sichtbare

Welt neu und prächtig auf. Dagegen konnte sich der Eintritt in die

Zeit auf die nicht stillstehende Folge der stimmungweckenden und

gefühlanregenden musikalischen Klänge beziehen, denen die einander

ablösenden Bilder der Dichtersprache gleichen. Beides schließt sich

erst im Nacheinander zu einem Ganzen zusammen, das Form gewinnt

und nachklingt.



Die Gesamtwirkung, die bei dem in sich ruhenden Werk der bildenden

Kunst das erste ist, kommt bei den anderen Künsten trotz der

unaufhörlichen Eindrücke jedes Augenblicks erst mit der Zeit zustande,

aber sie läßt sich auch zu jeder Zeit wiederholen durch erneute

Wiedergabe des Musikstückes und durch erneutes Eindringen

in die Dichtung.



Eine Steigerung des Eindrucks durch Wiederholung ist auch bei

dem Werk der bildenden Kunst möglich, das erst mehrfacher Betrachtung

sich voll erschließt; aber es gibt bei ihm kein da capo der

Vorführung; es ist immer da und kann so, wie es da ist, nicht erneuert,

sondern höchstens wiederhergestellt oder kopiert werden. Es

stellt nicht nur Raum vor und braucht Raum zu seiner Darstellung,

sondern es steht einmalig in seinem Raum und leistet in dieser bleibenden

Einmaligkeit dem Drang der Zeit Widerstand. Während die

Zeit jedes Werk der bildenden Kunst mit allmählicher Zerstörung

bedroht, so daß menschliche Aufsicht darauf bedacht sein muß, es

in seiner Einmaligkeit zu beschützen, haben bei Kompositionen der

Musik und der Dichtkunst lediglich die ersten Niederschriften ihrer

Schöpfer oder die ersten Drucke, wenn sie besonders selten sind,

Denkmalswert. Weitere Kopien bedeuten für den sammelnden Liebhaber

eine Entwertung. Aber Noten und Buchstaben verlieren durch

getreue Vervielfältigung, die ihr Weiterleben sichert, nicht an Bedeutung |#f0547 : 523|



und Gehalt. Im Gegenteil. Wie sich ihre Gestalt in Zeitfolge

entfaltet, so macht auch ihr Gehalt Anspruch auf Zeit zur vollendeten

Wiedergabe, zur Mehrung des Verständnisses, zur ausgebreiteten Anerkennung.





Während ein berühmtes Kunstwerk Scharen von Bewunderern aus

weitester Ferne zu sich in seinen Raum zieht, werden die Werke der

Musik, die keiner Übertragung in andere Sprachen bedürfen, durch

persönliche Interpretation unter Wahrung der von ihrem Schöpfer

bestimmten Form in unermeßliche Weiten getragen; aber auch die

Werke der Dichtkunst als gesellschaftliche Ereignisse erobern sich

mit der Zeit Wirkungsräume von Dauer, ohne daß sie in Weltwanderung

und Zeitenwandel die Wurzeln ihrer Herkunft verlieren.



Man kann auch sagen, daß sich die geschichtlichen Bedingungen

der Ausbreitungsmöglichkeit ebenso verändern wie die Reproduktionsmöglichkeiten

der bildenden Kunst oder der Musik. Die Wirkungsräume

sind in steter Ausdehnung begriffen. Wenn vor dem Buchdruck

der auf einen kleinen Kreis beschränkte Vortrag durch den

Dichter die intensivste Wirkungsmöglichkeit war, so ist mit Gutenbergs

Erfindung die Verbreitungsmöglichkeit des Lesestoffes unermeßlich

gesteigert. Aber die neue Zeit führt darüber hinaus; sie

bringt mit dem Rundfunk die Überwindung aller räumlichen Grenzen

und mit der Schallplatte die Möglichkeit, die Stimme des Dichters in

ihrem persönlichen Eindruck über alle Zeiten hinaus aufzubewahren.

Freilich, was auf der einen Seite an Verbreitung und Dauer gewonnen

wird, geht auf der anderen Seite durch Oberflächlichkeit des Masseneindrucks

verloren. Und es bleiben Grenzen des Wirkungsraumes, die

durch den Bereich der Sprache und ihres Verständnisses gezogen sind.



Neuere Dichter haben die Bewegungsrichtung Herders umgekehrt

und den Weg der Dichtkunst aus der flüchtigen Zeit in den ewigen

Raum führen lassen. Aber sie verstanden den Zeitraum der Ewigkeit

und die vorübergehende Raumzeit des alltäglichen Lebens. Rilke

sprach davon, daß das Kunst-Ding von allem Zufall fortgenommen,

jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben

erst zur Dauer gelange und die Fähigkeit zur Ewigkeit erwerbe.

Er sah das eigentliche Sein des Kunstwerkes und seiner Dauer darin

begründet, daß es sich einen eigenen Raum erzeuge, der nur dem

oberflächlichen Hinsehen identisch erscheine mit der öffentlichen

Räumlichkeit. Den Gedichten Trakls konnte er das Lob spenden, daß

sie einen eigenen geistigen Raum besäßen. Und seine eigene Dichtung

begründet die Flucht vor dem engen Lebensraum und die Abkehr von

denen, die ihn lieben:

|#f0548 : 524|



weil mir der Raum in eurem Angesicht,

da ich ihn liebte, überging in Weltraum,

in dem ihr nicht mehr wart.


(Vierte Duineser Elegie.)



Ähnlich sah schon der junge Stefan George das Bleibende im Übergang

aus der Zeit in den Raum:



Der Zeiten Flug verliert die alten Namen,

Und Raum und Dasein bleiben nur im Bilde.


(Hymnen.)



Ein Dritter aber, Hugo von Hofmannsthal, schloß seinen Vortrag

über das Schrifttum als geistigen Raum der Nation mit dem Bilde

einer neuen Wirklichkeit, eines inneren Universums, eines Geistesraums

der Glaubensgemeinschaft, den die Nation in ihrem eigenen

Bewußtsein und in der Welt einnehme. Der Aufstieg von Synthese zu

Synthese müsse zu dem höchsten Ziele gelangen, daß der Geist Leben

werde und das Leben Geist. Die politische Erfassung des Geistigen

und die geistige des Politischen müsse zur Bildung einer wahren Nation

führen. Damit findet der Weg vom Raum aus sein Ziel nicht in

der Zeit und nicht in der Gesellschaft, sondern im Geist. Alle vier

besprochenen Dimensionen mit dem Raum als Anfang und dem Geist

als Ende sind in eine Folge gebracht. In dieser Reihe sind nunmehr,

wenn wir von der Dichtkunst und ihren theoretischen Möglichkeiten

zur Dichtung in ihrer geistigen Expansionskraft zurückkehren, diese

Kategorien zu betrachten. Die räumlichen, zeitlichen, gesellschaftlichen

und geistigen Zusammenhänge der Dichtung sind zu erklären,

und es bleibt dabei nur die Frage, ob sie zu einem äußerlichen Zusammenhang

führen oder ob in ihnen wirklich schaffende Kräfte und

kollektiv hervorbringende Mächte zu erblicken sind.

|#f0549 : E525|



DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN

(1929)


So our virtues

Lie in the interpretation of the time.

Shakespeare, Coriolanus IV, 7.



1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte




An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen

und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte,

Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie,

Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs-

und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik,

Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller

Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als

Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff

der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht

sein.



Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft

ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis

zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht,

so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs

schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr

kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung

nach zeitlichen Gemeinschaften.



Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen

Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen

innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang

hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung

des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden

diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so

stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder

andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische

Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung

in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in |#f0550 : 526|



Bann gezwungen und in ihrem Kunstwillen bestimmt sind. Das Auftauchen

neuer Bewegungen, der Widerstand, der sich ihrem Aufmarsch

entgegensetzt, die Überwindung, die Herrschaft, die Verteidigung

gegen Widerspruch und das Zurückweichen vor einer neuen

Welle, vielleicht auch die Wiederaufnahme des bereits Verebbten in

abermaligem Aufstieg: alles das stellt sich immer als Austrag von

Kämpfen dar zwischen Alter, reifender und altwerdender Jugend und

neuanstürmendem Jugendgeist. Die Heftigkeit dieses Gegensatzes

ist zeitlich verschieden und die Hitzigkeit des Kampfes ist ein

Intensitätsmaßstab für die Wucht und Ursprünglichkeit des neuen

Geistes, vielleicht auch ein Wertmesser und eine Bürgschaft für die

Dauer seiner Errungenschaften. Immer ist mehr als irgendein anderes

Betätigungsfeld menschlichen Geistes das Gebiet des Schrifttums

der Schauplatz dieser Kämpfe; denn die Sprache ist die vornehmliche

Waffe, in der solcher Streit geführt wird, und von allem

Gesprochenen ist das geformte Sprachkunstwerk das Überragende,

Bleibende, das in überzeitlichem Sein noch von den Kämpfen zu

reden vermag, aus denen es hervorging, wie das Gebirge redet von

Überflutungen, Zusammenbrüchen, Rissen, Erhebungen, Ablagerungen

und bohrender Arbeit der Ströme oder wie der feine Sand des

Meeresstrandes sich rippt und kräuselt unter dem unaufhörlichen

Heranwogen der Wellen.



Man kann sich dem Zwang dieses Schichten bildenden Wellenschlages

der Zeit zu entziehen versuchen durch Einfüllung des flutenden

Elements in stille Becken, in denen sich der Himmel spiegelt;

man kann in der Ruhelage des Beharrens die sich gleichbleibenden

Kräfte und Bedingungen der Gattungsform, des stammhaften Volkstums,

der Landschaft oder der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit

zum Gegenstand der Betrachtung machen und alle Äußerungen individuellen

Lebens diesen Kategorien unterordnen; man kann die

ewigen Probleme, die Glaubensgewißheiten, Bekenntnisformen und

Weltanschauungen oder die in langsamer Veränderung begriffenen

Formen der Gesellschaft, der Stände, der Bildungsschichten als mehr

oder weniger feste Grundmauern des Baues betrachten. Immer wird

man, wenn auch nur sekundär, die Gliederung jenem Rhythmus der

Gegensätzlichkeit, in dem sich der Wandel der Zeitlage ausspricht,

entnehmen müssen, es sei denn, daß eine starre Systematik gewaltsam

jeden Gesichtspunkt der Entwicklung ausschalten wollte.



Literaturgeschichte, die den Ablauf einer Entwicklung darstellen

will, ist immer, ausgesprochenermaßen oder unausgesprochen, die Geschichte

der literarischen Generationen und ihrer Schöpfungen. Das |#f0551 : 527|



Wort „Generation“ bildet den Schlüssel für die unbestreitbaren Tatsachen

der Wandlung und Entwicklung, der Fortschritte und Rückschläge,

und es ist bloß die Frage, ob dieser Schlüssel als ein Passepartout

gehandhabt werden kann, dem alle Räume sich erschließen,

ob er ein Dietrich ist, der den Zugang gewaltsam sprengt, oder ob

er ein Geheimschlüssel bleibt, der als Werk subtiler Feinkunst nur

in den Händen des Kenners seine Dienste tut.



So aktuell heute der Begriff der Generation geworden ist, so wenig

ist seine praktische Anwendung für die Literaturgeschichte eine neue

Errungenschaft. Man hat schon früher die Bibliotheken der schönen

Literatur eines Volkes statt nach Alphabet oder Erscheinungsjahr

nach den Geburtsjahren der Verfasser aufgestellt und in diesem

Grundsatz eine sachgemäße Gruppierung und die Grundlagen einer

Periodisierung erblickt, ohne daß man des Glaubens war, damit eine

umwälzende wissenschaftliche Erkenntnis erreicht zu haben. Was

neu ist und die Wissenschaft ernstlich beschäftigen muß, ist die Aufgabe

der theoretischen Unterbauung einer längst verlaufenden Entwicklung.

Diese Theorie ist wieder einem Wandel von Generation zu

Generation unterworfen. In der Zeit, da die große Monographie die

vornehmlichste Aufgabe literarhistorischer Darstellung bedeutete,

schien die Genealogie des Einzelnen, die auf das Erbe der Ahnen zurückführte,

vielleicht manchmal wichtiger als die Generation, die ihn

mit den Zeitgenossen verband. Für die geistesgeschichtliche Fragestellung

der Neuzeit, die zu ergründen bemüht ist, aus welchen Wurzeln

die übereinstimmende Richtung gleichzeitiger Anschauungen und

Schöpfungen auf allen Gebieten menschlicher Geisteshaltung in

Religion, Politik, Rechtsauffassung und Kunst sich herschreibt, ist

die Generation ein Hauptproblem geworden. „Generation“ ist heute

ein differenzierter Ersatz für den summarischen und kaum faßbaren

Begriff des „Zeitgeistes“ und eine grundlegende Voraussetzung des

Begriffes „Zeitstil“.



2. Begriff der Generation



Die heute gebräuchliche Anwendung des Wortes ist durch vielfältige

Übertragungen so vieldeutig geworden, daß zunächst einmal

an der Hand von Beispielen der Umfang des Begriffsinhaltes geprüft

und abgegrenzt werden muß. Mit der Geistesgeschichte hat das Wort

ursprünglich nichts zu tun; vielmehr ist „Generation“ zunächst eine

unmittelbar verständliche Gegebenheit nur innerhalb der einzelnen

Familienreihe als Schrittfolge der Fortpflanzung. Zum Zeitmaß wird |#f0552 : 528|



diese Horizontalstruktur des Stammbaums durch die Beobachtung

einer gewissen Regelmäßigkeit im Altersabstand zwischen Vater und

Sohn. Wenn schon Herodot sich von ägyptischen Priestern das Geheimnis

verkünden ließ, daß drei Generationen gerade ein Jahrhundert

ausmachten, so ist die Voraussetzung ein Durchschnittsmaß

von 33⅓ Jahren für diesen Altersunterschied. Eine statistische Nachprüfung,

wie sie Gustav Rümelin in seinem Aufsatz „Über den Begriff

und die Dauer einer Generation“ (Reden und Aufsätze. Freiburg

i. B. 1875, S. 285 bis 304) vorgenommen hat, kam zu dem Ergebnis,

daß dieser Durchschnitt nach Zeit und Volk jeweils ein anderer

sei, daß er im neuzeitlichen Europa etwa zwischen 32 und

39 Jahren liege (für Deutschland damals 36½, für England 35½, für

Frankreich 34½), daß in Ländern früherer Mannbarkeit oder polygamer

Sitte aber ein ganz anderes Zahlenverhältnis herrschen müsse,

und daß die herodotische Berechnung zwar für sein Zeitalter richtig

gewesen sein mag, aber in keiner Weise ein allgemeingültiges unveränderliches

Zeitmaß darstellen kann.



Dazu kommt nun, daß für geschichtliches Zusammenwirken es

ziemlich bedeutungslos ist, ob ein Urenkel etwa genau ein Jahrhundert

nach seinem Urgroßvater das Licht der Welt erblickt oder

etwas später; viel wichtiger ist die Tatsache, daß das Jahrhundert

die Wirksamkeit von fünf Generationen in sich schließt, indem Vater

und Großvater jenes am Anfang des Jahrhunderts geborenen Urgroßvaters

noch eine gute Weile das Wachstum des Sprößlings und seiner

Kinder begleiten und leiten konnten. Und in diesem Übereinandergreifen

ohne Ablösung liegt eine schon von David Hume hervorgehobene

Besonderheit der menschlichen Generationsfolge gegenüber

der tierischen. Eltern und Großeltern sind in der Lage, alle ihre

Lebenserfahrung auf die Nachkommen zu übertragen. Diese Übermittlung

wird aber nicht selten zu einer Aufdrängung, die der

Jugend das Recht auf eigene Lebenserfahrung verkürzt und sie zur

Auflehnung gegen die Tradition herausfordert.



In einer anderen Weise hat man das Zeitmaß des Dritteljahrhunderts

als das einer Generation zu stützen gesucht, nämlich durch

den Grundsatz der „Lebenswirksamkeit“ des Einzelnen. Sie soll unter

jenen in den Rahmen eines Jahrhunderts fallenden fünf Familiengenerationen

nur dreien gegeben sein; denn die historische Wirksamkeit

des Menschen soll im Durchschnitt mit dem 30. Lebensjahr beginnen

und zwischen dem 60. und 70. enden; also ist der Urgroßvater

in der letzten Spanne seines Lebens, die noch in dieses Jahrhundert

reicht, nicht mehr lebenswirksam, und der Enkel ist es in seiner |#f0553 : 529|



ersten Lebensphase noch nicht. Diese offensichtlich der Genealogie

entnommene Zahlenrechnung mag für die legitime physische Zeugungstätigkeit

eher zutreffen als für die Schätzung geistiger Wirkung,

für die sie einen vollkommenen Irrweg bedeutet. Hier kann keine

Genealogie helfen, denn wir haben es nicht mit aufeinanderfolgenden

Gliedern einer Familie zu tun, sondern mit Altersverschiedenheiten

ohne verwandtschaftlichen Zusammenhang; noch weniger nützt die

Statistik, denn uns beschäftigt im produktiven Geistesleben niemals

der Durchschnitt, sondern die Abnormität. Wenn es auch im Abnormen

eine Norm gibt, so kann in bezug auf das dichterische

Schöpfertum gesagt werden, daß die Aufsehen erregenden, Epoche

machenden, zum Feldgeschrei einer jungen Generation werdenden

und den revolutionären Ausdruck einer neuen Zeit bildenden Werke

des Genies eigentlich immer unter den Erstlingen zu finden sind,

während dagegen die späten, aber nachhaltigsten Wirkungen oft von

den als Vermächtnis hinterlassenen Alterswerken ausgehen. Goethe

hat mit keiner seiner Dichtungen solchen Erfolg und so weitgreifende

Wirkung gehabt, wie mit dem „Werther“, den er als Fünfundzwanzigjähriger

erscheinen ließ, aber kein anderes Werk erreicht die universale

Bedeutung des „Faust“, den der Achtzigjährige abschloß.

Joh. Christ. Günther, Friedrich v. Hardenberg, Percy Bysshe Shelley,

Wilhelm Hauff, Georg Büchner und der Graf v. Strachwitz haben

das 31. Lebensjahr überhaupt nicht erreicht und sind trotzdem

lebenswirksam gewesen. Theodor Fontane dagegen hat seinen ersten

großen Roman im 60. Lebensjahr erscheinen lassen, und seine Meisterwerke

sind Früchte des 7. und 8. Jahrzehnts. In anderen Künsten

ist die Spannweite noch größer: Mozart komponierte schon mit

6 Jahren und hatte mit 13 Jahren seinen ersten Opernerfolg, während

Tizian noch im 99. Lebensjahr an seiner „Pietà“ malte. Und das

letztere ist ein Beweis, daß die „Lebenswirkung“ des Schaffenden

mehr als das Doppelte dessen umfassen kann, was als Durchschnittsmaß

einer Generation zu bezeichnen üblich ist.



Wenn die historische Wirkung eines Geistes so umfassend ist, wie

die Goethes, so kann er namengebend ein ganzes Zeitalter beherrschen.

Eine Darstellung, wie Korffs „Geist der Goethezeit“

bringt aber schon in ihrem Aufbau zum Ausdruck, daß Goethes Wirkungsbereich

den mehrerer Generationen umfaßt; als seine eigene

Generation werden wir doch nur die mit ihm Gleichaltrigen, also die

Stürmer und Dränger Maler Müller, Sprickmann (1749), die Grafen

Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg (1748/50), Jak. Mich.

Reinhold Lenz (1751), Friedr. Maximilian Klinger und Johann Anton |#f0554 : 530|



Leisewitz (1752) aufzufassen geneigt sein, indem wir beobachten, wie

Goethes Entwicklung über sie hinausführte. Schiller wird durch

seinen Biographen H. H. Borcherdt schon einer anderen Generation

zugezählt, wie bereits Ermatinger in seiner Geschichte der deutschen

Lyrik angedeutet hatte.



Durch die dynastische Geschichtsschreibung sind wir mehr an die

Benennung großer Zeitalter nach den Staatsoberhäuptern gewöhnt:

Das perikleische Zeitalter Athens, das augustische Roms, die Mediceerzeit

in Florenz, das elisabethanische England und das siècle de

Louis XIV. in Frankreich bedeuten im Herderschen Sinne Kulturmaxima

der Nationen, und die an jenem Gipfel jeweils Teilhabenden

pflegen wir trotz ihrer Altersunterschiede eine Generation zu nennen,

solange uns die Kultur, in der sie standen, als Einheit erscheint.

Ebenso charakterisieren die Namen Louis XV. und Louis XVI. als

Stilbegriffe ihre Zeitalter. Die aufeinanderfolgenden Glieder einer

Dynastie können auch jedesmal eine literarische Generation bezeichnen,

wenn sie kunstfördernd die Dichtung beeinflußten, ohne selbst

produktiv zu sein. Karl der Große ließ alte Heldenlieder von der Art

des Hildebrandsliedes sammeln; sein Sohn Ludwig der Fromme bestellte

den „Heliand“; sein Enkel Ludwig der Deutsche empfing die

Widmung von Otfrids Evangelienbuch; das Ludwigslied aber besingt

den Sieg Ludwigs III. bei Saucourt. Hier also bedeutet der

Stammbaum der Karolinger in vier Generationen ein Merkblatt für

die Chronologie der altdeutschen Dichtung. Und ebenso können die

Dienste, die Walther von der Vogelweide zwei Generationen der

Staufer und einem welfischen Zwischenkaiser erwiesen hat, zur Datierung

seiner Sprüche verhelfen.



Nur einmal gab die deutsche Geschichte die Möglichkeit, ein ganzes

Zeitalter nach der Person eines großen Herrschers zu benennen.

Immanuel Kant bezeichnete das Aufklärungszeitalter als das Jahrhundert

Friedrichs des Großen; Lessing hatte in seiner letzten Schrift

über die Fabeln der Minnesänger schon im voraus gegen solche Benennung

Einspruch erhoben mit der ironischen Frage, ob die guten

schwäbischen Kaiser um die damalige Poesie etwa mehr Verdienst

gehabt hätten als der jetzige König von Preußen um die gegenwärtige;

Goethe kehrte in „Dichtung und Wahrheit“ zu Kants Anschauung

zurück und feierte Friedrich als den ersten, der der

deutschen Dichtung zeitgeschichtlichen Stoff gab. Trotzdem besteht

hier eine Disharmonie. Die Tragik des einsamen Königs, der vor der

ihm zugewandten nationalen Dichtung die Augen verschloß, ist

Generationstragik: weder unter den ihm vorausgehenden Schriftstellern, |#f0555 : 531|



den Canitz und Besser (1654), den Neukirch (1665), König

(1688), Pietsch (1690) und Gottsched (1700) noch unter seinen unmittelbaren

Altersgenossen, den Samuel Gotthold Lange (1711), Karl

Christian Gärtner (1712) und der Gottschedin (1713), lernte er einen

kennen, der ihn für die heimische Dichtung erwärmen konnte. Und

zur folgenden Generation, die mit Klopstock, Lessing, Wieland eine

neue, ihm fremde Sprache redete, fand er kein Verhältnis mehr.



Etwas anders liegt der Fall in dem „Wilhelminischen Zeitalter“,

als das nicht zu ihrem Ruhme die hinter uns liegenden Jahrzehnte

bezeichnet zu werden pflegen. Die unmittelbaren Altersgenossen

Wilhelms II. sind die Schöpfer und Mitläufer des Naturalismus: 1857

war Hermann Sudermann geboren, 1858 Karl Hauptmann, 1859

Julius Hart, Karl Bleibtreu, Heinrich Sohnrey, Gabriele Reuter, Maria

Janitschek, Helene Böhlau, 1860 Bruno Wille, Clara Viebig, 1861

Wilhelm Bölsche, Wilhelm v. Polenz, Joseph Ruederer, 1862 Wilhelm

Weigand, Johannes Schlaf, Hermann Conradi, Gerhart Hauptmann,

1863 Arno Holz, Hermann Bahr, Richard Dehmel. Die Schriftsteller,

deren lebensfrohem Optimismus der Kaiser seine Gunst zuwandte,

Joseph Lauff (1855) und Ludwig Ganghofer (1856) gehörten einer

früheren Generation an; sie waren Epigonen jenes romantischen Realismus

der um 1830 und 40 Geborenen, der mit Scheffel, Stieler, Seidel,

Busch, Raabe, Rosegger, Ferdinand v. Saar, Paul Heyse, Felix

Dahn und Wildenbruch lebenbejahend das dritte Viertel des vorigen

Jahrhunderts erfüllt hatte. Daß dem Kaiser von vornherein jedes

Gemeinsamkeitsgefühl mit seinen eigenen Altersgenossen gefehlt

habe, wird durch die sozialpolitische Haltung bei Anfang seines Auftretens

widerlegt, trotzdem öffnet sich zwischen der unechten Romantik

seines Kunstgeschmacks und der rücksichtslosen Wahrheitstendenz

des konsequenten Naturalismus eine so tiefe Kluft, daß an

diesem Beispiel deutlich wird, wie wenig die relative Einheitsrichtung

der um 1860 geborenen Schriftsteller, die von einem neuen Geist erfüllt

waren, eine Einheitsrichtung aller gleichaltrigen Deutschen bedeutete.

Wenn die „literarische Generation“, die um 1890 im Zeichen

des Naturalismus hervortritt, sich aus den um 1860 Geborenen zusammensetzte,

so stand doch ein großer Teil der Gleichaltrigen zu ihr in

Gegensatz. In diesem Sinne also darf Generation keineswegs als Gesamtheit

aller Altersgenossen gelten.



Vielmehr zeigt dasselbe Beispiel weiter, daß schon während der

Lebens- und Wirkungsdauer dieser Altersgruppe eine ihrem ersten

Auftreten entgegengesetzte Richtung den Sieg erringt. Sind auch die

ehemaligen Naturalisten der Jahrgänge 1859/63 in der Mehrzahl |#f0556 : 532|



heute noch am Leben, so ist der Naturalismus selbst, dessen Dauerwirkung

mehr in der Niederkämpfung unwahrer als in der Errichtung

wahrer Kunst bestand, bei uns eigentlich nur zu einer Lebensdauer

von gutgerechnet 15 Jahren gelangt. Schon 1890 beginnen die „Blätter

für die Kunst“ zu erscheinen, und um 1900 ist der Sieg der idealistischen

Neuromantiker, Neuklassiker und Symbolisten entschieden,

der zum großen Teil auch eine Selbstbesinnung, Umkehr oder Weiterentwicklung

der ehemaligen Naturalisten nach sich zieht. Ricarda

Huch (1864), Eduard Stucken, Friedrich Lienhard (1865), Paul Ernst,

Richard Beer-Hofmann (1866), Max Dauthendey, Rudolf Georg Binding

(1867), Stefan George (1868), Karl Wolfskehl (1869), Alfred

Mombert (1872), Hugo v. Hofmannsthal, Richard v. Schaukal, Wilhelm

v. Scholz (1874), Rainer Maria Rilke (1875), Herbert Eulenberg,

Wilhelm Schmidtbonn, Ernst Hardt, Theodor Däubler (1876) haben

mit dem Naturalismus nichts zu tun. Soll man sie nun als den andern

Teil der naturalistischen Generation bezeichnen oder als eine neue

Generation, deren „historische Wirkung“ bereits zehn Jahre nach der

vorhergehenden einsetzt? Noch verwickelter wird das Verhältnis dadurch,

daß derselben Altersgruppe ebensowohl Schüler des Naturalismus

wie Max Halbe (1865), Ludwig Thoma (1867), Wilhelm Schaefer

(1868), die Brüder Mann (1871/75), als auch Vorkämpfer der nächstfolgenden

Kunstrichtung, nämlich des Expressionismus, angehören:

Ernst Barlach (1870), August Stramm (1874), Else Lasker-Schüler

(1876). Wir stehen also vor der Beobachtung, daß jede Altersgruppe

sowohl Nachzügler der vorausgehenden als Vorläufer der folgenden

Richtung enthält, daß aber ihr Charakter durch einen Mehrheitswillen

bestimmt wird, der sich von dem der Vorgänger wie der Nachfolger

unterscheidet.



Geradezu auf den Kopf gestellt erscheint das hier beobachtete Verhältnis

von Naturalismus und Symbolismus bei einem Blick auf

Frankreich, wo der Symbolismus mit dem Tod von Verlaine und

Mallarmé zu einer Zeit abstarb (1896), wo die ihm folgende Bewegung

in Deutschland eben erwachte, während der Naturalismus

Zolas noch um die Jahrhundertwende in Blüte stand, als er für die

deutschen Nachfolger bereits so gut wie erledigt war. Hier kommen

nationale Unterschiede zur Geltung, die in Frankreich den Naturalismus,

in Deutschland die symbolisierende Romantik als das ursprünglichere,

älter eingewurzelte Element des Volksgeistes erscheinen

lassen. So stellen denn auch die nach 1800 geborenen französischen

Romantiker eine spätere Generation dar als die deutschen, während

im Naturalismus Frankreich um mehr als eine Generation voraus war. |#f0557 : 533|



Es ergibt sich daraus, daß die Generation als Zeitbegriff nicht bestimmten

Jahreszahlen wie 1890 bis 1900, die in allen Ländern der christlichen

Zeitrechnung dasselbe bedeuten, gleichkommt, sondern daß es

sich um eine innere Zeit handelt, die wie Blüte, Reife und Frucht

nach klimatischen Unterschieden auseinandergeht, so wie jedes dieser

Länder auch einen anderen Meridian hat und den Aufgang und Untergang

der Sonne in einem andern Zeitpunkt erlebt.



Allerdings scheinen die Altersverhältnisse der Naturalisten und

Symbolisten in Frankreich weniger eine generationsmäßige Aufeinanderfolge

als ein Nebeneinander aufzuweisen: Baudelaire ist im selben

Jahre 1821 geboren wie Flaubert, und Mallarmé (1842) wie Verlaine

(1844) sind ungefähr Altersgenossen von Zola (1840). Trotzdem

(oder vielleicht gerade wegen dieses Nebeneinandergehens verschiedener

Typen) ist im neuzeitlichen Frankreich ein generationsmäßiger

Rhythmus der Entwicklung wohl zu beobachten, indem etwa alle zehn

Jahre eine frische Jugendgruppe hervortritt, die den fundamentalen

Dualismus von Ausdrucks- und Eindruckskunst in neuen Schlagworten

ihres Kunstprogramms variiert.



Die schematische Wirkungsdauer des Dritteljahrhunderts verliert

gegenüber diesen Überschneidungen ihre Gültigkeit; sie hat als Übertragung

aus dem Gebiete der physischen Genealogie keinen Bestand

im geistigen Leben, in dem unendlich viele physische Generationsreihen

nebeneinander hergehen, ohne sich irgendwie zu decken. Tatsächlich

wird ja mit jedem Tage in einigen hundert Familien ein

Kind geboren, das für diese Geschlechter jedesmal den Anfang einer

neuen Generation bedeutet. Jedes Jahr aber bringt eine Generation

von Sechsjährigen in der Schule und eine Generation von Zwanzigjährigen

an der Universität zu einer Lebensgemeinschaft zusammen,

die nicht nur miteinander lernt, sondern sich gegenseitig befruchtet.

Die neue Generation im geistesgeschichtlichen Sinne entsteht, sobald

diese Gleichaltrigen sich bewußt werden, daß sie etwas anderes wollen

als die Älteren, die es für selbstverständlich halten, Nachkommende

ihren eigenen Weg zu führen. Insofern ist das Verhalten der Jugend

auch von der Elastizität der Älteren abhängig; so lange diese selbst

Suchende und Werdende sind, wird es ihnen gelingen, sogar von der

Jugend zu lernen und mit ihr zu gehen; ihre Erstarrung aber zwingt

die Jugend zur Sezession.



Das Problem liegt nun in der Frage, ob der neue Wille der Nachkommen

schon durch den Zeitpunkt der Geburt als Prädestination

künftiger Leistungen in sie gelegt ist oder ob er unter dem Eindruck

gleichartiger Erlebnisse in sympathisch befruchtendem Zusammentreffen |#f0558 : 534|



erzeugt wird. Für beides lassen sich Belege erbringen: die berühmte

Duplizität der Fälle zeigt immer wieder, daß Menschen

gleichen Alters ohne jede persönliche Berührung im gleichen Zeitpunkt

auf dieselbe Fragestellung und gleichartige Lösung geführt

werden; aber mindestens ebenso oft ist zu beobachten, daß der Funke

überspringt, und daß das Neue als Ergebnis einer sich gegenseitig anregenden

Gemeinschaft, als Bewußtwerden gleicher Ziele, als Inhalt

gemeinsamer Offenbarung hervortritt.



Der geistesgeschichtliche Generationsbegriff, wie ihn etwa der spanische

Philosoph José Ortega y Gasset formuliert hat, als „dynamische

Verschmelzung von Masse und Individuum“, als „ein neuer,

in sich geschlossener sozialer Körper mit seiner eigenen erlauchten

Minderheit und seiner eigenen Masse, der mit vorgegebener vitaler

Geschwindigkeit und Richtung in den Kreis des Daseins hineingeschleudert

ist“, schließt beides in sich: Gleichaltrigkeit und Gleichrichtung.

Aber es ist eine verschiedene Ursächlichkeit, ob die Gleichrichtung

aus der Gleichaltrigkeit hervorgeht, oder ob die ungefähr

Gleichaltrigen in eine bestehende Strömung hineinwachsen und dank

ihrer Gleichaltrigkeit zur selben Zeit von ihr erfaßt werden. Es ist,

mit einem Wort, die Frage, ob die Generationseinheit geboren wird

oder sich bildet. Hier trennen sich zwei verschiedene Richtungen der

Generationsforschung: für die eine ist, äußerlich gesehen, die Tabelle

der Geburtsdaten Material und Ausgangspunkt; für die andere die

Chronologie der literarischen Erscheinungen, aus denen sich der Zeitpunkt

des gleichzeitig auftretenden neuen Willens ergibt. Die eine

ist also von vornherein mehr individualistisch, die andere mehr kollektivistisch.

Astrologie und Mystik sind die sich berührenden Extreme

der beiden Betrachtungsweisen, aber in der mittleren Linie

wird die eine auf eine biologische, die andere auf eine phänomenologische

Methode angewiesen sein. Außer ihnen besteht noch eine

dritte Richtung (nach der Zeit ihres Auftretens ist sie die erste), die

man universalistisch nennen kann, insofern sie individualistische Gesichtspunkte

auf die Totalität überträgt, und chiliastisch, insofern sie

das Generationsproblem zum Maßstab weltgeschichtlicher Periodisierungen

erhebt.



3. Die Generationstheorien



Die Lage des Generationsproblems zeigt einerseits eine positivistische

Fragestellung und anderseits eine romantisch-historische.

Der Positivismus findet im biologischen Gesetz der begrenzten, in

Altersstufen geteilten Lebensdauer ein willkommenes Mittel, menschliches |#f0559 : 535|



Schicksal quantitativ zu erfassen und in festen Zahlen zu errechnen.

Dem romantischen Historismus hingegen bietet die Beobachtung

generationsmäßigen Wandels eine Möglichkeit, dem starren

Schema der Zahl zu entrinnen und mittels einer nur qualitativ erfaßbaren

inneren Zeit die lineare Betrachtung des Ablaufs durch raummäßige

Tiefenperspektive zu ersetzen. Für den teleologischen Fortschrittsgedanken

des Positivismus bedeuten die Generationen nichts

anderes als gleichmäßige Treppenstufen stetigen Aufstiegs; für den

relativistischen Historismus sind sie wogende Wellen, deren regelmäßiges

Auf und Nieder ein von der Intensität der bewegenden

Kräfte abhängiges Zeitmaß darstellt.



a) Der mechanisierende Formalismus hat seine Heimat in England

und Frankreich, und sein Höhepunkt liegt hinter der Mitte des

19. Jahrhunderts; der organische Historismus wurzelt in der deutschen

Romantik und kommt zu neuer Geltung in der Lebensphilosophie

der Gegenwart; beide Richtungen aber haben sich oft, Verbindung

suchend, berührt. Den Positivismus in Reinkultur stellte etwa

das Generationsgesetz dar, mit dem der Franzose Justin Dromel

1861 in seinem Buch „La loi des révolutions“ eine wissenschaftliche

Enthüllung der Zukunft geben wollte. Die 40 Jahre, über die die

politische Wirksamkeit des demokratischen Staatsbürgers sich durchschnittlich

erstreckt, werden im Anfang durch das Weiterleben der

älteren, am Ende durch das Absterben der eigenen Generation beschränkt;

so verfügt jede Generation nur während ungefähr 15 Jahren

über die zahlenmäßige Stimmenmehrheit, durch die sie das Geschick

des Staates bestimmen kann. Die Zwischenräume zwischen

den französischen Umwälzungen der Jahre 1789, 1800, 1815, 1830,

1848 bestätigen das Gesetz; in jedem dieser Zeitpunkte tritt eine neue

Generation in die Erscheinung und führt einen Schritt weiter in der

Richtung des Menschheitsideales.



Der deutsche Historiker, der genau ein Vierteljahrhundert später

(1886) seine Generationslehre veröffentlichte, Ottokar Lorenz,

suchte eine Vermittlung zwischen Positivismus und romantischer Geschichtsphilosophie

und hoffte dadurch Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft

zu versöhnen. Gegen die Einwände der Naturwissenschaftler,

die wie Du Bois-Reymond das zufällige Zahlensystem der

Jahrhundertrechnung von den Fingern der menschlichen Hand herleiteten,

begründete er die objektive Einheit des Jahrhunderts als

Summe der Lebenswirksamkeit von drei Generationen. Im Gegensatz

gegen die formalen Periodensysteme der älteren Geschichtsschreibung,

namentlich gegen die Auffassung des Mittelalters als einer zusammenhängenden |#f0560 : 536|



Einheit, verlangte er feiner abgestufte Charakteristiken

der durch das Führertum großer Einzelpersönlichkeiten bestimmten

geistigen Zeiteinheiten. Das entsprach der historischen Pinselführung

Leopold v. Rankes, dessen Autorität Lorenz für sich in Anspruch

nahm. In der Tat spielt der Wechsel der Generationen in Rankes

Geschichtsschreibung eine nicht unbedeutende Rolle, und der viel

zitierte Zusatz, mit dem er 1874 die Neubearbeitung seines Erstlingswerkes,

der „Geschichte der romanisch-germanischen Völker“ abschloß,

entwirft sogar in aller Vorsicht ein darstellerisches Programm,

das er selbst nicht mehr durchführen konnte: „Es wäre vielleicht

überhaupt eine Aufgabe, die Generationen, soweit es möglich ist,

nacheinander aufzuführen, wie sie auf dem Schauplatze der Weltgeschichte

zusammengehören und sich voneinander sondern. Man

müßte einer jeden von ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen;

man würde eine Reihe der glänzendsten Gestalten darstellen können,

die jedesmal untereinander die engsten Beziehungen haben und in

deren Gegensätzen die Weltentwicklung weiter fortschreitet: die Ereignisse

entsprechen ihrer Natur.“ (Sämtliche Werke Bd. 33, S. 323.)

Lorenz konnte auch auf Gespräche mit dem Meister hinweisen, in

denen dieser die Generation als „Ausdruck für gewisse im Menschenalter

wirksame Ideen“ bezeichnet hatte. (Die Geschichtswissenschaft

in ihren Hauptvertretern II 138.) Er verschwieg aber auch nicht

Rankes Warnung vor Systematisierung, ungeachtet deren er sein

eigenes Schema aufgestellt hatte. Dieses System beruht in nichts anderem

als einer Übertragung des Generationsverhältnisses auf das

Verhältnis der Jahrhunderte untereinander. Wie drei Generationen

in der Zusammengehörigkeit von Großvater, Vater und Sohn ein

Jahrhundert bilden, so bilden drei Jahrhunderte wieder eine Einheit,

und derselbe Dreitakt schließt sich in Riesenprojektion nochmals

zu drei mal drei Jahrhunderten zusammen. Es tut nichts, daß das

eine Jahrhundert, das mit dem Großvater begonnen wird, ebensogut

auch mit dem Vater oder mit dem Sohn anfangen und mit Enkel oder

Urenkel hätte schließen können, und daß in gleicher Abwechslung

auch das Dreigespann der Jahrhunderte zu schirren wäre: wie im

Rosenkranz nach zehn Perlen, so wird hier nach jeder dritten Generation

ein Knoten gemacht, und der unaufhörlich rollende Paternoster-Aufzug

soll nach 27 Gliedern wieder an der alten Stelle angelangt

sein, denn 900 Jahre bilden eine Weltperiode. Eine Stütze

für seine Einheiten von 300 Jahren glaubte Lorenz in der deutschen

Literaturgeschichte zu finden, nämlich in der Wellentheorie Wilhelm

Scherers
(1883), die zwischen 300jährigem Aufstieg und 300jährigem |#f0561 : 537|



Sinken drei Höhepunkte um 600, 1200 und 1800 heraushob.

Aber gerade Scherers großzügige Gliederung, die über den Generationsrhythmus

hinwegging, ließ mit der Festsetzung eines hypothetischen

Höhepunktes, der wie eine urgermanische Sprachform

ohne Beleg um 600 konstruiert wurde, und mit der Annahme zweier

Tiefpunkte um 900 und 1500 die anfechtbarsten Blößen der positivistischen

Konstruktion erkennen. So vermochte gerade dieser Beistand

den Kredit der Generationslehre nicht zu erhöhen; in Ernst

Tröltschs
„Geschichte des Historismus“ wird sie als „reine Kabbala“

abgetan.



Von dem Glauben, daß nach 50 Jahren jedes Schulkind in Lorenzschen

Generationen rechnen werde, hat sich bisher nur soviel erfüllt,

daß wenigstens des Historikers Sohn Alfred Lorenz im Jahre

1928 eine „Musikgeschichte im Rhythmus der Generationen“ erscheinen

ließ, die einen alle drei Jahrhunderte sich vollziehenden Wechsel

des Übergewichts von Zeit- oder Raumgefühl, das in homophoner

Rhythmik oder polyphoner Innenschau sich auswirkt, und eine alle

sechs Jahrhunderte sich vollziehende Wiederkehr des gleichen Zustandes

als Bilanz der Musikgeschichte in das väterliche Schema einzeichnete.





Unterscheidet sich die deutsche Konstruktion von der französischen

dadurch, daß an Stelle des Fortschrittes die Wiederkehr des

Gleichen gesetzt ist, so haben beide Arten chiliastischer Geschichtsphilosophie

zweierlei gemeinsam: 1. daß die Generation im wesentlichen

als Zeitmaß der Gesamtentwicklung betrachtet wird und demgemäß

mit wenig persönlichem Leben erfüllt ist, 2. daß im Verhältnis

der aufeinanderfolgenden Generationen mehr der Zusammenhang als

der Gegensatz betont wird. Dem ersten Mangel begegnet die biologische

Betrachtungsweise, die den Zeitpunkt der Geburt entscheidend

sein läßt und damit das Einzelleben individualistisch in den Vordergrund

stellt, dem zweiten die phänomenologische Einstellung, die

auf das Wesen der geistigen Kollektivbewegungen, die zu bestimmten

Zeitpunkten in Erscheinung treten, gerichtet ist.



b) Die biologische Richtung ist durch das Aufsehen erregende

Buch Wilhelm Pinders über „Das Problem der Generation in

der Kunstgeschichte Europas“ (Berlin 1927) in den Vordergrund des

Interesses gerückt worden. Es handelt sich dabei insofern um eine

interne Angelegenheit der Kunstwissenschaft, als gegenüber dem neumodischen

Ideal einer Kunstgeschichte ohne Namen hier das Recht

und die Notwendigkeit der nicht-anonymen Kunstgeschichte mit

neuen Gründen verfochten wird. Die geistreich formulierte „Ungleichzeitigkeit |#f0562 : 538|



des Gleichzeitigen“, die aus der Gleichzeitigkeit verschiedener

Altersgruppen folgt, sagt an sich nichts Neues, ist aber

von besonderer Bedeutung für den kunstgeschichtlichen Wissenschaftsbetrieb,

für den allzu leicht Stilbestimmung und Datierung auf

ein und dasselbe hinauskam. Demgegenüber wird auf die Erkenntnis

Wert gelegt, daß jeder Zeitpunkt mehreren Generationen angehört,

von denen jede in einem anderen Zeitalter ihrer selbst steht. Historisches

Verstehen ist Erfassen der Polyphonie verschiedener Altersschichten

in mehrdimensionalem Zeitdenken. In musikalischen Bildern

wird dieses Zusammenklingen verdeutlicht: was als einheitliche

Zeitfarbe erscheint, ist die Scheinakkordik des vertikalen Zusammentreffens

einzelner Töne, die jedoch verschiedenen Horizontalsystemen

einer Fuge angehören. Es handelt sich also um einen Dualismus von

Zeit und Generation. Zeitcharakter liegt in der Einheit der Mittel,

aber bei dieser Einheit der Mittel gibt es Problemverschiedenheit,

und nur die Problemeinheit bringt den Generationscharakter zum

Ausdruck.



Bezeichnend für die Einseitigkeit des Prädestinationsstandpunktes

ist es nun, daß die Probleme nicht an den Werdenden herangetragen

werden, sondern daß sie schicksalsbestimmt mit ihm geboren sein

sollen. Jedem einzelnen ist die Möglichkeit seiner Entfaltung als Mitgift

in die Wiege gelegt, und die Übereinstimmung dieser Möglichkeiten

ist die Entelechie der Generation. Was an Reibungen und Erfahrungen,

Einflüssen und Beziehungen auf die lebendige Entwicklung

der geprägten Form einwirkt, ist sekundär. Wie wenig von

solchen Bildungseinflüssen gehalten wird, kommt etwa in dem Satz

zum Ausdruck: „Der Philosoph einer Maler-Generation ist nicht der,

den sie etwa liest (vielleicht glaubt sie an diesen), sondern der, mit

dem sie geboren ist (vielleicht weiß sie nichts von ihm).“ In diesem

Sinne wird nun zwischen Vermeer und Spinoza (1632), zwischen

Watteau und Berkley (1684), zwischen Manet und Wundt (1832) ein

Zusammenhang erblickt.



Geburt geht vor Gleichzeitigkeit des Daseins. Der Generationsrhythmus

aber und seine Dynamik entstehen durch den Wurf der

Natur. Anders als es etwa Ibsens aufklärerische Meinung war,

wonach zu jeder Zeit gleichviel Gescheitheit in der Welt herrsche

und die verschwenderische Verausgabung besonderer Klugheit immer

an ein paar Durchschnittsintelligenzen wieder eingespart werden

müsse, kommt bei Pinder die Ökonomie darin zum Ausdruck, daß die

Natur gewissermaßen Quartalsverschwenderin ist, daß sie in Reihen

sich verausgabt und die Geburt großer Meister auf ein paar Jahre |#f0563 : 539|



häuft, um dann wieder eine Zeit lang auszuruhen. In diesen Intervallen,

nicht in der Wirkungsdauer, liegt das Zeitmaß. Es ist unregelmäßig,

denn „es gibt Zeiten, in denen die Intervalle sehr klein sind,

ein überwältigender Lebensstrom auffallend schnell hintereinander

entscheidende Geburtsschichten erzeugt“; aber es gibt auch ganz

große Meister, die „die stilgeschichtliche Kraft von Generationsfolgen“

haben. Das erste wird etwa an dem angeblich zehnjährigen

Abstand zwischen den Generationen Michel Angelo─Giorgione

(1475/78) und Tizian-Raffael-Correggio (1477/83/94), die aber ineinander

übergreifen, veranschaulicht oder an dem rund zwanzigjährigen

Abstand zwischen Menzel (1815) ─ Marées (1837) ─

Hodler (1853), der seine Entsprechung findet in dem Verhältnis

zwischen Courbet (1819) ─ Cézanne (1839) ─ van Gogh (1853).

Pinder beschränkt aber den Begriff der allwaltenden Natur durch die

Kultur, indem er hier ein europäisches Gesetz erblickt, das nur auf

das Abendland beschränkt ist und mit dem geistigen Wikingertum

Europas in Zusammenhang gebracht wird.



Es soll auch für die anderen Künste gelten. Das Generationsgesetz

wird sogar gesteigert zu einer allegorischen Übertragung auf ihre

Altersfolge, denn die Künste selbst leben wie die Menschen als Zeitgenossen,

jede in einem anderen Zeitalter ihrer Entwicklung stehend,

nebeneinander her. Die Altersfolge ist Architektur, Plastik, Malerei,

Musik. Die Architektur, die heute (1927) nur noch Zweckkunst ist,

ist abgelebt, während die absolute Musik noch in ihrer Jugend steht.

Beethovens Musik bedeutet für das Jahr 1800 dasselbe wie die Kathedrale

für das Mittelalter, dessen Symphonie sie gewesen ist.



Für die Dichtung ist bei dieser Anordnung der Künste nach der

Länge ihrer Entelechien und nach dem Wechsel ihrer lebenskräftigen

Herrschaft und Führerschaft kein rechter Platz da. In einer durch

den Doppelcharakter der Sprache als Mitteilungsmittel und als

Kunstform bedingten Sonderstellung entzieht sich die Dichtkunst der

sogenannten natürlichen Staffelung, dem Generationsgesetz der

mathematisch-handwerklich fundierten Künste, und bleibt mit der

Philosophie und Wissenschaft vereinigt. Dafür soll sie in jedem Zeitpunkte

mit den anderen Künsten, am engsten mit den gerade lebenskräftig

herrschenden, in innerlicher Generationsverbindung stehen.

Und aus gleichem Geburtsjahre werden nun die Gleichungen bald

zwischen Dichter und Maler (Cervantes ─ Greco 1547/48; Heinse ─

Goya 1746) hergestellt, bald zwischen Dichter und Musiker (Hölderlin

─ Beethoven 1770; Eichendorff ─ Weber 1788/86). Wobei zu

sagen ist, daß der von Witkop mit Glück durchgeführte Vergleich |#f0564 : 540|



zwischen Beethoven und Heinr. v. Kleist (1777) weit ergiebiger ist

als der mit Hölderlin.



Als Auslegung einer unbestreitbaren Tatsachenbasis, als wichtige

„innerlich begründete, wenn auch unerklärliche Gliederungsmöglichkeit“

stellt Pinder seine Generationslehre zur Diskussion. Die Aufnahme,

die ihr bei den kunsthistorischen Fachgenossen zuteil wurde,

hat uns hier nicht zu beschäftigen, dagegen wohl das literarische

Gegenstück, das Hans v. Müller in seinem kleinen Buch „Zehn

Generationen deutscher Dichter und Denker“ (Berlin 1928) ein Jahr

nach Pinder in Erweiterung früherer eigener Versuche erscheinen

ließ. Hier ist keine neue Theorie gegeben, sondern Tatsachenbasis

ohne Auslegung; eine Erscheinung, die gesehen, aber nicht erklärt

werden kann. Ein oberflächlicher Überblick dient zur Einführung

der Geburtstabellen, in denen gruppierte Altersfolgen der deutschen

Literatur von 1561 (dem Geburtsjahr Christoph v. Schallenbergs) bis

1892 zurechtgeschnitten sind. Die praktischen Gesichtspunkte der

Bibliotheksanordnung stehen im Vordergrund; doch verrät sich die

in einer früheren Tabelle (1917) schon ausgesprochene Absicht,

„revolutionäre Ideen als eine harmlose Anweisung für Sammler zum

Aufstellen ihrer Bücher zu maskieren“. Daher hat dies Unternehmen

ein doppeltes Gesicht: als eine das bibliographische Handbuch des

Goedekeschen Grundrisses ergänzende biographische Zeittafel leistet

die saubere Arbeit sehr gute Dienste; außerdem hat sie aber das ungewollte

Verdienst, die konsequente Handhabung des Grundsatzes,

daß gemeinsame Tendenzen lediglich aus dem Zwang der Geburtslage

hervorgehen und daß sie sich, wie nach Linnés System, einfach in

Jahreskästen einordnen lassen, ad absurdum zu führen.



Äußerlich hat man zwar den Eindruck, daß das Patience-Spiel nach

mehrmaligem Legen endlich aufgegangen ist. Zehn Generationen sind

gebildet, von denen jede über 29 bis 36½ Geburtsjahrgänge sich erstreckt

und in 4 bis 5 Gruppen von 7 bis 8 Jahren Umfang geteilt ist.

Die erste bis fünfte Generation bilden ein Zeitalter, das als „Renaissance

im weiteren Sinne“ bezeichnet wird und wieder 3 Glieder hat:

Frühbarock (Generation I), Hochbarock (Generation II), Spätbarock,

gemischt mit Aufklärung (Generation III bis V). Die sechste bis

achte Generation schließen sich als das Jahrhundert Hamanns zusammen

in drei Gliedern, von denen das erste Rokoko, Sturm und

Drang und Klassizismus, das zweite Romantik heißt, während das

dritte, nur noch zu einem kleinen Teil von Hamanns Geiste getrieben,

durch die Worte Zerfall und Nachblüte charakterisiert wird. Die

neunte Generation, die immerhin Namen wie Conr. Ferd. Meyer, |#f0565 : 541|



Josef Viktor v. Scheffel, Paul Heyse, Wilhelm Raabe, Ludwig Anzengruber,

Detlev v. Liliencron, Ernst v. Wildenbruch, Karl Spitteler

aufweist, soll für die Dichtung ausfallen. Ihr Philosoph Nietzsche

spricht ins Leere. Dasselbe hätte mit mehr Recht von der dritten

Generation gesagt werden können, in der kein Dichter der Stimme

des Philosophen Leibniz antwortet, oder von der vierten, in der

alles Gewicht auf die Namen der Musiker Händel und Bach fällt.

Diese Generationen sind aber mit mehr Liebe behandelt, weil sie sich

immerhin als Ansätze zum Aufstieg in zyklische Zusammenfassung

einpassen lassen, während die unglückliche neunte Generation zwar

der Gruppe C zugerechnet wird, aber inhaltlos bleibt, weil der dritte

Anlauf erst mit der zehnten Generation beginnt.



Der Erfolg des Anlaufs ist jedesmal von fremder Hilfe abhängig:

Generation I steigt aus dem Nichts empor mit Hilfe der Romanen

(in Epos und Lyrik) und der Engländer (im Drama); der zweite Anlauf

der sechsten bis achten Generation glückt, weil sich die deutsche

Dichtung durch acht verschiedene Quellen der Anregung erneuert,

nämlich aus dem orientalischen und klassischen Altertum, aus dem

europäischen und asiatischen Mittelalter, aus der englischen und

deutschen Volkspoesie, aus Shakespeares Dramen und eigener ästhetischer

Besinnung; der dritte Anlauf aber, der mit der zehnten Generation

beginnt, stützt sich auf skandinavische, russische und französische

Altersgenossen von Generation IX. Und warum die vor der

ersten Generation liegende Literatur nicht gezählt wird, ergibt sich

aus der Umkehr desselben Prinzips: sie war „durch Inzucht völlig

verblödet“ (S. 47). Dies trifft zwar für einen Fischart keineswegs

zu, ist aber für die Leichtfertigkeit des Tones und der Begründung

charakteristisch. Der uralte und, wie man wohl sagen darf, gänzlich

veraltete Grundsatz der Periodisierung nach fremden Einflüssen ist

vielleicht dem Generationsprinzip am meisten entgegengesetzt; er läßt

sich noch allenfalls mit der Auffassung in Einklang bringen, daß die

Generationseinheit durch Hineinwachsen in geistige Strömungen sich

bildet, aber am wenigsten mit dem Gedanken, daß sie ihre Potenzen

von Geburt an in sich trägt.



Schließlich sind aber diese Altersgruppen, zwischen denen ein Abstand

von 36 Jahren liegt, gar keine Generationen, weder im genealogischen

Sinne, noch im Sinne der Stileinheit oder Problemgemeinschaft.

Sie sind auch nicht vom Zentrum her bestimmt, sondern von

der Peripherie. Flüssige Grenzen werden fixiert, aber die Kristallisationspunkte

werden nicht erfaßt. Zwischen Lessing und Hamann,

die im Alter um ein Jahr getrennt sind, wird die Wasserscheide gelegt: |#f0566 : 542|



der eine wird als Krönung und Abschluß der mit Bodmer und

Gottsched einsetzenden Normen suchenden Generation gesehen, obwohl

doch, wenn irgendwo, ein generationsmäßiger Gegensatz in dem

Kampf Lessings gegen Gottsched zum Ausdruck kam; der andere ist

der gewaltige Prophet des Irrationalismus, mit dem die neue Generation

beginnt. Die Folge ist nun, daß sich nicht nur „schnell noch,

um nicht den letzten Moment zu verpassen“, das langlebige Trio des

Rokoko innerhalb der Sturm-und-Drang-Generation ans Licht drängt:

Wieland, Scheffner und Thümmel mit Musäus als Viertem, sondern

daß Erzaufklärer und Rationalisten wie Friedrich Nicolai, Cornelius

Hermann v. Ayrenhoff und Joseph v. Sonnenfels in Hamanns Gefolge

zur neuen Generation aufrücken, und daß Karl Gotthelf Lessing, der

doch auch nach genealogischem Generationsbegriff zu seinem älteren

Bruder Gotthold Ephraim gehört, von ihm getrennt wird, während

vorher einmal in Johann Jakob Moser und Friedrich Karl v. Moser

Vater und Sohn zur gleichen Generation gezählt wurden. Ein ähnliches

Mißgeschick ist es, wenn Knorr v. Rosenroth, Heinrich Mühlpfort

und Quirinus Kuhlmann als ausgesprochene Vertreter des Hochbarock

in die erste Generation der bürgerlichen Aufklärung einrücken

müssen oder wenn Kotzebue und Garlieb Merkel, Haug und

Weißer, Mathisson und Schmidt v. Werneuchen, die Klassizisten Conz

und Baggesen und der Rationalist Paulus, also alle die Vertreter der

Rückständigkeit, mit denen die Romantiker in Fehde lebten, nun mit

ihnen in Gemeinschaft gebracht werden. Es sind Altersgenossen, aber

nicht Generationsgenossen in dem Sinne, in dem der Begriff Generation

gerade für die deutsche Romantik zum erstenmal formuliert

wurde, nämlich als „ein engerer Kreis von Individuen, welche durch

Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen,

wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeiten auftraten, trotz der

Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen

Ganzen verbunden sind.“ (Dilthey.)



Ein Biologe von Fach, Walter Scheidt, hat in seinem Buch

„Lebensgesetze der Kultur“ (Berlin 1929) das Verfahren, das sich

biologisch nennt, einer beachtenswerten Kritik unterzogen und ist zu

dem Ergebnis gelangt, daß mehr ein Kunstfertigkeitsversuch als eine

Methode vorliege. v. Müllers Zusammenstellungen stellen nach seiner

Prüfung eher einen „Blindversuch“ als eine „experimentelle Bestätigung“

dar. Das Material der Geburtsdaten ergibt keinen Anhaltspunkt

für eine unzufällige Gruppierung der Geburtsabstände historisch

bekannter Dichter und Denker. Eine Lösung des Rätsels der

Gruppenbildung wird vielmehr im lebensgesetzlichen Zusammenhang |#f0567 : 543|



zwischen „Volk“ und „Führer“ gesucht, also in einer Anpassung von

Mensch und Umwelt, die nur auf dem dritten Wege Erklärung finden

kann.



c) In einem Zeitpunkt, da der Positivismus in Blüte stand, hat

Wilhelm Dilthey, in dem die Lehren Rankes noch lebendig

waren, den romantisch-historischen Generationsbegriff am Beispiel

der deutschen Romantik erschlossen. An drei Stellen seiner Werke

findet sich angedeutet, worin für ihn das Wesentliche und Anwendbare

des Begriffes lag: der Novalis-Aufsatz von 1866 sieht in der Abgrenzung

der Generation eine fruchtbare Möglichkeit zum Studium

der intellektuellen Kulturepoche; im „Leben Schleiermachers“ von

1870 bildet der Generationsbegriff den Untergrund der Darstellung;

in dem Aufsatz „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften

vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat“ (1875) wird er in

wörtlicher Anlehnung an den Novalis-Aufsatz als ein Gerüst des Verlaufs

geistiger Bewegungen methodisch gewertet. Am deutlichsten

spricht das „Leben Schleiermachers“ in seinem 6. Kapitel aus, worin

sich Diltheys Anschauung sowohl vom Konstruktionsschema des Positivismus

als von der biologischen Prädestinationslehre unterscheidet.

Er begnügt sich nicht mit der paradoxen Tatsache, daß die romantische

Dichtung, die dicht neben den vollendetsten Schöpfungen

Goethes und Schillers, von der Zeit im höchsten Maße begünstigt,

alle Kräfte an sich zog, sich dennoch „in sich selber verzehrte, wie infolge

einer mitgegebenen Anlage ihrer Organisation“. Vielmehr erscheint

ihm diese Tatsache aus der literarischen Konstellation erklärbar.

Es lag nicht an einem Mangel der Begabung; vielmehr treten

uns ja die Begabungen in staunenswerter Fülle und Frühreife entgegen.

„Ungefähr dasselbe Maß der Anlagen, aus denen das dichterische

Genie sich formt, mag in einer jeden neuen Generation vorhanden

sein. Erst die Bedingungen, unter denen diese Anlagen sich

entwickeln, entscheiden über die Lebensbahnen. Oder wie wollte

man sonst die Tatsache erklären, daß einer aufsteigenden poetischen

Bewegung niemals der vollendende Genius fehlt?“ Die Romantik

aber war keine aufsteigende Bewegung: sie sah sich dem dichterischen

Höhepunkt unserer Literatur gegenüber; die ganze junge

Generation wuchs im Studium von Lebensansichten, ästhetischer

Technik und Kunstmitteln der größten Poeten auf; statt sich mit unbefangenem

Lebenssinn dem Eindruck der Welt selber hinzugeben,

verarbeitete man in sich die verschiedenen Arten, die Welt anzuschauen

und dichterisch darzustellen; statt einen neuen vollen

Lebensgehalt mit gesunden Sinnen aus Menschen und Schicksalen |#f0568 : 544|



selber zu empfangen, bildete man Ansichten von den Ansichten, unter

denen die Welt anderen erschienen war.



Bemerkenswert an dieser Darstellung, die das Wesen der Romantik

nicht erschöpfen will und sich auf wenige Momente, nämlich das

Überliterarische, das Leben aus zweiter Hand, den Intellektualismus

der Frühromantiker beschränkt, ist die Bedingtheit durch die erdrückende

Leistung der vorhergehenden Generation. Diese Leistung

war in der Geburtsstunde der romantischen Altersgenossen noch gar

nicht vorhanden und konnte erst in den Jahren der Entwicklung zum

schicksalbestimmenden Bildungserlebnis werden. Das Gleichnis der

physischen Genealogie steht also auf einem Fuße fest, insofern die

Söhne ohne die Väter nicht zu denken sind, aber es hinkt auf dem

andern, indem nicht im einseitigen Akt der Zeugung, sondern in der

wechselseitigen Berührung, in der Reibung und Spannung zwischen

Werdendem und Vollendetem der fruchtbare Zeitpunkt der Bedingtheit

zu erblicken ist.



In diesem Sinne muß sich an der vollendeten Romantik wieder eine

neue Generation gebildet haben, die ohne ihren Vorausgang nicht zu

denken ist, auch wenn sie völlig andere Ziele vor sich sieht. Je näher

wir unserer eigenen Zeit kommen, desto mehr erfüllt sich der Generationsrhythmus

mit persönlichem Leben, sind wir doch gewohnt, von

unserer eigenen Lage auf die Zeit der Väter und Großväter zurückzublicken.

So hat denn auch das letztvergangene Jahrhundert als

erstes zu einer generationsmäßig gegliederten Gesamtdarstellung

seiner Literatur herausgefordert. Im Jahre 1909 ließ Friedrich

Kummer
seine „Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten

Jahrhunderts, dargestellt nach Generationen“ erscheinen. Er nannte

als Anreger Erich Schmidt, als historische Vorgänger Ranke, Rümelin,

Lorenz, als literarhistorische Verwandte Haym, Stern und Bartels,

aber er ließ den Namen Dilthey ungenannt, obwohl seine Definition

ihm besonders nahe kam: „Eine Generation umfaßt alle etwa gleichzeitig

lebenden Menschen, die aus den gleichen wirtschaftlichen, politischen

und gesellschaftlichen Zuständen hervorgegangen sind und

daher mit verwandter Weltanschauung, Bildung, Moral und Kunstempfindung

ausgestattet sind.“ Es ist im Grunde dasselbe gedacht,

aber ein näherer Vergleich zeigt doch, wie verwaschen die spätere

Formulierung ist: „Der engere Kreis von Individuen“ ist ausgedehnt

auf „alle etwa gleichzeitig lebenden Menschen“; die „Verbindung zu

einem homogenen Ganzen“ ist ersetzt durch eine „Ausstattung mit

verwandter Weltanschauung, Bildung, Moral und Kunstempfindung“;

es fehlen „die großen Tatsachen und Veränderungen“ als generationsbildende |#f0569 : 545|



Gelegenheiten ebenso wie die differenzierenden Faktoren,

die die Generationsbildung nicht verhindern können. Dafür ist in der

Ausführung ein entwicklungsmäßiger Gang innegehalten, der den

Wellenschlag mit der Zeitlupe sehen läßt und gewissermaßen Generationen

innerhalb der Generation auseinanderlegt, nämlich Vorläufer,

Pfadfinder, führende Talente, Genies (wenn sie da sind), selbständige

Talente ohne führende Bedeutung, abhängige Talente, Industrietalente.

Auf die Geburtsdaten ist keinerlei Wert gelegt, sondern nur

auf den Zeitpunkt des Auftretens; der von Pinder so richtig gesehene

Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit und Gleichaltrigkeit ist daher

nicht in aller Schärfe erkannt; vielmehr erlaubt das Duldungsprinzip

„aller etwa gleichzeitig lebenden Menschen“ einen Austausch innerhalb

der Altersgruppen, so daß der 1819 geborene Fontane künstlerisch

zur fünften Generation des Jahrhunderts, also den um 1860 geborenen

Naturalisten gezählt wird, während der 1857 geborene Sudermann

sich in die vierte Generation, in die Nachbarschaft Spielhagens

und Lindaus zurückversetzen lassen muß. Die Kritik Hans

v. Müllers, daß hier nicht Dichtergenerationen, sondern Lesergenerationen

gemeint seien, schießt vielleicht über das Ziel hinaus, aber die

richtige Trennung, die Pinder zwischen Einheit der Mittel und Einheit

der Probleme macht, vermag den Rechenfehler aufzuzeigen.

Fontane hat in der Tat die Mittel mit der jüngeren, die Probleme

aber mit seiner eigenen Generation gemeinsam.



In diesem Zusammenhang muß ich auch meine eigene Beschäftigung

mit der Generationsfrage kurz erwähnen. In der 1913 gehaltenen

Baseler Antrittsvorlesung „Literaturgeschichte als Wissenschaft“

(Heidelberg 1914) hatte ich bereits Veranlassung, mich mit Kummers

Generationslehre auseinanderzusetzen und zu bemängeln, daß neben

der zeitlichen und kulturellen Gemeinschaft die lokale Gruppenbildung

als dritte Koordinate des dreidimensionalen Wirkungszusammenhanges

zu kurz komme. Die potentielle Trennung in führende

Talente, selbständige Talente ohne führende Bedeutung und abhängige

Talente riß beispielsweise die drei annähernd gleichaltrigen

Landsleute Uhland, Kerner und Schwab in Kummers Darstellung auseinander

und zerstörte damit eine landschaftliche Generationseinheit.

Anderseits war Kummer darin Recht zu geben, daß gleiches Geburtsdatum

nicht unbedingt eine Zusammengehörigkeit verbürge. Als Beispiel

nannte ich aus dem 18. Jahrhundert Jak. Mich. Reinh. Lenz

und Johann Heinrich Voß, die man schwerlich auf einen Nenner

bringen kann, obwohl beide in zwei aufeinanderfolgenden Monaten

des Jahres 1751 geboren sind.

|#f0570 : 546|



Man braucht das nicht ganz so leicht zu nehmen, wie der spanische

Generationstheoretiker José Ortega y Gasset, der die Verschiedenheit

der Gegenspieler unter den Zeitgenossen für gegeben hält und hinter

den heftigsten Gegensätzen doch immer leicht die Gemeinschaft der

Einstellung entdecken will. Es gibt Altersgenossen, die man ohne

Kenntnis ihres Geburtsdatums gemäß ihrer historischen Wirkung

nimmermehr derselben Generation zuteilen würde. Die Müllerschen

Tabellen zeigen noch manches weitere ungleiche Paar dieser Art wie

Gottsched und Zinzendorf (1700), Uz und Möser (1720), Vulpius und

Fichte (1762), Börne und O. H. v. Loeben (1786), Heinrich Heine

und Jeremias Gotthelf (1797), Hauff und Wienbarg (1802), Storm

und Scherr (1817), Ricarda Huch und Frank Wedekind (1864), Wilhelm

v. Scholz und August Stramm (1874), Jakob Schaffner und

Rainer Maria Rilke (1875). Meist ist es die Herkunft aus ganz verschiedenen

Landschaften und Lebenskreisen, die die Einheit schaffende

Generationstendenz nicht hat durchdringen lassen, aber es

wirkt doch noch ein anderes mit, nämlich eine von Zeit, Stamm und

Landschaft unabhängige Verschiedenheit des Anlagetypus.



Die Behandlung, die ich in meiner späteren Schrift „Die Wesensbestimmung

der deutschen Romantik“ (Leipzig 1926) dem Generationsproblem

zuteil werden ließ, konnte auf einen voreingenommenen

Beurteiler wie Hans v. Müller den Eindruck machen, daß ich

„nur mit den stärksten inneren Hemmungen“ auf die Vorstellung eingegangen

sei. Ich glaube, daß diese Hemmungen eher im Gegenstand

als in mir lagen. Für die zwei schon früher beobachteten Abweichungen

der Regel mußten Erklärungen gesucht werden: für die

lokale Begrenzung der Generationsbildung und für die trotz der Einheitstendenz

vorkommende Gegensätzlichkeit und Wesensverschiedenheit

unter den gleichzeitig Geborenen.



Für das erste bot gerade die Ausbreitung der romantischen Bewegung

ein sehr günstiges Beobachtungsfeld. Jene von Dilthey hervorgehobene

Bedingtheit durch den Gipfel der klassischen Dichtung

galt in erster Linie für den in Jena und Berlin versammelten Kreis

der Frühromantiker, der unmittelbar vor dieser Höhe stand. Ihm war

die Steigerungstendenz diktiert, diesen Gipfel zu überwinden. Der

Widerstand gegen die verknöcherte Schulmeisterei der Aufklärung

war schon im Pietismus, im Rousseauismus und Sturm und Drang

vorausgenommen, so daß sich diese Gegenbewegung bei der jungen

Generation nicht selbständig Bahn zu brechen brauchte. Aber in

Gegenden, wo der protestantische Pietismus nicht die Seelen erschüttert

hatte, wo der Sturm und Drang kaum zur Entfaltung gelangt und |#f0571 : 547|



die Macht der Aufklärung noch ungebrochen war, wie im katholischen

Bayern und im josephinischen Österreich, mußte sich in der

jungen Generation erst eine spontane Abwehrbewegung entwickeln.

Dort war auch keine Klassik zur Entfaltung gekommen; die Romantik

stieß unmittelbar auf die Aufklärung, und zwar zu einem wesentlich

späteren Zeitpunkt als in Norddeutschland, wo sie mit der Klassik

zeitlich beinahe zusammenfiel. Die Klassik kommt dagegen in Österreich

mit Grillparzer, der in den Widerstreit von Aufklärung und

Romantik hineinwuchs, als Synthese ganz anderer Elemente (nämlich

der Romantik statt des Sturmes und Dranges) erst in einer nachromantischen

Generation zur Entfaltung.



Trotzdem erblickt im katholischen Bayern schon im Jahr 1765

(also vor den Brüdern Schlegel) der Vollromantiker Franz Baader

das Licht der Welt. Die Generation ist da, aber sie muß erst geweckt

werden. Für Baader, der schon durch seinen Lehrer J. M. Sailer

mit der religiösen Gefühlswelle des Pietismus in Berührung gebracht

war, vollendet sich, wie David Baumgardt gezeigt hat, die Erweckung

durch seine Freundschaft mit Schelling. Zehn Jahre Altersunterschied,

aber um 1797 etwa der gleiche Stand der Naturphilosophie.

Eine bayrische Romantik indessen hat doch erst das neue Jahrhundert

in Landshuter und Münchner Gesinnungsgemeinschaften

herausgebildet.



Das andere Phänomen, das der Erklärung bedarf, liegt in der jederzeit

zu beobachtenden Sonderstellung, die einzelne Altersgenossen

von der Generationsgemeinschaft ausschließt, sowie in der Parteibildung,

die zu Zeiten eine Generationsspaltung herbeiführt. Diese

Erscheinung läßt sich nicht allein durch lokale Bedingungen erklären,

sondern muß, so sehr sie als Gegenbeweis gegen den Zwang der Geburtslage

auszuwerten ist, doch letztlich auf die Geburt zurückgeführt

werden als individuelle Entelechie und angeborene Bedingtheit

der Anlage. Ich habe in meinem Romantik-Buch eine mögliche

Lösung dieses Problems durch Verbindung der Generationsvorstellung

mit der Typenlehre angedeutet. Unter den gleichzeitig Geborenen

mögen die verschiedenen Veranlagungstypen von vornherein

in ungefähr gleicher Mischung vertreten sein, aber einem bestimmten

Typus ist es vorbehalten, zur Zeit seines Hervortretens in eine gespannte

Zeitlage hinein das zündende Wort zu schleudern, das als

Gebot der Stunde und als neue Parole die junge Generation einigt.

Dieser Typus wird zum führenden Generationstyp, der nicht

allein durch ihm günstige Bildungsfaktoren zur vollen Herausbildung

seiner Eigenheit, zur Steigerung seiner Anlagen, zur Umbildung alter |#f0572 : 548|



und Schöpfung neuer Formen gelangt, sondern dem es in seiner Geschlossenheit

auch gelingt, einen zweiten Teil der Generation, der

typisch anders veranlagt ist, mitzureißen. Diese zweite Gruppe bildet

den umgelenkten Typus der Generation, der durch seine Anpassung

die Überlegenheit des ersten verstärkt und durch seine

Wandlung erst den nach außen hin sichtbaren Eindruck der Generationseinheit

vollendet. Denn durch seinen Übertritt wird nun ein

dritter dem ersten ganz entgegengesetzter Typus isoliert und zur zeitlichen

Wirkungslosigkeit verurteilt. Es ist der unterdrückte

Typus,
der in Wahrung seiner Eigenart sich nicht zur Geltung

bringen kann und daher vor der Wahl steht, entweder in ausgetretenen

Bahnen, die seiner Art entsprechen, rückständig weiterzutrotten

oder in Verleugnung seiner Eigenart als charakterloser Mitläufer

der Mode eine untergeordnete Rolle zu spielen oder in hartnäckiger

Versteifung seiner Eigenart als Einsamer auf die Resonanz der Kommenden

zu warten. Er stellt sich, wenn er nicht nachgibt, entweder

als Epigone zu den Großvätern oder als Vorläufer zu den Söhnen

und Enkeln. Das Zustandekommen dieses Bildes ist abhängig sowohl

von der Intensität des ersten als von der Nachgiebigkeit des zweiten

und dritten Typus. Wird die Umlenkung, die dem ersten Typus die

Herrschaft verleiht, nicht durchgesetzt, so kommt es zu keiner

Generationseinheit, und die Gegensätzlichkeit zwischen dem ersten

und dritten Typus findet ihren Austrag in einer Generationsspaltung.





Es kommt auf die Kraft der neuen Bewegung an, ob sie durch Umlenkung

der Halbheit alles mit sich zu reißen vermag. Die deutsche

Romantik bietet das Bild der Generationseinheit. Neben dem rein

romantischen Typus, der in Friedrich Schlegel, Novalis, Werner,

Wackenroder, Brentano personifiziert ist, stehen die Umgelenkten, die

sich, wie August Wilhelm Schlegel und Tieck, durch ihre Geschicklichkeit

sogar eine zeitweilige Führerrolle sicherten. Ein Troß von

Pseudo-Romantikern folgt der Zeitmode. Aber der unromantische

Typus, der seine rationale Anlage den Denkgesetzen der Romantik

nicht unterwerfen kann, steht in Angriffsstellung bereit und gelangt

am Ende mit dem Losbrechen einer neuen Generation zum Übergewicht.





Das Bild der Generationsspaltung dagegen sehen wir mehrfach im

späteren 19. Jahrhundert, dessen Uneinheitlichkeit den Eindruck sehr

schneller Generationsfolgen aufkommen läßt. Vielleicht wird das am

deutlichsten bei den Naturalisten um 1890, die zum Teil Umgelenkte

waren und nachmals zu ihrer Eigenart zurückfanden, zum Teil durch |#f0573 : 549|



die siegreiche Gegenströmung, die man auch als Auftreten einer neuen

Generation betrachten kann, sich umlenken ließen.



Der Romanist Eduard Wechßler bekannte 1923 in einem Aufsatz

über „Die Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit der

französischen Aufklärung“ (Deutsche Vierteljahrschrift I, 615), seit

mehr als zwanzig Jahren alle Vorlesungen über Literatur- und Geistesgeschichte

auf Altersgemeinschaften aufgebaut zu haben, wobei er

weder den genealogischen noch den biologischen, geschweige den

naturgesetzlichen, sondern lediglich den geistesgeschichtlichen Sinn

Rankes und Diltheys im Auge hatte. „In ungleichen Abständen treten

neue Gruppen von Jahrgängen, genauer gesagt die Sprecher und

Führer einer neuen Jugend hervor, die innerlich durch gleiche, in

der Zeitlage gegebene Voraussetzungen, äußerlich durch ihre Geburt

in einer begrenzten Spanne von Jahren verbunden sind.“ Fünf Altersgemeinschaften

Frankreichs, zuerst die von Richelieu, Descartes,

Gassend, Marquise von Rambouillet, Balzac, Voiture, sodann die

zweite der Pierre Corneille, Madeleine de Scudéry und Conrart, die

dritte mit Antoine Arnauld, La Rochefoucauld, Cyrano de Bergerac,

St. Evremond und Scarron, als vierte Bossuet, Pascal, Molière, La

Fontaine, Jean Racine, Malebranche, Boileau, als letzte Pierre Bayle,

Fontenelle, Fénélon, Abbé St. Pierre haben den Bau der französischen

Aufklärung errichtet. Fünf deutsche Altersgemeinschaften

haben sich mit ihm auseinandergesetzt: Zur ersten rechnen die

1708─19 Geborenen, die gegen 1732 in zwei getrennten Gruppen

auftraten, von denen die eine (Friedrich II., Hagedorn, Gellert, Elias

Schlegel) dem französischen Vorbild unterworfen, die andere (Haller,

Winckelmann, Gluck) einer echteren Einfalt hingegeben war; zur

zweiten Altersgemeinschaft gehören die 1720─33 Geborenen: Kant,

Klopstock, Lessing, Geßner, Hamann, Möser, Wieland, Haydn; zur

dritten die zwischen 1740 und 1754 geborenen, um 1770 hervortretenden

Stürmer und Dränger, zur vierten Schiller und Fichte (die

deutschen Gegenbilder zu Corneille und Richelieu), sowie Mozart,

Jean Paul und die Führer der Befreiungskriege, zur fünften Beethoven,

Hegel, Hölderlin, Schelling und die zwischen 1767 und 1777

geborenen Romantiker.



Auffallenderweise wird kein Versuch gemacht, französische und

deutsche Generationen des gleichen Jahrhunderts zur Deckung zu

bringen, obwohl auch für das Ende des 18. Jahrhunderts drei französische

Altersgemeinschaften, die erste mit Mirabeau, die zweite mit

Danton, die dritte mit Napoleon an der Spitze, gesondert werden.

Mirabeau ist der Altersgenosse Goethes; Danton hat gleiches Geburtsjahr |#f0574 : 550|



mit Schiller; Napoleon ist Altersgenosse von Ernst Moritz Arndt

und Alexander v. Humboldt. Den drei Altersgruppen Frankreichs

entsprechen also zwei deutsche, und es stellt sich heraus, daß dieser

Standpunkt, der die Generationen als Wellen und Schichten geistiger

Bewegung auffaßt, jener internationalen Gleichstellung, zu der die

Überbewertung des Geburtsjahres führt, sich fernhält und dafür den

besonderen Entwicklungsverhältnissen jeder Nationalkultur Rechnung

trägt.



In einem späteren Aufsatz Wechßlers „Die Generation als Jugendgemeinschaft“

(Geist und Gesellschaft. Festschrift für Breysig 1927, I,

66/102) ist auf die Geburtslage kaum mehr Rücksicht genommen,

sondern aller Nachdruck auf den Zeitpunkt gemeinsamen Auftretens

gelegt. Das ist der Kairos, der Quellpunkt, an dem ein neuer Jugendgeist

durchbricht. „Die Taten und Leiden echten Jugendgeistes: das

ist der wahre Inhalt der Weltgeschichte.“ Jugendgemeinschaft aber

ist die Trägerin des Jugendgeistes; sie wird erklärt als „die Summe

der Jahrgänge in Stamm oder Volkheit oder Welt, welche äußerlich

durch gemeinsame Jahre der Geburt und innerlich durch gemeinsame

Eindrücke, Erlebnisse und Taten ihrer Kinder- und Jünglingszeit in

ähnliche Lebensstimmung, Geisteshaltung und Fragestellung hineingewachsen

und darin durch täglichen Umgang und gegenseitige Ermutigung,

und oft auch durch den Widerstand der Umwelt bis zu

dem Zeitpunkt ihrer ersten Reife und ihres Eintritts in die Zeit gefördert

und bestätigt worden sind“. Diese Generationsfolge tritt in

unregelmäßigen Zeitabständen hervor, die von unserer gewohnten

Zeitrechnung ganz unabhängig sind, aber sie erlaubt doch größere

Zusammenfassungen, denn von Zeit zu Zeit ist ein tieferer Einschnitt,

eine Wende zu gewahren, wo sich das Neue schärfer vom Alten sondert,

und die von einer Wende zur andern reichende Gruppe von

Jungmannschaften heißt Zeitalter oder Epoche.



Zur Ergänzung dieser Ausführungen sind noch die Thesen heranzuziehen,

in denen der Inhalt der von Wechßler auf dem 2. Davoser

Hochschulkurs im Frühjahr 1929 über „Das Problem der Generationen

in der Geistesgeschichte“ gehaltenen Vorträge niedergelegt

ist (Davoser Revue IV. Jahrgang Nr. 8 vom 15. Mai 1929). Hier wird

Jugendgeist scharf geschieden vom sogenannten „Zeitgeist“, dessen

Wesen darin bestehe, den wahren Jugendgeist zu verdrängen und

endlich ganz zu ersetzen. Es wird angenommen, daß die Probleme

der neuen Generation organisch in der Seele der Jugend enthalten

und verborgen seien; sie entwickeln sich gleichsam im Schatten eines

großen Ereignisses, das stattgefunden hat oder im Anzuge ist (Französische |#f0575 : 551|



Revolution oder Weltkrieg). In dem immer neuen Ansturm

jeder jungen Altersgemeinschaft offenbart sich die geheimnisvolle

Kraft alles Göttlichen. Dieses Göttliche, das sich unablässig erneuert,

ergreift zunächst die großen Persönlichkeiten, dann die Massen, aber

es ist durch die unvermeidliche Anpassung an eine bestimmte Zeit

und ein bestimmtes Land zur Begrenzung und Abschwächung verurteilt.





Wechßlers Gedanken zum Generationsproblem verdanken einen

letzten befruchtenden Aufschwung den „Denkformen“ von Hans

Leisegang. Dieses 1929 ans Licht getretene System bietet einen durch

sorgfältige Textinterpretation gewonnenen Schlüssel für die Verschiedenheiten

logischer Sphären und sprachlicher Ausdrucksformen in

einer Typologie, die Diltheys drei Weltanschauungsformen zur Vierzahl

ergänzt. Eine kosmisch-organische, eine ethisch-persönliche, eine

physikalisch-mechanische und eine rational-mathematische Richtung

des Welterkennens sind im ganzen Aufbau ihrer Gedankenbildung zu

unterscheiden. Dieses System hat Wechßler in sein Buch „Die Generation

als Jugendreihe und ihr Kampf um die Denkform“ (Lpz. 1930)

eingebaut, indem er nach hinreißender Apotheose des Jugendgeistes

im zweiten Teil einen liebevollen Ausbau des Leisegangschen Systems

mit tabellarischen Übersichten sowie einer charakterologischen Anwendung

der Denkformen auf alle Erscheinungen geistigen Lebens

durchführt. Indem die vier Reihen in paralleler Entwicklungsgeschichte

über die vier Stufen der Merkformen, der Formen des

wahrheitsuchenden Denkens, der Bauformen und der Formen des

normativen Anerkennens oder Heilighaltens emporgeleitet werden,

ist der Boden für die entscheidende Begegnung zwischen Jugendgeist

und Denkform vorbereitet; indessen hätte die Ausführung dieses

Themas einen dritten Teil beansprucht, der dem Buche fehlt. In den

Davoser Thesen war behauptet, daß jede neue Altersgemeinschaft in

ihrer Gesamtheit und jeder ihrer Denker im besonderen zwischen

mehreren Denkformen wählen müsse. Wenn sich aber in solcher

Wahl überhaupt erst die Gesinnungsgemeinschaft herstellt, so hat die

Altersgemeinschaft als Einheit vor dem Durchbruch des Jugendgeistes

überhaupt noch nicht bestanden. Eine freie Wahl unter den Denkformen

ist dadurch beschränkt, daß die neue Jugendreihe, um einen

eigenen Weg zu gehen, eine andere Richtung als die der vorausgehenden

Generation einschlagen muß. Die seelische Not, in der die neue

Jugend zusammentrifft, ist ja eben in der Unbefriedigung durch das,

was die Älteren bieten, begründet. Es bleibt die Frage, ob nicht das

Verhalten der vorausgehenden Generation, das den selbständigen |#f0576 : 552|



Weg in einer bestimmten Richtung verlegt, damit, ohne es zu wollen,

eine bestimmte andere Richtung aufzwingt. Die Jugend kann, wenn

sie ihren Eigenwert erweisen will, gar nicht anders, als daß sie gerade

die Probleme aufgreift, deren Lösung die voraufgehende Generation

schuldig geblieben war. In diesem Sinne wenigstens wollte Dilthey

wohl zeigen, daß der deutschen Romantik, um sich gegenüber der Bewußtheit

der Klassiker durchzusetzen, keine Wahl für den einzuschlagenden

Weg übrig blieb. Dieser Weg mußte ins Unbewußte führen.



Eine neue Generation tritt immer dann auf, wenn das Werk der

vorausgehenden in seinen Umrissen fertig ist. Die Lücken, die das

System der vorausgehenden Generation offen läßt, zeigen der kommenden

den Weg. Jedes Einfache öffnet die Möglichkeit zur Steigerung

und Übertreibung; jede übersteigerte Einseitigkeit fordert zu

entgegengesetzter Einseitigkeit heraus. Insofern ist der Altersgeist

durch sein Versagen nicht minder als der Jugendgeist durch sein

Fordern an der Bildung einer neuen Generation beteiligt.



4. Die generationsbildenden Faktoren



a) Vererbung. Angeregt durch englische und französische Vererbungstheoretiker

wie Galton, G. de Lapouge und Ribot suchte

Ottokar Lorenz seine Generationslehre auf Gesetze der Erblichkeit zu

gründen. Das, worauf es für seinen Periodisierungszweck vor allem

ankam, nämlich die Zusammengehörigkeit von drei aufeinanderfolgenden

Generationen, ließ sich, ebenso wie die Stetigkeit des

Volksgeistes und Nationalcharakters, mühelos aus Blutsverwandtschaft

und Vermischung der Ahnenreihen herleiten. Ebenso schien

die Veränderung von Generation zu Generation auf nichts anderem als

neuer Blutmischung infolge Verbindung mit anderen Familien zu beruhen.

Was für die einzelne Ahnenreihe zutrifft, wurde somit ohne

Bedenken auf die Vielheit und Gesamtheit übertragen unter Übergehung

der Tatsache, daß geistige Führung niemals in der Weltgeschichte

erblich gewesen ist, weder bei einer Familie, noch bei

einem Stamm, noch bei einem Volke. Selbst die berühmten Beispiele,

die sich in der Familie Bach für gehäufte Musikbegabung, in der Familie

Tizian oder bei den Kaulbachs für erbliches Maltalent, in der

Familie Bernoulli für mathematisches Ingenium darbieten, sind zumeist

um einen überragenden Mittelpunkt gruppiert. Nicht anders

ist es mit der poetischen Begabung der Familie Coleridge in England.

Im übrigen tritt in bedeutenden Familien dank der „Polymerie“ nicht

selten ein generationsmäßiger Begabungswandel in Erscheinung, der |#f0577 : 553|



die Erkenntnis des Erbgutes erschwert: der Kriminalist Anselm Feuerbach

hatte den Philosophen zum Sohn und den Maler zum Enkel.



Dichterische Begabung scheint weniger als die der anderen Künste

ein Familienerbteil zu sein und sich auch in geringerem Maße als das

musikalische, zeichnerische, schauspielerische oder mathematische Können

im Zeichen erstaunlicher Frühreife zu äußern. Es ist ein einigermaßen

seltener Fall der Literaturgeschichte, daß Vater und Sohn in

ungefähr gleicher Bedeutung dastehen wie die beiden Alexandre

Dumas in Frankreich. Die deutschen Beispiele von Niclas und Hans

Rudolf Manuel, Georg und Gabriel Rollenhagen, Andreas und Christian

Gryphius, Joseph und Guido Görres zeigen durchweg ein Absinken.

Jedenfalls haben nur die romantischen Brüder Schlegel ihren

Vater Johann Adolf gewaltig übertroffen. Der theoretisch angezeigte

Fall, daß literarische Begabung des Großvaters im Enkel neu hervortritt,

wird außer der tragischen Situation von Goethes Enkeln durch

keine bedeutenden Belege veranschaulicht (Gottfried Justus und

Gottlieb Wilhelm Rabener; August Gottlieb und Alfred Meißner). In

der weiblichen Linie dagegen scheint die Vererbung günstiger zu verlaufen

als in der männlichen, wofür neben der Nachkommenschaft

der Karschin und der Charlotte Birch-Pfeiffer vor allem das Blut

der Sophie v. La Roche ein Beispiel gibt. Die empfindsame Verfasserin

des „Fräulein v. Sternheim“ hat zur Enkelin die Romantikerin

Bettina v. Arnim, zur Urenkelin Gisela Grimm und zu Ururenkelinnen

die beiden Schwestern Elisabeth v. Heyking und Irene Forbes-

Mosse. Über 5 Generationen (mit einer Unterbrechung) erstreckt

sich diese Reihe; aber trotz der starken Familientradition wird bei

jeder dieser Schriftstellerinnen die Erbeigentümlichkeit durch die

Generationsmerkmale überwogen. Andere Glieder der Familie haben

gleiches Begabungserbe mitbekommen, aber sie sind vom Ruf der

Generation nicht erreicht worden; das Begabungserbteil erscheint geradezu

als Hemmnis, solange es nicht an neuen Zeitproblemen Gelegenheit

zu selbständiger Entwicklung findet. Der notwendige Richtungswechsel

steht im Widerstreit mit dem Vererbungsprinzip und

bedingt, daß dieselbe Familie nicht mehrere Generationen hindurch

den Führertypus in Vertretung eines Erbamtes zu stellen imstande ist.



b) Geburt. Jedes Jahr gibt Jubiläumsrednern und Zeitungsschreibern

Gelegenheit, denen, die gerade vor einem oder mehreren

Jahrhunderten geboren sind, huldigend sich zuzuwenden. Solches

Erntefest des Kalenders lenkt die Aufmerksamkeit auf bisher kaum

beachtete Altersgleichheiten, die im Scheinwerfer der Nachwelt einander

näherrücken und Beziehungen sichtbar werden lassen, die für |#f0578 : 554|



die Mitwelt kaum erkennbar waren. Wer hätte beispielsweise im

18. Jahrhundert daran gedacht, Klopstock und Kant in einem Atem

zu nennen? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Nachwelt mit

solcher Zusammenstellung sich in optischer Täuschung befindet;

manches sieht sie schärfer, indem sie das Fernglas auf überragende

Gipfel richtet, deren Zusammenhang sich der Mitwelt gar nicht erschließen

konnte, weil ihr Blick in Tälern und Vorbergen beengt war.

Erst die Ferne prägt die charakteristische Silhouette des Jahrgangs

und stellt damit vor Rätsel unergründlicher Ursächlichkeit.



Ist es ein Spiel des Zufalls, daß aus der Roulette der Zeit bestimmte

Zahlen herausspringen, die allen Gewinn auf sich vereinigen?

Da gab es ein Schicksalsjahr für das Drama, als 1564 Shakespeare,

Marlowe, Alexandre Hardy und der Herzog Heinrich Julius von

Braunschweig geboren wurden; da erwies sich das Jahr 1632 der

Philosophie freundlich, indem es ihr John Locke und Spinoza

schenkte; 1685 aber wurde die Musik begünstigt, indem Händel,

Bach, Francesco Maria Veracini und Domenico Scarlatti zur Welt

kamen. Ein Vergleich mit guten Weinjahren, deren charakteristisches

Aroma der Kenner aus dem Produkt jeder Lage herausschmeckt, liegt

nahe, nur daß das Wachstum des Weines innerhalb des gesegneten

Jahres sich vollendet, während das des Menschen erst beginnt, so daß

der Vergleich wenigstens bis zur Flaschenreife ausgedehnt werden

müßte, wobei im Begriff des Jahrgangs die ganze Entwicklungszeit

zusammenzufassen wäre, die die Gleichaltrigen gemeinsam durchleben.

Als Jahrgang kommen sie im allgemeinen überhaupt erst zusammen

mit dem Eintritt in die Schule, mit Militärdienst, Studium,

Examen, Anstellung und dergleichen. Dabei hat die Altersklasse

gegenüber dem Geburtenjahrgang schon Verschiebungen erfahren

durch Zurückbleiben der Spätentwickelten und überhüpfendes Vorwärtsdrängen

der Frühreifen.



Trotzdem bleibt die Erscheinung eines Wurfes der Natur, die sich

beispielsweise den Taktschlag von zehnjährigen Intervallen auferlegt

zu haben scheint, als sie Johann Elias Schlegel 1719, Lessing 1729,

Schubart 1739, Goethe 1749, Schiller 1759 zur Welt kommen ließ.

Kann dieser Abstand als ganz natürlich angesehen werden, insofern

dem Jüngeren im entscheidenden Zeitpunkt seiner Entwicklung gerade

der um 10 Jahre Ältere zum Führer werden mußte, wie es für

das Verhältnis von Lessing zu Schlegel, von Schiller zu Goethe allenfalls

gelten darf? Es bleibt in dieser Generationsarithmetik ferner

ein rätselvolles, auf keine gegenseitige Beeinflussung zurückzuführendes

Zusammentreffen, daß das Jahr 1813 eine Altersklasse hervorbrachte, |#f0579 : 555|



die, gleichsam schicksalsmäßiger Bestimmung folgend, den

Weg zum Drama einschlug, nämlich Ludwig, Hebbel, Wagner,

Büchner, und das noch geheimnisvollere, daß der italienische Musikdramatiker

Giuseppe Verdi in jener Schicksalsverknüpfung mit dem

Altersgenossen Richard Wagner steht. Und schließlich würde Pinders

Satz, daß der Philosoph einer Generation nicht der von ihr gelesene,

sondern der mit ihr geborene sei, eine gewisse Bestätigung finden

können, wenn man den 1813 geborenen Sören Kierkegaard mit

seinem dramatischen „Entweder ─ oder“ neben Hebbel stellt.



Wollte man solches Zusammentreffen aus den europäischen Erschütterungen

des Kriegsjahres erklären, so würde man das Schicksalhafte

in Bedingungen suchen müssen, die vor der Geburt lagen. Man

kann aber auch die Nachwirkungen der Befreiungskriege dafür verantwortlich

machen, indem diese Altersgenossen in eine mit dramatischer

Spannung geladene Atmosphäre hineinwuchsen. Als die französische

Julirevolution das Signal für eine Bewegung gab, die den

Zeitgenossen geradezu als Weltwende erschien, waren sie eben siebzehnjährig.

Und gerade mit diesem Lebensalter setzt die Jugendpsychologie

einen Zeitpunkt besonderer Empfänglichkeit und erwachender

Selbständigkeit an. Geburtslage ist gleiche Entfernung

von den Generationserlebnissen. Richard Wagner und Georg Büchner,

die beide in dieselbe Bewegung hineingezogen werden, waren ihrer

Anlage nach ganz verschieden. Das Drama aber war durch die Klassiker

zur vornehmsten Dichtungsgattung erhoben worden, und die

Tatsache, daß die Romantiker trotz ihrem Shakespearekult in dieser

Gattung versagt hatten, verpflichtete die folgenden Generationen erst

recht, hier ihren Lorbeer zu suchen. So ist es gekommen, daß Otto

Ludwig entgegen seiner eigentlichen Anlage, die durchaus episch war,

sich in unsäglicher Selbstquälerei zum Drama zwang, und daß auch

andere Erzähler der gleichen und der folgenden Generation, wie

Gottfried Keller und Paul Heyse die Erfolglosigkeit ihrer dramatischen

Versuche kaum verschmerzen konnten. In England dagegen,

wo mit Walter Scott der Roman zur herrschenden Gattung geworden

war und wo das politische Leben ohne große Spannungen verlief,

werden in dieser Generation die großen realistischen Erzähler

Thackeray (1811) und Dickens (1812) geboren, die über die Richtung

ihres Talentes nie im Zweifel waren.



Der Wurf der Natur bleibt etwas Unfaßbares. Tatsachen wie die

einer gesteigerten Geburtenziffer und eines Überwiegens männlicher

Geburten nach verlustreichen Kriegen lassen ein geheimnisvolles

Walten und einen Willen des Ausgleiches erkennen, der rational |#f0580 : 556|



nicht zu deuten ist. Demselben Willen ist es zu danken, daß,

wenn die Zeit reif ist, immer der Genius geboren wird, den das Zeitalter

braucht. Wann und wie er entsteht, ist unerrechenbar trotz

aller Genealogie und aller Horoskope; aber welche Kräfte ihn formen,

ist historisch faßbar. Selbst wenn das Bild zutreffen sollte, mit

dem einmal eine „Philosophie der Astrologie“ sich begründete, nämlich,

daß der ins Leben tretende Mensch nicht etwa ein unbeschriebenes

Blatt sei, auf dem das Schicksal willkürlich seine Zeichen

mache, sondern daß er einer photographischen Platte gleiche, die

zwar belichtet, aber noch nicht entwickelt sei, selbst dann würde der

dem Leben zufallende Entwicklungsprozeß, der sich nicht in der

Dunkelkammer abspielt, eines Studiums wert sein, weil er wenigstens

über einen Teil der Bedingungen des Werdens Aufschluß zu geben

vermag. Über einen keineswegs nebensächlichen Teil, da bei schlechter

Entwicklung die ganze Platte dem Verderben ausgesetzt ist. Die

formgebenden, das Bild sichtbar herausarbeitenden Lebenskräfte des

Entwicklers aber sind die gleichen für die ganze Aufnahmeserie; es

dauert eine Weile, bis die Lösung ihre Kraft verloren hat und, da

sie sich auswirkte, erneuert werden muß. So teilt der Einzelne den

Einfluß der formbildenden Entwicklungskräfte mit seiner ganzen

Generation, und hier sind, wenn nicht alle, so doch sicher bestimmende

Ursachen der Generations-Gleichheit zu erkennen.



c) Bildungselemente. Wenn eine weitgreifende Geschichte

der Pädagogik nicht nur den Wandel der Erziehungsgrundsätze und

Bildungsmittel sowie ihrer Anwendung, sondern auch die Früchte

und Ergebnisse dieses Wandels darstellen wollte, so würde sie in den

Bildungstypen jedes Zeitalters nichts anderes als Generationstypen

erfassen. Bis jetzt sind erst mit Anlehnung an kunstgeschichtliche

Stilbegriffe der romanische und der gotische Mensch, der Renaissance-,

Barock- und Rokokomensch in der Verschiedenheit ihrer

Grundrichtungen gesehen worden. Der Aufklärer, der Empfindsame,

der Romantiker, der Mensch der Restaurationszeit setzen die Reihe

fort als Repräsentanten in sich geschlossener Ideenwelten. Aber diese

Typen zeigen sich nur in groben Umrissen. Zur feineren Gliederung

und zum Verständnis der psychogenetischen Entwicklung kann nichts

besser verhelfen als die Beobachtung der wechselnden Bildungseinflüsse

in ihrer Aufeinanderfolge. Schon die ausgehende Scholastik

des Mittelalters erlebte eine generationsmäßige Scheidung mit dem

realistisch-nominalistischen Gegensatz der via antiqua des Thomas

v. Aquin und der via moderna des Wilhelm v. Occam. Die italienische

Renaissance gibt sodann das klassische Beispiel für die Wandlung |#f0581 : 557|



des mittelalterlichen Menschen in den Menschen der Neuzeit, die mit

Eindringen und Umsichgreifen der griechischen Bildung, mit Wiedererweckung

Platons, mit neuer Naturauffassung, mit Auswirkung der

großen Erfindungen und Entdeckungen und mit religiöser Aufklärung

ruckweise sich vollzieht.



Jakob Burckhardts „Kultur der Renaissance“ und ungefähr gleichzeitig

Georg Voigts „Wiederbelebung des klassischen Altertums“, die

das erste Jahrhundert des Humanismus behandelte, gliederten bereits

die italienischen Humanisten in Generationen: zur ersten, die in

Dante (geb. 1265) ihren Vorläufer hatte, gehörten Petrarca (1304),

Boccaccio (1313) und Rienzo (1313), jene von der Idee der Wiederaufrichtung

des alten Rom und seiner Herrlichkeit berauschten

Poeten-Philologen, deren nationaler und persönlicher Ehrgeiz für

Burckhardt durch das Symbol der Dichterkrönung auf dem Kapitol

charakterisiert schien; zur nächsten Generation gehören die Schüler

des Petrarca, die wie Coluccio Salutati (1330) und Luigi Marsiglio

(1342) sein Werk in ciceronianischem Stil fortsetzten; eine folgende

Generation wuchs schon im Zeichen der von Chrysoloras in Florenz

eingebürgerten griechischen Studien auf und entwickelte sich mit

Lionardo Bruni (1369), Poggio Bracciolini (1380), Enea Silvio (1405)

zu jenem kosmopolitischen Humanismus, der auf dem Kostnitzer

Konzil in Erscheinung trat; die unter Bessarion, Plethon, Georgios

Trapezuntios, Gaza und Laskaris weiterentwickelten griechischen

Studien wirkten sich dann in der neuplatonisch-kabbalistischen Naturphilosophie

der Marsiglio Ficino (1430) und Pico von Mirandola

(1466) aus. Sie fanden in Deutschland in Rudolf Agricola (1443),

Johann Reuchlin (1455) und Johannes Trithemius (1462) ihre Generationsgenossen.





Deutlich scheidet sich in Deutschland eine erste Generation der

Humanisten, die in Italien studiert hatte und in deutschen Übersetzungen

das neue Bildungsgut verbreitete, wie Niklas v. Wyle

(1410), Albrecht v. Eyb (1420), Heinrich Steinhövel (1420), von der

zweiten, die an deutschen Universitäten einen neulateinischen Stil

nationaler Färbung begründete, wie Wimpheling (1450), Conrad

Celtis (1459), Jakob Locher (1471), Heinrich Bebel (1472). Das Bildungswerk

der ersten Gruppe aber zog inzwischen weitere Kreise,

sich verbreiternd im Bürgertum und Handwerkerstand, und ein Hans

Sachs (1494) war, anders als die Meister, bei denen er lernte, bereits

imstande, seine Bibliothek mit deutschen Übersetzungen antiker Geschichtsschreiber

und Klassiker zu füllen. Drei Generationen später

aber liest sein Handwerksgenosse, der Schuhmacher von Görlitz |#f0582 : 558|



Jakob Böhme (1575) naturphilosophische Schriften in deutscher

Sprache, und das war erst möglich, nachdem die dritte Generation

der deutschen Humanisten, jene Altersgenossen des Hans Sachs, zu

denen außer Luther (1483) und Hutten (1488) auch Paracelsus

(1493) und Sebastian Frank (1499) gehörten, die Rückkehr zur Muttersprache

und die Wiederanknüpfung an die alte deutsche Mystik

vollzogen hatten. Spätere Generationen wiederholen somit in einer

anderen sozialen Schicht die Bewegung derer, die mit ihren Großeltern

gleichaltrig waren. Man darf nicht geradezu im Sinne der

Volkskunde von „gesunkenem Kulturgut“ sprechen, da die in einem

späteren Zeitpunkt von der Bildungswelle erreichte Gesellschaftsschicht

das Überkommene nicht wie angeschwemmtes Strandgut

liegen läßt, sondern durch seine Aufnahme selbständig produktiv

wird und mit dem Pfunde wuchert, aber man hat den Abstand der

Gesellschafts- und Bildungsschichten ebenso im Auge zu behalten

wie den der Länder.



Wenn im 17. Jahrhundert zwei Generationen schlesischer Dichter,

deren Reihe von Martin Opitz (1597) über Friedrich v. Logau (1604),

Andreas Gryphius (1616), Christian Hofmann v. Hofmannswaldau

(1617), Johannes Scheffler (1624), Daniel Caspar von Lohenstein

(1635) bis Quirinus Kuhlmann (1651) reicht, die unbestrittene Herrschaft

auf allen Gipfeln des deutschen Parnasses erobert haben, so

hat das Übergewicht der Landschaft seine Grundlage in der Vortrefflichkeit

der schlesischen Gelehrtenschulen, die schon von Melanchthon

als die besten Deutschlands gerühmt wurden. Ein menschlich

und künstlerisch seine Altersgenossen überragendes Genie, wie Grimmelshausen

(1621/2?), dessen autodidaktische Bildung ihre Wurzeln

noch im 16. Jahrhundert hat, ist mehr durch diesen kulturellen als

durch seinen räumlichen Abstand von der Generationsgemeinschaft

ausgeschlossen worden, obwohl er doch so viel mit den Zeitgenossen

gemein hat, daß eine Schrift des ungefähr gleichaltrigen Johannes

Scheffler in seine Gesamtausgabe fälschlich mit aufgenommen werden

konnte.



Ein Jahrhundert später hat die sächsische Bildung das Übergewicht,

und die Fürstenschule von Meißen und Pforta haben einem Gellert

(1715), Joh. El. Schlegel (1719), Klopstock (1724) und Lessing (1729)

die Grundlagen ihrer Bildung gegeben, während die Universität Leipzig

ihnen den Anschluß an Gruppen gleichstrebender Altersgenossen

und den ersten Anblick der Aufgaben, die ihre Zeit stellte, verschafft

hat. Auch der Schwabe Wieland (1733) hat durch seine Schuljahre

im Kloster Bergen etwas von der sächsischen Bildungsatmosphäre in |#f0583 : 559|



sich aufgenommen. Ein Dritteljahrhundert danach aber ist es dem

organisatorischen Bildungswillen Karl Eugens von Württemberg zu

danken, daß eine ganze Generation großer Schwaben mit Schiller

(1759), Hölderlin, Hegel (1770), Schelling (1775) heranwuchs, von

denen gleichwohl keiner im engeren Vaterland seine Entwicklung

vollenden konnte.



Dazwischen aber findet sich eine Generation, die weder durch

gleiche Schulbildung noch durch landschaftliche Gemeinschaft vereinigt

ist; sie treffen zusammen wie die heiligen drei Könige, ohne

voneinander zu wissen, aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommend,

aber vom gleichen Stern geleitet. Hamann (1730) war ihr

Vorläufer in der vorausgehenden Generation; nun nahen sie in

Scharen: vom äußersten Osten Herder (1744) und Lenz (1751), vom

Norden Gerstenberg (1737), Claudius (1740), die Grafen Stolberg

(1748/50); in Mitteldeutschland Goué (1742), Heinse, Gotter (1746)

und Bürger (1747); vom Süden Schubart (1739) und Miller (1749),

Lavater, Füessli (1741) und Sarasin (1742); vom Westen Jung-Stilling

(1740), Friedr. Heinr. Jacobi (1743), Heinr. Leop. Wagner (1747),

Goethe, Maler Müller (1749) und Klinger (1752). Sie stammen aus

ganz verschiedenen Kreisen: der Graf, der Patriziersohn, der Sohn

einer Waschfrau; wo sie sich finden, sei es in Göttingen, in Straßburg,

in Darmstadt, in Wetzlar, in Düsseldorf oder in Münster, fühlen sie

sich eines Geistes. Sie erleben, auch ohne persönliche Berührung, so

sehr die gleiche Problemstellung, daß die drei Dramen, die auf das

Schrödersche Preisausschreiben von 1774 einlaufen, in gleicher Weise

das Thema des Bruderzwistes behandeln, ohne daß ein Verfasser von

dem andern wußte. Solches Thema bietet sich in Zeiten der Generationsspannung

und wird ihr besonderer Ausdruck, insofern mangelndem

Verständnis der Väter für ihre Söhne die Schuld am Bruderzwist

beigemessen wird.



Die Jungen, die um 1770 auftreten, danken ihre Gemeinschaft

keiner Schule, aber sie sind einmütig im Widerwillen gegen Schulstaub

und Bücherwelt; aufgerüttelt durch Rousseaus Verneinung der

Kultur suchen sie formende Kräfte im Chaos; einig im Ruf nach

Natur und ungebundener Schöpferkraft, schlürfen sie Höhenluft der

Freiheit, sei es, daß sie sich ihnen bietet in der Bibel oder in Ossians

alten Gesängen, in den Balladen Schottlands oder im deutschen

Volkslied, in Shakespeares Wildheit oder in der Naivität Homers, in

der Vermessenheit der Gotik, in der Blutfülle italienischer Renaissancekunst

oder in der pantheistischen Philosophie Giordano Brunos,

Spinozas und Shaftesburys. Fast scheint es, daß nicht sie die Produkte |#f0584 : 560|



ihrer Bildungselemente sind, sondern daß sie alles Große, was

sich ihrem Auge öffnet, sich zubilden und gewaltsam umformen: so

wird der maßvolle Pindar ihnen ein trunkener Ekstatiker, Shakespeare

ein regelloser Titan, Sokrates ein dämonisches religiöses Genie,

Spinoza ein revolutionärer Leugner persönlicher Gottheit. So mächtig

ist der Bäume entwurzelnde, Dächer abdeckende und alles in seine

Richtung zwingende Sturm des Zeitgeistes, der damals ganz Europa

durchbraust, als die Hybris der Vernunftherrschaft zusammenbricht

und eine neue Welt aus der Gewißheit des Gefühls aufsteigt. Das

Versagen der Norm und Form verbrauchter Bildungselemente ist somit

die erste Voraussetzung der einheitlichen Bewegung. Andere

Länder haben die neue Einstellung schon durch skeptische Vernunftkritik

vorbereitet, aber nirgends ballt sie sich mit solchem Ungestüm

wie in dem Jugendgeist der deutschen Sturm-und-Drang-Generation,

die mit vollen Segeln vor dem Winde liegt.



d) Persönliche Gemeinschaft. Die drei Stufen der Generationsbildung,

die in Karl Mannheims soziologischer Betrachtung des

Problems geschieden werden, heißen Generationslagerung, Generationszusammenhang

und Generationseinheit. Von der allgemeinen

Generationslagerung, die nichts anderes bedeutet als das auf

einen bestimmten Raum beschränkte gemeinsame Zeiterleben, das in

der parallelen Teilnahme an denselben Ereignissen und Erlebnisgehalten

die Verbindung herstellt, den Boden pflügt und die Disposition

für gleichartige Lebensrichtung schafft, steigt es auf zum

Generationszusammenhang, der sich als Schicksalsgemeinschaft

zwischen den in derselben Lagerung befindlichen Individuen

herstellt, sobald in den aufgelockerten Boden reale soziale und

geistige Gehalte fallen. Im Rahmen des Generationszusammenhanges,

der die an gleicher historisch-aktueller Problematik orientierte

Jugend verbindet, bilden sich Generationseinheiten als

Gruppen, die in verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten.

Innerhalb jeder Gruppe kommt ein einheitliches Reagieren und verwandtes

Mitschwingen zustande, während sie untereinander polar entgegengesetzt

sein können; aber „gerade dadurch, daß sie aufeinander,

wenn auch kämpfend, abgestimmt sind“, bleiben sie im Generationszusammenhang.





Diese Erklärung ist sichtlich zugeschnitten auf das politische Leben

und seine unerläßlichen Parteibildungen, deren Gegensätzlichkeit

mehr Kontinuität hat als die der literarischen Programme. Als Beispiel

dient die Teilung der preußischen Jugend am Anfang des

19. Jahrhunderts in eine romantisch-konservative und liberal-rationalistische |#f0585 : 561|



Gruppe, die gleichwohl demselben Generationszusammenhang

angehörten, in dem sie nur zwei polare Formen der geistigen

und sozialen Auseinandersetzung mit demselben, sie alle betreffenden

historisch-aktuellen Schicksal darstellten. In der Dichtung aber bestand

damals noch keine Generationsspaltung: die konservativ-romantische

Gruppe hatte durchaus das Oberwasser. Wohl teilen Wilhelm

Neumann und Adalbert v. Chamisso mit Achim v. Arnim (1781),

Varnhagen v. Ense mit Bettina (1785), Johann Ferdinand Koreff mit

Max v. Schenkendorf (1783), Hoffmann v. Fallersleben und Harro

Harring mit Wolfgang Menzel, Willibald Alexis und Christian

Friedrich Scherenberg (1798) das Geburtsjahr; aber für das Hervortreten

einer liberalrationalistischen Zeitdichtung war vor dem Jahr

1830 die Zeit noch nicht reif. Nach diesem Zeitpunkt aber wirkt sich

eine veränderte Lagerung aus; gegenüber der Generationseinheit, die

nunmehr in den Jungdeutschen hervortritt, hat die absterbende Romantik

keinen Stand mehr; ihre Generationsblüte ist vorbei. Wenn

sich nachmals unter den politischen Lyrikern wie Ferdinand Freiligrath

(1810), Franz Dingelstedt (1814), Gottfried Kinkel (1815), Robert

Prutz (1816), Karl Beck, Georg Herwegh (1817), Rudolf Gottschall

(1823) auch ein reaktionärer Altersgenosse wie George Hesekiel

(1819), der Verfasser der „Lieder eines Royalisten“ befindet, so

bedeutet die vereinzelte Stimme keine zweite Generationseinheit. Es

zeigt sich vielmehr zu allen Zeiten, daß politische Dichtung, wenn

sie periodisch auftritt, immer von einer einheitlichen Ideenrichtung

beherrscht wird. In solchem Falle scheint zwischen Generationszusammenhang

und Generationseinheit kein Unterschied zu bestehen.

Von Spaltung des Generationszusammenhanges könnte man eher

sprechen, insofern neben den politischen Dichtern auch unpolitische

standen, die viel größere Dichter waren. Mörike (1804) und Stifter

(1805) sind von Heinrich Laube und Gustav Kühne (1806), von

Theodor Mundt (1808) und Karl Gutzkow (1811) nur um wenige

Jahre getrennt. Aber sie bleiben unter ihren Altersgenossen ohne

nachdrücklichen Anschluß: ihnen fehlt die Gruppe, der Chor, das

Orchester, um ihre Stimme richtunggebend im Lärm der Zeit zur

Geltung zu bringen.



Jene Altersgenossen aber sind erst durch äußeren Druck und

Zwang zur Generationseinheit zusammengeschlossen worden. Gutzkow,

Laube, Mundt und Wienbarg hatten nur in loser Verbindung

gestanden, als Wolfgang Menzels Anklage und der ihr folgende Bundesratsbeschluß

vom 10. Dezember 1835 sie zu einer Fraktion zusammenschmiedete.

Mit historischem Blick war im Bericht der |#f0586 : 562|



Zentral-Untersuchungskommission die Generationslagerung erkannt

worden, indem die Literatur aus der Zeit von 1806 bis 19 für die

neue, als „das junge Deutschland“ verfemte Bewegung verantwortlich

gemacht wurde: Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, Arndts

„Katechismus“ und „Geist der Zeit“, Jahns „Deutsches Volkstum“

und „Runenblätter“, Schleiermachers „Gedanken“, Follens „Grundzüge

für eine künftige deutsche Reichsverfassung“. Auch der Verdacht

eines Zusammenhanges mit der „Giovine Italia“ des Mazzini

(1805) wäre im tieferen Sinne des Generationszusammenhanges auf

richtiger Fährte gewesen, wenngleich die Anschuldigung eines wirklichen

Zusammengehens den Verfolgten Unrecht getan hätte. Zur

Generationseinheit wurden sie erst durch das gleiche Schicksal der

Unterdrückung, die nachmals in noch härterem Grade die politischen

Lyriker traf, die Freiligrath, Kinkel, Herwegh, die im Ausland die

zersplitterte Einheit ihres Kreises repräsentieren mußten.



Dieser Gruppe der Flüchtlinge, die, wie Freiligrath, um ihrer freien

Meinung willen königliche Gunst ausgeschlagen hatten, steht nun

eine zweite Generationsgruppe der Unpolitischen gegenüber, die, wie

Graf Schack und Geibel (1815), Friedrich Bodenstedt (1819), Hermann

Lingg (1820), Wilhelm Heinrich Riehl (1823), Heinrich v. Reder

(1824), Heinrich Leuthold (1827), Julius Grosse (1828), Paul Heyse

(1830), Wilhelm Hertz (1835), Martin Greif (1839) und Max Haushofer

(1840) in München unter der Gnadensonne des Königs Max

ihre Heimat finden. Der eklektische Formsinn dieser Münchener

Schule stellt auch als Stilrichtung eine Generationseinheit dar, die

den Weg fortsetzt, den der einsame Platen (1796) als Vorläufer gezogen

war. Höfische Dichtung, wie sie zu mittelalterlichen Zeiten in

Champagne und Provence, in Wien und Eisenach in Blüte gestanden

hatte, wie sie in Renaissance- und Barockzeit Florenz und Ferrara,

London und Paris den größten Glanz verlieh, kommt hier zur letzten

Entfaltung. Weimar war vorangegangen; dem Vorbild des klassischen

Musenhofs folgt der Zusammenschluß der Münchener auch darin, daß

nicht das spontane Erkennen gemeinsamen Jugendgeistes, kein Sturm

und Drang die Verbindung herstellte. Auch Wieland, Herder, Goethe,

Schiller sind ja in Weimar erst zusammengekommen, als ihre ganz

verschieden verlaufene Jugendentwicklung abgeschlossen war. Ihre

Einheit bedeutet mehr Generationsausgleich als Generationsbildung.

Immerhin besteht noch ein Kern der Jugendgemeinschaft in dem

lebendigen Führerverhältnis Herders zu Goethe wie Geibels zu Heyse,

nur daß der Anstoß weder in Weimar noch in München erfolgt war,

sondern das eine Mal in Straßburg, das andere Mal in Berlin.

|#f0587 : 563|



Stätte erwachenden Jugendgeistes, der Funken sprüht in der Reibung

der Generationen, ist ihrer Natur gemäß die Universität. Da

werden in regelmäßiger Folge die Jahrgänge der Gleichaltrigen zusammengeführt

und das Bildungsgut, das die ältere Altersschicht

ihnen übermittelt, wird in neuer Einstellung weitergebildet. Heidelberg

hat dreimal in der deutschen Literaturgeschichte den Weckruf

erschallen lassen, zur Zeit des Humanismus, im Anfang des 17. Jahrhunderts

und zwei Jahrhunderte darnach, als die jüngeren Romantiker

aus West und Ost sich am Neckar vereinten. Erfurt wurde die

Geburtsstätte eines neuen Geistes, als die Verfasser der „Epistolae

obscurorum virorum“ über die Vertreter veralteter Mönchsgelehrsamkeit

die Lauge ihres Spottes gossen. Leipzig erfuhr die Gunst der

Zeit, als um die Mitte des 17. Jahrhunderts das neue Gesellschaftslied

durch Fleming und seinen Kreis ins Leben gerufen wurde, und ein

Jahrhundert später, als unter Gottscheds Augen eine neue Generation

den Bann seiner Diktatur brach. Halle wurde durch die Studiengenossen

Gleim, Uz und Götz der Ausgangspunkt der Anakreontik;

Göttingen kam an die Reihe, als die Haingenossen den Besuch Klopstocks

empfingen. Jena übernahm die Führung, als Fichtes Schüler

den „Bund freier Männer“ gründeten, als Hölderlin und Hardenberg

zu Schiller aufblickten, als die Brüder Schlegel und ihre Frauen den

Sauerteig einer neuen Gärung mitbrachten, als Tieck, Steffens,

Ritter, Gries, Brentano der magnetischen Anziehungskraft dieses

Kreises zuflogen. Tübingen sah drei Generationen heimischer Jugendgemeinschaft

sich bilden, als Hölderlin, Hegel und Schelling in der

Idee der unsichtbaren Kirche ihren Vereinigungspunkt fanden, als

Uhland, Kerner und Karl Mayer zur Wurmlinger Kapelle aufblickten

und als die Blaubeurer Promotion von 1825 mit David Friedrich

Strauß, Friedr. Theod. Vischer und Gustav Pfizer den Einzug ins Stift

hielt, das Mörike und Waiblinger noch nicht verlassen hatten. Berlin

kam zur Geltung mit dem „Nordstern“ und dem „Tunnel über der

Spree“, und für Kiel schlug die Stunde, als Theodor Storm mit den

Brüdern Mommsen das „Liederbuch dreier Freunde“ erscheinen ließ.



Solche Ansätze zu Generationseinheiten breiten sich aus durch

Sendboten, die von einem Ort zum andern Brücken schlagen zwischen

den Kreisen der Gleichaltrigen; die erste Tübinger Generation entsendet

ihre Vertreter nach Jena, die zweite knüpft Verbindung mit

den Heidelberger Romantikern an; die Kieler wenden sich nach

Berlin, und das „Münchener Krokodil“ wird eine Filiale des Berliner

„Tunnels“. Briefwechsel halten den Pegel wie zwischen den kommunizierenden

Röhren auf gleicher Höhe und stärken die Gesinnung in |#f0588 : 564|



gemeinsamer Sache, und die Organe, in denen die lokalen Kreise ihr

Programm entwickeln, wirken sich in weittragender Werbekraft aus.

Generationsbildend sind die von einer Jugendgemeinschaft herausgegebenen

Zeitschriften: so ist durch die „Bremer Beiträge“, die

Berliner „Literaturbriefe“, das Jenaer „Athenäum“, die Heidelberger

„Zeitung für Einsiedler“ oder in neuerer Zeit durch die „Gesellschaft“

und die „Blätter für die Kunst“ jedesmal ein Sammelruf an

die Altersgenossen ergangen. Alle diese Blätter haben nur so lange

bestanden, bis ihr programmatischer Zweck erfüllt war; sie konnten

nicht alt werden, weil sie der Sache der Jugend dienten; keines hat

die Lebensdauer einer Generation erreicht. Nicht anders stand es mit

den Dichtergesellschaften, die nur als Treffpunkt der Jugend lebendig

sein konnten, denn nur die Suchenden brauchen die Gemeinschaft,

um sich ihres Weges bewußt zu werden. Mögen die Alten dann in

Treue die Pflege gemeinsamer Erinnerungen weiter fortsetzen, ihre

Gemeinschaft als solche hört doch auf, produktiv zu sein. Am wenigsten

läßt sich solcher Gemeinschaftsgeist vererben. Von den vielen

Dichtergenossenschaften, deren Gründung eine Generationseigentümlichkeit

der um 1600 Geborenen war, mag der Pegnesische Blumenorden

in Nürnberg noch heute bestehen, aber gelebt hat er doch nur

in der Gemeinschaft der Gründer Harsdörffer und Klaj sowie des

jung zu ihnen stoßenden Sigmund v. Birken.



c) Generationserlebnisse. Jene „Ungleichzeitigkeit des

Gleichzeitigen“, von der Pinder spricht, trifft nicht nur die gleichzeitigen

Schöpfungen Altersverschiedener, sondern ebenso ihre

gleichzeitigen Erlebnisse, die dem Kind, dem Jüngling, dem Mann,

dem Greis etwas durchaus anderes bedeuten, weil er jeweils in einem

anderen Zeitpunkt seiner Existenz davon betroffen wird. Von generations

bildender Bedeutung müssen die gemeinsamen Jugenderlebnisse

sein, die das empfänglichste Entwicklungsstadium fassen

und formen. Eine generations abstoßende Wirkung hat das passive

Verhalten der Alten, deren Seele nicht mehr mitschwingt bei den

Ereignissen, die die Jugend in krampfhafte Erregung versetzen.



In welcher Weise die Erlebnisschichtung der Generationen sich

unterscheiden kann, zeigt mit besonderer Drastik der Eindruck, den

die französische Julirevolution des Jahres 1830 und ihre Folgewirkungen

in Deutschland hervorbrachten, welche die Zeit gleichsam in zwei

Hälften auseinandersprengte. Zur ersten Hälfte gehörte der 81jährige

Goethe, der nach Sorets Bericht von diesen Dingen nichts wissen

wollte, denn der Austrag des naturwissenschaftlichen Streites zwischen

Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire schien ihm weit wichtiger |#f0589 : 565|



zu sein. So sah auch der 63jährige Wilhelm v. Humboldt mit der

Gelassenheit eines Weisen die Störung des Friedens durch wilde

Roheit: „Die Dinge der Welt sind in ewigem Steigen und Fallen und

in unaufhörlichem Wechsel, und dieser Wechsel muß Gottes Wille

sein, da er weder der Macht noch der Weisheit die Kraft verliehen

hat, ihn aufzuhalten und ihn zum Stillstand zu bringen“ (an Charl.

Diede 7. Sept. 1830). Der 42jährige Joseph v. Eichendorff aber befreite

sich von den widerwärtigen Eindrücken der politischen Kannegießerei

durch eine satirische Traumerzählung „Auch ich war in Arkadien“,

die im Gasthof „Zum goldenen Zeitgeist“ spielt.



Die zweite Hälfte beginnt mit den 34jährigen Platen und Immermann,

die aus politischer Indolenz aufgerüttelt werden; der eine behandelt

in seiner Ode „An Karl X.“ das Ereignis als Erfüllung gerechten

Geschicks, während der andere wie im Fieber aus der Ferne

teilnimmt an den „ungeheuren Ereignissen des Julius“, um schließlich

doch zu der Überzeugung zu gelangen, daß aus der Masse nichts

Großes hervorgehen kann. Der 19jährige Gutzkow aber stürzt aus

der Preisverteilung der Berliner Universität in eine Konditorei, wo

er zum erstenmal in seinem Leben mit Leidenschaft die Zeitung liest;

er fühlt einen entscheidenden Wendepunkt seiner Lebensrichtung:

„Die Wissenschaft lag hinter mir, die Geschichte vor mir.“ Er war

noch jung genug, um sich durch diese Begebenheit in seiner ganzen

Wesensart formen zu lassen, während die Älteren dem Ereignis als

fertige Persönlichkeiten gegenübertreten. Für sie wird es Generationserlebnis

nur insofern, als es den Altersgruppen Gelegenheit gibt.

sich durch ihre verschiedenartige Haltung voneinander abzuheben.



Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, daß die kleinere und für

Frankreichs wie Europas politisches Schicksal fast belanglose, unblutige

Umwälzung im Moment ihres Ausbruches Deutschland beinahe

mehr erschütterte als die weltbewegende französische Revolution des

Jahres 1789. Die Ursache liegt wohl darin, daß man gerade durch

das voraufgegangene größere Ereignis in ganz anderer Weise auf das

Geschehnis vorbereitet war, daß man in Deutschland besonders eine

Erlösung von unerträglichem Druck ersehnte und daß von diesem

Druck insbesondere die junge Generation betroffen war, während die

Alten ihn kaum empfanden. Die Zweiteilung entspricht ungefähr der

Alterslage: die einen hatten die erste Revolution oder wenigstens ihre

unmittelbaren Folgewirkungen noch selbst erlebt und sahen der Wiederkehr

des Gleichen entweder abgestumpft oder mit Grausen entgegen:

die anderen kannten das historischen Ereignis nur vom Hörensagen

und maßen seiner Wiederholung, zumal sie selbst sich zu aktiver |#f0590 : 566|



Lebensteilnahme daran berufen fühlten, eine erhöhte Bedeutung

bei. Im übrigen kann man der Jugend durch nichts mehr Ärger bereiten

als durch den Alterssatz, alles sei schon einmal dagewesen.

Sie will ihr eigenes Erlebnis, ihre eigene Revolution, ihre eigene

Gelegenheit zu Heldentaten und ihr Recht, eigene Dummheiten zu

machen.



Ein anderes, die Altersklassen scheidendes Zeitereignis ist die allmählich

sich vollziehende Umwälzung, die mit der Entwicklung der

Verkehrsmittel, der Eisenbahn und des Dampfschiffes eintrat. Die

Romantiker sahen darin den Tod aller Poesie; eine Zwischengruppe,

zu der Nikolaus Lenau gehörte (An den Frühling 1838), blieb geteilt

zwischen Trauer und Hoffnung, während die junge Generation mit

Freiligrath, Anastasius Grün, Karl Beck und Hebbel die völkerverbindende

Wirkung, den Triumph des Geistes, den pulsierenden Lebensrhythmus

und das Tempo der neuen Zeit in weitschauender Zukunftsperspektive

begrüßte. Die folgende Generation aber wuchs bereits im

Zeichen des neuen Verkehrs auf und mußte ihn als notwendige Lebensform

hinnehmen. Wenn sie sich dem idyllzerstörenden Unbehagen

und der Poesielosigkeit entziehen wollte, so blieb ihr nur die Flucht

in das Reich der Geschichte, und diesen Weg sind die Dichter der

Bismarckzeit zwischen aufblühender Geschichtswissenschaft, Historienmalerei

und historischer Theaterkunst gegangen. Conrad Ferdinand

Meyer (1825) und Scheffel (1826) sind die Altersgenossen von

Piloty (1826) und dem Herzog Georg II. von Meiningen (1826), und

als die erste Eisenbahn in Deutschland eröffnet wurde, waren sie

9 Jahre alt. Der nächsten realistischen Generation aber war es vorbehalten,

die Poesie des daherbrausenden Zuges, der qualmenden

Fabrikschlote, der lärmenden Maschine in ihrer Dynamik zu entdecken.





Alle wirtschaftlichen Veränderungen, alle Erfindungen, alle Erweiterungen

des Horizontes wirken sich allmählich aus, aber in ihrer

kulturellen Bedeutung treten sie plötzlich und ruckweise hervor, indem

ein bestimmtes Ereignis die durch solche Wandlungen veränderte

Einstellung der jungen Generation offenbar werden läßt. Man kann

einen Unterschied machen zwischen kulturbildenden und

katastrophalen Generationserlebnissen. Die einen wirken auf

lange Sicht; sie gehören zu den Bildungselementen, die in mählicher

Entwicklung den in andere Verhältnisse geistiger Atmosphäre oder

technischer Mittel versetzten Menschen umwandeln; die anderen

stellen Gewitter dar, die in Wetterleuchten und Blitzstrahl die verschiedenartige

Stellung der Zeitgenossen zueinander erhellen. Dasselbe |#f0591 : 567|



Ereignis kann für die eine Generation katastrophal, für die

nächste in seinen Folgewirkungen kulturbildend sein. Dabei besteht

nicht nur ein Unterschied der zeitlichen Dauer, sondern auch der

räumlichen Ausdehnung des Erlebnisses, die von der Wellenlänge der

Bewegung abhängt. Eine religiöse Strömung, wie die kluniazensische

Bewegung im Mittelalter, die nach Erlöschen der Antike das furchtbare

Memento mori vor dem Menschen aufleuchten ließ und die Gedanken

ins Jenseits wendete, hat eine ganze Literatur klösterlicher

Todesdichtungen als Werk einer Altersgruppe entstehen lassen, und

im Wandel der Generationen verändert sich nun die Stellung zu diesem

Problem, wie es Walter Rehm in seinem Buch „Der Todesgedanke

in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik“

(Halle 1928) gezeigt hat. Die Kreuzzüge, die als Massenbewegung

durch die Sorge für das Heil der Seele propagiert wurden,

sind mit Erschließung des Morgenlandes ein großes Bildungserlebnis

für ganz Europa geworden; aber sie haben zugleich bei den zurückgebliebenen

Frauen jene Unbefriedigung mit den seelsorgerischen

Gnadenmitteln der nach außen gewandten Kirche erzeugt, die eine

Voraussetzung der mystischen Bewegung wurde. Die Entdeckungen

und Erfindungen der beginnenden Neuzeit haben wiederum die

Freude am Diesseits und den Willen, sich in dieser Welt einzurichten,

gesteigert, aber sie haben zugleich das der Renaissance seit ihrem

Ursprung innewohnende Bedürfnis nach religiöser Erneuerung wachgehalten.

Die Reformation hat sodann eine Doppelwirkung: sie ist

katastrophales Ereignis, das zwei Generationen der Humanisten, die

durch die Namen Erasmus und Hutten gekennzeichnet sind, auseinandersprengt,

aber sie ist zugleich in ihren Folgewirkungen eine

umbildende Bewegung, die, wie die Forschungen Max Webers, Ernst

Tröltschs, Herbert Schöfflers und anderer zeigen, in Luthertum,

Kalvinismus, Puritanismus die gesamte Kulturlage verändernde neue

Lebensformen hervorbringt. Die französische Revolution ist als Explosion

des Rationalismus nicht nur das katastrophale Ereignis, das

die Generationen am Ende des 18. Jahrhunderts trennt, sondern sie

hat in ihren Folgewirkungen den Freiheitsgedanken nicht wieder erlöschen

lassen. Ebenso war der Weltkrieg und die ihm folgende Umwälzung

für die drei Generationen, die daran teilnahmen (die Alten,

die noch den Krieg von 1870 mitgekämpft hatten, die mittlere

Altersklasse, die in der Zeit zwischen den beiden Kriegen heranwuchs,

und die Jungen, die von der Schulbank in den ungeheuren

Wirbel hineingerissen wurden), ein vollkommen verschiedenartiges

Erlebnis.

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Neben dieser zweifachen Form des Generationserlebnisses gibt es

aber noch ein Drittes, das zugleich einmalige Konzentration und

mählich bildende Wirkung darstellt, das ist der Eindruck einer

großen, zeitbeherrschenden Persönlichkeit, die von der führerlosen

Jugend ersehnt wird und, wenn sie erkannt ist, wie ein überwältigendes

Naturereignis mitreißt und in lawinenartiger Wirkung des sich

fortpflanzenden Einflusses ein ganzes Geschlecht nach ihrem Bilde

formt. Solche Führer sucht sich die Jugend selten unter ihren Altersgenossen;

unter ihnen findet sie meist nur die Propheten der Götter,

die sie verehrt. Die Führer gehören einer älteren Generation

an, die unsterblichen Götter sogar meist einer toten. So bildet

das Führertum innerhalb der Gegensätzlichkeit der Altersgruppen

ein generationenverbindendes, ja oft generationenüberspringendes

Moment.



f) Führertum. Jedes Zeitalter und, wenn man richtig zusieht,

jede Generation hat einen bestimmten gesellschaftlichen Idealtypus

vor Augen: die Renaissance den Universalmenschen, die Barockzeit

den Hofmann, die französische Aufklärung den bel esprit, die englische

den gentleman, die deutsche den redlichen Mann, die Sturm-

und-Drang-Zeit das empfindsame Genie, die Restaurationszeit den

Zerrissenen, die Dekadenz des 19. Jahrhunderts den Dandy, während

gegen Ende des Jahrhunderts der Übermensch zum Leitmotiv wird.

Es ist charakterologisch von Bedeutung, daß sich Gebärden, Blickrichtung

und Lebenshaltung unter dem Eindruck solchen Bildes zu

derartiger Übereinstimmung des Ausdrucks ausprägen können, daß

geradezu von einer Generationsphysiognomie zu sprechen ist. Es gehört

zu den Wechselwirkungen von Poesie und Leben, daß die Dichtung

solchen Typus als Tendenz aus dem Leben nimmt und ihn gestaltet

dem Leben der Zeit als Modell zurückgibt. Die Mitläufer einer

Bewegung formen sich dann in ihrem Auftreten, ihrer Ausdrucksweise,

ihrer Haartracht und ihrer Kleidung nach dem in der Dichtung

gestalteten Bilde: so trugen, nachdem Richardsons Grandison

seine Rolle ausgespielt hatte, die empfindsamen Genies den blauen

Wertherfrack und die Lorenzdose; dann gab den Frauen der Typus

Delphine und Corinne, später der Typus Lelia ein Vorbild, und die

Männer standen im Zeichen des Byronschen Heldentypus, bis im Auftreten

eines Herwegh und seiner Genossen Schillers Marquis Posa

als Idealtyp seine Auferstehung erlebte.



Der Begriff des Führers läßt sich in verschiedener Weise verstehen:

als Organisator, der sich an die Spitze der Gleichaltrigen setzt; als erziehender

Mentor, der die Jüngeren auf den Weg weist; als kultisch |#f0593 : 569|



verehrter Heros seiner Zeit. Das erste stellten Opitz, Gottsched,

August Wilhelm Schlegel dar; das zweite wollten Bodmer und Gleim

sein, auf die Goethe das Bild der „Bruthenne junger Talente“ anwendet,

und Herder war es für seine Generation, indem er auf den Heros

Shakespeare hinwies; zum dritten dürfen wir Klopstock und Stefan

George rechnen, auf anderem Gebiet Richard Wagner; nach jedem

von ihnen hat ein Jüngerkreis in seiner ganzen Wesensart sich geformt.

Goethe und Fichte wurden so die Heroen der Jenaer Romantik,

aber ebenso wie sich die romantische Philosophie über Fichte

hinaus entwickelte, so schlägt auch das Verhältnis des eigentlichen

Dichters dieses Kreises, Friedrich v. Hardenberg, während der Arbeit

am „Heinrich von Ofterdingen“ aus Nachahmung in Gegensätzlichkeit

um. Und Heinrich v. Kleist ringt mit dem Olympier, dem er auf den

Knien des Herzens sein Werk darbringt, und dem er gleichwohl den

Kranz von der Stirn reißen will. Eine ähnliche Wendung erlebt

Schiller, als er sich von Klopstock freimacht, Hölderlin, als er

Schiller überwindet, Hebbel, als er von Uhland ernüchtert ist,

Nietzsche, als er sich von Wagner loskämpft, Gerhart Hauptmann,

als seine jugendliche Begeisterung für Felix Dahn erlischt. Deutlich

kennzeichnet sich in allen diesen Fällen der Zeitpunkt der Generationsablösung

in Erkenntnis erwachender Eigenart und eigener

Problemstellung.



Die einflußreichsten Generationsführer sind nicht immer die

Dichter. Männer der Wissenschaft, insbesondere Philosophen und

Naturforscher, vermögen das Weltbild der Jugend, die in ihrem Bann

steht, tiefergehend und eindringlicher zu bestimmen, sei es in persönlichem

Umgang mit ihren Schülern, sei es in Schrift, sei es in mittelbarer

Verbreitung, die oft erst nach dem Tode der großen Lehrer

durch werbende Sendboten um sich greift. Unmittelbaren Einfluß

einer wissenschaftlichen Persönlichkeit haben die Romantiker erfahren,

die in Freiberg zu den Füßen des Geologen Abraham Werner

saßen; Gottfried Keller erlebte ihn, als er in Heidelberg in die Gemeinde

Ludwig Feuerbachs gezogen wurde; und Jena wurde zum

zweiten Male Konzentrationspunkt einer Generation, als die Naturalisten

bei Ernst Haeckel in die Lehre gingen.



Das tiefere Eindringen in eine philosophische Gedankenwelt pflegt

erst einer zweiten Entwicklungsperiode, nachdem die erste naive Gefolgschaft

dichterischer Vorbilder überwunden ist, vergönnt zu sein.

Herder, der Kants persönlicher Schüler war und ihm den Hinweis auf

Rousseau verdankte, hat sich mit seiner Verselbständigung von Kant

abgewandt, aber Schiller, Hölderlin, Heinrich v. Kleist gelangen in |#f0594 : 570|



selbständigem Ringen mit dem System des Philosophen, der ihre

Generation beherrscht, zum sichtbaren Umschlag ihrer Lebensrichtung.

Solcher Entwicklungsprozeß mag sich für den Einzelnen in

völliger Abgeschlossenheit abspielen. Aber die plötzliche Schilderhebung

eines Denkers vergangener Zeiten kann nur durch Gemeinschaft

und Massensuggestion vollzogen werden. So ist Meister

Eckhart zu posthumer Wirkung in der ihm folgenden Generation der

Mystiker gelangt; so ist Leibniz erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts

zum Bildner Deutschlands geworden; St.-Simons Lehre

machte erst in der jungdeutschen Generation Schule; Hegels Einfluß

beherrschte erst nach seinem Tode die einander gegenüberstehenden

Generationsgruppen derselben Zeit; Schopenhauer kam erst im neuen

Reich zur Bildung einer Gemeinde, die in Erkenntnis des Wahns

ihren Boden hatte; Nietzsche ist erst im neuen Jahrhundert zur Führerschaft

durchgedrungen. Und mit ihm der vergessene Lieblingsdichter

seiner Jugend, Hölderlin, an dem er seinen Stil gebildet hatte.

Dilthey, ein so wirkungsvoller akademischer Lehrer er war, ist auch

erst nach seinem Tode zu wirklicher Führerstellung gelangt. Und

wenn die heutigen Generationen nicht in Bergson und Husserl ihre

Philosophen hätten, so möchte man Pinders oben zitierten Satz beinahe

dahin umkehren, daß der Philosoph, den eine Generation liest,

nicht der ist, der mit ihr geboren wird, sondern der, der vor ihr

starb.



Die Gründe für das langsamere Durchdringen philosophischer Bildungswerte

liegen gewiß nicht nur in der Schwere des Gehalts und

dem Tiefgang, der den Umweg durch Schleusen und Kanäle wählen

muß, wo ein leichtes Boot in glatter Fahrt dahingleitet, sondern zum

Teil in der Beschaffenheit der Sprache, die der Prägung neuer Terminologie,

der Aufnahme neuer Begriffs- und Vorstellungsinhalte passive

Widerstände des Verstehens entgegensetzt, die erst durch die

aufnehmende und ausbreitende Arbeit einer Generation überwunden

werden können. Diese Arbeit wird teils von Kommentatoren geleistet,

die den neuen Wein in alte Schläuche füllen, teils von Propagatoren,

die die neue Sprachform auch auf alte Vorstellungen anwenden, bis

sich endlich Sprachform und Denkform auch im allgemeineren Gebrauche

aufeinander eingespielt haben.



Denker wie Hamann, Schopenhauer, Nietzsche waren zugleich

große Schriftsteller, Stilbildner, Bildschöpfer und Spracherzieher,

aber ihre individuell beseelte, musikalisch rhythmisierte, mit Witz,

Satire und Ironie gewürzte Sprache hat unter den Zeitgenossen im

allgemeinen als unwissenschaftlich gegolten, die des einen als zu |#f0595 : 571|



dunkel, die des andern als zu klar und die des dritten als zu kühn.

Umgekehrt waren sie scharfe Kritiker der platten Konventionssprache

zeitgenössischen Stils, des „Lumpenjargons der Jetztzeit“, wie

Nietzsche im Sinne Schopenhauers den Stil von David Friedrich

Strauß und allen hegelianischen Deutschverderbern charakterisierte.

Ihre eigene Sprache war, um ein Jean Paulsches Bild für den Hamannschen

Stil anzuwenden, ein gestauter Strom, auf dem die

deutschen Marktschiffe nicht ankommen konnten, aber die Kraft

dieses Stroms kam zum Durchbruch in der von ihm durchfluteten

Sprache der folgenden Generationen.



g) Generationssprache. Sprache kann nach einem Wort

Wilhelm v. Humboldts nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden.

Dieses Bild besagt, daß die Sprache schläft, solange sie nur gelehrt

und in der erlernten Form angewandt wird. Sie bedarf sogar, wie

jeder lebende Organismus, der unter dem Gesetz des Stoffwechsels

steht, eines kräftesammelnden Schlafes. Aber sie bedarf ebenso des

Weckrufs, der in der Morgenstunde einer zu neuer Tätigkeit sich

aufrichtenden Generation erschallt.



Unter allen die Generationsgemeinschaft herbeiführenden Faktoren

ist die Sprache der elementarste, insofern alles gegenseitige Sichverstehen,

alle Stellungnahme zu gemeinsamen Erlebnissen, alle

Kritik der zu überwindenden Zustände, alle Einigung über gemeinsame

Ziele auf das Mittel der Sprache angewiesen ist. Die neue Generation

findet sich erst in ihrer Sprache. Jedes neu aufgestellte

Programm muß sprachlich Neuschöpfung sein, um zu zünden. Der

neue Geist, der eine Jugendgemeinschaft beseelt, sucht nicht allein

nach Schlagworten, sondern er wird geradezu geweckt durch die

Magie von Zauberworten, in die ein dunkel geahnter Begriffs-, Vorstellungs-

und Gefühlsinhalt einfließt. Jede neue Problemstellung in

Kunst und Wissenschaft bedeutet einen Wandel der Terminologie,

was vielleicht äußerlich am sichtbarsten in der Geschichte der nichtredenden

Künste, der Musik und Bildkunst, in Erscheinung tritt; aber

von potenzierter Bedeutung ist das Sprachproblem für diejenige Wissenschaft,

deren eigenstes Wesen Problemstellung ist, nämlich die

Philosophie, und für diejenige Kunst, deren einziges Mittel die

Sprache ist, nämlich die Dichtung. Sie lebt nicht nur in Theorie,

sondern in ihrer ganzen Praxis durch schöpferisches, weckendes

Walten in der Sprache.



Jeder in Zielverwandtschaft sich enger zusammenschließende Kreis

entwickelt eine eigene Sprache, die das Geheimnis gegenseitigen Verstehens

in sich schließt und auf die Außenstehenden zunächst wie |#f0596 : 572|



eine Geheimsprache wirkt. Okkasionelle Wortbildungen und Bedeutungsgebungen

werden usuell zunächst innerhalb dieses Kreises, bis

sie gefestigt genug sind, um von hier aus weitergetragen zu werden.

Dieser Ausbreitung aber sind Grenzen gesetzt durch Passivität der

Außenstehenden, die die Aufnahme verweigern, weil die mediale

Reaktion auf die Magie der Worte bei ihnen nicht zur Wirkung

kommt. Dieses Phänomen rührt auf das engste an das Generationsproblem

gemäß der Tatsache, daß spontan schöpferische Sprachphantasie

wie rezeptive Sprachtätigkeit in jungen Jahren am lebendigsten

sind, und daß in jedem Menschenleben ein Zeitpunkt der

Sättigung eintritt, in dem ein gewisser fester Sprachstand seinen Abschluß

erreicht. Wenn der französische Sprachforscher Meillet zu

dem Schluß gelangt ist, daß nach dem 25. Jahre sich die Sprache des

Individuums kaum mehr ändere, so beschränkt sich diese Feststellung

jedenfalls auf die phonetischen Eigenheiten der Mundart und mag

vielleicht noch besonders durch stärkere Normierungstendenzen der

französischen Sprache bedingt sein. Im deutschen Schrifttum haben

wir immerhin das Beispiel, daß Justus Möser erst mit 40 Jahren den

Anschluß an den Sprachstil der jüngeren Generation fand. Aber in

einem gewissen Alter treten der Bereicherung des Wortschatzes

Widerstände entgegen; in gleichem Maße, wie sich altfränkische Ausdrucksweise

als Rest ehemaliger Spracherziehung erhält, äußert sich

Widerwille gegen die Aufnahme von Neubildungen, für deren innere

Aneignung das Organ fehlt, weil die aus neuer Geistesrichtung sich

bildende begriffliche Tonart nicht mitschwingt. Infolgedessen gibt

das leere Gebilde der Neutöner Anlaß zum Spott.



Die deutsche Literaturgeschichte liefert ein von der Sprachgeschichte

noch lange nicht ausgeschöpftes Beispiel solchen Nichtverstehens

in dem „Neologischen Wörterbuch“ des Freiherrn

von Schönaich, der als treuer Schildknappe Gottscheds im Jahre 1754

alle neuen Wortschöpfungen „aus den Akzenten der heiligen Männer

und Barden des itzigen überreichlich begeisterten Jahrhunderts“

lexikographisch an den Pranger stellte. Der sprachliche Gegensatz

zwischen Schweiz und Sachsen spielt dabei eine wesentliche Rolle,

und mit dem Generationsproblem scheint diese billige Satire kaum

etwas zu tun zu haben, wenn man das Alter Schönaichs (1725) mit

dem seiner hauptsächlichen Opfer Bodmer (1698), Haller (1708),

Naumann (1719) und Klopstock (1724) vergleicht und zudem in Betracht

zieht, daß in ihren Wortbildungen das schwülstige Andenken

des Hans Caspar v. Lohenstein (1635) getroffen werden soll. Aber

wenn sich auch der junge Schönaich sehr modern fühlt, so kommt |#f0597 : 573|



hier trotzdem der verhärtete Widerstand der alten Generation gegen

die Jungen zum Ausdruck, denn Schönaich macht sich in Gottscheds

Auftrag zum Anwalt einer erlernten Sprache, die sich in der Natürlichkeitstendenz

des Kampfes gegen den Schwulststil des 17. Jahrhunderts

bildete und seitdem geschlafen hat. Der von Schönaich

unternommene Ausfall des in seine Festung verschanzten Rationalismus

gegen die im freien Felde schwärmende Vorhut des Irrationalismus

ist gewissermaßen eine schnarchende Reaktion der schlafenden

Sprache, die sich durch den ersten Weckversuch nicht stören lassen

will.



Ähnliches wiederholt sich, als Friedrich Nicolai in seinem „Feynen

kleynen Almanach“ (1776) durch in haarsträubender Orthographie

gedruckte echte Volkslieder die auf Volkspoesie gerichteten Erneuerungsbestrebungen

Bürgers und Herders lächerlich machen wollte,

oder als Baggesen, Schreiber und Voß 1810 ihren „Klingklingelalmanach“

gegen die sonettierenden Heidelberger Romantiker aussandten.

Wäre der Gedanke des „Neologischen Wörterbuches“ nicht

bereits durch Schönaich vorweggenommen gewesen, so hätten ebensogut

aus dem Aufklärungslager zum selben Zweck Blütenlesen der

Sturm-und-Drang-Sprache oder der Romantikersprache hervorgehen

können, und in Einzelkritiken sind solche Zusammenstellungen auch

gelegentlich dargebracht worden.



Es fehlt aber ebensowenig an Beispielen, daß die junge Generation

in mimischer Satire sich über den veralteten und verbrauchten

Sprachstand der älteren lustig gemacht hat. Das klassische Beispiel

sind die „Epistolae obscurorum virorum“ mit ihrer Verspottung des

schlechten Mönchslateins. Ihnen folgt im 17. Jahrhundert die Satire

der Rachel und Wernicke mit ihrer ironischen Lobpreisung der

amberreichen Schreibart der Schlesischen Marinisten. Der „Mann im

Mond“, in dem Wilhelm Hauff (1802) den süßlichen Stil Claurens

(1771) verspottete, ist besonders bedeutungsvoll, weil es sich ursprünglich

nicht um eine Parodie, sondern um eine Nachahmung

handelte, über die der zur Selbständigkeit erwachende jüngere

Schriftsteller in seinem Sprachgefühl hinauskam. Die ganze Reihe

von glänzenden Parodien zeitgenössischer Schriftsteller, die Fritz

Mauthner und Hans v. Gumppenberg aufgestellt haben, ist nicht nur

als treffende Aufspießung aller Eigentümlichkeiten des individuellen

Stils genußreich, sondern auch für die Charakteristik der Generationsstile

von Aufschluß, weil sie zeigen, welche Spracheigentümlichkeiten

einer Generation komisch vorkamen, weil sie entweder veraltet oder

hypermodern erschienen. Wie die Karikatur für die politische Geschichte, |#f0598 : 574|



so bildet die Parodie für Geschmacks- und Sprachgeschichte

ein unschätzbares Material zur Beobachtung der vor sich gehenden

Entwicklung.



Die Sprachgeschichte kann im Generationsgegensatz ein fruchtbares

Erklärungsprinzip der Entwicklung finden, das noch lange nicht

ausgenutzt ist, zumal für die Neuzeit, in der das reichhaltige Material

und die klar sich abgrenzende schnelle Folge der Generationen unerschöpfliche

Beobachtungsmöglichkeiten für die allgemeine Sprachentwicklung

bieten. Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte“

(§ 43) haben bereits für den Lautwandel darauf hingewiesen,

daß innerhalb der nämlichen Generation nur sehr geringfügige

Verschiebungen zustandezukommen pflegen. „Merklichere Verschiebungen

erfolgen erst, wenn eine ältere Generation durch eine

neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst, wenn eine Verschiebung

schon bei der Majorität durchgedrungen ist, während ihr eine Minorität

noch widersteht, so wird sich das heranwachsende Geschlecht

naturgemäß nach der Majorität richten, zumal wenn die Aussprache

derselben die bequemere ist. Mag nun die Minorität auch bei der

älteren Gewohnheit verharren, sie stirbt allmählich aus. Weiterhin

aber kann es sein, daß sich das Bewegungsgefühl der jüngeren Generation

von Anfang an nach einer bestimmten Richtung hin abweichend

von dem der älteren gestaltet. Dieselben Gründe, welche

bei der älteren Generation zu einer bestimmten Art der Abweichung

von dem schon ausgebildeten Bewegungsgefühl treiben, müssen bei

der jüngeren auf die anfängliche Gestaltung desselben wirken. Man

wird also wohl sagen können, daß die Hauptveranlassung zum

Lautwandel in der Übertragung der Laute auf neue Individuen

liegt.“



Karl Voßler hat sich vom Standpunkte idealistischer Sprachforschung

gegen den Mechanismus der Hypothese, daß Lautwandel

durch die „Ablösung der Geschlechter“ verursacht sei, erklärt und

die unendliche Variabilität des Lautwandels auf die geistigen Vorgänge

des Bedeutungswandels zurückgeführt. Die Entwicklungsgeschichte

der Sprache ist damit als ein stilgeschichtliches Problem zu

betrachten gelehrt. Aber Sprachstil ist nicht nur individueller

Brauch, durch den sich der Personalstil des Einzelnen von dem der

Altersgenossen unterscheidet, sondern diese individuelle Gestaltung

hat zur Basis den generellen Sprachgebrauch einer Gemeinschaft, die

sich von der älteren Generation abhebt, und wenn diese Basis nicht

da ist, so muß der Resonanzboden geschaffen werden, damit der neue

Ton nicht verhallt. Bedeutungswandel kann sich nicht durch Einzelschöpfung |#f0599 : 575|



durchsetzen, sondern nur dadurch, daß eine Gemeinschaft

ihn aufnimmt. Max Kirschstein hat in seinem Buch über „Klopstocks

Deutsche Gelehrtenrepublik“ (Berlin 1928) an dem Beispiel des Begriffes

„Darstellung“ gezeigt, wie die von Klopstock geschaffene Bedeutung

zum Schlagwort einer neuen Kunstauffassung wird. In diesem

Sinne wird jede Sprachgeschichte, die die Bedeutungsentwicklung

in den Vordergrund stellt, Generationsgeschichte sein müssen.



h) Erstarren der älteren Generation. Die als Einheit

kenntliche Altersgruppe behält nicht immer die Geschlossenheit ihres

ersten Auftretens. Große Einzelne werden kraft ihrer individuellen

Entelechie über den Generationsstand hinausgetragen; Mitläufer

fallen in ihre angeborene Art zurück oder lassen sich von einer neuen

Welle aufnehmen; der Durchschnitt aber bleibt in seiner Generationslage

verharren und leistet neuem Ansturm Gegenwehr. Ja, er fordert

diesen Ansturm geradezu heraus, indem er sich der neuen Jugend verschließt

und ihr die Straße verlegt; die Generationseinheit wird zur

Festung. Selbst Goethe, nachdem er in Weimar und Italien sich von

den Altersgenossen des Sturmes und Dranges gelöst hatte, wollte den

nach ihm Kommenden kaum mehr das Recht zugestehen, sich gleichfalls

auszutoben. Der Rückblick auf seine erste Bekanntschaft mit

Schiller bekennt, wie sehr ihn bei der Heimkehr aus Italien Erscheinungen

in der Art von Heinses „Ardinghello“ und Schillers „Räubern“

abgestoßen hätten, weil sie in ethischen und theatralischen

Paradoxen eine Gärung erneuerten, die er für seinen Teil eben überwunden

hatte. Mit mildem Generationsverstehen fügt er dann allerdings

hinzu: „Der Mensch kann sich nicht versagen, nach seiner Art

wirken zu wollen, er versucht es erst unbewußt, ungebildet, dann auf

jeder Stufe der Bildung immer bewußter; daher denn soviel Treffliches

und Albernes sich über die Welt verbreitet, und Verwirrung

aus Verwirrung sich entwickelt.“ Dieses Verstehen finden nachmals

bei ihm die Brüder Schlegel und Zacharias Werner, während es Kleist

gegenüber versagt. Schiller wiederum hat durch seine schroffe Zurückweisung

Friedrich Schlegels die Jenaer Romantiker erst genötigt, im

„Athenäum“ als eigene Gruppe hervorzutreten. Deutlicher kann das

sich abschließende Selbstbewußtsein des Reifealters nicht charakterisiert

werden, als in den Versen, die die Überschrift „Sonntagskinder“

tragen:



Jahrelang bildet der Meister und kann sich nimmer genugtun;

Dem genialen Geschlecht wird es im Traume beschert.

Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren ─ ─

Ach, was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm.
|#f0600 : 576|



Klarer als in den anderen gegen Friedrich Schlegel gerichteten

Xenien kann es nicht in Erscheinung treten, wie unverständlich dem

Älteren die paradoxe Sprache der Jugend vorkommt.



Rätselhaft bleibt es, wie Herder, der in „Tithon und Aurora“ dem

hoffnungsvollen Gedanken der stetigen Verjüngung Spielraum gegeben

hatte, in der „Adrastea“ auf die Dichtung der Uz, Gleim und

Götz als goldenes Zeitalter zurückblickt und nach Goethes Urteil die

„alte abgelebte Literatur emsig aufsucht, um die Gegenwart zu verleumden

oder hämische Vergleichungen anzustellen“. Bemerkenswert

ist Paul Heyses hartes Wort über Ibsens „Gespenster“ als Hospitalpoesie,

da Ibsen selbst im „Baumeister Solneß“ die Angst vor der

Jugend als kritisches Symptom des Alterns dargestellt hat. Und daß

dem alten Fontane sein verständnisvolles Eingehen auf Gerhart

Hauptmanns Anfänge so hoch angerechnet wird, beweist nur, daß

dieses Mitgehen beinahe als ein Wunder, zum mindesten als eine

seltene Ausnahme von der Regel empfunden wird.



Beispiele der entmutigenden Verkennung durch die Kritik der

älteren Generation weist die Lebensgeschichte jedes großen Mannes

auf. Von der Seite des Alters gesehen, entsteht die Frage, ob dieses

Nicht-mehr-verstehen-können über das individuelle Unvermögen

hinaus ein gesetzmäßiges Versagen darstellt und wann dieser von dem

Grade der eigenen Vitalität und Beweglichkeit, von den persönlichen

Erfahrungen und Zielen abhängige Zustand eintritt, den Schopenhauers

Aphorismen zur Lebensweisheit durch die Antithese charakterisiert

haben: „Ist der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte

Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück.“

Von der Seite der Jugend gesehen zeigt sich, daß die Erfahrung

einer vermeinten oder erwiesenen Verständnislosigkeit des

Alters zu den wesentlichen generationsbildenden Faktoren gehört.

Der Ansturm gegen das Alter ist zunächst gar nicht das Primäre der

Jugendbewegung; vielmehr hat der treuherzige Wille, gerade das

Alter zur Anerkennung der eigenen Leistung und des eigenen Andersseins

zu gewinnen, den stärksten Anreiz in sich. Glückt die Überwindung

des Altersgegensatzes, so kann sich eine engere und festere

Lebensfügung herstellen, als es die der Jugendgemeinschaft ist. Im

Falle Goethe-Schiller überwand das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins

jene antipodische Scheidung, die nach Goethes Wort mehr

als einen Erddiameter auszumachen schien, um so leichter, als beide

ihren Jugendgemeinschaften entwachsen waren. Wenn aber diese

Überbrückung des Gegensatzes, die als Anerkennung objektiver

Leistung innerhalb einer Arbeitsgemeinschaft sich herstellen muß, |#f0601 : 577|



mißglückt, so wird durch gegenseitige Verbitterung die Kluft vergrößert.

Dem Älteren wie dem Jüngeren bleibt dann nichts anderes

übrig, als in Rückkehr zu den Altersgenossen das Verständnis zu

suchen, das durch gleichartige Generationslagerung, gleiche Erfahrungen,

gleichgerichtete Einstellung und Schicksalsgemeinschaft gewährleistet

ist.



5. Die Reichweite des Generationsgebildes



Aus dem dargestellten Vorgang der Generationsbildung ergibt sich,

daß das Generationsgebilde weder als ein regelmäßiges Zeitmaß, das

in durchschnittlicher Wirkungsdauer des Einzelnen gegeben ist, gelten

kann, noch als eine durch Geburt bestimmte Gleichheit, sondern als

ein Einssein durch Schicksalsgemeinschaft, die eine Gleichheit der Erfahrungen

und Ziele in sich schließt. Erst durch diese Gemeinschaft

wird überhaupt der Begriff des Schicksals als einer durch Geburt und

Tod begrenzten, durch Wachstum und Entwicklung gehobenen, durch

Mit- und Gegeneinanderwirken ausgefüllten Lebensstrecke in seiner

Notwendigkeit deutlich. Die Generationsfolge bedeutet den Taktschlag

des Schicksals, durch den unzählige Einzelexistenzen in einen

Rhythmus der Arbeit gezwungen werden. Der stoßweise Takt entspricht,

wenn ein technischer Vergleich erlaubt ist, der rhythmischen

Arbeit eines Motors. Verdichtung und Zusammenballung des Brennstoffes

muß der Entladung vorausgehen; dieselbe Welle, die den einen

Zylinder füllt, entleert im gleichen Takt den andern; Frühzündung

beschleunigt, Spätzündung verlangsamt das Tempo. Das Bild ist auch

insofern berechtigt, als einseitige generationsmäßige Betrachtung dazu

verleiten könnte, die Menschheit als Maschine zu betrachten. Und

hier liegt die Gefahr der methodischen Überspannung.



Der Rhythmus als Arbeitserleichterung beherrscht freilich nicht

nur die Tätigkeit des Einzelnen, sondern erst recht die Leistung der

Gruppe und das Wollen der Gesamtheit. Generationsmäßige Willenseinheit

potenziert die angewandte Kraft und ist das stärkste Mittel

der Produktionssteigerung. Aber Taktschlag ist nicht Melodie, und

es ist unmöglich, aus diesem Ordnungsprinzip die Fülle der Einzelleistungen

in ihren Farben und Lichtern zwingend zu erschließen. Es

kann nur als lineare Grundierung des Gemäldes gelten, als Disposition

des Ganzen und Grundriß des Aufbaues. Niemals kann aber

die Leistung des Einzelnen restlos aus seiner Generation, so abhängig

er von ihr sein mag, erklärt werden, ebensowenig wie sie durch den |#f0602 : 578|



Stamm, dem er angehört, oder die Landschaft, in der er aufgewachsen

ist, endgültig und ausschließlich bestimmt ist.



Das Generationsprinzip ist für die Literaturgeschichte das Korrelat

zu dem Stamm- und Landschaftssystem; die Kategorie der zeitlichen

Einordnung ergänzt die der räumlichen. Alles was in der räumlichen

Betrachtung fest ist, wie Heimat, Stammescharakter, Sprache und an

die Sprache gebundener Stil, wird hier in Bewegung aufgelöst; alles

was in der räumlichen Betrachtungsweise fließend ist, als Veränderung

und Entwicklung, wird hier befestigt. Die generationsmäßige

Betrachtungsweise vermittelt die Anknüpfung des literarischen Werdens

an das Geschehen der Zeit, an die großen politischen Ereignisse,

die geistigen Strömungen, die seelischen Erschütterungen, durch

die die Beschaffenheit des Menschen sich wandelt.



Aber gerade diese universalistische Betrachtungsweise stellt vor die

Frage, ob eine Beschränkung auf literarische Generationen überhaupt

berechtigt ist und ob nicht vielmehr die literarische Generation sich

in dem Maße mit der politischen, der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen

deckt, daß das Problem überhaupt nur als ein kulturgeschichtliches

oder soziologisches betrachtet werden kann. Wenn

Schopenhauer zweierlei Geschichten, die politische und die der Literatur

und Kunst unterscheidet, die eine als die des Willens mit beängstigender

und schrecklicher Wirkung, die andere als die des Intellekts

mit erfreulichem und heiterem Eindruck, so sind zwei Lebenssphären

nach ihren Polen getrennt, die in ihren Handlungen immer

ineinander übergreifen und sich gegenseitig bedingen, selbst wenn die

Kunst den Weg vom Zeitlichen zum Ewigen, die Politik den Weg vom

Ewigen zum Zeitlichen geht.



Ein soziologisches Problem ist die Generationsfolge auf jener

ersten Stufe einheitlicher Lagerung, die die Voraussetzung des Generationszusammenhanges

bildet. Ein geistesgeschichtliches Problem

wird sie in dem Generationszusammenhang, der die wurzelhafte Verbindung

und Wechselwirkung zwischen politischen und religiösen Bewegungen,

Weltanschauungen und Parteiprogrammen, wissenschaftlichen

und künstlerischen Leistungen begründet. Aber eine Sonderbetrachtung

verdient jede der Generationseinheiten, die innerhalb des

großen Zusammenhanges sich auf den Gebieten der Politik, der Wissenschaft

und der einzelnen Künste bilden, parallel in ihren Richtungen,

verbunden durch Wechselwirkung, aber vereinzelt in der Besonderheit

ihrer Mittel und Ziele. Also gibt es auch ein eigenes

literarisches Generationsproblem.



Für die Künste mag jene Verschiedenheit des Entwicklungsstandes, |#f0603 : 579|



den jede von ihnen in einem bestimmten Zeitpunkt erreicht hat, wie

Pinder zeigen will, eine gegenseitige Abhängigkeit bedingen; die

Generationseinheit, bei der jedesmal der stärkste Wille vorhanden

ist, erringt eine Führung innerhalb des Generationszusammenhanges.

So hat die Barockmalerei das künstlerische Wollen der Barockdichter,

die geistliche Musik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

das künstlerische Wollen der Dichtung, etwa des Klopstockschen

„Messias“, beeinflußt, und die Höhe der klassischen Dichtung um die

Wende des 18. und 19. Jahrhunderts ist führend sowohl für Bildkunst

als Musik der Zeit geworden, so daß für die folgenden Generationen

der Kunstgeschichte wie der Musikgeschichte das Sichlosringen von

literarischer Bevormundung ein Programm werden mußte. Die Dichtung

hat sich zumeist in einer Mittelstellung zwischen Bildkunst und

Musik gefühlt und bald nach der einen, bald nach der anderen Seite

hin sich lenken lassen. Aber nicht immer ist diese Abhängigkeit die

Folge einer gleichzeitigen Überlegenheit der Nachbarkunst. Wenn

die deutsche Klassik unter Goethes Führung ihr Maß von der Bildkunst

nimmt, so steht sie nicht unter dem Eindruck großer künstlerischer

Leistungen der gleichen Generation, sondern greift, so wie es

Winckelmann und Lessing getan hatten, auf die Kunst vergangener

Zeiten, auf Antike und Renaissance zurück. Es war, nachdem die

musikalische Gefühlsrichtung der vorausgehenden Periode eine Tendenz

zur Maßlosigkeit und Formlosigkeit mit sich gebracht hatte,

ein inneres Gebot des Ausgleichs, bei dem strengen Formbegriff der

bildenden Kunst Halt zu suchen, und wenn die eigene Generation bei

gleicher Richtung die Potenz, die solchen Anhalt gewährt, nicht aufbrachte,

so bot sich das Zurückgreifen auf die Leistung vergangener

Generationen zur Stärkung der immanenten Entwicklungstendenz. In

gleicher Weise aber waren es innere Gründe, wenn die Romantik sodann

den Weg beging, den die Klassik offen gelassen hatte, und es

liegt durchaus nicht nur an der musikalischen Leistung der Generationen

von Mozart und Beethoven, daß eine musikalische Richtung

die Romantik als Ganzes bestimmte, und daß selbst die romantische

Malerei, in Runge und Friedrich, der Generationseinheit der romantischen

Dichter angeschlossen, über die Vermittlung der romantischen

Literatur den Anschluß an die Musik suchte. In gleicher Weise

haben Realismus und Naturalismus in der europäischen Literatur und

Malerei des 19. Jahrhunderts einen ungefähr gleichschreitenden generationsmäßigen

Gang innegehalten und am Ende des Jahrhunderts

auch die Programmusik der musikalischen Generationseinheit in dem

Maße bestimmt, daß jene Befreiung der Musik aus der literarischen |#f0604 : 580|



Gebundenheit durchaus nicht als ein so einheitlicher und stetiger

Entwicklungsgang sich darstellt, wie es vom Standpunkt der absoluten

Musik der Gegenwart, die wiederum Generationsgruppen der

lebenden Dichter und Maler in Bann gezwungen hat, erscheinen

möchte. Es zeigt sich vielmehr ein durchgehender rhythmischer

Wechsel, der aber nicht in der regelmäßigen Ablösung der beiden

von Pinder mit „Form als Hingabe“ und „Form als Auferlegung“

bezeichneten polaren Tendenzen und mit der Wiederkehr des Großvaters

im Enkel sich erschöpft. Das „Sowohl als auch“ der Klassik

ist nicht nur ein traumhaft-flüchtiges Durchgangsstadium, sondern

bleibt im Ziel der Zusammenfassung aller Kräfte und im Ideal der

organischen Harmonie die immanente Tendenz eines Menschentypus,

der auch gelegentlich eine ganze Generation beherrschen kann. Außer

der metronomischen Pendelbewegung der Antithese bleibt die zusammenfassende

Einheitstendenz der Synthese und darüber hinaus

die Kraftprobe einseitiger Steigerung möglich, und diese Möglichkeit

der Richtungen, deren Nachhaltigkeit von der Stärke der Leistung

und des Erfolges abhängt, gibt dem Generationsrhythmus eine unberechenbare

Mannigfaltigkeit.



Ebenso unberechenbar ist die räumliche Tragweite einer Generationsbewegung

und ihr gesellschaftlicher Tiefgang. Die Gleichzeitigkeit

des Geburtsalters ist bedeutungslos, wenn die Reichweite der

generationsbildenden Erlebnisse nicht weit genug ist, um die Gleichaltrigen

zu erfassen. Richard Alewyn hat in seinem Aufsatz über

„das Problem der Generation in der Geschichte“ beiläufig darauf hingewiesen,

daß es irgendwo in Australien noch in der Steinzeit lebende

Naturvölker geben mag, die außerhalb der Geschichte stehen und mit

uns nicht den mindesten Generationszusammenhang haben, ja, daß

selbst geschichtliche Kulturen eine voneinander getrennte Existenz

führen, die keinen realen Zusammenhang der Generationsbildung zuläßt.

Gewisse generationsbildende Erlebnisse bleiben auf einen verhältnismäßig

kleinen Kreis beschränkt, und ob man etwa das Eindringen

des weltlichen italienischen Liedes um 1580, das nur die

deutschen weltlichen Liederdichter und Komponisten, aber nicht die

Mystiker, Theologen, Dramatiker, Prosaschriftsteller, Satiriker der

gleichen Zeit berührte, überhaupt als entscheidendes Generationserlebnis

bezeichnen darf, erscheint mir zweifelhaft, zumal es sich ja

nur um eine Reflexbewegung und um Übernahme einer in anderem

Lande und von einer anderen Generation geformten Art handelt. Dagegen

sind die weitreichendsten Generationserlebnisse die, die sich

nicht auf literarische Formen beziehen, sondern die Grundstruktur |#f0605 : 581|



des ganzen Menschen einer Zeit in ihren Wurzeln erschüttern. Europäische

Bewegungen und Weltereignisse, die, wie der letzte Krieg,

den ganzen Erdball durcheinanderwarfen, haben eine unendlich viel

größere Wellenlänge und einen alle Gesellschaftsschichten durchmessenden

Tiefgang und sind daher imstande, weit über alle Grenzen

der Stände und der Länder Generationsgemeinschaft entstehen zu

lassen. Solche Ereignisse bringen auch einen Ausgleich zwischen dem

verschiedenartigen Kulturstand der voneinander getrennten Länder

hervor, und ihre weite Wirkung vollbringt es, daß der innerhalb verschiedener

Kulturzusammenhänge andersartig verlaufende Rhythmus

der Entwicklung schließlich an den Grenzen von Zeitaltern zusammenklingt,

so daß die große Symphonie aller Instrumente in Pausen,

Sätzen und Einsätzen einheitlich gegliedert ist.



Die Vereinheitlichung des Weltverkehrs und die Verkürzung der

Entfernungen durch Luftschiff, Flugzeug, drahtlose Telegraphie und

Bildfunk, die Verallgemeinerung der Bildungsmittel, die Verbreitung

des Übersetzungswesens, der Welthandel, die Börse, der Nachrichtendienst

der Presse, alle diese modernen Erscheinungen, über deren

Kulturwert man sehr geteilter Ansicht sein kann, verstärken mit Unterdrückung

der regionalen Besonderheiten, die als Kräfte des Verharrens

einer allgemeinen Generationsbildung im Wege standen,

immer mehr die Schicksalsgemeinschaft und den Gleichschritt der

Entwicklung, so daß man mit Recht sagen kann, daß das Generationsbewußtsein

in räumlicher Ausdehnung und gesellschaftlicher Vertiefung

immer mehr zunimmt, so wie die Aufeinanderfolge der Generationen

sich beschleunigt. Vom eigenen Zeiterleben aus mußte deshalb

das Generationsproblem auch für die heutige wissenschaftliche

Erkenntnis wieder aktuell werden.



Der zeitliche Abstand zwischen den Generationsbildungen ist

ebenso unerrechenbar wie der der beiden andern Dimensionen, nämlich

der räumlichen und gesellschaftlichen Schichtung. Je kürzer die

Intervalle sind, desto schneller ist die Gesamtbewegung, und je

rapider die Entwicklung fortschreitet, desto rascher jagt sich die

Folge der Generationen, die ihre Träger sind. Aber wenn auch mit

der Beschleunigung mehr Staub aufgewirbelt wird, so verflacht sich

wiederum im Ausgleich die Stoßkraft der Gegensätzlichkeit.



Das Schicksal fährt uns heute in rasender Fahrt. „Wie von unsichtbaren

Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit

unsers Schicksals leichtem Wagen durch.“ Aber aufblickend zu den

ewigen Gestirnen sollen wir uns im jagenden Flug entrinnender

Gegenwart auch des anderen Goethischen Ausspruchs erinnern, daß |#f0606 : 582|



jeder Augenblick ein Repräsentant der Ewigkeit ist. Und wenn uns

Beängstigung beschleicht, mögen wir des Weitblicks gedenken, mit

dem der Alte von Weimar am Ende seines Lebens das Recht der

Jugend anerkannte und in herumlaufenden Kindern wie in straßenkehrenden

Besen die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer

verjüngenden Welt vor Augen hatte:



Johannisfeuer sei unverwehrt,

Die Freude nie verloren!

Besen werden immer stumpfgekehrt

Und Jungens immer geboren.
|#f0607 : E583|



GESAMTPLAN DES UNAUSGEFÜHRTEN 2. BANDES:

DICHTUNG IN RAUM UND ZEIT
|#f0608 : E584|



DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG

ZWEITER BAND: DICHTUNG IN RAUM UND ZEIT


Einleitung: Synthetische Literaturwissenschaft



1. Werke und Gattungen



2. Dichtertypen



3. Dichtung und Dichtkunst



4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes und

der Zeit



3. Buch: Ordnungen



Erster Hauptteil: Raum



a) Rasse, Volk und Stamm



b) Sprachraum



c) Landschaft



d) Geistiger Raum



Zweiter Hauptteil: Zeit



a) Geschichte



b) Perioden und Epochen



c) Generationen



d) Bewegungen



Dritter Hauptteil: Gesellschaft



a) Umwelt



b) Berufe und Stände



c) Schichten des Publikums



d) Geschmack



Vierter Hauptteil: Geist und Stil



a) Problemgeschichte



b) Ideengeschichte



c) Stilgeschichte



d) Existenz

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4. Buch: Völker und Zeiten



Erster Hauptteil: Nationalliteratur



a) Aufbau und Gliederung



b) Beharrlichkeit und Fortschritt



c) Volkwerdung



d) Nationalcharakter



Zweiter Hauptteil: Geistesgeschichte



a) Philosophie



b) Politik



c) Religion



d) Verhältnis zu den Nachbarkünsten



Dritter Hauptteil: Literaturvergleichung



a) Sprachvergleichung



b) Gleichzeitigkeit



c) Strukturvergleichung



d) Völkerpsychologie



Vierter Hauptteil: Weltliteratur



a) Übersetzungen



b) Weltwirkung



c) Humanitas



d) Weltwert



5. Buch: Darstellung



Erster Hauptteil: Standort



Zweiter Hauptteil: Einfühlung und Intuition



Dritter Hauptteil: Aufbau und Gesetze



Vierter Hauptteil: Der Sinn der Literaturwissenschaft

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ANMERKUNGEN


EINLEITUNG


1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre



S. 1: Motto: Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

Säk.-Ausg. Bd. 13, S. 8.



Über die Möglichkeiten einer Universalgeschichte vgl. Kurt Breysig, Der

Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte. Berlin 1905. ─ Ders., Die Geschichte

der Menschheit. Bd. 1. Breslau 1936.



S. 2: Literaturgeschichtsphilosophie: Das von Emil Ermatinger herausgegebene

Sammelwerk, das verschiedene methodische Fragen in Einzelaufsätzen behandelt,

trägt den Titel „Philosophie der Literaturwissenschaft“. Berlin 1930.



S. 3: Josef Schick, Corpus Hamleticum. Hamlet in Sage und Dichtung, Kunst

und Musik. Abt. I, Bd. 1 und 2: Europäische Sagen des Mittelalters und ihr Verhältnis

zum Orient. Das Glückskind mit dem Todesbrief. Berlin 1912/32. Bd. 4

und 5: Die Scharfsinnsproben. Berlin 1934. Leipzig 1938.



Arturo Farinelli, Aufsätze, Reden und Charakteristiken zur Weltliteratur. Bonn

und Leipzig 1925. S. 383. ─ Ders., Weltliteratur und Innenleben. Neue Reden

und Aufsätze. Pisa und Stuttgart 1937. S. 335─52.



S. 4: Herder im Bruchstück eines älteren „Critischen Wäldchen“. Suphans

Ausg. 4, S. 211.



S. 5: Rassische Urverwandtschaft: Hans Heyse, Idee und Existenz. Hamburg

1935. S. 323 ff. ─ Werner Jaeger, Paideia. 2. Aufl. Berlin 1935. S. 4 ff.



S. 6: Schiller: Der Schlüssel. Säk.-Ausg. Bd. 1, S. 148.



S. 7: Goethe, Maximen und Reflexionen. Nach d. Hs. d. Goethe- und Schiller-

Archivs hrsg. von Max Hecker. Schr. d. Goethe-Ges. 21. S. 211. ─ In den von

Walter Otto (Dt. Lit. Ztg. 58, Sp. 1167 f.) zugunsten der Universalgeschichte herangezogenen

Tatsachen, daß die Mohammedaner bisher nichts Rechtes für die Erforschung

der islamischen Kunst beigetragen haben und daß allein die europäische

Wissenschaft die altägyptische Kunstwelt mit arteigenem Maßstab zu messen gelernt

hat, liegt nur eine Bestätigung dafür, daß das Verständnis fremder Kulturen

von einer eigenen Kulturhöhe und einer in ihr ausgebildeten wissenschaftlichen

Methode abhängig ist.



Littérature comparée und Völkerbund: J. M. Carré, Rev. de la litt. comp. 2,

S. 137.



Adolf Bartels, Einführung in die Weltliteratur im Anschluß an das Leben und

Schaffen Goethes. 3 Bde. 1913. 2. Aufl. 1927.



S. 8: H. Munro and N. Kershaw Chadwick, The growth of literature. Vol. 1. 2.

Cambridge 1932/36.



S. 9: Eduard Sievers, Der Heliand und die angelsächsische Genesis. Halle 1875.

─ Andreas Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied. Dortmund 1921. ─
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Joseph Bédier, Le roman de Tristan par Thomas. Paris 1902 (Société des anciens

textes français. 46.) ─ F. Piquet, L'originalité de Gottfried de Strasbourg.

Lille 1905.



S. 10: Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.

Berliner Akademievortrag 1813. ─ W. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens.

Die Antike 3 (1937), S. 287 ff. ─ Flora Roß Amos, Early theories of translations.

Studies in comparative literature. New York 1920. ─ Paul Herbert Larwill, La

théorie de la traduction au début de la renaissance. München 1934. ─ Cervantes,

Don Quichote. 11. Buch, Kap. 10.



S. 11: Wilhelm von Humboldt an A. W. Schlegel. 23. Juli 1796. Klettes Verzeichnis.

Bonn 1868, S. VI. ─ Das Wort „Literaturwissenschaft“ kommt zuerst vor bei

Theodor Mundt in seiner „Gesch. d. Lit. d. Gegenwart“, Berlin 1842. Vgl. Sachwörterbuch

der Deutschkunde. Bd. 2. 1930. S. 746.



S. 12: Osk. Katann, Vom Wesen der Literaturwissenschaft. Über den Wassern

1914. Wiederholt: Ästhetisch-literarische Arbeiten. Wien, Innsbruck, München 1918.

S. 177 ff. ─ Ders., Zur Methode der Literaturgesch. Gral 1929; wiederholt in:

Gesetz und Wandel. Innsbruck 1932. S. 188─210. ─ A. N. Wosnessensky, Aufbau

d. Literaturwiss. (Ideal. Philos. III), 1938, S. 337 ff. ─ Wolfg. v. Einsiedel, Gibt es

eine Literaturwissenschaft. Die schöne Literatur 1926, Heft 1, 3 und 4. ─ Rob.

Petsch, Was heißt Allgemeine Literaturwissenschaft? Einführende Bemerkungen.

Ztschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 28 (1934), S. 254 ff.



S. 13: Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933. S. 28.



S. 14: G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. 2. Teil, 3. Abschn., 3. Kap.

Sämtl. Werke V, S. 330.



Agnes v. Zahn-Harnack, Adolf von Harnack. Berlin 1936. S. 71 f. ─ Friedr.

Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1911. S. VIII. ─



S. 15: Jean Paul, Quintus Fixlein. 2. Zettelkasten. Akademie-Ausg. I, 5, S. 77.

Daß ursprünglich die jüdischen Masorethen gemeint waren, beweist der Brief an

Emanuel vom 15. April 1795: Eduard Berend, Briefe Jean Pauls. Bd. 2, S. 71.



S. 16: Wilh. Wundt, Logik. 3 Bde. Stuttgart 1893. 3. Aufl. 1906.



Wilh. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883. Ges. Schr. Bd. 1.

2. Aufl. Leipzig und Berlin 1923. ─ Wilh. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft.

Straßburger Rektoratsrede 1894. 3. Aufl. Straßb. 1904. ─ Heinr.

Rickert, Die Grenzen der naturwiss. Begriffsbildung. Tübingen 1902. 2. Aufl. 1913.

─ Dazu Erich Becher, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen

zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften. München u. Leipzig

1921. S. 125 ff.



S. 17: Das Zusammenstreben von Wissenschaft und Leben ist als geisteswissenschaftliche

Lage der Nachkriegszeit durch Theod. Litt (Erkenntnis und Leben.

Leipzig 1923, S. 26 ff.) besprochen.



S. 19: Fr. Th. Vischer, Faust der Tragödie dritter Teil. Nachspiel. 2. Aufl. 1882;

3. Aufl. 1886. S. 157 ff. ─ Ders., Die Faustliteratur. Hallesche Jahrbücher. 1839,

Nr. 9 ff.; wiederholt: Kritische Gänge. Tübingen 1844, Bd. 2, S. 49 ff. 2. Aufl.

München 1924, Bd. 2, S. 213. ─ Vgl. auch meine Besprechung neuerer Faustliteratur

in der Deutschen Literaturzeitung 55 (1934), Sp. 778─91. ─ H. Titze,

Die philosophische Periode der deutschen Faustforschung. Diss. Greifswald 1911.

─ Ada M. Klett, Der Streit um Faust II seit 1900. Jena 1939. = Jenaer Germanist.

Forsch., 33.

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2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben



S. 20: Motto: A. H. L. Heeren, Geschichte des Studiums der classischen Literatur

seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften. Bd. 1, Göttingen 1797, S. VII.



Er. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, S. 151.



S. 21: S. v. Lempicki, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum

Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1920. Voraus ging eine kurze Skizze Erich

Schmidts in der Wiener Antrittsvorlesung (Charakteristiken 1, 480 ff.). Als Ersatz

für die noch fehlende Fortsetzung Lempickis dienen desselben Verfassers

Artikel „Literarhistoriker“, „Literaturgeschichtsschreibung“, „Literaturwissenschaft“

im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte von Merker und Stammler.

Bd. 2. Berlin 1926─28. ─ Zur Geschichte der englischen Literaturgeschichtsschreibung:

J. H. O'Leary, English Literary History and Bibliography. London

1928. ─ Dazu: M. Ertle, Englische Literaturgeschichtsschreibung, Ästhetik und

Psychologie in ihren Beziehungen. Diss. Berlin 1936. ─ Eine Geschichte der französischen

Literaturgeschichtsschreibung ist in der essayistischen Methodenlehre von

Gust. Lanson „Histoire littéraire“ (E. Borel, De la Méthode dans les Sciences.

2me série Paris 1911, S. 221─64) eingeschlossen.



Mittelalter: H. H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters.

Bochum-Langendreer 1937. ─ Dazu: E. R. Curtius, Z. f. roman. Philol. 58 (1938).



S. 22: J. v. Watt: E. Jenal, Wissen und Leben 16 (1922), S. 93 ff. ─ J. Nadler,

Euphorion 25 (1924), S. 114 ff. ─ Herm. Menhardt, Altdt. Dichtung i. d. Wiener

Vorlesungen d. Vadianus 1512─13. Ztschr. f. dt. Altertum 75 (1938), S. 39─48. ─

Mit dem Buchdruck entstand erst die Aufgabe, einen endgültigen Text, der vielfältiger

Verbreitung zu genügen hatte, herzustellen, und damit die Anfänge der

Textkritik. Vgl.: A. Meißinger, Roman des Abendlands. Leipzig 1939. S. 56.



S. 23: Jul. Schwering, Die Idee der drei heiligen Sprachen im Mittelalter.

Festschr. für Aug. Sauer. Stuttgart 1920. S. 3─11.



S. 24: Über die kulturpatriotischen Tendenzen der Barockpoetik sowie Morhofs

und seines Nachfolgers Rotth vgl. Br. Marckwardt: Geschichte der deutschen

Poetik. Berlin 1937. Bd. 1. S. 26 ff., 227 ff., 240.



Histoire Litéraire de la France. Ouvrage commencé par des religieux Bénédictins

de la congrégation de Saint-Maur et continué par des Membres de l'Institut.

36 Bde. 1733─1927.



Theoph. Cibber, The lives of the poets of Great Britain and Ireland from the

time of Dean Swift. 5 Bde. London 1753. ─ Sam. Johnson, The lives of the most

eminent English poets. London 1779─81.



In Deutschland erschien ein ähnliches Werk mit Ch. H. Schmids Biographie

d. Dichter. 2 Teile. Leipzig 1769─70.



Jos. Körner, Nibelungenforschungen der deutschen Romantik. Leipzig 1911. ─

M. Wehrli: J. J. Bodmer und die Geschichte der Literatur. Wege zur Dichtg. 27.

Frauenfeld und Leipzig 1937.



S. 25: Fr. Gedike, Über das Studium der Literarhistorie nebst einem Beitrag

zu dem Kapitel von gelehrten Schustern. Berlinische Monatsschr. I (1783), S. 280 f.



S. 27: Franz Schultz, Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder

bis Wilhelm Scherer. In: Ermatinger: Philosophie d. Litwiss. Berlin 1930. S. 1─42.

─ Martin Schütze, Academic Illusions. A survey, a criticism. a new approach

and a comprehensive plan for reorganizing the study of letters and arts. Chicago

1933.

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S. 28: Joh. Gottfr. Eichhorn, Allgemeine Geschichte der Kultur und Literatur

des neueren Europa. 2 Bde. Göttingen 1796─99. ─ Ders., Geschichte der Literatur

von ihren Anfängen bis auf die neuesten Zeiten. 6 Bde. Göttingen 1805─11. ─

Friedr. Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit seit dem Ende des

13. Jahrhunderts. 12 Bde. Göttingen 1801─19. ─ Karl J. Bouginé, Handbuch der

allgemeinen Literaturgeschichte nach Heumanns Grundriß. 7 Bde. Zürich 1789 bis

1802. ─ Ludw. Wachler, Handbuch der allgemeinen Geschichte der literärischen

Kultur. 2 Bde. Marburg 1804 f.



Ein Verzeichnis der allgemeinen Literaturgeschichten bei R. F. Arnold: Allgemeine

Bücherkunde zur neueren deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Berlin,

Straßburg 1919. S. 39─51.



S. 29: Friedr. Schlegel, Geschichte der Poesie der Griechen und Römer. Prosaische

Jugendschriften, hrsg. v. J. Minor. Wien 1882. Bd. 1, S. 231 ff. Sämtliche

Werke. Wien 1822. Bd. 3. S. 267 ff.



S. 30: Otto Koischwitz, Über die Literaturgeschichte des Dichters Eichendorff.

Dichtg. u. Forschg. Festschr. f. Ermatinger. Frauenfeld u. Leipzig 1933. S. 128─37.



S. 31: Wilh. Scherer, Jakob Grimm. Berlin 1865. ─ Uhland, Schriften zur

Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. II, S. 354.



S. 32: M. Rychner, G. G. Gervinus. Ein Kapitel über Literaturgesch. Bern 1922.

─ Rud. Unger, Gervinus und die Anfänge der politischen Literaturgeschichtsschreibung

in Deutschland. Nachr. d. Götting. Ges. d. Wiss. N. F. Bd. I, Nr. 5.

Berlin 1935.



S. 33: Jul. Petersen, Literaturwissenschaft und Deutschkunde, Zs. f. Deutschkde.

38 (1924), S. 403─15.



S. 35: Hettner: E. A. Boucke: Aufklärung, Klassik und Romantik. Sonderdr.

a. d. 7. Aufl. d. Litgesch. d. 18. Jh. Braunschweig 1925. ─ Rud. Unger, Schles.

Lebensbilder. Bd. 3 (1928); wiederh.: Ges. Studien. Bd. 2 (1929), S. 163─73.



S. 36: Scherer: W. Dilthey. Dt. Rundschau XIII (1886). ─ Ges. Schr. Bd. II,

S. 236─53. ─ Edw. Schröder, ADB. Bd. 31, S. 104─14. ─ Er. Rothacker, Einleitung

in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, S. 207 ff. ─ Briefwechsel

zw. Müllenhoff und Scherer, hg v. A. Leitzmann. Berlin u. Leipzig 1937, S. 476 ff.

─ Er. Schmidt, Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte (1880). Charakteristiken.

Bd. 1. Berlin 1886, S. 480─98. ─ v. Basch, Wilh. Scherer et la

philologie allemande. Paris, Nancy, 1889. ─ J. Petersen, Zum Gedächtnis W. Scherers.

Deutsche Rundschau, 1941.



S. 38: Wolfg. Goetz, Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft. Schr. d. G. G. (Weimar

1936), S. 19 ff.



S. 39: Anton Bettelheim, Die Unmöglichkeit einer Goethe-Biographie. Allg. Zeitg.

1891. Beilage Nr. 212. ─ Hipp. Taine, Sa vie et sa correspondance. Paris 1902 bis

1907. II, 360; III, 307.



S. 40: Dilthey: Rothacker a. a. O. S. 253 ff. ─ Briefwechsel mit Graf Paul

Yorck v. Wartenburg hg. v. Sigrid v. d. Schulenburg. Halle 1923.



S. 41: Rud. Unger, Kierkegaard, der religiöse Prophet des Nordens. Der Wächter.

Jg. 7 (1924); wiederholt: Ges. Studien II (1929), S. 122─162. ─ Joh. Pfeiffer,

K.s Kampf gegen d. Dichter. Das Innere Reich, Juli 1936.



S. 42: Stefan Georges Einfluß: W. Wolters, Stefan George und die Blätter für

die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930. ─ H. Rößner, Georgekreis

und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1938. ─ R. M. Meyer, Prinzipien

wissenschaftlicher Periodenbildung. Euphorion 8 (1901), 1─42.

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S. 43: Friedr. Kummer, Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, dargestellt

nach Generationen. Dresden 1909.



Aug. Sauer, Literaturgeschichte und Volkskunde. Prag 1907.



Jos. Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 1:

Die Altstämme (800─1600); Bd. 2: Die Neustämme von 1300, die Altstämme von

1600 bis 1780; Bd. 3: Hochblüte der Altstämme bis 1805 und der Neustämme bis

1800; Bd. 4: Der deutsche Staat (1814─1914). Regensburg 1912─28. Neubearbeitung

unter dem Titel „Literaturgesch. des dt. Volkes“ als 4. Aufl., Berlin 1938─41.



Rud. Unger, Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft.

München 1908. ─ Ders., Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Berlin 1924. ─

Beides wiederholt in den Gesammelten Studien Bd. 1 (1929), 1 ff.; 137 ff.



O. Walzel, Analytische und synthetische Literaturforschung. Germ. Rom.

Mschr. 2 (1910), 257 ff.; 321 ff. Wiederholt: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926,

S. 3─35.



Kuno Francke, Die Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen

Entwicklung. 2 Bde. Berlin 1910/23.



Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Halle 1897. Bd. 2

(Stilistik) 1911.



S. 44: Emile Faguet, La crise du français. Revue des deux mondes Sept. 1910.



Jul. Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1924.



Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit.

München 1922. 2. verm. Aufl. 1924.



S. 45: H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung

der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 1. Leipzig 1923. Bd. 2 ebd. 1930.



Harry Maync, Geschiche d. deutschen Goethe-Biographie. 2. Aufl. Leipzig 1914.



José Ortega y Gasset, Um einen Goethe von innen bittend. Brief an einen

Deutschen. Neue Rundschau Bd. 1 (1932), S. 551 ff. Wiederholt: Buch des Betrachtens.

Stuttgart-Berlin o. J., S. 206─50.



Karl Voßler, Deutsche Literaturzeitung 57 (1936), Sp. 1265. ─



S. 46: Historische Belletristik. Ein kritischer Literaturbericht. Hrsg. von der

Schriftleitung der Hist. Zs. München u. Berlin 1928. ─ H. Bourdeau, L'histoire et

les historiens. Essai critique sur l'histoire considérée comme science positive. 1888.

─ Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie.

5. u. 6. Aufl. Leipzig 1908. S. 125 f.



Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. ─ Paul Kluckhohn,

Das Kleist-Bild der Gegenwart. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 798─830. ─ R. Ayrault,

La légende de Heinrich von Kleist. Un poète devant la critique. Paris 1934.



Herb. Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Halle 1926. Dazu:

Henri Lichtenberger, Une méthode nouvelle d'histoire littéraire. Mélanges

offerts à F. Baldensperger. T. 2. Paris 1930. S. 50─59.



Auseinandersetzungen über die neuen Richtungen: Paul Merker, Der Ausbau der

deutschen Literaturgeschichte. Neue Jbb. 45 (1920), S. 63─83. ─ Ders., Neue

Aufgaben d. dt. Literaturgeschichte, Leipzig und Berlin 1921. ─ Wern. Mahrholz,

Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. Berlin 1923. 2. Aufl. bearb.

von Fr. Schultz. Leipzig 1932. ─ Em. Ermatinger, Die deutsche Literaturwissenschaft

in der geistigen Bewegung der Gegenwart. Zs. f. Deutschkde. 39 (1925),

S. 241─61. ─ Wiederholt: Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung.

Zürich 1928. S. 1 ff. ─ Er. Everth, Individualität und Geistesgeschichte.
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Jb. d. Charakterologie 4 (1927), S. 1─42. ─ H. Maync, Die Entwicklung d. dt.

Literaturwissenschaft, Bern 1927. ─ O. Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen

Literaturwissenschaft. Wien-Leipzig 1928. ─ Franz Schultz, Das Schicksal

der deutschen Literaturgeschichte. Ein Gespräch. Frankfurt a. M. 1929. ─ K. J.

Obenauer, Der Wandel in der deutschen Literaturwissenschaft. Ständisches Leben

1932, Heft 7. ─ Paul Böckmann, Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen

Literaturbetrachtung. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 448─71.



S. 48: Heinz Kindermann, Dichtung und Volkheit. Berlin 1937. ─ K. J.

Obenauer, Volkhafte und politische Dichtung. Frankfurt a. M. 1936.



Paul Krannhals, Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentstehenden

deutschen Kultur. München 1928. Bd. 2, S. 389.



S. 49: Franz Koch, Blick in die Zukunft. In: Festschr. z. 50jährigen Bestehen

d. German. Seminars der Universität Berlin. Berlin 1937. S. 59. ─ Hans F. K.

Günther, Rasse und Stil. München 1926. ─ Ludwig Ferdinand Clauß, Rasse und

Seele. München 1926. ─ Ders., Die nordische Seele. München 1932.



Vorgeschichte: Fr. Kern, Weltgeschichte der schriftlosen Kulturen. Arch. f.

Kulturgesch. 22 (1931), 23 (1932). ─ Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der

Germanen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1934. ─ Rob. Stumpfl, Kultspiele der Germanen

als Ursprung des mittelalterlichen Dramas. Berlin 1936. ─ Rich. Wolfram, Schwerttanz

und Schwerttanzspiel. Wiener Zs. d. Ver. f. Volkskunde 1912, Heft 1/2. ─

Ders., Schwerttanz und Männerbund. Kassel 1935 ff.



S. 50: Weltkrieg: Herb. Cysarz, Zur Geistesgeschichte des Weltkriegs. Halle 1931.

─ Herm. Pongs, Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Stuttgart 1934.



Heinz Schlötermann, Das dt. Weltkriegsdrama. = D. Nationaltheater, hrsg. von

O. zur Nedden. Würzburg-Aumühle. 1939. ─ Herm. Grimrath, D. Weltkrieg im

franz. Roman. N. dt. Forsch., 19. Berlin 1935. ─ Marg. Günther, D. engl. Kriegsroman

u. d. engl. Kriegsdrama. N. dt. Forsch. 59. Berlin 1936. ─ H. Weigand,

D. engl. Kriegsroman. 1933. ─ H. Langenbucher, Literaturwiss. und Gegenwartsdichtung.

In: Einsamkeit u. Gemeinschaft, Stuttgart 1939. ─



Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. Dichtg. u. Volkstum 38 (1937),

S. 1─17; 273─324. Vgl. auch: Horst Oppel, Kierkegaard und die existenzielle

Literaturwissenschaft. Ebd. S. 18─29; Fritz Dehn, Existenzielle Literaturwissenschaft

als Entscheidung. Ebd. S. 29─43. ─ Kritische Stellungnahme v. W. Schmiele,

Existenzielle Literaturwissenschaft? Frankf. Ztg., 6. März 1938.



ERSTESBUCH: DAS WERK

ERSTER HAUPTTEIL: ÜBERLIEFERUNG UND AUSWAHL



S. 55: Über philosophische Dichtung: M. Dessoir, Die Kunstformen der Philosophie.

Universitätsrede Berlin 1928. ─ Herm. Glockner, Philosophie und Dichtung.

Typen ihrer Wechselwirkung von den Griechen bis auf Hegel. Zschr. f.

Ästh. u. Kunstwiss. 15 (1921), S. 187─204. ─ Paul Schaaf, Das philosophische Gedicht.

Dt. Vierteljahresschr. 6 (1928). S. 270─292. ─



Schiller an Körner 9. März 1789. Jonas II, 247.



George, Tage und Taten. S. 85.



S. 56: Roman Ingarden, Das Literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus

dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle a. S. 1931.

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Klagen Goethes: Petersen, Goethe und die deutsche Sprache. Jb. d. Goethe-

Ges. 17, S. 1 ff. Wiederholt: Aus der Goethezeit. Leipzig 1932, S. 70 ff., 77 f.



Selbst ein Dichter wie Theoph. Gautier läßt in seinem Roman „Mademoiselle

de Maupin“ sagen, das beste Gedicht sei, was der Dichter nicht geschrieben habe

(Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 58).



S. 57: KleistsPeter, der Einsiedler: Petersen, H. v. Kleist und Torquato Tasso.

Eine Studie über literar. Einfluß. Zeitschr. f. d. dt. Unterricht 1917, S. 273─89,

337─59.



Weidmanns und Lessings Faust: Engel, Johann Faust. Ein allegor. Drama. Mutmaßlich

nach Lessings verlorener Handschrift. 1877. ─ Dazu Payr v. Thurn, Grillparzer-Jb.

13, S. 1 ff. ─ Ludw. Fränkel, Die drei Wiener Weidmanns u. d. W.sche

Faust. Ber. d. Fr. Dt. Hochstifts. N. F. 16 (1900), S. 12─22.



Kleists Roman: E. Schering, Berl. Tgbl. 7. Aug. 1926. Nr. 369. ─ Dagegen

G. Witkowski Leipz. N. N. 15. Aug. 1926. ─ O. Walzel, Berner Bund 1926, Nr.

412. ─ K. Viëtor, Jb. d. Kleistges. Bd. 7/8 (1927), S. 138─47.



Paul Piper, „Joseph“, Goethes erste große Jugenddichtung wiederaufgefunden

und zum ersten Male hg. Hamburg 1920. ─ Gesamte Literatur darüber bei Fritz

Tschirch, Der Altonaer Josef, Goethes angebliche Jugenddichtung. Berlin 1929.

Vgl. auch S. 79.



S. 60: Häring und W. Scott: H. A. Korff, Scott und Alexis. Diss. Heidelb.

1907. ─ R. Fischer, Schloß Avalon. Diss. Leipzig 1911. ─ H. F. Kohler, Walladmor.

Diss. Marburg 1917.



Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1928/29.



S. 61: Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. I (1897), S. 17.



S. 62: Heinzels Kritik: Singer, Zs. f. österr. Gymn. 1909, S. 337.



Dichtungsgeschichte: Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters.

Berlin-Neubabelsberg 1923. S. 2. ─ Unger, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte.

Ges. Stud. Bd. 1 (Berlin 1928), S. 215. ─ Herb. Cysarz, Zwischen

Dichtung und Philosophie. Festschr. f. Ermatinger. Frauenfeld 1933. S. 1.



J. J. Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften.

2. Aufl. Berlin, Stettin 1789. S. 335 ff. ─ Mart. Sommerfeld, Romantheorie

und Romantypus d. dt. Aufklärung. Dt. Vjschr. f. Litwiss. und Geistesgesch.

4 (1926), S. 459─90.



Schleiermacher, Ästhetik. Hrsg. von Odebrecht. Berlin, Leipzig 1913. S. 263. ─



S. 63: Bernhardi, Sprachlehre. Bd. 2 (Berlin 1803), S. 186 f. ─ Hegel (Ästhetik,

Bd. 3, S. 395) läßt den Roman das verlorene Recht der Poesie auf dem Boden

der Prosa zurückerobern.



E. G. Kolbenheyer, Wie wurde der deutsche Roman Dichtung? München

1938. S. 10 f. ─ Genau gleichzeitig behauptet Wilh. Schäfer das Umgekehrte,

daß die Zustands- und Alltagsschilderung den modernen Roman auf ein anderes

Brett als das der Dichtung abschiebe (Wendekreis neuer Anekdoten. München 1937.

S. 9). Dafür hat Paul Ernst wiederum die von Schäfer meisterlich gepflegte

Anekdote nicht mehr zur Dichtung rechnen wollen (Der Weg zur Form. 3. Aufl.

S. 429) und den Roman Halbkunst genannt (Vgl. P. Fechter, Gesch. d. dt. Lit. vom

Naturalismus bis zur Lit. des Unwirklichen, Leipzig 1938, S. 311). ─ Oswald Spengler

über den Roman: Aquädukt. Jahrbuch des Verlags Beck. 1938.

|#f0617 : 593|



Ben. Croce, La Poesia. Introduccione alle Critica e Storia della Poesia e della

Letteratura. Bari 1936. p. 2. ─ Ders., Poesie und Nichtpoesie. Übers. von Schlosser.

Zürich, Wien, Leipzig 1925. S. 497. ─ Walzel, Grenzen von Poesie und Unpoesie.

Frankfurt a. M. 1937, S. 6 f.



S. 64: Ingarden, D. literar. Kunstwerk, S. 1. ─ Für die Interpretation des Einzelwerks

als Dichtung kann die phänomenologische Betrachtungsweise fruchtbar

gemacht werden, wie die Diss. von Lucie Elbracht-Hülseweh, J. Bidermanns „Belisarius“,

Berlin 1935 (= N. dt. Forsch., Abt. Dt. Litgesch., 4) zeigt, aber für die

Heraushebung des Wesentlichen aus der Gesamtheit des Stoffes kommt ihre Anwendbarkeit

nicht in Betracht. Vgl. auch: Günther Müller, Über die Seinsweise

von Dichtung. Dt. Vierteljahresschr. 17, 1939, S. 137 ff. ─



S. 65: B. Croce, La Poesia. p. 146.



S. 66: Th. Mann, Ricarda Huch. Frankf. Ztg. 18. Juli 1924, Nr. 530. ─ Jos.

Ponten, Offener Brief von Th. Mann. Dt. Rundschau 51 (Okt. 1924), S. 64─83. ─

W. Schneider, Schriftstellersprache und Dichterwort. Die Literatur 26 (1923/24),

S. 256─70. ─ Einen Unterschied zwischen dem Schriftsteller, der auf sein Volk

wirken will, und dem Literaten, der nur auf Erfolg ausgeht, macht Wilh. Schäfer,

Der Dichter u. s. Zeit in Kindermanns Sammlung „Des deutschen Dichters Sendung

i. d. Gegenwart“. Leipzig 1933, S. 45.



S. 68: G. Baesecke, Der deutsche Abrogans. Halle 1937.



Älteste Überlieferung des Alten Testaments: C. H. Roberts, Biblica XVII (1936),

S. 501 ff.



S. 70: Internationale Inkunabelverzeichnisse: Ludwig Hain, Repertorium bibliographicum.

Vol. 1. 2. Stuttgart u. Paris 1826─38. ─ Gesamtkatalog der Wiegendrucke.

Hrsg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke.

Bd. 1 ff. Leipzig 1925 ff. ─ Nationale Verzeichnisse: Catalogue of books printed

in the XVth century now in the British Museum. T. 1 ff. London 1908 ff. ─ Marie

Pellechet [et M.-Louis Polain], Catalogue général des incunables des bibliothèques

publiques de France. T. 1─3: Abano-Gregorius Magnus. Paris 1897─1909. ─ M.-

Louis Polain, Catalogue des livres imprimés au quinzième siècle des bibliothèques

de Belgique. T. 1─4. Bruxelles 1932.



Allgemeines über Inkunabeln: Konrad Haebler, Typenrepertorium der Wiegendrucke.

Halle 1905─24. ─ Ders., Handbuch der Inkunabelkunde. Leipzig 1925.



Gust. Roethe, Die Deutsche Kommission der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften,

ihre Vorgeschichte, ihre Arbeiten und Ziele. Neue Jbb. f. klass. Altertum,

Gesch. u. dt. Lit. I, 31 (1913), S. 37─74.



Bibliographie: Georg Schneider, Handbuch d. Bibliographie, 4. Aufl. Leipzig

1930. ─ Hans W. Eppelsheimer, Handbuch d. Weltliteratur. Frankfurt a. M. 1937.



S. 71: Wilh. Dilthey, Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium

der Philosophie. Archiv II (1889), S. 343─367. Ges. Schr. IV, 355─75. ─ Ders.,

Dt. Rdsch. 2 (1888/9), S. 942─57. ─ Jak. Minor, Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen

Hilfsarbeiten. Euphorion 1 (1894), S. 17─26. ─ Ernst Beutler, Die

literarhistorischen Museen und Archive, ihre Voraussetzung, Geschichte und Bedeutung.

Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, hrsg. von

L. Brauer, A. Mendelssohn-Bartholdy und Adolf Meyer. Bd. 1. Hamburg 1930.

S. 227─59.



Katalog der Sammlung Kippenberg. 2. Ausg. 3 Bde. Leipzig 1928. ─ Jb. d.

Sammlung Kippenberg. Bd. 1─10. Leipzig 1921─35.

|#f0618 : 594|



S. 72: Wilh. Frels, Deutsche Dichterhandschriften von 1400─1900. Gesamtkatalog

der eigenhändigen Hss. deutscher Dichter in den Bibliotheken und Archiven

Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der CSR. Bibliographical Publications.

Vol. II. Leipzig 1934. ─ Dazu Wiel. Schmidt, Dt. Lit. Ztg. 59 (1938), Sp. 793─802.

─ Vgl. auch E. C. Richardson, The world's Collections of manuscript books.

A preliminary survey. New York 1933. ─ H. Schreiber, Bibliothekarische Aufgaben

zur Handschriftenerschließung. Dresden 1934 (* aus Hist. Zeitschr. 29 Heft 1/2).

─ A. Bömer, Der Plan eines Handschriftenweltkatalogs. Zentralbl. f. Bibliothekswesen

52 (1935), S. 265─9. ─ Ein Verzeichnis der deutschen Dichtergedenkstätten

in Kürschners Dt. Lit.-Kalender 49 (Bln. 1939), S. 255─282.



Freiburger Volksliedarchiv: W. Heiske, Wege und Aufgaben der Volksliedforschung.

Neues Musikbl. 16 (1937). Nr. 26/27. ─ Über den Fortgang des Unternehmens

unterrichtet seit 1923 alljährlich von Freiburg i. Br. aus ein „Bericht

über die Sammlung deutscher Volkslieder, erstattet vom Volksliedausschuß des

Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde“. ─ Der Ertrag wird in dem Werk

„Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien“ (1. Bd., Berlin 1935) und in dem seit

1928 in Berlin erscheinenden „Jahrbuch für Volksliedforschung“, hrsg. v. John

Meier, verarbeitet.



Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte d. dt. Dichtung aus den Quellen

1. Aufl. 3 Bde. Dresden 1859─1881. 2. Aufl. 13 Bde. Dresden 1884─1938. ─

3. Aufl. Bd. 4, 1─4. Dresden 1910─16. Während die Beendigung der 2. Aufl. mit

Bd. 11 und 14 noch aussteht, beginnt bereits die von der Preuß. Akad. d. Wissenschaften

unternommene Weiterführung für die Zeit von 1830─1880, die an die

Stelle der historischen die alphabetische Anordnung setzen soll. Vorläufig müssen

als Ersatz der Grundriß der neueren dt. Lg. von R. M. Meyer (2. Aufl. Berlin 1907)

und das Handbuch zur Geschichte d. dt. Lit. von Ad. Bartels (2. Aufl. 09) dienen.

Die französische Literaturgeschichte besitzt ein ähnliches, handlicheres Repertorium

in Gust. Lansons „Manuel bibliographique de la littérature française moderne.

2. Aufl. Paris 1921.



ZWEITER HAUPTTEIL: TEXT UND VERFASSER



S. 74: Motto: Friedr. Schlegel, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. v. J. Minor.

Bd. 2 (1882), S. 302.



S. 75: Goethes Spruch: Maximen und Reflexionen 509. Heckers Ausgabe Schr.

G. G. 21, 109.



Literarische Fälschungen: I. A. Farrer, Literary forgeries. London 1907. Dt.

Übers. v. F. L. Kleemeier. Leipzig 1907. Dazu: R. F. Arnold, DLZ. 1908, Nr. 20.

─ Quérard, Les Supercheries littéraires dévoilées. 3 Bde. Paris 1869/70. ─ A. Barbier,

Les supercheries littéraires dévoilées. 2. ed. 3 voll. Paris 1869/70. ─ Augustin

Thierry, Grandes mystifications littéraires. 2 voll. Plon-Nourrit 1911/13. ─ C. G.

v. Maaßen, Süddt. Monatshefte 33 (1936), Heft 11.



S. 76: Max Herrmann, Ein' feste Burg ist unser Gott. Berlin 1905. ─ A. Vollert,

Der Prozeß wegen betrüglicher Anfertigung Schillerscher Handschriften.

Jena 1856.



Geschichtsfälschungen: E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode. 5. u.

6. Aufl. Leipzig 1908. S. 331─76.

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S. 77: Jos. Aschbach, Roswitha und Conr. Celtes. Wien 1867. Dagegen Rud.

Köpke, Hrotsw. v. Gandersh. Berlin 1869.



Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Goetheschen Abschrift, hrsg.

von Er. Schmidt. Weimar 1887. 7. Abdr. 1909. ─ Wilhelm Meisters theatralische

Sendung: Ausgabe von Harry Maync. Stuttgart u. Berlin 1911. ─ Weimarer Ausgabe

Bd. 51 und 52. Weimar 1911.



S. 78: Jul. Petersen, Schiller als Redaktor eigener Werke. Euphorion 12 (1905),

S. 64. ─ Ders., Die Entstehung der Eckermannschen Gespräche und ihre Glaubwürdigkeit.

Dt. Forschgn. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1925.



Edw. Schröder, Die Sesenheimer Lieder von Goethe und Lenz nebst einem

Exkurs über Lenzens lyrischen Nachlaß. Nachr. d. Ges. d. Wiss. z. Göttingen. 1905.

H. 1. ─ Th. Maurer, Die Sesenheimer Lieder. Beitr. z. Landes- und Volkskunde v.

Elsaß-Lothringen. H. 32. Straßburg 1907. ─ Edw. Schröder, Sesenheimer Studien.

Jb. d. Goethe-Ges. 6 (1919), S. 82─107. ─ Th. Maurer, Goethes Michaelserlebnis

im Elsaß. Das Sesenheimer Liederbuch. Leipzig. Straßburg. Zürich 1932.



S. 79: Goethes Joseph: vgl. Anm. zu S. 57.



S. 80: E. Dupuy, Le paradoxe sur le comédien. Edition crit. Paris 1902. ─

Jos. Bédier, Études critiques. Paris 1903, pp. 83─112. Als methodisches Muster

herangezogen von André Morize (Problems and methods of literary history.

Boston 1922, S. 158 ff.) und von Gust. Rudler (Les techniques de la critique et de

l'histoire littéraire en littérature française moderne. Oxford 1923. S. 43 ff.).



Das Reh: A. Hauffen, Archiv f. Litgesch. 15 (1887), S. 316─22 ─ E. A. Regener,

Tieck-Studien. Diss. Rostock 1903. ─ E. H. Zeydel, Euph. 29 (1928), S. 93─108.



Zorade: Lachmann-Munckers Lessing-Ausgabe. Bd. 22, I, S. 120─30.



Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. E. handschriftl. Fund,

mitget. von Franz Rosenzweig. Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. Phil.-

hist. Kl. 1917. ─ Wilh. Böhm, Hölderlin als Verfasser des Ältesten Systemprogramms

des deutschen Idealismus. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 339─426. Dagegen: Ludw.

Strauß, Dt. Vjs. 5 (1927), S. 679─734. Weitere Erörterungen: Dt. Vjs. 5, S. 734─47;

W. Böhm, Hölderlin. Bd. 1. Halle 1928. S. 172 ff.; Joh. Hoffmeister, Dokumente zu

Hegels Entwicklung. Stuttgart 1936. S. 455.



S. 81: Hölderlin-Klopstock: K. Bode, Euph. 13 (1906), S. 133 f. ─ Seebaß,

Hellingraths Ausgabe VI, S. 501.



Graf Loeben: Minor, Germ. Rom. Mschr. 3 (1911), S. 185.



Novalis: W. Vesper, Euph. 15 (1908), S. 568 ff. ─ Walzel, Euph. 9 (1902),

S. 474 ff. ─ Gutkind, Novalis als Übersetzer. Frankf. Ztg. 18. Juni 1925, Nr. 446.



S. 82: Karl Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung von Philologie und

Litwiss. Ein methodolog. Versuch. Berlin 1928.



Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte. 1902.



S. 83: Jakob Grimm, Kl. Schr. I, 150.



S. 84: Friedr. Schlegel, Prosaische Jugendschr. Hrsg. v. Minor. Bd. II, S. 276.



H. J. Pos: Kritische Studien über philologische Methode. Beitr. z. Philos. 10.

Heidelberg 1923.



S. 85: Theod. Birt: Kritik und Hermeneutik. Handb. d. klass. Altertumswiss.

Bd. I, 3. 3. Aufl. (1913), S. 208.



Eine eigenartige Überlieferung liegt vor bei Goethes Versen an Gotter (Schicke

dir hier den alten Götzen), die Creizenach 1837 aus dem Gedächtnis nach einer
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verschollenen Handschrift veröffentlichte, wobei er mit zwei selbstgedichteten Zeilen,

die er nicht verraten hat, eine Lücke ausfüllen mußte. Nun würde man das

Flickwerk wohl in V. 15 f. erkennen, aber keine philologische Kritik würde imstande

sein, Goethes eigenen Wortlaut herzustellen, wenn nicht die bei Creizenach

fehlenden Verse 19 f. in einer anderen Abschrift erhalten wären (W. A. I 4, 193

und 5, 2 S. 122).



S. 86: Textkritik: Herm. Kantorowicz: Einführung in die Textkritik. Leipzig

1921. ─ G. Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke.

E. methodolog. Versuch. Leipzig 1924. ─ Sorgfältige Darlegung der Grundsätze

unter Heranziehung französischer Beispiele bei André Morize, Problems and

methods of literary history. Boston 1922, Chapter III, p. 37─69.



Verschlechterung: Ungewarnt durch Ramler, der im 18. Jh. als „Krebs von

Berlin“ berüchtigt war, oder durch Voß, der Höltys Gedichte verballhornte, hat

noch im Anfang des 20. Jhs. Rudolf Pannwitz das Experiment der „Umdichtung“

Goethescher Lieder gewagt, das er später freilich zurücknahm. (Kultur, Kraft,

Kunst. Leipzig 1906. S. 41 ff., 53, 55 ff.)



S. 88: W. Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes. Paul und

Braunes Beitr. z. Gesch. d. dt. Spr. u. Lit. 25 (1900), S. 2─222.



Goethe, Über literarischen Sansculottismus. W. A. I., 40, S. 196─203. Vgl. auch

H. Keipert: Die Wandlungen Goethescher Gedichte zum klassischen Stil. Die Umarbeitg.

für die Gesamtausg. 1789. Jenaer Germ. Forschgn., 21. Jena 1932. ─ Auswertung

stilistischer Änderungen in der französ. Literatur bei Albalat: Le travail

du style enseigné par les corrections manuscrites des grands écrivains. Paris 1903.



S. 89: Zitate: M. Bernays, Zur Lehre von den Zitaten und Noten. Schr. z. Kritik

und Litgesch. Bd. 4. Berlin 1899. S. 253─347.



Doppeldrucke: B. Seuffert; Goethe-Jb. 15 (1894), S. 167 ff. ─ O. Rauscher,

Chronik d. Wiener Goethe-Vereins 42 (1937), S. 37─40. ─ W. Kurrelmeyer, Die

Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken.

Abhandlgn. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1913. ─ Herb. Stubenrauch, Betrug an Schiller,

Imprimatur 5 (1934), S. 76─96.



S. 90: Jakob Grimm, Schiller-Rede. Kl. Schr. I, S. 396 ff. ─ Joach. Meyer,

Beiträge zur Feststellung, Verbesserung und Vermehrung des Schillerschen Textes.

Nürnberg 1858. ─ Ders., Neue Beiträge. Nürnberg 1860.



Alb. Köster, Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms. Abhandlgn.

d. Sächs. Ges. d. Wiss. Bd. 70 (1918). ─ Ähnliche Rechenschaftsberichte

über die Anlage großer Ausgaben: Bernh. Seuffert, Prolegomena zu e. Wieland-

Ausg. I─VII. Abhandlgn. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1904, 1905, 1909, 1921. ─

Jak. Minor: Studien zu Novalis. Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wiss. Phil.-hist.

Kl. Bd. 169. 1911. S. 1 ff. ─ Reinh. Backmann, Die Gestaltung des Apparates in

den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. (Mit bes. Berücksichtigung

d. Grillparzer-Ausg.) Euph. 25 (1924), S. 629─62. ─ Ed. Berend, Prolegomena

zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Abhandlgn. d.

Preuß. Akad. d. Wiss. 1927. ─ Jos. Nadler, Die Hamann-Ausgabe. Schr. d. Königsb.

Gelehrten Ges. Geisteswiss. Kl. 7, Heft 6. Halle 1930.



Grundsätzliches bei Kritik unzulänglicher Ausgaben: Alb. Köster, Anz. f. dt.

Altertum 26 (1900), S. 286─319. ─ Jak. Minor, ebd. 28 (1902), S. 82─122. ─

Oskar Walzel, Euph. 9 (1902), S. 456─86. ─ Jon. Fränkel, Die Gottfried-Keller-

Ausgaben. Ein Kapitel neuester Philologie. Euph. 29 (1928), S. 138─74.

|#f0621 : 597|



Werther: Mich. Bernays, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes.

Berlin 1866. ─ Dazu B. Seuffert, Philologische Betrachtungen im Anschluß an

Goethes Werther. Euph. 7 (1900), S. 1─47.



Simplizissimus: J. H. Scholte, Probleme der Grimmelshausen-Forschung. Groningen

1912. ─ Ders., Die sogenannte A-Ausgabe des Simplizissimus. Imprimatur 7

(1938), S. 225─29. ─ H. H. Borcherdt, Die ersten Ausgaben von Grimmelshausens

Simplizissimus. München 1921.



S. 91: G. Schmid, Schicksal einer Goethe-Schrift. Druckgeschichtl. Funde zur

Farbenlehre. Halle 1937. ─ Mit der Feststellung ist bereits O. Rauscher (vgl. Anm.

zu S. 89) zuvorgekommen.



S. 92: I. Stoll, Zur Psychologie des Schreibfehlers. Fortschritte d. Psychologie

und ihrer Anwendungen. Hrsg. von Marbe. Bd. 2. 1914. S. 1 ff. ─ Rud. Meringer,

Versprechen und Verlesen. Stuttg. 1895. ─ Ders., Aus dem Leben der Sprache.

Grazer Festschr. Berlin 1905. ─ Ders., Tägliche Fehler in Sprechen, Lesen und

Handeln. Wörter und Sachen 8 (1923), S. 122─41. ─ Eine Blütenlese komischer

„Hör-, Schreib- und Druckfehler“, die sich beim Diktat einzustellen pflegen, teilt

Goethe in „Kunst und Altertum“ mit (W. A. 41, I, S. 183─8); vgl. auch L. Martens,

Goethe-Jb. 32 (1911), S. 195 f.



„Vom Dom umzingelt.“ Eine textkritische Erörterung. Zs. f. Bücherfreunde 7

(1915), H. 1, 2, 3. Zsgefaßt als Sonderdr. ─ Friedr. Kauffmann, Zs. f. dt. Phil. 47

(1918), S. 10─22.



Familie Ghonorez: H. Conrad, Pr. Jbb. 90 (1897), S. 242 ff. ─ Eug. Wolff,

Zs. f. Bücherfreunde 2 (1897), S. 232 ff.; 3 (1898), S. 193 ff.; 4 (1899), S. 180 ff. ─

Herm. Schneider, Ghonorez oder Schroffenstein, Studien zu Heinrich von Kleist.

Berlin 1915. S. 24─80.



S. 93: Elckerlijk and Everyman. Hrsg. von Logemann. Gent. 1892. ─ Ders.,

Elckerlyc-Everyman. De Vraag naar de Prioriteit opnieuw onderzocht. Gent 1902.



S. 94: Kritik des Shakespeareschen Textes: J. M. Robertson, The Shakespeare

Canon. London 1922─32. ─ John Dover Wilson, The manuscript of Shakespeare's

Hamlet and the problems of its transmission. An essay in critical bibliography.

2 voll. Cambridge 1934. ─ The Works. Ed. for the syndics of the Cambridge University

Press by Sir Arthur Quiller Couch and John Dover Wilson. Cambridge

1921 ff.



S. 95: Sprachstatistik bei Platon: Const. Ritter, Untersuchungen über Plato.

Stuttgart 1888. ─ Ders., Neue Untersuchungen über Platon. Cap. V.: Die Sprachstatistik

in Anwendung auf Platon und Goethe. München 1910. S. 183─227. ─

Hans von Arnim, Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros.

Leipzig und Berlin 1914.



S. 96: Walther und Reinmar: Carl v. Kraus, Die Lieder Reimars des Alten.

III. Teil. Reimar und Walther. = Abhandl. d. Bayr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl.,

30. Bd., 7. Abh. München 1919.



Meßkataloge: Gust. Schwetschke, Codex nundinarius Germaniae literatae. Halle

1850. ─ Ernst Kuhnert, Gesch. d. Buchhandels in Milkaus Handbuch d. Bibliothekswissenschaft

Bd. 1 (Leipzig 1931), S. 750─59. ─ Max Spirgatis, Die literar. Produktion

Deutschlands im 17. Jh. u. d. Leipziger Meßkataloge, Leipzig 1901. ─

Vgl. auch Wern. Kienitz, Formen literar. Ankündigung im 15. und 16. Jh. Diss.

Köln 1930.



G. Wolfram, Ein' feste Burg ist unser Gott. Berlin und Leipzig 1936.

|#f0622 : 598|



S. 97: J. Petersen: Goethes Mondlied. Aus der Goethezeit. Leipzig 1933, S. 49

bis 68. ─ Jos. Körner: G.s Mondlied. Ein Deutungsversuch. Berlin 1936.



Brentanos Ausgewählte Schriften, hrsg. von Diel. Freiburg i. Br. 1872. Bd. 1,

S. 226 f. ─ Reinh. Steig, Euph. 3 (1896), S. 478 ff. ─ W. Fraenger, Cl. B.s

Alhambra. Eine Nachprüfung. Berlin 1935.



S. 98: Anonymen-Lexika: V. Placcius, Theatrum anonymorum et pseudonymorum.

2 voll. Hamburg 1708. ─ Peter Dahlmann: Schauplatz der masquirten und

desmasquirten Gelehrten bei ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schriften.

Leipzig 1710. ─ Johann Chr. Mylius, Bibliotheca anonymorum et pseudonymorum

ad supplendum Placci Theatrum, ed. G. Stollius. Hamburg 1740. ─ Holtzmann-

Bohatta, Deutsches Anonymen-Lexikon. 7 Bde. Weimar 1902─28.



William Cushing Initials and pseudonyms. A Dictionary of Literary Disguises.

London 1886. ─ Halkett und Laing: Dictionary of Anonymous and Pseudonymous

English Literature ed. Kennedy, Smith, Johnson. 7 Bde. Edinburgh, London 1926

bis 34. ─ Stonehill, Black Stonehill, Anonyma and Pseudonyma. 4 Bde. London

1927.



A. A. Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes. 3. éd. 4 voll. Paris 1872─79.

Dazu Suppl. par G. Brunet. Paris 1889, ferner H. Celani, Additions et corrections.

1902.



G. Melzi, Dizionario di opere anonime e pseudonime di scrittori italiani. 3 voll.

Milano 1848─59. Suppl. ed. Passano. Ancona 1882.



J. van Doorninck, Vermomde en naamlooze schrijvers opgespoord op het gebied

der Nederlandsche en Vlaamsche Letteren. 2 Bde. Leiden 1883/85. ─ A. de Kempenaer,

Vermomde nederlandsche en vlaamsche schrijvers. Leiden 1928.



Bygden, Svenskt Anonym- og Pseudonym-Lexikon. 2 Bde. Uppsala 1898─1915.

─ Hjalmar Pettersen: Norsk Anonym- og Pseudonym-Lexikon. Kristiania 1924.



Pseudonymen-Lexika: E. Weller, Die falschen und fingierten Druckorte. 2. Aufl.

2 Bde. Leipzig 1864. ─ Ders., Lexicon Pseudonymorum. 2. Aufl. Regensburg 1886.

─ Holtzmann-Bohatta: Deutsches Pseudonymen-Lexikon. Wien u. Leipzig 1906. ─



Nützlich für den Gebrauch ist weiter: Namenschlüssel. Die Verweisungen der

Berliner Titeldrucke zu Pseudonymen, Doppelnamen und Namensabwandlungen.

1892─1935. Berlin 1936. ─ Fr. Koch, Schlagwort-Katalog über die Bestände d. Nationalbibliothek

aus d. Gebiet d. Dt. Sprach- u. Literaturgeschichte. Wien 1928. ─

Wolfg. Stammler, Die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Verfasserlexikon.

Bisher 2 Bde. Berlin und Leipzig 1933/36.



Hayn-Gotendorf, Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa. 3. Aufl. 8 Bde.

München 1912─14. ─ Max Schneider, Deutsches Titelbuch. Berlin 1927. ─ G.

Schneider, Theorie und Geschichte d. Bibliographie. In: Handbuch d. Bibliothekswiss.

Bd. 1. Leipzig 1931. S. 828─49.



Über die Mitarbeiter von Almanachen und Zeitschriften wird Aufschluß gegeben

bei C. Chr. Redlich, Versuch eines Chiffernlexikons zu d. Göttinger, Vossischen,

Schillerschen und Schlegel-Tieckschen Musenalmanachen. Hamburg 1875; ferner in

H. H. Houbens Bibliographischem Repertorium, Berlin 1904 ff.: Bd. 1: Zeitschriften

der Romantik; Bd. 4: Zeitschriften des jungen Deutschlands; Bd. 5: Almanache der

Romantik.



S. 99: Deutsches Decameron: H. Drescher, Arigo, der Übersetzer des Decamerone

und des Fiore di virtù. Straßburg 1900. Dazu: Anz. f. dt. Altertum 28, S. 241; 35,

S. 106. ─ H. Wunderlich, Herrigs Archiv 83 (1889), S. 167─210; 84 (1890), S. 241
|#f0623 : 599|



bis 290. ─ Georg Baeseke, Zs. f. dt. Altertum 47, S. 191 f. ─ H. Kars, Arigo.

Diss. Halle 1932.



Ackermann aus Böhmen: Karl Beer, Neue Forschungen über den Schöpfer des

Dialogs „D. A. a. B.“ Jb. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen 3. Jahrg., 1930

bis 33, Prag 1934 ─ K. J. Heilig, die lateinische Widmung des Ackermanns aus

B. Mitteil. d. Österr. Instituts f. Geschichtsforschg. 47, S. 414─26. ─ A. Blaschka,

Ackermann-Epilog. Mitteil. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen 73, S. 73 bis

86. ─ Arth. Hübner, Das Deutsche im Ackermann aus B. Sitzungsber. d. Preuß.

Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1935, Heft 18.



Grimmelshausen oder Venator: A. Bechtold, J. Chr. Grimmelshausen und seine

Zeit. München 1919. S. 101 ff. ─ Julie Cellarius, Zur seltsamen Traumgeschicht.

Euph. 17. Ergh. (1924), S. 97 ff. ─ Er. Volkmann, Balthasar Venator. Diss. Berlin

1936.



S. 100: Bonaventura: Fr. Schultz, Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura.

Berlin 1909.



Der Kettenträger: Hanna Hellmann, Euph. 24 (1922), S. 570 ff,; Germ. Roman.

Monatsschr. 13, S. 350 ff.



S. 101: Schwieger oder Stieler: Alb. Köster, Der Dichter der Geharnischten

Venus. Marburg 1897.



Bedenken gegen willkürliche Auflösung von Anagrammen: A. E. Berger, Zschr.

f. Deutschkunde 40 (1926), S. 700.



S. 102: Friedr. Zarncke, Christian Reutter. Abh. d. Sächs. Ges. d. Wiss. 9 (1884).



Ad. Stern, Der Dichter der Insel Felsenburg. Beitr. z. Litgesch. d. 17. u. 18. Jh.

Leipzig 1893.



Rich. Alewyn, Johann Beer. Palaestra 181. Leipzig 1932.



Paul Merker, Der Verfasser des Eccius Dedolatus und anderer Reformationsdialoge.

Halle a. d. S. 1923. ─ Der Nachweis ist wieder bestritten worden durch

Hans Rupprich (Der Eckius dedolatus und sein Verfasser, Wien 1931). R. kehrt

zum Kreise Pirckheimers zurück und nimmt den auch sonst als Pamphletist hervorgetretenen

Chirurgen Fabian Gorteler (Zonarius) aus Goldberg in Schlesien, der

auch zu den Verfassern der Dunkelmännerbriefe in Beziehung stand, als Urheber an.



Walter Brecht, Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum. Quellen und

Forschgn. 93. Straßburg 1904.



S. 103: Die Versuche und Hindernisse Carls. Neudr. von H. Rogge, Der Doppelroman

der Berliner Romantiker. 2 Bde. Leipzig 1926. ─ Auch Emanuel Geibel und

Marcus Niebuhr wollten einen romantisch-satirischen Roman „Heringssalat“, zu

dem Bonner Anekdoten über einen Makler Hering den Anlaß gaben, gemeinsam

schreiben. (Litzmann, Emanuel Geibel. 1887. S. 28).



Joh. Schlaf, Zur Frage der dichterischen Zusammenarbeit. Shakespeare-Jb. 69

(1933), S. 102─11.



S. 104: Hebbel, Tagebücher. Ausg. v. Werner 4, 112.



Andreas Heusler, Nibelungenlied und Nibelungensage. 1921. 2. Aufl. 1922.



Romantisches Vorurteil gegen spätere Redaktion: Werner Jaeger, Paideia.

2. Aufl. Bd. 1, S. 41.



Wieland-Ausg. d. Preuß. Akad. 1. Abt. Bd. 18, S. 80 A.



Widersprüche in Kunstdichtungen: v. Kraus und Jellinek, Zs. f. österr. Gymn. 44

(1893), S. 673─716. ─ Euphorion 3, S. 653 ff.; 4, S. 691 ff.; 5. S. 433 ff. ─ Ed.

Stemplinger, Literarische Widersprüche. Stud. z. vgl. Litgesch. 7 (1907), S. 197─203.
|#f0624 : 600|



─ Rob. F. Arnold, Widersprüche in Dichtungen. Festschr. d. Nationalbibl. in Wien.

1926. S. 1─6. ─ Mich. Bernays, Schriften z. Kritik u. Literaturg. Bd. 4, S. 129. ─

Briefwechsel zw. Th. Storm u. Gottfr. Keller, hrsg. v. Köster. 4. Aufl. Berlin 1924,

S. 189 f. ─ H. Schmidt-Rimpler, Wie Dichter u. Schriftsteller das Auge sehen.

Dt. Revue 37 (1912), I, 152 ff. ─ Fr. Harder, Dichter u. Kopfrechnen. Germ. Rom.

Mschr. 10 (1922), 243 ff., 318. Dazu ebda. 11, 313 ff. und 12, 306 ff. ─ Weitere

Literatur bei O. Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen.

Gießener Rektoratsrede 1906, Anm. 135.



S. 105: Don Carlos: A. Gercke, Die Analyse als Grundlage der höheren Kritik.

N. Jbb. 1901, S. 83 ff.



Einen besonderen Fall stellt die Unstimmigkeit des Textes von Goethes Ehrfurcht-Lehre

in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ dar. Der Versuch von Paul

Wernle (Christl. Welt 1902), die widersprechenden Äußerungen verschiedenen Entwicklungsstufen

Goethes zuzuweisen, ist methodisch unhaltbar; vgl. Er. Franz,

Goethe als religiöser Denker. Tübingen 1932, S. 271.



Die Erziehung des Menschengeschlechts: Gust. Krüger, Albrecht Thaer

u. d. Erziehung d. Menschengeschlechts. Tübingen 1913. ─ Ernst Krieck, Lessing

u. d. Erziehung des Menschengeschlechts. Heidelberg 1913. ─ Gottfr. Fittbogen,

Preuß. Jbb. 1913, S. 218 ff. ─ v. Olshausen, Bongsche Lessing-Ausgabe, Teil 24,

S. 54─60.



S. 106: Ed. Sievers, Rhythmisch-melodische Studien. Vorträge und Aufsätze.

Heidelberg 1912. ─ K. Luick, Über Sprachmelodisches in dt. und engl. Dichtung.

Germ. Rom. Mschr. 2 (1910), 14 ff. ─ G. Ipsen u. F. Karg, Schallanalyt. Versuche.

Germ. Bibl. II, 24. Heidelberg 1928. ─ F. Karg, Stand u. Aufgaben d. Sprachwiss.

Festschr. f. Streitberg. Heidelbg. 1924, S. 112 ff. ─ Ders., Die Schallanalyse, Idg.

Jb. 10 (1926), S. 1 ff. ─ Experimentelle Prüfung der Sievers'schen Methoden

durch E. W. Peters, Psycholog. Studien X (1917), S. 387 ff. ─ Bisher haben die

experimentalphonetischen Untersuchungen sich nur auf kleine Satzteile beschränken

können, vgl. E. W. Scripture, Experimentelle Untersuchungen über die Betonung

im deutschen Satz. Die neueren Sprachen 33 (1925), S. 280─84. ─ Ein

umständliches Experiment, durch tonfilmische Aufnahmen in den musikalischen

Gehalt der Sprache H. v. Kleists einzudringen, ist in der ungedruckt gebliebenen

Dissertation von Alb. Mittringer, Heinr. v. Kleist. Ein Beitrag zum Problem der

musikal. Dichtung (Wien 1932) gemacht worden. Die Versuche, die in einer

psycho-physiologischen Philologie die Lösung der Stilprobleme suchen, scheinen

wenigstens zu dem keineswegs überraschenden Ergebnis geführt zu haben, daß

auch bei verschiedenen Personen, die dieselbe Stelle zum Vortrag bringen, eine

gewisse rhythmisch-melodische Gleichheit festzustellen ist.



S. 107: Agnes v. Lilien: Schiller an Goethe 6. Dez. 1796 und 16. Mai 1797. Die

bereits von Hebbel 1838 ausgesprochenen Zweifel begründete M. Sommerfeld,

Euphorion 23 (1921), S. 584 ff.



Fragment „Natur“: Rob. Hering, Der Prosahymnus „Die Natur“ und sein Verfasser.

Jb. d. Goethe-Ges. 13 (1927), S. 138 ff. ─ Fr. Schultz, D. pseudogoethische

Hymnus an die Natur. Festschr. f. Petersen. Leipzig 1938, S. 79─100.



Ossian: H. Hecht, Germ. Roman. Mschr. 10 (1922), S. 220─37. ─ A. Gillies,

Herder und Ossian. Neue Forschgn. 19. Berlin 1933. ─ P. Th. Falck, Friederike

Brion von Sesenheim. Leipzig 1884. ─ Edw. Schröder, Die Sesenheimer Lieder,

vgl. Anm. zu S. 79. ─ Später war Goethe vorsichtiger als in seiner Jugend bei
|#f0625 : 601|



Ossian. Er gab durch seine Zweifel den Anstoß, Prosper Mérimées Mystifikation

„Guzla“ (1827) aufzudecken. Goethe, Weim. Ausg. 41, 2. Teil, S. 313. Vgl. Matič,

P. Mérimées Mystifikation kroatischer Volkslieder. Archiv f. slav. Philologie, Bd. 40

(1926), S. 197─222.



K. G. Herwig, Neues von Heinrich von Kleist. Unveröffentlichte Dokumente von

seiner Gefangenschaft im Fort des Joux. Unterhaltungsbeil. d. Tägl. Rundschau

Nr. 193, 20. Aug. 1921. Vgl. Jb. d. Kleist-Ges. 1 (1922). S. 105 f. ─ Aufdeckung

einer anderen leichtfertigen Kleist-Fälschung bei Rich. Alewyn, Klassiker in Pfaffendorf.

Voss. Ztg. 1929, Nr. 178.



S. 108: Der Roman „The little chronicle of Magdalena Bach“ erschien zuerst

anonym in London 1925 und wurde danach ins Deutsche, Französische, Italienische,

Schwedische, Finnische und Holländische übersetzt. Erst die Neuausgabe von 1934

bringt den Namen der Verfasserin: Esther Meynell.



DRITTER HAUPTTEIL: DIE ANALYSE



1. Grundbegriffe



S. 109: Motto: Ed. Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen

Psychologie. Festschr. f. Johannes Volkelt, München 1918, S. 376.



Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung. Deutsche Ausg. Jena 1912. S. 213 f.



S. 111: Friso Melzer, Im Ringen um den Geist. Berlin 1931. S. 174.



2. Erste Stufe: Grundriß



S. 112: Wolfg. Baumgart, Der Wald in d. dt. Dichtung. Stoff- u. Motivgeschichte

d. dt. Lit., hrsg. von Merker u. Lüdtke, Heft 15. Berlin u. Leipzig 1936.



Begriff des Stoffes: O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters.

Berlin-Neubabelsberg 1923. S. 144, 165 ff. ─ Rob. Petsch, Die Analyse des Dichtwerks.

In: Philosophie der Literaturwissenschaft, hrsg. von Ermatinger. Berlin

1930. S. 252. ─ Herm. Hefele, Das Wesen der Dichtung. Stuttgart 1923. S. 106. ─

Karl Schultze-Jahde, Erlebnis und Ausdruck, Vorfragen zur Literaturästhetik,

Berlin 1929. S. 143.



Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Leipzig 1921. S. 51 f., 125 ff. ─

Ders., Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung. Zürich 1928. S. 35.



S. 113: André Jolles, Einfache Formen, Halle 1930. S. 200─217. ─ O. Görner,

Vom Memorabile zur Schicksalstragödie. Berlin 1931. ─ Über Wanderungen und

Abwandlungen eines Stoffes spricht lehrreich Paul Ernst, Der Weg zur Form.

3. Aufl. München 1928. S. 278 ff.



S. 115: Quellen: Gute Beispiele der „Investigation of sources“ bei A. Morize,

S. 82─131. Vgl. Anm. zu S. 86.



S. 116: Cl. Lugowski, Die Form d. Individualität im Roman. Berlin 1932, S. 12.



S. 117: Goethe an Charlotte von Stein, 14. Dez. 1786.



S. 118: Begriff der Form: Aug. Wilh. Schlegel, Vorlesungen über dramatische

Kunst und Literatur. Sämtl. Werke hrsg. von E. Böcking. Bd. 6. Leipzig 1846.

S. 157 f. ─ Herm. Friedemann, Die Welt der Formen. System eines morphologischen

Idealismus. Berlin 1925. 2. Aufl. München 1935. ─ Herm. Lüer, Form und

Wirklichkeit im Geschichtsablauf. Kampen a. Sylt 1937. ─ O. Walzel, Gehalt und

Gestalt. S. 145 ff. und Zs. f. Ästhetik und Kunstwiss. 10 (1915), S. 435 ff. ─ Th.
|#f0626 : 602|



Spoerri, D. Formwerdung d. Menschen. Berlin 1938. ─ Die jüngste Untersuchung,

die ich im Text nicht mehr verwerten konnte, ist die von Roman Ingarden, Das

Form-Inhalt-Problem im literar. Kunstwerk. Helicon 1 (1938), S. 51─67.



Joh. Volkelt, System der Ästhetik. München 1905 ff. Bd. 1, S. 392. ─ Margarete

Susmann, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910. S. 91 ff.

─ M. Hamburger, Das Formproblem in der neueren deutschen Ästhetik. Heidelberg

1915. ─ Theophil Spoerri, Präludium zur Poesie. Eine Einführung in die

Deutung des dichterischen Kunstwerks. 2. Aufl. Berlin 1929. S. 101.



S. 119: Kyds Hamlet: Evans, Der bestrafte Brudermord, sein Verhältnis zu

Shakespeares Hamlet. Theatergeschichtl. Forschg. XIX. Hamburg und Leipzig 1910.



S. 120: Schiller, Über die Iphigenie auf Tauris. Säk.-Ausg. 16, S. 195 ff.



Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Stück 36─50, 54─68.



Grimmelshausen und Zesen: Marta Julie Deuschle, Die Verarbeitung biblischer

Stoffe im deutschen Roman des Barock. Amsterdam 1927. ─ Cl. Stucki, Grimmelshausens

und Zesens Josephromane. Wege zur Dichtung 15. Zürich 1933.



3. Zweite Stufe: Innere Form



S. 121: Gattungen: F. Brunetière, L'évolution des genres dans l'histoire de la littérature.

Paris 1890. Dazu Ernst Rob. Curtius, Ferd. Brunetière. Straßburg 1914,

S. 123 ff. ─ Wolf Dohrn, Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik.

Beitr. z. Ästhetik 10. Hamburg u. Leipzig 1907. ─ Ernest Bovet, Lyrisme, épopée,

drame. Une loi de l'histoire littéraire expliquée. Paris 1911. ─ Ben. Croce,

Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik, übers. von

Federn. 1905. S. 35 ff., 109 ff. ─ Ders., Per una poetica moderna. Idealistische

Neuphilologie. Festschr. für Voßler. 1922. S. 1 ff. ─ Ders., Poesie und Nichtpoesie.

Übers. von Julius Schlosser. Zürich, Wien, Leipzig 1925. S. 13 ff. ─ Ernst

Hirt, Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Leipzig

und Berlin 1923. ─ Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Leipzig 1923.

S. 168 ff., 306 ff. ─ Ders., Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930.

S. 333 ff. ─ Rob. Hartl, Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen.

Wien 1924. ─ Wilh. Flemming, Epik und Dramatik. Versuch ihrer

Wesensdeutung. (Wissen und Wirken. Bd. 27) Karlsruhe 1925. ─ Dazu: K. Voßler,

Dreierlei Begriffe vom Drama. Logos 15, S. 137 ff. ─ J. Petersen, Zur Lehre

von den Dichtungsgattungen. Festschr. f. August Sauer. 1926. S. 72─116. ─ G.

Müller, Bemerkungen zur Gattungspoetik. Philos. Anzeiger 3 (1929). ─ Rob.

Petsch, Zur inneren Form des Dramas. Euphorion 30 (1929), S. 19─39. ─ C.

Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923. S. 1 ff. ─ Ders., Probleme

der literarischen Gattungsgeschichte. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 425─47. ─ P. van Tieghem,

La question des genres littéraires. Helicon 1 (1938), S. 95─101. ─ Wesen des

Dramas: H. Schlag, Das Drama. 2. Aufl., 1917, S. 170 ff. ─ O. Katann, Das Wesen

des Dramas. In: O. Katann, Gesetz im Wandel. München 1932, S. 170 ff.



S. 125: Ballade als Urform: Goethe, Naturformen der Dichtung. Noten u. Abhandlungen

zum Westöstlichen Diwan. Ferner: Betrachtung und Auslegung zur

„Ballade“, Kunst und Altertum III, 1. Jub.-Ausg. 2, S. 336 ff.; 5, S. 223 ff. ─ F. B.

Gummere, The beginnings of poetry. New York 1901. ─ H. L. Cohen, The ballade.

New York 1915. ─ L. Pound, Poetic origins and the ballad. New York 1922. ─

Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. S. 1 ff. ─ P. L.

Kämpchen, Die numinose Ballade. Versuch einer Typologie der Ballade. Bonn 1930.

|#f0627 : 603|



André Jolles, vgl. Anm. zu S. 113. ─ Dazu: R. Petsch, Dt. Vjs. 10 (1932),

S. 335─69.



S. 126: Erlebte Rede: E. Lorck, Heidelberg 1921. ─ Dazu: C. Blaß, Die Literatur

27, S. 572. ─ O. Walzel, Zeitschr. f. Bücherfreunde N. F. 16 (1924), S. 17

bis 28. ─ Wiederholt: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. S. 207─30. ─ L. Thon,

Die Sprache des deutschen Impressionismus. München 1928, S. 95 ff. ─ Willi Bühler,

Die „erlebte Rede“ im engl. Roman. Ihre Vorstufen und ihre Ausbildung im

Werke Jane Austens. Schweizer Anglist. Arbeiten 4. Zürich u. Leipzig 1937.



S. 128: Innere Form: Aus Goethes Brieftasche. Jub.-Ausg. Bd. 36, S. 115 und

Walzels Einleitung S. XXIX.



S. 129: Max Wundt, Literaturwissenschaft und Weltanschauungslehre. Ermatingers

Philos. d. Litwiss. S. 415 ff.



Rudolf Unger, C. F. Meyer als Dichter historischer Tragik. Die Ernte. Festschr.

f. Muncker. Halle 1926. S. 207─40. Wiederh.: Ges. Stud. Bd. 2 (1929), S. 174─97.

─ Hermann Pongs, Die Möglichkeit des Tragischen in der Novelle. Jb. d. Kleist-

Ges. 1931/32, S. 38─104.



S. 130: Friedr. Theodor Vischer, Ästhetik. § 130. 2. Aufl. Bd. 1, S. 321. ─ Jul.

Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestaltung des

Metaphysischen. Lauenburg 1877. Neu hrsg. v. A. Ruest. Leipzig 1931. ─ Johannes

Volkelt, Ästhetik des Tragischen. 2. Aufl. München 1906. ─ Ders., System der

Ästhetik. München 1910 Bd. 2, S. 343 ff. ─ von Lukacs: Metaphysik des Tragischen.

Logos 2 (1911), S. 79─91. ─ M. Scheler, Zum Phänomen des Tragischen.

Zum Umsturz der Werte. 3. Aufl. Bd. 1 (1923), S. 273. ─ Dagegen O. Walzel,

Vom Wesen des Tragischen. Euph. 34 (1933), S. 1─37. ─ E. von Ritook, Die

Wertsphäre des Tragischen. Zs. f. Ästhetik 29 (1935), S. 228─254, 300─326. ─

Theodor Lipps, Der Streit um die Tragödie. Leipzig 1891. ─ Leopold Ziegler, Zur

Metaphysik des Tragischen. Leipzig 1902. ─ Hubert Klees, Über das Wesen des

Tragischen. Stuttgart 1932. Auch in: Ztschr. f. Ästhetik 26, 1932, S. 1─45. ─ Gerhard

Vorholz, Der Begriff des Tragischen und die dt. Kunstphilos. der Gegenwart.

Halle 1932. ─ Eine andere Unterscheidung als Volkelt macht Emil Winkler (Das

dichterische Kunstwerk. Heidelberg 1924, S. 73), indem er Resignationstragik,

heroische Tragik, Schuldtragik, Ideentragik einander gegenüberstellt.



Humor: Har. Höffding, Humor als Lebensgefühl. Übers. v. H. Goebel. Leipzig

und Berlin 1918. ─ H. Goebel, Vom Weltgefühl des Humors. Hannover 1923. ─

Ed. Berend, Tod und Humor. Abhandlgn. z. dt. Litgesch., Festschr. f. Muncker.

München 1916. S. 236─48. ─ Ders., Der Typus des Humoristen. Die Ernte.

Festschr. f. Muncker. Halle 1926. S. 93─115.



S. 131: Situation: Wilh. von Scholz, Gedanken zum Drama. München und Leipzig.

1905. S. 3 f. ─ Goethe in Gesprächen mit Eckermann, Soret und Kanzler von

Müller: v. Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. Bd. 3, S. 16. Bd. 4, S 9 ff. ─

Georges Polti, Les trente-six situations dramatiques. 2. Aufl. Paris 1912. ─ Dazu

Rud. Lothar, Neue Freie Presse. 26. Mai 1897. ─ Aug. C. Mahr, Dramatische Situationsbilder

und Bild-Typen. Eine Studie zur Kunstgesch. d. Dramas. Stanford

University Publ. 1928. Dazu O. Katann, Euph. 32 (1913), S. 97 ff. ─ R. Petsch,

Dt. Vjs. 14 (1936), S. 584 ff.



S. 134: Über das Motiv der Verschollenheit in seinen technischen Abwandlungen:

W. Sombart, Schr. d. Ges. f. Soziologie. Bd. 1 (1911), S. 72 f. ─ W. Splettstößer,

D. heimkehrende Gatte u. s. Weib i. d. Weltliteratur. Berlin 1898. ─ Hedw.
|#f0628 : 604|



Röttger, D. heimkehrende Gatte u. s. Weib i. d. dt. Lit. seit 1890. Diss. Bonn. 1934.

─ Walt. Neumann, Grundzüge d. Technik d. Heimkehrerdramas. Ein Beitrag zur

Technik d. Dramas d. Gegenwart. Diss. Jena 1936. ─ Zusammenstellungen, für

die das Inzestmotiv an den Haaren herbeigezogen ist, bei dem Freudianer O. Rank,

„Die Lohengrinsage“ (Wien 1911) und „Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage“.

2. Aufl. Leipzig und Wien 1921, S. 569.



S. 135: Ed. Grisebach Die Wanderung der Novelle von der treulosen Witwe

durch die Weltliteratur 2. Aufl. Berlin 1889.



4. Dritte Stufe: Plan



S. 136. Fabel: Jos. Brock, Hygins Fabeln i. d. dt. Literatur. München 1913,

S. V f. ─ W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Ges. Schr. VI, S. 218.



S. 137: Paul Ernst, Der Weg zur Form. Berlin 1915. S. 56, 59.



Definitionen der Novelle: Arn. Hirsch, Der Gattungsbegriff „Novelle“. Germ.

Stud. 64. Berlin 1928, und die dort S. 148─54 angegebene Literatur; ferner A.

von Grolman in: Merker-Stammlers Reallexikon. Bd. 2, S. 510─15. ─ Ders., Die

strenge Novellenform und die Problematik ihrer Zertrümmerung. Zs. f. Deutschkde.

43 (1929), S. 609─27. ─ Herm. Pongs, Die Novelle. Zs. f. dt. Bildg. 5 (1929),

S. 175─85. ─ Ders.: Grundlagen der deutschen Novelle im 19. Jh. Jb. d. Freien

Dt. Hochstifts. 1930. S. 151─231. ─ W. Vark, Die Form in der Novelle. Diss.

Jena. 1930. ─ Bernh. Bruch, Üb. d. Dramatische i. d. novellist. Form. Zschr. f.

Deutschkunde 46 (1932), S. 568─570. ─ Ders., Novelle u. Tragödie. Zschr. f. Ästh.

u. Kunstwiss. 22 (1928), S. 292 ff. ─ Wolfg. Kayser, Bürgerlichkeit und Stammestum

in Theodor Storms Novellendichtung. Berlin 1938. S. 39─42.



S. 138: Aristoteles, Poetik cap. 14. ─ Lessing, Hamburgische Dramaturgie.

Stück 37─40.



S. 139: Stolberg an Voß 17. 4. 1787; vgl. Ad. Beck, Die Aischylos-Übersetzung

des Grafen Friedr. Leop. zu Stolberg. Diss. Berlin 1937, S. 68.



S. 140: Goethe zu Eckermann 4. Mai 1827. Castles-Ausg. 2, 99 f.



S. 141: O. Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen.

Gießener Rektoratsrede 1906. ─ O. Ludwig, Studien: hrsg. v. Ad. Stern. Leipzig

1881. Bd. 2. S. 216.



S. 142: F. C. Prescott, The poetie mind. New York 1922. S. 103 ff.



S. 144: Ferd. Junghans, Zeit im Drama. Theater u. Drama, hrsg. v. H. Knudsen.

Bd. 1. Berlin 1931. ─ M. Dessoir, Das Schauspiel im Schauspiel. Die Akademie,

Heft 3 (Erlangen 1925), S. 102─119.



S. 145: Bericht im Drama: K. Ohmann, Der Bericht im deutschen Drama. Gießener

Beitr. z. dt. Philol. Bd. 12. Gießen 1925. ─ W. Jahn, Wesen und Formen des

Berichts im Drama, veranschaulicht an Beispielen aus Schillers Dramen. Germ. Stud.

103. Berlin 1931.



S. 146: Verdeckte Handlung: Ilia Motylew, Verdeckte Handlung in Hebbels

Dramen. Hebbelforschungen 16. Berlin 1927. ─ Ungedruckt gebliebene Dissertationen

v. H. v. Will für Schiller (Greifswald 1920), L. Weltmann für Kleist (Freiburg

1924), H. Altmann für Lessing (Kiel 1925).



S. 147: Gust. Freytag, Die Technik des Dramas. 3. Aufl. Leipzig 1876.



S. 148: Bausteine, hrsg. v. Franz Saran, Bd. 6: O. Spieß, Die dramatische Handlung

in Lessings „Emilia Galotti“ und „Minna von Barnhelm“. 1911. ─ Bd. 17:
|#f0629 : 605|



Ders., Die dramatische Handlung in Goethes „Clavigo“, „Egmont“ und „Iphigenie“.

1918. ─ Bd. 20: W. v. Gordon, Die dramatische Handlung in Sophokles' „König

Ödipus“ und Kleists „Der zerbrochene Krug“. 1926. ─ Bd. 25: Hans Rabl, Die dramatische

Handlung in G. Hauptmanns „Webern“. 1928. ─ Bd. 29: Herm. Dollinger,

Die dramatische Handlung in Klopstocks „Tod Adams“ und Gerstenbergs „Ugolino“.

1930. ─ Bd. 24: Franz Weichenmayr, Dramatische Handlung und Aufbau in Hebbels

„Herodes und Mariamne“. 1929. ─ Pepi Engel, Der dramatische Vortrieb in

Goethes „Torquato Tasso“. 1933.



Gruppierung: R. M. Werner, Die Gruppen im Drama. Forschungen z. neueren

Litgesch. Festgabe f. Heinzel. Weimar 1898. S. 7─27. ─ B. Seuffert, Beobachtungen

über dichterische Komposition. Germ. Rom. Monatsschr. 1 (1909), S. 599─617; 3

(1911), S. 569─84; 617─32. ─ Kurt Sommer, Über Gruppierung der Gestalten im

Drama. Zs. f. Ästhetik und Kunstwiss. 18 (1925), S. 305─30.



Arnulf Perger, Einortsdrama und Bewegungsdrama. ─ Ders., Die Handlungstransponierung

als dramatisches Kunstprinzip. Schr. d. Philos. Fakultät d. Dt. Univ.

Prag. Bd. 3, 11. Brünn, Prag, Leipzig, Wien 1929; 1932. ─ Ders., Die Wandlung

der dramatischen Auffassung. Berlin 1936.



Rob. Petsch, Zwei Pole des Dramas. Dt. Vjs. 2 (1924), S. 193 ff. Wiederh.:

Gehalt und Form. Detmold 1925. S. 23─55. ─ Ders., Drei Haupttypen des Dramas.

Dt. Vjs. 12 (1934), S. 210 ff.



S. 149: Dialog: Rud. Hirzel, 2 Bde. Leipzig 1895. ─ H. Schuchmann, Studien

zum Dialog in den Dramen Lessings und Schillers. Diss. Gießen. 1927. ─ W. Mohri,

D. Technik d. Dialogs in Lessings Dramen. Diss. Heidelberg. 1929. ─ H. Thielmann,

Stil u. Technik d. Dialogs im neueren Drama. Heidelb. Diss. Düsseldorf. 1937. ─

Gottfried Zeißig, H. v. Kleists Dramensprache. Ztschr. f. Deutschkunde 43, 1929,

S. 118─137. ─



Technik der Lyrik: R. M. Werner, Lyrik und Lyriker. Beitr. z. Ästhetik.

1. Hamburg u. Leipzig 1890. ─ Joh. Pfeiffer, Das lyrische Gedicht als ästhetisches

Gebilde. Ein phänomenologischer Versuch. Halle 1931. ─ Ders., Umgang mit Dichtung.

Leipzig 1936. ─ Heinr. Lützeler, Gedicht-Aufbau und Welthaltung des

Dichters, aufgewiesen am Werk Stefan Georges. Dichtg. u. Volkstum 35 (1934).

S. 247─62. ─ R. Petsch, Die Aufbauformen des lyrischen Gedichts. Dt. Vjs. 15

(1937), S. 51─68. ─ J. Wiegand, Die Technik der gleichlaufenden Strophen in

der Lyrik. Zs. f. dt. Altertum 73 (1936), S. 133─59. ─ Ders., Der Gegensatz als

Mittel des Aufbaus im lyrischen Gedicht. Zs. f. Ästhetik u. Kunstwiss. 31 (1937),

S. 159─77. ─ Ders., Die Kette. Germ. Rom. Monatsschr. 26 (1938), S. 122─35. ─

Friedrich Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung. Diss. Münster 1922. ─



S. 150: Anordnung: Wilh. Scherer, Über die Anordnung Goethescher Schriften.

Goethe-Jb. 4 (1883), S. 51 ff. ─ Konr. Burdach, Die Anordnung des West-östlichen

Divans auf dessen zweiter Entwicklungsstufe. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss.

1930. S. 277. ─ Hans Heinr. Schaeder, Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig 1938.

S. 62─104. ─ W. Brecht, C. F. Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung.

Wien und Leipzig 1918.



Balladentechnik: Börries Frhr. v. Münchhausen, Meister-Balladen. Berlin und

Leipzig 1923. ─ Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936.



Bildgedicht: Helm. Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Palaestra 199. Leipzig

1935. ─ Kurt Oppert, Das Dinggedicht. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 747─83.

|#f0630 : 606|



S. 152: Elis. Kutzer, Stammbaumroman i. d. neueren Lit. Diss. Leipzig 1929.



Erzählungstechnik: Friedr. Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des

Romans. Leipzig 1883. ─ Ders., Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik

und Dramatik. Leipzig 1898. ─ Rob. Riemann, Goethes Romantechnik. Leipzig

1902. ─ R. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934. ─ K. Friedemann,

Die Rolle des Erzählers in der Epik. Leipzig 1910. ─ Fr. Leib, Erzählungseingang

in der deutschen Literatur. Diss. Gießen 1913. ─ Percy Lubbock, The

craft of fiction. London 1921 p. 251─64. ─ H. Luedeke, Die Funktionen des

Erzählers in Chaucers epischer Dichtung. Stud. engl. Phil. 72, Halle 1928. ─ Ed.

Berend, Die Technik der „Darstellung“ in der Erzählung. Germ. Rom. Mschr. 14

(1926), S. 222─33.



S. 153: Ich-Erzählung: K. Forstreuter, Die deutsche Icherzählung. E. Studie zu

ihrer Geschichte und Technik. Berlin 1924.



Chronikalische Erzählung: R. Leppla, Wilhelm Meinholds Erzählungen und die

Anfänge der chronikalischen Novelle in Deutschland. Diss. Frankfurt a. M.

1923. ─ Ders., Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte von P. Merker und

W. Stammler. Bd. 1, S. 173─75.



S. 155: Archaisierende Erzählweise: Th. Münkel, Die archaisierenden Stilmittel

der Erzählkunst d. Enrica v. Handel-Mazzetti. Diss. Frankfurt 1930.



S. 156. Psychologischer Perspektivismus im Roman: Ed. Spranger, Jb. d. Freien

Dt. Hochstifts 1930, S. 70─89. ─ G. Scheele, Diss. Berlin 1933.



5. Vierte Stufe: Menschengestaltung



S. 159: Psychologie und Selbstdarstellung: Edith Aulhorn, Zur Gestaltung seelischer

Vorgänge in neuerer Erzählung. Festschr. f. Walzel. 1924. S. 70─79. ─

Lisb. Wittig, Der junge Fr. Hebbel als Gestalter seiner Selbst. Germ. Stud. 188.

Berlin 1937.



Das lyrische Ich: Marg. Susmann, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik.

Stuttgart 1910. S. 16 ff. ─ O. Walzel, Schicksale des lyryischen Ichs. Das Wortkunstwerk.

Leipzig 1926. S. 260─76.



Anna Köhn, Das weibliche Schönheitsideal in der ritterlichen Dichtung. Form

und Geist. Leipzig 1930. ─ Hanns Schukart, Gestaltungen des Frauenbildes in

deutscher Lyrik. Mnemosyne 11. Bonn 1933.



Dramat. Psychologie: W. Schöttler, Die innere Motivierung in Grabbes Dramen.

Neue Forschung 9. Berlin 1931. ─ Joh. Rütsch, D. dramat. Ich im dt. Barock-

Theater. Wege z. Dichtg. 12. Zürich-Leipzig 1932.



Selbstdarstellung in der Erzählung: W. Muschg, Jeremias Gotthelf. München

1931. S. 165. ─ Curtius, Balzac. Bonn 1923, S. 6 ff. ─ E. A. Greatwood, Die

dichterische Selbstdarstellung im Roman des Jungen Deutschland. Neue Forschgn.

Heft 27. Berlin 1935. ─ Gerh. Gräfe, Die Gestalt des Literaten im Zeitroman

des 19. Jhs. Germ. Stud. 185, Berlin 1937.



S. 160: R. Petsch, Der Aufbau der dramatischen Persönlichkeit und ihrer

„Welt“. Dt. Vjs. 13 (1935), S. 228─59.



S. 161: Gottfr. Weber, Der Gottesbegriff des Parzival. Frankfurt a. M. 1935.

S. 33 ff.



Psychologie der Shakespeare-Zeit: G. A. Bieber, D. Melancholikertypus Shakespeares

u. s. Ursprung. Anglist. Arbeiten 3. Heidelberg 1913, S. 11 ff. ─ Schwinger-

Nicolai: Innere Form und dichterische Phantasie. München 1935. S. 138.

|#f0631 : 607|



LessingsEmilia Galottiund Leibniz: Gust. Kettner, Lessings Dramen im

Lichte ihrer und unserer Zeit. Berlin 1904. S. 220 ff.



S. 162: Lugowski: vgl. Anm. zu S. 184.



Theod. Fontane an H. Hertz, 2. März 1895. Briefe 2. Sammlg. 2, S. 341 f.



S. 163: Clemens Lugowski, vgl. Anm. zu S. 116.



Schiller an Reinwald, 14. April 1783. Briefe. Hrsg. von Jonas. Bd. 1, S. 113.



Petersen, Goethe als Gestalter. Berliner Universitätsrede 1932. ─ Ders., Erlebnis

u. Gelegenheit in Goethes Dichtung. Goethe. Vjs. d. Goethe-Ges. 1 (1936), S. 3─19.



S. 164: Namengebung: Walter Muschg, Jeremias Gotthelf. München 1931. 14

(1922), S. 39─44. ─ Christ. Wandel, Die typische Menschendarstellung in Fontanes

Erzählungen. Diss. Berlin 1938. ─ Auch Ludw. Thoma berichtet am 5. Febr.

1920 an Hofmiller, wie seine Vorstellungskraft durch echte Namen, die er aus

Kalendern, Adreßbüchern, Viehausstellungen kennenlernte, Anregung fand. (Ausgewählte

Briefe S. 227 f.) ─ Vgl. auch R. M. Meyer, Der Namenwitz. Neue Jbb. f.

klass. Altertum 11 (1903), S. 122─145. ─ H. Maync, Nomen et omen. Westermanns

Monatshefte 62, 1917/18, S. 653 ff. ─ O. Urbach, Eigennamen als Begriffe. Muttersprache

53 (1928), S. 250 ff. ─ F. Dornseiff, Redende Namen. Ztschr. f. Namenforschung

16, 1940, S. 24─38 und 215─218. ─ Beispiele für Auslösung der Konzeption

durch einen Namen bei Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes, S. 53.



S. 165: Balzacs Modelle: Ernst Rob. Curtius, Balzac. Bonn 1923. S. 401 ff.



Karl Freye, Jean Pauls „Flegeljahre“. Palaestra 61. Leipzig 1907. S. 30, 33, 80.



Fontanes Vorbilder: Hans-Friedr. Rosenfeld, Zur Entstehung Fontanescher Romane.

Haag 1926. S. 24 ff., 33 ff. ─ Fontane erzählt selbst in dem zu S. 162 zitierten

Brief, wie er für Erscheinung und Kleidung der kleinen Effi Briest durch ein

englisches Kind, das er zufällig in Thale sah, angeregt wurde: „Das Schicksal

schickte mir die kleine Methodistin.“ ─ Der Spruch Fontanes: Ges. Werke. II,

Bd. 1, S. 23.



S. 166: Th. Reik, Flaubert und seine „Versuchung des heiligen Antonius“. Ein

Beitrag zur Künstlerpsychologie. Minden 1912.



Psychoanalyse: O. Walzel, Gehalt und Gestalt. S. 104─11. ─ C. G. Jung, Psychologie

und Dichtung. In: Ermatinger, Philosophie der Literaturwiss. S. 315─30.

─ O. Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie

d. dichterischen Schaffens. Leipzig, Wien 1912. 2. verm. Aufl. 1926. ─ Alb. Thibaudet,

Psychoanalyse et critique. Nouv. rev. française 1. April 1921. ─ Ed. Aulhorn,

Dichtung und Psychoanalyse. Germ. Rom. Mschr. 10 (1922), S. 279─292.



S. 167: W. Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Zürich 1930. ─

Herm. Pongs, Psychoanalyse und Dichtung. Euphorion 34 (1933), S. 38─72.



E. Hitschmann, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten

und Motive. Zürich 1919.



W. Muschg, Gotthelf. S. 216, 253.



H. Pongs, Schillers Urbilder. Stuttgart 1935. ─ Dazu Rud. Unger, Richtungen

und Probleme neuerer Schiller-Deutung. Nachr. d. Ges. f. Wiss. zu Göttingen.

NF. I, 9 (1937), S. 234 ff.



Eug. Kühnemann, Die Kantischen Studien Schillers und die Komposition des

„Wallenstein“. Marburg 1889. S. 75 ff. 2. Teil, S. 22 ff. ─ Max Kommerell, Schiller

als Gestalter des handelnden Menschen. Frankfurt a. M. 1934. S. 8. ─ Ders.,

Schiller als Psychologe. Jb. d. Freien Dt. Hochstifts. 1934/35. S. 177─219.



L. L. Schücking, Die Charakterprobleme bei Shakespeare. 3. Aufl. Leipzig 1932.

|#f0632 : 608|



S. 168: Jos. Kohler, Verbrechertypen in Shakespeares Dramen. Berlin 1903. ─

Grillparzer, Zur englischen Literatur (1817). Hocks Ausg. 13, S. 277. ─ Hebbel,

Tagebücher (3174 vom 4. Juli 1844). Werners Ausg. 2, S. 419.



Kurt Berger, Menschenbild u. Heldenmythos i. d. Dichtung des dt. Idealismus.

Berlin 1940. ─ Jul. Schwietering, Der Wandel des Heldenideals in der epischen

Dichtung des 12. Jahrhunderts. Zs. f. dt. Altert. 64, 135 ff. ─ Ders., Typologisches

in mittelalterlicher Dichtung. Festgabe f. Ehrismann. 1925. S. 40 ff. ─



6. Fünfte Stufe: Verknüpfung



S. 169 ff.: Motive: Teilweise abgedr.: Dichtung und Volkstum 38 (1937), S. 44

bis 65.



W. Scherer, Poetik. Berlin 1888. S. 212. ─ W. Dilthey, Die Einbildungskraft

des Dichters. Festschr. f. Zeller. S. 449 ff. Wiederh. Ges. Schr. 6, S. 216 ff. ─

P. Merker, Reallexikon Bd. 3, S. 305 ff. ─ Jos. Körner, Erlebnis ─ Motiv ─ Stoff.

Festschr. f. Walzel. 1924. S. 80─91. ─ Ders., Merker-Stammler, Reallexikon Bd. 2,

S. 412─15. ─ F. Trojan, Wege zu einer vergleichenden Wissenschaft von der

dichterischen Komposition. Festschr. f. Walzel. S. 90─96. ─ O. Walzel, Gehalt

und Gestalt. S. 398. ─ R. Petsch, Motiv, Formel und Stoff. Zs. f. dt. Phil. 54

(1929), S. 378 ff. ─ O. Katann, Euph. 32 (1931), S. 97─101. ─ N. Perquin,

Wilhelm Raabes Motive als Ausdruck seiner Weltanschauung. Amsterdam 1928.

S. 16 ff. ─ Heinrich Spiero, Motivwanderungen und Motivgestaltungen im neuen

deutschen Roman. Germ. Roman. Monatsschr. 4 (1912), S. 305 ff. ─ Joh. Klein,

Urmotivierung u. Sekundärmotivierung b. Gottfr. Keller u. C. F. Meyer. Zschr. f.

Ästh. und Kunstwiss. 28 (1934), S. 113─146.



S. 171: Helm. Rehder, Das Symbol der Hütte bei Goethe. Dt. Vjs. 15 (1937),

S. 403─23.



Otto Brahm, Das deutsche Ritterdrama. Quellen und Forschungen. 40. Straßburg

1888. S. 145 ff.



S. 172: Herm. Reich, Der Mann mit dem Eselskopf. Ein Mimodrama vom klassischen

Altertum verfolgt bis auf Shakespeares „Sommernachtstraum“. Jb. d. dt.

Shakespeare-Ges. 40 (1904).



S. 174: Erfindung: Charlotte Bühler, Erfindung und Entdeckung. Zwei Grundbegriffe

der Literaturpsychologie. Zs. f. Ästhetik 15 (1921), S. 43─87. ─ Fréd.

Paulhan, Psychologie de l'invention. 2. éd. Paris 1911.



P. Albrecht, Philologische Untersuchungen. 6 Bde. Hamburg 1888─91.



Bruderzwistdramen: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg

1914. S. 53 f.



S. 175: Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt. Hrsg. von Er. Schmidt. 5. Abdr.

Weimar 1901. S. XXVI. Inzwischen ist durch Morris auf die Möglichkeit einer

gemeinsamen Quelle für Goethe und Daudet hingewiesen worden: Goethe-Jb. 24

(1905), S. 242 f. ─ Goethe, Faust und Urfaust. Erläutert v. E. Beutler. Leipzig

1939 (= Sammlung Dieterich 25), S. 547 ff. Ausführlicher: E. Beutler, Der Frankfurter

Faust. Jahrb. d. fr. dt. Hochstifts Frankfurt a. M., 1936─40. Halle 1940.

S. 594 ff. ─



Motive der Lyrik: R. M. Werner, Lyrik und Lyriker. Hamburg u. Leipzig 1890.

S. 138, 246, 248.



S. 176: H. Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. 1. Marburg 1927. S. 242 ff.,

252 ff., 262 ff.

|#f0633 : 609|



S. 179: O. Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung

kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. ─ Dazu: K. Voßler, Über wechselseitige

Erhellung der Künste. Festschr. f. Heinrich Wölfflin. Dresden 1935. S. 160

bis 67. ─ Max Nußberger Die dichterische Phantasie in d. Formgebung der Dichtkunst,

Malerei und Musik. München 1935.



Melodik, Rhythmik, Dynamik: Herb. Lewandowski, Die Erfassung von Formeigentümlichkeiten

beim lyrischen Dichtwerk. Dargest. auf Grund vergleichender

Betrachtg. dt. Abendlyrik seit Gerhard. Diss. Bonn 1923. ─ Ders., Die Literatur 26

(1923/24), S. 385─88. ─ Feinfühlige Vergleichung von Abendliedern auch bei:

Joh. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936. S. 20 ff.



S. 180: Leitmotive und Wiederholungstechnik: Mart. Schütze, Repetition of a

word as a means of suspense in the drama under the influence of romanticism.

Chicago 1907. ─ Berth. Schulze, Das Bild als Leitmotiv in den Dramen Kleists und

anderer Dichter. Zs. f. dt. Unterr. 27 (1910), S. 308─21. Dazu: Fr. Kanter, Der bildliche

Ausdruck in Kleists Penthesilea. Diss. Jena 1911. ─ R. Sternfeld, Über das

Leitmotiv bei Fontane. Voss. Ztg., 24. Juli 1910. ─ Wilh. Dibelius, Charles Dickens.

Leipzig u. Berlin 1916. S. 245 ff., 375 ff. ─ Edith Aulhorn, Der Aufbau der Wahlverwandtschaften.

Zs. f. dt. Unterricht 32, S. 337 ff. ─ O. Walzel, Leitmotive in

Dichtungen. Zs. f. Bücherfreunde NF. 8, S. 261 ff. Wiederholt in: Das Wortkunstwerk.

Leipzig 1926. S. 152─81. ─ Ders., Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des

Dichters. S. 358─364. ─ J. Petersen, Fontanes Altersroman. Euph. 29, S. 14─18.

─ Car. F. Spurgeon, Leading Motives in the Imagery of Shakespeares Tragedies.

Oxford 1929. ─ R. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934.

S. 74 f. ─ W. Krogmann: Motivübertragung und ihre Bedeutung für die literarhistorische

Forschung. Neophilologus 17 (1937), S. 17─32. ─ Ders., Leitmotive im

Schaffen des Dichters. Zs. f. dt. Phil. 61 (1937), S. 386 ff. ─ Leander Hotes, Das

Leitmotiv in der neueren dt. Romandichtung. Diss. Frankf. a. M., 1931. ─



S. 181: Lessings Hamburgische Dramaturgie. 11. Stück.



S. 182: Traumspiel: Stef. Hock, Der Traum ein Leben. Stuttgart und Berlin

1904. ─ Ella Sartorius, D. Traum u. d. Drama. Wortkunst NF. 11, München 1937.



S. 183: Märchendrama: Marg. Kober, Das Märchendrama der Romantik. Dt..

Forschgn. 11. Frankfurt a. M. 1925.



S. 184: Cl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt a. M. 1937. ─

Einen anderen Begriff des Anti-Märchen hatte Rud. Kaßner (Narziß oder Mythos

und Einbildungskraft. Leipzig 1928, S. 93 f.), indem er Sternes „Tristram Shandy“

als Umkehrung des Märchens bezeichnete, weil in ihm dessen Zeitlosigkeit aufgehoben

werde: „Tristram Shandy ist der erste Held oder der erste Mensch, der

das moderne Gefühl der fließenden Zeit hat.“



Simplizissimus teutsch. Hrsg. von J. H. Scholte. Braunes Neudr. 302─09. II,

18, S. 147.



S. 185: Ballade: Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936.



S. 186: Heinz Flügel, Die Wirklichkeit des Mythus und das Reich der Dichtung.

Die Literatur, Dezember 1938, S. 145 ff.



S. 190: Naturgefühl: Alfr. Biese, Das Naturgefühl im Wandel der Zeiten (Leipzig

1926) und die dort auf S. 273─75 zusammengest. Literatur; ferner Walter Donat,

Die Landschaft bei Tieck. Dt. Forschgn. 14. Frankfurt a. M. 1925. ─ Rich. Beitl,

Goethes Bild der Landschaft. Berlin u. Leipzig 1929. ─ Helm Rehder, Die Philosophie

der unendlichen Landschaft. (Buchreihe d. Dt. Vjs. 19.) Halle 1932. ─
|#f0634 : 610|



Üb. Stilform d. Landschaftsdarstellung: Walzel, Euph. 32. (1931), S. 441─53. ─

Joh. Klein, Das Raumerlebnis i. d. Lyrik Eichendorffs. Zs. f. Ästh. 29 (1935),

S. 52 ff. ─ Dietr. Seckel, Hölderlins Raumgestaltung. Dichtung und Volkstum 39

(1938), S. 469─86.



S. 191: Sprachform: Walt. Brauer, Gesch. d. Prosabegriffs v. Gottsched bis z.

Jungen Deutschland. Frankf. Qu. u. F. 18, Frankf. 1938.



Merkwürdige Teilung des Dialogs in Vers und Prosa, die nur durch Musik ausgeglichen

werden kann, gibt Manfr. Hausmanns dramat. Ballade „Lilofee“ (Berlin

1936).



Den Zustand des Atmens im rhythmischen Leidenschaftsausdruck der verschiedenen

Versmaße charakterisiert kurz: Emil Lucka: Die Phantasie. Wien und Leipzig

1908. S. 117.



S. 193: Kurt May, Faust II. Teil in der Sprachform gedeutet. Neue Forschgn.

30. Berlin 1936.



Börries Frhr. v. Münchhausen, Mal anders. Zschr. f. Deutschkunde 46 (1932),

S. 80─86. ─ Ders., Die dritte Asklepiadeische Strophe. Ebd. 51 (1937), S. 121

bis 125. ─ Sonett: Chr. Morgenstern: Ich und Du. S. 72.



S. 194: Rob. Petsch, Z. Tongestaltung i. d. Dichtung. Festschr. f. Petersen. Leipzig

1938, S. 1─22.



F. R. Blaß, Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. Leipzig 1901. ─ Eduard

Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der

Renaissance. Leipzig 1898.



S. 195: Dietr. Seckel, Hölderlins Rhythmus. Palaestra 207. Leipzig 1937. ─ Ed.

Lachmann, Hölderlins Hymnen in freien Strophen. Frankf. a. M. 1937. ─ de Groot,

Neophilologus 17 (1932), S. 81, 177, 241. ─ Wolfg. Kayser, Vom Rhythmus in dt.

Gedichten. Dicht. u. Volkst. 39 (1938), S. 487─510.



7. Der Stil



S. 195: Stil: Ed. Castle, Zur Entwicklungsgeschichte des Wortbegriffes Stil. Germ.

Roman. Monatsschr. 6 (1914), S. 153─60. ─ Rob. Wolfg. Wallach, Üb. Anwendung

und Bedeutung des Wortes Stil. Diss. München 1919. ─ Herm. Pongs, Zur Methode

der Stilforschung. GRM. 17 (1929), S. 256 ff. ─ Jos. Nadler, Das Problem der

Stilgeschichte. In Ermatingers Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930.

S. 376─97. ─ Jos. Gramm, Formbau und Stilgesetz. Frankfurt a. M. 1931. ─

H. Brinkmann, Grundfragen d. Stilgeschichte. Zs. f. Dk. 46 (1932), S. 689─697. ─

Friedrich Kainz, Stil u. Form. Ztschr. f. Deutschkunde 41, 1927, S. 114 ff. ─ Der

zitierte Satz: Anselm Feuerbach, Ein Vermächtnis. Wien 1882. (1. Auflage), S. 81. ─



S. 198: Stilperioden der griechischen Poesie bei Friedrich Schlegel. Jugendschriften,

hrsg. v. Minor. I, 1 ff. ─ Kurt Gerstenberg, Deutsche Sondergotik. München

1913. ─ Herm. Gumbel, Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa. Dt.

Forschn. 23. Frankfurt a. M. 1930. ─ R. Müller-Freienfels, Got. Formgebung i. d.

dt. Lit. Germ. Rom. Mschr. 8 (1920), S. 21─29 ─ Georg Weise, Das Schlagwort

vom gotischen Menschen. N. Jb. f. Wissensch. u. Jugendbildung VII (1931),

S. 104 ff. ─ Ders., Das „gotische“ oder „barocke“ Stilprinzip der deutschen und

der nordischen Kunst. Dt. Vjschr. 10 (1932), S. 206─243.



Von epischem, lyrischem, dramatischem Stil spricht A. W. Schlegel in seinen

Berliner Vorlesungen, hrsg. v. Minor D. L. D. 17, S. 108; vom Materialstil C. Utitz,

Was ist Stil? Stuttgart 1911.

|#f0635 : 611|



S. 199: Altersstufenstil: Max Deutschbein. Neuere Sprachen 23 (1916), S. 9─21.

─ Ulr. Leo, Fogazzaros Stil u. d. symbol. Lebensroman. Heidelberg 1928; dazu H.

Pougs Dt. Lit. Ztg. 1930, Sp. 258 ff. ─ K. Viëtor, D. alte Brentano. Dt. Vjschr. 2

(1924), S. 556 ff. ─ Ders., Goethes Altersgedichte. Euphorion 33 (1932), S. 105 bis

152. ─ A. E. Brinkmann, Die Spätwerke großer Meister. Frankfurt a. M. 1925. ─

J. Petersen, Goethe und die deutsche Sprache. Aus der Goethezeit. S. 79 ff. ─

Ders., Fontanes Altersroman, Euph. 29 (1928), S. 68─74. Vgl. auch S. 209 und

Anm.



W. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Berlin

1926. S. 11 f.



Goethe, Maximen und Reflexionen 806. Schr. d. Goethe-Ges. 21. Weimar 1907.

S. 178. ─ Rilke, Briefe aus den Jahren 1907─1914. Leipzig 1933. S. 144.



S. 200: Jos. Nadler: vgl. Anm. zu S. 195. ─ Nicolai Hartmann, Das Problem des

geistigen Seins. Berlin 1933. S. 203.



S. 203: Erich Schmidt erwähnt in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Urfaust

(7. Abdr., S. XXVI), daß der Kunsthistoriker Lermontoff-Morelli dem Literarhistoriker

jede Fähigkeit, Verfasserschaft und Alter aus Stilgründen darzutun, abgesprochen

habe.



S. 204: Paul Krannhals, Das organische Weltbild. München 1928. Bd. 2, S. 623.

─ Pinder, a. a. O. S. 71.



Max Dvořak, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. München 1924. S. 227 ff.



Phil. Witkop, Heinrich von Kleist. Leipzig 1922. S. 10 ff.



Zeitstile: Daß sie in Tendenzen bestehen, die sich im Medium bestimmter Kulturen,

Nationalitäten, Landschaften, sozialen Schichten und Persönlichkeiten brechen,

betont Er. Rothacker, Geschichtsphilosophie. S. 61.



S. 205: Staatsstil: A. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil. München 1916.

Neue Fassung. 3. Aufl. Breslau 1931.



Paul v. Winterfeld, Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters. Hrsg. von

Reich. 3. u. 4. Aufl. München 1922. S. 454 f.



Wilh. Kellermann, Altdeutsche und altfranzösische Literatur. Germ. Roman.

Monatsschr. 26 (1928), S. 1─28. ─ Rich. Alewyn, Vorbarocker Klassizismus. Neue

Heidelb. Jbb. N. F. 1926, S. 3─63.



Zeitalterstil: Friedr. Schürr, Das altfranzösische Epos. Zur Stilgeschichte u.

inneren Form der Gotik. München 1926. ─ Ders., Barock, Klassizismus u. Rokoko

in der französischen Literatur. E. prinzipielle Stilbetrachtg. Leipzig u. Berlin 1928.

Literarische Hochgotik bei Gottfried Weber, Wolfram von Eschenbach. Dt.

Forschgn. 18. Frankfurt a. M. 1928. S. 155 ff. ─ Literaturbarock: Fritz Strich,

Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts. Abhandlgn. z. dt. Litgesch. Festschr. für

F. Muncker, München 1916. S. 21─53. ─ Ad. Hatzfeld, D. Barockstil d. sog.

klass. Lyrik i. Frankreich. Lit. Jb. d. Görres-Ges. 4 (1929), S. 31 ff. ─ Rich. Müller,

Dichtung und bildende Kunst im Zeitalter des deutschen Barock. Wege z. Dichtg.

28. Frauenfeld 1937.



Bildgedicht: Helm. Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder

und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Palaestra 199. Leipzig 1935.



Nationalstil: Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. I, 1, 2; II. 4. Taschenausgabe

Bd. 2, S. 7, 138. ─ Karl Voßler: Die Nationalsprachen als Stile. Jb. f.

Philologie, hrsg. v. Klemperer u. Lerch. München 1925. S. 1─23. ─ K. Viëtor, Zum

Problem des Nationalstils. Germ. Rom. Mschr. 14 (1926), S. 178─184. ─ Ders.,
|#f0636 : 612|



Probleme d. Barockforschung. Leipzig 1928. S. 73 ff. ─ Konr. Escher: Das Nationale

in der abendländischen Stilentwicklung. Zürich 1919.



S. 206: Ed. Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen

und des Franzosen. Bielefeld und Leipzig 1927.



Zum Nationalstil in der Musik: Gust. Becking, D. musikal. Rhythmus als Erkenntnisquelle.

Augsburg 1928, S. 82 ff.



Eine Verbindung von Nationalstil und Zeitstil läge im Begriff eines „altgermanischen

Stils“, gegen dessen Einheitlichkeit allerdings Andr. Heusler schwerwiegende

Bedenken äußert in seiner „Altgermanischen Dichtung“ (Handb. d. Litwiss. 1926),

S. 192. Dazu Er. Rothacker, Geschichtsphilosophie. S. 59.



Rassestil: Hans K. F. Günther, Rasse und Stil. München 1926. S. 86 f. ─

Ders., Rassenkunde des deutschen Volkes. 67.─77. Tausend. München 1934. Tafel,

129, Abb. 129. ─ Rich Frydmann, D Erlebnis der Näherung, ein Versuch üb.

d. ostasiat. Sehen. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 27 (1933), S. 305─19.



S. 207: Dandins Poetik. Hrsg. v. Böhtlingk. Leipzig 1890. ─ Anandavardhanas

Dhvanyaloka, übers. v. H. Jacobi. Leipzig 1903. ─ Appayadiksita's Kuvalayandakarikas

übers. v. R. Schmidt. Berlin 1907. ─ Herm. Jacobi: Über Begriff und

Wesen der poetischen Figuren in der indischen Poetik. Nachr. d. Kgl. Ges. d.

Wiss. z. Göttingen. Phil.-hist. Kl. 1908. ─ Ders., Die Poetik und Ästhetik der Inder.

Internat. Wochenschr., 29. Okt. 1910.



Rud. Meißner Skaldenpoesie. Halle 1905. ─ Ders., Die Kenningar der Skalden.

Berlin 1920. ─ Wolfg. Krause, Die Kenning als typische Stilfigur d. germ. u. kelt.

Dichtersprache. Halle 1930 = Schr. d. Königsb. Gel. Ges., Geisteswiss. Kl., Jg. 7,

Heft 1.



Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Stilforschung bei Gis. Jahn,

Studien zu Eichendorffs Prosastil. Palaestra 206. Leipzig 1937.



S. 208: Gust. Gerber: Die Sprache als Kunst. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin 1885. ─

R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. Handbuch d. dt. Unterrichts. III., 1. 2. Aufl. München

1913. ─ Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Halle 1897.

S. 413─88. Bd. 2 (Stilistik). Halle 1911. ─ Emil Winkler: Grundlegung der Stilistik.

Bielefeld u. Leipzig 1929. ─ Leo Spitzer: Stilstudien. 2 Bde. München 1928.

─ Max Deutschbein, Neuenglische Stilistik. Leipzig 1932.



S. 209: Alb. Fries, Stilistische Untersuchungen zu Schiller. Euphorion 12 1905,

S. 485─504. ─ Ders., Beobachtungen zu Schillers Stil und Metrik in der Zeit seiner

dichterischen Reife. Studien z. vergl. Litgesch. 5 (1905) Erg.-Heft, S. 303─30. ─

Ders., Zu Kleists Stil. Stud. z. vgl. Litgesch. 4 (1904), S. 440─65. ─ Ders., Untersuchungen

und Beobachtungen zu Heinrich von Kleist. Berlin 1904, S. 1─24. ─

Ders., Stilistische und vergleichende Forschungen zu H. v. Kleist. Eberings Berliner

Beiträge. 30. Berlin 1906.



Gust. Roethe, Brentanos „Ponce de Leon“, eine Säkularstudie. Abhandlg. d.

Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. N. F. V., 1. Berlin 1901. ─ Goethes Campagne

in Frankreich. Berlin 1919. ─ Herm. Petrich, Drei Kapitel vom romantischen Stil.

Leipzig 1878. ─ Paul Knauth, Goethes Sprache und Stil im Alter. Leipzig 1898.

Dazu: Konr. Burdach: Vorspiel. Bd. 2. Halle 1926. S. 61─72. ─ Jak. Minor und

Aug. Sauer: Studien zur Goethe-Philologie. Wien 1880. ─ Rich. Weißenfels, Über

französische und antike Elemente im Stil Heinrich von Kleists. Braunschweig 1888.

─ Ders., Goethe im Sturm und Drang. Bd. 1. Halle 1894.

|#f0637 : 613|



Georg Minde-Pouet, Heinrich von Kleist. Seine Sprache und sein Stil. Weimar

1897. ─ Er. Schmidt, Lessing. 4. Aufl. Bd. 2. S. 488─539.



Jos. Nadler, S. 379; vgl. Anm. z. S. 195.



S. 210: Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Elementarlehre. 2. Tl. 2. Buch.

2. Hauptst. 2. Abschn. Antithetik der reinen Vernunft. Dritter Widerstreit der

transzendentalen Ideen. Vgl. W. Plümacher, Versuch einer metaphysischen Grundlegung

literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe aus Kants Antinomienlehre mit

einer Anwendung auf das Kunstwerk Herm. Hesses. Bonner Dt. Studien, hrsg. von

Enders. Heft 1. Würzburg 1936.



Joh. Volkelt, Der Begriff des Stils. Zs. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. 8, (1913),

S. 209─46.



Heinr. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1915. ─ Fritz

Strich, Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. München 1922.

─ Wilh Schneider, Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig

und Berlin 1931. ─ Dazu Friedr. Kainz, Höhere Wirklichkeitsgestalten d. sprachl.

Ausdrucks in Dt. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 28 (1934), S. 305─357.



S. 211: Genovefa-Dramen: In der stoffgeschichtlichen Untersuchung von Bruno

Golz über die Pfalzgräfin Genovefa in der deutschen Dichtung (Leipzig 1897) wird

das Problem der Stilvergleichung noch nicht gesehen.



Wilh. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. 3. Aufl. München 1911.



S. 212: E. Hoffmann-Krayer, Geschichte des deutschen Stils in Einzelbildern.

Berlin 1925. ─ Emil Ermatinger, Zeitstil und Persönlichkeit. Grundlinien einer

Stilgeschichte der neueren dt. Dicht. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 615─58. ─ Wiederholt:

Krisen und Probleme der neueren dt. Dichtg. Zürich, Leipzig, Wien 1928. S. 352

bis 97. ─ Herm. Nohl, Typische Kunststile in Dichtung und Musik. Jena 1915. ─

Ed. Spranger: Lebensformen. 2. Aufl. Halle 1921. ─ O. Walzel, Gehalt und Gestalt

im Kunstwerk des Dichters. S. 391 ff. ─ J. van Dam, Literaturgesch. als Stilgesch.

Neophilologus 23 (1938), S. 79─83.



S. 216: Stefan Georges Schrift: W. Wolters, George und die Blätter für die

Kunst. Berlin 1930. S. 143 ff.



Über Interpunktion und typographische Hilfsmittel als Stileigentümlichkeiten:

R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. München 1913, S. 90 f. ─ Ders., Zschr.

f. dt. Unter. 24, 99.



Schweigen: Wilh. v. Scholz (Gedanken zum Drama 1905) spricht von einem

„unterirdischen Dialog der Seelen“. ─ Vgl. auch Gottfr. Zeißig, Die Überwindung

der Rede im Drama. Diss. Leipzig 1930. ─ Max Kommerell, Die Sprache und das

Unaussprechliche. Das Innere Reich. Sept. 1937, S. 654 ff.



S. 217: Der Sprache verfallen: W. Muschg, Gotthelf. München 1931. S. 447 f ─

Nadler schreibt die Lust am Wort insbesondere dem alemannischen Stamme zu

(Litg. 1. 320). ─ Vgl. aber Hans Jacob, Knut Hamsun und Thomas Mann. Philos.

Anzeiger 3 (1928), S. 218 ff.



Wortmagie: Rud. Otto, Das Heilige. 23.─25. Aufl. München 1936. S. 86.



Lieblingswörter: der Anakreontik: Minor und Sauer, Studien zur Goethe-Philologie.

Wien 1880. ─ ... der Romantik: Friedrich Kainz, Zum Wortschatz der

deutschen Romantik. Geistige Arbeit 4 (1937), Nr. 20, S. 1 f. ─ K. Voßler, Frankreichs

Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung. Heidelberg 1913. ─ O. Weise,

Unsere Muttersprache, ihr Werden und Wesen. Leipzig 1895. ─ Ders., Ästhetik

der deutschen Sprache. Leipzig 1903.

|#f0638 : 614|



S. 218: Wörterbücher der Dichtersprache: Die neuere deutsche Literaturgeschichte

hat nur den unzulänglichen Goethe-Wortschatz von P. Fischer (Leipzig 1929), das

als Register zur Lessing-Ausgabe von Petersen und v. Olshausen durch letzteren bearbeitete

Lessing-Wörterbuch und die Ansätze zu einem Schiller-Wörterbuch in

Goedekes Ausgabe, Bd. 1 und 5, 1 (Stuttgart 1867/69). Lessing war schon 1759 mit

seinem Wörterbuch zu Logau vorangegangen. Die englische Literaturgeschichte

hat verschiedene Glossare zu Shakespeare (Cunliffe 1910; Onions 1911), dazu die

deutschen Shakespeare-Wörterbücher von Al. Schmidt (4. Aufl. Leipzig, Berlin

1923) und L. Kellner (Leipzig 1922). Frankreich besitzt Wörterbücher zu Corneille

u. Racine in den Klassiker-Ausgaben von Marty-Laveaux (1862) und Mesnard

(1873); in Italien gibt es mehrere Wörterbücher zu Dantes Göttlicher Komödie,

darunter das 7bändige von Polatto (Siena 1885─87).



Über seine Benutzung des Grimmschen Wörterbuchs spricht Rilke in Briefen

vom 10. 8. 1903, 12. 5. 1904 und 3. 2. 1913. Briefe aus den Jahren 1902─1906.

Leipzig 1930. S. 120, 157. Briefe an seinen Verleger. Leipzig 1934. S. 215 f., 466.



Wilh. Schneider, Nomen und Verbum als Ausdruckswerte. Zs. f. Deutschkde. 39

(1925), S. 705 ff., 771 ff. ─ Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. 1910.

Bd. 1, S. 12 ff.; Bd. 2, S. 464 ff., 526 f. ─



S. 219: Herm. Ammann, Die menschliche Rede. 1. Teil. Lahr 1925. S. 132 ff. ─

Gust. Herbig, Aktionsart und Zeitstufe. Idg. Forschgn. 6 (1896), S. 157 ff. ─ Friedr.

Maurer, Untersuchungen über die Verbstellung in ihrer geschichtlichen Entwicklung.

Heidelberg 1926. ─ Heinr. Rickert, D. Logik d. Prädikates u. d. Problem d. Ontologie.

Sitzungsber. d. Heidelberger Ak. d. Wiss. Phil. Hist. Kl. Jg. 1930/1. ─ Max

Deutschbein, Neuenglische Stilistik. Leipzig 1932. S. 8 f., 139 ff.



O. Hachtmann, Die Vorherrschaft substantivischer Konstruktionen im modernen

französischen Prosastil. Roman. Stud. 12. Berlin 1912.



Sprachschöpfungen der Mystiker: O. Zirker: Die Bereicherung des deutschen

Wortschatzes durch die spätmittelalterliche Mystik. Jena 1923.



S. 220: Fritz Strich, Klassik und Romantik. 2. Aufl. 1924. S. 218 ff.



Neubildung als Ausdruck seelischer Erregung: H. Spitzer, Neue Jbb. f. Wiss.

und Jugendbildg. 1930. S. 632.



Wern. Rittich, Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyr. Wortkunst im Sturm.

Greifswald 1933.



S. 221: H. Laures, Les synesthésies. Paris 1908. ─ Ott. Fischer, Üb. Verbindung

v. Farbe und Klang. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 2 (1907), 509. ─ L. I. Martin,

Üb. ästhet. Synästhesie. Zschr. f. Psychol. 53 (1909). ─ A. Wellek, Das Doppelempfinden

in der Geistesgeschichte. Zs. f. Ästhetik 23 (1929), S. 14─42. ─ Ders.,

Renaissance- und Barock-Synästhesie. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 534─84. ─ Ders., Das

Doppelempfinden im 18. Jahrhundert, Dt. Vjs. 14 (1936), S. 75─102.



Braune Nacht: Herb. Cysarz, Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924, S. 151

Anm. 2. ─ Karl Viëtor, Die Barockformel „Braune Nacht“. Zs. f. dt. Philol. 63.

1938, S. 284 ff. ─ Ders., Die Lyrik Hölderlins. Frankf. a. M., 1921, S. 168. ─ Hans

Reichmann, Zur Metapher „grüne Nacht“. Euphorion 19, 1912, S. 361─4 und 20,

1913, S. 748─51. ─



Dichterische Geheimsprachen: Harry Maync, Eduard Mörike, 3. und 4. Aufl.

Stuttgart 1927. S. 94, 171 f. ─ Wilh. Altwegg, J. P. Hebel. Frauenfeld, Leipzig 1935.

S. 46 ff. ─ R. M. Meyer, Künstliche Sprachen. Idg. Forsch. 12 (1901), S. 33─92,

242─318.

|#f0639 : 615|



S. 222: Wortspiel: Jul. Schultz, Zs. f. Ästhetik 21 (1927), S. 16─37. ─ Fr. H.

Mautner, Dt. Vjs. 9 (1931), S. 679. ─ Ders., Zs. f. Ästh. 27 (1933), S. 132─75. ─

Jul. Kleufer, Z. f. Ästh. und Kunstw. 30 (1936), S. 209─34.



Doppelsinn: Fritz Kaufmann, Sprache als Schöpfung. Z. f. Ästhetik 28 (1934),

S. 1─54.



Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. 1. Marburg 1927. S. 241 ff. ─

Max Hof, Wort und Bild bei Hölderlin. Geistige Arbeit 3 (1936), Nr. 12.



S. 223: Impressionismus: Luise Thon, Die Sprache des deutschen Impressionismus.

München 1928. ─ Alf Lombard, Les constructions nominales dans le français

moderne. Uppsala, Stockholm 1930. Dazu: E. Lerch, Neuere Sprachen 40, S. 56 f.

─ Max Deutschbein, Neuenglische Stilistik. S. 240.



S. 224: Jean Paul, Über die deutschen Doppelwörter. Hempelsche Ausgabe.

54. Teil. S. 58. ─ Dazu: Jak. Grimm, Kl. Schr. I, 403 ff. ─ Worthäufungen im

Barock: K. Viëtor, Germ. Rom. Mschr. 14 (1926), S. 148. ─ Hans Pliester: Mnemosyne

7. Bonn 1930.



S. 225: Edm. Husserl: Logische Untersuchungen. 2. Teil. Halle 1901. S. 286 ff.

─ K. Bühler: Vom Wesen der Syntax. Idealistische Neuphilologie. Festschr. f.

Voßler. Heidelberg 1922. S. 54─84. ─ Ders., Krit. Musterung d. neueren Theorien

d. Satzes. Idg. Jb. 6 (1920), S. 1─20. ─ Ders., Über den Begriff der sprachlichen

Darstellung. Psychol. Forschgn. 3, S. 288 ff.



Herm. Wunderlich und Hans Reis: Der deutsche Satzbau. 3. Aufl. 2 Bde. Stuttgart

und Berlin 1924/25. ─ H. Brugmann, Verschiedenheit in der Satzgestaltung

nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den idg. Sprachen. Ber. d. Sächs.

Ges. d. Wiss. Phil.-hist., Kl. 70 (1918).



Eine Vereinigung der vier Betrachtungsweisen bei Wilh. Havers, Handbuch d.

erklärenden Syntax. Heidelberg 1931.



Wortstellung: K. Voßler, Frankreichs Kultur, S. 64 ff., 270 ff. ─ El. Richter:

Grundlinien der Wortstellungslehre. Zs. f. roman. Phil. 40 (1918), S. 10 ff. ─ Eug.

Lerch, Typen der Wortstellung. Idealist. Neuphilologie. Festschr. f. Voßler. Heidelberg

1922. S. 85─106. ─ Karl Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung von

Philologie und Literaturwissenschaft. Berlin 1928. S. 58 ff.



Kleist, Käthchen von Heilbronn. I, 1.



S. 226: Arno Holz, Revolution der Lyrik. Berlin 1899, S. 45 f.



Herm. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte. § 86. 4. Aufl. S. 123 f.



Klopstock, Von der Darstellung. 1771. Ausg. v. Spindler u. Back. Leipzig 1830.

Bd. 16, S. 11.



Bühler; vgl. Anm. zu S. 225.



S. 227: Friedr. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Werke 5, 123. ─ Ähnlich

nennt Stefan George (I, 5) die Beschäftigung mit dem Vers die beste Erziehung

für höhere Prosa. ─ R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. München 1913.

S. 73 ff. ─ Ewald A. Boucke, Associative and apperceptive types of sentence structure.

Journal of Germanic Philology 4 (1902) 389─420.



Daß Kunst für den, der das „dritte Ohr“ hat, in jedem guten Satze steckt, sagt

Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“. 8. Hauptstück 246. Werke VII, 214 f.



Theodor Fontane am 3. März 1881. Briefe, 2. Sammlg. Bd. 2, S. 33. Die Partie

mit den vielen „und“ in „Irrungen ─ Wirrungen“ (Werke 5, S. 131 f.) ist deshalb

doch nicht als impressionistisches Stilgebilde anzusehen, wie Luise Thon (S. 152)
|#f0640 : 616|



annimmt, sondern naturalistische Wiedergabe der Redeweise eines Kindes aus dem

Volke. So heißt es in dem erwähnten Brief: „Je schlichter, je mehr sancta simplicitas,

desto mehr ‚und‘.“



S. 228: Georg Gloege, Novalis' „Heinrich von Ofterdingen“ als Ausdruck seiner

Persönlichkeit. Teutonia 20. ─ Rob. Bräuer: Der Stilwille Mérimées. Genf 1930. ─

Einen Schritt weiter gelangt die inzwischen erschienene Groninger Dissertation von

J. Elema (Stil und poetischer Charakter bei Detlev v. Liliencron. Amsterdam 1937),

in der die einzelnen lyrischen Sammlungen stilistisch analysiert und zum Schluß

das Bild des Menschen und Dichters zusammengeführt wird. ─ Dürftige Beobachtungen

über den Aufbau verschiedener Essais bei W. T. Brewster, Studies in structure

and style. New York 1907.



S. 229: H. Leisegang, Denkformen. Berlin und Leipzig 1928.



Shakespeare als Barockdichter: O. Walzel, Shakespeares dramatische Baukunst.

Jb. d. Shakespeare-Ges. 52 (1916), S. 3─35. Wiederholt: Das Wortkunstwerk.

Leipzig 1926. Dazu: Glunz, Anglia Beibl. 42 (1931), S. 99 ff. ─ Max Deutschbein,

Shakespeares „Macbeth“ als Drama des Barock. Leipzig 1936. ─ Michels, Barockstil

bei Shakespeare und Calderon. Diss. Frankfurt. 1929. Dazu H. Glunz a. a. O. ─

Osk. Boerner, Shakespeare und der Barock. GRM. 25 (1937), S. 363─81.



S. 231: Die von Heinz Werner (Grundfragen der Sprachphysiognomik. Leipzig

1932) begründete experimental-psychologische Untersuchungsweise baut auf Protokollen

des Sprachempfindens auf und berücksichtigt an dichterischem Stil nur die

Sprachphilosophie der Romantik (S. 203). ─ Der Begriff einer physiognomischen

Stilanalyse findet sich auch in der Dissertation von H. Gaitanides über Georg Rudolf

Weckherlin (München 1936).



8. Sechste Stufe: Das Persönliche



S. 233: Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. S. 38 ff.



Ganymedische und prometheische Haltung: Helm. Sudheimer, Der Geniebegriff

des jungen Goethe. Berlin 1935, S. 58 ff.



S. 234: Hofmannswaldau, Die Welt. Kürschners Dt. Nationallit. Bd. 37, S. 86 f.



S. 235: Detlev von Liliencron, Betrunken. Ges. Werke (Berlin 1922), 3, 84.



Fontane, Werke. II, Bd. 7, S. 176.



Rud. Unger, Weltanschauung und Dichtung. Zürich 1917. S. 63. Wiederholt: Gesammelte

Studien. Berlin 1929. Bd. 1, S. 79.



S. 236: Testament Friedr. d. Gr.: G. Kettner. Zschr. f. dt. Phil. 20 (1888), 344 f.



Heinr. Rickert, Goethes Faust. Tübingen 1932. S. 57 ff. ─ H. Wöhlert, Das

Weltbild in Klopstocks Messias. Bausteine 14. Halle 1915. ─ Chr. Junker, Das Weltraumbild

in d. dt. Lyrik von Opitz bis Klopstock. Germ. Std. 111. Berlin 1932.



S. 237: P. Niemeyer: Die Sentenz als poetische Ausdrucksform vorzüglich im

dramatischen Stil. Germ. Stud. 146. Berlin 1934. ─ M. E. Gilbert: Das Gespräch in

Fontanes Gesellschaftsromanen, Palaestra 174. Berlin 1930. ─ Paul Tack, Überrollenmäßige

Sprachgestaltung in d. Tragödie. Wortkunst 6. München 1932. ─ Wilh.

Gemoll, Das Apophthegma. Wien 1924. ─ Fr. H. Mautner, D. Aphorismus als

literar. Gattung. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 27 (1933), S. 132─175. ─ K. Besser,

D. Problematik d. aphorist. Form. Berlin 1935.



Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Kröners Taschenausg. Bd. 1, S. 130.

|#f0641 : 617|



Männling, Arminius Enucleatus. Das ist: Des unvergleichlichen Dan. Casp. v.

Lohenstein herrliche Realia, köstliche Similia, Historische Merkwürdigkeiten, Sententien

etc. aus dessen deutschen Taciti oder Arminii 1. u. 2. Th. zusammengetragen.

Stargard 1708. ─ Ders., Lohensteinius sentensiosus. Breslau 1710.



S. 238: H. Dünnebier, Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach. Zürich 1913.



Julius Petersen, Grimmelshausens Teutscher Held. Euphorion Erg. Heft 17

(1924), S. 1─30. ─ Ders., Gr. als Politiker, Eckart-Jb. 1938.



Gertr. Reitz, D. Gestalt d. Mittlers in Goethes Dichtung. Frankf. Qu. u. F. 3

(1932).



Zum Schluß derEmilia Galotti: E. Ermatinger, Weltanschauung und Dichtung.

Neue Jbb. 31 (1913), S. 202. Dagegen: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft.

Heidelberg 1914. S. 16 Anm. 2. ─ Franz Zinkernagel, Die Katastrophe in

Lessings „Emilia“. Germ. Rom. Mschr. 6 (1914), S. 206─12.



S. 239: Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. S. 204, 226.



Rousseaus „Denkwürdigkeiten“. Schriften von Helfrich Peter Sturz. 1. Sammlg.

Leipzig 1779. S. 129. Anm. u. S. 145─46.



S. 240: Storm an Keller, 9. Dez. 1887. Briefwechsel, hrsg. v. A. Köster. 4. Aufl.

(Berlin 1924), S. 162. ─ Das gleiche Problem, ob man einem Unheilbaren zum Tode

helfen dürfe, hatte vorher Paul Heyse in der Novelle „Auf Tod und Leben“ behandelt;

vgl. Briefwechsel zwischen Heyse u. Storm, hrsg. v. Plotke. München 1918.

Bd. 2. S. 152, 188.



Rudolf Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Ges. Studien. Bd. 1,

S. 155 ff.



S. 241: Vererbung: Wolfg. Kirchbach, Das Problem der Vererbung in Religion,

Literatur und Wissenschaft. Der Freidenker XI., XII. 1903─04. ─ Paul Friedrich:

Das Problem der Vererbung in der deutschen Literatur der Gegenwart. Deutsche

Renaissance 1913, S. 25─32. ─ Harold G. Carlson, The heredity Motif. Germ.

Review XI, 3 (1936). XII, 3 (1937).



S. 242: Todesproblem: Rud. Unger, Herder, Novalis, Kleist. Studien über die

Entwicklung des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur

Romantik. Frankfurt a. M. 1922. ─ Ders., Jean Paul und Novalis. Ges. Studien.

Bd. 2, S. 104─21. ─ Ph. Leibrecht, Z. Todesproblem in d. jüngsten Dichtung.

Lit. Echo 27 (1925), S. 641─44. ─ Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen

Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle 1928. ─ Ernst Benz, Das

Todesproblem in d. stoischen Philosophie. Stuttgart 1929. ─ Fr. Wilh. Wentzlaff-

Eggebert: Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts.

Palaestra 171. Leipzig 1931. ─ Käte Hamburger, Das Todesproblem bei Jean Paul.

Dt. Vjschr. 7 (1929), S. 446─74. ─ Dieselbe: Th. Mann und die Romantik. Eine

problemgeschichtl. Studie. Neue Forschung 15. Berlin 1932, S. 43 ff. ─ Fr. Koch,

Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Schr. d. G. G. 45. Weimar 1932. ─

Joach. Wach, D. Problem d. Todes in d. Philosophie unserer Zeit. Tübingen 1934.

─ F. Nolte: Der Todesbegriff bei Rilke, H. von Hofmannsthal und Th. Mann.

Diss. Heidelberg 1934. ─ Jürgen Petersen: Das Todesproblem bei R. M. Rilke.

Diss. Würzburg 1935. ─ Erna Küllmer, Auffassung und Bedeutung des Todes im

Werke Rilkes. Bochum 1936. ─ J. Betz: Der Tod in der deutschen Dichtung des

Impressionismus. Diss. Tübingen. Würzburg 1937. ─ Fr. Werner, D. Todesproblem

i. d. Werken Th. G. v. Hippels. Hermaea 33. Halle 1938. ─ A. v. Grolmann, Das

Problem von Leben und Tod in der zeitgenöss. Literatur. Zs. f. Deutschkunde 1930,

S. 449─460. ─

|#f0642 : 618|



Paul Kluckbohn, Die Auffassung der Liebe in d. Lit. d. 18. Jh. und in der dt.

Romantik. Halle 1922. ─ G. W. Stern: Die Liebe im deutschen Roman des 17. Jahrhunderts.

Germ. Stud. 120. Berlin 1932. ─ W. Jost, Von Ludwig Tieck zu E. Th.

A. Hoffmann. Stud. z. Entwicklungsgesch. d. romant. Subjektivismus. Dt. Forsch.

4. Frankfurt a. M. 1921.



S. 243: H. Simon, Der magische Idealismus. Heidelberg 1906.



R. Unger, Ges. Studien. Bd. 1, S. 154 f.



9. Siebente Stufe: Geist und Idee



S. 244: P. Panofsky, Idea. Ein Beitr. zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie.

Leipzig und Berlin 1924. ─ Ferd. Weinhandl, Die Metaphysik Goethes.

Berlin 1932. S. 217 ff. ─ Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs

in Goethes Kunstanschauung. Palaestra 211. Leipzig 1937. S. 154. ─



Wilh. Scherer: Poetik. Berlin 1888. S. 212. ─ Wilh. Dilthey, Die Einbildungskraft

des Dichters. Ges. Schr. VI, S. 206 ff. ─



S. 245: Emil Ermatinger, Die Idee im Dichtwerk, Bll. f. dt. Philos. Bd. 2. (1928),

S. 126.



Pierre Audiat, La biographie de l'oeuvre littéraire. Paris 1924.



S. 246: Herm. Aug. Korff, Zur Iphigenie. Zs. f. Deutschkde. 1921, S. 311─16.



10. Synthesen



S. 248: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1914. S. 38.



Stoffgeschichte: Eb. Sauer, Bemerkungen zum Versuch einer Stoffgeschichte.

Euph. 26 (1925), S. 1─9. ─ Ders., Die Verwertung stoffgeschichtlicher Methoden

in der Literaturforschung. Euphorion 29 (1928), S. 222─29. ─ Kurt Bauerhorst,

Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte d. dt. Lit. Berlin 1931.



Formgeschichte: Wilh. Wackernagel, Geschichte des deutschen Hexameters und

Pentameters bis auf Klopstock. 1931. ─ Andr. Heusler, Deutscher und antiker

Vers. Straßburg 1917. ─ K. Voßler, Das deutsche Madrigal. Lit. Forsch. 6. Weimar

1898. ─ E. Brocks, Die sapphische Strophe und ihr Fortleben im lateinischen

Kirchenlied des Mittelalters und in der neueren deutschen Dichtung. Progr. Marienwerder

1890. ─ Heinr. Welti, Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung.

Leipzig 1884. ─ Hub. Tschersig, Das Gasel in der deutschen Dichtung. Bresl. Beitr.

11. Leipzig 1907.



S. 249: Gattungsgeschichte: Jul. Klein: Geschichte des Dramas. 13 Bde. Leipzig

1865─76. ─ Wilh. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. 5 Bde. 2. Aufl.

Halle 1911─16. ─ Rob. Fr. Arnold, Das deutsche Drama. München 1925.



H. H. Borcherdt, Geschichte des Romans und der Novelle in Deutschland.

Bd. 1. Leipzig 1926. ─ H. Mielke, Der deutsche Roman. 4. Aufl. Dresden 1912. ─

I. Dresch, Le roman social en Allemagne. Paris 1913. ─ I. Dunlop, The history of

fiction. 3 Bde. 1814. Dt. Bearb. von F. Liebrecht. 1851.



E. Ermatinger, Die deutsche Lyrik in ihrer geschichtlichen Entwicklung von

Herder bis zur Gegenwart. 2 Bde. Leipzig 1921. ─ Phil. Witkop, Die neuere deutsche

Lyrik. 2 Bde. Leipzig und Berlin. 1910/13. ─ Günther Müller, Geschichte des

deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. München 1925. ─

Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923. (Gesch. d. dt. Lit. nach

Gattungen, hrsg. von Viëtor. Bd. 1 und 3.) ─ Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen

Ballade, Berlin 1936.

|#f0643 : 619|



Technik: Gust. Freytag, Technik des Dramas. 3. Aufl. Leipzig 1876. ─ Rob.

Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934. ─ Wilh. Dibelius, Englische

Romankunst. Die Technik des engl. Romans im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts.

Palaestra 92/98. 2. Aufl. Berlin u. Leipzig 1922. Vgl. auch die zu S. 131 ff.

zitierte Literatur.



Menschendarstellung: W. Dilthey, Ges. Schr. VI, 305. ─ Rud. Unger, Literaturgeschichte

als Problemgeschichte. Ges. Studien Bd. I, S. 158 f. ─ W. Flemming,

D. Auffass. d. Menschen im 17. Jhdt. Dt. Vjschr. 6 (1928), S. 403─46. ─ Joach.

Müller, Vergleich. Studien z. Menschenauffassung und Menschendarstellung Gottfr.

Kellers u. Ad. Stifters. Diss. Leipzig 1930. ─ H. Kindermann, Goethes Menschengestaltung

mit einer Einführung in die Aufgaben d. literarhistor. Anthropologie.

Berlin 1932.



Problemgeschichte: vgl. Anm. zu S. 43.



Ideengeschichte: Hettner und Korff: vgl. Anm. zu S. 43 und 45.



VIERTER HAUPTTEIL: DEUTUNG UND WERTUNG



1. Das Verstehen



S. 250: Motto: Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Berlin 1923. S. 77.



Theod. Birt, Kritik und Hermeneutik. Handb. d. klass. Altertumswiss. I, 33

(1913), S. 9 ff.



Goethe, Dichtung und Wahrheit. 12. Buch. Weimarer Ausg. I, 28, S. 101 f. ─

„Erkennen von innen“ war W. Sombarts Definition des Verstehens bei der methodologischen

Debatte auf dem Züricher Soziologenkongreß 1928. Schr. d. dt. Ges.

f. Soziologie 6, S. 208 ff. ─ Herm. Paul, Methodenlehre. § 14. Grundriß d. germ.

Phil. 2. Aufl. (Straßburg 1901), Bd. 1, S. 178 f.



S. 251: Raabe, Sämtl. Werke. II, 6, S. 90.



S. 252: Pierre Audiat (vgl. Anm. zu S. 245), S. 43. ─ E. G. Kolbenheyer,

Die Bauhütte, S. 11.



S. 253: Paul Th. Hoffmann, Der mittelalterliche Mensch. Gotha 1922. ─ Wilh.

Worringer, Formprobleme der Gotik. München 1911. ─ Karl Scheffler, Der Geist

der Gotik. Leipzig 1917. ─ Max Wieser, Der sentimentale Mensch. Gotha 1924.

Vgl. auch Anm. zu S. 198.



S. 254: Wilh. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik. Festschr. für Sigwart.

Tübingen 1900. Ges. Schr. V, S. 317 ff. ─ Ders., Ausdruck und Verstehen. Ges.

Schr. VII, S. 191 ff. ─ Er. Rothacker, Mitteil. d. Verbandes d. dt. Hochschulen 5,

2, S. 22 ff. ─ W. Blumenfeld, Verstehen und Deuten. Jb. f. Philologie 3, S. 18 ff.;

101 ff.; 145 ff. ─ O. Kraus, Geisteswissenschaft und Psychologie. Euph. 28 (1927),

S. 511 ff. ─ Wolfg. Erxleben, Erlebnis, Verstehen und geschichtliche Wahrheit.

Berlin 1937. ─ Ed. Spranger, Zur Theorie des Verstehens. Festschr. für Volkelt.

1918. S. 283. ─ Mart. Heidegger, Sein und Zeit. 2. Aufl. Halle 1929. S. 148. 160.

─ L. F. Clauß, D. Verstehen d. sprachl. Kunstwerke. Festschr. f. Husserl. Halle

1929, S. 53─69. ─ Joach. Wach, Das Verstehen. Grundzüge e. Gesch. d. hermeneutischen

Theorie im 19. Jh. 3 Bde. Tübingen 1926/29/31. ─ Emil Ermatinger, Erklärung

von Gedichten. Zs. f. Deutschkunde 44, 1930, S. 748─762. ─



S. 256: Fr. Schlegel, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. von Minor. II, S. 306.



S. 257: Hans R. G. Günther: Das Problem des Sichselbstverstehens. Berlin 1934.

S. 39.

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2. Die Wertung



S. 258: M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 148. ─ H. Gomperz: Über Sinn und

Sinngebilde. Verstehen und Erklären. Tübingen 1929. S. 29 f., 36.



Fr. Glaeser, Der pädagogische Aufbau des Verstehens. Neue Jbb. f. Wiss. und

Jugendbildg. 6 (1930).



S. 259: Stefan George zu Cyrill Scott: Neue Schweizer Rundschau. Dez. 1931.



Herm. Ammann: Die menschliche Rede. Bd. 1, S. 51.



Goethe zu Eckermann, 6. Mai 1827.



S. 260: Fr. Schlegel, Prosaische Jugendschr.; hrsg. v. Minor. Bd. 2, S. 393. ─

Über Rilkes Duineser Elegien: Heinrich Cämmerer. Stuttgart 1937. ─ Arn. Trapp.

Gießen 1933. ─ Werner Wolf. Heidelberg 1937. ─ H. Klein, Dichtg. u. Volkstum

40 (1938), S. 298─314.



Goethe an Heinrich Meyer: Otto Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse u. Excurse

zu seiner Entstehungsgeschichte. Berlin 1899. S. 267, Nr. 900. ─



S. 261: Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 16. Brief. Säk.-

Ausg. 12, 60 ff.



S. 263: Nic. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933. S. 425, 436.



3. Wandel der Werte



S. 264: Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Elementarlehre. 2. T. 1. Buch.

1. Abschn. Von den Ideen überhaupt.



J. Petersen, Grimmelshausens „Teutscher Held“. Euph. Erg.-H. 17. (1924),

S. 1─30. ─ Ders., Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und

Dichtung. Stuttgart 1934. S. 207.



S. 267: M. Heidegger, Sein und Zeit. S. 126 f.



Sterne: Lessing an Nicolai, 5. Juli 1768. Ausg. von Lachmann-Muncker, Bd. 17,

S. 255. ─ Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Akademie-Ausg. I, 11, S. 113. ─

Goethes Maximen und Reflexionen. Schr. d. G. G. 21, S. 170. ─



S. 268: Kolbenheyer, Die Bauhütte. München 1925, S. 296. ─ Dagegen hat Rud.

Kaßner (Narziß oder Mythus u. Einbildungskraft. Leipzig 1928, S. 99) noch den

Tristram Shandy als ein wahrhaft ewiges Buch bezeichnet und erzählt, daß Houston

Stewart Chamberlain das Buch jedes Jahr einmal gelesen habe. (Buch der Erinnerung,

1938, S. 153).



S. 269: Mor. Enzinger, Grillparzers Gedichte und das bayrische Erbe. Euph. 23,

S. 271─87; 389─407.



Wilh. Pinder, Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas.

Berlin 1926. S. 119.



4. Wertmaßstäbe



S. 270: Erst nach Druck des Textes erschien das Buch von Leonh. Beriger, Die

literarische Wertung (Halle 1938), das außer jenen ästhetischen Gesichtspunkten,

die bei mir schon im dritten Hauptteil vorweggenommen sind, vier außerästhetische

Kategorien der Wertung nebeneinanderstellt, nämlich die weltanschauliche, ethische,

religiöse und nationale. Auf der anderen Seite sind entsprechend der Lehre Ermatingers,

auf der B.s Buch beruht, Idee und Symbol als Hauptbegriffe der Literaturwissenschaft

betrachtet. Ihnen entspricht in meiner Aufstellung Echtheit und
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Sinnbildhaftigkeit, während die Weltanschauung sowohl unter den Gesichtspunkt

der Echtheit als der Größe fällt. Es sind also in etwas anderer Anordnung dieselben

Kategorien der Wertung beidemal vertreten.



Eine wesentlich andere Aufstellung der „Normen der Poesie“ brachte Elster

(Prinzipien d. Literaturwissenschaft Bd. 1. Halle 1897, S. 55 ff.). Die Normen der

„Neuheit des Gefühlsgehaltes“ (Nr. 2), der „Abwechslung und der Kontraststeigerung“

(Nr. 3), der „Harmonie des Gefühlsgehaltes“ (Nr. 4) und der „poetischen

Abtönung des Gefühls“ (Nr. 5) sind in unserem Schema unter der ästhetischen

Echtheit zu suchen.



Auch die drei Forderungen, die Rud. Lehmanns „Poetik“ (2. Aufl., München

1919, S. 71 ff.) aus der Intention des Dichters und ihrer Erfüllung herleitet, nämlich:

1. Stimmung, 2. innere Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, 3. anschaulich

bildende Kraft fallen unter den Gesichtspunkt der ästhetischen Echtheit, wenn

man nicht die erste der Sinnbildhaftigkeit, die dritte der Größe zusprechen will.



S. 271: Echtheit: deckt sich ungefähr mit dem Begriff des „Wirklichen“, den

René König in die Wertmaßstäbe einer Künstlerästhetik, für die er normative Geltung

beansprucht, einführen möchte. Ztschr. f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 27 (1933),

S. 24.



S. 274: Auch Kolbenheyer, der zu den Überwindern des Expressionismus zählen

darf, gibt zu, daß „etliche seiner Vertreter ein Pathos zur Schau tragen konnten,

das nicht unehrlich gewesen zu sein braucht“. (Bauhütte, S. 18.)



S. 275: Hebbels Tagebücher, 29. März 1837. Bd. 1, S. 163.



Ferd. Weinhandl, Üb. d. aufschließende Symbol. Berlin 1929.



S. 276: Caroline, hrsg. v. Er. Schmidt, Leipzig, 1913, Bd. 2, S. 55.



ZWEITES BUCH: DER DICHTER

ERSTER HAUPTTEIL: DAS LEBEN



1. Grundsätzliches



S. 277: Motto: Westöstlicher Divan. Buch des Sängers. Jub.-Ausg. Bd. 5. S. 13.



Antinomie: E. Platzhoff-Lejeune, Werk und Persönlichkeit. Zu e. Theorie d.

Biographie. Minden 1903. ─ Dazu H. Leisegang, Die philosophische Biographie,

Euph. 31 (1930), S. 329─62. ─ Th. Thienemann, Entscheidungen. Helicon 1 (1938),

S. 83 ff.



Mann und Werk: Harry Maync, Immermann. Der Mann und sein Werk im

Rahmen der Zeit- und Literaturgeschichte. München 1920. ─ Ders., D. v. Liliencron.

Eine Charakteristik des Dichters und seiner Dichtungen. Berlin 1920.



J. Huizinga, Wege der Kulturgeschichte. München 1930, S. 16.



S. 278: Jos. Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Euph. 21

(1914), S. 40 ff.



Ben. Croce, Ariost, Shakespeare, Corneille. Dt. Übers. Leipzig 1922. S. 111.



S. 279: Hebbel und Uhland: R. M. Werner, Hebbel. 2. Aufl. Berlin 1918. S. 97 f.



Heinr. v. Kleist an Fouqué, 25. April 1811. Werke, hrsg. v. G. Minde-Pouet.

Bd. 2, S. 259 f.



Fr. Schlegel über Lessing: Prosaische Jugendschr. Hrsg. v. Minor. Bd. 2, S. 151.

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S. 280: Dilthey, Ges. Schr. Bd. I, S. 33 f.; Bd. 7, S. 246.



Pierre Audiat, La biographie de l'oeuvre littéraire. Paris 1924.



E. Hennequin, La critique scientifique. Paris 1888. ─ P. Lacombe, Introduction

à l'histoire littéraire. Paris 1898. ─ Paulhan, Psychologie de l'invention. 2. éd.

Paris 1911. ─ L. Paschal, Esthétique nouvelle fondée sur la psychologie du génie.

1910.



S. 281: Wilh. Scherer: Erich Schmidt, Die literarische Persönlichkeit. Berliner

Rektoratsrede 1909. S. 20.



S. 282: E. G. Kolbenheyer: Die Bauhütte. S. 28.



Rilke an Lou Andreas-Salomé 11. 8. 1903. Briefe aus den Jahren 1903─06.

Leipzig 1930. S. 120.



Kurt K. T. Wais: Das Motiv des Vergangenen in der neueren Literatur. Dt.

Vjs. 10 (1932), S. 270─334.



2. Ererbtes



S. 284: W. Hellpach: Das fränkische Gesicht. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad.

d. Wiss. Math.-naturwiss. Kl. Abt. B. 1921. Nr. 2. ─ Ders., Zur Physiognomik der

deutschen Volksstämme. Ebda. 1925. ─ Ders., Dritte Mitteil. z. Statik u. Dynamik

d. dt. Stammesphysiognomien. Ebda. 1931, Nr. 7. ─ Ernst Kretschmer: Körperbau

und Charakter. Berlin 1921.



Rassisch geschaute Landschaften: H. F. K. Günther: Rasse und Stil. München

1926. S. 41.



S. 286: Herm. Rollett: Die Goethe-Bildnisse biographisch-kunstgeschichtlich dargestellt.

Wien 1883. ─ Dazu Friedr. Zarncke, Abhandl. d. Kgl. Sächs. Ges. d.

Wiss. 11. Leipzig 1888. ─ Ders., Goethe-Schriften. Leipzig 1897. ─ Ernst Schulte-

Strathaus: Die Bildnisse Goethes. 1. Suppl. d. Propyläen-Ausg. München 1910. ─

Otto v. Güntter: Friedr. Schiller. Sein Leben und seine Dichtungen. Mit 701 Abb.

Leipzig 1925. ─ Gust. Koennecke: Schiller. Eine Biographie in Bildern. Marburg

1905. ─ Ders., Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. 2. Aufl.

Marburg 1895. ─ Dazu Gust. Roethe, Anz. f. dt. Altert. 26 (1908), S. 1─29.



S. 287: H. Welcker: Schillers Schädel und Totenmaske. Nebst Mitteilungen

über Schädel und Totenmaske Kants. Braunschweig 1883. ─ Ders., Zur Kritik des

Schiller-Schädels. Beitrag zur kraniologischen Diagnostik. Archiv f. Anthropologie

17, 19. ─ Aug. v. Froriep: Der Schädel Friedrich von Schillers und des Dichters

Begräbnisstätte. Leipzig 1913. ─ A. v. Bradish, Schillers Schädel (Veröff. d. Verbandes

dt. Schriftst. und Literaturfreunde in New York 2), Leipzig 1932.



O. Hauser, Rasse und Kultur. Braunschweig 1924. S. 195. ─ Günther: Rasse

und Stil. S. 85.



Kleists Maske: Jb. d. Kleist-Ges. 1 (1922), S. 67, 2 (1923), S. 91─97, 9/10

(1928), S. 149─61. ─ Inzwischen sind zwei ausdrucksvollere Gemälde zum Vorschein

gekommen, über deren Echtheit noch die Untersuchung schwebt. Das eine

wird von Paul Hoffmann ohne Beglaubigung Gerh. v. Kügelgen zugeschrieben,

während Hellm. Meyer an der Signatur eines unbekannten Malers Walbner festhält

(D. A. Z. 19. Juni 1938, Nr. 281); Jb. d. Kleist-Ges. 1938/39.



S. 288: W. Scheidt u. H. Wriede: Die Elbinsel Finkenwärder. München 1927.



Wilh. Fehse: Wilhelm Raabe. Sein Leben und seine Werke. Braunschweig 1937.

S. 32─36. ─

|#f0647 : 623|



S. 289: Siegfr. Kadner, Rasse und Humor. München 1936, S. 37, 59.



A. Reibmayr: Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies. 2 Bde.

München 1908. ─ Ernst Kretschmer: Geniale Menschen. 2. Aufl. Berlin 1931,

S. 71 f., 98 ff., 102 ff.



Gust. Egli, E. T. A. Hoffmann. Ewigkeit und Endlichkeit in s. Werk. Wege z.

Dichtung 2. Zürich und Leipzig 1927. ─ Herm. Hoffmann, Charakterforschung und

Vererbungslehre. Jb. d. Charakterologie 4 (1927), S. 345.



S. 290: Bernh. Fehr, Die engl. Lit. d. 19. u. 20. Jh. Berlin-Neubabelsberg 1923,

S. 171, 216 ff.



Jos. Nadler, Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde. Dichtung u. Volkstum 35

(1934), S. 14. ─ Ders.: Die Berliner Romantik 1810─1814. Berlin 1921. ─ Der

gleiche Gedanke schon vorher bei Gust. Roethe, Romantiker des deutschen Nordostens.

Jb. d. Freien Dt. Hochstifts. 1910. S. 147─86. ─ Jul. Petersen: Wesensbestimmung

der deutschen Romantik. 1926. S. 18 ff. ─ Kretschmer: vgl. Anm. zu

S. 289. ─ H. O. Burger, Die rassischen Kräfte im dt. Schrifttum. Zs. f. Deutschkunde

48, 1934, S. 462─476. ─



Edwin H. Zeydel: Ludwig Tieck. The German Romanticist. Princeton 1935,

S. 3 f. ─ H. Lüdeke, Dt. Lit. Ztg. 1938, Sp. 440.



S. 291: H. St. Chamberlain, Goethe. München 1912, S. 691. ─ O. v. Brentano

di Tremezzo, Frankf. Bll. f. Familiengeschichte, Jb. 6 (1913). ─ P. A. v. Brentano

di Tremezzo, Stammreihen d. Br. mit Abriß d. Familiengeschichte. Bad Reichenhall

1933.



Aug. Sauer, Epitymbion f. Heinr. Swoboda, Reichenberg 1927, S. 1─15. ─

Fernand Baldensperger, La littérature, Création, succés, durée. Paris 1919. S. 150.



Ludw. Finckh, Ahnenbüchlein. Stuttg. 1921. ─ Ders., Der Ahnengarten. Stuttgart

und Berlin 1922.



Paul Ammann, Th. Fontane u. s. französ. Erbe. Euph. 21 (1914), S. 270─87;

623─53; 790─815. ─ Ursula Wiscott, Französische Wesenszüge in Th. Fontanes

Persönlichkeit und Werk. Palaestra 213. Leipzig 1938.



S. 292: Rob. Sommer: Goethe im Lichte der Vererbungslehre. Leipzig 1908.

─ Nils Hansen: Ein Tropfen Türkenblut in Goethes Adern. Jb. d. Sammlg. Kippenberg

7 (1927/28), S. 303─11. ─ Walt. Rauschenberger: Goethes Charakter und

Abstammung. Die Sonne 3 (1926), S. 410─21. ─ Ders., Goethes Abstammung

und Rassenmerkmale. Leipzig o. J. (1932). ─ J. A. v. Bradish, Goethe als Erbe

seiner Ahnen, New York 1933.



Ernst Lewy, Zur Sprache des alten Goethe. Berlin 1932. ─ Ders., Die Sprache

des alten Goethe und die Möglichkeit ihrer biologischen Fundamentierung. Zs. f.

Sexualwiss. 17 (1939), S. 36─42. ─ Wenn wirklich an Zusammenhängen mit türkischer

Sprachstruktur etwas wäre, so käme fast noch eher in Betracht, daß einer

der Sprachlehrer des Knaben Goethe, Johann Gottlieb Scherbius, einen Türken

zum Vater hatte. (El. Mentzel, Wolfg. u. Cornelia Goethes Lehrer, Leipzig 1909,

S. 118 ff.)



Karl Knetsch, Goethes Ahnen. Leipzig 1908. S. 38. ─ Ders., Ahnentafel Johann

Wolfgang Goethes. Leipzig 1932. ─ Th. A. Schröder, Karl der Große ─ Widukind

─ Goethe. Goethe. Vierteljahresschr. d. Goethe-Ges. 1 (1936), S. 320. ─ W. Tröge,

Goethes Ahnentafel in landschaftlicher und ständischer Gliederung. Ebda. 2 (1937),

S. 244─59.

|#f0648 : 624|



S. 293: Nadlers Litgesch. s. Anm. zu S. 43. Dazu die Kritiken von Lusser (Hochland

21, Heft 8), Korff (Zs. f. Deutschkde. 1920, S. 401─08), J. Körner (Dt. Rundschau

180, S. 466─68), O. Walzel (Zs. f. Bücherfreunde 1922, N. F. 14, S. 8─20)

und die grundsätzlichen Erörterungen von Herm. Gumbel, Das Elsaß als „geistige“

Landschaft im Zeitraum vor der Reformation. Elsaß. Lothring. Jb. 7 (1928), S. 9 bis

35. ─ Ders., Dichtung und Volkstum. In Ermatingers Philos. d. Litwiss. Berlin

1930. S. 43─91. ─ Franz Koch, Zur Begründung stammesgeschichtlicher Literaturgeschichte.

Preuß. Jb. Nov. 1926. ─ Ders., Stammeskundliche Literaturgeschichte.

Dt. Vjs. 8 (1930), S. 142─97. ─ Walt. Muschg, Jos. Nadlers deutsche Literaturgeschichte.

Sonderabdr. aus d. Basler Nachr. Nr. 359 vom 31. 12. 1937. ─ Gis. v.

Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. Betrachtungen zu Nadlers Litgesch.

Dt. Vjs. 16 (1938), S. 258─92.



Jos. Nadler: Die literarhistorischen Erkenntnismittel des Stammesproblems.

Schr. d. Ges. f. Soziologie. Bd. 7 (1931), S. 242─57. ─ Ders., Das Schrifttum als

geistiger Raum der Nation. München 1927. ─ Ders.: Stamm und Landschaft in der

deutschen Dichtung. Neophilologus 21 (1936), S. 81─92. ─ Ders., Das stammhafte

Gefüge des deutschen Volkes. München 1934.



S. 295: P. P. Albert: Die Schiller von Herdern. Freiburg 1905. ─ Gottfr.

Maier, Württemberg. Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Jg. 1905. ─ Rich.

Weltrich, Friedrich Schiller. Stuttgart 1899. S. 16. ─ Ders., Schillers Ahnen.

E. familiengeschichtliche Untersuchung. Weimar 1907. ─ Da sich die mütterliche

Familie Kodweiß (Kottwitz) auf polnischen Ursprung zurückgeführt haben soll,

wollte Rob. Sommer (Die Familie von Schillers Mutter, Bericht über den 2. Kurs

mit Kongreß der Familienforschung, Vererbungs- und Regenerationslehre in Gießen

1912) einen slawischen Blutsanteil auch in der Physiognomie Schillers erkennen.

─ Neuerdings hat Herm. Gumbel (Dt. Vjschr. 9, S. 514 ff.) das typisch Schwäbische

herausgearbeitet.



Er. Schmidt, Lessing. 4. Aufl. (Berlin 1923), Bd. 1, S. 4. ─ A. Buchholtz, Die

Geschichte der Familie Lessing. Bd. 1. Berlin 1909, S. 3 ff. ─ J. Nadler, Litg. d.

dt. Stämme u. Landsch. Bd. 2 (1913), S. 314. In der Neubarbeitung (Literaturgeschichte

des deutschen Volkes. Berlin 1938), Bd. 2, S. 66. ─



S. 296: A. Sauer, Genealog. Studien (Anm. zu S. 291), S. 6.



Kurt Gerlach, Begabung und Stammesherkunft im deutschen Volke. München

1929. ─ Wilh. Karl Prinz von Isenburg, Genie und Landschaft im europäischen

Raum. Berlin 1936.



Willy Hellpach, Geopsyche. Leipzig 1935. (Die drei vorausgehenden Auflagen

trugen den Titel: Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima und Landschaft

in ihrem Einfluß auf das Seelenleben.)



S. 297: Paul Kammerer, Neuvererbung oder Vererbung erworbener Eigenschaften.

Erbliche Belastung und Entlastung. Stuttgart 1924.



Friedr. Gundolf, George. Berlin 1920. S. 38, 45.



S. 298: Carus, Psyche. Kröners Taschenausgabe Bd. 98, S. 48, 161.



Ewald Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten

Materie. 2. Aufl. Wien 1876. ─ Rich. Semon, Die Mneme als erhaltendes

Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig 1904. ─ Emil Lucka, Die

Phantasie. Wien und Leipzig 1908. S. 46. ─ Ludw. Klages, Grundlagen der Charakterkunde.

7. und 8. Aufl. Leipzig 1936. S. 64.



Wilhelm Jordan, Andachten. Frankfurt a. M. 1877. S. 40.

|#f0649 : 625|



W. Muschg, Gotthelf. S. 20. ─ Konr. Eilers, Hermann Löns als Mensch und

als Dichter. Jb. f. Charakterologie. Bd. 4 (1927). S. 387. ─ Léon Paschal,

Esthétique nouvelle fondée sur la psychologie du génie. Paris 1910. S. 110 f. ─

Einen ähnlichen Ausspruch wie den Flauberts berichtet Sulp. Boissérée von Goethe:

er habe gewiß schon einmal unter Kaiser Hadrian gelebt; alles Römische ziehe ihn

unwillkürlich an. (11. Aug. 1815; v. Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. Bd. 2,

S. 325.)



Fritz Lenz, Die Erblichkeit der geistigen Begabung. In: Menschliche Erblehre.

Hrsg. von Baur, Fischer, Lenz. 3. Aufl. München 1927. S. 473, 477. Vgl. auch

F. Galton, Hereditary Genius. London 1869. Dt. Ausg.: Genie und Vererbung.

Leipzig 1910. ─ Fr. Reinöhl, D. Vererbung d. geist. Begabung. München-Berlin

1937. ─ Ludw. Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften. 3 Bde. München

1928─31. ─



S. 299: Hermann Claudius, Matthias Claudius. Stuttgart 1938. ─ Lulu v. Strauß

und Torney, Vom Biedermeier zur Bismarckzeit. Jena 1933. ─ Dies., Ihres Vaters

Tochter, Berlin 1905. ─ Viktor v. Strauß, Bilder und Töne aus der Zeit. I. Das

Erbe der Väter. Bielefeld 1850.



Zacharias Werner, Martin Luther oder die Weihe der Kraft. II, 1. Sämtl. Werke

Bd. 6, S. 60.



S. 300: Über Hebbels Herkunft: Erwin Freitag in der Zeitschr. „Dithmarschen“,

Heide 1933, und in der „Ztschr. f. niedersächs. Familienkunde“, Hamburg 1939. ─



Lessings Selbstbetrachtung. Werke, hrsg. von Petersen u. v. Olshausen. Bd. 25,

S. 155. ─ Jakob Grimm, Kl. Schriften I, S. 163.



Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. 4. Aufl. Berlin 1925. S. 185 ff.

─ Ders., Geniale Menschen. 2. Aufl. S. 60. ─ Dazu G. Ewald, Temperament und

Charakter. Berlin 1924. S. 59 ff. ─ Osw. Kroh, Experimentelle Beiträge zur Typenkunde.

14. Ergh. d. Zs. f. Psychologie. 1928.



S. 301: E. R. Jaensch, Studien zur Psychologie menschl. Typen. Leipzig 1930,

S. VIII.



S. 302: W. Peters, Die Vererbung geistiger Eigenschaften und die psychische

Konstitution. Leipzig 1915. ─ Herm. Hoffmann, Vererbung und Seelenleben. Einführung

in d. psychiatr. Konstitutions- und Vererbungslehre, Berlin 1922. ─ Ders.,

Über Temperamentsvererbung. München 1923. ─ Ders., Das Problem des Charakteraufbaus.

Seine Gestaltung durch die erbbiolog. Persönlichkeitsanalyse. Berlin

1926.



Gerh. Pfahler, System der Typenlehren. Leipzig 1929. ─ Ders., Vererbung als

Schicksal. Eine Charakterkunde. Leipzig 1932. ─ Ders., Erbcharakterologie und

Jaenschsche Integrationstypologie. Zs. f. Psychol. 128 (1933), S. 355─390. ─

O. Kroh, Psycholog. Vererbungsfragen. Psychologie d. Gemeinschaftslebens. Bericht

über den 14. Kongreß d. Dt. Ges. für Psychologie. Jena 1935, S. 65─91.



S. 303: O. Feis, Studien üb. d. Genealogie u. Psychologie d. Musiker. Wiesbaden

1910. ─ V. Haecker u. Th. Ziehen, Zur Vererbung u. Entwickl. d. musikal. Begabung.

Leipzig 1923. ─ J. A. Mjöen, Zur Erbanlage d. musikal. Begabung. Hereditas

7 (1925). ─ H. Koch u. H. Mjöen, D. Erblichkeit d. Musikalität. Zschr. f.

Psychol. 99 (1926), S. 16─73; 121 (1931), S. 104─306; 128 (1933), S. 241─256.



S. 304: Sab. Lepsius, Stefan George. Berlin 1935, S. 86. ─ A. Schopenhauer,

Die Welt als Wille u. Vorstellung. Bd. 2. Kap. 43. Frauenstedts Ausgabe 2. Aufl.

Bd. 3, S. 597 ff. ─ Dazu Lenz a. a. O. S. 497. ─ Sainte-Beuve: André Morize,

Problems and methods of liteary history. Boston 1922, S. 217.

|#f0650 : 626|



Hanns Wolfg. Rath, Regina, die schwäbische Geistesmutter. Ludwigsburg und

Leipzig 1927. ─ Dazu einschränkend Fr. Reinöhl, Die Vererbung d. geistigen Begabung.

München und Berlin 1937, S. 80.



Goethes Ahnen: vgl. Anm. z. S. 292.



Untersuchung der Ahnentafel schweizerischer Dichter bei C. v. Behr-Pinnow,

D. Vererbung bei d. Dichtern A. Bitzius, C. F. Meyer, G. Keller, Arch. d. Jul.-

Klaus-Stiftung 10. Zürich 1935.



Ina Seidel, Dichter, Volkstum und Sprache. Stuttgart und Berlin 1934, S. 83.



Helm. v. Chézy, Unvergessenes. 2 Bde. Leipzig 1858. ─ Wilh. v. Chézy, Helmina

und ihre Söhne. Schaffhausen 1863. ─ Familie Brentano: vgl. Anm. zu S. 291.



S. 305: Goethe, Anm. zu Rameaus Neffe. Jub.-Ausg. 34, S. 195. ─ Eckermann,

27. Jan. 1824. ─ Christ. Morgenstern, Stufen. München 1918, S. 49.



Genie und Krankheit: H. Baisch, Wahrsinn od. Wahnsinn des Genius? Sinn und

Grenzen der pathograph. u. psychograph. Methodik i. d. Anthropologie des Genius.

(Zschr. f. angewandte Psychol. u. Charakterkunde, Beiheft 85.) Diss. Bonn 1939.

─ A. E. Hoche, Die Geisteskranken in der Dichtung. München 1919.



3. Lebensgang und Schicksal



S. 306: W. Muschg in Ermatingers „Philosophie der Literaturwissesnchaft“,

S. 305.



S. 307: Zur Methodenlehre der Biographik vgl. Ludw. Stein, Biograph. Blätter,

hrsg. v. A. Bettelheim I (1895), S. 22─39. ─ Rich. Weltrich, Schiller, Bd. 1 (Stuttgart

1899), S. 9─13. ─ Sidney Lee, Principles of Biography. Cambridge 1911. ─

Gust. Lansons Vorrede zu Hommes et livres, Paris 1895. ─ Sainte-Beuve, Nouveaux

lundis. Vol. III. Paris 1865. S. 15 ff.



Wilh. Bode. Goethes Leben. Fortgeführt von Valerian Tornius. Berlin 1919 ff.

Bode selbst war bei seinem 1923 erfolgten Tode bis zum 7. Bande gelangt. Der

1926 erschienene Band 9 reicht erst bis zum „Bund mit Schiller“.



Chr. M. Wieland. Akademie-Ausg. I 21, S. 203.



Flod. Frhr. von Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. 5 Bde. Leipzig 1909.

─ Ders., Chronik von Goethes Leben. Leipzig 1931.



Ernst Müller, Regesten zu Friedrich Schillers Leben und Werken. Leipzig 1900.



Schillers Persönlichkeit, hsg. von Max Hecker und Julius Petersen. 3 Bände.

Weimar 1905─1910.



S. 308: Benedetto Croce, Putignano in terra di Bari e il maestro d'Italiano

di Volfango Goethe (Domenico Giovinazzi). Abdr. aus La Critica 35. Bari 1938.



S. 309: E. Elster, Zu Heines Biographie. Vjschr. f. Litg. 3 (1891). S. 465─508.

─ K. Em. Franzos, Heines Geburtstag. Berlin 1900.



Konr. Burdach, Walther v. d. Vogelweide. Bd. 1 (1900), S. 39, 55 ff. ─ Edw.

Schröder, Walthers Pelzrock. Nachr. d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist.

Kl. 1932, S. 260─270.



Gust. Könnecke, Quellen u. Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens.

2 Bde., hsg. v. J. H. Scholte, Weimar 1926. ─ Jul. Petersen, H. Jak. Chr. v. Grimmelshausen.

In: Die großen Deutschen, hsg. v. W. Andreas und W. v. Scholz, Berlin

1935, S. 579─605. ─ Ders., Grimmelshausens Eltern. Mein Heimatland 25 (1938),

S. 170 ff.

|#f0651 : 627|



S. 311: Posthume Gesamtausgabe: J. H. Scholte, Probleme der Grimmelshausenforschung,

Groningen 1912, S. 96 ff.



Arth. Hübner, Wahrheit und Dichtung im Mittelalter. Sitzungsb. d. Preuß. Ak.

d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1933, S. 1026. ─ Friedr. Neumann, Hohe Minne. Zs. f.

Deutschk. 39 (1925), S. 81─91. ─



R. M. Meyer, Goethes Leben aus seinen Gedichten. Goethe-Jb. 28 (1907),

S. 134─38.



S. 312: Breidenbach, Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers. Frankfurt

und Leipzig 1775.



Briefe an Merck: Alb. Köster, Goethe-Jb. 29 (1908), S. 58. ─ F. Hunziker,

Glattfelden und Gottfr. Kellers Grüner Heinrich. Zürich 1911. ─ Muschg, Gotthelf.

S. 28 ff. ─ Ders., Dichterporträt (Ermatingers Philos. d. Litwiss.), S. 307.



S. 313: Mor. Hartmann, Eine Vermutung. Freya. Stuttgart 1861, S. 105. ─ Norb.

v. Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis. München 1936, S. 176 ff. ─ Wilh. Böhm,

Hölderlin. Bd. 2 (Halle 1930). S. 651 f.



Gust. Roethe, „Dichtung und Wahrheit“. Berichte des Freien Deutschen Hochstifts

N. F. 17 (1901), S. 1─25. ─ Karl Alt, Studien zur Entstehungsgeschichte

von Goethes Dichtung und Wahrheit. München 1898; dazu A. Köster, Anz. f. dt.

Altertum 1899, S. 68 f. ─ Kurt Jahn, Goethes Dichtung u. Wahrheit. Vorgeschichte

─ Entstehung ─ Kritik ─ Analyse. Halle 1908. ─ Ders., Schemata zur Fortsetzung

von Dichtung und Wahrheit. Goethe-Jb. 28 (1907), S. 6─19.



S. 314: Jos. Bédier, Chateaubriand en Amérique. Revue de l'histoire litteraire

de la France 1899/1900.



S. 315: Wolfg. C. Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin

1931, S. 18. ─ Ruppiner Kreiskalender XI (1920), S. 46 f.



Al. Brandl, Die Lehre vom dichterischen Erlebnis, angewendet auf die englische

Literaturgeschichte. Sitzungsb. d. Preuß. Ak. d. Wiss. 1930, S. 286. ─ V. Koskenniemi,

Gaben des Glücks, S. 13.



Gust. Flaubert, Oeuvres complètes. Bd. 9, S. 161.



S. 316: Goethe, Ital. Reise, 19. Sept. 1786. Jub.-Ausg. 26, 55. ─ Westöstl. Diwan,

W. A. I, S. 218.



Goethe, Wiederholte Spiegelungen, Jub.-Ausg. 25, 221 f. ─ Maximen und Reflexionen,

391. Schr. d. G. Ges. 21, S. 76.



S. 318: Novalis, Schriften, hrsg. v. P. Kluckhohn, Bd. 2, S. 299.



Rilke, Stundenbuch. Ges. Werke, Bd. 2, S. 273.



Ed. Berend, Jean Pauls Persönlichkeit. München 1913, S. 162.



P. J. Moebius, Goethe. 1. Teil. Ausgew. Werke Bd. 2, Leipzig 1903, S. 209 bis

227. ─ Herm. Swoboda, Das Siebenjahr. Untersuchungen ü. d. zeitl. Gesetzmäßigkeit

des Menschenlebens. Bd. 1, Wien 1917, S. 317 ff. ─ Wilh. Fließ, Zur Periodenlehre.

Jena 1925. ─ Ernst Kretschmer, Geniale Menschen. 2. Aufl. Berlin 1931,

S. 113─126. ─ W. Hellpach, Geopsyche. 4. Aufl. Leipzig 1935, S. 180─82.



S. 319: Wiederholte Pubertät: Goethe zu Eckermann, 11. März 1828. Houbens

Ausg., S. 538.



Jean Paul, Titan, 20. und 23. Zykel. Ak. Ausg. I 8, S. 93.



S. 320: Ludw. Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde. 7. und 8. Aufl.

Leipzig 1936, S. 85.



S. 322: Goethe, Allg. Betrachtungen zur Farbenlehre. Hist. Teil 5. Abt. W.

A. II, 3, S. 244.

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4. Anpassung und Beeinflussung



S. 323: E. Dutoit, Die Theorie des Milieu. Bern 1899. ─ Jul. Zeitler, Die Kunstphilosophie

des H. Taine. Leipzig 1901. ─ J. Wurm, Die Kunstanschauungen von

Henri Beyle-Stendhal. Diss. Berlin 1918.



Jakob Baron v. Uexküll, Bausteine zu einer biolog. Weltanschauung, hsg. v. Fel.

Groß. München 1913. ─ H. Petersen, D. Eigenwelt d. Menschen. Leipzig 1937.



S. 324: Gerh. Pfahler, Warum Erziehung trotz Vererbung? Leipzig und Berlin

1935. ─ G. Just, Vererbung, Umwelt, Erziehung. Berlin 1930.



S. 326: Wilh. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906, S. 286.

─ Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, Ak.-Ausg. II, 4, S. 82. ─ Rud. G. Binding,

Erlebtes Leben, S. 7. ─ Karl Spitteler, Meine frühesten Erlebnisse. Jena 1914,

S. 98 f. ─ V. A. Koskenniemi, Gaben des Glücks. München 1938, S. 7.



S. 327: Wilh. Fehse, Wilh. Raabe, S. 39 f. ─ Ina Seidel, Dichter, Volkstum und

Sprache, Stuttgart 1934, S. 192. ─ Rud. Haym, Herder. Bd. 1 (Berlin 1877), S. 4.

─ Rich. Weltrich, Schiller. Bd. 1 (Stuttgart 1899), S. 64.



Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, Ges. Werke II 2, S. 35, 113 f.



E. R. und W. Jaensch, Üb. d. Verbreitung d. eidet. Anlage im Jugendalter.

Zschr. f. Psychologie 87 (1921), S. 91─96.



E. R. Jaensch, Das Wesen der Kindheit und der eidetische Tatsachenkreis.

Leipzig 1935.



Al. Brandl, Walter Scott über sein dichterisches Schaffen. Sitzungsber. d. Berl.

Akad. 1925, S. 358.



S. 328: Ed. Aug. Diller, Erinnerungen an G. E. Lessing, Meißen 1841. ─ Danzel-

Guhrauer, Lessing. 2. Aufl. Bd. 1, Berlin 1880, S. 108 f. Nach der Selbstbiographie

von Rochlitz.



Kretschmer, Geniale Menschen, S. 50 f.



S. 329: Jak. Minor, Zwei Schulhefte Schillers. Zschr. f. östr. Gymn. 39 (1889),

S. 1057─72.



Reinh. Buchwald, Schiller. Bd. 1. Leipzig 1937.



S. 330: Hebbel, Tagebücher. 1323. Werners Ausgabe I, 279 f.



Über die Theorie der Einflüsse und Abhängigkeiten gibt es ein polnisches Buch,

das ich nur im Auszug kenne: Waclaw Borowy, O wplywach i zaleznosiach w

literaturze. Krakow 1921. ─ Grundsätzliches über die Frage der Einflüsse bei Walzel,

Gehalt und Gestalt, S. 46 ff. und Rothacker, Geschichtsphilosophie (München

1934), S. 31 f. ─ Vgl. auch Jul. Petersen, Heinr. v. Kleist und Torquato Tasso.

Eine Studie über literar. Einfluß. Zschr. f. dt. Unterricht 31 (1917), S. 273─89;

337─59.



S. 332: Ludw. Tieck, Briefe über Shakespeare. Poet. Journal 1800. Wiederh.:

Krit. Schriften. Leipzig 1848. Bd. 1, S. 141.



S. 333: An Ulrike v. Kleist 5. Okt. 1803. Werke, hrsg. von Minde-Pouet 2,

S. 110.



Goethe, Westöstl. Diwan. W. A. I 6, S. 31.



Grillparzer, Libussa. V. 1680 f.



S. 334: Entlehnung und Plagiat: Emil Lucka, Die Phantasie. S. 49.



Elise v. Keudell, Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Hrsg. von

W. Deetjen. Weimar 1931. ─ Karl Bulling, Goethe als Erneuerer und Benutzer der

Jenaischen Bibliotheken. Jena 1932.

|#f0653 : 629|



S. 335: Rob. Boxberger, Schillers Lektüre. Schnorrs Arch. f. Litgesch. Bd. 2

(1871), S. 198─216.



Wilh. Brandes, Mitteil. d. Raabe-Ges. 1913, S. 33 ff.; 1924, S. 89 ff.



K. Goedeke, Die Büchersamml. d. Hans Sachs. Schnorrs Arch. f. Litgesch.

Bd. 7 (1877), S. 1─6. ─ Danach: Hans Sachs, Werke. Hrsg. von Keller-Götze.

Bd. 26, S. 152─56.



Schillers Bibliothek. Mit einem Faksimile aus seinen eigenen Bücherverzeichnissen.

Berlin 1859. ─ Alfr. Meißner, Die Bibliothek Fr. v. Schillers. Bll. f. lit.

Unterhaltung 1870, Nr. 41. ─ Alb. Köster, Schillers Handbibliothek. Zs. f. Bücherfreunde

9 (1905), S. 62─67.



N. Immendörfer, J. G. Hamann u. s. Bücherei. Königsberg 1938.



Romantikerbibliotheken: Bücherliste Friedrich v. Hardenbergs: Novalis Schriften,

hrsg. v. Paul Kluckhohn, Bd. 4. Leipzig o. J., S. 471 ff. ─ Über die Auktionskataloge

verdanke ich folgende Auskünfte der Freundlichkeit von Bibliothekar Dr.

Wieland Schmidt:



Verzeichniß einer sehr reichen Sammlung von Handschriften und alten Drucken

zur Geschichte der deutschen, französischen, spanischen, holländischen und englischen

romantischen Dichtkunst gehörig ... Berlin 1819. ─ Ein Exemplar der

Preußischen Staatsbibliothek (8° Ap 2701a) enthält die Eintragung: „Brentano-Preiscatalog.

Die aus dieser Bibliothek in die Naglersche übergegangenen Exemplare

befinden sich nunmehr zum Theil in der Königlichen Bibliothek. 1. Apr. 1837. Fr.“



Tabulae librorum e bibliotheca defuncti Schleiermacher derelictorum qui a. d.

XII. Calend. April, a. MDCCCXXXVI ... per D. Rauch, Berolini in vico Sagittario

n. X ... sub hasta vendendi prostant. Berolini MDCCCXXXV.



Katalog der von Aug. Wilh. von Schlegel nachgelaßenen Büchersammlung,

welche Montag den 1ten Dezember 1845 und an den folgenden Tagen Abends 5 Uhr

präcise bei J. M. Heberle in Bonn öffentlich versteigert und dem Letztbietenden

gegen gleich baare Zahlung verabfolgt wird. Nebst einem chronologischen Verzeichnisse

sämmtlicher von dem verstorbenen Prof. Aug. Wilh. von Schlegel verfaßten

und herausgegebenen Druckschriften. XXX, 107 S.



Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck qui sera vendue

à Berlin le 10 décembre 1849 et jours suivants par MM. A. Asher & Comp. Berlin

1849. 362 S. (Sign. 8° Ap 25761.)



Verzeichnisse von Büchern aller Fächer, Kupferstichen und Musicalien aus dem

Nachlasse von Geheimen Rath von Schelling ... [u. a.] Berlin 1855. 110 S. (Sign. 8°

Ap. 6 vol. 6 no. 2.)



H. R. D. Anders, Shakespeare's Books. Schr. d. dt. Shakespeare-Ges. Bd. 1,

Berlin 1904.



J. H. Scholte, Zonagri Discurs von Waarsagern. Verh. d. Kkl. Akad. van Wetenschappen

te Amsterdam. 1921.



ZWEITER HAUPTTEIL: SEELENLEBEN



1. Eindrucksfähigkeit



S. 337: Motto: Hebbel, Der Diamant. Prolog V. 63─70. Werners Ausg. I, S. 303.



Schiller an Goethe 17. Jan. 1795; ähnlich am 27. März 1801: „der vollkommene

Dichter spricht das Ganze der Menschheit aus“.



Hebbel, Tagebücher Nr. 5321 vom 30. Juli. Werners Ausg. IV, S. 35.

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S. 338: Christ. Morgenstern, Stufen. S. 31.



Marcel Proust: E. R. Curtius, Die Literatur, 27 (1924), S. 8.



S. 339: Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. Diederichs'sche Ausgabe Bd. 1 (Jena

1911), S. 3.



Al. Brandl, Zur Psychologie des Dichtens bei Burns. Sitzungsber. d. Preuß. Ak.

d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1923, S. 144.



Wolfg. Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Palaestra 179. Leipzig 1932.



Käthe Harnisch, Deutsche Malererzählungen. Die Art des Sehens bei Heinse,

Tieck, Hoffmann, Stifter und Keller. Berlin 1938.



S. 340: Kleist an Wilhelmine v. Zenge 19. Sept. 1800; an Adolfine v. Werdeck

28. u. 29. Juli 1801, Werke, hrsg. v. Minde-Pouet 2. Aufl. Bd. 1, S. 140; Bd. 2, S. 38.



S. 341: Kleist an Wilhelmine v. Zenge 29. Nov. 1800, Werke Bd. 1, S. 185.



Rich. Müller-Freienfels, Persönlichkeit u. Weltanschauung. Leipzig 1919, S. 191 ff.



Ludwig Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, 7. u. 8. Aufl. Leipzig 1936,

S. 219 f.



Melch. Palagyi, Naturphilosophische Vorlesungen über die Grundprobleme des

Bewußtseins und des Lebens. Charlottenburg 1908, S. 130 ff., bes. S. 171.



Raymond Dodge, Die motorischen Wortvorstellungen. Abh. z. Philos. u. Geschichte

8. Halle 1896.



Th. Ribot, La vie inconsciente et les mouvements. Paris 1914. ─ Nuel, La Vision.

Paris 1904.



E. W. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit u. d. Vorstellungsverlaufes.

Zschr. f. Psychologie. Ergbd. 5 (Leipzig 1911), S. 9 ff.



S. 342: Schillers Persönlichkeit (vgl. Anm. zu S. 351).



Kleists Gespräche, hrsg. v. Biedermann. Leipzig 1912, S. 122─26. ─ Kleist an

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S. 344: Psychographisches Schema: Zs. f. angewandte Psychologie 3 (1909),

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|#f0656 : 632|



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Schr. Bd. 4, S. 528 ff. ─ Ders., D. entwicklungsgesch. Pantheismus nach seinen

Zusammenhängen mit den älteren pantheist. Systemen. Ges. Schr. Bd. 2, S. 312 ff.

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S. 362: Rich. Müller-Freienfels, Charakter u. Erlebnis. Jb. d. Charakterologie 2/3

(1926). S. 21─43.



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Wiederkunftsgedankens, Zschr. f. angewandte Psychologie 5 (1911). ─ E. Bernard-

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S. 366: Antizipation, vgl. Anm. z. S. 350.

|#f0657 : 633|



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Berlin 1915. Bd. 1, S. 149. ─ Walter Harich, E. T. A. Hoffmann, Berlin 1920.

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S. 370: Goethe an Katharina Fabricius (?) 27. Juni 1770. W. A. IV, 1, S. 235 f.



S. 371: Conr. Ferd. Meyers „Schlacht der Bäume“: Max Nußberger, Die künstlerische

Phantasie in der Formgebung der Dichtkunst, Malerei und Musik. München

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Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (1823).

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S. 373: Er. Rothacker. Geschichtsphilosophie, S. 37 ff., 84 ff. ─ Ders., Kulturen

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Malerei und Musik. München 1935.



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Goethes Briefe an Frau v. Stein 5. Juni 1780, 18. und 19. April, 19. Aug. 1781.

Am 5. Juni 1780 schrieb Goethe auch an Lavater: „Übrigens versuche ich allerlei
|#f0660 : 636|



Beschwörungen und Hocus pocus, um die Gestalten gleichzeitiger Helden und Lumpen

in Nachahmung der Hexe zu Endor wenigstens bis an den Gürtel aus dem

Grabe zu nöthigen.“ W. A. IV, 4. S. 229.



S. 392: Balzac: Dilthey, Ges. Schr. 6, 133. ─ Flaubert an Taine. L'intelligence

II, 1.



Daudets und Goncourts Zweifel bei A. Binet und J. Passy, Auteurs dramatiques.

L'année psychologique I (1895), S. 96, 110, 115.



S. 393: Otto Ludwigs Werke, hrsg. v. Er. Schmidt und Ad. Stern, Bd. 6, S. 215

bis 221. ─ Zweifel an der Zuverlässigkeit der Selbstbeobachtung bei Rud. Lehmann,

Poetik. 2. Aufl. München 1929. S. 27 ff. ─ Gust. Freytag, Ges. Aufsätze.

Bd. 2. S. 59.



S. 394: Emil Kuh, Biographie Friedr. Hebbels. Bd. 2. S. 654.



Erfindung: Goethe, Sprüche in Prosa 903. Schr. d. G. G. 21. S. 122.



Goethe zu Eckermann 11. März 1828; in einem früheren Gespräch vom 18. Sept.

1823 warnte Goethe die jungen Dichter vor eigenen großen Erfindungen, weil ihre

Ansicht der Dinge dazu nicht reif sei.



S. 395: Herder bei Besprechung von Klopstocks Oden i. d. Allg. Dt. Bibl., 1773.

Suphan V, 359.



Goethe zu Eckermann 18. Febr. 1825, 19. Febr. 1829.



S. 396: Heinr. v. Kleist, Werke, hrsg. v. Minde-Pouet, Bd. 2, S. 170.



Nik. Lenau an Anton Schurz 4. Juni 1844. Werke, hrsg. v. Castle, Bd. 5, S. 189.



Gottfr. Keller, Der grüne Heinrich. Bd. 1, S. 215.



S. 397: Novalis Schriften, hrsg. v. Kluckhohn. Bd. 1, S. 184.



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Joh. Volkelt, Die Traum-Phantasie. Stuttgart 1875. ─ Ders., System d. Ästhetik.

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Heine. Leipzig 1932. = Palaestra 182.



M. Vold, Über den Traum, hrsg. v. Klemm. 2 Bde. 1910/12.



P. Köhler, Beiträge z. systemat. Traumbeobachtungen, Arch. f. d. Ges. Psychologie

23 (1912). S. 415─83.

|#f0661 : 637|



Havelock Ellis, The world of dreams. London 1911. ─ F. C. Prescott, Poetry

and dreams. New York 1912.



Rud. Unger, „Traumland“ u. Dichtung bei Isolde Kurz. Festschr. f. Petersen.

Leipzig 1938. S. 194─218.



Wilh. Raabe, Das Odfeld. Kap. 10.



Friedr. Hebbel, Tagebücher, hrsg. v. Werner I, 238. 360. III, 241. IV, 65, 295,

300, 347. VI, 2023.



S. 401: Bernh. Fehr, D. engl. Lit. d. 19. und 20. Jh., S. 28.



Charl. Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Zschr. f angewandte

Psychol. 1918. Beiheft 17. ─ Georg Jacob, Märchen und Traum. Hannover 1923.



S. 402: Petrarca: Goethes Dichtung und Wahrheit 16. Buch. Jub.-Ausg. 25, S. 16.



Voltaire: Jean Paul, Nachlaß 2 (1837), S. 92. ─ Ähnliches erzählte Goethe von

Basedow, D. u. W., 14. Buch.



Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten 4, 167 f.



Mörike, Schön Rothraut: Auf der Urschrift steht: „am frühen Morgen des

31. März 1838 zwischen Schlafen und Wachen entstanden.“ In Widerspruch dazu

steht Mörikes briefliche Darstellung (II, 330): „ich stieß einmal ─ es war in

Cleversulzbach ─ zufällig in einem Fremdwörterbuch auf den mir bis dahin ganz

unbekannten Frauennamen. Er leuchtete mich an wie in einer Rosenglut, und

schon war auch die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt, trat ich

aus dem Zimmer zu ebener Erde in den Garten hinaus, ging einmal den Weg bis

zur hintersten Laube hinunter und hatte das Gedicht erfunden, fast gleichzeitig

damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf die Ausführung auch wie von

selbst erfolgte.“ Vgl. K. Fischer, Mörike. Berlin 1901. S. 140, 237.



S. 403: W. Dilthey, Ges. Schr. 6, 147 ff. ─ E. Elster, Prinzipien d. Literaturwissenschaft,

Bd. 1. S. 161 ff.



DRITTER HAUPTTEIL: DER SCHAFFENSVORGANG



1. Lösung von der Wirklichkeit



S. 407: Motto: Ed. Spranger, W. v. Humboldt u. d. Humanitätsidee, S. 388.



Wilh. Dilthey, Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn. Ges. Schr. 6, 90 ff.



Al. Brandl, Die Lehre vom dichterischen Erlebnis, angewendet auf die englische

Literaturgeschichte. Sitz.-Ber. d. Preuß. Ak. d. Wiss. 1930. S. 281.



Samuel Johnson, Life of Savage, London 1744. ─ Vgl. auch Anm. zu S. 24.



S. 408: Schiller, Kritik von Bürgers Gedichten. Säk.-Ausg. 16, 239.



S. 409: Al. Riehl, Bemerkungen über das Problem der Form in der Dichtkunst.

Vjschr. f. wiss. Philosophie. Bd. 21 (1897). S. 283/306. Bd. 22 (1898). S. 96/114.



Jean Paul: Ak. Ausg. I, 11, S. 48.



Novalis: Kluckhohns Ausgabe Bd. 1. S. 184.



Annette v. Droste-Hülshoff, Biogr. v. Kreiten I, 326.



Rilke: Kath. Kippenberg, R. M. Rilke. Ein Beitrag. Leipzig 1935. S. 139. Rilkes

Brief vom 5. Sept. 1902 an Clara Rilke: Briefe 1902─06. S. 36. Neue Ausgabe:

Briefe 1892─1904. S. 261. ─



Hugo v. Hofmannsthal, Über Charaktere im Roman und im Drama. Ges. Pros.

Schriften. Berlin 1914. Bd. 2. S. 173 ff.



S. 411: Fr. Hebbel. Tagebücher II, 133.

|#f0662 : 638|



2. Produktive Stimmung und Konzeption



Journal des Goncourt II, 35.



Schiller an Körner 25. Mai 1792, an Goethe 18. März 1796.



Fr. Leop. Graf zu Stolberg, Vom Dichten und Darstellen. Deutsches Museum

1780. Ges. Werke 10, 375.



S. 412: Th. Ribot, Essai sur l'imagination créatrice. Paris 1908. S. 281 f.



S. 413: Heinr. Gelzer, Zum Problem „Erlebnis und Dichtung“. Arch f. d. Stud.

d. neueren Sprachen und Literaturen. Bd. 143 (1922), S. 79─86.



Produktive Stimmung: Ed. v. Hartmann, System d. Philos. im Grundriß. VIII

(1909). S. 174 ff. ─ R. Müller-Freienfels, Psychologie d. Kunst II. 2. Aufl. (1923).

S. 134 ff., 215. ─ J. Körner in Merker-Stammler, Reallex. II. 130 f. Artikel „Konzeption“.

─ W. Wickberg, Die künstlerische Konzeption. In: Wissen und Denken.

Feststr. z. J. Rehmkes 75. Geburtstag. 1923. S. 160 ff. ─



Hebbel, Tagebücher IV, 87.



Annette v. Droste-Hülshoff an Levin Schücking 4. Mai 1842. Briefwechsel, hrsg.

v. Muschler. 3. Aufl. (Leipzig 1928). S. 50.



Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Taschenausg. Bd. 11. S. 348. 350.



S. 414: R. Hennig, Das Wesen der Inspiration (Schr. d. Ges. f. psycholog. Forschung)

1912.



S. 416: Rilke, Brief an Fürstin Marie v. Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 11. 2.

1922 und an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 14. 7. 1922. ─



S. 417: Hebbels Gyges: Werners Ausgabe Bd. 3, S. XLI ff.



S. 418: Conrad Ferd. Meyer bei K. E. Franzos, Die Geschichte d. Erstlingswerks.

Leipzig 1894. S. 25.



S. 419: Ed. Toulouse, Emile Zola. Paris 1896. ─ Henri Massis, Comment Emile

Zola composait ses romans. Paris 1906.



S. 420: Kleist an Collin, 8. Dez. 1808. Werke, hrsg. v. Minde-Pouet. Bd. 2. S. 214.



S. 421: Schillers Persönlichkeit III, 386.



3. Plan und Gestaltung



S. 423: Gust. Roethe, D. Entstehung d. Urfaust. Sitzungsber. d. Preuß. Ak. d.

Wiss. 1920. S. 642─78. ─ G. Schuchard, D. ältesten Teile d. Urfaust. Z. f. dt.

Philol. 51 (1926). 465 ff. 52 (1927). 346 ff.



Goethe an Wilh. v. Humboldt 17. März 1832. W. A. IV 49. S. 282.



S. 424: W. Hertz, Zu Goethes römischem Faustplan, Euphorion. 31 (1930). 383

bis 427. ─ Daß damals noch ein tragisches Ende geplant wurde, verficht H. A. Korff:

Die Lebensidee Goethes. Leipzig 1925. S. 30. ─ Ernst Beutler, Der Frankfurter

Faust. Jahrb. d. Fr. dt. Hochstifts Frankfurt a. M. 1936─40. Halle 1940. S. 594 ff.



S. 425: Goethes 1. Faust-Paralipomenon: K. A. Meißinger, Helena. Frankfurt

a. M. 1935. S. 68. ─ Bauerbacher Entwurf: Goedekes Hist.-Krit. Schiller-Ausgabe

III, 180 ff. ─ Ernst Elster, Zur Entstehungsgeschichte des Don Carlos. Halle 1889.

─ J. A. Haid, Schillers Arbeitsweise. Diss. Gießen 1908. ─ Paul Böckmann, Schillers

Geisteshaltung als Grundlage seines dramat. Schaffens. Dortmund 1925. ─

Wilh. Spengler, D. Drama Schillers, Seine Genesis. Leipzig 1932. Dazu Anz. f. dt.

Altertum 1934. S. 211─14.

|#f0663 : 639|



S. 426: Schiller an Körner 28. Juli 1800.



S. 427: Sardou: Binet et Passy, Auteurs dramatiques. L'année psychologique I.

Paris 1894. 67.



Scheffel: A. v. Freydorf, Scheffels Mutter. Deutsche Monatsschrift 1902.



Hebbel und Gutzkow: Hebbels Tagebücher IV, 43.



S. 428: Jul. Petersen, Fontanes Altersroman. Euphorion 29 (1928). S. 1─74. ─

Ders., Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman. Sitzungsber. d. Preuß. Ak. d.

Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1929. ─ Fontane, Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe.

2. Reihe in 5 Bänden. Bd. 2. Berlin 1920. Von Zwanzig bis Dreißig. S. 434. ─

Fontane, Brief aus dem Jahre 1896, veröff. von R. M. Werner in „Die Nation“.

1898. Nr. 15. S. 71 f. ─



Petersen, Goethes Mondlied. Aus der Goethe-Zeit. Leipzig 1932. S. 49─68.



S. 429: Schiller an Körner 25. 5. 1792.



S. 430: Heinrich v. Kleist an Marie v. Kleist. Mai 1811. Werke, hrsg. v. Minde-

Pouet. Bd. 2. S. 261.



Grillparzers Werke, Ausgabe der Stadt Wien. Bd. 1. S. LXX ff.



Ed. Scheidemantel, Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Tasso. Progr. Weimar

1896. ─ Ders., Goethe-Jb. 18 (1897), S. 163─73.



S. 431: Heinr. Meyer-Benfey, Die innere Geschichte des Michael Kohlhaas,

Euphorion 15 (1914). S. 99─140.



Max Wundt, Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen

Lebensideals. 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1932.



S. 432: Emil Ermatinger, Gottfr. Kellers Leben. Stuttgart und Berlin 1920.

S. 282 ff.



Wilh. v. Humboldt an Caroline 7. April 1797. Briefwechsel, hrsg. v. A. v. Sydow.

Bd. 2. S. 37 f.



K. Ehlers, Die Bühnenbearbeitungen von Schillers Don Carlos in Prosa, German.

Stud. 26. Berlin 1923.



Jak. Bächtold, Goethes Iphigenie auf Tauris in vierfacher Gestalt. Freiburg

i. Br. 1888. Die Weimarer Ausgabe (Bd. 39, S. 449 ff.) hat die Zahl der Prosahandschriften

noch vermehrt.



S. 433: Schillers Fragment Deutsche Größe, Facs.-Ausg. v. Bernh. Suphan. Schr.

d. Goethe-Ges. 1902.



Wieland an Zimmermann 1758. Ausgew. Briefe. Zürich 1815. Bd. 1. S. 264.



E. A. Poe, The philosophy of composition. Dt. Übers. in d. Gesamtausgabe

von Moeller van den Bruck. Bd. 2 (Minden 1902). S. 83 ff. Ebda. die Zusätze

Baudelaires zur französischen Übersetzung.



William Michael Rossetti, Rossetti Papers 1903.



S. 434: Christ. Wandel, Th. Fontanes Arbeitsweise am Roman. Brandenburg.

Jb. 9 (1938). S. 69─77. Vgl. dazu die Mitteilungen von Herm. Fricke, Fontanes

letzter Romanentwurf, Die Likedeeler. Rathenow 1938. S. 88─92: Einteilung der

Kapitel in Szenen.



O. J. Bierbaum, Stilpe. Ges. Werke. Bd. 2. S. 431 f.



Die Probe einer Balzacschen Korrekturfahne bei Curtius, Balzac. S. 430 f. ─

Probe einer Hilleschen Handschrift in J. Nadler, Litgesch. d. dt. Volkes. Bd. 3.

S. 663. ─

|#f0664 : 640|



4. Arbeitsweise



S. 435: Arbeitsweise Uhlands: W. Haag, Ludw. Uhland, Die Entwicklung des

Lyrikers u. d. Genesis d. Gedichts. Stuttgart 1907. ─ Harry Maync, Uhlands Dichterwerkstatt.

Euphorion Bd. 7 (1906). S. 529.



Wilh. Fehse, Wilh. Raabe. S. 60 f., 171.



Goethe und Schiller: W. Hellpach, Geopsyche. S. 285.



S. 437: Reinh. Steig, Achim v. Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1 (Stuttgart

1894). S. 128.



Albrecht, Lessings Plagiate. Bd. 3. S. 1275.



Wolfg. Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin 1931.



S. 438: Goethes Arbeitsraum: Eckermann 23. März 1829 und 25. März 1831.

Castles Ausgabe 1, 261, 389.



Goethe an Charl. v. Stein 5. und 6. Juni 1780.



S. 439: Marienbader Elegie: Goethe zu Eckermann 16. November 1823. Castles

Ausg. I, 57.



S. 440: Heinr. Klenz, Gelehrten-Kuriositäten. Zschr. f. Bücherfreunde. N. F. 6, 2

(1915). S. 232─236, 306─14. 7, 1 (1916). S. 61─71, 127─136.



VIERTER HAUPTTEIL: DIE EXISTENZ DES DICHTERS



1. Spektrum



S. 441: Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre II. 2. Jub.-Ausg. 17, 96.



Werner Jäger, Paideia. S. 63.



S. 442: Koskenniemi, Gaben des Glücks. S. 65.



Die Legende, daß Lykurg die Homerischen Gesänge nach Griechenland gebracht

habe, geht auf Aristoteles zurück und ist von Plutarch und Aelian übernommen.

Nach freundl. Mitteilung meines Kollegen L. Deubner, der auf v. Wilamowitz,

Aristoteles u. Athen I, 292 f., Müllers Fragmente histor. Graec. 2, S. 210 Frg. 2, 3

und Fragmenta Aristotelis coll. Val. Rose Nr. 611, 11 verweist.



Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Das Innere Reich.

3. Dez. 1936. S. 1072.



S. 443: Hölderlin, Wie wenn am Feiertage. Hellingraths Ausg. IV. S. 153.



2. Sprache



S. 444: G. Bertoni, Lingua et pensiero. Firenze 1932. ─ Ders., Lingua e poesia.

Firenze 1937.



Schillers Kalliasbrief vom 28. Febr. 1793, Jonas III, 299.



S. 445: Middleton Murry, The problem of Style. London 1923, p. 13.



S. 446: Wolfg. Clemen, Shakespeares Bilder, ihre Entwicklung und ihre Funktionen

im dramat. Werk. Bonn 1936.



Gerh. Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung d. Andr. Gryphius. Materialien

und Stud. z. Formproblem d. dt. Literaturbarock. Neue Forsch. 17. Berlin 1930. ─

Dazu die Stellungnahme von Herm. Pongs, Zum Problem der voraussetzungslosen

Wissenschaft. Dicht. und Volkst. 35 (1934). S. 113─123.

|#f0665 : 641|



Berth. Schulze, Kleists „Penthesilea“ oder von der lebendigen Form der Dichtung.

Leipzig 1912. ─ Ders., Das Bild als Leitmotiv in d. Dramen Kleists und

anderer Dichter, Zschr. f. dt. Unterricht 1927 (1910). S. 308─21. Vgl. auch S. 180

und Anm.



Goethe an Fr. Schulz, 10. Jan. 1829. ─ E. Beutler, Ursprung und Gestalt von

Goethes „Novelle“. Dt. Vierteljahresschr. 16. 1938. S. 324 ff. ─



S. 447: Hans Carossa, Führung und Geleit. S. 91.



Karl G. Schmid, Schillers Gestaltungsweise, Eigenart und Klassik. Wege zur

Dichtung 22. Frauenfeld und Leipzig 1936. S. 17.



Carolin F. Spurgeon, Shakespeares Imagery and what it tells us. Cambridge 1935.



Wilson Knight, The Shakespearian Tempest. Oxford 1932. ─ Wolfgang Clemen,

Shakespeares Bilder. Bonner Stud. z. engl. Philol., 27. Bonn 1936. ─



S. 448: Ulr. Leo, Historie u. Stilmonographie, Grundsätzliches zur Stilforschung.

Dt. Vjschr. f. Litwiss. und Geistesgesch. 9 (1931). S. 472─503.



3. Gesetz



Ed. Spranger, Goethe u. d. Metamorphose d. Menschen. Jb. d. Goethe-Ges. 10

(1924). S. 219─238.



Schiller, Über Bürgers Gedichte. Säk.-Ausg. 16, 229.



S. 449: Paul Häberlin, Der Charakter. Basel 1925. S. 131.



S. 450: Conrad Ferdinand Meyer: Rob. Faesi, Einführung zu C. F. Meyers

Werken. S. 328. ─



Goethe, Versuch einer Witterungslehre. W. A. II, 12. S. 74.



Emile Boutroux, Revue politique internationale I (1914). S. 193 ff. ─



Curtius, Balzac, S. 389.



S. 451: Herm. Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. Dichtg. und

Volkstum 38 (1937). S. 12 ff. ─ Goethe an Charlotte v. Stein 10. Dez. 1777.



4. Glaube



S. 452: Paul Ernst, Ein Credo. München 1912.



Ed. Spranger, Lebensformen. 2. Aufl. Halle 1921. S. 211 ff. ─ Max Wieser,

Deutsche und romanische Religiosität. Berlin 1919. ─ Liesel Etscheid, D. Gotteserlebnis

d. german. Menschen. Weltanschauliches i. d. Dichtg. von Hans Fr. Blunck.

Mnemosyne 9. Bonn 1932. ─ Johannes Willems, D. Kampf um Gott i. d. zeitgenöss.

Dichtg. Die Furche 1928. ─ H. Eibl, Religion, Weltanschauung, Kunst. Zs. f.

Ästhetik 29 (1935). S. 97─115. ─ Clemens Möllenbrock, Die religiöse Lyrik d.

Droste u. d. Theologie d. Zeit. Versuch e. theolog. Gesamtinterpretation u. theologiegeschichtl.

Einordnung d. „Geistlichen Jahres“. Berlin 1935. ─ Ders., D. religiöse

Existenz Annettens v. Droste. Dt. Vjs. f. Litwiss. und Geistesgesch. 14 (1936).

S. 413─41.



S. 453: K. J. Obenauer, Goethe in s. Verhältnis zur Religion. Jena 1921. S. 18 f.



Erich Franz, Goethe als religiöser Denker. Tübingen 1932.



S. 454: R. Bridges, The testament of beauty. London 1932.



S. 455: Paul Böckmann, Hölderlin und seine Götter. Berlin 1936.



Theophil Spoerri, Die Götter des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit

dem Heidentum der Kultur unserer Zeit. 3. Aufl. Zürich 1932.

|#f0666 : 642|



5. Sendung



S. 457: Paul Kluckhohn, Berufungsbewußtsein u. Gemeinschaftsdienst d. deutschen

Dichters im Wandel der Zeiten. Dt. Vjs. f. Litwiss. und Geistesgesch. 14

(1936), S. 1─30. ─ Paul Meißner, D. Gedanke der dichterischen Sendung i. d. engl.

Literaturkritik. Ebda. S. 31─59. ─ Walter Hof, D. Gedanke d. dt. Sendung i. d. dt.

Lit. Gießen 1937. ─ Walter Lich, Klopstocks Dichterbegriff. Diss. Frankfurt a. M.

1934. ─ Heinz Kindermann, Klopstocks Entdeckung der Nation. Gedanken und

Gestalten. H. 6. Danzig 1935. ─ Ders., Des deutschen Dichters Sendung in der

Gegenwart. Leipzig 1933. ─ P. Binswanger, D. dt. Klassik u. d. Staatsgedanke.

Berlin 1933. ─ Jul. Petersen, D. Sehnsucht nach dem Dritten Reich. Stuttgart 1934.

S. 60 f.



6. Widerhall



S. 463: Thaddäus Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte. 3. Aufl. Leipzig/Berlin

1912. ─ Albert Ludwig, Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin 1909.

─ Viktor Hehn, Goethe und das Publikum. Gedanken über Goethe. Berlin 1887.

S. 49─185. ─ Jul. Petersen, Goethe-Verehrung in 5 Jahrzehnten. Jb. der Goethe-

Ges. 21 (1935). S. 1─25.



EINLEITUNG ZUM III. UND IV. BUCH:

SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT



1. Werke und Gattungen



S. 465: Motto: Goethe in dem Aufsatz „Analyse und Synthese“. Werke, Weimarer

Ausgabe, II. Bd. 11. S. 79. Dasselbe in: Werke, ed. Heinemann (Bibl. Inst.).

Bd. 30. S. 404 ff.



S. 468: Julius Leopold Klein, Geschichte des Dramas. 13 Bde. Leipzig 1865─76.

─ A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramat. Kunst und Literatur. Hrsg. v. G.

V. Amoretti. 2. Aufl. Bonn 1923. ─ Wilh. Scherer, Gesch. d. dt. Literatur. Neudruck

der Erstausgabe. Berlin. Th. Knaur, o. J. S. 339 ff. ─ August Sauer, Literaturgeschichte

und Volkskunde. Prag 1907. 2. Aufl. Stuttgart 1925. ─ Josef Nadler,

Literaturgesch. d. dt. Stämme und Landschaften. 4 Bde. 1. Aufl. Regensburg 1912

bis 1928. ─ Hans Naumann, Die dt. Dichtung der Gegenwart. Stuttgart 1923.

6. Aufl. 1933. = Epochen der dt. Lit. Bd. 6.



S. 469: Robert Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen

Dramas. Berlin 1936. ─ Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen.

Bd. 1. Frankfurt a. M. 1934. ─



S. 472: James George Frazer, The Golden Bough. 3. edition. 12 vol. London

1920─23. Aftermath, a Supplement to the Golden Bough. London 1936. Eine

„abgekürzte Ausgabe“ ist: The Golden Bough, abridged ed., 1922, von der eine

deutsche Übersetzung erschien: Der goldene Zweig. Übers. v. Helen v. Bauer.

Leipzig 1928. ─ Axel Olrik, Om Ragnarok. Kopenhagen 1902. Deutsche Ausgabe:

Ragnarök. Übertr. v. W. Ranisch. Berlin 1922. ─ A. Olrik, Nordisches Geistesleben

in heidnischer und frühchristlicher Zeit. Übertr. v. W. Ranisch. Heidelberg 1908. =
|#f0667 : 643|



Germanist. Bibl. 5. Reihe. Bd. 1. ─ Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung.

Potsdam 1923. = Handbuch der Literaturwiss. ─ A. Heusler, Nibelungenlied und

Nibelungensage. 2. Ausg. Dortmund 1922. ─ A. Heusler, Germanentum. Heidelberg

1934.



S. 475: Gustav Freytag, Die Technik des Dramas. Leipzig 1863. Neudr. in: Gesammelte

Werke. 1. Serie. Leipzig und Berlin, o. J. Bd. 2. ─



Wilh. v. Humboldt, Über Goethes Hermann und Dorothea. In: Ästhetische Versuche.

Bd. 1. Braunschweig 1799. Neudr. in: Sämtl. Werke, Hist.-krit. Ausg. Bd. 2.

─ Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. Sämtl. Werke, hrsg. von

O. Güntter und G. Witkowski. Bd. 17. S. 527.



Friedrich Beißner, Gesch. d. dt. Elegie. Berlin 1941. = Grundriß d. germ. Philol.,

14. Die angeführte Stelle: Einleitung, S. XII.



S. 476: Moritz Enzinger, Grillparzers Gedichte und das bayrische Erbe. Euphorion

23. S. 271 ff., 389 ff. ─ Kurt Wais, Henrik Ibsen und das Problem des Vergangenen

im Zusammenhang der gleichzeitigen Geistesgesch. Stuttgart 1931. = Tübinger

Germanist. Arbeiten. Bd. 14.



S. 477: Friedrich Schlegel, Gesch. d. Poesie d. Griechen und Römer. Prosaische

Jugendschr., hrsg. v. J. Minor. Wien 1882. Bd. 1. S. 231 ff. ─ Sämtl. Werke. Wien

1822. Bd. 3. S. 267 ff. ─ Ernest Bovet, Lyrisme, épopée, drame. Une loie de

l'histoire littéraire expliquée. Paris 1911. ─ Ferdinand Brunetière, L'évolution des

genres dans l'histoire de la littérature. Paris 1890. Dazu: E. R. Curtius, F. Brunetière.

Straßburg 1914. S. 63 ff.



S. 478: Eugen Kühnemann, Goethe. 2 Bde. Leipzig 1930. ─ Günther Müller,

Geschichte der dt. Seele. Vom Faustbuch zu Goethes Faust. Freiburg i. Br. 1939. ─

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. München 1918. Insbes.

S. 525 ff.



Benedetto Croce: Vgl. die zu S. 121 angeführten Schriften.



2. Dichtertypen



S. 481: Chr. Martin Wieland, Ob man begründet sey, aus einigen Stellen der

Ilias zu vermuthen, daß Homer ein Bastard gewesen sey? gegen A. Pope. Teutscher

Merkur 1782. Akad.-Ausg. 22. S. 319 ff.



S. 482: Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen

zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich und Leipzig 1939.

Strophen Christian Günthers, hrsg. v. W. v. Scholz. Leipzig 1902; ähnlich; W. v.

Scholz, J. Chr. Günther. In: Die Großen Deutschen. Bd. 2. 1935. S. 321.



S. 483: Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Unters. zur Wirklichkeitsauffassung

H. v. Kleists. Frankfurt a. M. 1936.



J. Petersen, Kleists dramatische Kunst. Jahrb. d. Kleist-Ges. 1 (1922). S. 18 ff.



S. 490: Hermann Nohl, Die ästhetische Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1935.

S. 126.



W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906. S. 299 f.



Kurt Wendt, Hölderlin und Schiller. Eine vergleichende Stilbetrachtung. German.

Stud. 70. Berlin 1929.



Herbert Lewandowski, Die Erfassung von Formeigentümlichkeiten beim lyr.

Dichtwerk. Diss. Bonn 1923. ─ Joh. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936.

S. 20 ff.

|#f0668 : 644|



S. 499: E. G. Kolbenheyer, Die Bauhütte. Neue Auflage 1940. S. 302, 328, 333,

344, 355, 371, 482, 484. ─ Kolbenheyer, Wie wurde der dt. Roman Dichtung? München

1937. Und in: Ges. Werke. Bd. 8, 114.



S. 500: Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften.

Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie. 6. Aufl. Leipzig 1940. S. 549.



S. 503: Willy Hellpach, Berlinertum. Versuch einer Wesenskunde des Menschenschlags.

Ztschr. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins 58 (1941). S. 45─63.



S. 504: Seifert, Erbgeschichte des Menschen. Stuttgart 1936. ─ v. Eickstedt,

Grundlagen der Rassenpsychologie. Stuttgart 1936.



Arno Dreher, Das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin als rassenseelischer

Ausdruck. Diss. Münster 1938.



Wilh. Müller, Studien über die rassischen Grundlagen des Sturm und Drang.

N. dt. Forsch. 207. Berlin 1938. S. 20─32.



S. 505: H. H. Borcherdt, Schiller. Seine geistige und künstlerische Entwicklung.

Leipzig 1929. S. 9 f.



S. 506: J. Petersen, Die Wesensbestimmung der dt. Romantik. Leipzig 1926.

S, 146. Ferner das im vorliegenden Werk abgedruckte Kap. „Die literarischen

Generationen“ S. 534.



S. 507: Max Wieser, Der sentimentale Mensch. Gesehen aus der Welt holländischer

und deutscher Mystiker im 18. Jahrh. Gotha und Stuttgart 1924. ─ Bernhard

Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in

Frankreich. Bd. 1. 2. Halle 1927─30. ─ Otto Mann, Der moderne Dandy. Ein

Kulturprogramm des 19. Jahrh. Berlin 1925. ─ Gerhard Thrum, Der Typus des

Zerrissenen. Leipzig 1931.



S. 508: Paul Hoffmann, Der mittelalterliche Mensch. Gesehen aus der Welt und

Umwelt Notkers des Deutschen. Gotha 1922.



3. Dichtung und Dichtkunst



S. 517: A. E. Brinckmann, Kunst des Rokoko. (Propyläenkunstgesch.). Berlin

1940.



Briefwechsel zwischen W. Dilthey und dem Grafen P. York v. Wartenburg.

Halle 1923. S. 183.



4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes und der Zeit



S. 519: Benedetto Croce: Vgl. die zu S. 121 angegebene Lit.



S. 520: Wilh. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgesch. Europas.

Berlin 1927. W. Pinder, Vom Werden und Wesen deutscher Formen. Leipzig 1935 ff.

Bd. 1: Die Kunst der dt. Kaiserzeit. Bd. 2: Die Kunst der ersten Bürgerzeit. Bd. 3:

Die dt. Kunst der Dürerzeit.



S. 521: Kant, Kritik der Urteilskraft. § 51 „Von der Eintheilung der schönen

Künste“.



Fr. Th. Vischer, Ästhetik. 1846─58. Neue Ausg. Berlin 1912. ─ Johannes Volkelt,

System d. Ästhetik. 3 Bde. 1905─14.



S. 522: Herder, Kritische Wälder, 1769. Plastik, 1778. Dazu: K. May, Lessings

und Herders kunsttheoret. Gedanken. = Germ. Stud., Bd. 25.



S. 523: Rilke an Lou Andreas-Salomé, 8. August 1903. Briefe aus den Jahren

1902─06. S. 111 f. An Dr. Faust, 17. Januar 1923. Briefe aus Muzot. S. 172 f.

|#f0669 : 645|



DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN



S. 534: Karl Mannheim, Die Lage des Generationsproblems. Kölner Vierteljahreshefte

f. Soziologie, VII.



S. 538: Ibsen: Euphorion 8, S. 19.



S. 540: Hans v. Müller, Die namhafteren dt. Dichter und Denker seit Reimarus

und Günther, in Altersgruppen geordnet. Ein Vorschlag zur Ordnung von Privatbibliotheken.

1917.



S. 543: W. Dilthey, Das Leben Schleiermachers. Bd. 1. Berlin 1870. 2. Aufl. ed.

Mulert. 1922. ─ Dilthey, Schriften. Bd. V. S. 31 ff. und Bd. VII. S. 177. ─

Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. 1. Aufl. Leipzig 1905. S. 202 ff.: Novalis. ─



S. 546: José Ortega y Gasset, „Der Begriff der Generation“ in der Aufsatzsammlung

„Die Aufgabe unserer Zeit“, übers. v. Helene Weyl, mit Vorwort v. E. R.

Curtius, Zürich 1928. S. 28.



S. 552: Über Vererbung von Begabung findet man eine ausführliche Darstellung

mit Literaturangaben in dem Sammelwerk Bauer-Fischer-Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre.

Vgl. die zu S. 298 genannte Lit.



S. 574: Karl Voßler, Sprache als Schöpfung und Entwicklung. Heidelberg 1905.

S. 49 ff. Literaturblatt f. German. und roman. Philol. 27 (1906). Sp. 17.



S. 580: Antithese, Synthese, einseitige Steigerung: Vgl. J. Petersen. Die Wesensbestimmung

der deutschen Romantik. Leipzig 1926. S. 159 ff.



Richard Alewyn, Das Problem d. Generation in der Geschichte. Ztschr. f. dt.

Bildung. 1929. S. 524 ff.

|#f0670 : E646|



PERSONENREGISTER

VON ELLA PETERSEN



[Beginn Spaltensatz]

Abel, Prof. 329



Agricola, Rudolf 557



Aischylos 136, 139, 146, 268, 436



Albert, Archivar 295



Alberti, Leon Battista 519



Albrecht, Paul 174



Aleman, Mateo 483



Alewyn, Richard 102, 205, 580



Alexis, Willibald (Häring), 60, 291, 503,

561



Alfieri 340



Alt, Karl 313



Amadis-Romane 420



Ambrunn 393



Ammann, Hermann 219, 259



Anakreon 436



d'Annunzio 312



Antichrist, Tegernseer 58



Anzengruber, Ludwig 173, 541



Apulejus 172



Archipoeta 58



Arigo 98



Aristophanes 103



Aristoteles 8, 138, 143, 147, 168, 244,

407



Arnauld, Antoine 549



Arndt, Ernst Moritz 461, 550, 562



Arnim, Achim von 30, 287, 315, 324,

437, 561



Arnim, Bettina von 304, 364, 553, 561



Arnim, Hans von 95



Arnim, Henriette von 321



Arnold, Matthew 39



Aschbach 77



Atterbom 318



Audiat, Pierre 245, 252, 280



Aufseß, von 31



Augustinus 367



Augustus 530



Avenarius 355



Ayrenhoff, Hermann v. 542

[Spaltenumbruch]

Baader, Franz 547



Bach, Joh. Seb. 108, 299, 303, 541, 552,

554



Bacon, Francis, Lord 23, 26, 95, 481



Baesecke 68



Baggesen 542, 573



Bahnsen 130



Bahr, Hermann 531



Baldensperger, Fernand 41, 291



Balzac, Honoré de 60, 120, 152, 162, 165,

291, 326, 355, 392, 410, 418, 434, 450



Balzac, J. L. G. de 549



Bandello 173



Barbier 98



Bardili, Regina 304



Barlach, Ernst 204, 532



Bartels, Adolf 7, 544



Baudelaire 436, 533



Bauer 222



Baumgardt, David 547



Bautain 162



Bayle, Pierre 549



Beaumarchais 114



Beaumont 103



Bebel, Heinrich 557



Beck, Karl 561, 566



Becker, Nikolaus 262



Becking, Gustav 106, 194, 212, 343



Beecher-Stowe, Harriet 414



Beer, Johann 102, 311, 479



Beer-Hoffmann, Richard 532



Beethoven 204, 419, 539 f., 549, 579



Bédier, Joseph 9, 80, 314



Behaghel, Otto 141



Beißner, Friedrich 475



Benediktiner von St. Maur 24



Beneke 31



Béranger 127



Bergerac, Cyrano de 549



Bergson, Henri 42, 45, 109, 570



Berkley 538

[Ende Spaltensatz] |#f0671 : 647|



[Beginn Spaltensatz]

Berlioz 205



Bernays, Michael 37, 90, 463



Bernhardi 63, 103



Bernoulli 299, 552



Bertholet, Alfred XVII



Bertoni, G. 444



Bertram, Ernst 46



Bessarion 557



Besser 531



Bethge, Friedr. 115 f., 416



Bettelheim, Anton 39



Bettina vgl. Arnim



Beutler, Ernst 175



Beyle, Henri vgl. Stendhal



Bidermann 295



Biedermann, Flodoard, Freiherr von 307



Bierbaum 434



Binding, Rudolf G. 326, 348, 369, 532



Björnson 476



Birch-Pfeiffer, Charlotte 553



Birken, Sigmund von 23, 564



Birt, Theodor 85



Bismarck 165, 263, 566



Bitzius, siehe Gotthelf



Blake 339



Bleibtreu, Karl 531



Bligger von Steinach 276



Blüthgen, Clara 414



Blunck 348



Boccaccio 98, 387, 557



Boccalini, Trajano 265



Bode, Wilhelm 307



Bodenstedt, Friedrich 562



Bodmer 24, 139, 181, 332, 542, 569, 572



Boeckh, August 29



Böckmann, Paul 190, 382



Böhlau, Helene 531



Böhme, Jakob 256, 260, 338 f., 356, 378,

413, 558



Bölsche, Wilhelm 531



Börne 546



Bohatta 98



Boileau 549



Borcherdt, H. H. 530



Bossuet 549



Boucher 417



Boucke, Ewald A. 383



Bouginé 28



Bouhours, Dominique 24

[Spaltenumbruch]

Bourdeau, H. 46



Boutroux, Emile 450



Bouterwek, Friedrich 28



Bovet, Ernest 121, 477



Bracciolini, Poggio 557



Bräuer, Robert 228



Braig 46



Braitmaier, Friedrich 39



Brahm, Otto 171 f.



Brahms, Johannes 179



Brandl 407



Brecht, Bert 135



Brecht, Walter 102, 150



Brentano, Achim Ariel 305



Brentano, Bettina siehe Arnim



Brentano, Clemens 30, 97, 100, 167, 209,

221, 284, 291, 299, 303, 305, 321, 324,

328, 335, 339, 383, 389, 434, 437, 453,

491, 548, 563



Brentano, Maximiliane 304 f.



Breughel, Pieter 204, 299, 417



Breysig 550



Bridge 454



„Briefe an Theophron“ 27



Bright 161



Brinckmann, A. E. 517



Brion, Friederike 78 f., 114, 319, 364



Brockes, Barthold Hinrich 220



Brockhaus 98



Bröger 300



Bronnen, Arnold 144



Bruckner, Ferdinand 145



Brück 292



Brüggemann 41



Brugmann, H. 225



Brunetière, Ferdinand 121, 477



Bruni, Lionardo 557



Bruno, Giordano 265, 559



Brust, Alfred 503



Buchner, August 23



Buchwald, Reinhard 329



Buckle 36



Büchner, Georg 240, 484, 529, 555



Büchmann 98



Bühler, Karl 225 f.



Bürger 191, 259, 449, 559, 573



Buff, Charlotte 96, 319



Buffon 196



Burckhardt, Jakob 557

[Ende Spaltensatz] |#f0672 : 648|



[Beginn Spaltensatz]

Burdach, Konrad 150



Buri 165



Burns, Robert 339



Burte, Hermann 153, 348



Busch 531



Busoni 205



Byron, Lord 163, 290, 315, 325, 332, 354,

395, 406, 411, 436, 568





Calderon 134, 315



Calvin 378, 567



Canitz 531



Carossa, Hans 348, 447



Carlyle, Thomas 35, 39, 355



Carrière, Moritz 34



Carus 298, 399



Casanova, Silvio di 58



Catull 311



Cellini, Benevenuto 65, 410



Celtis, Conrad 22, 77, 557



Cervantes 10, 104, 185, 273, 354, 420,

518, 539



Cézanne 539



Chadwick, Ehepaar 8



Chamberlain, H. St. 45, 58, 291, 377



Chamisso, Adalbert von 58, 103, 282,

315, 366, 503, 561



Chateaubriand 314



Chatterton, Thomas 401



Chézy, Helmina v. 304



Chézy, Wilhelm v. 304



Chrestien von Troyes 135, 205, 483



Christ 330



Chrysoloras 557



Cibbers 24



Cicero 213, 463, 557



Claudius, Hermann 299



Claudius, Matthias 302, 559



Clauer 79



Clauren 196, 484, 573



Clauß, Ludw. Ferd. 49, 343, 374─376,

500



Clemen, Wolfgang 446 f.



Coleridge 366, 552



Comte, Auguste 35 f., 355



Conrad, Joseph 290, 419



Conradi, Hermann 531



Conrart 549



Conz 542

[Spaltenumbruch]

Correggio 539



Corneille, Pierre 355, 458, 549



Cornelius, Peter 205



Coster, de 275



Cotta 90, 98



Courbet 539



Courthope 41



Cramer, Karl Friedrich 407



Cranach, Lucas 292



Creizenach 249



Croce, Benedetto 42, 63, 65, 121, 278,

308, 359, 478, 519



Cromwell 6, 264



Crotus Rubeanus 102



Curtius, Ernst Robert 450



Cushing 98



Cuvier 564



Cysarz, Herbert XVIII, 45 f., 50, 62, 244





Däubler, Theodor 532



Dahlmann 31, 98



Dahn, Felix 531, 569



Dante 59, 120, 127, 153, 233, 251, 273,

311, 403, 406, 442, 463, 477, 480, 486,

513, 518, 557



Danton 549



Danzel 34



Dares Phrygius 335



Daudet, A. 175, 275, 299, 392, 436



Dauthendey, Max 220, 532



Debucourt 132



Dehmel, Richard 225, 413, 531



Delacroix 205



Demokrit 355, 407



Descartes 499, 549



Desiderio 353



Deubner, Ludwig XXII



Deutschbein, Max 208, 219



Dickens 354, 436, 555



Diderot 80, 174



Diede, Charlotte 565



Diel 97



Dilthey, Wilhelm 16, 38, 40, 42 f., 71,

137, 142, 148, 170, 212, 214, 235, 240,

244, 249, 254, 280 f., 326, 346, 352 bis

358, 363, 378, 388, 398, 403 f., 489

bis 492, 517, 542─544, 546, 549,

551 f., 570



Dingelstedt, Franz 561

[Ende Spaltensatz] |#f0673 : 649|



[Beginn Spaltensatz]

Dionys von Halicarnaß 213



Dix 356



Doorninck 98



Dostojewski 157, 161, 291



Dowson 433



Dragomirescu, Michel 60, 64



Dromel, Justin 535



Droste-Hülshoff, Annette von 217, 409,

413, 452



Du Bois-Reymond 535



Düntzer, Heinrich 313



Dürer 102, 338



Dumas, Alexandre 291, 299, 436, 552



Dunkelmänner Briefe 103



Duun, Olaaf 152, 170



Dvořak, Max 204



Dwinger 348





Eckart, Meister 377, 570



Eckermann 78, 132, 140, 340, 350 f., 394,

406, 408, 424, 449 f., 458



Edda 375



Eichendorff, Jos. von 30, 177─179, 217,

303, 339, 490, 539, 565



Eichhorn, Joh. Gottfried 28



Eickstedt, von 376



Eleonore von Vorderösterreich 516



Elisabeth von England 530



Elisabeth von Nassau-Zweibrücken 516



Elliot, George 414



Elster, Ernst XXI, 43, 61, 208, 389 f.,

404



Empedocles 255



Enea Silvio 557



Epikur 355



Erasmus 567



Ermatinger, Emil XXI, 47, 112, 114, 128,

212, 235, 239, 244 f., 247, 361, 418,

530



Ernesti 330



Ernst, Paul 42, 63, 137, 139, 242, 300,

452, 461, 486, 532



Eschenburg, Joh. Joachim 62



Eulenberg, Herbert 135, 532



Eupolis 103



Euripides 120, 134, 268, 331



Evremond, St. 549



Eyb, Albrecht von 557

[Spaltenumbruch]

Faguet, Émile 44



Falk 107



Falkenheim, Hugo 39



Farinelli, Arturo 3



Farquhar 174



Fehr, Bernhard 290, 401



Fehse, Wilhelm 288



Fénelon 549



Ferrera 430



Feuerbach, Anselm (Jurist) 553



Feuerbach, Anselm (Maler) 197, 553



Feuerbach, Ludwig (Philosoph) 35, 361,

553, 569



Fichte 41, 295, 330, 355 f., 361, 546,

549, 562 f., 569



Ficino, Marsiglio 557



Fielding 420



Filidor der Dorfferer, siehe Stieler,

Caspar



Finck 292



Finckh, Ludwig 291



Firdusi 441



Fischart 224, 294, 541



Fischer, Eugen XXII



Fischer, Kuno 39



Fischer, Rektor 328



Flacius Illyricus 22 f.



Flaischlen, Cäsar 439



Flaubert 162, 165─167, 217, 291, 298,

315, 365, 392, 394, 408, 410, 417,

433, 438, 533



Fleming 563



Fletcher 103



Fließ 318



Florian 291



Fock, Gorch (Kinau) 288



Follen 562



Folz 469



Fontane, Theodor XV, 59, 113, 160, 162,

164 f., 180, 217, 227, 235, 237 f., 291,

315, 322, 324, 327, 331, 389, 427 f.,

434, 437, 481, 486, 503, 529, 545, 576



Fontenelle 549



Forbes-Mosse, Irene 304, 553



Fouqué, Friedrich de la Motte 59, 103,

279, 291, 503



Fraenger, Wilhelm 97



France, Anatole 160



François, Luise von 291, 408

[Ende Spaltensatz] |#f0674 : 650|



[Beginn Spaltensatz]

Francke, Kuno 41, 43



Frank, Leonhard 135



Frank, Sebastian 558



Frazer 472



Freiligrath, Ferdinand 292, 561 f., 566



Frels, Wilhelm 72



Freyer, Hans 250



Freytag, Gustav 107, 140, 147, 152, 204,

394, 475



Fricke, Gerhard 46, 249, 388, 446─448



Friedrich, Caspar David 579



Friedrich der Große 58, 115, 236, 332,

503, 530, 549



Fries, Albert 209



Frischlin, Nikodemus 295, 484



Frobenius, Leo 377



Frommel, Hofprediger 165



Füessli 559





Gärtner, Karl Christian 531



Galsworthy 52, 437



Galton 552



Ganghofer, Ludwig 531



Garzoni, Thomas 336



Gassendi 549



Gasset, José Ortega y 45, 534, 546



Gaza 557



Gedike 25



Geibel 562



Geißlerlieder 262



Geistinger 91



Gellert 135, 267, 295, 549, 558



Gelzer, Heinrich 413, 419



Geoffroy de St. Hilaire 564



Georg II., Herzog von Meiningen 566



George, Stefan 39, 42, 55, 58, 118, 190,

216, 221, 223, 259, 297, 302, 304 f.,

321, 331, 347, 369, 458, 524, 532,

569



Gerbel, Nikolaus 102



Gerber, Gustav 208



Gerlach, Kurt 296



Gerok 304



Gerstenberg 559



Gerstenbergk 76



Gervinus, Georg Gottfried 31─33, 35 f.,

39



Gesner, Conrad 22



Geßner, Salomon 127, 204, 549



Gildemeister 60

[Spaltenumbruch]

Giorgione 539



Giovinazzi, Domenico 308



Gisander vgl. Joh. G. Schnabel



Gleim 563, 569, 576



Gloege, Georg 228



Gluck 182, 549



Göchhausen, Luise von 77, 423



Goedeke, Karl 37, 72, 540



Görner, Otto 113



Görres, Guido 553



Görres, Joseph 30, 339, 553



Goethe, Cornelia 115, 325



Goethe, Joh. Kaspar 335





Goethe:



Herkunft, Veranlagung, Leben: 292 bis

295, 301, 304─306, 308, 319, 324,

328─330, 339, 346, 349─350, 354

bis 356, 363, 389, 391, 496─499,

504─506



Lebenswirklichkeit und Dichtung: 159.

163, 165 f., 311─313, 315─316,

319─320, 324, 350─352, 359─361,

365─367, 370─372



Arbeitsweise: 56, 75, 104, 113─117,

139, 159, 370, 383, 391 f., 401 f.,

414 f., 423 f., 432, 435, 438 f.



Gedichte: 96 f., 103, 127, 150, 177,

189 f., 233 f., 242, 311, 365, 370,

422, 428, 439



Romane, Novellen, Epen: 77 f., 104,

126, 140, 153 f., 160, 164─167,

237 f., 257, 312, 431 f., 446 f., 487 f.



Dramen: 56, 120, 129, 145, 159, 182,

192, 430



Faust (vgl. auch: Faust-Forschung):

18 f., 113, 139, 163, 175, 187─189,

192 f., 233, 236, 246, 257, 260, 262,

266, 273, 350, 423 f., 437, 454 f.,

461, 478, 486



Autobiographie: 29, 65, 313 f., 325,

408



Motive: 132, 171, 242



Stil und Sprache: 192 f., 199, 209, 213,

218, 219, 221, 223 f., 344 f., 445,

487─489



Weltanschauung: 130, 233, 236 f., 322,

381, 384 f., 448, 451, 453─455



Literarische Beziehungen: 331─332,

334─335, 463, 475

[Ende Spaltensatz] |#f0675 : 651|



[Beginn Spaltensatz]

Goethe über Sprache, Dichtung und

Wissenschaft: 9, 56, 88, 111, 118,

122, 124 f., 128, 132 f., 140, 151,

244, 250, 254, 259, 266, 305, 333.

394, 406, 411, 441, 449 f., 458, 465,

530



über einzelne Dichter: 95, 267, 340,

395, 423, 435, 458, 469, 576



Wirkung, Ruhm, Geltung: 7, 18, 268,

397, 420, 461─463, 529



Goethe und seine Zeit: 482, 491, 549,

554, 559, 562, 564, 569, 575 f., 579



Echtheitsfragen: 57, 75, 77─79, 90 bis

92, 107



Goethe-Forschung (vgl. auch: Faust-

Forschung): 33, 37, 38 f. 45, 57, 71,

148, 150, 209, 227, 286, 292─295,

301, 313, 319, 346 f., 352, 354, 358

bis 360, 384 f., 389, 405, 480 f.



Faust-Forschung: 18─20, 77, 91 f.,

96 f., 175, 359 f., 423



Zitierte Goethe-Worte: 7, 18, 75, 111,

118, 128, 132, 199, 203, 250, 254,

255, 259, 277, 284, 316 f., 320, 338,

346, 349 f., 353, 355, 371─372,

391 f., 394, 401 f., 406, 423, 424,

438 f., 441, 446, 449─451, 457, 465

518, 575, 576, 581, 582



Götz 563, 576



Gogh, van 539



Gogol 115



Goldoni 174



Goltz, von der 348



Gomperz 258



Goncourt, Brüder 103, 220, 408, 411,

415, 137



Gontscharof 392



Gotendorf, Alfred N. 98



Gotter 559



Gotthelf, Jeremias 153, 160, 167, 217,

220, 288, 301 f., 312, 476, 546



Gottlieb, August 553



Gottschall, Rudolf 33, 561



Gottsched 24, 136, 181, 191, 313, 470,

483, 503, 531, 542, 546, 563, 569,

572 f.



Gottschedin 531

[Spaltenumbruch]

Gottfried von Straßburg 9, 21, 86, 96,

378, 506



Goué 559



Gounod 205



Goya 204, 356, 539



Gozzi, Graf 132 f.



Grabbe 159, 263, 268, 273, 301



Graff 103, 135



Greco 539



Greif, Martin 562



Gresset 291



Griese 348



Gries 563



Grillparzer 71, 86, 167, 205, 236, 238,

241, 243, 269, 295, 301, 320, 327, 333,

351, 383, 402 f., 411, 416 f., 429 f.,

476, 486, 504 f., 547



Grimm, Gisela 304, 353



Grimm, Hans 348



Grimm, Jacob XVI, XIX, 30, 36, 83, 90,

185, 218, 300, 303, 503, 514



Grimm, Wilhelm 30 f., 185, 218, 300,

303, 503



Grimmelshausen, Joh. Jakob Christ. von

XV, 90, 99 f., 120, 156, 160, 184, 224,

238, 264─266, 294, 309 f., 326, 336,

431, 463, 483, 506, 558



Groethuysen, Bernhard 378, 507



Groos, Karl 344



Groß 356



Grosse, Julius 562



Grün, Anastasius 566



Grünewald, Matthias (Nithard) 206



Gryphius, Andreas 144, 235, 446─448,

553, 558



Gryphius, Christian 553



Günderode, Caroline von 97



Günther, Hans F. K. 49, 206, 287, 290 f.,

295, 375 f.



Günther, Hans R. G. 257



Günther, Joh. Christian 482, 529



Güntter, O. von 286



Guez 291



Guhrauer 34



Gumppenberg, Hans von 573



Gundolf, Friedrich 14, 43, 45 f., 358 bis

360



Gutenberg 523



Gutzkow, Karl 152, 241, 427, 561, 565

[Ende Spaltensatz] |#f0676 : 652|



[Beginn Spaltensatz]

Häberlin, Paul 449, 454



Haeckel, Ernst 569



Händel 205, 414, 541, 554



Häring, Wilh. vgl. Willibald Alexis



Hafis 332, 363



Hagedorn 506, 549



Halbe, Max 484, 503, 532



Hallam, Henry 31



Haller, Albrecht von 220, 506, 519, 549

572



Hamann 26, 44, 260, 368, 503 f., 519,

540─542, 549, 559, 570 f.



Hardenberg, Friedr. von 81, 161, 228,

242 f., 257, 301, 303, 318, 324, 331,

349, 354, 362, 364, 366, 368, 397, 399,

409, 420, 452, 484, 502, 529, 544, 548,

553, 569



Hardt, Ernst 532



Hardy, Alexander 554



Hardy, Thomas 347



Harenc 503



Harnack, Adolf von 14



Harring, Harro 561



Harsdörfer 23, 220, 564



Hart, Julius 531



Hartl 128



Hartmann, Moritz 313



Hartmann, Nicolai 13, 200, 263 f., 270



Hartmann von Aue 135, 205



Hasenclever 134



Hauff, Wilhelm 156, 196, 304, 484, 529,

546, 573



Haug 542



Haupt, Moritz 31, 295



Hauptmann, Gerhart 126, 145, 148, 155,

180, 183, 191, 241 f., 403, 421, 438,

484, 531, 569, 576



Hauptmann, Karl 531



Hauser, Otto 287



Haushofer, Max 562



Hawthorne 299



Haydn 401, 414, 549



Haym 34, 544



Hayn, Hugo 98



Hebbel, Friedrich 33, 104, 130, 134,

141 f., 167, 245, 273, 275, 279, 285,

300─302, 330, 337, 344, 351, 394,

400─402, 408, 411, 413, 417, 420,

427, 435, 486, 504, 506, 555, 566, 569

[Spaltenumbruch]

Hebel, Joh. Peter 221



Heeren, A. H. L. 20



Heidegger, Martin 249, 258, 267, 442, 491



Heine, Heinrich 32, 272, 309, 546



Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig

554



Heinrich VI. 292



Heinrich der Vogler 292



Heinroth 371



Heinse, Wilh. 204, 221, 339, 539, 559,

575



Heinzel, Richard 62



Hefele, Hermann 62, 112, 118



Hegel 14, 19, 34, 36, 41, 80, 204, 244,

304, 330, 355 f., 520, 549, 559, 563,

570 f.



Heliand 252, 472, 530



Hellingrath, Norbert von 213



Hellmann, Hanna 100



Hellpach, Willy 284, 296, 318



Hennequin, Émile 39



Hensel, Luise 97, 453



Heraklit 355



Herder, Joh. Gottfried 4, 23, 25─30,

32─34, 36, 55, 66, 95, 105, 107, 165,

218, 242, 244, 317, 326, 330 f., 363,

378, 383, 395, 445, 454, 500, 503 f.,

513, 519─523, 530, 559, 562, 569,

573, 576



Hering, Ewald 298



Herodot 335, 528



Herrmann, Max 76



Hertz, Wilhelm 562



Herwegh, Georg 561 f., 568



Herwig, K. G. 107



Herzlieb, Minchen 319



Hesekiel, George 561



Hesse, Hermann 162, 242, 369



Hettner, Hermann 35, 61, 249



Heusler, Andreas 9, 137, 192, 375, 472



Heyking, Elisabeth von 304, 553



Heyse, Paul 269, 291, 403, 433, 486, 531,

541, 555, 562 f., 576



Hildebrand, Adolf 409



Hildebrandlied 530



Hille, Peter 434



Himburg 90 f.



Hinrichs, H. F. W. 31, 96



Hintze 103

[Ende Spaltensatz] |#f0677 : 653|



[Beginn Spaltensatz]

Hobbes 355



Hodler 539



Höfler, Otto 49, 469



Hölderlin 80 f., 86, 93, 177, 190, 195,

204, 213, 219, 221, 223, 228, 257, 261,

301 f., 304, 313, 321, 325 f., 330─332,

356, 361, 428, 432, 442 f., 455, 459,

487─490, 504, 539 f., 549, 559, 563,

569 f.



Hofbauer, Clemens Maria 330



Hoffmann, E. Th. A. 60, 100, 154, 156,

160 f., 164, 180, 186, 204, 241, 243,

253, 289, 324, 340, 344, 346, 349, 362,

368, 390, 403, 436



Hoffmann, Hermann 302



Hoffmann, Paul 508



Hoffmann v. Fallersleben 561



Hoffmann-Krayer, E. 212



Hofmannsthal, Hugo von 127, 200, 305,

352, 409, 449, 524, 532



Hofmannswaldau, Christian Hofmann

von 23, 206, 234, 558



Hofmeister 34



Hogarth 356



Holbach 503



Holbein 299, 418



Holz, Arno 103, 126, 191, 196, 220, 226,

503, 531



Holzmann 98



Homer 59, 104 f., 137, 145, 151, 153,

180, 183, 187, 226, 267, 276, 332, 391,

441, 446, 463, 475, 480 f., 497, 559



Hooft 476



Horaz 27, 81, 127, 407



Houwald 135



Hrotswith v. Gandersheim 22, 77, 205,

516



Huarte 26



Huber, Johann 102



Huch, Ricarda 42, 153, 299, 327, 456,

532, 546



Hübner, Arthur 311



Hugo, Victor 6, 129, 326, 390, 503



Hugo v. Trimberg 21



Huizinga, J. 277



Humboldt, Alexander v. 550



Humboldt, Wilh. v. 10, 29, 205, 303, 407,

432, 475, 507, 565, 571



Hume, David 26, 528

[Spaltenumbruch]

Hunziker 312



Husserl, Edmund 41, 225, 570



Hutten, Ulrich v. 58, 102, 558, 567



Huysman 420



Hyginns 136





Ibsen 113, 242, 273, 275, 406, 411, 420,

430, 438, 476, 538, 576



Iffland XV, 126, 257



Immermann 154, 160, 565



Ingarden, Roman 56, 64



Ireland, William Henry 76





Jacobi, Eckart 386



Jacobi, Fr. Heinr. 107, 559



Jacobsen, Jens Peter 275, 318, 436



Jaeger, Werner 104



Jaensch, E. R. 301 f., 326, 345─347,

349 f., 492, 500



Jahn, Friedr. Ludw. 562



Jahn, Kurt 313



James 349



Janitschek, Maria 531



Jaspers, Karl 233, 239, 357, 372 f., 379 f.



Jean Paul siehe Richter



Jellinek 104



Jensen 403



Jerzembsky 107



Joachim von Watt 22



Johanna, Päpstin 170



Johann von Saaz 99 (auch Johannes de

Sytbor oder Johann v. Tepel)



Johnson, Samuel 407



Johst 348



Jolles, André 113, 115



Jordan, Wilhelm 298



Joyce, James 157



Jung, Karl Gustav 302, 349 f., 364



Jung-Stilling 559



Justinus 335





Kadner, Siegfried 289



Kafka 162



Kalb, Charlotte von 321



Kalewala 442



Kant, Immanuel 41, 173, 196, 210, 264,

329─331, 349, 355, 361, 363 f., 368,

383, 497, 503, 521, 530, 549, 554, 569



Karl August, Herzog von Sachsen-

Weimar 314



Karl Eugen v. Württemberg 559

[Ende Spaltensatz] |#f0678 : 654|



[Beginn Spaltensatz]

Karl der Große 292, 530



Karl Ludwig v. d. Pfalz, Kurfürst 99



Karsch, Anna Luise 304, 553



Kaßner, Rudolf 376



Kaulbach 184, 299, 552



Kayser 97



Keats 433



Keller, Adalbert 98



Keller, Gottfried 71, 153 f., 156, 166,

173, 238, 240, 257, 269, 291, 301 f.,

312 f., 321, 331, 338─340, 351, 361,

396 f., 408, 418, 432, 439, 476, 486,

491, 555, 569



Kerner, Justinus 161, 347, 399, 545, 563



Kestner 96, 312



Kettner, Gustav 161, 426



Kierkegaard, Sören 41, 339, 456, 555



Kinau, Brüder 288



Kindermann, Heinz 48, 249



Kinkel, Gottfried 561 f.



Kippenberg, Anton XVII, 71



Kirschstein, Max 575



Klages, Ludwig 298, 320, 341, 377



Klaiber, Julius 85 f.



Klaj 564



Klein, Julius 249, 468



Kleist, Ewald von 299



Kleist, Franz von 299



Kleist, Heinrich von:



Herkunft, Leben, Charakter: 287, 291,

299, 301 f., 314, 321, 324, 340─342,

349, 368, 504.



Arbeitsweise: 56, 104, 132, 147, 180,

183, 340─342, 417, 431, 445.



Dramen: 57, 92 f., 147, 172, 173, 183,

245, 257, 273, 279, 364, 420, 430



Novellen: 104, 240, 431, 486



Echtheitsfragen: 92 f., 100, 107 f.



Literarische Beziehungen: 100, 161,

330, 331, 333, 334 f., 361, 569, 575



Weltanschauung (Tragik, Wirklichkeitsauffassung):

130, 173, 185,

241, 243, 318, 364, 388



Stil: 180, 209, 215, 225 f., 229, 396,

446 f., 483



Kleist-Forschung: 46, 92 f., 185, 209,

242, 308, 360, 388, 483



Kleist, Ulrike von 324, 483



Klenke, Karoline 304

[Spaltenumbruch]

Klenz, Heinrich 440



Klinger, Friedr. Maximilian 100, 107,

174, 470, 493─496, 504, 529, 559



Klopstock 66, 81, 148, 172, 185, 190,

194, 205, 211, 221, 226, 236, 253,

257, 268, 327, 329─332, 339─341,

366, 407, 412, 414, 433, 455, 457,

475, 482 f., 506, 531, 549, 554, 558,

563, 569, 572, 575, 579



Kluckhohn, Paul XXII, 242, 457



Kluge, Kurt 204, 340



Knauth 209



Knetsch, Karl 292



Knorr v. Rosenroth 542



Koberstein, August 32



Koch, Erdwin Julius 30



Koch, Franz 49, 385



König 531



Könnecke, Gustav 286, 310



Körner, Josef 97, 169



Köster, Albert XVI, 73, 90, 100 f.



Kolbenheyer, Erwin Guido 63, 108, 252,

268, 282, 498 f., 502



Kommerell, Max 167



Konrad von Hirschau 21



Konrad, Pfaffe 205



Konrad v. Würzburg 275



Koreff, Joh. Ferdinand 561



Korff, H. A. 45, 47, 246, 249, 454, 529



Koskenniemi 315 f., 326



Kotzebue 191, 267, 542



Krannhals, Paul 48, 204



Kraus 104



Kretschmann 417



Kretschmer, Ernst 284, 289 f., 300─302,

318─320, 329, 345, 348, 500



Kroh, Oswald 345 f.



Krupp 298



Kruse 79



Kühn, Sophie von 318, 362, 368



Kühne, Gustav 561



Kühnemann, Eugen 478



Külpe, Oswald 345, 388



Kuhlmann, Quirinus 542, 558



Kummer, Friedrich 43, 544 f.



Kurz, Heinrich 33, 299



Kurz, Hermann 301



Kyd 119



Labé, Louise 516

[Ende Spaltensatz] |#f0679 : 655|



[Beginn Spaltensatz]

Labes, von 324



Lachmann, Karl 31, 83, 94



Laclos 291



Lacombe, Hennequin 280



Lafayette, Madame de 516



Lafontaine 402, 549



Lagerlöf, Selma 165



Lamprecht 41, 275



Landolt, Sebastian 397



Lange, Fritz 283



Lange, Samuel Gotthold 531



Langner, Eva 347



Laponge, G. de 552



Laroche, Maximiliane von (verehel.

Brentano) 304 f.



Laroche, Sophie von 304, 553



La Rochefoucauld 549



Laskaris 557



Lasker-Schüler, Else 532



Laßberg, Christel von 97



Laßberg, Joseph Freiherr v. 31



Latzke, Pfarrer 290



Laube, Heinrich 33, 561



Lauff, Joseph 531



Lavater 97, 231, 284, 559



Lawrence 162



Leibniz 26, 58, 61, 161, 181, 264, 295,

316, 520, 541, 570



Leineweber, Berthold 347



Leisegang, Hans 229, 356, 386 f., 489,

551



Leisewitz, Joh. Anton 174, 333 f., 493

bis 496, 530



Lempicki, Sigmund von 21



Lenau, Nikolaus 193, 321, 396, 566



Lenz, Jak. Mich. Reinhold 79, 107, 484,

504, 529, 545, 559



Leopardi, Graf 414



Lepel XV



Lepsius, Sabine 304



Lerch, Eugen 225



Lersch 300



Lesage 156



Lessing:



Herkunft, Charakter u. Leben: 105,

279, 295 f., 300 f., 321, 328, 330,

402, 504



Arbeitsweise: 56, 104, 105 f., 139, 174,

416, 429 f., 433, 439

[Spaltenumbruch]

Dramen: 56 f., 80, 104, 130, 138 f., 161,

174, 238, 257, 273, 416, 420 f., 437,

470, 474



Ästhetische Schriften: 24, 120, 138,

145, 168, 181, 220, 227, 267, 474,

520, 530



Theologisch-weltanschaul. Schriften:

105 f., 227, 233, 385─387



Geistesgeschichtliche Stellung: 6, 66,

385─387, 482 f., 496, 531, 541 f.,

549, 554, 558, 579



Lessing-Forschung: 34, 38, 148, 209,

227, 279, 385─388, 389, 408



Lessing, Karl Gotthelf 408, 542



Leubing 99



Leuchsenring 163



Leuthold, Heinrich 562



Levetzow, Ulrike von 319



Lewandowski 490



Lewis 275, 416



Ley, Esther geb. Ritter 304



Lichtenberg 395, 413



Lienhard, Friedrich 532



Liliencron, Detlev von 235, 299, 312, 541



Lillo 416



Linden 47



Linder, Emilie 97



Linné 540



Lingg, Hermann 562



Liszt 205



Locher, Jakob 557



Locke, John 554



Loeben, O. H. Graf von 81, 546



Lönnrot 442



Löns, Hermann 298



Löper, Gustav von 313



Logau, Friedrich von 558



Lohenstein, Daniel Caspar von 237, 558,

572



Lorenz, Alfred 537



Lorenz, Ottokar 36, 535─537, 544, 552



Loti, Pierre 436



Louis XIV. von Frankreich 530



Louis XV. von Frankreich 530



Louis XVI. von Frankreich 530



Lucka 334



Ludwig, der Deutsche 530



Ludwig, der Fromme 530



Ludwig III. 530

[Ende Spaltensatz] |#f0680 : 656|



[Beginn Spaltensatz]

Ludwig, Otto 107, 132, 141 f., 162, 204,

340, 346, 354, 393 f., 439, 486, 555



Lugowski, Clemens 116, 162 f., 184 f.,

249, 483



Lukrez 55, 355



Luther 15, 23, 76, 185, 200, 227, 257,

367, 378, 452, 456, 513, 558, 567



Lykurg 442





Mach, Ernst 499



Macpherson 107



Mahabharata 137



Mahr, August C. 134



Malebranchc 549



Mallarmé 417, 532 f.



Malone 75



Manet 538



Mani 8



Mann, Heinrich 532



Mann, Thomas 66, 532



Mannheim, Karl 560



Manuel, Hans Rudolf 553



Manuel, Niklas 204, 553



Marc, Julia 362, 368



Marées 539



Marlowe 113, 554



Marsiglio, Luigi 557



Massias 162



Massis 419



Masson-Oursel, P. 377



Matthias Nithard vgl. Grünewald



Mathisson 542



Mauthner, Fritz 218, 573



Max, König von Bayern 562



Maximilian I., Kaiser 23



May, Kurt 193, 385



Mayer, Anton 369



Mayer, Karl 396, 563



Mazzini 562



Mechow, Karl Benno von 348



Meier, John 72



Meillet 572



Meinhold 108



Meißner, Alfred 553



Meißner, A. G. 126



Melanchton 558



Melzi 98



Melzer, Friso 111



Mendel 504

[Spaltenumbruch]

Mendelssohn 385



Mendoza 98



Menzel, Adolf 204, 356, 539



Menzel, Wolfgang 33, 561



Merck 312



Mereau, Sophie 305



Merimée 228



Merkel, Garlieb 542



Merker, Paul 41, 102, 169



Meusebach, von 31



Meyer, Conrad Ferdinand 150, 153, 225,

269, 302, 371, 408, 418, 450, 476, 486,

540, 566



Meyer, Heinrich 260



Meyer, Joachim 90



Meyer, R. M. 42, 208, 227, 311



Mezzofanti, Guiseppe 3



Michelangelo 204, 553



Middleton, Murry 445



Miegel, Agnes 503



Militarius 170



Mill, John Stuart 16, 36



Miller 559



Milton 181, 424



Minde-Pouet 209



Minor, Jakob 38, 209



Mirabeau 549



Mirandola, Pico von 557



Mnioch 318



Moebius, P. J. 318



Möller, Wolfgang Eberhard 145, 342,

438



Moeller van den Bruck, Arthur 205, 508



Mörike, Eduard 85, 177─179, 221 f., 301,

304, 328, 353, 402, 490, 561, 563



Möser, Justus 168, 546, 549, 572



Molière 168, 486, 497, 549



Molo, Walter von XXII, 312, 342, 348



Mombert, Alfred 532



Mommsen, Brüder 563



Moncrif 291



Montesquieu 26, 35, 242



Morhof, Daniel Georg 24



Moritz, Karl Philipp 161



Morgenstern, Christian 193, 221 f., 305,

338, 369, 402



Moscherosch 59, 99, 265, 335, 403



Moser, Friedr. Karl v. 542



Moser, Joh. Jacob 304, 542

[Ende Spaltensatz] |#f0681 : 657|



[Beginn Spaltensatz]

Mozart 205, 401, 414, 529, 549, 579



Mühlpfort, Heinrich 542



Müllenhoff 36



Müller, Ernst 307



Müller, G. E. 341



Müller, Günther 478



Müller, Hans von 540, 543, 545 f.



Müller, Maler 127, 211, 529, 559



Müller-Freienfels, Richard 357, 362─366



Müllner 240



Münchhausen, Borries von 150, 314



Mundt, Theodor 561



Musäus 542



Muschg, Walter 46, 167, 306, 312



Musset, Alfred de 410, 415



Mylaeus, Christophorus 23



Mylius 98





Nadler, Josef 43, 128, 196, 200, 209, 278,

290, 293─296, 377, 468, 500



Nagel, Lotte 116



Naigeons 80



Napoleon 115, 549 f.



Nast 329



Naumann 572



Naumann, Hans 468



Neithart v. Reuenthal 476



Nerval, Gérard de 133



Nestroy 145



Neukirch 531



Neumann, Wilhelm 103, 561



Newton 61, 380



Nibelungenlied 137, 151



Nicolai, Friedrich 503, 542, 573



Niebuhr 68



Niethammer 304



Nietzsche, Friedr. 41, 46, 59, 71, 179,

205, 227, 237, 313, 320, 349 f., 362,

364, 368 f., 413 f., 457, 501, 541,

569─571



Nohl, Hermann 212, 356, 489



Norden, Eduard 194



Notker 21, 508



Novalis, vgl. Hardenberg, Fr. v.



Nußberger, Max 390





Obenauer 48, 170, 453



Obereit 24



Occam, Wilh. v. 556

[Spaltenumbruch]

O'Leary 21



Olrik 472



Oncken, Hermann XXII



Opitz, Martin 23, 205, 339, 483, 558, 569



Oppert 192



Orosius 84



Ortlob, Karl 23



Ortner, Eduard 374



Ossian 330, 559



Otfrid v. Weißenburg 22 f., 252, 483,

530



Ovid 311





Palagyi 341



Paracelsus 378, 558



Parmenides 55



Pascal 280, 298, 549



Pasiello 127



Paul, Hermann 226, 250 f., 253, 574



Paulhan, F. 280, 397



Paulus 542



Perger, Arnulf 148



Perikles 530



Pestalozzi 476



Peter Rothirsch 99



Petrarca 311, 402, 557



Petrich 209



Petronius 135



Petsch, Robert 112 f., 148, 150, 170 f.



Pfahler, Gerhard 302 f., 345



Pfeiffer, Johannes 149, 490



Pfitzer 334



Pfitzner, Hans 145, 414



Pfizer, Gustav 563



Pfuel, Ernst von 342



Pierre, Abbé St. 549



Pietsch 531



Piloty 566



Pindar 560



Pinder, Wilh. 199, 204, 269, 520, 537 bis

540, 545, 555, 564, 570, 579 f.



Piper 79



Pirandello 162



Pirkheimer, Willibald 102



Placcius 98



Planck 298



Platen, Graf von 209, 301, 321, 330, 369,

562, 565



Platner 330

[Ende Spaltensatz] |#f0682 : 658|



[Beginn Spaltensatz]

Platon 78, 237, 242, 244, 355 f., 406 f.,

441, 557



Plautus 168



Plethon 557



Plotin 255



Plutarch 239



Poe, Edgar Allan 390, 403, 433



Polenz, Wilh. v. 531



Polti, Georges 133 f.



Pongs, Hermann 50, 167, 176, 222 f., 244,

448, 451



Ponten, Josef 66



Pope, Alexander 385, 436, 481



Pos, H. J. 84



Posner, Martin 101



Prescott, F. C. 142, 398



Proust, Marcel 338



Prutz, Robert 33, 561



Pückler-Muskau, Fürst 154



Püterich v. Reichertshausen 21



Pufendorf 295



Puschkin, Alexander 291



Pyra, Immanuel 482





Quevedo 403



Quintilian 213



Quinzy, de 436





Raabe, Wilh. 153, 251, 266, 288 f., 291,

300 f., 322, 327, 334, 400, 435, 461

486, 531, 541



Rabener, Gottfr. Justus 553



Rabener, Gottl. Wilh. 553



Rachel 573



Racine, Jean 120, 134, 503, 549



Raffael 539



Rambouillet, Marquise de 516, 549



Rank, Otto 400



Ranke, Leopold v. 45, 536, 543 f., 549



Rath, Hanns Wolfg. 304



Rauschenberger, Walter 293



Raynal 134



Rebhu, Jan siehe: Beer, Johann



Reder, Heinr. v. 562



Rehder, Helmut 171



Rehm, Walter 242, 567



Regis 60



Regnard 174



Reibmayr 289

[Spaltenumbruch]

Reich, Hermann 172



Reimarus 105 f.



Reinmar von Hagenau 96



Reinwald 141, 163



Rembrandt 213



Reuchlin, Johann 335, 557



Reuter, Christian 102



Reuter, Fritz 301 f.



Reuter, Gabriele 531



Ribot, Théodule 341, 390, 412 f., 415 f.,

418, 552



Richardson 126, 267, 416, 421, 568



Richelieu 549



Richter, Jean Paul Friedrich 15, 100,

103, 130, 153 f., 165, 169, 224, 229,

257, 266 f., 273, 301, 315, 318 f., 321,

326, 330 f., 339, 366 f., 392, 397, 402,

409, 435, 439, 483, 486, 549, 571



Richter, Ludwig 295



Rickert, Heinrich 16, 84, 236



Riehl, Alois 409



Riehl, Wilh. Heinr. 562



Riemer 91, 424



Rienzo 557



Rilke, Rainer Maria 58, 71, 190, 199,

218, 220, 223, 229, 243, 260, 283, 291,

302, 304, 318, 321, 347 f., 369, 409,

416, 441, 444, 447, 452, 476, 523, 532,

546



Ritter, Bernhard 95



Ritter 563



Rivarol 291



Robertson, J. M. 94



Rodin 369



Roessle, Robert XXII



Roethe, Gustav 70, 209, 313, 423



Rolandlied 205



Rolland, Romain 419



Rollenhagen, Georg und Gabriel 553



Rollet 286, 347



„Roman der Zwölf“ 103



Romano, Giulio 417



Romanow 431



Rorschach 347



Rosegger, Peter 439, 531



Rosenberg 377



Rosenkranz, Karl 34



Rossetti, Dante Gabriel 204, 290, 339,

433

[Ende Spaltensatz] |#f0683 : 659|



[Beginn Spaltensatz]

Rothacker, Erich 20, 357, 364, 373, 382 f.



Rothirsch, Peter 99



Rousseau 127, 239, 354, 362, 368, 407,

503, 546, 559, 569



Rowe, El. 242



Rückert, Friedr. 118, 305



Ruederer, Joseph 531



Rümelin, Gustav 528, 544



Ruodlieb 58



Runge 579



Rutford 481



Rutland, Lord 95



Rutz, Josef und Omar 106, 212, 343, 492





Saar, Ferdinand v. 531



Sachs, Hans 335, 398, 463, 557 f.



Sailer, Joh. Mich. 330, 453, 547



Sainte-Beuve 39, 304



Salminen, S. 300



Salutati, Coluccio 557



Sand, George 291, 312, 414



Saran, Franz 148, 192



Sarasin 559



Sardou, Victorien 427



Sauer, August VI, 43, 209, 291, 296, 468



Savigny 30



Scaliger, Julius Caesar 22 f., 244



Scarlatti, Domenico 554



Scarron 549



Schack, Graf 562



Schaeder, H. H. 150



Schäfer, Wilh. 108, 153, 532



Schaeffer, Albr. 157, 421



Schaffner, Jakob 298, 312, 546



Schallenberg, Christoph v. 540



Scharten-Antink, C. u. M. 103



Schauenburg, Frh. H. Reinh. v. 310



Schaukal, Rich. v. 532



Schaumann, Ruth 204



Scheffel, Jos. Victor v. 346, 427, 531,

541 566



Scheffler, Joh. 253, 453, 558



Scheffner 542



Scheidt, Walter 542



Scheler 129



Schelling, Caroline siehe: Schlegel, Caroline





Schelling 41, 80, 100, 256, 304, 330,

355 f., 383, 399, 547, 549, 559, 563

[Spaltenumbruch]

Schellmuffsky 314



Schenkendorf, Max v. 561



Scherenberg, Christ. Fried. 561



Scherer, Wilh. VIII, 27, 36 f., 43, 61, 83,

150, 171, 244, 281, 389, 468, 482,

536 f.



Scherr, Joh. 33, 546



Schick, Jos. 3



Schi-King 474



Schilcher 295



Schiller



Herkunft, Veranlagung, Leben: 284

bis 287, 295, 301 f., 303, 307 f., 314,

320 f., 324, 328 f., 349, 363, 389,

504─507



Arbeitsweise: 56, 105, 113 f., 133, 139

bis 141, 163, 315, 340, 342, 411,

419─422, 425 f., 428 f., 433, 435

bis 438



Gedichte: 127, 190, 235, 361, 429,

433, 490, 496 f.



Dramen (Motive, Probleme, Technik

usw.): 117, 136, 147, 164, 167, 172,

182, 191, 192, 229, 235─237, 240,

242, 246, 257, 273, 284 f., 315, 324,

334, 395 f., 399, 421─422, 425 f.,

430─433, 438, 495 f.



Don Carlos: 105, 113 f., 134, 139─141,

144, 163, 333 f., 396, 425, 429, 432,

562



Der Geisterseher: 86, 153, 486



Naive und sentimentalische Dichtung:

29, 33, 167, 302, 349, 354, 497

bis 500, 507



Ästhetische Urteile: 63, 120, 122, 133,

151, 168, 182, 192, 197, 236, 261,

337, 344, 352, 408, 444, 448 f.,

458 f., 475, 510, 518, 521.



Weltanschauung: 130, 167, 197, 235 f.,

240, 261, 273, 301, 337, 355 f., 361,

363, 382, 454, 519



Stil: 191, 209, 227, 229, 236 f., 344,

382, 447, 495 f.



Beziehung zu Goethe: 103, 116, 120,

122, 133, 151, 163, 182, 305, 319,

320, 349, 395, 405, 424, 435 f., 458,

498, 506 f., 554, 575, 576



Wirkung, Ruhm, Geltung: 33, 262,

268, 331, 481, 568

[Ende Spaltensatz] |#f0684 : 660|



[Beginn Spaltensatz]

Literarische Beziehungen: 331─335,

420, 470, 490, 495 f., 500, 569



Literaturgeschichtliche Einordnung:

530, 543, 549 f., 554, 559, 562 f.,

569



Schiller-Forschung: 34, 37 f., 71, 90,

148, 167, 209, 227, 286 f., 295, 307 f.,

329, 355, 382, 389, 490



Echtheitsfragen: 76, 78, 90, 92, 329



Zitierte Schiller-Worte: 1, 305, 382,

408, 425 f., 429, 448 f., 454, 458,

459, 475, 507, 519, 521



Schiller v. Herdern 295



Schilling 145



Schlaf, Joh. 103, 126, 380, 531



Schlegel, Aug. Wilh. 29, 31, 60, 107, 118,

120, 303, 335, 468, 502, 547 f., 553,

563, 569, 575



Schlegel, Caroline 100, 276, 299, 563



Schlegel, Friedrich 29, 60, 74, 84, 107,

256, 260, 279, 299, 303, 312, 354, 420,

453, 477, 502, 547 f., 553, 563, 575 f.



Schlegel, Joh. Adolf 553



Schlegel, Joh. Elias 482 f., 549, 554, 558



Schleiermacher, Fr. Daniel 29, 38, 40,

71, 254, 335, 354, 452, 543, 562



Schlösser, Rudolf 369



Schlüsselfelder 99



Schmidt, Annemarie XXII



Schmidt, Erich XVIII, 38, 175, 209, 295,

544



Schmidt, Julian 33



Schmidt, Wieland XVII, XXII



Schmidt v. Werneuchen 542



Schmidtbonn, Wilh. 532



Schmohl 80



Schnabel, Joh. Gottfr. 102



Schneider, Hermann 93



Schneider, Max 98



Schneider, Wilh. 210, 215



Schnitzler, Arthur 126, 156



Schöffler, Herbert 378, 567



Schönaich, Frh. v. 572 f.



Schönkopf, Kätchen 319



Scholl, Robert 345



Scholte, J. H. 310



Scholz, Wilh. v. 42, 132, 241, 348, 482,

532, 546

[Spaltenumbruch]

Schopenhauer, Arthur 117, 198, 238, 304,

399, 570 f., 576, 578



Schottelius 288



Schreiber 573



Schreker 164



Schröder, Friedr. Ludw. 174, 269, 559



Schröder, Rud. Alex. 462



Schubart 484, 554, 559



Schubert, Gotthilf Heinr. 161, 399



Schuchardt 423



Schücking, L. 41



Schütze, Martin 27



Schumann 205



Schulte-Strathaus 286



Schultheß, Bäbe 77



Schultz, Franz 27, 100



Schultze-Jahde 112



Schurz, Anton 396



Schwab 545



Schwan 342



Schwieger, Jacob 101



Schwind, Moritz v. 179



Scott, Walter 60, 327, 437, 555



Scudéry, George de 291



Scudéry, Madeleine de 516, 549



Seckel, Dietrich 195



Seckendorf, Sigmund v. 531



Seidel 531



Seidel, Ina 134, 299, 304, 327, 420



Semons, R. 298



Seneca 139, 476



Serassi 430



Seuse 378



Shaftesbury 26, 128, 355, 559



Shakespeare



Artung, Persönlichkeit, Bildung:

167 f., 315, 335, 486, 497, 505



Stil: 191, 204, 211, 215, 229, 345, 445

bis 447



Charaktere: 161, 168



Motive: 134, 135, 136, 146, 173, 174,

181, 241



Technik: 130, 135, 138, 144 f., 146,

182, 191



Weltanschauung, Tragik, Realismus:

130, 146 f., 187, 191, 244, 354, 497



Literaturgesch. Stellung: 119, 204,

211, 229, 354, 445 f., 463, 470, 554

[Ende Spaltensatz] |#f0685 : 661|



[Beginn Spaltensatz]

Shakesp. und die deutsche Literatur:

139, 168, 181, 211, 268, 331, 332,

407, 423, 431, 463, 496, 518, 541,

555, 559 f., 569



Übersetzungen: 59 f., 191



Echtheitsfragen: 75 f., 95 f., 104, 107



Shakesp.-Forschung: 43─44, 75 f.,

94 f., 244, 347, 391, 445 f., 447,

480 f.



Shaw, Bernard 381, 420, 481



Shelley, Percy Bysshe 529



Siemens 298



Sievers, Eduard 3, 9, 106, 212, 226, 343,

492



Silvio, Enea 557



Simmel, G. 45, 213



Simon Magus 170



Skopnik, XXII



Snorri 207



Sohnrey, Heinrich 531



Sokrates 78, 498, 560



Soldau 292



Solden 292



Soltau, Sadok Seli 292



Sonnenfels, Joseph von 542



Sophokles 134, 146, 268



Soret 564



Sorge, Reinhard Joh. 159, 369



Spengler, Oswald 63, 360, 426, 478



Spielhagen, Friedr. 152, 437, 545



Spinoza 538, 554, 559 f.



Spitteler, Karl 187, 326, 455, 476, 541



Spitzer, Leo 208



Spoerri 128



Spranger, Eduard XVII, XXII, 109, 156,

212, 357, 390, 492, 497



Sprickmann 529



Spurgeon, Carolin F. 447



Staiger, Emil 482, 484, 490



Stammler, Wolfgang 98



Stauffer, Karl 152



Steffens 563



Stehr, Hermann 160, 322, 348, 369, 420



Steig, Reinhold 97



Stein, Charlotte v. 97, 117, 314, 364 f.,

428, 438, 451



Steinhövel, Heinrich 98 f., 557



Stekel, Wilhelm 400

[Spaltenumbruch]

Stendhal 162, 165, 355



Stern, Adolf 102, 544



Sterne, Lawrence 267, 483



Stieler, Casparus 101, 531



Stifter, Adalbert 204, 229, 251, 322, 339,

451 f., 459, 486, 506, 561



Stolberg, Graf Christian v. 529, 559



Stolberg, Graf Friedr. Leopold v. 139,

411 f., 529, 559



Storm, Theodor 90, 155, 240, 291, 322,

408, 546, 563



Strachwitz, Graf v. 529



Stramm, August 220, 532, 546



Strauß, David Friedr. 484, 563, 571



Strauß, Emil 348



Strauß u. Torney, Lulu v. 299



Strauß, Victor v. 299



St. Réal 105, 113, 163, 425



Streicher, Andreas 342



Strich, Fritz 44, 210 f., 213, 220



Strindberg, August 147, 159, 299, 380



Strobel 339



Struensee 438



St. Simon 570



Stucken, Eduard 532



Stumpfl 49



Sudermann, Hermann 503, 531, 545



Sue 152



Suetonius 335



Swoboda, Hermann 318, 320





Tacitus 211, 327



Taine, Hippolyte 35 f., 39, 323, 392, 478



Tasso 301, 333



Tegernseer Antichrist 58



Tennyson 135



Terenz 168



Thackeray 555



Thaer, Albrecht 105 f.



Theocrit 127



Theophilus 170



Theophrast 213



Thoma, Ludwig 302, 532



Thomas 9



Thomas v. Aquin 556



Thorwaldsen 204



Thümmel 542



Tieck, Joh. Ludwig 290

[Ende Spaltensatz] |#f0686 : 662|



[Beginn Spaltensatz]

Tieck, Ludwig 30, 57, 80, 107, 144, 165,

191, 211, 290, 303, 332, 335, 339, 346,

503, 518, 548, 563



Timmermanns 348



Tischbein 117, 299



Tizian 529, 539, 552



Tobler 107



Törring 134



Tolstoi, Graf 115, 401



Toulouse 419



Trakl 476, 523



Trapezuntios, Georgios 557



Treitschke, Heinr. v. 295 f.



Trendelenburg 355



Trithemius, Abt 22, 557



Tröge, Walther 293



Troeltsch, Ernst 7, 378, 537, 567



Trojan, Felix 170



Truchseß, Christian v. 100



Tügel 348



Turgenjeff 392



Twain, Marc 437, 481





Uexküll, von 323



Uhland, Ludwig 31, 228, 279, 304, 402,

435, 545, 563, 569



Ulrich v. Lichtenstein 160



Unger, Rudolf 43 f., 62, 129, 235, 240

bis 244, 249, 356



Unruh 159



Uz 546, 563, 576





Valerius Maximus 335



Varnhagen v. Ense 103, 402, 561



Vega, Lope de 504



Venator, Balthasar 100



Veracini, Francesco Maria 554



Verdi, Guiseppe 555



Verlaine 503, 532 f.



Vermeer 538



Vico 26



Viebig, Clara 531



Viëtor, Karl 288, 249



Vilmar 36



Virgil 127, 151, 268, 475, 477



Vischer, Friedr. Theodor 18 f., 38, 129 f.,

169, 388, 398, 521, 563



Vittoria Colonna 516



Voigt, Georg 557

[Spaltenumbruch]

Voiture 549



Volkelt, Joh. 130, 210, 215, 399, 521



Voltaire 147, 181, 276, 359, 383, 402,

420, 436, 503



Vondel 262, 476



Voß, Joh. Heinr. 60, 127, 475, 545, 573



Voßler, Karl 42, 45, 179, 205, 225, 574



Vulpius 546





Wach, Joachim 254



Wachler 28



Wackenroder, Wilh. 339, 502 f., 548



Wagner, Albert Malte 386



Wagner, Heinr. Leopold 97, 175, 559



Wagner, Richard 180, 184, 209, 243, 262,

295, 362, 398, 419, 436, 555, 569



Waiblinger 563



Walpole, Horace 403



Waltharius 58



Walther v. d. Vogelweide 96, 132, 309,

311, 476, 530



Walzel, Oskar 43, 47, 111 f., 212, 214,

390



Wang-Kan, Kaiser 436



Warton 26



Waser, Maria 298



Watson 430



Watteau 538



Weber, Karl Maria von 539



Weber, Max 378, 567



Wechßler, Eduard 206, 377, 549─551



Wedekind, Frank 129, 159, 546



Weidmann 57



Weigand, Wilh. 531



Weinhandl, Ferdinand 383 f.



Weinheber 476



Weise, Christian 191



Weißer 542



Weissenfels 209



Weitbrecht 506



Weltrich, Richard XVI, 38, 287, 295



Wendt, Kurt 490



Wentzlaff-Eggebert, Fr. W. 242



Werner, Abraham 330, 569



Werner, Heinz 231



Werner, Richard Maria 149, 175



Werner, Zacharias 145, 273, 299, 318,

453, 548, 575



Wernicke 573

[Ende Spaltensatz] |#f0687 : 663|



[Beginn Spaltensatz]

Wetzel, J. G. 100



Wickram, Jörg 178



Wiechert, Ernst 134, 348, 503



Wieland, Christ. Martin 88, 104, 154,

165, 191, 237, 307, 321, 330, 333, 342,

370, 433 f., 452, 481, 506, 531, 542,

549, 558, 562



Wieland, Ludwig 92 f.



Wienbarg 46, 561



Wiese, Benno v. 386



Wieser, Max 253, 507



Wihl, Ludwig 33



Wilde, Oscar 420



Wildenbruch, Ernst v. 531, 541



Wildermuth, Ottilie 304



Wildgans, Anton 279



Wille, Bruno 531



Willemer, Marianne v. 319, 364



Willenhag, Wolfgang siehe: Beer, Johann



Wilson, J. Dover 94



Wimpheling 58, 557



Winckelmann 26 f., 29, 62, 65, 197, 244,

549, 579



Windelband, Wilh. 16



Winkler, Emil 208



Winterfeld, Paul v. 205



Wirnt v. Gravenberg 275



Witkop 46, 204, 539



Witkowski 92



Wölfflin, Heinr. 43 f., 147, 210─214,

390, 490



Wolf, Friedr. Aug. 104

[Spaltenumbruch]

Wolf, Hugo 179, 419



Wolff, Eugen 93



Wolfger v. Ellenbrechtskirchen 309



Wolfram, Georg 49, 96



Wolfram v. Eschenbach 86, 96, 161, 185,

187, 205 f., 238, 242, 266, 311, 335,

378, 483, 506



Wolfskehl, Karl 532



Wolzogen, Caroline v. 107



Wordsworth 346, 409



Worringer 211, 213, 253, 349



Wriede, Hinrich 288



Wünsch 330



Wulfila 69



Wunderlich-Reis 225



Wundt, Max 129, 356



Wundt, Wilhelm 16, 43, 208, 376, 389 f.,

538



Wyle, Niklas von 557





Xenophon 78





Young, Edward 436





Zarncke, Friedrich 102, 286



Zeitler 47



Zesen, Philipp von 120, 506



Zeydel, Edwin H. 290



Zielinski, Thaddäus 463



Zinzendorf 546



Zola, Émile 152, 162, 165, 291, 419, 428,

433, 437, 532 f.

[Ende Spaltensatz] |#f0688 : E664|

|#f0689 : E665|

|#f0690 : E666|

|#f0691 : E667|

|#f0692 : E668|


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Petersen. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7B7-8