Deutsche Poetik. ──────
Theoretisch-praktisches
Handbuch der deutschen Dichtkunst.
Nach den Anforderungen der Gegenwart
von
Dr. C. Beyer. ──────
[EAI:f][EAI:e][EAI:d][EAI:c][EAI:b][EAI:a][RI]Zweiter Band. ──────
Stuttgart.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.
1883.
K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
Vorwort. ──────
Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den
bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im
engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers- und Formenlehre
die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie
und vollendet somit den Auf- und Ausbau einer Wissenschaft der
deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart.
Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es
dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Gesetz
&c. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen,
sondern auch den Feinheiten in der Technik &c. nachzugehen, alle auf
die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der
auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen. Jnsbesondere
wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der
Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungsarten
erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteraturgeschichte
auch durch diesen Band herzustellen.
So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden
Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichtskreise
zu erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich
finden dürfte, welche nicht Neues, Jnteressantes, litterarhistorisch Wertvolles
böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dramaturgie
ergebenden §§ 20─43, 149─177 &c., ferner jenen, den Begriff
der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, die Paragraphen über [RIV]
Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunstepos,
Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie
insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch dramatischen,
wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich
auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit
diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von
Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musikdrama,
Operette und Schauspiel mit Musik &c.) eingehend dargelegt
werden konnte.
Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Entgegenkommen
hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter,
welche Privat= wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich
mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar erwähne
ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten
Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister
Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek
Dr. Faust Pachler, Hofrath Dr. v. Zoller, Geh. Hofrath Dr. v. Wehl,
Rektor Dr. Blancke, Gymnasialdirektor Dr. Authenrieth, Professor
Dr. Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr. Joh.
Minckwitz, Bibliothekvorstand Professor Dr. Wintterlin u. a. Erfreulich
war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste
eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die
ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten
Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen
von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeichnungen
poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach förderten
und in ihren Trägern ehrten.
Jndem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten
Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohlwollende
Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze
Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles,
Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen;
als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für
den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter;
als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bildungsuchende
Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes
Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für den [RV]
gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die
deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei,
der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den
Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung
schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die
Kunst motivierten Jdealismus und zu ewig währenden
idealen Dichterthaten.
Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882.
Dr. C. Beyer.
[RVI][RVII]Jnhalts-Verzeichnis. ──────
Deutsche Poetik. Zweiter Teil.
Die Dichtungsgattungen.
- Einleitung.
Charakter der Poesie und Einteilung derselben.- Seite
- § 1. Objektive und subjektive Poesie 1
- § 2. Volkspoesie und Kunstpoesie 2
- § 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und moderne Poesie 6
- § 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form 7
(Lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie) 7 - § 5. Einteilungsschema der Poesie 9
- Erstes Hauptstück: Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik,
Epik und Dramatik.- I. Lyrik.
- § 6. Begriff der Lyrik 10
- § 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht 11
- § 8. Eigenart des Lyrikers 12
- § 9. Anforderungen an den Lyriker 13
- § 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik 15
- § 11. Umfang des lyrischen Gedichts 16
- § 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik 16
- II. Didaktik.
- § 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie 18
- § 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie:
der Gedankenlyrik; ferner das Gesetz der Didaxis 20 - § 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter 23
- III. Epik.
- § 16. Begriff der Epik 24
- § 17. Anforderungen an den Epiker 24
- § 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik 25
- § 19. Epischer Stil 26
- Proben des epischen Stils 27
- IV. Dramatik.
- Seite
- § 20. Begriff der Dramatik 29
- § 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama 31
- § 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden 32
- § 23. Anforderungen an die Handlung 33
- § 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama 35
- § 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held 36
- § 26. Stoff des Drama 37
- § 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale 38
- § 28. Tendenz des Drama 40
- § 29. Das Motivieren im Drama 41
- § 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung 41
- § 31. Teile des Drama und Umfang desselben 42
- § 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog 43
- § 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart 46
- Beispiele für den Bau ganzer Dramen 47
- § 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama 47
- § 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama 49
- § 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung 51
- Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen 52
- Liebesscenen, Ensemblescenen 53
- Massenscenen 54
- § 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen 54
- § 38. Sprache und Form des Drama 54
- § 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen 56
- § 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung 58
- § 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung 59
- § 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung 59
- § 43. Erfolg der dramatischen Dichtung 61
- V. Übergänge der Gattungen der Poesie.
- § 44. Einteilung der Übergangsformen 62
- § 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen 63
- § 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten 64
(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.) - § 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen 68
- I. Lyrik.
- Zweites Hauptstück: Die lyrischen Dichtungen.
- § 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen 70
- I. Formen ruhiger Empfindung.
- Das Lied und seine Formen.
- § 49. Begriff und Einteilung 71
- § 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen 72
- Volkslied.
- Seite
- § 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes 73
- § 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage
und poetisch=schöpferischer Volkskraft 78 - § 53. Das Volkslied als Naturpoesie 81
- § 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds 82
- § 55. Einteilungsversuch der Volkslieder 87
- Beispiele des Volksliedes 91
- § 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des Volkslieds 94
- § 57. Das geistliche Volkslied 95
- § 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes 96
- § 59. Das Volkslied der letzten Decennien 98
- Kunstlied.
- § 60. Mission des Kunstliedes 99
- § 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes 100
- Formen des Kunstliedes.
- Weltliches Lied.
- § 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101
Das Bardiët 103 - § 63. Das Naturlied 107
- § 64. Minne- oder Liebeslieder 109
- § 65. Das komische Lied 113
- § 66. Das gesellige Lied 116
- 1. Gesellschaftliches Lied 116
- 2. Anakreontisches Lied 117
- 3. Skolion 118
- § 67. Elegisches Lied 119
- § 68. Jdyllisches Lied 122
- § 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101
- Geistliches Lied.
- § 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123
- 1. Das religiöse Lied 123
- 2. Das Kirchenlied 125
- § 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123
- Weltliches Lied.
- Das Lied und seine Formen.
- II. Lyrik der Begeisterung.
- § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame
derselben 132 - § 71. Die Ode 134
- § 72. Die lyrische Rhapsodie 139
- § 73. Hymnus (Hymne) 141
- § 74. Dithyrambus 145
- § 75. Elegie 146
- § 76. Nänie 152
- § 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen 153
- Anthologien und Hilfsmittel 157
- § 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame
- Drittes Hauptstück: Die didaktischen Dichtungen.
- Seite
- § 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen 159
- I. Symbolische Didaktik.
- § 79. Fabel 160
- a. Tierfabel163
- b. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt164
- § 80. Parabel 167
- § 81. Paramythie 171
- § 82. Sinnbild 174
- § 83. Allegorie 175
- § 84. Rätsel 179
- a. Das Worträtsel179
- b. Charade oder Silbenrätsel180
- c. Logogriph181
- d. Anagramm182
- e. Palindrom (Doppelrätsel)183
- f. Die Homonyme184
- § 79. Fabel 160
- II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.
- § 85. Satire 185
- § 86. Travestie 191
- § 87. Parodie 193
- § 88. Humoristische Dichtungen 195
- III. Eigentlich didaktische Gedichte.
- § 89. Die ideale Gedankenlyrik 200
- § 90. Kulturhistorisches Gedicht 203
- § 91. Sinngedicht oder Epigramm 203
- § 92. Die Priamel oder der Schnepper 207
- § 93. Xenien 209
- § 94. Gnome 210
- § 95. Epistel 212
- § 96. Heroide 215
- § 97. Kurze lyrisch=didaktische Formen 218
- § 98. Wirkliches Lehrgedicht 219
- § 99. Großes Lehrgedicht 222
- Viertes Hauptstück: Die epischen Dichtungen.
- § 100. Einteilung der epischen Poesie 227
- I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende
epische Gattungen.- § 101. Poetische Erzählung 228
- 1. Humoristische poetische Erzählung 229
- 2. Ernste poetische Erzählung 230
- Seite
- § 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie) 231
- § 103. Die Jdylle 231
- § 104. Beschreibendes Gedicht 236
- § 101. Poetische Erzählung 228
- II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen.
- § 105. Die Sage 240
- § 106. Mythus 246
- § 107. Legende 250
- α. Ernste Legende251
- β. Komische Legende252
- § 108. Das Märchen 253
- § 109. Romanze und Ballade 262
- 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung
von Romanze und Ballade263 - 2. Die Romanze. Romaneska. Romancero 264
- 3. Die Ballade 268
- 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung
- § 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied 274
- § 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches 279
- § 112. Die Volksepen 282
- § 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen 283
- § 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption, Ausführung &c.
- 1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee 283
- 2. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana285
- 3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c. 289
- 4. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen 291
- a. Das finnische Volksepos Kalewâla291
- b. Kalewipoeg294
- c. Das Volksepos der Lappen297
- § 115. Gemeinsame Ausgangspunkte od. Vergleichsmomente sämtl. Volksepen 300
- § 116. Die Kunstepen 302
- § 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos 304
- § 118. Altromantisches oder höfisches Epos 304
- § 119. Vorführung der altromantischen Epen 306
- 1. Parzipal 307
- 2. Tristan und Jsolde 308
- 3. Jwein 311
- 4. Rolandslied 313
- 5. Der rasende Roland 315
- § 120. Das neuromantische Epos 317
- 1. Wielands Oberon 317
- 2. Ernst Schulzes Cäcilie 317
- 3. „ „ Bezauberte Rose 318
- 4. Kinkels Otto der Schütz 319
- 5. Redwitz' Amaranth 320
- 6. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard 320
- § 121. Das religiöse Epos 322
- 1. Die Messiade von Klopstock 322
- 2. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri 323
- 3. Das verlorene Paradies von Milton 323
- § 122. Das idyllische Epos (Eidyllion) 325
- 1. Luise von Voß 325
- 2. Jukunde, von Theobul Kosegarten 326
- 3. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard 326
- 4. Hermann und Dorothea, von Goethe 327
- Seite
- § 123. Das historische Epos (Heldenepos) 329
- 1. Das Schah-Nameh des Firdusi 329
- 2. Rostem und Suhrab, von Rückert 331
- 3. Vergils Äneis 332
- 4. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso 333
- 5. Die Lusiaden des Camoëns334
- 6. Scherenbergs historische Epen 335
- § 124. Das komische, humoristische, satirische Epos 337
- 1. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann 337
- 2. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün 339
- 3. Tulifäntchen von Karl Jmmermann 340
- § 125. Das Tierepos 342
- 1. Reineke Fuchs, von Goethe 342
- 2. Rollenhagens Frosch-Meuseler 344
- 3. Der Muckenkrieg, von H. C. Fuchs 345
- III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen.
Roman und Novelle.- § 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans 347
- § 127. Verhältnis des Romans zum Epos 349
- § 128. Verhältnis des Romans zum Drama 350
- § 129. Stoff des Romans 352
- § 130. Jdee des Romans 353
- § 131. Bau des Romans 356
- § 132. Der Held des Romans 356
- § 133. Die übrigen Charaktere des Romans 359
- § 134. Das Jdealisieren im Roman 360
- § 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans 361
- § 136. Stilgesetze des Romans 362
- § 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman 364
- § 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit 366
- Arten des Romans.
- § 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul 367
- § 140. Einteilung nach Form und Jnhalt 367
- § 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane 371
- § 142. Unsere Einteilung der Romane 372
- 1. Der historische Roman 372
- 2. Der philosophische Roman 374
- 3. Der moderne Roman 374
- 4. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte 375
- § 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische
Stilproben 375 - § 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans 381
- § 145. Novelle 388
- § 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten 390
- § 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische Stilproben 391
- § 148. Litteratur der Novelle 399
- Fünftes Hauptstück: Die dramatischen Dichtungen.
- Seite
- § 149. Einteilung der dramatischen Poesie 403
- I. Formell dramatische Gedichte.
- § 150. Monolog 404
- § 151. Dialog 406
- 1. Lyrischer Dialog 407
- 2. Didaktischer Dialog 407
- 3. Epischer Dialog 408
- 4. Dramatischer Dialog 409
- § 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet) 410
- II. Eigentliche Dramen.
- § 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen 413
- § 154. Das dramatische Gedicht 413
- § 155. Tragödie == Trauerspiel 421
- § 156. Der Held der Tragödie 425
- § 157. Die poetische Gerechtigkeit 428
- § 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie 431
- § 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen 434
- § 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein praktisch erläutert 439
- § 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien 449
- § 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung 450
- 1. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien 450
- 2. Philosophische Tragödien 451
- 3. Geschichtliche oder heroische Tragödien 451
- 4. Bürgerliche Tragödien 452
- 5. Schicksalstragödie 454
- § 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor.
Analysen der wichtigsten Tragödien aller Völker 456 - § 164. Schauspiel (Drama) 465
- § 165. Einteilung der Schauspiele 466
- § 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und Würdigung hervorragendster
Schauspiele 468 - § 167. Komödie oder Lustspiel 475
- § 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel 478
- § 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle 479
- § 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen des Helden, sowie
nach ihrer Tendenz und Herkunft 481 - § 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie das Jdeal
eines deutschen Lustspiels 483 - § 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung 484
- § 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank 485
- § 174. Die Tierkomödie 488
- § 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer Gattungen
und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer Dichtungen 490 - § 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener dramatischer
Gattungen 491 - § 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben 493
- § 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von Dramen aller
Arten, Übersetzungen und Quellenschriften 500
- III. Musikalisch-dramatischweltliche und kirchlich-musiaklische Formen.
- Seite
- § 179. Einteilung dieser Formen 503
- I. Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen.
- § 180. Das Melodrama 503
- § 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel 505
- § 182. Das Schauspiel mit Musik 507
- § 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches 508
- § 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland 509
- § 185. Die komische Oper in Deutschland 510
- § 186. Die Operette 511
- § 187. Das Jntermezzo. (Zwischenspiel) 512
- § 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien,
Frankreich und Deutschland 513 - Erste und älteste deutsche Oper 517
- § 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien,
- § 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform 520
- § 190. Wagners Tetralogie 524
- § 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive 525
- § 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die Libretto-Dichtung,
und Beispiele besserer Librettos 527
- II. Kirchlich-musikalische Formen.
- § 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung derselben 528
- § 194. Der Choral 529
- § 195. Das deutsch=accentuierende Prinzip und der Choral 531
- § 196. Die Motette 532
- § 197. Psalm 533
- § 198. Die Kantate 534
- § 199. Die Passion 536
- § 200. Die Messe 538
- § 201. Das Requiem 540
- § 202. Das Oratorium 541
- § 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie Litteratur des
Oratoriums. Weltliche Oratorien 543
- Schlußbemerkung 546 ──────
- Anhang.
- Sach- und Namenregister für Band 1 und 2 547
Die
Dichtungsgattungen.
[RXVI]
Goethe.
Einleitung.
Charakter der Poesie und Einteilung derselben. ──────
§ 1. Objektive und subjektive Poesie.
1. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen
Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes- oder dem der Sinnenwelt
her: aus dem Anschauungs- und dem Empfindungsreiche. Auch
die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in
beiden gemeinschaftlich.
2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich
ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen.
3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn
der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder
Beabsichtigte entgegentritt.
1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff,
welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Gedicht
entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit
der von außen entgegen tretenden Objektivität.
2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität
hinzusetzen. Man könnte einen geringfügigen Stoff einem glatten Stamme
vergleichen, an welchem sich die subjektive Empfindung des Dichters emporrankt
und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto bedeutender
wird sich das Überwiegen des Subjektiven vor dem Objektiven nötig
machen müssen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpfungskraft zu bewähren
haben.
Jn folgendem Gedichte von Martin Greif überwiegt die subjektive
Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes:
Am Buchenbaum.
[2]
Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der
sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum Helden seiner Dichtung macht, schreibt
subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch
denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Jnhalt des subjektiven
Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objektiv,
als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen
läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Jndividualität aufgeprägt. Sein
Geist, seine Anschauungs- und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein
bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso
einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Jch mit in die
Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein
König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommnisse bei diesem Dichter sprechen
als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt
erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen
ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters
Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen
wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Graf von Habsburg Str. 5, dessen
Die Macht des Gesanges Str. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig
zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen
Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt.
3. Objektiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Gebiet
des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche
eingreift, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten.
Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem
Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu empfinden,
was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter
den Blicken des Lesers; nie schaut er direkt aus seinen Dichtungen hervor,
nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung
und Darstellung ist es, was das Jnteresse des Hörers fesselt und fesseln will.
§ 2. Volkspoesie und Kunstpoesie.
Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich
im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunstpoesie.
1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines
Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät
und Wahrheit.
2. Die Kunstpoesie dagegen entreift dem individuellen Arbeiten
des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben
in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunstdichters.
1. Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie,
Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Darstellung
der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie
war wesentlich beschreibend, auch wo es sich um Darlegung des subjektiven
Gefühls handelte: sie bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als
einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch=naiven Sprache voll Wohllauts.
Ein Beispiel der Volkspoesie möge dies illustrieren:
(Aus Uhlands Volkslieder Bd. 1. S. 66.)
2. Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch,
daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes, den sie mit der Naturpoesie
gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Jdee zu
Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes
mögen dies beweisen.
a. Die Verlassene von Geibel.
[4]
b. Die Verlassene, von Martin Greif.
NB. Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünsteltes,
Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform
zu wagen. Vgl. z. B. kein' für kei' u. s. w.
c. Das verlassene Mägdlein, von Ed. Mörike.
[5]
Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift
„Gebrochene Treue“ tragen. Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegenstand
der Scene und die Trägerin der Jdee.
Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern nämlich
der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der
dritten Strophe und ihre rhetorische Pathetik in der vierten zu Erwägungen
über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Empfindung
in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Ausdruck,
daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird.
Und dennoch sind diese Dichtungen subjektiv. Sie zeichnen sich gewissermaßen
durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere
der abstrakten Jdee und der tiefen Empfindung ist.
So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objektiven Charakter Rechnung,
wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die
Jdee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal
der Kunstpoesie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge:
Blumengruß.
(Goethe.)
Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Gedicht
Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Jdee der Vergänglichkeit
mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall
das subjektive Fühlen des deutschen, tiefinnigen Dichtergemütes das Poem
überstrahlt.
Derjenige Kunstdichter, welcher die Natur in ihrer Einfachheit, in ihrer
naiven Schönheit aufzufassen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung
gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunstdichter.
Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend
auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV. 3)
hinweist:
Jch hörte,
Daß, nächst der großen schaffenden Natur,
Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt.
Sei's:
Doch wird Natur durch keine Art gebessert,
Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst,
Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es
Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen.
Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen
Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm,
Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art
Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst,
Die die Natur verbessert ─ mind'stens ändert:
Doch diese Kunst ist selbst Natur.
§ 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und
moderne Poesie.
Jn Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann
man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste
und komische Poesie, insofern sie traurige, mitleidsvolle, strafende,
erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung
hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, romantische
und moderne Poesie ein.
Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen
zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine mustergültige,
fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung.
Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch
genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur
dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in
der Gediegenheit der Form, in der Jdealisierung und in der Erhabenheit des
innern Gehaltes mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man
anerkannt, daß die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller,
Rückert &c. allen Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man
hat diese Dichter als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I. S. 88.)
Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen;
denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene,
und es läßt sich erwarten, daß Geister kommen werden, welche größer sein
werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c.
Unter romantischer Poesie versteht man diejenige Poesie, welche
dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenverehrung
und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen
Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen
eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen
des Mittelalters sich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Übernatürlichen
zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantastische allenthalben hervortritt,
so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätselhafte.
Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine
ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „romantisch“ wurde zuerst [7]
litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller
Unbefangenheit gewählten Titel „Romantische Dichtungen“ herausgegeben
hatte. (Vgl. R. Köpke: „Ludwig Tieck.“ I. 265.) Die romantische
Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine Vereinung
der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur. Jhre mit
Fichtes Jdealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung
versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich=christlicher Schwärmerei und Pantheismus.
Die Gedichte der romantischen Dichter (vgl. Bd. I. S. 58 und 88)
zeichnen sich durch eine gewisse Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte
Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen
kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charakterisiert.
Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem
Anschauungskreise unserer Generation sich bewegt, welche ihre Figuren und
Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum=
und Phantasieleben der romantischen Poesie einen Gegensatz bildet und dem
Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen,
Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung
trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich
schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines
Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf Anschaulichkeit
und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der
Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will.
§ 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form.
1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der
Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und dramatische
Poesie.
2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen
Fundaments.
3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a. im Zweck,
b. im Ursprung und Stoff der Poesie.
1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didaktische, epische und dramatische
Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A.
in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („Τοιοίδε
που τινὲς, ─ sc. εἰσὶν οἱ περὶ θεολογίας τύποι ─ ἦν δ' ἐγώ, οἷος
τυγχάνει ὁ θεὸς ὤν, ἀεὶ δή που ἀποδοτέον, ἐάν τε τις αὐτὸν ἐν
ἔπεσι ποιῇ, ἐάν τε ἐν τραγῳδίᾳ.“) Als Philosoph macht er nicht gelegentlich,
sondern recht systematisch nur einen Unterschied zwischen nachahmender und
heiliger Poesie. Selbst Homer verbannt er aus seinem Jdealstaate, in welchem
nur die heilige Poesie geduldet sein soll. (Rep. Buch II. III. gelegentlich,
dann X. bis pg. 607.) Anderwärts teilt er nach Bedürfnis ein in Epos
und Tragödie oder in diese und Komödie, oder er spricht auch noch vom Drama
(Sympos. 222 D.).
Bis in unsere Zeit teilte man in der Regel nur in lyrische, epische und
dramatische Poesie.
Wackernagel und auch Goethe (über das Lehrgedicht) sprachen sich noch
gegen die didaktische Poesie als vierte Hauptgattung aus. Derselbe Goethe
sagt jedoch: „Alle Poesie soll belehrend sein, sie soll den Menschen aufmerksam
machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die Lehre selbst daraus
ziehen, wie aus dem Leben.“
(Vgl. hierzu Horatius A. P. 333 ff:
Aut prodesse volunt, aut delectare poetae;
aut simul et jucunda, et idonea dicere vitae.
Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci,
lectorem delectando, pariterque monendo.)
Wir weisen der didaktischen Poesie aus den in den §§ 13, 14, 15 S. 18 ff.
d. Bds. entwickelten Gründen eine hohe ebenbürtige Stellung an.
2. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Einteilung in lyrische,
didaktische, epische und dramatische Poesie scheinbar an einem logischen Fehler
leidet. Sie scheint des einheitlichen Fundaments zu entbehren, indem Lyrik
(μέλος == das Gesungene), Epik (ἔπος == das Gesprochene), Drama (δρᾶμα
== die Handlung) auf das Darstellungsmittel der Poesie fundiert sind, die
Didaktik hingegen auf den Zweck.
3. Doch zeigt eine genauere Betrachtung die Möglichkeit einer einheitlichen
Fundierung a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff.
a. Jm Zweck.
Es steht fest, daß die Lyrik (d. i. die Poesie der Empfindung) die
eigenen d. i. subjektiven Gefühle und Empfindungen des Dichters, seine
eigene Welt ausdrückt und ihm ermöglicht, sein eigenes Fühlen zum Objekt
und zum Gegenstand der Empfindung auch für Andere, für die äußere Welt
zu machen; daß weiter die Didaktik (d. i. die Gedankenlyrik) mit der Absicht
zu belehren und sich über Fragen aus Natur, Welt, Menschenleben u. s. w.
zu verbreiten, das Gleiche thut; daß drittens die epische Poesie (oder die
Poesie der Anschauung) von vergangenen Dingen erzählt und der Anschauung
und Empfindung die äußere Welt mit den Gestalten und Begebenheiten einer
Vergangenheit vorführt; daß endlich die Dramatik (d. i. die Poesie der
Handlung) redend handelnde Personen unmittelbar vorführt und den übrigen
Dichtungsgattungen Gelegenheit zur ebenbürtigen Entfaltung wie zur harmonischen
Vereinigung bietet.
b. Jm Ursprung und Stoff.
Die lyrische und die didaktische Poesie sind subjektiv, denn der Dichter
giebt nur seine eigenen Gefühle und ist der eigene Held seiner Dichtungen,
während die epische Poesie objektiv ist und die dramatische das subjektive und
objektive Element vereinigt. Ein Fundament für die Einteilung ergiebt somit
der Umstand, ob der Stoff der Poesie der Jnnen- oder Außenwelt entstammt,
ob er der Thätigkeit unserer Phantasie entspringt, oder ob er der Sage und
Geschichte entquillt, ob erzählt wird, oder ob die Personen handelnd und redend [9]
auftreten. (Erinnerung an eine antike Einteilung in I. μίμησις a. Ausprägung
in Bildern für die Phantasie, b. Plastische Darstellung. II. ἀπαγγελία
und διήγησις, erzählende und belehrende Darstellung. III. Reflexion.) Die
Phantasie, die man nicht ohne Grund das Vermögen der Dichter genannt hat,
befähigt uns, die übersinnliche Welt von Begriffen und Jdeen in sinnlichen
Bildern auszudrücken. Sie zeigt sich zunächst als schaffende und als empfindende
Phantasie. Die schaffende erzeugt unter Anwendung des ihr aus der Außenwelt
zukommenden Stoffes die epische und die dramatische Poesie, während die
empfindende Phantasie die Lyrik und die Didaktik hervorbringt. Diese Thatsache
beweist ein einheitliches Einteilungsfundamentum.
§ 5. Einteilungsschema der Poesie.
Aus dem Abgehandelten ergiebt sich folgendes übersichtliche Einteilungsschema:
Die Poesie entstammt stofflich
A. Der Jnnenwelt.
Die Jnnenwelt (ihrer Art nach sub=
jektiv) umschließt:
a. Empfinden, b. Denken,
und äußert sich als
1. Lyrik. 2. Didaktik.
Die Lyrik schildert Die Didaktik lehrt,
subjektiv. sofern sie schildert
oder erzählt.
B. Der Außenwelt.
Die objektive Außenwelt behandelt:
c. Raum, d. Zeit,
und äußert sich als
3. Epik. 4. Dramatik.
Die Epik erzählt Die Dramatik handelt,
objektiv. gestaltet dialogisch.
Erstes Hauptstück.
Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik
und Dramatik. ──────
I. Lyrik.
§ 6. Begriff der Lyrik.
1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven
Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen,
an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente,
mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden,
ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe
und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des
Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck
der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen
nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.
Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von
welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar,
daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in
Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung,
in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der
Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden
könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten
Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt,
was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem
Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung
zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie
der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit
Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich
selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die [11]
Stimmung künstlerische Gestalt gewonnen, steht das Gemüt ihr nicht nur als
einer fremden gegenüber, sondern es sieht seine Empfindungen, der Erdschwere
entnommen, in den lichten Äther gehoben und dem flüchtigen Spiel eine schöne
Dauer gegeben.
2. Man nannte die lyrische Poesie ursprünglich die melische in der Absicht,
durch diese Benennung die lyrischen Gedichte als organisch gegliederte
Ganze auszuzeichnen. (τὸ μέλος und τὰ μέλη, einstrophige und mehrstrophige
Gesänge, ähnlich: „daz liet und diu liet.“ Die Benennung μέλος oder
μέλη hatte auch den Gesang (Melodie) mitbezeichnet. Aristoteles kennt den
Ausdruck λυρική noch nicht: in den Anakreontea kommt λυρικὴ μοῦσα vor,
noch bei Plutarch aber μελικὴ ποίησις neben λυρική. (Vgl. Plut. Num.
4 u. Anth. ─ Plut. consol. ad Apoll. p. 365. ─ Schol. Ar. Av. 209.)
§ 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht.
1. Die Stoffe der Lyrik sind so reich und mannigfach, als die
Empfindung und die subjektive Auffassung verschieden ist. (Vgl. Bd. I.
§ 16. S. 39.)
2. Sie erblühen der individuellen Behandlungsweise, der eigenartigen
Geisteswelt und Weltanschauung des Lyrikers. (Vgl. Bd. I.
S. 40. 2.)
3. Da somit weniger der objektive Stoff, als die subjektive Auffassung
und Behandlung des Stoffs das Wesentliche ist, (vgl. Bd. I.
S. 40. 3) so ist das Stoffgebiet der Lyrik unerschöpflich.
4. Das lyrische Gedicht ist seiner Veranlassung nach Gelegenheitsgedicht.
1. Der Lyriker singt:
(Uhland.)
2. Der Stoff der Lyrik ändert sich nicht, aber „der stets sich erneuernde
Blumenflor“, wie Hegel die Lyrik nennt, treibt immer wieder neue Blumen
hervor, je nach der Originalität des Dichters. Von den Naturlauten der
Volkspoesie bis zu den gedankenreichen malerischen lyrischen Dichtungen der
Kunstpoesie unserer Zeit ist die reichste Stufenleiter der Stoffe nachweisbar, die
lediglich durch die eigenartige Behandlung, d. h. durch den Zusatz von Subjektivität
seitens des Dichters Stoffe der Lyrik werden. Je einfacher, geringfügiger,
unscheinbarer der Stoff, desto mehr wird die Subjektivität des Dichters
hinzuthun. Zum Beleg beachte man das folgende Gedicht M. Greifs, dessen
winziger Stoff ein Mädchen ist, das in den Bach hineinblickt:
Die Einsame.
3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn
allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.
4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre
Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der
Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.
Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann
I. S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des
Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird.
Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß
die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird
ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine
Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt
und haben darin Grund und Boden.“
(Goethe.)
§ 8. Eigenart des Lyrikers.
1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige
Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.
2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt
der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“,
mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen
erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.
3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und
seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin
die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann,
sind in der Lyrik das Wesentliche.
1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische
Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach
seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird.
Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche
Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar
der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige
Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.
2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell,
der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus
dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht
daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn
anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die
Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist
Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente
seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten
als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl,
oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder
das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.
3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen
Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und
Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:
(Geibel, Distichen XVI.)
§ 9. Anforderungen an den Lyriker.
1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit
für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in
Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag,
Harmonie des Seelenlebens.
2. Der Dichter muß erhöht empfinden.
3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.
1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den
Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine
Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit
von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen,
oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu
naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre
heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne
darnach zu fragen, wer ihn höre.
(Rückert.)
Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen
Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert,
der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der
Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)
(u. s. w.)(Rückert.)
Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen,
was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht.
(Goethe.)
Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer
den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl,
unbeachtet zu sein.
2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das
Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.
(Rückert.)
Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine
innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte
Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt
es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei
solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das
ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung
der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann
von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe
mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken
will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern:
man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug;
man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter
uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor
Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr
als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern,
ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen
zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer
sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage,
eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns
in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich
sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst
zu verdecken suchen.“
3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus,
der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen
bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben
macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft.
Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer
andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet,
mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. [15]
Ebenso muß er bei Stoffen aus der Natur die Natur mit seinem
Gefühl durchziehen, sie mit seiner Jdealität vermählen und aus diesem Gefühl
heraus sie reden lassen, wie es beispielsweise Heine in den Naturbildern
„Fichtenbaum“ und „Lotosblume“, ─ Goethe in „Erwin und Elmire“ &c.
gethan hat. Auch bei den Naturbildern muß die Empfindung und das Gefühl
des Dichters der Mittelpunkt bleiben, und stets muß der weitauszubreitende
Blütenbaum seiner Poesie auf dem Stamm seines subjektiven Jch ruhen bleiben.
§ 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik.
1. Die Anschauung=verleihenden, malenden Beiwörter sind die
wichtigsten Bestandteile der Lyrik.
2. Viele derselben erscheinen wie eingetrocknete, gewissermaßen zu
Versteinerungen gewordene Metaphern.
3. Der gebildete Dichter wird seine erhöhte Empfindung durch
geschickte Verwendung der Metaphern beweisen, dem weniger gebildeten
fehlt der sprechende Ausdruck. Note: Abgr. Beiwort
1. Schon Aristoteles sagt (Rhetorik III. 3) von Alkidamas, daß ihm die
Epitheta nicht bloß eine Würze der Rede (ἥδυσμα) seien, sondern die Hauptkost
(ἔδεσμα). Wie sehr er im Rechte war, haben wir in Bd. I. § 30
S. 137 ff. gezeigt. Jn der Lyrik sind die malenden Beiwörter umsomehr
am Platze, als sie wesentlich dazu beitragen, dem Gefühlsausdruck seine eigenartige
Färbung zu verleihen.
2. Die Auffassung der Lyrik als paläontologische Weltanschauung ─ wie
sie Karl du Prel in „Psychologie der Lyrik“ versucht hat, ─ zwingt uns, an
den Standpunkt zu denken, welchen der Mensch im Naturzustand und ohne
Schulbildung einnimmt. Es ist der Zustand, in welchem der Mensch seine
Anschauung durch Naturbelebung und Naturbeseelung (Personifikation) ausdrückt.
Viele Beiwörter aus jener Zeit und aus jener Bildungssphäre lassen
keinerlei Reflexion zu und haben es lediglich auf Anschaulichkeit abgesehen.
Sie sind Grenzsäulen der dichterischen Anschauung und muten uns wie Versteinerungen
an. Bekanntlich ist die Sprache der Wilden um so reicher an personificierenden
Metaphern, je ärmer sie ist. Vgl. Bd. I. S. 148 ff. u. S. 169 ff. Note:
3. Die erhöhte Empfindung des Lyrikers zeigt sich in der glücklichen
Anwendung des metaphorischen Beiworts, das dem lyrischen Gedichte
jedesmal ein besonderes Gepräge verleiht, und durch welches, wie schon B. I.
S. 138. 2. angedeutet, Note: z. B. Goethe seine Weichheit und Anmut, Schiller
seinen idealen Schwung, Rückert seine herzerwärmende Jnnigkeit, Platen
seine klassische Würde, Lenau seinen gewitterschwülen, die Brust beängstigenden
und doch so süß bestrickenden Zauber, Heine seine bald leichtfertig tändelnde, [16]
bald ergreifende Leichtigkeit, Chamisso seine anmutend liebenswürdige Naturwahrheit,
Freiligrath seine hochfliegende Freiheitsbegeisterung, Geibel seine
glatte, einfache, sinnige Weichheit, Gottschall seine vom Gedanken durchleuchtete
Klarheit, Keller sein sinniges Gemüt und seine gesunde Männlichkeit
erreicht. Die Metapher bedingt zum Teil das Unterscheidende der Richtungen
und Schulen. Note: Ein Dichter des Mittelalters hat andere Metaphern als
Homer, oder auch als der Dichter des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, Note: Personen: Dichter des MA, Homer, Dichter des 17., 18., 19. Jh. ein
Romantiker andere als ein Klassiker, Heine andere als Geibel, Herwegh Note: Personen: Romantiker, Klassiker, Heine, Giebel, Herwegh andere
als Freiligrath. Note: Person: Freiligrath Freilich macht die Metapher nicht das Wesen der Lyrik aus; Note:
dieses liegt, wie im vorigen Paragraphen ausgeführt wurde, im dichterischen
Jngenium, im gebildeten Gefühl des Dichters, in seiner quellsprudelnden
Phantasie, wodurch er befähigt wird, im Geistesflug über die Erde und ihre
Erscheinungen zur reinsten Ätherhöhe sich emporzuschwingen, bald hier das Auge
an den lebensvollsten Erscheinungen labend, bald dort den Blick an den brillantesten
Phantasiegemälden bezaubernd &c.
§ 11. Umfang des lyrischen Gedichts.
Da das reine Gefühl nur Eine Grundstimmung haben kann,
da ferner das lyrische Gedicht der Stimmung des Augenblicks entquillt,
so erhellt, daß ein Abirren nicht gut möglich ist.
Das Eine Gefühl bedarf keiner Ausbreitung; auch kann die Empfindung
als Spannung auf einen Punkt wohl Dauer, aber keinen großen Umfang
haben, weshalb das lyrische Gedicht seiner Natur nach kurz und einfach ist,
im Gegensatz zum epischen Gedicht, das unendlich ausgebreiteten Stoff zur
Beschauung gewährt.
Wird der äußeren Anschauung ein das subjektive Fühlen beeinträchtigendes
Übergewicht eingeräumt, so wird das Gedicht episch=lyrisch, ─ sofern es
aber Gedankenreihen entwickelt, didaktisch=lyrisch.
§ 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik.
1. Der Stil im allgemeinen, wie speziell der Stil eines Gedichtes
ist von wesentlicher Bedeutung. Jeder Stil ist Form und doch spricht
aus ihm zugleich die Seele, das Eigenartige des Schriftstellers und
Dichters.
Man unterscheidet in der sprachlichen Darstellung:
a. den niederen Stil,
b. den mittleren Stil,
c. den hohen Stil oder den Stil der Lyrik.
2. Der Stil der Lyrik selbst hat mehrfache Abstufungen.
1. Der niedere Stil ist die Redeform des Verstandes und beherrscht
das Gebiet der Prosa. Er verlangt Deutlichkeit. Der mittlere Stil steht [17]
im Dienste der Einbildungskraft und fordert vor Allem Anschaulichkeit,
weshalb er in der gesamten Poesie ─ die lyrische ausgenommen ─ sich
findet. Der höhere Stil ist der Stil des Gefühls, weshalb Erregung,
Erhabenheit über das Gewöhnliche, Leidenschaft &c. seine Merkmale sind, wenn
er auch der Deutlichkeit und Anschaulichkeit nicht entraten kann oder will.
Sofern der höhere Stil neben Belebung des Gefühls auch Deutlichkeit
erstrebt, ist er der oratorische Stil. Sofern er jedoch mit Erregung des
Gefühls epische Anschaulichkeit erstrebt, ist er der Stil der Lyrik.
Die griechischen Rhetoren führen als leidenschaftliche Erregungen des
Gefühls an: Ethos (ἦθος) und Pathos (πάθος), wofür Quintilian die
affectus mites und affectus concitatos setzt.
Die Affekte des Ethos sind sanfter, ruhiger, rührender, gemütlicher Natur,
die des Pathos lebhafter, bewegter, ergreifender, leidenschaftlich fortreißender Art.
2. Man teilt den Stil der Lyrik ─ denselben an sich betrachtet ─ wieder
ein in einen niederen, in einen mittleren und in einen höheren Stil der Lyrik.
Die Elegie, (§ 75) welche dem Lyrischen noch das Epische am meisten beimischt,
repräsentiert in dieser Beimischung den niedern Stil der Lyrik. Das
Lied, (§ 62 ff.) welches sich von den epischen Äußerlichkeiten teilweise losringt,
zeigt den mittleren Stil der Lyrik. Die Ode, (§ 71), der Hymnus (§ 73)
und der Dithyrambus (§ 74) hingegen, in welchen Gattungen die Empfindung
zum höchsten Jdealismus sich emporschwingt, zeigt den höheren Stil der Lyrik.
Jn der rührenden Elegie zeigt sich das Ethos; in der Ode, dem Hymnus &c.
das Pathos; das Lied steht in der Mitte.
Von dem Stil der oratorischen Prosa, welcher vor allem Deutlichkeit
neben Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, d. i. eine lebensvolle, schöne Wirklichkeit
erstrebt, unterscheidet sich der Stil der lyrischen Poesie dadurch, daß er
nicht das Verstandesmäßige aufsucht, weil das sezierende Verstandesmäßige nur
eine negative Rolle in der Lyrik spielt, und daß er Wohllaut in der metrischen
Anordnung der Worte fordert. Sein Ziel ist vielmehr schöner Ausdruck und
lebhafte Erregung des Gefühls. Dabei ist sein Ausdruck bald Ethos, bald
Pathos, bald eine Vereinigung beider. Jn seiner niedern Form bedient er
sich mehr der Figuren, in der höhern der plastischen Tropen. Der niedern Art
steht der volkstümliche, idyllische Ton gut, weshalb sie sich auch zuweilen der
Provinzialismen bedient, oder ganze Gedichte in einer der Mundarten bietet,
während die höhere Form kühnen Gedankenflug, kühne Bilder, Wortschöpfungen,
Neologismen erstrebt oder gestattet. Die Ode liebt Satzgefüge, die Elegie kürzere
Sätze (vgl. Schillers Elegie Der Spaziergang mit den Oden Klopstocks &c.).
Die Lyrik als höchste Gattung der Poesie (die vollkommenste ist das umfassende,
auch die Lyrik ermöglichende Drama) erhebt aus den Gebieten des
Sinnlichen zu denen des Jnnerlichen, Übersinnlichen, Geistigen, Gefühlsmäßigen.
Daher ist der Stil der Lyrik nicht mit der monotonen Wiederkehr gleicher
Rhythmen zufrieden, wie Epos und Drama, sondern er verlangt eine der
Bewegung, dem Gefühlsausdruck entsprechende Mannigfaltigkeit in den Verstakten,
Versen und Strophen. Wie die Gefühlszustände wechseln, so läßt er [18]
im Äußeren belebte Mannigfaltigkeit eintreten. Er verbindet die verschiedenartigsten
Versarten unter einander, sowie symmetrische und unsymmetrische
Strophengebäude, er wendet zwei- und mehrgliedrige Strophen an, Antistrophen
und Epoden und a. m.
II. Didaktik.
§ 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen
Poesie.
1. Gedichte der Kunstpoesie, in denen der Gedanke, die Jdee
vorherrscht, oder denen es lediglich um Veranschaulichung eines Gedankens
zu thun ist, oder welche Wahrheiten der Sittenlehre, der
Religion, der Philosophie in schöner Form zur Kenntnis bringen, sind
didaktische Gedichte.
2. Die didaktische Poesie gehört zur subjektiven Poesie. Sie ist
die Lyrik des Verstandes, die Gedankenlyrik. Jhr Gegenstand und
Wesen ist ein geist- und gemütreiches Abstraktes, das sie in schöner
Form bietet. Dieses Abstrakte ist der durch die dichterische Phantasie
bestrahlte und verklärt durch das Medium des Herzens gegangene
Gedanke.
3. Jm Gegensatz zur Lyrik läßt die Didaktik daher das Reflektierende,
das Jnstruktive und Spekulative zu, wenn dieses auch nicht
ihr eigentlicher Zweck ist.
1. Von der Lyrik des Gefühls unterscheidet sich die Didaktik dadurch,
daß die Erregung des Gefühls keine unmittelbar oder direkt diktierte ist, vielmehr
das Gefühl erst durch verstandesmäßige Anregung in Schwingung versetzt
wird, daß also die Erhebung auf den Gedanken gegründet ist und als
Zweck der poetischen Produktion erscheint.
2. Der Didaktiker wählt den Weg zum Herzen durch den Kopf und
erreicht seine Wirkung durch den Wiederhall, welchen der Gedanke dem Herzen
entlockt.
Da die didaktische Poesie somit hauptsächlich den Gedanken zu ihrem
Vorwurf nimmt, so gehören ihre Gegenstände entweder der Außenwelt, oder
doch wenigstens der objektiven Herzenswelt an. Letztere verwertet dieselben
nicht selten zu Spekulationen, so daß Gedankenreihen entstehen, die zunächst
belehrend (instruktiv) wirken, die aber mit dem Gemüt immerhin verschwistert
sind, und selbst in der Belehrung wie in der Spekulation mindestens eine
Beziehung auf das Gefühl haben. Jch denke hier zunächst an Rückerts Lehrgedicht
„Weisheit des Brahmanen“ und muß mich daher auf Belehrung
und Spekulation als zwei durch Rückert in die didaktische Poesie gebrachte
wesentliche Momente etwas weiter einlassen.
3. Spekulation, Reflexion und Belehrung in der Didaxis. An
sich darf und will die Poesie nicht belehren; ihr ursprünglicher Zweck ist, wie [19]
der alles Schönen, zu erfreuen. Daher gehören Belehrung und Spekulation nicht
in den eigentlichen Begriff der Poesie, deren Gesetz allein die Schönheit ist.
Beides, das Jnstruktive wie das Spekulative, beeinträchtigt das ruhige Empfinden,
die unmittelbare Aufnahme und den ungeteilten Eindruck: das Jnstruktive,
weil es das Gefühl erst in zweiter Linie berücksichtigen kann;
das Spekulative, weil es seinem Wesen nach nicht als fertig dargereicht
wird, und somit ebenfalls nicht auf das Gefühl unmittelbar wirkt. Dante
(Göttliche Komödie) und Goethe (Faust) haben allerdings das Problem der
Vereinigung von Spekulation und Poesie gelöst, während andere, wie W. Jordan
(Demiurgos), Mosen (Ahasver) philosophisch reflektierend blieben.
Wenn schon eine leichte Reflexion dem Dichter zum Gedichte werden kann,
und er zu seinem Gedichte die passende, schöne Form findet, soll dann nicht
auch für den höchsten Gedanken, für die höchste Spekulation eine Form gefunden
werden können, unter welcher das Gedankliche, Spekulative für die Poesie
flüssig gemacht wird, sollte nicht eine vollendete dichterische Darstellung zu erzielen
möglich sein, in welcher auch dieser tiefe Jnhalt mit einer dichterischen
Form sich deckt? Da hier der Jnhalt an das Erhabene grenzt, so wird allerdings
auch die Form erhaben sein müssen. Das Erhabene aber ist nur das
Schöne in gewaltiger Form. (Vgl. Bd. I. S. 92 u. 93.) Die wahre
ästhetische Freiheit liegt gerade in der Form, durch welche auf das Ganze
des Menschen gewirkt werden kann. Wir geben zu, daß ein in Reime gebrachtes
philosophisches System noch kein Gedicht sei; aber wir verlangen eben vom
didaktischen Gedichte etwas anderes, vielleicht das Höchste, was durch dichterische
Darstellung auszudrücken ist. Wir verlangen, daß der Dichter und der
Philosoph nicht zwei Personen seien, sondern eine einzige normale,
geist- und phantasiereiche Persönlichkeit, welche ihren
Platz auf dem Parnaß hat, der aber die Thäler der Weisheit
nicht verschlossen seien. Nur so finden die ernsten Harfentöne drunten
im Thale ihren entzückenden Wiederhall, während oben neben der Harfe die
Lyra bebt und leise harmonische Accorde mit einmischt, wenn die Schallwellen
der Harfe über sie hinstreichen.
Dies war auch Rückerts Ansicht. Er sprach sie nur mit andern Worten aus:
(Weisheit des Brahmanen X. 98. S. 379.)
Jene sogenannte Didaktik, bei welcher sich das Lehrhafte als solches ausschließlich
in den Vordergrund drängt, oder die das Ergebnis von Spekulationen
ohne alle subjektive Durchdringung und Belebung nur in bloße Reime bringt,
fällt aus aller Poesie heraus, eben weil eine, wenn auch noch so schön
aufgeputzte nüchterne Lehre nur Reimerei sein kann; eine Reimerei, bei welcher [20]
die Lyra nimmermehr mitschwingen wird. Jene Didaktik jedoch, welche die
höchsten Fragen aus Natur und Menschenleben begeistert zu erfassen und mit
den gemütbestrickenden Herztönen der dichterischen Empfindung sinnig zu vermählen
versteht, kann vielleicht als die vornehmste und höchste Gattung aller
Poesie angesehen werden. Jn diesem Sinne darf man kühn behaupten, daß
derjenige Dichter, welcher einen ewigen Jnhalt aus den Gebieten der Belehrung
und der Spekulation in eine schöne dichterische Form zu gießen vermag, ein
echter Didaktiker, ein wahrer Dichter sei, welcher geistige Kunst übt und für
die Unsterblichkeit wirkt. Ja, in dieser Richtung ist alle wahre Poesie belehrend,
didaktisch, jeder wahre Dichter ein Lehrer, ein Didaktiker.
§ 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen
Poesie: der Gedankenlyrik. (S. § 13. 2. dss. Bds.)
Ferner das Gesetz der Didaxis.
1. Die von Schiller und Rückert gegebene didaktische Poesie wirkt
auf das tiefere Erkenntnisvermögen und läßt den tiefen Gedanken im
Gefühle aufgehen.
2. Beide Dichter bilden für die didaktische Poesie eine Epoche.
Von ihren Dichtungen ist daher für die Folge der Begriff und das Gesetz
der Didaktik zu abstrahieren.
3. Jean Paul ahnte bereits die Zukunft der didaktischen Poesie.
4. Rückert war der erste, der ihre Mission klar legte und
betonte.
1. Die didaktische Poesie, welche auf das tiefere Erkenntnisvermögen
wirkt, und bei welcher der Gedanke im Gefühle aufgeht, behauptet einen ausgezeichneten
Platz. Diesen Standpunkt nimmt die Schillersche wie die Rückertsche
Didaktik ein. Nie zur Unzeit schaut aus dem Dichter der Philosoph mit seiner
dürren Metaphysik hervor, überall deckt sich schöne Form mit dem tiefen Gedanken,
reine geistige Kunst ist vorhanden. Um auf den Verstand
zu wirken, stellen diese Dichter ihre Wahrheiten in poetischer Form dar; für
Einwirkung auf das Gefühl geben sie denselben eben diese schöne Form.
2. Nach Schillers und Rückerts didaktischen Gedichten wird man für die
Folge den Begriff und das Gesetz der wahren Didaktik, die man als Gedankenlyrik
bezeichnen muß, folgendermaßen zu präcisieren haben: Die
Didaktik besteht darin, das Abstrakte in konkreter Form zu geben, um
Wahrheiten und Jdeen bessern Eingang und Dauer zu verschaffen.
Jenes Abstrakte aber muß geist- und gemütreich, diese Form aber
vollkommen, schön und gediegen sein. Der durch die dichterische
schöpferische Phantasie bestrahlte Gedanke muß durch das Medium
des Herzens verklärt werden und im Gefühle aufgehen; die schöne
Form muß den tiefen Jnhalt decken.
Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes
in „Gott und Welt“ und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf
das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies
muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über
jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden,
fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über
das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „Unsterblichkeit“ finden;
das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen,
verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern,
wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen
zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden
und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es
versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen),
v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs
Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen),
Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedge
(Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und
vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa
zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des
Reims unter der hochtrabenden Firma: „Didaktisches Gedicht“ in das Gebiet
der Poesie einschmuggeln zu können.
Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung
stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie,
der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der
Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher
Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller
griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „Werken und Tagen“, entgegentritt.
(Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt
von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich
prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem
Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann
wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen,
sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen
Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen,
überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder
ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das
alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk
als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte,
es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie,
welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging,
zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne
Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer
die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am
Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die [22]
didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie jetzt einnimmt, und unter der
ihr der letztgenannte Dichter in der Weisheit des Brahmanen ein unvergleichliches
Denkmal gesetzt hat.
3. Jean Paul ahnte bereits mit prophetischem Geiste die Zukunft der
didaktischen Poesie zu ihrer nur von Schiller (z. B. die Glocke), Rückert, und
annähernd nur noch von wenigen erreichten Höhe, z. B. von Schefer
(Laienbrevier), Agnes Franz (Der Christbaum, an Schillers Glocke erinnernd),
Uz (Theodicee, eine didaktische Ode), Haller (vom Ursprung des Übels),
Tiedge (Urania, ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit in 6 Gesängen,
schön in Form und Gedanken, aber ermüdend und ohne Tiefe), Herder
(Jch, Selbst), Gleim (Halladat, eine eigentümliche Art kurzer Lehrgedichte,
aus seinen Studien des Koran entstanden), Hammer (Schau in dich und
schau um dich, 1851, und Zu allen guten Stunden, 1854), ferner von den
sog. philosophischen Lyrikern Mosen, Sallet, Titus Ulrich (Das hohe
Lied, 1845), Jordan, Gottschall, Schloenbach, Prutz und Geibel.
Jean Paul sagt: „Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre,
sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereicht, und als eine mit
Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten. Jn der Dichtkunst ist jeder Gedanke
Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer.“
Wie mochte er sich freuen, diesen Gedanken in den Werken Schillers verkörpert
gesehen zu haben (im Genius; An die Freude; Würde der Frauen; Die
Glocke; Die Jdeale; Resignation; Macht des Gesangs; Das Jdeal und das
Leben; u. s. w.). Wie mochte ihn die Wahrnehmung überrascht haben, daß
Schiller auf dem Gebiete des Denkens Eroberungen auch für die Poesie zu
machen verstand (z. B. im Gedicht: Die Künstler, welches als seine Ästhetik
in der Poesie bezeichnet werden darf), was ja auch Goethe anerkennt (vgl.
Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem er ihm schreibt: „Jhre Gedichte
haben besondere Vorzüge; sie sind nun, wie ich sie vormals von Jhnen hoffte.
Diese besondere Mischung von Anschaun und Abstraktion, die
in Jhrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle
übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung hervor“ &c.). Wie
mochte er in der Glocke die erreichte Harmonie zwischen Jnhalt und Erscheinung,
zwischen Jdee und Vorstellung erkennen. Bei Schiller fand er eine gewaltige
Fülle der schönen Gedanken mit dichterischem Gefühl vermählt. Schiller, wie
später besonders Rückert, wurde Repräsentant der zur Gedankenlyrik gewordenen
Didaktik.
4. Die hohe Mission der Didaktik hat zuerst Rückert in folgenden
Alexandrinern gezeichnet:
[23]
(Rückerts W. d. Br. XIX. 6.)
Ferner:
(W. d. Br. V. 1.)
§ 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter.
Der Didaktiker, der es auf das höhere Erkenntnisvermögen abgesehen
hat, bleibt Dichter, auch da, wo er noch so sehr als Philosoph
oder Sittenlehrer auftritt, sofern ihm ─ wie bemerkt ─ der Gedanke
im Gefühl aufgeht, und die schöne Form den schönen Jnhalt deckt.
(Vgl. § 13 d. Bds. am Schluß.)
Wie der Didaktiker im Stoffe einen Januskopf hat, der mit dem einen
Gesichte in das naheliegende, einzelne, kleine, deutsche Leben, mit dem andern
in weite fremdländische Zaubergärten schaut, so hat er auch in der Produktion
und in der Form seines dichterischen Geistes eine doppelte Gestalt. Die eine
ist ihm Quell rein lyrischer Ergüsse, die andere singt ihm in poetischem, vom
Gefühl geleiteten Schwunge philosophische Sätze und Weisheitssprüche. Beim
wahren Didaktiker bleibt, wie an Schiller und Rückert zu sehen ist, die
lebendige Vorstellung Hauptsache für die Dichtung. Wer könnte uns poetischer,
das Herz ergreifender mit den Worten der Weisheit erfreuen, als solche Dichter,
denen Natur, Leben und Menschenherz, ja, die ganze Welt das Buch war,
in dem sie forschten, die in goldenem Gefäß den tiefsten Jnhalt vermittelten?
Wo bei ihnen einmal das ästhetische Element weniger stark hervortrat, da war
es stets das ethische, das den Ersatz bildete und befriedigte.
Der didaktische Dichter stellt sich als Ziel seiner didaktischen Poesie nicht
eben die Belehrung an sich, vielmehr die auf den Gedanken gegründete Erhebung,
Erquickung und eine nachdrückliche Erbauung der Phantasie hin. Jch
mache zum Überfluß noch auf Rückerts Gedicht: „Griechische Tageszeiten“ (Ges.
Ausg. VII. 262) aufmerksam, welches, so lyrisch auch Ton und Sprache im
einzelnen sind, doch wegen seines Endzwecks und gedanklichen Zieles echt
didaktisch genannt werden muß. Der Didaktiker verkörpert eben seine Jdeen
dichterisch, ohne daß man ihnen die Gedankenschwere und Abstraktion anmerkt.
Dadurch erreicht er das Höchste, was man von der subjektiven Poesie verlangen
kann, dadurch sichert er sich im hervorragenden Sinn den Ehrennamen
─ eines wahren Dichters.
III. Epik.
§ 16. Begriff der Epik.
1. Die epische Poesie hat ihren Namen vom griechischen Worte
Epos (ἔπος == Wort, Erzählung τὰ ἔπη, Od. 4. 597). Sie ist die
dichterische Erzählung des Geschehenen, des erlebten Wirklichen wie
des in der Sage Lebenden, oder auch des Erdichteten. Epische Poesie
und erzählende Poesie sind gleichbedeutend.
2. Sie ist objektive Poesie.
1. Sofern die Epik auf der Basis der nationalen Sage ruht, ist sie
national, während die das dichtende Subjekt wiederspiegelnde Lyrik individuell
oder im weiten Sinne kosmopolitisch, universell ist.
2. Die epische Poesie ist im Gegensatz zur subjektiven lyrischen und didaktischen
Poesie objektiv. Jhr Objekt sind äußere, außerhalb des Dichters
liegende Erscheinungen, Thatsachen, Begebenheiten des menschlichen Lebens,
oder auch Erdichtungen, welch letztere nur der innern Wahrscheinlichkeit nicht
entbehren dürfen und so dargestellt sein müssen, wie sie möglicherweise geschehen
konnten. Es soll nicht gesagt sein, daß die epische Poesie das Gefühl ganz
ausschlösse. Dieses geht jedoch von den Personen des Epos aus, sofern es
nicht in symbolischer Form auftritt. Ein Vorzug der Poesie im Epos ist es,
wenn sie ihre Helden mit dem dichterischen Zauber subjektiven Empfindens
schmückt, so daß ─ unter Hinzutritt anmutiger Wahrscheinlichkeit in den Verhältnissen
und Situationen ─ der objektive Gegenstand gleichsam mit der
subjektiven Empfindung und Anschauung zusammenschmilzt.
§ 17. Anforderungen an den Epiker.
1. Der Epiker muß malend vorgehen. Er muß das Leben erzählen;
er muß vergangene Begebenheiten in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge
wiedergeben, wie wir es des näheren unter Epos darlegen
werden.
2. Der Epiker darf sich nie in den Vordergrund drängen.
1. Die Anforderungen an den Epiker sind wahr in folgenden Versen
geschildert:
(Odyssee, übers. v. Voß 8. 487 ff., vgl. 11. 368 ff.)
2. Wesentlich für den Epiker ist, daß er hinter seinem epischen Helden
ganz verschwindet, daß er Entwickelung, Fortgang, Verwickelung und Lösung
aus den Charakteren hervorgehen lasse, ohne daß man seine leitende Hand merkt.
„Wie die Gottheit hinter'm Weltgebäude, so muß der epische Dichter
hinter seinem Werke stehen.“ (Vgl. Schiller: „Über naive und sentimentale
Dichtung.“ Die Sage von der Blindheit epischer Dichter z. B. des Demodokos,
Od. 8. 64, des Homeros, soll andeuten, daß des Dichters Persönlichkeit, sein
Urteil und die Gegenwart verschwinde. Jch erinnere an die Stelle in Goethes
Sänger: „Der Sänger drückt' die Augen ein, und schlug in vollen Tönen“ &c.)
§ 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik.
1. Die epische Poesie ist der Anfang und die Quelle aller Poesie.
Sie war überall die erste.
2. Erst nach Ausbildung der Epik entwickelte sich die Lyrik.
3. Die aufblühende Lyrik drängte zum Drama hin.
1. Mit der Epik begann überall die Litteratur. (Vgl. Bd. I. S. 18 ff.)
Sie ließ ursprünglich geschichtliche Stoffe in volksmäßig dichterischer Weise als
Sage erscheinen. Spätere Nachfragen nach Grund und Ursache dieser Sagen
ließen aus Naturphilosophie und Religion den Mythus erstehen, d. i. die
Erklärung der Erscheinung. So lange die spekulativ=phantastische Lösung geglaubt
wurde, war der Mythus rein. Später wurde derselbe didaktisch behandelt
oder mit Absicht allegorisch. Sobald die dichterische Phantasie eines Volkes
Geschichte und Naturleben in Sage und Mythe allseitig durchgearbeitet und
genügendes Material beschafft hatte, begann die Blütezeit der Epik. Große
Dichter bearbeiteten den aufgehäuften Stoff in künstlerischer Weise und Rhapsoden
verbreiteten die Dichtungen. Welche poesieempfänglichen Zeiten müssen es
gewesen sein, in denen nach Homers Bericht die Hörer dem Demodokos
lauschten, oder von denen Beowulf berichtet:
(Beowulf. Übers. und erläut. v. Simrock S. 106.)
An das Heldengedicht jener deutschen Zeit, die auch einen einheitlichen
Baustil für Errichtung unvergleichlicher Dome schuf, reihte sich das Kulturepos; [26]
aus diesem entwickelte sich das idyllische Epos, wie aus der religiösen Sage
des Mittelalters die dem Didaktischen sich zuneigende christliche epische Gattung,
die Legende, erblühte.
Die ursprüngliche bloße poetische Erzählung war lediglich Naturpoesie.
Zur Kunstpoesie wurde das Epos, das einen mehr reflektierenden Charakter
annahm und dessen Stoff einer großen Jdee Ausdruck verlieh. Nunmehr war
die epische Muse einem lebendigen Gemälde zu vergleichen, auf welchem der
Blick die Mannigfaltigkeit durch die Kunst des Dichters zur Einheit sich
gestalten sah.
2. Als die Epik ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte sich ähnlich, wie
bei den Griechen, das subjektive Element der Poesie geltend. Die Erzählung
in Liedform (Ballade, Romanze) führte die Lyrik ein. Das lyrische Element
trennte sich nach und nach vom Epos ab. Die Formen, in welchen sich diese
Lostrennung offenbarte (Volkslied, Ballade &c.), waren sehr einfach, bis endlich
die Subjektivität erstarkte, die epischen Formen sprengte und gemischtere Weisen
zur Blüte führte.
3. Mit dem Aufblühen der Lyrik fiel das Abblühen der Epik zusammen,
bis endlich die Vereinigung des Subjektiven und Objektiven in der nunmehr
aufblühenden Poesie der Handlung, im Drama, erfolgte.
§ 19. Epischer Stil.
Der epische Stil kann sich nach drei Richtungen hin kundgeben:
Er kann a. naiv (vgl. Bd. I S. 103), b. ironisch (vgl. Bd. I S. 199),
c. sentimental sein. (Letzteres als Übergewicht des Subjektiven über
das Objektive in der poetischen Darstellung aufgefaßt.)
Die Stilarten hängen ─ um mich der Worte Keiters in Versuch einer
Theorie d. Rom. S. 223 zu bedienen ─ mit der Konstitution des Dichtergeistes
zusammen. Wo sich Phantasie, Gefühl und Verstand in schöner
Harmonie zusammenfinden, haben wir den objektiven Stil der Epik. Er ist
Eigentum des naiven Dichters oder eines solchen, der ihm in den Zeitaltern
der Kultur am nächsten kommt. Der naive Dichter geht (wie wir
dies im § 17 d. Bds. forderten), in seinem Stoffe auf und gewinnt so die einzig
künstlerische Darstellungsweise. Wiegt von den dreien den Dichter bildenden
Kräften der Verstand vor, so ist der ironische Stil das Ergebnis. Der
Dichter erhebt sich gleichsam über seinen Stoff. Er sieht weiter als die von
ihm dargestellten Personen, sein Horizont ist ein unbeschränkter, während der
Blick seiner Personen auf dem Nahen haften bleibt. Seine Miene zeigt deshalb
gern etwas gutmütig Spöttisches; er nimmt aber an den Schicksalen seiner
Personen herzlichen Anteil. Ein durchgängig ironischer Stil wird schließlich
unleidlich. Es muß deshalb des Dichters Streben sein, ihn den verschiedenen
Stadien der Entwickelung anzupassen. Ganz vortrefflich handhabt beispielsweise
Eliot in „Die Mühle am Floß“ den ironischen Stil. So lange die Hauptpersonen
noch Kinder sind, macht die Dichterin uns mit gutmütigem Spott [27]
auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt
ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit
begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens
ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt
vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue
Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und
Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der
Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm
herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er
kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die
Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive)
Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht
dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet
er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
Proben des epischen Stils:
a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke
XVI. S. 102.)
„Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren
Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei
anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der
Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes
Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der
Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre
blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach
dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze
umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes
Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer
am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen
abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem
er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein
Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte,
und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer
ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm
entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes
Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen
standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und
Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung
an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.)
b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der
Reichsfestung Ziebingen.)
Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß
mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre
Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker [28]
Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse teils
Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet,
welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot
alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung.
Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte
eine solche Verletzung der Weideparität nicht schweigend erdulden, wenn sie
bleiben wollte, was sie war. ─ Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen
Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die
Festung geschickt ─ auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden ─
Schmerzensgelder wurden gefordert ─ Sturmläufer gedroht. ─ Aber die
Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als
ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über
die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene
Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen
war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus,
daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif,
neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen
müsse, woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den
feindlichen Gänsen verschossen ... u. s. w.
Wir gingen da zu einem Töpfer, um ein Kabinetsgefäß zu kaufen, welches
allerdings nur dann in eine Küche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter
man's stellt, sonst nie. „Welche reine Farbengebung und Zeichnung,“ sagt'
ich, als ich in das Gefäß hineinschaute, und die Blumenstücke recht in's Auge
faßte, „Meister! Führ' Er so fort, und lief' Er sich täglich so selber den Rang
ab, Meister, ob Er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder Portlandvase
überraschte? Da möchte ich den Mann sehen, der sich herstellte und
schwüre, diese könn' Er so wenig machen, als ein egyptischer Zauberer eine
Laus.“ ─ Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen
ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß
jetzo seine Schüssel saurer Milch erst ausessen, bis er allmählich sich durch den
Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel- oder Blumenstück
aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist?
Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand
ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt, und
die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. „Ach,“ sagte der Töpfer,
„vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein; und da
verfumfeiet er freilich jeden Bettel.“ So ist also die Bemerkung nicht allgemein
wahr, daß immer in Kriegsläufen, wie z. B. in Athen, die Künste
besonders blühen u. s. w. ─ (Man vgl. hiezu Bd. I S. 199.)
c. Sentimentaler Stil. (Bruchstück aus Brachvogels Friedemann.
Buch I S. 40 und 41.)
„Welch' eine stolze Versammlung Alles dessen, was Sachsen Reiches,
Schönes, Vornehmes und Berühmtes bot! Welche Fülle strahlender, froher
Gesichter! ─ War es nicht gerade, als wüßten diese Leute nicht, was eine [29]
Thräne sei, als wäre unter ihnen der Schmerz ein Fremdling? ─ O prahlt
nur, wallende Federn, wehende Fächer, schwellende Busen, auf denen Demanten
blitzen! ─ Und wie das lacht und schwatzt und lustig ist, als sei die Ewigkeit
ein Traum und das Glück eine gefesselte Magd! ─ Und doch tanzt dieses
ganze Geschlecht auf seinem Grabe, und doch ist so manches Lächeln erlogen,
erzwungen; unter jenen seidenen Gewändern schlägt ein gemartertes, wimmerndes
Herz, unter diesen Sternen windet sich ein falsches, treuloses und gequältes
Gewissen. Schon seh' ich den geheimnisvollen Finger, der das Mene tekel
an die Wand schreibt, und ein schattenhaftes Gespenst, das durch die Gruppen
schreitet und bald auf diese, bald auf jene Stirn, wie sorglos sie noch heute
glänzen mag, das Siegel des Verhängnisses drücken wird.“ ─ (Als weiteres
Beispiel des sentimentalen Stils vgl. Börnes bekannte Denkrede auf Jean Paul.)
IV. Dramatik.
§ 20. Begriff der Dramatik.
1. Die dramatische Poesie (von δρᾶμα == Handlung) ist die
Poesie des Thuns oder der werdenden Handlung. Jhr Zweck ist die
Darstellung von etwas Geschehendem in mimisch und dialogisch handelnder
Form; ihre Absicht: Darstellung der Leidenschaft, die zur
That fortreißt, Darstellung jener starken Seelenbewegungen und inneren
Kämpfe, die der Mensch vom ersten Regen der Empfindung bis zum
leidenschaftlichen Handeln durchmacht, oder auch die das Handeln
anderer in ihm hervorruft.
2. Die dramatische Poesie soll das wirkliche Leben in seinen
erhabensten, entzückendsten Gestalten, in seinen ergreifendsten, reizvollsten
Weisen, durch Schönheit verklärt und durch Harmonie verbunden,
poetisch vorführen.
3. Auf die aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung der
dramatischen Poesie ist unsere Bezeichnung „Spiel“ mit seinen Zusammensetzungen
(Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel, Singspiel &c.) zu beziehen.
4. Das Skelet des dramatischen Körpers ist das, was mit den
Augen gesehen werden kann, was auf der Bühne (Scene) vorgeht.
Das gesprochene Wort trägt für die Ausschmückung Sorge.
1. Durch die Darstellung einer sich entwickelnden Handlung oder einer
Kette von Handlungen unterscheidet sich die dramatische Poesie wesentlich von
der epischen, welche Geschehenes, Thaten, Begebenheiten erzählt, oder dem
Erzähler in den Mund legt. Ebenso unterscheidet sie sich durch die handelnde
Form von der lyrischen Poesie, welche lediglich die innern Zustände (Gefühle
und Empfindungen) schildert und besingt. Jn ihrer sich selbst entrollenden
Handlung ist die dramatische Poesie die Poesie des in Bewegung begriffenen
Werdens, während die Lyrik als Ausdruck innerer Zustände [30]
und Seelenbewegungen die Poesie der Gegenwart des Gefühls, und
die Epik als Erzählen des Geschehenen die Poesie der Vergangenheit
genannt werden kann. Das Drama, welches sich aus der epischen und lyrischen
Poesie entwickelt hat, wurde schon von Aristoteles (Poet. 26) als höchste
Poesie bezeichnet. Derselbe räumt der Epopöe die zweite Stelle ein, sofern
sie dramatisch ist oder es sein kann. Das Drama war erst nach Ausbildung
der Epik und Lyrik möglich. Es ist die Blüte aller Dichtkunst, indem es durch
Verschmelzung von Epik und Lyrik ─ also der äußern Wirklichkeit und der
innern Seelenzustände ─ ebenso auf die Anschauung wie auf die Empfindung
zu wirken vermag. (Aristoteles sagt in dieser Hinsicht in Poet. 3: ὅθεν
καὶ δράματα καλεῖσθαί τινες αὐτά φασιν, ὅτι μιμοῦνται δρῶντας,
desgleichen in Poet. 2: μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας.)
Der Handelnde repräsentiert die subjektive gegenwärtige Empfindung im
Affekt, in der Leidenschaft. Anstatt Erzählung der Begebenheiten ─ wie im
Epos, ─ führt das Drama die Begebenheit in dialogischer Form wirklich auf,
und es werden die Begebenheiten im Drama zur That, oder besser zu dem,
was man eben Handlung (d. i. die in Entwickelung begriffene entscheidende
That bis zur Vollendung) nennt. Jm Drama begiebt sich nicht nur Verschiedenes
mit und an den auftretenden Personen, sondern diese zeigen durch
eigene handelnde Vor- und Darstellung alle Seelenprozesse, welche in der
Hauptperson des Drama bis zur leidenschaftlich vollbrachten That sich vollziehen,
alle inneren Motive in ihrer vollen Geltung, weshalb die griechische Bezeichnung
Drama (von δρᾶν == handeln) viel bezeichnender ist, als die lateinische
fabula, die doch nur das epische Moment charakterisiert. (Der Lateiner hilft
sich, indem er sagt: fabulam agere.)
2. Nach Shakespeare (Hamlet Akt III, Scene 2) bezweckt die dramatische
Poesie, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen
Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der
Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (Jm Englischen lauten die letzten
Worte: to show ... the very age and body of the time his forme and
pressure. Delius (3. Aufl. Elberf. 1872. II. 391) kommentiert: Dem
Jahrhundert (age) selbst wie der in Eins zusammengefaßten Zeit (body of
the time) ihre Gestalt und ihren Ausdruck zu zeigen. Nach S. Johnson
bedeutet age bei Shakespeare any period of time attributed to something
as the whole or part of his duration: also jede Periode, den ganzen
Verlauf der Zeit, auch den Charakter der Zeit soll das Drama nach Shakespeare
darstellen. Wir möchten ergänzend auch an die verkörperte Zeit, d. i. die
Zeitgenossen denken, insofern sie persönliche Zuschauer resp. Leser sind.
3. Das Wesen des Drama ist die in Kampf, Gegenkampf, Spannung &c.
sich zeigende Handlung. Diese bedarf zu ihrer Vorführung einer Bühne (σκηνή),
der Dekorationen, der Kostüme, wobei selbstredend auch ein Schauplatz (θέατρον)
und Zuschauer vorausgesetzt sind. Die Ausmalung, Schilderung und die Beschreibungen
der Gegenden sind beim Drama Aufgabe der Scenerie.
4. Zum Ausdruck der innern Empfindungen und der Zustände, welche
in einem kausalen Verhältnisse stehen, bedient sich das Drama der Gesprächsform,
des durch Mimik und Gestikulation unterstützten Wortes,
der wechselnden Rede und Gegenrede.
§ 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama.
Die unmittelbar vor den Augen des Zuschauers sich entrollende
Begebenheit ist die Handlung. Sie wird als äußere That durch den
freien Willen des Handelnden hervorgebracht. Sie unterscheidet sich
wesentlich von der Fabel, unter welcher lediglich diese nicht zur Darstellung
gelangte Begebenheit zu verstehen ist.
Die handelnden Personen nennt man die Charaktere.
Die Fabel im Drama ist die äußere stufenweise Entwickelung der Begebenheiten,
aus denen die That resultiert. Oder besser: Unter Fabel im Drama
versteht man die nach dem Zweck des Dichters eingerichteten Begebenheiten,
deren Anfang, Fortgang und Ende sich der Dichter dem Ausgang entsprechend
zubereitet, während Handlung die in Ausführung begriffene Begebenheit
ist. Oder endlich: Handlung ist dasjenige, wodurch die Begebenheit geschieht,
ihren Fortgang gewinnt, ihr Ende erreicht: die Vorführung alles dessen,
was sich begiebt, was geschieht.
Über die Begriffe Handlung und Fabel herrscht selbst bei den gewiegtesten
Dramaturgen keine Übereinstimmung. Manche bezeichnen als Fabel,
was wir als Handlung bezeichnen, und umgekehrt. Die Römer nennen die Handlung,
wie erwähnt, fabula. (Vgl. S. 30 d. Bds.)
Die Handlung, welche im freien, nach bestimmter Absicht handelnden
Wesen ihren Grund haben und also aus den Charakteren und Verhältnissen
der Personen gewissermaßen entspringen muß, ist so wichtig, daß die handelnden
Personen erst in zweite Linie zu setzen sind. Ja, sie ist das Wichtigste
im Drama. Aristoteles sagt (Poet. 6): „Man handelt nicht, um seinen
Charakter darzustellen, sondern man macht durch seine Handlungen zugleich
auch seinen Charakter kund.“
Daher sind die Thatsachen und die Fabel der Endzweck der tragischen
Darstellung, der Grundbestandteil und gleichsam die Seele der Tragödie.
Das zweite darin sind die Charaktere, d. h. die idealen Personen,
welche durch Kraft der Empfindung, Eigenart des Willens und Wesens besondern
Charakter besitzen. (Das Dritte sind nach Aristoteles die Gedanken, d. i. die
Gesamthandlung, die über die Entfaltung des Charakters hinübergeht, oder
wodurch die Charaktere ihr inneres Leben bethätigen: die nach bestimmter
Jdee organisierte Begebenheit, welche eben durch die Charaktere dargestellt wird.)
Eine Tragödie ohne Handlung ist undenkbar; aber immerhin wäre eine
solche ohne individuelle Charaktere möglich.
Charakterschildernde Reden und geistreiche Gespräche geben kein Drama,
aber sie werden in einem Drama möglich sein, in welchem die Handlung fortschreitet.
§ 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden.
1. Wesentlich ist im Drama der Fortschritt der Handlung. Es
ist daher ein Mangel des Drama, wie ein Verstoß gegen seine Schönheitsgesetze,
wenn das überwiegende lyrische oder epische Moment diesen
Fortschritt hindert, d. h. wenn die auftretenden Personen anstatt zu
handeln, sich in lyrischen Tiraden ergehen, oder den Fortschritt der
Begebenheit mehr erzählen und beschreiben, als durch wirkliche plastische
Handlungen vorführen.
2. Einschaltungen und Zwischenhandlungen, Episoden, können nur
mit gewisser Beschränkung gestattet werden.
3. Kein deus ex machina, kein Schicksal, keine Gottheit darf den
Fluß der Handlung stören.
1. Es soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine lyrischen und epischen
Stellen im Drama vorkommen könnten. Jn den besten Dramen finden sich
dergleichen, z. B. im Tell das Alpenjäger- und Fischerlied, die Erzählung vom
Ursprung der Schweizer &c.; im Wallenstein Erzählung des schwedischen Hauptmanns;
in der Jungfrau von Orleans Raouls Erzählung I. 9. Johannas
Monolog I. 4 u. s. w.
Erzählende Stellen sind sogar am Platze, wo wesentliche Momente, die
nicht auf der Bühne darstellbar sind, mitgeteilt werden müssen, um die Handlung
des Helden zu motivieren.
(Vgl. hierzu:
Segnius irritant animos demissa per aurem,
Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, et quae
Ipse sibi tradit spectator. Non tamen intus
Digna geri, promes in scenam; multaque tolles
Ex oculis, quae non narret facundia praesens:
Ne pueros coram populo Medea trucidet,
Aut humana palam coquat exta nefarius Atreus,
Aut in avem Progne vertatur, Cadmus in anguem.
Quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi.
Horatius, A. P. 180 u. flg.)
Jn besonderer Macht kommt u. a. bei Shakespeare in Romeo und Julie
die Leidenschaft der Liebe zum Ausdruck und zeigt, daß das lyrische Element
die Vorstufe des dramatischen ist. Das lyrische oder epische Element muß den
Verlauf der Handlung unterstützen, in genauer Verbindung mit dem Fortschritt
derselben stehen, zu deren größerer Veranschaulichung dienen, aber es darf
nicht dominieren wollen. Der Dichter kommt sonst in Gefahr, den Rahmen
der dramatischen Technik zu durchbrechen und seinem Gedichte die lyrische Form
zu verleihen, wie es Rückert in „Saul und David“ that, wo er z. B. (Ges.
Ausg. Bd. IX, S. 202) einen allzulangen, lyrisch. gefärbten Monolog mit
einem Sonett beginnt u. a. m.
2. Die sich absichtsvoll entwickelnde Handlung muß das Wesentliche des
Drama sein. Kein Moment darf im Drama sich finden, das nicht auf das [33]
Endziel dieser Handlung hindrängte. Daher sind auch alle Einschaltungen und
Zwischenhandlungen (sog. Episoden), sofern sie nur äußere und keine innere
Verbindung mit der Handlung haben, unstatthaft. Sie thun der Mustergültigkeit
des Drama Eintrag, indem sie der Abgeschlossenheit der Handlung entgegenstreben
und sie hindern, aufhalten. Lediglich als Schmuck können sie an
Stellen, wo die Handlung Ruhe ermöglicht, zu Situationsbildchen erweitert
werden, um dem Dichter die Jllustration eines bedeutenden Grundzuges, einer
Eigenartigkeit seines Helden, einer interessanten Gestaltung der Nebenfiguren zu
ermöglichen. Episoden mit innerer Verbindung dienen im Drama auch zur
Motivierung. (Lady Milford ist z. B. die Motivierung der Härte des Präsidenten
gegen die Liebe seines Sohnes zu Luise. Jch verweise auch auf die Liebesepisode
des Max und der Thekla in Wallenstein. Aristoteles Poet. 17 sagt:
ἐν μὲν οὖν τοῖς δράμασι τὰ ἐπεισόδια σύντομα, ἡ δ' ἐποποιία
τούτοις μηκύνεται.) Shakespeare hat so viel des Schönen, die Totalwirkung
Fördernden in Episoden gegeben, daß sie niemand bei diesem Dichter vermissen
möchte; z. B. Hamlets Unterhaltung mit Schauspielern und Hofleuten, die
Totengräberscenen &c. sind für die psychologische Charakterentwickelung wertvolle
Zieraten, die dem Ganzen verwachsen sind und nicht ohne Schädigung abgelöst
werden können.
Ähnlich ist es bei Lessing, dessen Maler und dessen Gräfin Orsina in
Emilia Galotti, Riccaut in Minna von Barnhelm, Derwisch in Nathan &c.
als Muster der deutschen Episoden bezeichnet wurden. Goethe hat Episoden in
den regelmäßigen Dramen Tasso, Clavigo, Jphigenia vermieden, nicht aber
Schiller, der (z. B. durch den überflüssigen Parricida in Tell) des Guten zu
viel thut.
3. Schon Horaz ist gegen das Eingreifen eines deus ex machina.
(Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. A. P. 192.
Vgl. hiezu Aristoteles Poet. 15.) Jnteressant ist, wie Euripides und Goethe
sich unterscheiden. Ersterer hat in der Katastrophe seiner Jphigenia des Eingriffs
der Athene nötig, während Goethe alles so fest exponiert und vorbereitet
hat, daß er dieses Eingreifens entraten konnte.
§ 23. Anforderungen an die Handlung.
Die Hauptforderungen an die Handlung beziehen sich auf ihre
Einheit, Wahrscheinlichkeit und Wichtigkeit oder Bedeutung.
1. Einheit der Handlung. Unter Einheit der Handlung ist das
Hinstreben sämtlicher Teile des Drama nach einem gemeinsamen letzten Ziele
der Haupthandlung zu verstehen: also Einheit des Zweckes und beabsichtigte
Richtung des Gemütes des Zuschauers nach diesem einen Zweck. (Vgl. Aristoteles
Poet. 23.) Die Einheit verlangt, daß die Handlung ─ sie mag aus noch
so vielen Einzelheiten zusammengesetzt sein ─ die gleiche vom Anfang bis
zum Schluß der dramatischen Dichtung bleibe. Die Einheit der Handlung, bei [34]
der das Ende dem Anfang entspricht, bedingt nur einen Helden, nur eine
Haupthandlung, auf die sich alles bezieht. Ein gutes Drama kann anfänglich
als aus mehreren Handlungen zusammengesetzt erscheinen, aber es
müssen diese einzelnen Handlungen wie Bahnen einander nahe rücken und sich
endlich zu einer Haupthandlung vereinigen. Man vergleiche z. B. Shakespeares
Kaufmann von Venedig, wo ein Liebesabenteuer und eine Rechtssache nebeneinander
herlaufen. Jn Schillers Tell laufen sogar drei Handlungen neben
einander her, wodurch mehrfach das Jnteresse für die Haupthandlung geschädigt
wird. Die Familie Attinghausen könnte leicht ganz gestrichen werden, um die
Abschwächung des Jnteresses an der Haupthandlung, sowie die vielen Striche
unserer Schauspieler zu vermeiden. Jm „Geräuschlosen Feldzug“ vom Verfasser
(2. Aufl., Leipzig, C. G. Theile) läuft neben der Liebe der Fürstin das Unglück
der Familie Warandin her, um sich zur rechten Zeit als wesentliches Moment in
die Haupthandlung einzufügen. Jn A. Werners Martin Luther, dessen geniale
Einzelheiten wie zerstreute Blitze durch die mystische Nacht des ganzen Schauspiels
hindurch zucken, und dessen Gebetsscene am Schlusse des II. Aktes
wunderbar ergreifend wirkt, fehlt doch ganz und gar die Einheit der Handlung.
Der Dichter hat anstatt eines Drama eine Reihe wandelnder Bilder ohne
inneren Zusammenhang gegeben, in denen selbst die Gestalt des Helden einer
nebelhaften Verschwommenheit anheim fällt und mehr durch Pathos der Rede,
als durch Energie der That sich an unser Jnteresse wendet. Luther in Wittenberg,
Luther in Worms, Luther auf der Wartburg: das sind die Hauptpartieen
des Stücks, von denen jede einzeln für sich als selbständiges Drama gelten
sollte und könnte u. s. w.
Lessing bewahrt die Einheit der Handlung am meisten; Goethe beweist sie
in Clavigo, in Tasso und in Jphigenia; Schiller in Kabale und Liebe. Schillers
Neigung zu Episoden und Doppelhelden ließ ihn zuweilen die Grenze des Erlaubten
streifen, z. B. in Maria Stuart oder Wallenstein, wo ihn eine zu
dunkle Figur zur Schaffung der glänzenden des Max veranlaßt, die sich sodann
als Genius erweist, dem kein Gehör geschenkt wird. Es stört die Einheit,
wenn z. B. Schiller den feindlichen Brüdern in der Braut von Messina
überwiegende Bedeutung verleiht, was Klinger in den Zwillingen (dem Vorbilde
Schillers) dadurch vermieden hat, daß er den einen der Zwillinge von
vorne herein in den Vordergrund stellte. Jn Äschylus' „Sieben gegen Theben“
kommt nur Polynices auf die Bretter, vom zweiten Bruder werden die Begebenheiten
erzählt &c.
2. Wahrscheinlichkeit der Handlung. Wahrscheinlich ist die Handlung,
wenn sie jeden Augenblick in diesem oder jenem Lebenskreise möglich ist.
Zur Wahrscheinlichkeit der Handlung gehört, daß der Stoff der Wirklichkeit
entnommen und allgemein verständlich ist, daß nicht Unrichtigkeiten vorkommen,
die jeder Gebildete rügen muß (z. B. das Absenden von Seeschiffen am
böhmischen (!) Ufer, oder das Schießen mit Kanonen zur Zeit Karls des
Großen), daß nicht gegen die Stimmungen und berechtigten Empfindungen des
jeweiligen Publikums verstoßen werde, daß die Menschen, welche das Drama [35]
darstellt, eben Menschen bleiben u. s. w. Wenn Riesen, Elfen, Zwerge auf
unseren Bühnen erscheinen, so verletzt dies die Wahrscheinlichkeit nicht, da diese
Gestalten im Volksglauben Teil an menschlicher Empfindung haben. Mephisto
ist Lustspielfigur. Shakespeares Zuschauer faßten den Geist Banquos, Cäsars,
des alten Hamlet und die Hexen in Macbeth gewiß anders auf als wir.
Aber auch uns stören sie nicht, weil wir uns in die frühere Anschauung leicht
zu versetzen vermögen. Für uns sind sie Arabesken, welche die Anschauung
und Stimmung der Zeit widerspiegeln. Der Geist Banquos ist uns z. B.
eine mit psychologischer Feinheit nach außen projicierte Hallucination des bösen
Gewissens in der eigentümlichen Situation, die dann natürlich als real genommen
wird und somit auch mit der Anschauung der Zeit harmoniert.
3. Wichtigkeit der Handlung. Die Handlung ist wichtig, bedeutungsvoll,
wenn sie in ihrem Verlauf, wie in ihrem Ausgang das Jnteresse aller
Edlen wachzurufen vermag. Um dies zu erreichen, muß sie vor allem jene
Lebenskreise aufsuchen, die das Leben widerspiegeln und die einer großen Jdee
Ausdruck verleihen. Nur eine solch bedeutende Handlung kann ihre großen
Personen rechtfertigen. Bei einer unbedeutenden Handlung wird ein Mißverhältnis
der großen leidenschaftlichen Bewegung der Charaktere unschön berühren.
Eine wichtige Handlung vermag durch lebhafte Bewegung der Charaktere
eine fortdauernde Steigerung der Wirkungen zu erstreben, wie sie
z. B. politische Staatsaktionen, Handlungen eines staatsklugen Fürsten nicht
ergeben, wohl aber die Stoffgebiete der innern Kämpfe unserer Denker, Erfinder,
Künstler. Wir lieben für die Beweglichkeit keine epischen Berichte, wohl
aber wichtige Aktionen, wie sie den Griechen trotz Flugwerken und perspektivischer
Malerei unmöglich waren, z. B. Kriegführung u. s. w.
§ 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama.
1. Aristoteles verlangte Einheit der Handlung, des Ortes und
der Zeit.
2. Die Franzosen beachten auch bis heute seine Forderung: Einheit
der Zeit, der Handlung und des Ortes.
3. Wir Deutsche begnügen uns mit der Einheit der Handlung.
1. Für ein gutes Drama fordert Aristoteles ursprünglich weniger die
Einheit des Ortes, als Einheit der Zeit und der Handlung. Es
war dies selbstverständlich, da die Handlung ohne Unterbrechung und Einschieben
nebenhergehender Handlungen vor den Augen des Zuschauers sich abwickeln
mußte, weil der Chor, anders als bei Akteinteilungen, nie die Bühne
verließ und die Pausen durch Gesang (in der Komödie durch Parabasen) ausfüllte.
Die Zeit der Handlung durfte einen Sonnenlauf, also die Zeit von
Sonnenuntergang bis wieder dahin nicht überschreiten, und der Ort durfte,
wenigstens bei der Genossenschaft des Sophokles, nicht wechseln.
2. Die sog. klassische Schule der Franzosen hält an der Aristotelischen [36]
Lehre aus gewohnter Pedanterie fest, ohne wie bei den Griechen durch Einrichtung
der Bühne und durch den Chor dazu gezwungen zu sein. Es erklärt
sich das vielleicht dadurch, daß die Franzosen sich an die geläufige Jllusion
halten, welche die auf der Bühne erwirkten Jllusionen oder Vorstellungen
genau dem Leben adäquat macht, so daß z. B. eine Stunde auf der Bühne
auch einer Stunde der Wirklichkeit entspricht, daß ferner der Ort bleibt, weil
das Leben keinen unvermittelten Scenenwechsel giebt. Aber die Täuschung
sollte wenigstens nur so weit gehen, als es das Prinzip des Schönen gestattet.
Deshalb ändern wir Deutsche so oft, als es die Handlung fordert; uns gilt
die Minute oft für einen Tag. Wir haben eben Vertrauen in die geistigen
Fähigkeiten des Zuschauers, dessen Phantasie wir mehr als ein bloßes Hinnehmen
zumuten, und der bei uns nicht teilnahmloser Zuschauer ist (um ─
wie in Frankreich ─ alles ruhig genießend am Auge vorübergehen zu lassen),
sondern thätiger Mitdichter.
3. Die französische Schule läßt z. B. zur Erreichung der Einheit des
Ortes in ein- und demselben Zimmer die Hausfrau wie die Kammerzofe ihre
Liebesintriguen abspinnen und zum Austrag bringen; während nach Shakespeares
Vorgang besonders die deutschen Dramatiker ohne Nachteil für den ästhetischen
Eindruck sich eine größere Freiheit gestatten und namentlich seit Lessing (vgl.
Hamburger Dramaturgie) nur die Einheit der Handlung respektieren, derselben
die Einheit des Ortes und der Zeit unterordnend. Wohl muß das
Drama, das ja in wenigen Stunden vorzuführen ist, sich auch in der Zeit
beschränken, wohl fordert schon die Einheit der Handlung, daß nicht zu Verschiedenartiges
verbunden werde, und daß sich nicht die Helden mit ihren
Zwecken nach einander ablösen (wie etwa Cäsar und Brutus), aber für die
strenge Aristotelische Lehre läßt sich doch kein Beweis der Ästhetik erbringen.
§ 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held.
Die Handlung wird nach § 20 repräsentiert durch die handelnden
Personen, die sog. Charaktere, vorzugsweise aber durch eine Hauptperson,
um deren Geschick sich alles dreht, und die aus freiem Entschluß
ihrem ganzen Wesen nach nicht anders handeln kann, als sie
eben handelt. Man nennt diese Hauptperson im Drama den Helden.
Jhm gegenüber sind die übrigen Personen Nebenpersonen. Statisten
nennt man sie, wenn sie als stumme Teilnehmer an der Handlung
für irgend einen Zweck auf der Bühne erscheinen.
Nach der Hauptperson sind viele klassische und moderne Dramen
benannt.
Die hauptsächlich handelnde Person ─ der Held ─ muß einen ausgeprägten
Charakter, einen bestimmten Zweck haben. Der Held muß der Centralpunkt
des Ganzen sein, er muß die sich entgegentürmenden Widerwärtigkeiten,
Hindernisse, Jntriguen kräftig bekämpfen, so daß durch den Aufbau dieser [37]
Widerwärtigkeiten spannende Verwickelungen entstehen mit einer logischen Schürzung
des sog. dramatischen Knotens. Ein fortwährend schwankender Charakter paßt
für eine komische Figur, nimmermehr aber zum Helden eines Stückes, das
feste Ziele und Endzwecke haben soll. Ferner eignet sich ein Held, der nur
duldet, so wenig für's Drama, als ein solcher, welcher lediglich handelt ohne
die Rückwirkung seiner Handlungen zu verspüren. Er ist dann ein epischer
Held, ähnlich wie Odysseus, der bis zum Schluß des Epos ohne Veränderung
derselbe listige, ausdauernd unternehmende Held bleibt.
Ein dramatischer Held verändert sich in seinen einflußübenden Handlungen
durch das Werden. Man betrachte bei Othello, Richard III., Macbeth &c.
die Seelenstimmung, die Gewissensschläge, das Grausen, das diese dramatischen
Charaktere durchleben. Weiche Naturen, die einer leidenschaftsvollen Erregung
nicht fähig sind, passen ebenso wenig für's Drama, als hartgesottene Scheusale,
die jede Handlung unberührt läßt. Aristoteles (Poet. 2) will weder untadelhafte
noch durchaus böse Charaktere haben. Jedenfalls soll der Held in der
Handlung mit den sittlichen Anforderungen des Jahrhunderts im Einklang
stehen. Jn der Nichtbeachtung dieser Forderung ist wohl der Grund zu suchen,
weshalb z. B. Sakuntala mit der eigenartigen Ringgeschichte und der stark
orientalisch gefärbten Scene in der Laube (selbst in der verdienstlichen Wolzogenschen
Bearbeitung) für unsere deutsche Bühne nicht paßt, während ein
Hamlet, ein Othello nicht von ethischen Anschauungen des Jahrhunderts und
des bestimmten Volkes abhängen, da eben die Leidenschaft etwas allen Jahrhunderten
Gemeinsames ist. Shakespeare hat nur solche Helden gewählt, welche
durch beispiellose Energie und wunderbare Kraft der Leidenschaft und des
Willens die Handlung lebhaft vorwärts treiben. Die Helden der Deutschen
waren im vorigen Jahrhundert meist durch äußere Verhältnisse bewegt, und
selbst Schiller gab nicht selten den Gegenfiguren im ersten Teil die Führung.
§ 26. Stoff des Drama.
Einzelne Dramatiker entlehnen ihre Stoffe aus der Sagenwelt
und Geschichte, andere aus dem gesellschaftlichen Familienleben, andere
aus schon vorhandenen dichterischen Arbeiten, (aus der Novelle, aus
dem Romane, aus der Ballade), andere endlich aus der eigenen Erfindung,
aus der Phantasie. (Vgl. Bd. I. § 16. S. 36.)
Ein wirklich dramatischer Stoff darf in seiner Ausführung weder
gegen die ästhetischen, noch gegen die Rechts- oder Sittlichkeitsverhältnisse
des Zuschauers und seiner Zeit verstoßen.
Alle Lebensphasen, alle Verhältnisse des Menschen bilden die Domäne
des Dramatikers für den dramatischen Stoff. Hier eine Badekur, leichtes Leben,
dort Faust im Ringen nach dem Höchsten ─ nach Erkenntnis; hier Burleske
und Spott, dort Ernst und Würde: Aristophanes und Sophokles! Hier
ein Handel, der sich um nichts dreht, dort eine den Untergang eines Reiches [38]
erzielende Jntrigue, hier Robert und Bertram, dort Julius Cäsar. Eine große
Anzahl der Shakespeareschen Dramen wurzelt in den so mannigfaltigen tiefen
Gemütsstimmungen, welche in der Seele des Menschen sich regen, oder in
sündlichen Leidenschaften, die mit ihren riesengroß anwachsenden Begierden das
ganze Wesen erfassen, verwildern, beherrschen u. s. w. Bei den Griechen, die
unsere Liebesscenen und deren Stoffgebiete in ihren Dramen nicht kannten,
enthält jeder Sagenkreis Verlust und Wiederfinden: das Erkennen. Kinder
finden z. B. ihre bis dahin ungekannten Eltern, Gatten begegnen sich nach
langer Trennung, Gäste, Freunde und Feinde, welche Namen und Absicht verhüllten,
enthüllen sich u. s. w.
§ 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale.
1. Der Dichter muß sich den rohen Stoff, den er bearbeiten
will, erst zurichten, herrichten; er muß ihn dichterisch gestalten. Alles
Zufällige, Gräßliche, Verletzende, Unsittliche muß er von ihm losschälen
und aus eigener Erfindung ihn zu einem einheitlichen Gefüge
mit festem Ziel gestalten. Diese so entstandene neue Einheit, dieses
Ziel ist die Jdee des Drama.
2. Man spricht von Jdealisieren des Stoffs, wenn dieser nach
solch einheitlicher Jdee künstlerisch umgebildet wird, und man nennt
auch die Personen des Dichters, im Gegensatz zu ihren Stoffbildern,
Jdeale. (Vgl. den geschichtlichen und den Schillerschen Wallenstein.)
3. Schon Aristoteles verlangt vom dramatischen Dichter das Jdealisieren.
1. Obwohl die originelle Erfindung höchst verdienstlich ist, so ist es doch
nicht der Stoff allein und somit auch nicht die Erfindung ausschließlich, wodurch
sich der Genius bewährt, vielmehr ist es die Gewalt der Darstellung,
die Weltanschauung, d. i. das, was der Dichter aus der Fabel zu machen
versteht: wie er eine Jdee im Drama entfaltet.
2. Jst der Stoff aus der Geschichte, so hat der Dichter in der Veränderung
wirklicher Umstände und in der Hinzudichtung neuer Momente sorgfältig
zu sein, um die innere Wahrheit nicht zu verletzen. Aber auch sonst
hat er die Stoffe erst zu dramatischen Stoffen zu gestalten, d. h. eben: er
hat sie zu idealisieren. So hat Shakespeare seine der italienischen Novelle
entnommenen Stoffe nicht etwa bloß dramatisiert (d. i. in dramatische Dialogform
gebracht), sondern die schöpferische Gewalt seines Genius hat sie neu
gebildet; Shakespeare hat sie idealisiert. Sollen Personen aus der mythischen
oder sagenhaften Zeit als Träger von Jdeen dargestellt werden, so muß die
Behandlung so allgemein werden, daß sie lediglich zu typischen Personen umgeschaffen
werden. Wenn freilich der Dichter den Stoff modern gestalten will,
darf er eine individuelle Behandlung an Stelle der typischen treten lassen.
Äschylus hat mehr typische Behandlungsweise, Shakespeare mehr individualisierende. [39]
Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben
einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung
fordert, als die der Übersichtlichkeit.
Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes
Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des
vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am
gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste
Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot
auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche
Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen
waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors,
der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal
des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme
aller fühlenden Seelen.
Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie
des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines
unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus
welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen
bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu
einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfnis
geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem
Verhältnis von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang
findet die schaffende Seele in einer Täuschung, dem Verdachte von der
Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes
geworfen ist. Jn solcher Weise macht der Dichter den Bericht sich und andern
verständlich, indem er, frei erfindend, einen inneren Zusammenhang hineinträgt.
Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz
selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht,
und etwa folgenden Jnhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch
den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt,
daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis
der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das
wirkliche Ereignis dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen
ab; ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern
Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung
und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein
verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen
des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso
hundertmal wieder eintreten und bei den angenommenen Charakteren und dem
gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein....
Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß
bereits erkennbar. Jn dem letzten Satz: „Man spricht von einem
Liebesverhältnis, welches u. s. w.“ macht der Berichterstatter den ersten Versuch,
die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, die [40]
Katastrophe zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhtes Jnteresse zu verleihen,
daß ihrem Wesen ein anziehender Jnhalt gegeben wird ─ u. s. w.
Um an einem andern Beispiel zu zeigen, wie der Dichter den Stoff
dramatisch gestaltet, wie er ihn durch Umarbeitung idealisiert, motiviert, neu
schafft, erinnere ich noch daran, daß Schiller aus der geschichtlichen, ränkesüchtigen,
buhlerischen Maria Stuart eine ideale, über alles menschliche Leid
erhabene vorbildliche Fürstin schuf, aus deren Charakter sich das Warum
ihres tragischen Geschicks mit Notwendigkeit entrollte. Das Wesen Wallensteins
hat er für einen ergreifenden Eindruck so umgebildet, daß der finstere, angsterweckende
Bandenführer ein peripatetischer Philosoph, ein hochsinniger, träumerisch
reflektierender General wird; und hiefür dichtet er die Begebenheiten um, schafft
er neue Charaktere (z. B. den Max), gestaltet er Schicksale und Schuld, verfährt
er mit souveräner Dichterfreiheit, und gliedert er sein Material in dramatische
Momente.
3. Schon Aristoteles verlangt (Kap. 17. 5. 6. 7. 8.), was Freytag im
obigen Beispiel ausführte, daß sich nämlich der dramatische Dichter bei überlieferten
wie bei selbsterfundenen Stoffen zuvörderst die allgemeinen Grundzüge
entwerfe, daß er sodann die Stoffe von allen Zufälligkeiten entkleide, bevor
er sie ins einzelne ausführt. Am Stoff der Jphigenia zeigt Aristoteles, wie
der dramatische Dichter den Hergang erst in allgemeinen Umrissen zur Anschauung
bringen müsse, wie also die Jphigenia und der Orestes im Drama
durchaus anders gestaltet sind, als im überlieferten Stoffe. Er beweist, daß
die Beibehaltung der Namen des rohen Stoffes für den schaffenden Dichter
fast gleichgültig ist. Erst wenn der Dichter Handlung und Charaktere aus dem
Zufälligen, aus dem geschehenen Faktum herausgeschält und einen allgemein
gültigen Jnhalt an dessen Stelle geschaffen habe, möge er den Personen die
Namen des rohen Stoffes und die Episoden desselben einfügen, „dabei aber
wohl darauf achten, daß die Episoden wirklich zur Sache gehören, wie z. B.
beim Orestes der Wahnsinnsanfall, durch welchen seine Gefangennahme zu Wege
gebracht wird, und seine Rettung durch die (vorgebliche) Reinigung.“
§ 28. Tendenz des Drama.
Die schwebende Jdee der Gegenwart nennt man Tendenz. Die
Tendenz hat es mit den Tagesfragen zu thun.
So ist die Befreiung des Menschengeschlechts, wie des Jndividuums als
absoluter Begriff Weltidee; die Befreiung Jtaliens von den Bourbonen und
von der päpstlichen Herrschaft als relativer Begriff Zeitidee; diese Jdee ist
eben die Tendenz des Drama.
Das Tendenzdrama wird immer nur politische und sociale Konflikte zum
Stoff der Handlung wählen, nie aber einfach menschliche Konflikte, deren Darstellung
doch die Bühne allein gewidmet sein soll.
Die Tendenz erhält Berechtigung, wenn sie sich mit der allgemeinen Weltidee [41]
verschmilzt, wie es Lessing that, der von dem widerwärtigen Dogmenkampf
mit der Sehnsucht erfüllt wurde, im philosophischen Drama „Nathan“
der Toleranz und Gleichberechtigung einen Ausdruck zu geben. Nathan war
gegenüber einem Göze, Wöllner und Konsorten Tendenzstück, im Hinblick auf
die Weltidee der Toleranz hat es ewige Bedeutung.
§ 29. Das Motivieren im Drama.
Alle überraschenden Ereignisse in der Handlung des Drama müssen
so vorbereitet und erklärt sein, daß sie als wahrscheinlich erscheinen;
sie müssen ihre Begründung erhalten. Man nennt dies motivieren.
Durch Motivieren bringt der Dichter die einzelnen Teile der Handlung in
enge Beziehung, in einheitlichen Guß und Fluß, durch sie bewirkt er das dramatische
Jdealisieren seines Stoffes (§ 27). Jch erinnere beispielsweise daran,
wie Shakespeare durch feine Motivierung eine kleine Novelle zur Tragödie
Romeo und Julia gestaltet. Er führt die übermütigen Genossen des Romeo
ein, um diesen schwermütig erscheinen zu lassen. Er schafft die Masken= und
die Balkonscene, um die entstehende Zuneigung der Liebenden glaubhaft zu
machen und um zu beweisen, wie die süße Liebesleidenschaft das treibende Agens
edler Liebenden wird. Er schafft die Figur des Lorenzo, um Verwicklung und
Katastrophe zu motivieren. Er begründet den Haß Tybalts gegen Romeo und
dessen Genossen schon in der Zwischenscene beim Maskenfest, um später durch
Entfaltung der stärksten Motive, zu denen der Tot Mercutios gehört, Romeo
zum Kampfe zu reizen. Die Novelle läßt hier den Romeo ohne weiteres verbannen.
Shakespeare zeigt jedoch erst durch Motivierung den edlen Charakter
der Julia, um für deren späteren verzweifelten Entschluß das Substrat zu liefern.
Der Brautnacht läßt der Dichter das Versprechen des als heftig und hart
motivierten Vaters vorausgehen, dem Paris die Tochter zu geben. Nun motiviert
der Dichter auch noch durch Herbeiziehung des Zufalls, der sich
an Schlaftrunk und Begrabenwerden reiht und dem Zuschauer als wahrscheinlich
erscheint. Damit das Unglück um so unvermeidlicher erscheine, läßt seine
Motivierung auch noch den Paris vor der Gruft töten. Alle Hoffnung sinkt:
─ Untergang! Das ist eine untadelige Motivierung! So zeigt Shakespeare
den Unterschied zwischen epischer Darstellung und dramatischer Verbindung. Er
zeigt aber auch, um die Worte des Aristoteles in § 20 zu gebrauchen, daß
die Handlung das Erste und Wichtigste, die Charaktere erst das Zweite sind.
§ 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung.
1. Der Aktion des Helden im Drama (speziell in der Tragödie)
stellt sich die Reaktion entgegen.
2. Mit Hinzurechnung einer Einführung hat daher das Drama
an sich schon eine Dreiteilung.
3. Neben den Dramen, in welchen der Held dem Gegenkampf
unterliegt, giebt es deren, in welchen er als Sieger hervorgeht. (Wir
werden diese Gattung als Schauspiel weiter unten zu behandeln haben.)
1. Jn vielen Dramen schreitet die innere Bewegung der Hauptperson
bis zu jenem Punkte vorwärts, wo sich sein ganzes Sein zur folgenschweren
That entschließt, oder, wie im Wallenstein, zur entscheidenden That gedrängt
wird. Von hier tritt die Umkehr der Handlung ein. Nun wirkt das Thun
des Helden auf ihn zurück, es macht ihn verantwortlich und führt (in der
Tragödie) seinen Untergang herbei. Der erste Teil des Drama ist also
Aktion, der zweite Reaktion. So sind die Tragödien Shakespeares gebaut,
(Othello und Lear ausgenommen), so Wallenstein.
2. Der Bau dieser Dramen zeigt den Kampf des Helden und den Gegenkampf
oder die Bekämpfung desselben, das Aufsteigen des Konflikts bis zum
Kulminationspunkt und das Herabsinken bis zur Lösung. Sie haben somit
folgende drei Teile: 1. Einführung (Exposition), 2. Schürzung des Knotens
(δέσις) und 3. Lösung (λύσις).
Jn vielen Dramen treiben äußere Faktoren den Helden auf den Höhepunkt
verhängnisvoller Befangenheit, von wo aus derselbe handelnd bis zur
Katastrophe abwärts stürzt (z. B. Emilia Galotti; Kabale und Liebe). Bei
der ersten Art von Dramen treiben die Hauptfiguren, bei der zweiten werden
sie getrieben.
Wenn Kühnheit als die höchste Gewalt eines Menschen bezeichnet werden
darf, welcher sein eigenes Jnnere den feindlichen Gewalten gegenüberstellt, so
verdienen die Konstruktionen jener Dramen, die im ersten Teil das Spiel, im
zweiten Teil das besiegende Gegenspiel markieren, den Vorzug. Es sind die
Tragödien. Doch kann derselbe Held siegreich aus dem Spiel hervorgehen.
Und man erwartet dies, wenn ihn keine Schuld trifft, da wir kein Fatum
kennen.
3. Seit Jffland unterscheiden wir Tragödien mit versöhnendem Schluß,
oder Dramen, bei welchen der Held siegreich aus den Kämpfen ─ oder durch
eine Art Kompromiß versöhnt ─ hervorgeht. Auch die Griechen hatten einzelne
Stücke mit versöhnendem Schluß. Sie scheinen es überhaupt, wie unser
Publikum, nicht ungern gesehen zu haben, daß der Held, wenn auch arg mitgenommen,
mit heiler Haut und heiterem oder selbstbewußtem Blick davonkam.
§ 31. Teile des Drama und Umfang desselben.
1. Die Dreiteilung ist nicht immer für die Akteinteilung des
Drama bestimmend.
2. Jn der Regel hat es 5 Teile, die man Akte nennt.
3. Mehr als 5 Teile sind nicht zu empfehlen.
1. Bei den alten Griechen war die Dreiteilung des Drama gebräuchlich
(nämlich Vorakt, Episodion, Schlußakt). Bei den modernen Völkern ist die [43]
Dreiteilung nur selten. Seit Ausbildung der modernen Bühne bei Franzosen
und Deutschen zählt es in der Regel 5 Hauptabschnitte, die man Akte nennt,
von denen jeder ein für sich abgeschlossenes Teilganzes bildet. (Es sind: 1. Einleitung,
2. Steigerung, 3. Höhepunkt, 4. Umkehr, 5. Katastrophe.) Actus
hieß bei den Römern jeder Abschnitt der Handlung; bei uns bedeutet das
Wort soviel als Aufzug (vom Aufziehen des Vorhangs). Die Spanier, die
den Akt jornada (Tag) nennen, haben auch Dramen bis zu 7 Akten, desgleichen
die alten Jndier, bei denen einzelne Dramen sogar bis zu 10 Akten
zählten.
2. Cicero (an Quintus fr. I. 1) will 3 Akte haben. Dagegen verlangt
Horaz in seiner Epistel an die Pisonen 5 Akte von jedem Drama:
(Ars poet. 189.)
3. Auf keinen Fall darf sich das Drama so lang ausspinnen, daß der
Zuschauer mit normalen Nerven längst vor dem Schluß erschlafft und ermüdet.
Ein sechsstündiges Drama ist entschieden zu kürzen, oder in zwei Stücke zu
zerlegen; bei noch längeren Dramen sind 3 Stücke zu bilden, was z. B. in
den Trilogien (Ödipus-Trilogie, ferner in Wallenstein, in dem Nibelungenring)
geschehen ist. Die an drei einander folgenden Tagen aufzuführenden
Trilogien (Dreihandlungen: mit dem Satyrspiel verbunden heißen sie Tetralogien
== Vierhandlungen) gaben den Griechen Gelegenheit, Zeit, Ort, Personen
&c. zu ändern und ausgedehntere Handlungen darzustellen, ohne der
Aristotelischen Forderung untreu zu werden, ─ also das zu erreichen, was wir
durch Akte und Scenenwechsel erstreben.
§ 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog.
1. Bei einem Drama von 5 Akten hat
der I. Akt die Exposition,
der II. Akt die Steigerung,
der III. Akt den Höhepunkt,
der IV. Akt die Peripetie,
der V. Akt die Katastrophe.
2. Nur ausnahmsweise hat ein Drama auch noch Prolog oder
Epilog.
3. Bei Dramen von geringerer Ausdehnung treten die einzelnen
Teile enger zusammen.
1. Erster Akt. Das Drama bringt in seinem ersten Akt mit dem einleitenden
Accorde die sog. Expositionsscene, d. h. mit der Vorbereitung
und Begründung der Handlung das aufregende Moment und die
erste Steigerung.
Beispiel: Jn Emilia Galotti giebt die Scene des Prinzen am Arbeitstisch
den stimmenden Accord, die Unterredung mit dem Maler die Exposition,
die Scene mit Marinelli das aufregende Moment (welches die
Meldung der bevorstehenden Vermählung liefert), der Entschluß, Emilia bei den
Dominikanern zu treffen, die erste Steigerung. Der Dichter führt im ersten
Akte die Personen vor, welche seine wichtige Angelegenheit beschäftigt, er bringt
sie mit all den umgebenden Lebensverhältnissen unserem Jnteresse nahe, zeigt
uns die Grundlage seines Baues und spannt nun unsere ganze Aufmerksamkeit
auf das Wie und Wodurch des darüber aufzuführenden Gebäudes. Er
versetzt uns a priori ─ der Bestimmung des ersten Aktes gemäß ─ in die
dramatische Stimmung, in die Situation des Drama, und gewährt so einen
ahnenden Vorblick in die Zukunft derjenigen Personen, deren Geschick sich vor
unsern Augen abspielt.
So versammelt sich ─ um noch ein Beispiel zu geben ─ im Oedipus
tyrannos von Sophokles die Jugend Thebens unter Führung der Priester
vor dem Palast des Königs. Wir erfahren, daß als Strafe der Götter für den
ungerächten Mord des vorigen Königs eine Pest wüte; das Volk kommt, um
die Entdeckung des Mörders herbeizuführen. Dies ist die Exposition der
Handlung.
Als Muster solcher Expositionen ist z. B. noch der erste Akt von Schillers
Tell zu nennen. (Einleitende Unterredung; Baumgartens Flucht und Rettung;
Scene vor Stauffachers Haus; Unterredung vor dem Hut auf der Stange;
Blendung Melchthals. Darauf die erste Steigerung: Beschluß, auf dem Rütli
zu tagen.)
Nicht durch Erzählung oder gar durch einen Prolog soll exponiert werden,
sondern durch Handlung; jedoch gehört zur Exposition auch das „aufregende
Moment“, d. i. das zu der Seele des Helden aufsteigende Gefühl und Wollen,
welches die Haupthandlung veranlaßt und den Helden bestimmt. Die Exposition
darf nie zu viel geben, um nicht den Verlauf der Handlung zu verraten; nur
ahnen lassen, nur das Verständnis vorbereiten soll sie. Die Exposition ist die
Frage, auf welche der Ausgang des Stückes (d. i. die Katastrophe) Antwort giebt.
Zweiter Akt. Jm Fortschritt und Verlauf der Handlung, also im
II. Akte (d. i. dem Akte der Steigerung), wird die eigentliche Verwickelung
(Kollision) klarer eingeleitet. Hier werden die Personen des Gegenspiels eingeführt.
Die Absichten und Pläne der Handelnden durchkreuzen sich: es
beginnt die eigentliche Handlung. Situation erwächst aus Situation,
Ringen und Kämpfen gegen feindliche Mächte wechseln ab.
Beispiel: Jn Emilia Galotti führt der Dichter erst die Familie Galotti
ein; dann folgt die exponierende Jntrigue Marinellis; dann Handlung:
a. Emiliens Aufregung nach dem Kirchenbesuch, b. Marinellis Besuch und
Auftritt mit Appiani &c.
Dritter Akt. Jhren höchsten Punkt erreicht die Verwickelung im dritten
Akt, den man deshalb als den Akt des Höhepunktes im Drama [45]
bezeichnet. Entschlüsse und Situationen der hervorragenden Personen wechseln.
Der Kontrast, in welchem sich die Charaktere gegenüberstehen und in welchen
sie zu ihren Situationen gebracht werden: dieses Kämpfen und Ringen gegen
das Schicksal giebt der dramatischen Handlung Bedeutung und anziehende
Kraft. Durch das Bestreben, die Verhältnisse ihrem Zwecke anzubilden,
schlingt oder schürzt sich der sog. dramatische Knoten. Der Konflikt spitzt
sich auf's äußerste zu, die höchste Spannung tritt ein.
Beispiel: Jn Emilia Galotti nach kurzer Einleitung, welche den Überfall
exponiert, Emilias Eintreten und darauf die Gipfelscene (5. Auftr. des 3. Aktes),
worin der Fußfall Emilias und des Prinzen Erklärung die Höhepunkte sind.
Durch die Erbitterung der Claudia gegen Marinelli wird die sinkende Handlung
eingeleitet.
Nach Aristoteles (Kap. 18. 9) zerfällt jede Tragödie in Schürzung und
Lösung. Er versteht unter Schürzung alles vom Anfang an bis zu demjenigen
Teil (der Begebenheiten) hin, welcher die Grenze bildet, von der ab der
Wechsel des Schicksals ─ sei es nun in Unglück oder in Glück ─ einzutreten
beginnt, ─ unter Lösung aber das, was von diesem Anfange des Glückwechsels
bis zum Ende erfolgt.
Vierter Akt. Die Krisis erfolgt im 4. Akte durch Eintritt der sog.
Peripetie (περιπέτεια, d. i. Umschwung nach Aristoteles), oder den Umschlag der
Geschicke der handelnden Personen und des glücklichen in einen unglücklichen
Zustand, oder umgekehrt, besonders des Helden. Peripetie ist bei Aristoteles
auch als eine einzelne Scenenwirkung zu betrachten, ─ als das tragische
Moment, das plötzlich einbrechend die Handlung in das Gegenteil verwandelt.
Die Griechen hatten auch Tragödien ohne Peripetie. Aristoteles (Poet. 11. 4)
nennt als beliebte Form der Peripetie die in § 26 erwähnte Erkennung.
(ἀναγνώρισις. cf. auch Plat. Theaet. 193. c.) Ödipus erkennt, daß der
von ihm Erschlagene sein Vater, und daß sein Weib seine Mutter ist. Alles
will zusammenbrechen. ─ Jon erkennt in der Totfeindin die Mutter, Jphigenia
den Bruder, den sie opfern soll, Elektra den betrauerten Bruder u. s. w.
Die Erkennungsscenen wurden bei den Griechen häufig zu Peripetie-Momenten
verwertet.
Jm vierten Akte führen die Deutschen meist noch die neuen Charaktere
für's Gegenspiel ein (z. B. Gutzkow den Ben-Akiba in Uriel Acosta).
Beispiel: Jn Emilia Galotti erst Unterredung, dann Eingreifen der
Orsina; Odoardos Eintritt und Orsinas Einfluß steigern die Handlung zum
höchsten, die Lösung fordernden Punkte und leiten zum fünften Akt.
Fünfter Akt. Der 5. Akt führt die Lösung des Knotens herbei, die
Hinwegräumung der entgegenstehenden Hindernisse und Konflikte, die eigentliche
Katastrophe (καταστροφή == Sturz), das Ende des Drama. Wie die einzelnen
Aktschlüsse die Antwort auf einzelne Fragen geben, so ist die Katastrophe
die Kardinalantwort des Ganzen. Die Hauptperson hat nunmehr die Hindernisse
entweder beseitigt, oder sie erliegt denselben.
Beispiel: Jn Emilia Galotti: Einleitung. Unterredung zwischen dem
Prinzen Odoardo und Marinelli; Weigerung, die Tochter zurückgeben zu wollen;
Katastrophe: Ermordung der Tochter.
2. Nur ausnahmsweise geht dem Drama ─ z. B. bei festlichen Gelegenheiten
─ ein besonderer Prolog voraus, der meist nichts mit dem Drama zu
thun hat, der nur ausnahmsweise die Handlung geschichtlich einleitet, oder den
Zusammenhang des Stücks mit der festlichen Gelegenheit angiebt. (Vgl. § 34. 1.)
Ebenso ausnahmsweise folgt dem Drama ein Epilog, der einem ähnlichen Zwecke
nach Abschluß des Drama dient, wie der Prolog vor dem Beginn desselben.
Es giebt auch 4=, 3=, 2= und 1aktige Dramen. Selbstredend treten bei
denselben Exposition, Kollision, Peripetie und Katastrophe entsprechend enger
aneinander.
§ 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der
Bauart.
Die im Nachstehenden gegebenen Schemata bezwecken, das im § 32
Gelehrte durch Bild und Beispiel zu veranschaulichen.
Jn seiner o. a. Schrift (Seite 100) versinnbildlicht Gustav Freytag den
pyramidalen Aufbau des Drama (a. Einleitung, b. Steigerung, c. Höhepunkt,
d. Fall oder Umkehr, e. Katastrophe) durch Figur I.
Schillers Wallenstein (ohne die Piccolomini) versinnbildlicht er durch
Fig. II (a. a. O. S. 177):
Jn Fig. II wäre a b c == Teil bis zum Höhepunkt: die inneren Kämpfe.
c. Höhepunkt: erste Aktion des Verrats, z. B. Verhandlungen mit Wrangel,
c. d. Versuche zur Verführung des Heeres, d. Umkehr: das Gewissen der
Soldaten empört sich, e. Katastrophe: Wallensteins Tod.
(Jm Drama des Verfassers: „Römisches Schattenspiel“, ─ Leipzig,
Theile. 2. Aufl. ─ würde das Schema, sofern man sich die Exposition als
Bewegung a b denkt und dieselbe nicht, wie bei Freytag, auf den Punkt a
konzentriert, das Bild der Fig. III ergeben.
a─b Einleitung in die Handlung == Exposition, ruhiges Geschehenlassen
und Geschehen, b─c Aufwärtsstreben der Handlung, c─d rasche Entfaltung
zum höchsten Punkt, d─e Abwärtssinken mit dem Bestreben, das rasche Abfallen
noch aufzuhalten, e─f Katastrophe, Schluß.)
Beispiele für den Bau ganzer Dramen.
a. Maria Stuart. (Schiller.)
Exposition. 1. Akt: Streit des Paulet und der Kennedy.
Schürzung des Knotens. 2. Akt: Elisabeth will ihre Feindin in
Schloß Fotheringhay sehen.
Höhepunkt. 3. Akt: Begegnung und Streit der Königinnen im Park.
Peripetie. 4. Akt: Leicesters Verrat und Marias Todesurteil.
Katastrophe. 5. Akt: Maria Stuarts Tod.
b. Othello. (Shakespeare.)
Exposition. 1. Akt: Mitteilung an Brabantio von Othellos und
Desdemonas Flucht.
Schürzung des Knotens. 2. Akt: Jagos Plan zum Verderben
des Othello; Absetzung Cassios.
Höhepunkt. 3. Akt: Erwachen der Eifersucht Othellos.
Peripetie. 4. Akt: Othellos Vorsatz, sich an Desdemona zu rächen.
Katastrophe. 5. Akt: Desdemonas Ermordung; Othellos Selbstmord.
§ 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten
im Bau des Drama.
Zwischen den 5 Teilen des Drama liegen 3 dramatische Momente:
1. das erregende Moment ─ vgl. Figur I § 33 ─ zwischen a (Einleitung)
und b (Steigerung), 2. das tragische Moment, zwischen c
(Höhepunkt) und d (Fall) und 3. das Moment der letzten Spannung
kurz vor der Katastrophe e, um diese noch einmal zu steigern. Das
erste Moment ist wesentlich, das zweite kann fehlen, das dritte ist
Hilfsmittel.
Sonach hat der Bau des Drama folgende 8 wesentliche Teile zu
bieten: 1. Einleitung, 2. erregendes Moment, 3. die Steigerung, 4. den
Höhepunkt, 5. das tragische Moment, 6. die fallende Handlung, 7. das
Moment der letzten Spannung, 8. Katastrophe.
Wir suchen sie nachstehend näher darzulegen.
1. Einleitung. Vor die Einleitung tritt zuweilen ein die Handlung
bedingender Prolog. Bei Euripides ist er ein epischer Botenbericht; bei Shakespeare
eine artige Aufforderung zum Aufmerken. Jn Kleists Käthchen von Heilbronn
ist die Einleitung zum Situationsbild geworden, ebenso in Schillers Jungfrau
von Orleans. Ein Vorspiel ist verwerflich, weil es wieder aus Teilen zu
bestehen hat und als Teilganzes nur lockere Verbindung mit dem Drama hat.
Der Prolog ist nur ausnahmsweise, wie in Kleists Käthchen von Heilbronn,
Schillers Wallensteins Lager, und Jungfrau von Orleans, Goethes
Faust &c. zu gestatten, wenn er ein die Handlung einführendes, ihr zur Unterlage [48]
dienendes Stimmungsbild entwirft; ganz kann er den Anforderungen an
eine in dialogischer Form gegebene, handelnd fortdrängende Exposition nicht
entsprechen.
Die Einleitung (Jntroduktion) hat Ort, Zeit, Verhältnisse und Gesamtstimmung
des Ganzen zu schildern, zu introducieren, gleichsam mit vollem
Accord anzuschlagen, z. B. in Hamlet: Kommandoruf, Nacht, Aufziehen
der Wache; in Romeo: Tag, offene Straße, Streit, Schwertergeklirr der
feindlichen Parteien; in Macbeth: Sturm, Donner, unheimliche Hexen auf
öder Heide.
Darauf folgt die Exposition, die vom Anfang häufig durch scenischen
Einschnitt getrennt ist, z. B. in Hamlet die Hofscene, in Macbeth Duncans
Auftreten &c. Die Exposition soll lediglich vorbereiten, nicht aber zersplittern,
zerstreuen. Daher wählt der Dichter meist eine etwas ausgebreitete Scene,
z. B. in Julius Cäsar den Festzug und die Unterredung des Cassius
und Brutus; in Maria Stuart den Streit, die Expositionsscene: Maria
und Kennedy.
2. Das erregende Moment. Die Handlung gelangt in Bewegung,
wenn im Helden der Entschluß zur That sich regt. Jn Julius Cäsar ist es
der Beschluß, Cäsar zu töten, in Maria Stuart das Bekenntnis Mortimers,
in Emilia Galotti die Nachricht von Emilias bevorstehender Vermählung;
im Faust beginnt es mit Mephistos Eintritt, das Vorhergehende ist Exposition.
Das erregende Moment muß kurz sein, da es eben nur Motiv ist. Nach
seiner Einführung beginnt die ernste Arbeit des Dramatikers.
3. Steigerung. Sie ist die interessevolle Fortspinnung der in Fluß
geratenen Handlung. Alle noch nicht vorgestellten Personen müssen jetzt erscheinen.
Jn Julius Cäsar ist die Steigerung allein schon durch die Verschwörung
ausgeführt. Jn Romeo und Julia durchläuft sie 4 Stadien in einer
trefflichen Scenengruppe: a. Maskenball, bestehend aus 2 Vorscenen (Julia,
Mutter, Amme) und einer Hauptscene: Ball. b. Gartenscene (Vorscene, in
welcher Romeo gesucht wird, und Hauptscene, in welcher die Liebenden die
Vermählung beschließen). c. Trauung (1. Scene: Lorenzo und Romeo,
2. Scene: Romeo, Genossen, Amme als Botenläuferin, 3. Scene: Julia und
Amme, 4. Scene: Trauung). d. Tybalts Tod.
4. Höhepunkt. Er bezeichnet die Stelle, wo die Handlung durch eigenes
Treiben des Helden oder durch die Resultate des Gegenspiels die höchste Macht
entfaltet, z. B. die effektvolle Hüttenscene in Lear, oder die Scene, in welcher
Jago die zum Untergang treibende Eifersucht Othellos anfacht.
5. Das tragische Moment. Es ist der Beginn der sinkenden Handlung.
Es wird meist mit dem durch Aktschluß getrennten Höhepunkt durch
eine erläuternde Scene verbunden.
Jn Maria Stuart ist es der Zank mit Elisabeth.
6. Die fallende Handlung. Sie ist die Umkehr oder der Wechsel
der Handlung vom Glück zum Unglück, oder umgekehrt. Die Behandlung der
Umkehr ist schwierig, weil die scenischen Effekte gesteigert werden müssen, um [49]
das Jnteresse wach zu erhalten. Der Dichter beschränkt in der Regel die Zahl
seiner Personen, um große, bedeutende Scenen zu gewinnen. Die Handlung
drängt zur Entscheidung und verbietet weiteres Ausmalen, Begründen und
episodisches Motivieren. Nur in großen Kontouren kann noch eine Zeichnung
gestattet sein. Es handelt sich um Thaten, Erfolge, Wirkungen. Daher ist die
fallende Handlung (Umkehr) auch kürzer, als die aufsteigende. Vgl. den Monolog
der Julia in Romeo und Julia vor dem Schlaftrunk; das Nachtwandeln der
Lady Macbeth &c.
7. Das Moment der letzten Spannung. Es ist eingefügt, um
die Katastrophe so wirksam als möglich vorzubereiten, um sie auch nicht zu
rasch eintreten zu lassen. Shakespeare läßt z. B. im Romeo ganz zuletzt auch
noch den Paris vor dem Sarge der Julia töten, um den Gedanken an glückliche
Lösung nicht mehr aufkommen zu lassen (vgl. § 28), oder er läßt die
Ermordung Hamlets durch ein vergiftetes Rappier noch im Voraus besprechen
u. s. w.
Das Moment der letzten Spannung benützt zuweilen ein kleines Hindernis,
um für einen Augenblick noch an die Möglichkeit einer andern Wendung glauben
zu machen.
Jn Laubes Essex ist es der die Rettung ermöglichende Ring; in Romeo
der erwartete mögliche Eintritt Lorenzos in die Gruft; in Coriolan die Möglichkeit,
freigesprochen zu werden; in Wallenstein der Gedanke an eine mögliche
Rettung durch Gordon und die Schweden &c.
8. Die Katastrophe (== exodus der alten Bühne). Sie ist die
Lösung, der Zusammenbruch, der Untergang des Helden. Sie muß die logische
und moralische Konsequenz der Handlung und der Charaktere sein. Die Katastrophe
muß jedes überflüssige Wort vermeiden; in ihr müssen sich alle Scenen,
wie in einem Brennpunkt der auslaufenden Handlung vereinen, ergießen. Daher
muß jede dunkle Stelle in der Jdee hier durch Wort und Handlung erhellt werden.
§ 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama.
Da es besser ist, das regelnde Gesetz an einem Beispiel eingehend
zu demonstrieren, als oberflächlich an vielen, so erläutern wir
hier noch den Bau des Drama an Hamlet, wie ihn Freytag (a. a. O.
S. 163) abstrahiert hat, und wie eine ähnliche Disposition jeder
Dramatiker bei Beginn seiner dramatischen Arbeit sich bilden sollte.
1. Einleitung. a. Der stimmende Accord: auf der Terrasse erscheint
der Geist; die Wachen und Horatio. b. Die Exposition selbst: Hamlet im
Staatszimmer vor dem Eintritt des aufregenden Moments. c. Verbindungsscene
zum Folgenden: Horatio und die Wachen unterrichten ihn vom Erscheinen
des Geistes.
2. Eingeschobene Expositionsscene. Die Familie Polonius bei
der Abreise des Laertes.
3. Das aufregende Moment. a. Einleitender Accord. b. Der Geist
erscheint Hamlet. c. Hauptteil: Er offenbart ihm den Mord. d. Hamlet und
die Vertrauten als Übergang zum Folgenden.
Durch die beiden Geisterscenen, zwischen denen die Einführung der Hauptpersonen
stattfindet, werden diese Scenen zu einer Gruppe zusammengeschlossen,
deren Gipfelpunkt am Ende liegt.
4. Steigerung in 4 Stufen. Erste Stufe: Die Gegenspieler.
Polonius macht geltend, daß Hamlet aus Liebe zu Ophelia wahnsinnig geworden;
in 2 kleinen Scenen: Polonius in seinem Hause und vor dem König. Die
letztere schließt sich eng an die folgende:
Zweite Stufe: Hamlet beschließt, den König durch ein Schauspiel auf
die Probe zu stellen in einer großen Scene mit episodischen Ausführungen:
a. Hamlet und Polonius; b. Hamlet und die Hofleute; c. Hamlet und die
Schauspieler als Hauptteil; d. Monolog Hamlets leitet zu dem Folgenden über.
Dritte Stufe: Der Gegenspieler. a. Der König und die Jntriguanten.
b. Hamlets berühmter Monolog. c. Hamlet warnt Ophelia. d. Schluß: Der
König schöpft Verdacht.
Diese drei Stufen sind untereinander zu einem größern Organismus verbunden,
die erste wird zur Einleitung, die breite und behagliche Ausführung
der zweiten bildet den steigernden Hauptteil, die dritte, durch die Fortsetzung
des Monologs schön mit der zweiten verbunden, den Gipfelpunkt dieser Gruppe
mit schnellem Abfall.
Vierte Stufe, welche zum Höhepunkte hinüber leitet: das Schauspiel.
a. Einleitung: Hamlet und die Schauspieler und Hofleute. b. Hauptteil: die
Aufführung und der König. c. Übergang: Hamlet, Horatio und die Hofleute.
Bestätigung des Verdachts. Hamlet soll zu seiner Mutter kommen.
5. Höhepunkt. Eine Scene mit Vorscene: Der König betend, Hamlet
zaudernd. Eng daran schließt sich
Das tragische Moment. Eine Scene: Hamlet ersticht in der Unterredung
mit seiner Mutter den Polonius. Zwei kleine Scenen als Übergang
zum Folgenden: Der König beschließt, Hamlet wegzusenden.
Auch diese drei Scenengruppen sind zu einem Ganzen verbunden, in deren
Mitte der Höhepunkt steht. Zu beiden Seiten in großer Ausführung die letzte
Stufe der Steigerung und das tragische Moment.
6. Die Umkehr. Einleitende Zwischenscene. Fortinbras und Hamlet
auf dem Wege.
Erste Stufe: Eine Scene: Ophelias Wahnsinn und der Rache fordernde
Laertes.
Kleine Zwischenscene: Brief Hamlets an Horatio.
Zweite Stufe: Eine Scene: Laertes und der König bereden den Tod
Hamlets. Schluß und Übergang zum Folgenden bildet der Bericht der Königin
über den Tod der Ophelia.
Der Bau dieser Scenengruppe ist nicht so durchgebildet, als in den frühern
Abteilungen; der Zusammenhang wird durch die Zwischenscene unterbrochen, [51]
welche korrespondierend mit der einleitenden Scene eine Erklärung der Reise
Hamlets darstellt.
Dritte Stufe: Begräbnis der Ophelia. Die episodische Einleitungsscene:
Hamlet und die Totengräber; die Hauptscene, kurz gehalten: scheinbare Versöhnung
des Hamlet mit Laertes.
7. Katastrophe. Einleitende Scene: Hamlet und Horatio, Haß gegen
den König; als Übergang zum Folgenden: die Meldung Osricks. Dann Hauptscene:
die Entscheidung. Darauf Schluß: Ankunft des Fortinbras.
Auch die zweite Stufe der sinkenden Handlung hat keine regelmäßige
Bildung, die episodische Einleitung füllt den größten Teil; die Arbeit des
dramatischen Ausgangs ist von altertümlicher Kürze und Strenge. ─
Es giebt kein besseres Mittel, in die Technik des Drama einzudringen,
als gute Dramen nach Maßgabe des vorstehenden Schemas zu schematisieren.
§ 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen
Dichtung.
1. Jedes Erscheinen einer neuen Person auf der Bühne wird als
neuer „Auftritt“ bezeichnet, ebenso das Abtreten einer oder mehrerer
Personen von der Bühne. Es giebt sehr verschiedenartige Scenen. Die
Veränderung der Bühne wird als Veränderung der Scene bezeichnet.
2. Der Scenenwechsel auf der Bühne muß möglichst rasch erfolgen.
3. Die Scenen haben je nach ihrem Charakter verschiedene Bestimmung
und Wirkung.
1. Das Wort Scene bedeutet ebenso den offenen Bühnenraum, als
dasjenige Bruchstück der Handlung, welches die gleiche Dekoration hat. Für
den Dichter ist Scene die Verbindung mehrerer dramatischen Momente, welche
die gleichen Hauptpersonen haben. Die Scene kann einen ganzen Akt oder
einen Teil desselben umschließen.
Es giebt Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen,
Liebesscenen, Ensemblescenen, Massenscenen &c. Der Scenenwechsel
wird auf der Bühne meist durch den Niedergang eines Zwischenvorhangs
angezeigt. Bei den gedruckten Dramen wird der Scenenwechsel durch
das Wort „Verwandlung“ angezeigt. Die Scene des dramatischen Dichters
und des Regisseurs fallen nicht immer zusammen, da ja bei dem Abgang selbst
des Helden nicht immer die Dekoration zu wechseln braucht.
Um ein Beispiel anzugeben, so bietet der 4. Akt von Maria Stuart in
12 Auftritten zwei kleinere und 1 größere dramatische Scene, und durch einen
Koulissenwechsel wird der Akt in zwei Bühnenscenen geschieden. Die Verweisung
des Grafen Aubespines und der Streit Leicesters mit Burleigh bilden
in drei Auftritten die erste Scene; der Monolog Leicesters, seine Besprechung
mit Mortimer, Mortimers Tod im 4. Auftritt bilden die 2. Scene. Hier
tritt die zweite Bühnenscene ein, indem das Zimmer der Königin hergerichtet [52]
wird. Der 5. bis 12. Auftritt des 4. Aktes ergeben sodann nur noch eine
große Scene: (Doppelscene.) Kampf um's Todesurteil. (5. Auftritt: Elisabeth
und Burleigh gegen Leicester. 6. Auftritt: Leicesters Unterredung. 7., 8., 9.,
10. mit ausklingendem und verbindendem 11. und 12. Auftritt: Unterschrift
des Bluturteils.)
2. Der Niedergang des Vorhangs am Aktschluß gestattet Zeit, im Zwischenakt
die Scene zu wechseln. Diese Zeit sollte stets nur ein paar Minuten
betragen, besonders zwischen den beiden durch die Handlung so eng zusammenhängenden
Schlußakten. Dekorationswechsel ist immer mißlich, weil er die
Handlung hindert; doch ist er am besten noch in den ersten Akten anwendbar,
wo die Richtung der im Verlauf immer mehr drängenden Handlung noch nicht
so genau bestimmt hervortritt.
Was den Bau der dramatischen Scenen betrifft, so sollte eine jede nach
der Einleitung eine Steigerung durch Widerspruch, Widerstreben, Gegenrede,
Gegenhandlung und schließlich ein Resultat zeigen oder ahnen lassen, das auch
negativ sein kann.
Es ist dramaturgisches Gesetz, die Scene nie leer stehen zu lassen, wenn
dies nicht gewisse Handlungen verlangen, wie ein Mord, oder das Hinwegstürzen
der Handelnden z. B. in den beiden Grachen &c.
3. Wir geben im Nachstehenden den Begriff der wesentlichsten sogenannten
Scenen:
a. Die Monologscenen geben Gelegenheit, das geheimste Empfinden
und die dunklen Ziele dem Publikum zu entrollen, einen Blick in die Herzkammer
des unbelauschten Handelnden thun zu lassen. (Hamlet reflektiert über
die Wirkung des Schauspielers. Er bringt Thatlosigkeit in Vergleich; er faßt
den Entschluß zu handeln und legt dadurch für den Zuschauer die Einwirkung
klar, welche seine Unterhaltung mit den Schauspielern auf ihn und auf den
Fortgang der Handlung übt.) Die Monologe sind meist lyrischer Natur. (Vgl.
Tell, 4. Aufz. 3. Scene.)
b. Die Dialogscenen bilden die Seele der Handlung, die durch sie
zum Ausdruck gelangt. Hat man sich klar gemacht, daß das Wesen des Drama
Handlung ist, so wird man auch einsehen, daß die Dialogscene im ernsten
Drama anders sein muß, als z. B. im Lustspiel, im Salon- und Konversationsstück.
Sie muß den Fortschritt der Handlung ausdrücken. (Z. B. die Dialogscene
zwischen Orsini und Odoardo, 4. Akt, 7. Auftritt in Emilia Galotti:
Odoardo: Weiß ich nicht schon genug? Orsina: Sie wissen nichts. Wenn
es gar Jhre einzige Tochter ─ Jhr einziges Kind wäre! ─ Appiani ist
tot. Jhre Tochter, schlimmer als tot. Odoardo: Sprach sie in der Messe?
Der Prinz meine Tochter? ─ Nun, Mütterchen? haben wir nicht Freude
erlebt! O des gnädigen Prinzen! ─ Wunder, daß ich aus Eilfertigkeit nicht
auch die Hände zurückgelassen! Orsina: Nehmen Sie ihn! (ihm den Dolch
aufdringend). Odoardo: Liebes Kind, wer wieder sagt, daß du eine Närrin
bist, der hat es mit mir zu thun &c.)
c. Die Botenscenen sind der Gegensatz, da ihre Berichte nur referieren. [53]
Sie werden bei längeren Dramen häufig beschnitten. Mit Unrecht, da sie
über die Züge des Gegenspiels aufklären und zu neuem Fortgang drängen.
Man vgl. z. B. den Botenbericht des Schweden in Wallenstein, der den Tod des
Max meldet und Gelegenheit giebt, das ganze Seelenleben der Thekla zu entrollen.
d. Die Liebesscenen bilden in der Tragödie einen wunderbaren
Kontrast zu dem finsteren Geschick. Die großartigsten Liebesscenen finden sich
in Romeo mit der unübertroffenen Balkonscene, und in Faust die Scene Gretchens
im Garten. Sie heben sich da in der Gewalt der unmittelbaren Empfindung
von denen Schillers ab, z. B. im Tell zwischen Rudenz und Bertha, im
Wallenstein, wo die Anwesenheit der Terzki die Entfaltung hemmt. Der Eintritt
eines Dritten in den Dialog kann hemmend oder treibend wirken, da er als
Partei die Absicht des einen lähmt oder fördert, oder auch seinen Willen
einem jeden der beiden entgegensetzt.
e. Ensemblescenen. Sobald mehr als drei Personen an der Handlung
sich beteiligen, entstehen die Ensemblescenen, die in der griechischen
Tragödie fehlten, uns aber geradezu unentbehrlich sind. Sie sind zwar nicht
der Ausdruck der größten Steigerung oder Spannung, aber sie liefern einen
Beitrag, der Handlung Glanz, Bewegung, Farbe und Wirkung zu verleihen,
die Triebfedern der Handlung ersehen zu lassen, oder dieselbe effektvoll abzuschließen.
Diese Wirkung der Ensemblescenen ist nicht sowohl von der Anwesenheit
vieler Personen auf der Bühne abhängig, als vielmehr von dem
thätigen, charakteristisch=bewegten Eingreifen derselben. Der Dichter ist daher mit
Recht als der Wirt bezeichnet worden, welcher jedem seiner Gäste die Unterhaltung
in dieser Scene und das Eingreifen in dieselbe ermöglichen soll. Scenen
von großer Personenzahl (Volksscenen &c.) müssen eine sehr verständnisvolle
Gliederung haben, um ebenso die führenden Stimmen zu markieren, als das
harmonische Zusammengreifen zu ermöglichen. Selbstredend ist hier ein weises
Maßhalten geboten; auch der Held wird vieles unausgesprochen lassen müssen,
da hier eine große Gruppe nicht zum Schweigen auf lange Zeit verurteilt
werden kann.
Eine gewaltige Ensemblescene ist die Rütliscene im Tell. Jhre Teile sind:
Ankunft der Unterwalder, Melchthals und Stauffachers Unterredung, Begrüßung
der Schwyzer. Der Dichter hat es vermieden, durch wiederholtes Betonen des
Eintritts der 3 Kantone unsere Geduld auf die Probe zu stellen. Die Urner
erscheinen und die Handlung beginnt, geleitet von 2 Hauptpersonen, ja, sie
spinnt sich fort in kurzen Reden und lebhaftem Eingreifen der Nebenfiguren.
Stauffacher schildert glänzend die Absicht und das Ziel des Bundes. Widerstreit
der Ansichten über Stellung zum Kaiser; verständnisvolles Reden, Steigerung
der Gegensätze über die Mittel, sich von den Vögten zu befreien. Abstimmung,
Schwur. Stauffachers machtvoller Vortrag ist der Höhepunkt der
Scene, die so mannigfach ist in Bewegung, Händeerheben, Waffengerassel,
Steigerung, Ruhe, Umarmung! Dazu der schöne Ausklang der Scene, indem
die Morgenröte der entblößten Gruppe Farbe verleiht und das Licht der aufgehenden
Sonne die Eisberge übergießt.
f. Bei Massenscenen, für welche man auf der Bühne ja doch nur
einen geringen Teil an Personal hat, muß durch Versatzstücke, Verengerung
des Platzes, Verkleinerung des Raumes eine so geschickte Aufstellung der Personen
erfolgen, daß die Täuschung hervorgerufen wird, als habe man es mit
einer unübersehbaren Menge zu thun.
Die Behandlung der Shakespeareschen Volksscenen, wie auch deren
Aufführung in neuerer Zeit durch das Meiningensche Mustertheater, ist vorbildlich.
Die Wirkung ist aber auch eine wunderbare. Das Zusammensprechen
zu üben, die Bewegung des einzelnen vom Massenkörper abzuschälen, künstlerisches
Bewegen auch dem Statisten einzuhauchen, sollte nach Art der
Meininger allenthalben erstrebt werden. Das Verdienst der feinen Ausführung
Shakespearescher Massenscenen ist nicht so gering, als es von manchem Neidischen
geschildert werden möchte.
§ 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen.
Um die Handlung vor unsern Augen entstehen zu lassen, bedient
sich der dramatische Dichter kurzer Monologe (Rede des einzelnen mit
sich selbst) und treffender Dialoge (Zwiegespräch der Handelnden), was
nicht selten zur antithetischen geflügelten Wechselrede (Stichomythie)
wird, und eine erhabene Rhetorik der Leidenschaft als Resultat hat.
Der Monolog hat die Aufgabe, einen Blick in den Gemütszustand des
Handelnden zu ermöglichen. (S. 52. a.) Dagegen sucht der Dialog das Entgegensprechen
der Handelnden zu ermöglichen, das Bestreben, sich gegenseitig
zu überzeugen, manches anders darzustellen, Absichten und Gedanken hinter
Worten zu verbergen, zu imponieren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen u. s. w.
(S. 52. b.) Jn Wahrheit ruht die poetische Kraft der dramatischen Dichtung
hauptsächlich und vorzugsweise in den Worten der Handelnden: aus ihnen
erfahren wir Ursache und Absicht ihrer Handlungen.
§ 38. Sprache und Form des Drama.
1. Schon aus dem in § 37 angegebenen Grunde ist der Sprache
besondere Rücksicht zuzuwenden, wobei das Bd. I S. 107 ff. Gesagte
zu beachten ist.
2. Bezüglich der Form ist abzuwägen, ob gebundene Rede anzuwenden
sei oder nicht.
1. Das gute Drama hat vor allem alles Schwülstige, Affektierte, Manierierte,
Gekünstelte, Unwahrscheinliche in der Sprache zu vermeiden und der
Handlung, für deren Mangel geflügelte Worte und glänzende Denksprüche nicht
entschädigen können, die Form des würdigen Ausdrucks anzupassen. Harmonische
Vereinigung der innern Wahrheit mit Schönheit des äußern Ausdrucks ist
dabei Aufgabe der dichterischen Sprache.
2. Bezüglich der Sprachform haben Schiller (Räuber), Goethe (in
seinen ersten Dramen Clavigo, Egmont, Götz von Berlichingen), Lessing,
ferner auch der Franzose Diderot nach dem Vorbild englischer Dramen des
17. und 18. Jahrhunderts die Prosa empfohlen. Es schien ihnen unnatürlich,
daß auf der Bühne eine andere Sprache gelten sollte, als im Parterre. Doch
schrieb Lessing später seinen Nathan im jambischen Quinar, dessen sich sodann
auch Goethe und Schiller bedienten. (Vgl. Bd. I S. 311.) Das sich
bahnbrechende Künstlerbewußtsein gab diesen Dichtern den Vers und sie zeigten,
daß der Dichter Veranlassung haben kann, auch die Sprache im Gebiet der
Kunst zu beteiligen.
Shakespeare ist insofern besonders beachtenswert, als er die Personen
aus niedern Ständen Prosa sprechen läßt, den edleren Personen aber Verse
giebt. Auf diese Weise malt er das Leben trefflich und zeigt ein die Einförmigkeit
vermeidendes, sich der Situation anschließendes Stilgefühl.
Für gewisse Dramen, für Komödien, Possen ist die Prosa am Platze;
die Unwahrscheinlichkeit eines rhythmisch gegliederten Dialogs moderner Figuren
empfiehlt bei diesen Gattungen von selbst die Prosa. Sie bequemt sich leicht
einer jeden Stimmung an; sie gestattet größere Unruhe und schnelleren Wechsel.
Sind aber die Helden des historischen Drama z. B. längst verstorbene
Personen, die nie unser modernes Deutsch sprachen, oder gehören sie einer
fremden Nationalität an, oder ist eine gehobene, edlere Stimmung des Herzens
verlangt, so ist die rhythmische Form geboten.
Diejenigen Völker, bei denen das Drama aus ihrem nationalen Kunststreben
emporblühte, haben nur die Form der Rede gewählt, welche der unrhythmischen,
prosaischen Form ziemlich nahe lag, z. B. die Griechen und
Römer den jambischen Rhythmus. (Aristoteles sagt von ihm: „μάλιστα γὰρ
λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ ἰαμβεῖον ἐστιν“.) Den trochäischen Tetrameter
bezeichnet Aristoteles als dithyrambisch: in der That findet er sich auch früher
─ bei Sophokles und Euripides ─ häufiger als später, wo die Abstammung
des Chors aus dem Dithyrambus zeitlich ferner gerückt war. Die Komödie
bediente sich auch noch des anapästischen Verses.
Unser ältestes deutsches Drama ─ der Wartburgkrieg ─ (vgl. Bd. I
S. 47) schloß sich in seiner Form der Lyrik an. Es hatte singbare Strophen.
Später gebrauchte das Drama kurze Reimpaare, bis Lessing, wie erwähnt, dem
jambischen Quinar die Bahn eröffnete. (Vgl. Bd. I S. 312, sowie 313 und
416, wo auch der Freiheiten im Gebrauch des jambischen Quinars gedacht
ist.)
Auch gereimte Trochäen hat man angewendet. Jn neuerer Zeit hat man
aus Opposition gegen die Monotonie der sog. Jambentragödie häufig die
metrische Form ganz aufgegeben, die doch von einzelnen, (z. B. von dem sprachgewandten
Ungar Doczi im „Kuß“ 1877) mit großem Erfolg verwertet
wird. Jn Frankreich wird immer noch der Alexandriner verwendet, in Spanien
der assonierend trochäische Vers.
§ 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im
allgemeinen.
1. Der dramatische Dichter muß die Technik des Drama kennen
und sich in den Geist seiner Figuren zu versetzen wissen.
2. Er muß den Monolog wie den Dialog seinen Charakteren
entsprechend zu bilden vermögen.
3. Er muß daher vor allem Phantasie und hohe Bildung besitzen.
4. Er muß das Charakterisieren lernen und seine Kraft auf Gestaltung
guter Figuren wenden.
5. Er darf es nicht verschmähen, sich an guten Mustern zu bilden.
1. Die Anforderungen an den dramatischen Dichter in Bezug auf Disposition
der Handlung, Methode der Charakterbildung, Darstellung der Leidenschaft
und der Seelenvorgänge sind keine geringen. Er muß sich zunächst
Stimmung, Stand, Stellung, Lage, Alter, Verhältnisse seiner handelnden
Personen vergegenwärtigen, um seine Zeichnung objektiv zu gestalten, sowie die
Wahrheit der Unterredung und die Jndividualität dieser handelnden Personen
nicht zu beeinträchtigen, und auf diese Weise lediglich zum Ausdruck zu bringen,
was dieselben empfinden, denken, wollen.
Das wirklich Dramatische wirkt in ernster Handlung sicher tragisch, wenn
der Dichter es richtig zu gestalten vermag. (Das Wort tragisch ist als specifische
Folgenschweres, Trauriges bringende Art der dramatischen Wirkung zu betrachten.
Vgl. Bd. I S. 100.)
2. Der Dramatiker muß es verstehen, den Dialog einfach, natürlich, nur
aus der Handlung und den äußern wie innern Zuständen der Personen entspringend
zu gestalten und im Monolog (anstatt historisch unterrichtend) dem
innern Drang der Gefühle ein Organ zu sein. Nur solches Verständnis wird
ihn befähigen, den Zuschauer gleichsam dem Handelnden eng an die Seite zu
stellen, den ersteren in der Seele des Helden lesen zu lassen, wie es z. B.
Schiller beweist in dem zur Entfaltung der Leidenschaft mitwirkenden dramatischen
Monolog Tells vor der Ermordung Geßlers. (4. Akt 3. Scene.)
Vom Dramatiker muß man große poetische Kraft, männlichen Mut und
souveränen Sinn für die Schlußkatastrophe verlangen, um nicht vor dem Untergang
des Helden zurückzuprallen.
3. Für den Aufbau braucht der Dramatiker neben Phantasie auch Kenntnis,
poetischen Reichtum, dichterische Routine, um guten Stoff zu wählen und
diesen nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten. Der Dramatiker muß sich die
dramatische Bewegung vorstellen können, um nicht Hauptpersonen zu lang auf
der Bühne unbeschäftigt zu lassen, oder dem Darsteller zu viel zuzumuten. Er
muß die Leistungsfähigkeit des Sachdarstellers kennen, um nicht vom jugendlichen
Liebhaber zu verlangen, was nur der alte Jntriguant leisten kann.
Erzählende Partieen muß er zum Zweck der Andeutung der erregten Stimmung
der Hörer durch kurze Zwischenreden unterbrechen, wie dies Schiller in Wallenstein [57]
durch den Bericht des schwedischen Hauptmanns erzielt. Geschehenes aber,
oder schwer Darstellbares muß er hinter die Bühne verlegen, oder er muß
durch die Reflexe wirken, z. B. Blitz, Geschützsalven, der dumpfe Fall des
Hauptes (Graf Essex von Laube) &c. Dagegen läßt er Emilia Galotti auf
der Bühne morden, weil der Mord durch Vaterhand hinter der Bühne die
Wahrscheinlichkeit verliert.
4. Jnsbesondere verlangt man vom Dramatiker die Kunst zu charakterisieren,
das Werden des Charakters zu malen, sein inneres Sein und Leben vorzustellen.
Aus dem Handeln des Helden muß man Sitte, Denk- und Handlungsweise
der Nation zu erkennen vermögen, welche der Held repräsentiert.
Unsere Helden zeichnen sich nicht selten durch beschauliche Ausbreitung der
Gefühlszustände aus, wiewohl einzelne nie der dramatischen Bewegung entbehren.
Lessing ist hochbedeutend, was Charakterisieren anlangt. Freytag sagt
mit Recht, daß der Reichtum an Detail, die Wirkung schlagender Lebensäußerungen,
welche sowohl durch Schönheit als Wahrheit überraschen, bei Lessing
in dem beschränkten Kreise seiner tragischen Figuren größer sei als bei Goethe,
unmittelbarer als bei Schiller. Bei ihm wird durch leidenschaftliche dramatische
Bewegung erreicht, was Goethe durch Darstellung der Gemütszustände, namentlich
bei seinen Frauencharakteren erreicht. Seine Helden lassen sich zum Teil
noch vorwärts schieben, aber doch fehlt es nicht an dramatischer Bewegung.
Schillers Bedeutung zeigt sich darin, daß seine Charaktere trotz der Ruhepunkte
in den bewegten Momenten in der höchsten Spannung verharren und in dieselbe
versetzen; sie sind voll Kraft und innern Gehaltes und handeln unbeirrt
um Konsequenzen ihrem Charakter gemäß. So kommen sie in Konflikt mit
der Umgebung und schmieden sich selbst ihr Geschick.
Es ist von Wert nachzuspüren, wie Schiller seine geschichtlichen Helden
konstruiert. Das einzige Beispiel des Wallenstein möge das in großen Umrissen
zeigen. Schiller zeigt nicht den Verräter Wallenstein, wie etwa Molière den
Geizigen, sondern er zeigt, wie Wallenstein durch das Schicksal allmählich zum
Verräter gemacht wird. Auf der Bühne sollen weder Thaten noch schöne Worte
allein wirken, sondern die Darstellung der Gemütsprozesse, welche das Empfinden
zum Wollen und zur That verdichten.
Schiller hatte vor sich den geschichtlichen Wallenstein, den egoistischen
Feldherrn mit seinen großen Plänen. Er sah ihn dem Wrangel gegenüber,
er sah ihn auf dem Observatorium. Die Erwägung, daß das Mißlingen der
Wallensteinschen Pläne den Helden in recht erbärmlichem Lichte erscheinen lassen
mußte, veranlaßte den Dichter, den Glauben Wallensteins an Astrologie poetisch
zu verwerten, um einen philosophisch denkenden, über die Erscheinungen des
Lebens dahinschreitenden Mann darzustellen, der an eine Vorsehung glaubt,
der sich durch seinen Glauben an sein Geschick auf Bahnen verlocken läßt, die
von anderen richtiger beurteilt werden, als von dem großen Feldherrn. Der
Dichter benützt das Moment, um Wallensteins Vertrauen zu denen zu rechtfertigen,
die ihn verrieten. ─ Um den Oktavio Piccolomini nicht zum kalten
Jntriguanten zu machen, knüpft er sein Schicksal durch den Max mit dem [58]
Wallensteins zusammen &c. ─ Wie viel läßt sich an solcher Behandlungsweise
lernen!
5. Ein großer Teil der modernen Dichter historischer Dramen schreibt nur
dialogisierte, verstümmelte Geschichte, giebt epischen Stoff in dramatischer Form.
An Lessing, Schiller und besonders an Shakespeare sollte man sich ein Vorbild
nehmen! Des Letzteren Dichtungen: Julius Cäsar, Romeo und Julia,
Richard III., Coriolan sind im eminenten Sinne dramatisch und zeigen jene
wunderbare Kraft, die manchem berühmten Werke unserer großen Dichter fehlt.
§ 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung.
Jedes Drama muß bühnengerecht sein, d. h. seine Bedeutung und
Berechtigung muß bei der Aufführung vom Publikum mit Anerkennung
gefühlt werden, und die Schauspieler müssen im Stande sein, durch
die Mittel ihrer Kunst das Eigenartige, Menschliche auch in wirksamer
Weise zur Darstellung zu bringen.
Ein Grieche würde die selbstverständliche Betonung der Forderung der
Aufführbarkeit mindestens überflüssig gefunden haben. Aber da unsere deutschmoderne
Litteratur (welche künstliche Lieder bildet, die niemand singen und
Dramen, die niemand inscenieren kann) nicht mehr in solcher Beziehung zum
Volke steht, wie dies bei der griechischen der Fall war, so ist wohl ein prüfender
Blick auf die Aufführungsmöglichkeit der Dramen am Platze.
Ein für die Aufführung geschriebenes Stück darf vor allem nicht zu
lang sein. (Cristofero Colombo von Rückert, welches einen Umfang von
618 Druckseiten hat, ist in dieser Richtung zu verwerfen). Weiter darf ein
Drama der Darstellung keine gegen Sitte und Anstandsgefühl verstoßenden
Scenen zumuten. (Wir werden uns gerne von einem Manne berichten lassen,
der ein Dutzend Angreifer vernichtet, aber wir werden uns gegen solche Balgerei
vor unsern Augen sträuben, um nicht mit der Wahrheit der Handlung in
Konflikt zu geraten. Wir werden ferner gegen gemeines Schimpfen und Raufen,
wie es sich z. B. bei Gryphius im Horribilikribrifax findet, auf unserer Bühne
ein Veto einlegen &c. Nackte Menschen, wie sie Rückert in Cristofero Colombo
vorführt, werden wir nicht auf der Bühne sehen wollen. Das Schwimmen
werden wir vielleicht in einem Zauberstück, sowie in der Ausstattungsoper
gestatten, nimmermehr aber in einer Tragödie u. s. w. Jn dieser Beziehung
leistet R. Wagner das äußerste dadurch, daß er seine Rheintöchter nicht bloß
schwimmen, sondern auch dazu singen läßt). Endlich darf das Stück für seine
Jnscenirung keine Ungeheuerlichkeiten und Unmöglichkeiten fordern. Auch muß
es nur eine solche Jnscenierung vorschreiben, welche in bezug auf Dekorationswechsel
und Umkleidung innerhalb der Zwischenakte möglich ist, ohne diese zu
sehr auszudehnen &c. Um praktische Begriffe von Aufführbarkeit zu erhalten,
muß sich der Dichter gründliche Bühnenkenntnis verschaffen.
§ 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen
Dichtung.
1. Für die Wirkung der Handlung hat man im Drama der
Gegenwart dem dekorativen Momente und der scenischen Ausstattung
weit mehr Rücksicht zu widmen, als dies früher bei der Einfachheit
der griechischen oder der Shakespeareschen Bühne der Fall war.
2. Das Kostüm ist der bestimmten Zeit seiner Träger anzupassen.
1. Es wurde viel darüber gestritten, ob der wahren Kunst durch die
Beachtung dekorativer Nebenumstände gedient sei, und einige haben geglaubt,
der Aristotelischen Ansicht (daß das Theatralische nicht Sache der Poesie sei,
vielmehr die Tragödie ihre Kraft auch schon ohne Bühnendarstellung und
Schauspieler erproben könne, vgl. Kap. 6 seiner Poetik am Schluß) auch im
Hinblick auf unsere Zeit beipflichten zu sollen. Da das Drama aber nicht
bloß für's Ohr, sondern auch für's Auge ist, so möchten wir die scenischen
Apparate unseres modernen Theaters namentlich in bezug auf Unterstützung
der nötigen Jllusion nicht verkümmert wissen. Es ist nur zu billigen, daß den
Jntentionen des Dichters durch treue Nachbildung der äußeren Räume (z. B. des
Meers, der Wartburg im Tannhäuser, des Hohentwiel im Ekkehard u. A.) Ausdruck
verliehen wird. Selbst bei Shakespeareschen Stücken fing man mit recht an,
die Dekorationsmalerei und die Maschinerie zur höchsten Bedeutung zu entfalten.
Shakespeare hatte s. Z. kaum mehr als eine graue und eine grüne Decke, mit
deren Hülfe er Gebäude oder die grüne Natur auf seiner in bestimmte Felder
für Haus, Straße, offenes Land u. s. w. eingeteilten Bühne vorstellte. Karl
Jmmermann (vgl. Theaterbriefe von G. zu Putlitz) wagte zuerst den Versuch,
angemessene, scenische Einrichtungen für Shakespearesche (und Calderonsche)
Stücke zu erfinden; L. Tieck begann sodann im Sommernachtstraum Shakespeare
für die moderne Bühne auszustatten. Jhnen folgte mit einer feenhaften Scene
Fr. Haase in Leipzig, ferner Dingelstedt in Wien, F. Wehl in Stuttgart u. a.
Otto Devrient inscenierte den Faust nach Art der Mysterien; berühmt
sind die Jnscenierungen des Herzogs von Sachsen-Meiningen.
2. Weiter fordern wir, daß bei Aufführung des Drama auch im Kostüm
das Besondere des Charakters ausgedrückt werde. Antiquarische Raritäten
kann man nicht verlangen; aber die Tracht des Jahrhunderts und des bestimmten
Volkes kann der Zuschauer fordern.
§ 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der
dramatischen Dichtung.
1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist leichter, als die
des klassischen. Dafür muß das ernste Studium der Poetik seine
spezielle Aufgabe sein.
2. Weiter muß sich der moderne Schauspieler die höchste Bildung
erwerben, um seine Rolle durchgeistigen zu können.
3. Diese Bildung muß ihn befähigen, der alten, natürlichen Kunstrichtung
zu huldigen und allem Virtuosentum entgegenzutreten, dessen
Unnatürlichkeiten und Künsteleien die Anteilnahme des Publikums
ausschließen, sofern die Charaktere den wirklichen Menschen unähnlich
erscheinen.
1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist keine geringe, wenn sie
auch weniger anstrengend ist, als die seines antiken Kollegen. Der erste
Schauspieler bei Sophokles hatte in etwa 10stündiger Darstellung circa
1600 Verse in der durch die Flöte dazwischen angegebenen Tonlage zu sprechen.
Dabei waren die Anforderungen an dramatische Sprachweise nicht unbedeutend.
Ein falscher Accent, ein Hiatus, ein falscher Artikulationston konnte eine Aufregung
herbeiführen, die ihm den Sieg entriß. Unsre größte Rolle, Richard III.,
hat etwa 1128 Verse (oder in Wirklichkeit 900, da mehr als 200 gestrichen
sind). Dabei sind unsre jambischen Quinare kürzer, als die antiken Verse.
Wir haben leichtere freiere Bewegung in den Stimm-Mitteln, ebenso in der
Körperhaltung. Wie sehr mußte die Maske vor dem Gesicht dem antiken
Schauspieler lästig werden, ebenso der Kothurn unter den Füßen! Dafür hat
aber der moderne Schauspieler für Beachtung der ungemein schwierigen Accentuation,
Artikulation und Modulation der Stimme, die Gesetze des freien
Rhythmus zu studieren und zu üben. Von ihm verlangt man, was man vom
antiken Schauspieler nicht forderte, daß seine Kunst die jambischen Verse nicht nach
dem Versaccent, sondern nach dem eigenartigen Sinnaccent deklamiere u. a. m.
2. Der Schauspieler muß so viel Bildung besitzen, um am rechten Ort
durch den Blick des Hasses, der Verachtung, der Furcht, des Entsetzens u. s. w.
den Dichter zu unterstützen. Er muß seine Rolle zu durchgeistigen vermögen,
d. h. er muß sich so in dieselbe hineindenken können, daß er schließlich aus
seiner Empfindung herausspielt. Je gebildeter der einzelne Schauspieler ist,
desto größer wird sich die Wirkung des Stückes zeigen.
3. Die Aufgabe des Schauspielers wird um so schwieriger sein, je mehr
er sich bemüht, der sogenannten alten oder natürlichen Kunstrichtung zu huldigen
und seine Rolle schlicht und menschlich einfach, prätentionslos zu spielen,
je mehr er sich bewußt ist, allein im Verein mit Genossen das Gesamtbild
der dramatischen Handlung zu verkörpern.
Die neue Kunstschule bevorzugt leider nicht immer die schlicht=menschliche
Seite, welche ihren darzustellenden Charakter allen übrigen Menschen ähnlich
macht, sie erstrebt vielmehr etwas Apartes, in der Darstellung Virtuoses. Sie
zeichnet wunderbare, mit Pointen und mimisch dialektischen Kunststücken ausgestattete
Charaktere, wodurch sie nicht selten eine Rolle zur Kuriosität, zur
Kunstleistung, zur Monstrosität erhebt. Der Künstler der virtuosen Richtung
spielt wie Paganini auf der Geige seine Partie möglichst solo und das „Orchestergesindel“
der Mitspielenden, die doch Genossen sind, ist leider häufig genug
verurteilt, zu Gunsten des Virtuosen sich in den Schatten zu stellen.
Der Schauspieler sollte nie vergessen, daß für Erweckung von Mitleid,
Furcht, Lachlust die Anteilnahme des Publikums nötig ist. Er sollte nicht [61]
wünschen, Jongleur oder Löwenbändiger zu sein. Sein Streben sollte bleiben,
Mensch zu sein, so daß sich das Publikum in seine Lage versetzen, sich mit
ihm identificieren kann. Dann erst wird es mit ihm leiden, fürchten, lachen.
Jst es nicht genug, wenn der Schauspieler die ihm vom Dichter geschaffenen
Charaktere belebt, sie zur menschlichen Existenz erhebt, muß er auch noch durch
virtuose Künsteleien und Unnatürlichkeiten glänzen und Überraschung und eine
dem Seiltänzer gezollte Bewunderung suchen? Die neue Schule hascht nach
Bewunderung und findet Bewunderung. Aber ein jeder sagt sich: „Dieser
Mann auf den Brettern ist dem Menschen unähnlich; so wie er, bist du nicht.“
Vor lauter Bewunderung geht sodann die ethische Wirkung des Drama, die
Würde der Poesie und der Schauspielkunst verloren. Das Haschen nach Bewunderung
verleitet den Darsteller, nicht nach der Gediegenheit des aufzuführenden
Dramas zu sehen, sondern darnach, ob seine Rolle viele auf Erregung
von Bewunderung auslaufende Effekt-Scenen habe!
Die Effekthascher unter den Schauspielern würdigen das Publikum zum
„Janhagel einer Reiterbude“ herab, anstatt durch Erregung aller menschlichen
Affekte sittlich zu reinigen und auf Verschönerung des Lebens hinzuwirken.
So verleiten sie auch den Schriftsteller, nur noch Bravourscenen zu schreiben.
So tragen sie zum Verfall der Bühne bei, und das Publikum rächt sich durch
„grobsinnliche Unersättlichkeit seiner gesunkenen Bildung“.
Jn neuester Zeit sind es in Deutschland in hervorragender Weise die
Meininger-Schauspieler, welche ihre Aufgabe begreifen und lösen, welche in
Wiedergabe der klassischen Dichtungen in ihrer Totalität künstlerische Thaten
liefern, die ihresgleichen in Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Kunst
nicht haben. Jm harmonischen Zusammenwirken aller Künste ist es ein Kultus,
den sie feiern, ein Triumph des wahrhaft Schönen. Die harmonische Zusammenwirkung
ist hinreißend, erschütternd, erhebend. Wir betrachten diese Thaten
edler und wahrer Kunst als den Beginn einer neuen Ära deutscher Schauspielkunst.
§ 43. Erfolg der dramatischen Dichtung.
1. Jst ein Drama in Hinsicht auf Erfindung wie auf innere und
äußere Technik gelungen, und wird es gut aufgeführt, dann ist seine
Wirkung eine bedeutende.
2. Das gute Drama hat die Aufgabe, die Bildung des Jahrhunderts
zu heben.
1. „Hier sieht,“ wie schon A. W. Schlegel (Sämtl. Werke V 37) sagt,
„der Fürst, der Staatsmann und Heerführer die großen Weltbegebenheiten der
Vorzeit, denen ähnlich, in welchen er selbst mitwirken konnte, nach ihren innern
Triebfedern und Beziehungen entfaltet; der Denker findet Anlaß zu den tiefsten
Betrachtungen über die Natur und Bestimmung des Menschen; der Künstler
folgt mit lauschendem Blick den vorüberfliehenden Gruppen, die er seiner
Phantasie als Keime künftiger Gemälde einprägt; die empfängliche Jugend [62]
öffnet ihr Herz jedem erhebenden Gefühl; das Alter verjüngt sich durch Erinnerung;
die Kindheit selbst sitzt mit ahndungsvoller Erwartung vor dem
bunten Vorhange, der rauschend aufrollen soll, um noch unbekannte Wunderdinge
zu enthüllen; alle finden Erholung und Aufheiterung und werden auf
eine Zeitlang der Sorgen und des täglichen Drucks ihrer Lebensweise enthoben.“
2. Jede Wirkung hinterläßt einen Eindruck, eine bleibende Spur. Die
Summe dieser Spuren bedingt und hebt die ästhetische und moralische Durchschnittsbildung
des Jahrhunderts. Daraus erwächst die Forderung, nur solche
dramatische Dichtungen vorzuführen, welche für das Edelste und Erhabenste
Begeisterung schaffen. Nicht darf eine dramatische Dichtung durch sinnlichen
Glanz blenden, nicht Verbrechen als Tugend stempeln, nicht Verführung in
anziehendem Gewande erscheinen lassen, nicht niedrige und gewöhnliche Ausbrüche
der Leidenschaft und Gemeinheit ihren Personen in den Mund legen,
nicht anstand- und schamverletzend (wie es in vielen französischen Machwerken,
sogar in dem neuerdings beliebt gewordenen bessern Stück „Dora“ von Sardou
geschieht; vgl. Ende des I. Aktes), die Handlung fortspinnen; vielmehr muß
das Jdeale, Erhabene, Edle, Wahre und Schöne das Ziel der guten dramatischen
Dichtung sein, das sie durch Entfaltung aller Mittel, durch Sinnestäuschungen
(Jllusionen), durch Mimik, Deklamation, Malerei erreicht. So
wird die Dramatik auch durch die Bühne nachhaltiger wirken, als das Leben
selbst; so wird sie sogar diejenigen gewinnen, denen sonst alles Jdeale unverständlich
ist; so wird sie einen Beitrag liefern zur Geistes- und Herzensbildung
der Nation.
V. Übergänge der Gattungen der Poesie.
§ 44. Einteilung der Übergangsformen.
Nicht immer beschränken sich die einzelnen Dichtungen einseitig
auf das lyrische, didaktische, epische und dramatische Element. Häufig
gehen in einem und demselben Gedichte verschiedene dichterische Elemente
in einander über, so daß man das Gedicht für lyrisch, oder für episch &c.
halten könnte. Jn solchem Falle wählt man folgende zusammengesetzte
Bezeichnungen und Einteilungen:
I. Vorwiegen des lyrischen Elements.
a. lyrisch=episch, b. lyrisch=didaktisch, c. lyrisch=dramatisch.
II. Vorwiegen des didaktischen Elements.
a. didaktisch=lyrisch, b. didaktisch=episch, c. didaktisch=dramatisch.
III. Vorwiegen des epischen Elements.
a. episch=lyrisch, b. episch=didaktisch, c. episch=dramatisch.
IV. Vorwiegen des dramatischen Elements.
a. dramatisch=lyrisch, b. dramatisch=didaktisch, c. dramatischepisch.
§ 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen.
a. Lyrisch-episch.
Lyrisch=episch ist eine Dichtung, deren Gefühlsausdruck mit Erzählung
oder Beschreibung verbunden ist.
Die Bezeichnung lyrisch=epischer Dichtungsarten verdienen daher vorzugsweise
Balladen und Romanzen, sowie einzelne Legenden. An Balladen und
Romanzen nenne ich als Beispiele: Bürgers Der brave Mann; Goethes Sänger,
Fischer, Erlkönig; Schillers Bürgschaft, Handschuh, Taucher, Kraniche des
Jbykus; Chamissos Riesenspielzeug; Uhlands Des Sängers Fluch; Mosens
Andreas Hofer; Platens Das Grab im Busento; Heines Grenadiere; Freiligraths
Löwenritt; Georg Schultzes Präriebrand; H. Bessers Choral von Leuthen.
Als Beispiele lyrisch=epischer Legenden nenne ich Goethes Legende vom
Hufeisen; Bürgers Schatzgräber; Kosegartens Amen der Steine; Rückerts
Chidher; Julius Sturms Luther beim Tode seines Lenchens; Herders Der
gerettete Jüngling.
Von anderen lyrisch=epischen Dichtungen sind erwähnenswert: Alfred
Meißners Ziska; Moritz Horns Die Pilgerfahrt der Rose, Die Lilie vom See,
Magdala; Adolf Böttgers Habaña; Otto Roquettes Hans Haidekuckuk; Fontanes
Gedicht von der schönen Rosamunde; Eduard Schulzes Die Himmel;
Rückerts Windstille; Lenaus Faust, Savonarola, Die Albingenser; G. Morins
Stern und Rose; Ad. Strodtmanns Rohana; C. Ferd. Meyers 2. Abteil.
seiner Gedichte; Wilh. Jensens Lieder aus dem Jahre 1870; A. Beckers
Jung-Friedel; Rob. Hamerlings Venus im Exil; sowie Geibels lyrisch=epische
Meisterstücke, (z. B. Mythus vom Dampf, Babel, Der Bildhauer des Hadrian,
Der Tod des Tiberius) &c.
b. Lyrisch-didaktische Dichtungen.
Lyrisch=didaktisch sind alle jene Dichtungen, deren Gefühlsausdruck
belehrende Tendenz gewinnt.
Als vorzügliche Proben sind zu nennen: Schillers Lied von der Glocke;
Rückerts Die hohle Weide &c. Rhetorisch=didaktisch sind die freireligiösen Gedichte
von Leberecht Uhlich (Gera 1872), didaktisch=lyrisch (== philosophisch=lyrisch)
ist Arnold Schlönbachs Dichtung Die Weltseele &c.
c. Lyrisch-dramatische Dichtungen.
So bezeichnet man jene Dichtungen, bei welchen das Gefühl in
Gesprächsform zum Ausdruck gelangt.
Als Proben nenne ich das bekannte Bienengesumme von Rückert, sowie
besonders M. Blanckarts' ergreifendes „Mutter und Kind“.
d. Episch-lyrische Dichtungen.
Sie verbinden die lyrische Entwickelung innerer Gefühlszustände
mit einem epischen Motiv.
Diese Form bildete den Übergang von der Epik zur Lyrik und ist daher
in den ältesten Denkmälern unserer Litteratur nachweislich. Man vgl. z. B. [64]
in Tiecks Minnelieder (Werke Bd. XX S. 79) Nr. 33. Dieses Gedicht
Dietmars von Aist beginnt mit der Erzählung:
Daran fügt Dietmar einen Monolog der Frau, welcher ihre Gefühlszustände
durch Vergleichung mit dem Falken darlegt und schließt:
Episch=lyrisch ist Reinmar der Alte. Episch=lyrisch, an vielen Stellen
rhetorisch=lyrisch, könnte man ferner Klopstocks Messiade nennen. Episch=lyrisch
sind J. G. Fischers Bilder vom Bodensee u. a.
e. Episch-didaktische Dichtungen.
Episch=didaktisch ist ein Gedicht, wenn die Lehre in Form einer
Erzählung gegeben wird.
Beispiel: Der Fürst und der Landmann von Fr. Rückert. Ferner:
Theophania von Fr. Beck (Gotha 1855) &c.
Didaktisch=episch ist das Gedicht Die Gesundbrunnen von Valerius Wilh.
Neubeck.
f. Episch-dramatische Dichtungen.
Bei ihnen ist Erzählung mit Gespräch verbunden.
Beispiele: Rückerts Gottesmauer. Ferner Die Vergeltung von Blanckarts
&c.
g. Dramatisch-didaktische Dichtungen.
Es sind dies diejenigen Gedichte, bei welchen das Belehrende in
Gesprächsform geboten ist.
Beispiel: Fr. Rückerts Gespräch mit Uhland, sowie Sallets Fragment
aus einer Tragödie im antiken Stil u. s. w.
§ 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten.
(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.)
1. Bevor wir die einzelnen Dichtungsarten vorführen, ist eine
mehr philosophische Betrachtung des Zusammenhangs und der historischen
Entwickelung der einzelnen Dichtungsarten im Anschluß an das in § 10
und § 18 des 1. Bandes gegebene Material geboten. Wir gehen dabei
davon aus, daß die Quelle der epischen Poesie die ursprünglich
älteste: die Erinnerung ist, indem wir fragen:
2. Wie verhält es sich mit dem Abblühen der Epik?
3. Wie lösten sich nachweislich die einzelnen Gattungen der Poesie
ab? Endlich
4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für
die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung
bis in die Gegenwart war maßgebend?
1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser
Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von
der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen,
daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das
Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung
war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis
der Musen Mutter genannt worden. Die Muse (μόντια == μοῦσα) hat vom
Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders
da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I.
S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens
nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen,
Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung,
als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer
fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden
Sänger (ἀοιδοί), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken
&c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie
ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab
der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung.
2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen
der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich
kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger,
deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind.
3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden
sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische,
äolische und dorische Lyrik zu denken.
Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier,
dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die
freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge
fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt.
Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von
Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters
des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche
Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches
die einmal erlangte Herrschaft behielt.
4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab;
sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h.
aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr
durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen
Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist)
die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Provençalen nach,
und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern, [66]
was sich unter der Pflege der bevorzugteren Geister hätte national
entfalten können. Die Nachahmung zeigt sich in der Nachbildung der Formen
und in der Übertreibung derselben. Auch fehlte der nachgeahmten Dichtung
die Fülle der Gefühlsäußerung. Bei den Franzosen und Provençalen mit ihrer
mehr südlichen Glut war die Minneverehrung begreiflich, bei uns nahm sich
diese nachgeahmte Minne-Verherrlichung, welcher der französische Humor fehlte,
manieriert aus; daher hatte die höfische Lyrik nur kurze Blüte, kurzen Bestand.
Die romantische Lyrik hemmte, erschwerte unsere nationale Lyrik. Der Minnesang,
der ausschließlich von den höheren Ständen in Burgen und Palästen
gepflegt wurde (man unterschied von diesen die das Volk mit Sagen und
Geschichten unterhaltenden, fahrenden Poeten), verstummte gar bald mit seinen
nicht selten schwärmerisch religiösen, die heilige Maria erhebenden Weisen.
Die Liebhaber des deutschen Meistergesangs, die wenig vom Wesen der
Poesie verstanden, und nur die äußere Form jener Lieder des Minnesangs,
das Regelwerk (Tabulatur), festhielten, bereicherten die Litteratur mit Liedern
ohne Schwung und Gehalt.
Jn der Reformationszeit begann man das klassische Altertum zu pflegen.
(Agrikola von Eisleben, Reuchlin aus Pforzheim, Erasmus von Rotterdam,
Melanchthon aus Bretten.) Das Kirchenlied erhielt durch Luther Übergewicht.
Der 30jährige Krieg brachte eine Verwilderung oder Ertötung in Deutschland
hervor, die jeden Aufschwung der dichterischen Phantasie für lange Zeit
unmöglich machte.
Nachahmungen des Ausländischen, fremdländische Wörter und Wendungen
überwucherten die Litteratur. Die erste schlesische Dichterschule unter Opitz'
Führung suchte vergebens der Litteratur aufzuhelfen. Die zweite unter Hoffmannswaldaus
und Lohensteins Leitung (Bd. I. S. 51) verschmähte das Verständige
der ersten und erstrebte das Gefühlvolle, ließ sich aber im Nichtverständnis
der Korrektheit der Form nicht selten zu Schwulst, Geschmacklosigkeit und
Schlüpfrigkeit hinreißen, bis endlich im 18. Jahrhundert der Nationalsinn in
herrlichen Flammen emporschlug und unsere Litteratur zur neuen Blüte brachte.
Der Schweizer Bodmer (mit Breitinger) trat siegreich gegen Gottsched auf,
der die Franzosen als Muster der Poesie empfiehlt, und frischte das Andenken
der altdeutschen Poesie auf durch Herausgabe der Minnesinger und der Nibelungen.
Drei Männer sind es besonders, welche die deutsche Litteratur zum
zweitenmal aufblühen machten und zwar schöner, als in der Zeit des Minnesangs.
Es waren der auf klassischem Boden stehende Klopstock, der im
„Messias“ ein deutsches Nationalwerk lieferte; ferner Lessing, der mit seiner
Kritik die fremden Beimischungen bekämpfte; endlich Wieland, der die Glätte
der deutschen Sprache darthat. Jhre Werke muß jeder Freund der Poesie
gelesen haben. Die Dichter des Hainbundes, die Stürmer und Dränger unterstützen
diese Bahnbrecher und helfen die Litteraturblüte herbeiführen.
Der gefühlvolle Barde Klopstock (I. S. 54) vereinigte Darstellung und Verschmelzung
des Deutschen (das deutsche Element zeigen seine Bardiete), mit dem
Christlichen (Messias), und dem Altklassischen (Hexameter und andere Maße &c.).
Schillers Genius verdunkelte ihn, aber seine Einwirkung auf die Litteratur
war doch gewaltig. Größer war die des besonnenen, kühlen, kritischen
Lessing, der durch seine Leistungen, wie durch seine Kritik der Dichter wurde,
an den sich die Satiriker und Dramatiker der Folgezeit anreihten. Wieland
brachte durch seine fließende Sprache eine heilsame Bewegung hervor und wurde
Vorbild und Vorläufer der Romantiker, der Ritterdichter und vieler Romanschriftsteller.
Der Hainbund, der 1772 unter Boie gegründet wurde, wandte
sich gegen Wieland und nahm Klopstock als Vorbild. Nun traten die Kraftgenie's
der „Stürmer und Dränger“ auf, welche den Dichterparnaß gleichsam
zu erstürmen suchten, und zu denen auch Herder, Goethe und Schiller in der
Jugend gehörten; im reiferen Alter erreichten letztere das höchste Ziel: litterarische
Allseitigkeit und Gefühlsinnigkeit.
Obgleich Schiller und Goethe nunmehr die Poesie zur höchsten Stufe der
Entfaltung brachten, so waren doch die nun auftretenden sog. Romantiker nicht
zufrieden. Sie betrachteten die herrschende Poesie als eine Gelehrtenpoesie und sie
verlangten größere Gefühlsinnigkeit, Volkstümlichkeit der Poesie.
Sie nahmen ihren Stoff nicht aus dem klassischen Altertum, wohl aber aus
dem romantischen Mittelalter, und lehnten sich an die ihnen näher verwandten
englischen, italienischen und spanischen Dichter an (an Shakespeare, Tasso, Petrarka,
Camoëns, Dante, Calderon &c.), zum Teil auch deren Formen nachahmend. So
wurden sie die Vorläufer der modernen Poesie, und ihr Einfluß auf das
gesamte litterarische und künstlerische Leben Deutschlands war nicht zu verkennen.
An der Grenze der modernen Lyrik, welche reine Form mit nationalem
Jnhalt anstrebt, steht die schwäbische Dichterschule: ein Uhland, Schwab, Kerner,
Pfizer, Mörike. Der Schreck, welcher durch die Juli-Revolution die konservative
Aristokratie aufrüttelte, wirkte auflösend, zurückdrängend auf die romantische
Poesie, die mit ihrer Begeisterung für den Zauber des Mittelalters, mit ihrer
nicht selten salbungsvollen religiösen Schwärmerei, an diese Aristokratie sich
anlehnte. Das sogenannte junge Deutschland (junge Schriftsteller, die ein freies
Litteratenleben zum Beruf wählten) segelte auf den hochgehenden Wellen des
Zeitgeistes siegreich dahin, die Emancipation des Geistes auf das Banner schreibend.
Jmmer mehr rang die Poesie nach Selbständigkeit. Schon in Chamissos
und Eichendorffs Poesieen vernehmen wir die Totenklage der abscheidenden
Romantik. Man begann im ganzen sich frei zu machen von den veralteten
antiken Formen, und schloß sich der deutschen Anschauung und dem deutschen
Zeitbedürfnisse an. Dies wurde die Signatur der neuesten Litteratur.
Die modernen Dichter stehen zum Teil hinter den Klassikern zurück, aber sie
haben unstreitig den richtigen Weg betreten, indem sie aus dem Volksgeist
schöpfend dem wechselnden Leben der Zeit sich hingaben. Ein Hebbel, Strachwitz,
Feuchtersleben, deren Wirksamkeit zum Teil noch vor 1848 fiel, ein Rückert,
Freiligrath, Gutzkow, sie haben die Poesie aus der engen, idyllischen Dichterstube
auf den lebendigen Markt der bewegten Welt verpflanzt. Ein Heine,
Jordan, Scheffel, Hamerling, ja, ein Richard Wagner durchbrachen die hergebrachte
Schulmetrik und drängten ─ nur den deutschen Rhythmus und [68]
Accent berücksichtigend ─ zum Deutschtum, aus dessen Gesundbrunnen auch die
Nachromantiker (Dreves, Görres, Victor v. Strauß), die Vertreter der modernen
Wald- und Blumenpoesie (Gustav zu Putlitz, Adolf Böttger, Moriz Horn,
Corrodi, Karl Lehmann), die frommen und beschaulichen Lyriker (Knapp, Spitta,
Julius Sturm, Gerok, J. Hammer, Schults, Alb. Träger, Heffemer), die
Realisten in der Poesie (G. Freytag, Ludwig, Edm. Höfer, Scherenberg, Fontane,
Sigismund, Anton Niendorf), unsere neuesten Dramatiker und Epiker (Otto
Banck, Bodenstedt, Hamerling, Grosse, Heyse, Hans Hopfen, Gottfried Keller,
H. Lingg, Albert Lindner, Scheffel, Roquette, Schneegans, Spielhagen, Ad.
Stern, Theodor Storm, Max Waldau, Ad. Wilbrandt, Robert Prölß), und
besonders auch unsere modernen Anakreontiker trinken (ein Geibel, Redwitz, Gottschall,
Kinkel, W. Jensen, Grosse, Rittershaus, Claire von Glümer, Ludwig
Bauer, P. Cornelius, Richard Pohl, Gotthelf Häbler, J. G. Fischer, Alb.
Möser, Emil Kuh, Zeise, Al. Kaufmann, Amara George u. A.).
So gewinnen wir eine nationale Litteratur und steuern zweifelsohne einer
dritten Blüteperiode zu, die in Vereinigung alles geistigen Kapitals mit Genialität
und Originalität den Ausdruck deutschen Empfindens, Denkens und Wollens
sicher erreichen wird.
§ 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen.
Die in den nachfolgenden Hauptstücken ausgeführte Einteilung und
Darstellung entrollt die sämtlichen Dichtungsgattungen unserer Poesie.
─ Wir stellen denselben der Übersicht und Orientierung wegen eine
schematische Übersichtstafel voraus, um sodann den einzelnen Formen
in erschöpfender Weise nahe zu treten.
I. Lyrische Poesie.
I. Formen ruhiger Empfindung.
Das Lied.
Volkslied.
Kunstlied und seine Formen.
A. Weltliches Lied.
1. Vaterlandslied.
2. Naturlied.
3. Liebeslied.
4. Komisches Lied.
5. Geselliges Lied.
6. Elegisches Lied.
7. Jdyllisches Lied.
B. Geistliches Lied.
1. Religiöses Lied.
2. Kirchenlied.
a. Bußlied.
b. Danklied.
c. Trostlied.
d. Gebetlied.
e. Loblied.
f. Glaubens= od. Bekenntnislied.
C. Fremde Formen des Kunstliedes.
(NB. Abgehandelt Bd. I. § 164 ff.)
- 1. Sonett
- 2. Ritornelle
- 3. Sestine
- 4. Stanze
- 5. Sicilian
- 6. Kanzone
- 7. Vierzeile
Provençalisch=
italienische
lyrische Formen.- 8. Decime
- 9. Glosse
- 10. Tenzone
- 11. Kancion
- 12. Seguidilla
Spanisch und
Portugiesisch.- 13. Madrigal
- 14. Akrostichon
- 15. Triolett
- 16. Rondeau
Französisch.- 17. Alexandrinerstrophen.
- 18. Persische Vierzeile
- 19. Ghasel
Orientalisch.
[69]
II. Formen begeisterter Empfindung.
1. Ode.
2. Lyrische Rhapsodie.
3. Hymne.
4. Dithyrambe
5. Elegie.
II. Didaktische Poesie.
I. Symbolische Didaktik.
1. Fabel.
2. Parabel. Paramythie.
3. Sinnbild.
4. Allegorie.
a. Allegorie.
b. Rätsel.
II. Didaktik mil besonderem Charakter.
1. Satire.
2. Travestie und Parodie.
3. Humoristische Dichtungen.
III. Eigentliche Didaktik.
1. Jdeale Gedankenlyrik.
2. Kulturhistorisches Gedicht.
3. Epigramm.
a. Sinngedicht.
b. Gnome, Spruch.
4. Poetische Epistel. Heroide.
5. Kurze lyrisch=didaktische Formen.
6. Wirkliches Lehrgedicht.
III. Epische Poesie.
I. Aus dem Leben der Wirklichkeit.
1. Poetische Erzählung und Rhapsodie.
2. Makame. (Abgehandelt I. S. 589.)
3. Jdylle.
4. Beschreibendes Gedicht.
II. Aus der Sagenwelt.
1. Sage.
2. Mythus.
3. Märchen.
4. Legende.
5. Romanze.
6. Ballade.
7. Epos. a. Volksepos.
b. Kunstepos.
III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildet.
Prosaische Gattungen.
a. Roman.
b. Novelle.
IV. Dramatische Poesie.
I. Gedichte mit nur dramatische Form.
1. Monolog.
2. Dialog.
3. Dramatisierte Begebenheit.
II. Eigentliche Dramen.
1. Dramatisches Gedicht.
2. Tragödie.
3. Schauspiel.
4. Komödie.
a. Lustspiel.
b. Posse.
III. Musikalisch dramatische Formen.
1. Weltliche Formen.
a. Große Oper (Oper. Singspiel).
b. Komische Oper.
c. Vaudeville.
d. Jntermezzo.
e. Melodrama.
2. Kirchliche Formen.
a. Motette.
b. Choral.
c. Kantate.
d. Passion.
e. Messe.
f. Oratorium.
Zweites Hauptstück.
Die lyrischen Dichtungen. ──────
§ 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen.
Am leichtesten wird sich das Gebiet der Lyrik übersehen und
rubricieren lassen, wenn wir den Jnhalt der Gedichte und die in denselben
zu Tage tretende größere oder geringere Erregtheit des Gefühls
zum Einteilungsgrund nehmen.
Die lyrischen Gedichte drücken entweder religiöse oder klagende Gefühle
aus oder Gefühle irgend eines poetischen Moments des Lebens. Sie äußern
sich in Teilnahme, in Freude und Lust; sie tragen heiteren oder traurigen
Charakter. Je nachdem die Gefühle in ruhiger Klärung oder in erregter,
schwärmerischer Bewegung oder Begeisterung sich äußern, wird auch das lyrische
Gedicht einen andern Charakter und in Folge davon einen andern Namen zu
erhalten haben. Es läßt sich je nach dem Jnhalt des Gedichts und der
Jntensität der Gefühlserregtheit folgendes Schema bilden:
I. Der Jnhalt des lyrischen
Gedichts, der äußere Anstoß,
das Objekt stammt:
1. Aus dem Gefühlsleben:
2. Aus dem Leben der Geselligkeit:
3. Aus dem reflektierenden
Gefühl (Reflexion):
4. Aus der Religion:
II. Der Grad des Jmpulses auf das Gefühl ergiebt:
I. Dichtungsarten
ruhiger Empfindung.
Gruppe des ruhigen
Lieds.
Volkslied.
Kunstlied mit seinen Formen
(s. § 61 d. B.), wozu
die in den §§ 164 bis
185 des I. Bandes abgehandelten
Formen (II.
S. 68) wie die nachstehenden
Gattungen zu rechnen
sind.
Geselliges Lied.
Elegisches Lied.
Jdyllisches Lied.
Geistliches Lied. (S. § 61
d. Bds.)
II. Dichtungsarten
höherer Erregtheit.
Gruppe des begeistert erregten
Lieds.
a. Ode und
b. Lyrische Rhapsodie.
c. Kantate. (Abgehandelt
im letzten Hauptstück d.
Bds.)
d. Dithyrambe.
e. Elegie. Nänie.
f. Hymnus.
I. Formen ruhiger Empfindung.
Das Lied und seine Formen.
§ 49. Begriff und Einteilung.
1. Jedes lyrische, ein sanftes Gefühl darstellende Gedicht, dessen
eigentliche und ursprüngliche Bestimmung ist, gesungen zu werden,
und das man als den lebendigen poetischen Ausdruck einer individuellen
Stimmung des Gemüts betrachten kann, nennt man ein Lied.
2. Die erste Form des Liedes war das seit Herder sog. Volkslied.
Wir teilen daher die Lieder ein: in Volkslieder und Kunstlieder.
1. Das Lied ist die wesentliche Form und die Blüte aller Lyrik; in ihm
ist die Jndividualität und Subjektivität des Dichters am unvermitteltsten ausgeprägt.
„Daz liet“ war in seiner ursprünglichsten Form eine einzelne
Gesangsstrophe. Zur Bezeichnung mehrerer Gesangsstrophen bediente man sich
des Plurals „diu liet“ (nicht zu verwechseln mit lit == Glied).
Vor allen andern Völkern haben die Deutschen den größten Reichtum an
herrlichen Liedern aufzuweisen. Dies hat seinen Grund teilweise darin, daß
der Deutsche die Weisen und Arten vieler fremder Völker abgelauscht hat.
Die Franzosen kennen das eigentliche Lied nicht und haben dafür auch
kein Wort, weshalb sie jetzt für diese Gattung das deutsche Wort „Lied“ aufgenommen
haben.
2. Dem Volkslied stellt sich das Kunstlied gegenüber. Dieses nahm
ursprünglich die Gestalt des Minneliedes an. Darauf folgte das Meistersängerlied.
Luther pflegte das geistliche Lied, und Opitz gab uns das Lied mit
gelehrtem Anstrich: das Sprachlied im Gegensatz zum Singlied.
Durch Klopstock erhielt das Lied klassischen Charakter. Goethe war es, welcher
das Lied auf die höchste Höhe hob.
Die strophische Einteilung des Liedes hat bewirkt, daß man auch erzählende
Gedichte (z. B. das Nibelungenlied und Hildebrandlied &c.) fälschlich als Lieder
bezeichnet, was vielleicht noch dadurch veranlaßt wurde, daß diese Gedichte
gesangsweise vorgetragen wurden, also die rhythmische Form des Liedes hatten.
Auch Schillers Lied von der Glocke ist ein didaktisches Gedicht und kein Lied
im eigentlichen Sinn u. s. w.
Nach dem ruhigeren oder gesteigerten oder reflektierenden Gemütsausdruck
ließe sich diese Einteilung auch in folgendes Schema fassen:
A. Lyrik ruhiger Empfindung == Lied, geselliges Lied, geistliches
Lied, und fremde Formen.
B. Lyrik begeisterter Empfindung == Ode, lyrische Rhapsodie,
Dithyrambe, Hymne.
C. Lyrik der Reflexion == Elegisches Lied, Elegie.
Die Einteilung der lyrischen Poesie ist bei den verschiedenen Litterarhistorikern
je nach den Ausgangspunkten verschieden. Der Ästhetiker Vischer [72]
macht die Art und Weise, wie das Gemüt das dichterische Objekt in sein inneres
Leben umsetzt, zum Einteilungsgrund und unterscheidet a. die Lyrik des
Aufschwungs (das Hymnische, Dithyramb, Ode), b. die reine lyrische
Mitte (das Liedartige), c. die Lyrik der Betrachtung (Elegie, orientalische
Lyrik, romanische Formen, Sonett, Epigramm u. s. w.).
Carrière unterscheidet Lyrik der Empfindung und der Anschauung
(auch des Verstandes). Rudolf Gottschall teilt in Lyrik der
Empfindung, der Begeisterung und der Reflexion. W. Wackernagel geht
vom historischen Verhältnis der Lyrik zur Epik aus und unterscheidet: a. lyrische
Lyrik == Lyrik des Gefühls; b. epische Lyrik == Lyrik der Einbildungskraft;
c. didaktische Lyrik == Lyrik des Verstandes.
Wir wählen auch aus äußeren Gründen bei Vorführung der lyrischen
Dichtungsarten die obige Einteilung in der Weise, daß wir zuerst die sämtlichen
weltlichen und geistlichen Liedformen abhandeln, um sodann die Formen
höherer Erregtheit zu bieten. Charakteristisch für unsere Unterscheidung ist,
daß das Lied prädestiniert ist, gesungen zu werden, während Ode, Dithyrambus,
Hymnus, Elegie mehr für die Recitation geschaffen zu sein scheinen. Letztere
Gattungen sowie die in Band I § 164 ff. abgehandelten Formen sind Kriterien
des künstlerisch gebildeten Lyrikers: sie sind die Lyrik gesteigerter dichterischer
Bildung und Befähigung.
Da die Kunstdichtung sich erst aus der Volksdichtung entwickelte, so lassen
wir den Volksliedern die Kunstlieder folgen.
Die verschiedenen Formen des Kunstliedes sind im § 61 aufgezählt.
§ 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen.
Die Haupterfordernisse des zum Gesang bestimmten Liedes sind:
1. Einfachheit und Schönheit,
2. gesetzmäßige rhythmische Anordnung,
3. Sangbarkeit.
1. Die Einfachheit und Schönheit fordert Natürlichkeit und Wahrheit
der Jdee sowie Wärme und Jnnigkeit der Gefühlsäußerung. Sie verlangt
ferner ─ gleichviel ob das Lied heiteren oder ernsten Jnhalts ist ─ eine
klare, leicht dahinfließende Sprache. Die schöne Jdee darf nur Mittel dazu
sein, die gemäßigte Empfindung zum gemütbestrickenden sprachlichen Ausdruck
zu bringen. Man soll es der ungezierten, ungekünstelten Sprache anmerken,
daß sie unmittelbar vom Herzen komme, „wie der Quell aus verborgenen
Tiefen“ u. s. w.
2. Da das Lied für den Gesang bestimmt ist, so unterscheidet man in
seiner äußerlichen Form eine geregelte Einteilung in Verse und Strophen, die
sich selbstverständlich in metrischer Hinsicht möglichst entsprechen müssen. Lieder
der Freude sind nicht selten in jambischen oder trochäischen, wie auch in
jambisch=anapästischen und trochäisch=daktylischen Maßen geschrieben, während [73]
traurige, sentimentale, Schwermut atmende Lieder meist im drei- und fünftaktigen
Trochäus gedichtet sind. Außerordentlich viele Lieder sind in vierzeiligen
Strophen geschrieben. Überachtzeilige Strophen sind seltener. Doch wirken auch
mehrzeilige Lieder, wenn sie sangbar sind. (Vgl. Geibels Spielmannslied mit
seinen 12zeiligen Strophen.)
3. Sangbar ist ein Gedicht, welches von den Wellen des Gefühls getragen,
eine, der dichterischen Empfindung verwandte Stimmung hervorruft und
in Sprache, Accent und Modulation so natürlich volkstümlich klingt, daß wir
beim Vorlesen ohne weiteres eine eigenartige Melodie heraushören. Es tönt
wie Gesang, es zwingt uns zum Gesang, sein Wesen ist Gesang. Das sangbar
melodiöse Element des Lieds zeigt den bedeutenden Liederdichter. Von
diesem Gesichtspunkt aus sollte jeder Dichter auch der Komponist seiner Lieder
sein. Jn der Regel sind leider unsere Dichter unfähig, ihre Lieder in Musik
zu setzen, wie ja auch die meisten Musiker keine Dichter sind. Mindestens
sollte sich jeder Komponist in den Geist des Gedichtes versetzen, um dessen
ernsten, freudigen oder wehmütigen Charakter zum Ausdruck bringen zu können.
Leider singt man oft eine ganze Reihe Lieder ohne gleiche Grundstimmung
nach ein und derselben Melodie. Tüchtige Komponisten, die in den einzelnen
Strophen eine Steigerung des Gefühls oder Abweichungen vom Grundgefühle
wahrnehmen, komponieren das Lied „durch“, d. h. sie komponieren sämtliche
Strophen bis zum Ende nach Maßgabe des Jnhalts.
Volkslied.
„Es muß etwas in diesen simplen Liedern
stecken, das ihnen Stärke giebt, dem Zahn der
Zeit zu trotzen.“ Elwert.
§ 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes.
1. Volkslieder nennt man im allgemeinen jene in der Zahl beschränkten,
einfachen, gang- und sangbaren lyrischen oder lyrisch epischen,
der Naturpoesie entstammten Dichtungen in schlichter Form und in
kindlich naivem Ton, die ursprünglich das gemeinsame Eigentum des
gesamten Volkes in seiner Durchschnittsbildung und in seinem einfachen
Naturzustande waren.
2. Es giebt edle und gewöhnliche Volkslieder. Die edlen Volkslieder
sind der Ausdruck wahrer Schönheit und ächter Poesie.
3. Die Volkslieder galten als gemeinsame Schöpfung des Volks
insofern, als das ganze Volk sie sang, sie veränderte, ergänzte, redigierte.
Der Einzelne sang sie nur als Glied des Volks zum unmittelbaren
Ausdruck dessen, was das ganze Volk bewegte. Sie erhielten
sich durch Jahrhunderte im Volk, ohne daß man ihre Verfasser kannte.
4. Einzelne Volkslieder veränderten sich im Lauf der Jahrhunderte
durch Zufall oder Absicht.
1. Man könnte die Volkslieder musikalische Gelegenheitsgedichte von naiver
Einfachheit und Natürlichkeit zur Bezeichnung der durchschnittlichen Volksempfindung
nennen, Lieder, welche die musikalischen Mittel der Sprache (Reim, Lautmalerei
&c.) zur Anwendung bringen, deren Melodieen daher einfach und ohne
künstlerischen Schmuck sind.
Schon der Dithmarsche Chronist Neokorus (Ausg. von Dahlmann) rühmte
die Einfachheit und Wirkung ihrer Komposition. („Und iß to verwundern, dat
so ein Volk, so in Scholen nicht ertagen, so vele schone leffliche Melodien jedem
Gesange nah Erforderinge der Wort und Geschichte geven konnen, up dat ein
jedes sine rechte Art und ehme gebörende Wise, entwederst mit ernster Graviteteschheit
oder frohdiger Lustigkeit hedde.“
Besonders die Naturwahrheit der Volkslieder ergreift das Herz eines jeden.
Sie sind in ihrer unvermittelte Übergänge liebenden Ausführung gewissermaßen
Produkte eines sogenannten „kecken Wurfs“ ihrer Dichter.
Herder (Ausgew. Werke 1844, S. 305) sagt: „Nichts in der Welt hat
mehr Sprünge und kühne Würfe als Lieder des Volks, und eben diejenigen
Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht,
ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung
und Feuer singen und zu singen nicht ablassen können.“ Grimms
Ausspruch: „Die Volksdichtung ist unbekümmert um den Zusammenhang abgebrochen
und fällt doch nie heraus“, ist eben so erwähnenswert.
Als kecken Wurf könnte man bezeichnen, was als das Charakteristische
an jedem Volksliede aller Nationen anzusehen ist. „Alles darin ist voll Lücken
und Sprünge, alles knapp und wie zum Nachhelfen und zum Ausfüllen auffordernd,
eine Reihe von Eindrücken für die Einbildungskraft, die der Nachhilfe
des Verstandes nicht bedürfen, der schönste innere Zusammenhang ohne
genaue logische Verknüpfung.“ (Gervinus, Gesch. der poet. Nat.=Lit. Bd. II.
5. Aufl. 1871, S. 492.)
Das Volkslied ist der ungekünstelte Ausdruck des ächten Naturgefühls,
und dieses ist bei allen Menschen das gleiche. Für Niemand ist das Volkslied
gedichtet und wird doch von allen gesungen; niemand soll es hören, und
doch paßt es für alle, doch ergreift es alle. Es ist allüberall heimisch. Vom
Wanderburschen, wie von der Stallmagd, in der Spinnstube, wie auf der
Alm, auf der Straße, wie in der Schenke wird es gesungen. Es wird
niemals alt oder alltäglich; für alle Jahrhunderte wahrt es sich fortdauernde
Schönheit und jugendliche Frische, eine an den erquickenden Erdgeruch des
Waldes erinnernde Naturanziehung, einen unwiderstehlichen, das Herz umstrickenden
Zauber. Was es besingt, das besingt es aus dem Charakter der
Zeit heraus. Sein Jnhalt, der durch Stoffe des allgemeinen Volksinteresses
und der Volksempfindung dargestellt wird, z. B. eine bedeutende Schlacht
(Prinz Eugen) oder eine unerhörte Handlung (Bernauerin) oder ein besonderes
Geschick (Pfarrerstochter von Taubenheim) war einmal allbekannt.
Der Jnhalt ist eben das wirklich Erlebte und Erfahrene mit den daraus
resultierenden Gefühlen und Stimmungen. Jm Volksliede sind „alle Farben [75]
des Lebens ausgeteilt: Scherz, Lust, Mut, Üppigkeit, treue Liebe, Trauer
und höchstes Leiden, und in der Tiefe ruhen die Geheimnisse eines schönen
Glaubens, der die ganze Natur belebt und erhöht.“ (W. C. Grimm.) Treffend
sagt der Prospekt zu Scherers Volksliedern: „Jm deutschen Volksliede sprudelt
ein unversiegbarer Quell echtester Poesie. „Dergleichen Gedichte,“ sagt Goethe,
„sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen
Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung
stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend für's Alter hat.“
Es ist die Schönheit der Unschuld, die „nicht sich selbst und ihren heil'gen
Wert erkennt“. Waldfrische ist der Charakter dieser Lieder, sie erquicken und
erfreuen uns wie ein duftiger Strauß von Wald- und Feldblumen: es ist
der Duft der Jnnigkeit, des lauteren, braven, ehrlichen, grundguten Herzens,
der uns entgegenkommt. Es zittert, es schwebt um die Klänge dieser Lieder
ich weiß nicht welche besondere Art von Rührung, es ist so etwas darin, daß
man sagen möchte: arme gute Seele! Doch daneben scherzt und jauchzt auch
wieder Lustigkeit, Mutwillen, frohes derbes Lebensgefühl; in dunkeln, schrecklichen
Balladen zückt Haß und Zorn das Messer, dann hebt sich die geängstete,
schuldige, reuige Seele auf sanftem Flügel der Andacht zum Himmel. Diese
Kraftwelt, das Stramme, Sichere, was bei der rührenden Güte nicht fehlt,
der hohe Ernst stimmt uns wieder frei und zuversichtlich. ─ Das Volkslied
ist eine ergiebige Fundgrube für die Kulturgeschichte unseres Volkes; zugleich
aber ist es durch die Frische seiner Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für
die Kunst einer ausgetrockneten Bildung. ─ „Kein Moment der Einwirkung
des Volksliedes auf die Kunstdichtung war so bedeutend, als der, da Percy's
Sammlung in England, stärker und früher noch entscheidend in Deutschland
zündete, die Göttinger Schule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde,
Bürger die erste wahre Ballade dichtete, Herder die „Stimmen der Völker“
sammelte und Goethes Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu
trinken. Und wo wären Uhland, Wilhelm Müller, Eichendorff und die ganze
Gruppe der Lyriker, in welchen die romantische Schule ihre gesundesten Sprossen
trieb, wo wäre Heine geblieben, wenn sie nicht alle aus diesem frischen Felsquell
getrunken hätten?“ ─ Das Volkslied ist selbst der Jungbrunnen, von dem
es singt:
2. Das edle Volkslied ist von edler, idealer Gesinnung getragen und sinkt
nie zum Gassenhauer- oder Drehorgellied herab, welch letzteres nur der Ausdruck
der Stimmung des Pöbels ist, also eine Art niederen, rohen, gemeinen
Volksliedes, dessen Jnhalt gemeine Stoffe, Schauerscenen, Räuber- und Mordthaten
bilden. Das edle Volkslied lehrt ohne Absicht und Gelehrsamkeit; es
kennt keine philosophischen Systeme, keine Formen und Regeln. Aber trotz
seiner Nachlässigkeit im Strophenbau und im Reim &c. ist es der unmittelbare
Ausdruck des lebendigen Sprachgeistes und der poetischen Kraft der Nation,
und es ist daher schön und allmächtig in seiner Wirkung, ohne es zu beabsichtigen, [76]
ohne es zu wissen. Jm edlen Volkslied hat bereits das Gemüt
seinen harmonischen Gleichmut erlangt und Jrrtum und Schmerz besiegt. Es
basiert auf einer Anschauung und Grundstimmung, an der auch die Hochgebildeten
Anteil nehmen können, in welcher reich und arm, alt und jung,
hoch und nieder Gütergemeinschaft zu machen im stande sind. Dies ist selbst
da der Fall, wo der Stoff in seiner gesunden Urwüchsigkeit den Quell des
Volkshumors zum Übersprudeln bringt durch Geißelung der Unzuträglichkeiten
und Einseitigkeiten des Lebens, oder wo Schuster, Schneider, Handwerker,
Bauern, oder Schwaben, Bayern, Pinzgauer &c. sich necken und höhnen.
Das edle Volkslied ist der Ausdruck des treuen, treuherzigen, ehrlichen,
offenen deutschen Gemüts, für das die fremden Sprachen ebensowenig ein
Wort haben, wie für das Wort „Lied“. Durch seinen lyrischen, liedartigen
Grundcharakter ist es, wie unsere Romanzen und Balladen, zum Gesang
prädestiniert. Es zeichnet sich durch Naturfrische und Freudigkeit aus, die sich
besonders in den Jägerliedern und Jägerballaden offenbart, und die selbst trotz
ihrer Derbheit und Sinnlichkeit kerngesund ist und trotz ihres naturwüchsigen
Realismus den idealen Keim nicht verleugnet. Es ist selbst, wo es die Form
des höfischen Minnelieds trägt, nie weichlich, oder süßlich, oder sentimental.
„Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den
Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen?
Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu
haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache,
Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte! Hier war zwar
einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und
Handlung, ein Notdrang an's Herz, schwere Accente oder schwere Pfeile für
die offne, wahrheittrunkene Seele.“ (Herder Ausg. 1844, S. 311.)
3. Oft haben die Volkslieder nicht einen Verfasser, sondern mehrere:
(Jungbrunnen. Simrock 262.)
Man vgl. auch das im dreißigjährigen Krieg vielgesungene „Schloß in
Österreich“, das im Schwedischen fast gleichlautet und so schließt:
(Vilmar Handbüchlein &c. 1868. S. 101.)
Jn munterer harmloser Gesellschaft unter der Dorflinde fing einer an,
einen Vers zu sagen, der andere machte einen neuen, der dritte reimte hinzu, [77]
und auch der vierte half nach. Man sang die Strophe nach einer bekannten
Melodie, oder die lauschenden Mädchen und Bursche machten auch wohl eine neue,
wie es paßte. Auf der Straße wurde die Strophe wiederholt u. s. w. Gefiel
das Lied, so blieb es im Gedächtnisse und wurde Volkslied.
Selten erfährt man mehr vom Verfasser, als daß er Landsknecht, Reitersmann,
Jäger, fahrender Schüler, freier Knab, Jungfrau, oder gut Geselle ist z. B.
a.
(Die Türken vor Wien.)
b.
(„Es geht ein Butzemann &c.“ Kriegslied gegen Karl V.)
c.
(Uhlands Volkslieder Nr. 49. Vgl. noch Nr. 60. 61. 144. 198. 288 &c.)
Es giebt mehrere Volkslieder, welche Ort und Zeit ihres Entstehens, sowie
auch den Namen ihrer Dichter auf der Stirne tragen. So ist z. B. von den späteren
gesungenen volkstümlichen Liedern ausnahmsweise der Dichter des einen oder des
anderen bekannt geworden. Jch erwähne beispielshalber: „Ännchen von Tharau“
(Simon Dach † 1659), „Sohn, da hast du meinen Speer“ (Stolberg),
„Wenn jemand eine Reise thut“ und „War einst ein Riese Goliath“ (Claudius),
„Heute scheid ich, heute wandr' ich“ (Maler Müller), „Gott erhalte Franz
den Kaiser“ (Seidl, geb. 1804 zu Wien), „Es ist bestimmt in Gottes Rat“
(v. Feuchtersleben † 1849), „Jch komme vom Gebirge her“ (Schmidt von
Lübeck † 1849), „Nun ruhen alle Wälder“ (Paul Gerhardt † 1676),
„Schier dreißig Jahre bist du alt“ (Carl E. v. Holtei † 1880), „Ach, wenn du
wärst mein eigen“ (Hahn-Hahn), „Steh ich in finstrer Mitternacht“ (Wilh. Hauff
† 1827), „Heil Dir im Siegerkranz“ (eine durch Schumacher 1793 vorgenommene
Umbildung des Harriesschen „Lied für den dänischen Unterthan,“ das am
27. Januar 1790 zuerst im Flensburger Wochenblatt erschien) u. s. w.
Einige Volkslieder weisen schon in ihrer Ausdrucksweise und geschlossenen
Bildung auf den Urheber hin; bei dem aus dem Gemeingefühl des Volkes
entsprossenen Volkslied hat freilich die Zeit wie die Gemeinsamkeit ein Anrecht auf
dasselbe. Die Verbreitung und fast traditionelle Fortpflanzung schliff sodann
das Eigentümliche, Jndividuelle nach der allgemeinen Volkssinnesart zu.
„Gewöhnlich“, so sagt Heinrich Heine anmutend, „sind die Verfasser des
Volksliedes wanderndes Volk, Vagabunden, Soldaten, fahrende Schüler oder
Handwerksburschen, und letztere ganz besonders. Gar oft auf meinen Fußreisen
verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen angeregt
von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten [78]
oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die
auf den Baumzweigen saßen. Und kam nachher ein anderer Bursch mit
Ränzel und Wanderstab vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein
in's Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig.
Die Worte fallen solchen Burschen vom Himmel herab auf die Lippen, und
er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer, als all
die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln.“
K. Bormann meint in gebundener Rede:
4. Manches noch lebende Volkslied kann durch eine Reihe von Textrezensionen
und =redaktionen mehr als drei Jahrhunderte zurückverfolgt werden
(vgl. z. B. Vilmars Handbüchlein &c. 1868. S. 116), wodurch der Nachweis
ermöglicht wird, wie der Text mit der Zeit sich leise und allmählich verändert
hat. Durch Absicht, durch Vergessen einzelner Strophen, durch mangelhafte
Überlieferung &c. erhielten so manche Volkslieder ihre Veränderungen
oder Entstellungen. Anders wurde das gleiche Lied an der See gesungen,
als im Gebirg, anders in der Stadt, als im Wald, anders im 18. Jahrhundert,
als im 16ten. Und doch war es im Grunde genommen das nemliche.
Manche Liedersammlungen gaben nur die ersten Gesätze, so daß die übrigen
oder einzelne derselben vergessen wurden, wodurch sich die Annahme begründete,
daß das Abgerissene, Lückenhafte, naiv Unsinnige ein Kriterium des echten
Volksliedes sei. Jn mancher Gegend hat daher ein Volkslied fünfzehn Strophen,
während es in der andern durch obigen Umstand und das redigierende Volk
nur drei oder fünf behielt u. s. w. (Als Beispiel kühner Redaktion des Volkes
selbst in der Gegenwart vgl. das Beisp. von Scheffel § 65 d. Bds.)
§ 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer
Naturanlage und poetisch-schöpferischer Volkskraft.
Wenn auch bei allen Völkern Spuren von volksmäßigen Dichtungen
sich finden, so sprudelt doch bei keiner Nation ein so reicher
Quell von Volkspoesie, so gewähren die Volkslieder nirgends einen so
tiefen Einblick in's Geistes- und Gemütsleben, als bei uns Deutschen.
Man könnte daher urteilen: Die Fülle und Tiefe unseres deutschen
Volksliedes beweist die dichterische Beanlagung und Begabung unseres
Volkes, den Gehalt seines Gemüts- und Gefühlslebens.
Dies zeige ein historischer Überblick.
Das deutsche Volkslied wurde vom Volke gesungen neben und vor den
Kunstliedern, welche in der Mitte des 12. bis Anfang des 14. Jahrhunderts
dem Ritterstand entsprossen sind und an den Höfen wie auf den Ritterburgen
geübt wurden. Die jugendliche Frische und der poetische Glanz der ersten
Minnelieder, die unmittelbar aus der Volksweise hervorgingen, lassen ahnen,
wie das kräftige Volkslied doch wohl schon vor dem 12. Jahrhundert geblüht
haben muß.
Man kann das deutsche geschichtliche Volkslied zweifelsohne als die letzte
Umgestaltung des epischen Nationalgesangs betrachten, als die letzte Zuckung
der alten Epen.
Die Verbreitung des Volksliedes zeigt, daß es eben so bedeutend in
seiner Wirkung auf die großen Kreise des ungebildeten Volkes war, als der
höfische Kunst- und Minnegesang, ja, daß es durch Vermittlung oder Benutzung
der Heldenstoffe und Heldengedichte, sowie der vaterländischen und örtlich=heimischen
Sagen noch viel populärer gewesen sein muß.
Die gelehrte und gelehrt thuende Kunstpoesie trat im 12. Jahrhundert
mit der volksmäßigen Poesie in schroffen Gegensatz, noch mehr die spätere
handwerksmeisterliche Formen-Dichtung. Die ächte Volkspoesie flüchtete sich daher
in die Kreise des gemeinen Volks, der fahrenden Schüler und Gesellen, der
Jäger, Landsknechte und Hirten. Auf diese Weise blieb ihr Jnhalt einfach
und natürlich=schlicht.
Als die das Volkslied verdrängende, gelehrt=kunstmäßige Dichtungsweise
im Meistersang zu erstarren begann, grünte und blühte ─ gleich dem immer
mehr erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstandes ─ das mit ihm verwachsene
Volkslied im 14. Jahrhundert in erneuter Pracht, um im 15. Jahrhundert
zur Herrschaft zu gelangen. Die deutschen Heldensagen, deren Grundlage ja
Volkslieder waren, lebten in volksmäßiger Form neu auf. Die bürgerlichen
Volkslieder der Spielleute und fahrenden Sänger, welche noch nicht in schulgemäßem
Zunft-Zwang abgeschlossen waren, und sich jener leichteren freien Form
bedienten, welche nur den Sinnton (die Hebungen mit beliebigen Senkungen)
respektiert, sangen noch hervorragende, volksbewegende Begebenheiten, oder Ereignisse,
so daß sie gewissermaßen das Volksgewissen repräsentierten. Die Märchenstimmung,
die im Volke heimisch war, kam ihnen entgegen und die Wanderburschen,
die fahrenden Schüler und Landsknechte leisteten durch Weiterverbreitung
in alle Teile der Windrose wichtige Dienste. Die Landsknechte hatten ihre
Landsknechtslieder, der Landmann sang Graslieder, der Jäger Jägerlieder, der
Bergknappe Bergliedlein; Abends zogen Jünglinge und Jungfrauen in den
Dörfern vereint „gassatim“ d. h. durch die Gassen und sangen Gassellieder
oder „Gassenhawer“. Bei frohen Gelegenheiten sang man Gesellschaftslieder.
Meist waren es episch=lyrische (historische) Volkslieder, die im 14., 15. und
16. Jahrhundert dem Volke entsprossen und vom Volk gesungen wurden.
Die höfische Poesie der gesangliebenden Hohenstaufen besang keine Heldenthaten,
sondern sang von Minne; der große Sieg Karl's V. über Franz I. von [80]
Frankreich bei Pavia (25. Febr. 1525) konnte anstatt eines politischen Volksliedes
nur ein Trutzlied gegen den Kaiser hervorrufen.
Der große Sieg Österreichs über den Erbfeind bei Belgrad, war etwas
Gemeinsames, weshalb das Volkslied: „Prinz Eugen, der edle Ritter“ eine
nie erlebte Verbreitung fand.
Wie das nationale Epos, behandelt dieses Lied Ereignisse, welche das
ganze Volk bewegten und ergriffen. Dies war überhaupt beim historischen
Volkslied der Fall, das immer von einem Dichter ausging, „der dabei war“
und es miterlebte und dann mit dichterischer Fähigkeit es verstand, seinen Stoff
zu gestalten, poetisch zu verklären, ihn zu idealisieren, und ihm den Charakter
des mythischen Sagenstoffes zu verleihen. Das historische Volkslied „von der
schönen Bernauerin“ trägt ganz das Gepräge einer historischen Ballade an sich.
Das zeitlich und räumlich Auseinanderliegende ist hier wie in der Ballade eng
zusammengerückt. (Man beachte z. B. daß die Ertränkung der Bernauerin sich
1435 ereignete, Herzog Ernst aber erst 1438 starb, trotzdem aber das Lied
singt:
Also 3 Jahre wurden zu 3 Tagen zusammengedrängt. Ähnlich ist es
auch bei den übrigen historischen Volksliedern.)
Jmmer gewaltiger verbreitete sich das Volkslied seit Erfindung der Buchdruckerkunst
und wurde ein nicht zu unterschätzender Kulturfaktor. Liederbücher,
denen meist die Melodieen beigedruckt waren, wurden allenthalben verbreitet.
Diese Verbreitung währte sodann bis in's 17. Jahrhundert. Der dreißigjährige
Krieg, der alle Spuren nationalen Lebens vernichtete, schädigte auch den Volksgesang
empfindlich. Dazu kamen die Bestrebungen der schlesischen Dichterschule
(Opitz, Weckherlin), welche durch gelehrte Buchdichtungen mit antiker Skansion
dem Volkslied den größten Eintrag thaten, ohne es indes ─ Dank dem poetischen
Sinn und unverbildeten Geschmack unseres Volkes ─ ganz erdrücken und
verdrängen zu können. Namentlich in abgeschlossenen Gegenden hat sich das
echte Volkslied erhalten.
Bereits im 15. und 16. Jahrhundert begann man, die Volkslieder aufzuzeichnen
auf Blätter und Bogen, auch in Liederbüchlein, ─ zu Straßburg,
Basel, Augsburg, Nürnberg gedruckt. Aus solchen Drucken und Handschriften
ging Uhlands Sammlung hervor.
Als man anfing, fabrikmäßig Zimmermanns=, Maurer=, Schmiede=,
Schneider=, Gerber- und Leineweberlieder zu dichten, trat ein nüchternes, reflexives
Moment in die Volkspoesie, das gar sehr der Prosa Vorschub leistete, wenn
es auch die Volkspoesie nicht ertöten konnte.
So ging es bis in die Neuzeit, in welcher das dramatisch hastende,
gelderwerbende Fabrikleben und die ruhelosen Lokomotiven und Dampfmaschinen
die ruhige Beschaulichkeit des Gemütslebens und die idyllische, volkspoetische
Stimmung illusorisch machen und das volksliedverbreitende Wanderleben mit [81]
den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen
möchten.
(Weber, Dreizehnlinden.)
Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt
aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen
Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache
gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl:
ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche
verlacht wird:
(Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier.
Übersetzt von Strodtmann.)
Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes
Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─
§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie.
1. Das Volkslied ist Naturpoesie, das volkstümliche Lied
Kunstpoesie.
2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter
läßt sich zum Volk herab.
1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie.
Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden
und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden
─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen
─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder
sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein
Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium,
ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─
wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch
naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in
ihrer Weise benutzt.
Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben,
bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht
scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt
in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit,
die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie [82]
entzückend, wie die freien Berge mit ihren Felsen, Rissen, Schluchten, Wäldern
und Seen. Diese urwüchsige Schönheit ─, sowie auch ihr Ursprung ─ ist
ein wesentliches Unterscheidungs-Moment des Volksliedes von dem regelvollen
Kunstliede.
Das Volkslied wächst aus dem gesamten Volksgewissen und Volksgemüt
heraus. Der Dichter, welcher es gesungen hat, war nur das Organ dieses
Volksgeistes, der Ausdruck der die Nation bewegenden Volksstimmung; er wollte
sich nie in seiner Vorzugsstellung präsentieren; er wollte nur das ausdrücken,
was sein Volk bewegte. Daher ist das Volkslied arm geblieben in sprachlichen
Formen und Wendungen und Metaphern, daher kam es ihm auch nicht auf
Originalität an. Note: Werkgr. Volkslied
2. Der Volksdichter setzt keine besondere Bildung bei seinem Publikum
voraus. Er ist daher auch dem Ungebildeten verständlich. Der Kunstdichter
muß sich herabstimmen, er muß sich der Bildung des Volks accommodieren.
Dies vermag nicht jeder.
Daher haben es nur wenige Kunstdichter verstanden, den Volkston zu
treffen; doch haben mehrere derselben Kunstlieder geschaffen, die mit einfachedlem
kräftigem Ausdruck und poetischem Gedanken nicht einer besonderen Kulturstufe,
wohl aber dem ganzen Volksleben entsprechen, die nicht Standespoesie,
sondern volkstümliche Poesie sind, die den Geist des Volks und seine Bedürfnisse
ausdrücken und die unsere Nation durchwogende Stimmung wiederspiegeln,
die also, wenn sie auch keine Volkslieder waren, doch (wie es zuerst Hoffmann
von Fallersleben that) volkstümlich genannt zu werden verdienen.
§ 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds.
1. Das Volkslied meidet die Abstraktion. Es verlangt anschauliche
naive Ausdrucksweise.
2. Alle Volkslieder sehen sich ähnlich. Die geheimnisvolle Eigenart
ihres Baues besteht im Gebrauch gleicher Phrasen, Anklänge, Wendungen,
Vorschläge, Elisionen.
Eigenartig ist:
A. Die Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen im gleichen
Volksliede.
B. Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen in verschiedenen
Volksliedern.
C. Umbildungen und Nachbildungen beliebt gewordener Volkslieder.
D. Anklang des gleichen Gedankens in veränderter Form.
E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.
1. Das Charakteristische des Volksliedes erkennt man erst, wenn man
sich in dasselbe hineingelebt hat. Jst dies der Fall, so wird man sich hüten,
alles, was ein Teil des Volkes singt, ohne weiteres als Volkslied zu bezeichnen.
So ist ─ um nur eines zu erwähnen ─ das Lied „Freut Euch des Lebens“ [83]
von Usteri trotz seines so volksmäßigen Refrains, trotz seines so herzlichen,
einfachen Tones, wegen der Absichtlichkeit seiner moralischen Beziehungen kein
Volkslied im eigentlichsten Sinn. Das Volk liebt keine Abstraktionen, in welchen
─ wie hier ─ von einer Genügsamkeit gesprochen wird, die bald zum Bäumchen
aufschießt, das goldene Früchte trägt u. s. w.
2. Eine Eigenart des geheimnisvollen Baues und der rätselhaften Beliebtheit
des Volksliedes sind seine Anklänge an lieb gewordene Phrasen, seine
Ausdrücke und Wendungen, seine Wiederholungen, Umbildungen, Anklänge,
Vorschläge, Elisionen &c. Wir beweisen dies durch Beispiele aus allen Volksliedern:
A. Volksmäßige Wiederholungen einzelner Satzteile und
Formen in ein und demselben Volksliede.
1. Wiederholung einzelner Wörter.
a.
b.
(Zum Ausmarsch.)
c.
(Erlkönigs Tochter.)
2. Wiederholung der Frage in der Antwort oder ganzer
Strophenteile.
a.
(Ulrich u. Annchen.)
b.
(Volkslied vom Hildebrand.)
B. Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Satzteile und Satzformen
in verschiedenen Volksliedern verschiedener Dichter oder Zeiten.
1. Die Frageform wiederholt sich:
a.
(Magdalenenlied.)
b.
(Heimkehr.)
c.
(Falsche Liebe.)
d.
(Hildebrandlied.)
e.
(Treue.)
f.
(Die Linde im Thale.)
g.
(Vgl. Uhlands Volksl. S. 283. 287. 356. 361. 376. 412. 431. 549. 557. 645 &c.)
[84]2. Eine bestimmte Form wiederholt sich, ähnlich dem stereotypen
Märchen-Anfang: „Es war einmal.“
a. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod.(Schnitterlied.)
b. Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.
(Die schwarzbraune Hexe.)
c. Es ist ein Ros' entsprungen.(Winterrose.)
d. Es steht eine Lind' in jenem Thal.(Nachtigall.)
e. Es sangen drei Engel einen süßen Gesang. (Die arme Seele.)
f. Es sah ein Knab' ein Röslein stehn &c.(Röschen auf der Heide.)
g. Es war einmal ein feiner Knab'. (Der treue Knab.)
h. Es war einmal eine Müllerin.(Die stolze Müllerin.)
3. Die Anredeform wiederholt sich:
a. O Mutter, liebe Mutter mein, o Tochter, liebe Tochter mein.
b. O Reitknecht, lieber Reitknecht mein ─.
c. Ach Mutter, liebe Mutter, ach Tochter, liebe Tochter.
d. Ach Mutter, sagte sie, Mutter, ach Tochter, sagte sie, Tochter.
(Ähnlich Der Goldschmied. Simrock 60.)
e. Ach Mutter, liebste Mutter mein.
(Macht der Thränen. Ähnlich Der freche Knab. Simrock 113.
Ebenso in Der Erbgraf. Simrock 33.)
f. Ach Sünder, ach Sünder, was hast du für Not.
(Die untreue Braut.)
g. Ach Fischer, lieber Fischer &c.
h. Ach Mutter, ach Mutter, es hungert mich! &c.
(Volkslied aus Sachsen.)
i. Ach Eslein, liebstes Eslein mein. (Uhlands Volksl. Nr. 46 u. 45.)
k. Frau Luddelei, Frau Luddelei! und warum spinnt Jhr nicht?
(Ebd. Nr. 293.)
4. Ganze Teile beliebter Volkslieder werden wiederholt
oder nachgebildet:
a.
(Lied von der Bernauerin.)
b.
(Lied vom Muschelbeck.)
c.
(Lied vom Reiter, der die Liebste aufgiebt.)
d.
(Der Wirtin Töchterlein.)
e.
(Der grobe Bruder. Simrock 43.)
f.
(Des Markgrafen Töchterlein. Simrock 48.)
g.
[85]
(Die Mordwirtin.)
h.
(Zucht bringt Frucht.)
i.
(Drei Reiter am Thor.)
k.
(Tannhäuser.)
l.
(Der Schreiber im Korb.)
m.
(Ein Thüringer Lied aus Spangenbergs Mansfeldscher Chronik. Vgl. hierzu
Uhlands V.=L. S. 155. 538. 761.)
C. Umbildungen, Nachbildungen der Form, Veränderungen,
Varianten, welche von späteren Sängern herrühren,
von der Gebirgsgegend, oder der Ebene, in der das Volkslied
gesungen wurde &c.
Das Lied:
(Vgl. Herder, Stimmen der Völker &c.)
tönt im thüringischen Volkslied wieder:
(Vgl. Simrock 234.)
indem dessen dritte Strophe beginnt:
Ein Wiederklang dieses Liedes ist das Volkslied:
(Mitgeteilt von Meinert.)
welches ähnlich schließt, wie das vorige beginnt, nämlich:
Das Wiegenlied:
ist imitiert aus Des Knaben Wunderhorn (III. 36:)
D. Gleichheit des Gedankens mit veränderter Ausdrucksform.
a.
(Lied aus dem Kuhländchen.)
b.
(Reise nach Albanien von Holhouse.)
c.
(Serbisches Volkslied.)
Die deutsche Volksballade „Königskinder“, welche der griechischen Sage
„Hero und Leander“ verwandt ist, findet sich in Varianten in der Schweiz,
in Schweden, Dänemark und Holland. Sie beginnt z. B.:
Jm Deutschen:
Jm Schwedischen:
Jm Verlauf der Ballade heißt es u. A.:
Jm Deutschen:
Jm Schwedischen:
Der Schluß lautet:
Deutsch:
Schwedisch:
Eine ähnliche, inhaltliche Verwandtschaft zeigt z. B. die Ballade „Lenore“
von Bürger mit der schottischen Ballade „Wilhelms Geist“, sowie auch mit
einer holländischen, durch Gebr. Grimm in Haus- und Kindermärchen mitgeteilten
Sage. (Teil III. S. 75.)
Das Lied, welches Bürger (nach Althofs „Leben Bürgers“, Göttingen
1798, S. 37) ursprünglich im Mondenschein von einem Bauernmädchen [87]
singen hört, und das auch im norwegischen, sowie im englischen Volkslied wiederklingt
(vgl. Mohnike, Volkslieder der Schweden S. 160), findet sich ganz mitgeteilt
in „des Knaben Wunderhorn“. Vgl. Schillers Kindesmörderin mit dem
herrlichen Volkslied aus dem 17. Jahrh. „Joseph, lieber Joseph, was hast du
gemacht“ u. a.
E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.
Charakteristisch und von großer Wirkung ist noch der bei Volksliedern sich
wiederholende Vorschlag, sowie die fast regelmäßig angewandte Elision. Herder,
welcher Vorschlag wie Elision auch in englischen Stücken fand und zuerst darauf
aufmerksam machte, wie viel die Minstrels darauf gehalten, sagt (Ausg. 1844,
S. 306): Der (Vorschlag) ist nun noch im Deutschen, wie im Englischen in
den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de
Knabe), 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a, und was
man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort
bekömmt auf solche Weise weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit.
‘Knabe sprach, ‘Röslein sprach, u. s. w. (Vgl. Goethes Heidenröslein
u. s. w.)
§ 55. Einteilungsversuch der Volkslieder.
1. Die Wissenschaft verteilt diese Volkslieder je nach den Lebenskreisen,
Stoffen, nach Jnhalt und Stimmung &c. in viele Gruppen
und Unterabteilungen.
2. Einfacher ist die auf S. 91 von uns vorgeschlagene und beibehaltene
Einteilung in ernste, in heitere und in historische Volkslieder.
1. Als wissenschaftlich und sachlich erschöpfende Einteilung der Volkslieder,
wie jener durch ihre Volksmelodie zu Volksliedern gewordenen volkstümlichen
Kunstlieder könnte vorgeschlagen werden:
A. Hymnenartige Volkslieder, Heimwehlieder, Vaterlandslieder
und Heldenlieder.
a. Hymnen.
Beispiele:
(Der Ambros. Lobgesang. Deutsch von Luther.)
(Luther.)
b. Heimwehlieder.
Beispiele:
(Des Schweizers Heimweh.)
(Justinus Kerner.)
c. Vaterlandslieder.
Beispiele:
(Arndt.)
(H. Straß.)
[88]d. Königslieder.
Beispiele:
(Österr. Volkslied.)
(Heinr. Harries.)
e. Freiheitslieder.
Beispiele:
(Arndt.)
(Schenkendorf.)
f. Völkerklagen.
Beispiele:
(Körner.)
(Freiligraths Jrland.)
g. Nationale Heldenlieder.
Beispiele:
(Histor. Volksl. v. Soltau, Nr. 85, desgl. Simrock 494.)
(Arndts Blücherlied.)
h. Manneswert.
Beispiele:
(Dachs Mannestreue.)
(Körner.)
i. Soldaten- und Kriegslieder.
Beispiele:
(Simrock 477.)
(Pfeffel.)
k. Reiterlieder.
Beispiele:
(Schiller.)
(Kretzschmers Volksl. I. Nr. 196 S. 346.)
l. Jägerlieder.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 103.)
(Schiller.)
B. Liebeslieder.
a. Sehnsuchtslieder.
Beispiele:
(Reinhold, Liederbuch S. 260.)
(S. Dach.)
[89]b. Liebesgrüße.
Beispiele:
(Walter, Volksl. Nr. 18.)
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 250.)
c. Ständchen.
Beispiele:
(Goethe.)
(Geibel.)
d. Liebesglück.
Beispiele:
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 246.)
(Goethe, Schweizerlied.)
e. Liebesringen.
Beispiele:
(Herders Stimmen der Völker.)
(Liederbuch für deutsche Künstler S. 249.)
f. Abschiedslieder.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 253.)
(Österr. Volksl.; mitgeteilt von Tschischka und Schottky.)
g. Liebeskummer.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 190.)
(Altdeutsches Lied, bei Zarnack II. 51.)
C. Balladen und Romanzen.
a. Heldenlieder.
Beispiele:
(Rückert.)
(Uhland.)
b. Legenden.
Beispiele:
(Wunderhorn I. 15.)
(Usteri.)
[90]c. Elfensagen.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 297.)
(Goethe.)
d. Geistersagen.
Beispiele:
(Bürger.)
(Aus Ursinis schottischen Balladen S. 95.)
e. Liebessagen.
Beispiele:
(Wolffs altholländ. Volksl. S. 28.)
(Uhland.)
f. Schwänke und Spottlieder.
Beispiele:
(Menzel, Ges. d. V. S. 577.)
(Wunderhorn II. 376.)
D. Freuden- und Trauerlieder.
a. Jahreszeitenlieder.
Beispiele:
(Uhlands Volksl. Nr. 57.)
(Ebenda Nr. 58.)
b. Haus- und Arbeitslieder.
Beispiele:
(Aus des Knaben Wunderhorn.)
(Ebenda III. 36 u. 40.)
c. Trinklieder.
Beispiele:
(Altes deutsches Studentenlied.)
(Studentenlied.)
d. Gesellige Lieder.
Beispiele:
(Kotzebue.)
e. Totenlieder.
Beispiele:
(Volkslieder der Polen 1833. S. 46.)
(Ebenda S. 51.)
2. Wir empfehlen für die vorstehende, komplizierte Einteilung die nachfolgende,
einfachere Rubrizierung:
a. rein ernste Volkslieder, die von Liebe, Trennung, Wiedersehen,
vom Wandern und der Natur handeln,
b. heitere, von Wein, Geselligkeit und Spott übersprudelnde,
c. historische.
a. Ernste Volkslieder.
Die Macht der Thränen.
Ein schlichtes, schmuckloses, im Rhythmus ungekünsteltes Volkslied ohne
Reim, bei dem die ergreifenden Worte: „verdorben, gestorben“ gewissermaßen
die unausgesprochene Moral des Ganzen sind, ist das folgende:
Weder Glück noch Stern. (Simrock 94.)
[92]
Das in der beliebten, volksmäßigen Dialogform gehaltene Volkslied vom
Mädchen und der Hasel s. § 2 S. 3 d. Bds.
Lyrisch=episch ist „Erlkönigs Tochter“ aus Herders „Stimmen der Völker
in Liedern“, das irrtümlich meistens in sechszeiligen Strophen mitgeteilt wird.
Erlkönigs Tochter.
[93]
Die drei Soldaten.
[94]
(Vgl. Schenkel II. 577.)
b. Heitere Volkslieder.
Als Probe für das heitere Volkslied erinnern wir an das vielgesungene
Pinzgauerlied, ferner an die Studentenlieder: In dulci jubilo, und Ça ça
geschmauset; endlich an das allbekannte:
Hieher sind auch zu rechnen die zu Volksliedern gewordenen bekannten
Gedichte: Vanitas von Goethe, und Das Fläschlein von Langbein (Jch und
mein Fläschlein sind immer beisammen), Die Bitte Noahs von Kopisch (Als
Noah aus dem Kasten war), und Ein lustiger Musikante von Geibel.
c. Historische Volkslieder.
Als Probe für diese Gattung erinnere ich an die Volkslieder:
Prinz Eugenius, der edle Ritter (Hist. Volksl. v. Soltau Nr. 85).
Friederikus Rex, unser König und Herr (Wilibald Alexis).
Bertrands Abschied (Leb wohl, du teures Land, das mich geboren).
Die nächtliche Heerschau (Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein
Grab, von Zedlitz).
Andreas Hofer (Schenkendorf).
Das Blücherlied (Was blasen die Trompeten? &c. von Arndt. Vgl. I. S. 604).
§ 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des
Volkslieds.
Um einen Überblick über den zwar eigenartigen, aber dennoch einheitlichen
Ton des Volksliedes zu gewinnen, dürfte es sich empfehlen,
einzelne Volkslieder der verschiedensten Bezirke mit einander zu vergleichen.
Wir können selbstverständlich an dieser Stelle nur eine Anregung hierzu
geben, indem wir lediglich einige für die Vergleichung geeignete, leicht zugängliche
oder allbekannte Volkslieder auswählen:
1. Es reiten drei Reiter zu München hinaus (Von der schönen Bernauerin.
Simrock 492. Schenkel II. 568).
2. Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser. (S. 90 d. Bds.)
3. Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt zu Straßburg. (S. 93 d. Bds.)
4. Jnnsbruck, ich muß dich lassen (Abschiedsklage. Simrock 264).
5. Es steht ein Baum in Österreich (Die hohe Blume. Simrock 39).
6. Die Kindesmörderin (Simrock 85. Vgl. dasselbe argäuisch ebenda 87).
7. Schwabenstreiche (Simrock 116), sowie Schwäbische Tafelrunde (ebenda 536).
8. Zu Frankfurt an der Brücke (Simrock 135).
9. Ein Jäger aus Kurpfalz (Simrock 402).
10. O Straßburg, o Straßburg (Simrock 477).
11. Zu Koblenz auf der Brücken (Wassersnot. Schenkel II. 649).
12. Es steht ein Baum im Odenwald (Schenkel II. 645) u. s. w.
§ 57. Das geistliche Volkslied.
1. Das geistliche Volkslied entstand erst lange nach dem weltlichen.
Die Reformation schuf es.
2. Seine Wirkung war eine gewaltige.
3. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß man mehrfach die
Form beliebter weltlicher Volkslieder benützte, um geistlichen Jnhalt in
dieselbe zu gießen.
1. Durch Luthers Vorgang erhielt der Volksgesang bald seine ideale Spitze
im geistlichen Volks- oder Kirchenlied. Gewaltig wirkte auf die Massen das
protestantische Trutzlied „Ein' feste Burg ist unser Gott“, oder: „Vom Himmel
hoch, da komm ich her“ u. s. w.
Die christliche Begeisterung schuf aus dem Volke heraus christliche Volkslieder,
die alt und jung, gelehrt und ungelehrt sang, wie das weltliche
Volkslied.
(Wir begegnen diesen zum Volkslied gewordenen Liedern wieder beim
Kirchenlied.)
2. Mächtig war die Einwirkung dieser christlichen Volkslieder auf den
deutschen, gewohnten Volksgesang. Zur Körperlichkeit und Fülle desselben kam
die Verinnerlichung des christlichen Gefühls, die ergreifend wirkte. Thränen
vergoß Luther, als ein Bettler das Lied des Paul Speratus sang: „Es ist
das Heil uns kommen her“ und Luther erfuhr, daß dasselbe von der Ostsee
bis Wittenberg gesungen wurde.
3. Man suchte Kapital aus dem Volkslied dadurch zu schlagen, daß man
dasselbe zum Kirchenlied verwendete; einzelne beliebte Volkslieder (wie: In dulci
jubilo) formte man ganz um; andere veränderte man parodistisch z. B.
(Simrock 264.)
in:
Oder:
in:
[96]
Oder:
(vgl. Wunderhorn II. 425. Simrock 507. Uhlands Volksl. Nr. 214 A und B)
im 15. Jahrhundert in:
(Vgl. Wackernagels Kirchenlied Bd. II Nr. 835 sowie ebenda Nr. 836, endlich
die Umdichtung in eine fünfzeilige Strophe Nr. 837 u. s. w.)
§ 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes.
Schöpfung, Verfall, Wiedererwachen, neue Blüte des Volksliedes
hielt stets mit unseren nationalen Schicksalen gleichen Schritt.
Die Mehrzahl der heute noch bevorzugten Volkslieder verdanken wir
dem aufgeweckten, mutigen, lebensfrischen Geiste unseres Volkes a. im
Zeitalter der Reformation, dann später b. dem Wiedererwachen des
deutschen Nationalgeistes unter Friedrich dem Großen von Preußen, wie
c. in den Befreiungskriegen.
Wie schon bei Beginn des Minnesangs, so wurde das Volkslied
später immer mehr die Wurzel, aus welcher das Kunstgedicht heraussproß.
Während die Gebildeten seit Opitz die Weisen der alten und neueren
Volkslieder nicht mehr beachten zu sollen meinten, sie für unschön und roh
hielten (so daß sich diese nur noch auf der Straße, in der Schenke, im Wald
im Mund des gemeinen Volkes erhielten, dem sie ja auch entsprossen waren),
hat zuerst Herder, und sodann Goethe das Volkslied wieder zu Ehren gebracht
und auf die Bedeutung desselben hingewiesen. Herder hat bereits 1778 Volkslieder
aus allen Zeiten gesammelt und unter dem Titel „Stimmen der Völker
in Liedern“ herausgegeben, wodurch er als der erste zur Ausbildung des Volksliedes
anregte und Neubearbeitungen einzelner Volkslieder veranlaßte; z. B. von
Goethe: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, ferner „Wenn ich ein Vöglein
wär“, „So viel Stern am Himmel stehen“, „Guter Mond, du gehst so
stille!“ u. s. w.
Herders Stimmen der Völker enthalten Lieder 1. aus dem hohen Norden
(grönländische, lappländische, esthnische, lettische, litthauische, tartarische, wendische
&c.), 2. aus dem Süden (griechische, italienische, spanische, französische),
3. nordwestliche (aus Ossian, schottische, englische), 4. nordische (skaldische,
dänische &c.), 5. deutsche, 6. Lieder der Wilden (aus Madagaskar und Peru).
Die Bestrebungen Herders machten zuerst klar, wie Deutschland nach Lage
und Geschichte befähigt sei, der Herd einer Weltlyrik zu werden, um sich im
Geben und Nehmen mit allen Ländern in Beziehung zu setzen. Dem Vorgang
Herders folgten 1806 und 1808 Clemens Brentano und A. v. Arnim mit:
„Des Knaben Wunderhorn“, neu und in guten gereinigten Texten herausgegeben
von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius 1874 ff. ─ Goethe urteilt [97]
von des Knaben Wunderhorn in der Jen. Allg. Lit. Ztg. 1806. No. 18. 19:
„Von rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Haus, wo frische Menschen
wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher
zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblicke
der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes
oder Anregendes fände &c.“
Es schlossen sich an: die Sammlungen von Volksliedern, welche von der
Hagen und Büsching herausgaben, sowie Uhlands Deutsche Volkslieder (1844.
1882). Karl Simrocks Deutsche Volkslieder (1859), H. Pröhles Weltliche und
geistliche Lieder (1855), O. L. B. Wolffs Hausschatz der Volkspoesie (4. Aufl.
1853), Meiers Schwäbische Volkslieder, Kleinpauls Volkslieder, Erks Liederhort,
Kretzschmers, Soltaus, Körners und besonders v. Liliencrons historische Volkslieder.
Einen treuen Pfleger hat das Volkslied in unserer Zeit neben Böhme,
Birlinger, Crecelius, Hoffmann von Fallersleben, v. Ditfurt, Süß, Mittler,
Schlossar, auch an Georg Scherer, dem Dichter zarter und sinniger Lieder,
gefunden. Aus den verschiedensten Heimstätten deutschen Lebens trug er einen
Volksliederschatz zusammen, und mit diesem in der Hand förderte er die seit
Herder bei uns angehäufte Litteratur der Volkspoesie. Die erste Ausgabe
seiner illustrierten Pracht-Ausgabe des deutschen Volksliedes trug den Titel:
Die schönsten, deutschen Volkslieder mit ihren eigenen Singweisen.
Die Litteratur des Volksgesanges hat in der Neuzeit übrigens auch bei
anderen Nationen reiche Vermehrungen erfahren. Was außer den im Text
Genannten noch Elwart, Eschenburg &c. für den deutschen, ─ Percy, Pinkerton,
Walter Scott, Jameson für den englischen und schottischen Volksgesang thaten,
leistete Fauriel für den neugriechischen.
Geijer und Afzelius haben 1814─1816 die Volkslieder der Schweden
in 3 Bänden mit 3 Heften Musikbeilagen herausgegeben und das letzte Glied des
germanischen Volksgesangs ergänzt, zu welch letzterem wir außer dem eigentlich
deutschen, den so reichhaltigen skandinavischen, englischen und schottischen zählen.
England, Schottland, Deutschland und Skandinavien bilden hinsichtlich der
Sprache bekanntlich einen eigenen Stamm, der sich von den romanischen
Sprachen unterscheidet.
Diese Länder haben aber auch in ihrer älteren Volks-Poesie so viel Verwandtschaft,
daß man sie als ein eigenes großes Ganze betrachten kann. So
viel auch die Sammlungen dänischer Volksgesänge von Sofranson Wedel, Peter
Syw und besonders von Ryerup in Verbindung mit Abrahamson, Rahbeck und
Rasmussen in bezug auf schwedische Volkslieder ergaben, so verdienstlich ist die
obige Sammlung Geijers und Afzelius' in deren Volksliedern der jambisch=anapästische
Rhythmus vorherrschend ist, und die eine große Mannigfaltigkeit in der
Zeilenlänge, in der Folge der Silben, in der Strophik, ähnlich wie in der
Neuzeit die Gedichte des Königs Oscar II. von Schweden-Norwegen, aufweisen.
Arndt und Kosegarten (Blumen) haben das schwedische Volkslied zuerst
nach Deutschland verpflanzt; Herder hat nur dänische, aber keine schwedischen
Volkslieder seiner Sammlung beigegeben.
Eine neue Sammlung schwedischer Volkslieder hat Arwidssohn in Stockholm
1834 herausgegeben, die Mohnike 1836 (Stuttgart) in's Deutsche übertrug.
Leider wird trotz aller Bemühungen ─ auch der verwandten Kulturländer
─ der größte Teil des versunkenen Schatzes mittelalterlichen Volksgesanges
ungehoben bleiben. Doch hat Uhland wenigstens die Volkslieder des
16ten Jahrhunderts in ziemlicher Reichhaltigkeit nach Handschriften und alten
Drucken zu vereinen gewußt. Er behauptet von den deutschen Volksliedern (in
„Alte, hoch- und nieder=deutsche Volkslieder“ S. 10), daß ihnen der einheitliche
Geist, der gleiche Schnitt, der durchgehende, volkspoetische Charakter fehle, fand
dafür aber die lebensvolle Erscheinung interessant, wie der deutsche Volksgesang
vom 13ten Jahrhundert an mehr und mehr der wichtigsten Ereignisse und Zeitfragen
sich bemächtigte und so allgemein und wirksam wurde, daß Luther selbst
die Psalmen zu Volksliedern stimmte u. s. w.
§ 59. Das Volkslied der letzten Decennien.
Jnteressant ist die Wahrnehmung, wie das moderne Volkslied der
letzten Decennien genau so wie das früheste Volkslied je nach dem
Volksbedürfnisse auftaucht, erst leise und schüchtern, dann lauter und
sicherer, bis es endlich überall Eingang in Herz und Haus gefunden hat;
wie ferner trotz unserer Presse auch bei uns erst niemand den Dichter
des Volksliedes kannte, wie der eine es vom andern hörte, dieser vom
dritten und vierten, bis es zuletzt die Kinder in allen Orten und
Straßen sangen, bis es durch die Zeitstimmung, durch große politische
oder soziale Ereignisse geweckt mit einem Schlag zur Geltung kam.
Wir liefern den geschichtlichen Nachweis:
Es war Ende der vierziger Jahre, da ertönte aus allen Winkeln Deutschlands:
Schleswigholstein meerumschlungen (Gedicht von H. Straß, comp.
von Chemnitz). Es kam 1848 die Revolution. Wir kümmerten uns wenig
darum und jubelten in geschlossenen Reihen:
Daneben machte sich das sog. Thüringer Volkslied Platz, das alle deutschen
Volksschichten ergriff und durchklang. Das Jahr 1859 kam und brachte den
französisch=ital. Krieg. Deutschland machte zwar mobil, aber der deutsche Michel
dehnte sich höchst gleichgültig. Überall erscholl das Lied:
Es erklang kein allgemeines Volkslied mehr, bis 1863 Schleswig-Holstein
neu erwachte und in Deutschland aufging. Da schallte es 1867: „Jch bin
ein Preuße“ aus aller Soldaten und Preußen Munde. Jm übrigen Deutschland
sang man von der „schönen blauen Donau“ bis zum Wiener Krach. Der
Patriotismus erwachte und mit ihm das neue Volkslied. Es kam die Wacht
am Rhein. Schon 1840 war sie entstanden, als Frankreich zur Unterstützung
Mehemed Alis von Ägypten gegenüber der Allianz der Großmächte einen Krieg
in Aussicht stellte, der zugleich Frankreich die Rheingrenze wiedergeben sollte.
Man sang dazumal Beckers an Lamartine gerichtetes Rheinlied: „Sie sollen
ihn nicht haben.“ Man kannte die „Wacht am Rhein“ noch nicht, die 1854
erst vom Komponisten Wilhelm in Musik gesetzt wurde und langsam wuchernd
fortlebte, bis sie durch den französischen Krieg 1870/71 eine an die dämonische
Gewalt der Marseillaise von Rouget de Lisle erinnernde Macht erhielt und
ihren begeisternden, tyrtäischen Triumphzug durch ganz Deutschland hielt, ohne
daß man anfänglich den Dichter kannte. (Vgl. hierher S. 114 d. Bands.)
Kunstlied.
§ 60. Mission des Kunstliedes.
1. Jn unserer dem Volksliede feindlichen Zeit und angesichts der
wachsenden Kultur und Bildung unseres Jahrhunderts muß das Kunstlied
die Aufgabe übernehmen, das Volkslied teilweise zu ersetzen.
2. Es muß volkstümlich sangbar werden im Sinne der volkstümlichen
Kunstlieder Goethes, Heines, Uhlands u. a.
Unsere Eisenbahnen und Telegraphen als rastlos fortdrängende Kulturfaktoren,
ferner unser poesiefeindliches Cliquenwesen und unser Materialismus
drohen den letzten Schimmer eines gesund naturwüchsigen beschaulichen Lebens
und Seins zu erdrücken, in welchem das edle Volkslied fortlebte. Für die
Folge werden es nur wenige Fleckchen im gemeinsamen Vaterlande sein, wo
einzelne, naturfrische, urkräftige Menschen unberührt vom Parteigetriebe und der
prosaischen, modernen Kultur leben, bei welchen noch Gedanke und Gefühl mit
der Natur verschwistert bleiben, denen in Zeiten des Bedürfnisses ein Gott die
Zunge löst, damit sie aus Geist und Gemüt ihrer Nation heraus noch dichten
und singen, wie es dem Volksgewissen, dem deutschen Volksgefühl und dem unverkünstelten
Volkscharakter entspricht.
Jm Hinblick auf diese Thatsache, und angesichts der hohen Bedeutung,
welche das Volkslied für Poesie und Kultur, wie für Pflege des ästhetischen
Sinns, der Herzens- und Willensstimmung der Nation hat, muß das volkstümliche
Kunstlied an seine Stelle treten. Bereits haben die ersten Dichter der
Nation im Hinblick auf die große Wirkung der Volkslieder wie im Verein mit
dem Aufschwung germanischer Studien sich veranlaßt gesehen, volksliedartige,
volkstümliche Lieder zu dichten, den Ton des Volksliedes anzustreben, Gegenstände [100]
des Volksinteresses im Volkston zu besingen, und zuweilen sogar durch
den Dialekt eine engere Verbindung mit dem Volke zu erzielen. Diese vom
Hauch der Volkspoesie belebten Dichter sahen ein, daß ─ wenn sie Poesieen
im Geist und Sinn der alten Volkslieder schaffen wollten ─ sie das poetisch
gestimmte Volksleben in ihren Liedern entfalten mußten. So drangen sie mit
einzelnen volkstümlichen Gesängen in den gesunden Kern des Volkes ein, fanden
Anerkennung, und ihre Lieder wurden wie ehemals die Volkslieder allüberall
gesungen. (Man vgl. beispielshalber „Sah' ein Knab' ein Röslein stehn“ von
Goethe, „Frisch auf, Kameraden auf's Pferd, auf's Pferd!“ von Schiller, Der
alte Barbarossa von Rückert u. s. w.)
2. Nach dem Vorgang Goethes, Uhlands, Heines &c. muß sich unser Kunstlied
immer mehr von allem Geschraubten, Gekünstelten frei machen. Es muß
vor allem aus dem Jungbrunnen des edlen Volksliedes schöpfen. Die schöne
Linie, an welcher sich Kunstgedicht und Volkslied berühren, muß sein: volkstümliche
Empfindung und volksmäßige Sangbarkeit. Somit wird für die Zukunft
Ausgangspunkt und Ziel jedes echten Kunstliedes werden müssen: Volkstümliche,
echte, ungezierte Empfindung, die sich in Anschauung
umsetzt und wiederum Empfindung machtvoll zeugt!
§ 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes.
1. Schon im Mittelalter unterschied man das weltliche und das
geistliche Lied mit ihren vielen Unterarten. Für das Kunstlied der
Gegenwart ist der Einteilungsmodus ein sehr verschiedenartiger.
2. Wir behalten die im § 48 aufgestellte Einteilungsweise bei.
1. Man teilt die Lieder in bezug auf ihren Stoff und Endzweck in geistliche
und weltliche Lieder ein. Die weltlichen Lieder zerfallen nach den Jahreszeiten
in: Frühlingslieder, Herbstlieder, Mailieder &c., nach den Tageszeiten: in
Morgen- und Abendlieder. Ferner spricht man von Nationalliedern, welche
Vaterlandsliebe und Nationalsinn zum Ausdruck bringen, oder bemerkenswerte
Ereignisse aus der Geschichte des Vaterlandes behandeln; von Kriegsliedern, die
zur Beharrlichkeit und Tapferkeit im Kampfe ermutigen; von moralischen,
welche Rechtschaffenheit und Tugend feiern; von Trink- und Gesellschaftsliedern,
die den freundschaftlichen Verkehr würzen; von Minneliedern, die besonders die
sanften Empfindungen der Freundschaft und Liebe zum Ausdruck bringen; von
Klageliedern, die traurige Erlebnisse schildern und beklagen u. s. w. Jedem
Volk, jedem Stande und jeder Altersstufe sind außerdem noch besondere Lieder
eigen, in denen sich ihr Lebensgefühl klar darlegt.
Nach den Ständen teilt man die Lieder ein in: Studentenlieder, Jäger=,
Soldaten=, Hirten=, Winzer=, Fischer- und Reiterlieder; nach Beschäftigung
und besonderen Verhältnissen in: Erntelieder, Schlachtenlieder, Wanderlieder,
Sehnsuchtslieder, Schlummerlieder &c. Endlich teilt man ein: in ernste und
komische Lieder. Nach den ihnen zu Grunde liegenden Veranlassungen [101]
und Stimmungen könnte man die Lieder Ermutigungslieder, Hoffnungslieder
u. s. w. heißen. Häufig teilt man die Lieder in Hinsicht auf ihren Jnhalt ein:
a. in subjektiv=individuelle, welche durch besondere eigene Lebensverhältnisse des
Dichters hervorgerufen wurden, b. in objektiv=individuelle, welche durch die
Verhältnisse einer zweiten Person entstanden sind. Eine andere Einteilung
rubriziert die Lieder nach ihrer Wirkung oder nach dem Gegenstand. Gegenstand
des Liedes kann jedes Gefühl sein; deshalb giebt es so viele Arten von Liedern,
als es Lebensverhältnisse, Stimmungen, Gefühle, Stände &c. giebt.
Das Kunstlied im Mittelalter war:
1. dem Frauendienste, dem Herrendienste, der Natur, und
2. der Gottesminne gewidmet.
Die alten Kunstdichter sangen (wie Uhland im „Märchen“ bemerkt):
Jhre Lieder hatten also entweder geistlichen oder weltlichen Jnhalt.
2. Diese Einteilung können wir in unserer Poetik beibehalten. Wir werden
somit im nachstehenden folgende Gruppen abzuhandeln haben:
A. Weltliches Lied.
1. Vaterlandslied.
2. Naturlied.
3. Liebeslied.
4. Komisches Lied.
5. Geselliges Lied.
6. Elegisches Lied.
7. Jdyllisches Lied.
B. Geistliches Lied.
1. Religiöses Lied.
2. Kirchenlied.
a. Bußlied.
b. Danklied.
c. Trostlied.
d. Gebetlied.
e. Loblied.
f. Glaubenslied.
Formen des Kunstliedes.
1. Die Vaterlandslieder sind der Begeisterung und der Liebe für's
Vaterland entsprungen und preisen die Freiheit und die Selbständig= [102]
keit eines Volkes, oder feiern die Männer, die zum Gedeihen des
Ganzen beigetragen haben.
2. Viele derselben wecken Kampfesmut und Siegesfreude. Man
teilt sie ein in: a. Vaterlandslieder im engern Sinn, mit den Unterarten:
Freiheitslieder, nationale Heldenlieder und Schlachtenlieder;
sowie b. Bardiëte.
1. Die besseren Vaterlandslieder sind stets in Zeiten der Gefahr entstanden
und wurden nicht selten durch Stimmung und Bedürfnis zu Volksliedern
erhoben.
Jm Befreiungskrieg zu Anfang des 19. Jahrhunderts rühmten Freiheitssänger
(patriotische Romantiker) zum Teil noch in der traditionellen alt=klassischen
Form das hohe Gut der Freiheit, für welche Deutschlands Jugend mit Begeisterung
eintrat.
Die politischen Lyriker der dreißiger und vierziger Jahre (Prutz, Herwegh,
Kinkel, Strachwitz), die echt patriotische Gesänge schufen, erhoben sich auch gegen
die bestehende Ordnung, wurden Schildträger der Partei, Sänger oder Vorläufer
der Revolution von 1848.
Machtvoll entfaltete sich das Vaterlandslied 1870─71, als französischer
Übermut uns den Krieg erklärte. Den gesamten deutschen Dichterwald beseelte
nur ein Ziel: Befreiung vom Erbfeind; alle Gesänge sind durchglüht von Vaterlandsliebe.
2. Als Beispiele bekannter guter Vaterlandslieder aus den erwähnten drei
großen Perioden des Wachstums und der Fruchtbarkeit derselben, sowie aus
früherer Zeit, erwähnen wir die folgenden, die als patriotische Volkslieder in
Aller Munde leben und in die Kommersbücher übergegangen sind:
a) Vaterlandslieder im engern Sinn.
(Arndt.)
(Becker.)
(H. Straß.)
(Uhland.)
(C. Hinkel.)
(Hoffmann von Fallersleben.)
(Derselbe.)
(Herwegh.)
(Schneckenburger.)
Freiheitslieder.
(Julius Mosen.)
(Körner.)
(Arndt.)
(Schenkendorf.)
(Körner.)
(Rückert.)
[103]Nationale Heldenlieder.
(Gleim.)
(Wilibald Alexis.)
(Zedlitz.)
(Arndt.)
(Rückert.)
(Derselbe.)
Schlachtenlieder und Soldatenlieder.
(Körner.)
(Uhland.)
(Körner.)
(Körner.)
(Körner.)
(Schiller.)
(Emil Rittershaus.)
b) Bardiet (sprich: Bar=di=et).
Durch Klopstock, der eine gewaltige Vorstellung von der alten Bardendichtung
hatte, wurde unsere Litteratur mit dem Bardiet bereichert. Man versteht
unter Bardiet (auch Bardit ─ anklingend an den Namen Barden, den
die Dichter der keltischen oder gallischen Völker als besonderer Stand trugen)
Kriegs-Gesänge, deren Jnhalt aus der Bardenzeit ist, oder die wenigstens so
gedichtet sind, daß man sie für Bardengesänge halten könnte (vgl. Bd. I. S. 25).
Nach Klopstocks Vorgang bildete man im 18. Jahrhundert viele Bardiete, also
Lieder, welche den fingierten Charakter der alten Bardenlieder tragen sollten,
z. B. eines Ossian, des Repräsentanten des schottischen Bardentums, den man
den Kaledonischen Barden nannte.
Wenn dieselben auch nur von vorübergehender Bedeutung waren, so können
sie doch ihre Stellung und Einregistrierung in die Poetik verlangen. Sie dienten
zur Erweckung der Vaterlandsliebe, eines wesentlichen Elements deutscher Lyrik,
und sie trugen dazu bei, Sinn für nationale Gesänge zu schaffen. V. Gerstenbergs
(† 1823) Bardiet „Lied eines Skalden“ ist ebenso ergreifend, als die
Bardiete Klopstocks (Hermannsschlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns
Tod) oder die Bardiete Kretschmanns († 1809), den man „Rhingulf der
Barde“ nannte.
Klopstock hat dramatische Dichtungen geschaffen mit eingefügten lyrischen
Liedern (Bardiete im engeren Sinn), welche Vaterländisches aus der Zeit und
im Geist der Barden darstellen. Diesen Dichtungen gab er ebenfalls den umfassenden
Namen Bardiete. Da das Dramatische in denselben nur den Rahmen
und die Einleitung in die lyrischen Partieen bildet, so sind sie ─ wie die
übrigen Bardiete ─ an dieser Stelle zu erwähnen. Neuere Kriegssänger sind im
Unrecht, ihre gewöhnlichen Soldatenlieder als Bardiete einzuführen. Da dies
auch früher geschah, so bildete sich mit Recht eine Opposition gegen die Bardengesänge
überhaupt, und bekannt ist die komische Manier, in welcher Lichtenberg,
Kästner &c. gegen das überhandnehmende „Barden-Gebrüll“ loszogen.
Die Nachahmer des Klopstockschen Bardensanges (Kretschmann [† 1809],
Denis [† 1800, Wiens Befreiung], Mastalier in Wien [† 1795]) bezeichnet
man vorzugsweise als die deutschen Barden. Sie bemühten sich, im Sinn und
Geist der alten Barden zu dichten, sie teilten ihre patriotischen Gefühle in antiken
Formen mit und wählten meist deutsche Helden und Fürsten zum Gegenstand
ihrer Gesänge.
Beispiel des Bardiets:
Laudon, von Mastalier.
[105]
[106]
(Vgl. Laudon, von Janko. Wien, Braumüller 1881. S. 24.)
Litteratur des Vaterlandsliedes.
Die verbreitetsten, zum Teil durch ihre Melodien zu Volksliedern gewordenen,
patriotischen Gesänge schufen bei uns: Arndt (Was ist des Deutschen Vaterland?
Was blasen die Trompeten? Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Sind wir vereint
zur guten Stunde. Deutsches Herz, verzage nicht. Aus Feuer ward der Geist
geschaffen. Durch Deutschland flog ein heller Klang), Körner (Leier und Schwert.
Viele Lieder daraus sind von Himmel, K. M. v. Weber u. a. in Musik gesetzt
worden und werden noch heut zum Teil nach Volksweisen gesungen, z. B. Vater,
ich rufe Dich. Du Schwert an meiner Linken. Das Volk steht auf. Was
glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hör uns, Allmächtiger!), Schenkendorf
(Frühlingsgruß an das Vaterland. Landsturm. Schill. Soldaten-Morgenlied.
Die deutschen Städte. Freiheit die ich meine), Rückert (vgl. die Sammlung:
Kranz der Zeit), Stägemann (Siegeslied ist oft erklungen), Adolf Follen
(Vaterlandssöhne, traute Genossen!), Karl Follen (Brause, du Freiheitssang),
A. Binzer (Wir hatten gebauet), Karl Göttling (Stehe fest, o Vaterland!),
Uhland (Wenn heut' ein Geist herniederstiege). Die politischen Lyriker der 30er
und 40er Jahre: Herwegh (Jch bin ein freier Mann und singe; Reiterlied &c.),
Hoffmann von Fallersleben (Mein Vaterland), Robert Prutz (Die Mutter des
Kosaken; Noch ist Freiheit nicht verloren), Dingelstedt (Lieder eines kosmopolitischen
Nachtwächters), Freiligrath (Neue politische und sociale Gedichte), Strachwitz
(Die patriotische Hymne: Germania), Julius Rodenberg (Geharnischte Sonette),
Heinr. Zeise (Kampf- und Schwertlieder), Strodtmann (Schleswig-Holstein), Zedlitz
(Totenkränze, vgl. Bd. I. S. 560. Sein Soldatenbüchlein enthält patriotische,
der italienischen Armee gewidmete Gedichte), Anastasius Grün (Spaziergänge
eines Wiener Poeten, österreichische Zustände tadelnd), Alexander, Graf von Württemberg
(gen. Sander: Lieder eines Soldaten im Frieden), Karl Beck (Gepanzerte
Lieder, politische Zeitfragen behandelnd), Geibel (Patriotische Sonette, z. B. „Für
Schleswig-Holstein“), v. Gaudy (Kaiserlieder), Kugler (Vaterländisches Trinklied),
A. Knapp (Spielburg; Barbarossa und Saladin), Grüneisen (patriotische Lieder
und Romanzen z. B. Eberhard mit dem Barte), K. J. Simrock (Drei Tage und [107]
drei Farben), Moritz Hartmann aus Böhmen (Kelch und Schwert), Th. Fontane
(Männer und Helden, eine Sammlung von Preußenliedern), G. v. Meyern
(Welfenlied &c.). Aus der neuesten Zeit durch den letzten Krieg hervorgerufene
politisch=patriotische Lyriken schrieben: Oskar v. Redwitz (Lied vom neuen
deutschen Reich. Nicht alle Sonette dieses Cyklus sind rein lyrisch. Bei vielen
ist die lyrische Sonettenform zur epischen Darstellung verwandt), G. v. Vincke,
W. Schröder, A. Pichler, Eug. Labes, E. Kauffer, K. Gutzkow, Herm. Grieben,
E. Förster, K. Elze, C. Beyer, G. Heusinger, Edm. Höfer, F. Hofmann,
W. Jensen, O. Marbach, M. Matzerath, Alfr. Meißner, M. Remy, O. Roquette,
E. Scherenberg, A. Stern, Fr. Storck (Alldeutschland hoch!), Adolf Stolterfoth,
A. Träger, Heinr. Viehoff, R. Waldmüller, F. Wehl, W. Winckler, Müller von
Königswinter, Müller v. d. Werra, Pläschke, v. Gottschall, Julius Grosse, Karl
Hackenschmidt, Georg Hesekiel, Marie Jhering, H. Lingg, Emil Rittershaus,
Julius Sturm, Rod. Benedix (Soldatenlieder), Moritz Blankarts (Kriegs= und
Siegeslieder), Fr. Bodenstedt, M. Carriere, Joh. Fastenrath, K. Gerok, Kl.
Groth, R. Hamerling u. A.
Als Sammlungen der politisch=patriotischen Lieder der Neuzeit sind zu
nennen: a. Alldeutschland von Müller v. d. Werra, b. Kriegspoesie aus den
Jahren 1870─71 (Mannheim bei Schneider), c. die bei Lipperheide in Berlin
erschienene Sammlung mit Autographen der Dichter &c.
Die Naturlieder sind aus dem Gefühl für das Ländliche, für
das Jdyllische und für die Natur hervorgegangen. Jn ihnen fällt das
Leben des Dichters mit dem Leben in der Natur zusammen. Alle
Regungen, welche die Natur durchziehen, durchzucken auch ihn. Man
hört bei den Naturliedern gleichsam die Dorfglocken ertönen, die den
Gruß der Liebe und des Friedens vermitteln, man sieht die Sommervögel
flattern, hört die summenden Jmmchen schwirren. Man nimmt
das Erwachen der Natur im Frühling, ihr Ersterben im Winter wahr.
Goethe und Rückert haben die Natur in unvergleichlicher Weise besungen.
Einer der hervorragendsten Naturdichter neben diesen hellstrahlenden Genien
ist der weniger bekannte Hölderlin (1770─1843). Er ist Naturdichter nicht
sowohl deshalb, weil die Natur der vorwiegende Stoff seiner Gedichte ist, weil
er die Erde, das Meer, den Äther, die Flüsse und die Bäume besingt, sondern
deshalb, weil die Versöhnung und Vermählung der Natur mit dem Geiste
sein künstlerisches Grundproblem bildet, auf dessen Lösung er vom ersten Erwachen
seines Genius bis zum Versinken desselben in die Nacht des Wahnsinns
hinarbeitete. Er faßte dieses Problem nicht etwa nur ästhetisch, sondern nahm
dafür von vornherein in echt antikem Geiste den ganzen Menschen in Anspruch.
So finden wir bereits unter den Erstlingen seiner Muse vor einer Hymne an
die Schönheit (1791) das bedeutsame Wort Kants: „Die Natur in ihren [108]
schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffrenschrift
ist uns im moralischen Gefühl verliehen.“ Von diesem Gefühl ist zu
verstehen, was er in dem tiefsinnigen prosaischen Fragment „Grund zum
Empedokles“ sagt: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch
entgegengesetzt. Der organischere, künstlichere Mensch ist die Blüte der Natur,
die selbstlose Natur, wenn sie rein gefühlt wird von rein organisierten, rein
in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“
Hölderlin feiert die Natur als die „allduldende“, denn sie duldet nicht allein
das in ihr selbst vorhandene Übel, sondern auch den an ihr und sich irrgewordenen
Geist, von dem sie gleichwohl ihre Erlösung allein zu hoffen hat.
Eigentümlich gefühlsinnig, mit Vorliebe für das Wunderbare sind noch
die Naturlieder des heiteren, seelenvollen, volkstümlichen und melodiereichen
schwäbischen Sängers Eduard Mörike. Wertvolle Naturlieder haben sonst noch
die unten in den Beispielen zu nennenden Dichter geliefert.
Beispiele der Naturlieder:
a. An die Natur.
(Friedr. Leop. Graf zu Stolberg, † 1819.)
b. Jm April.
(Geibel.)
[109]c. Frühling.
(Mörike.)
Weitere Beispiele bilden die Naturlieder von:
Lenau: Schilflieder. Der Eichwald. Frühlings Tod. Herbst.
Rückert: Der Winter auf dem Lande. Abendlied. Frühlingslied, und besonders
sein dithyrambisches Lüfteleben.
Goethe: An den Mond.
Moritz Hartmann: Erster Schnee.
J. Mosen: Der träumende See.
Eichendorff: Winterlied.
Tieck: Herbst.
Heine: Fichtenbaum und Palme.
Hoffmann v. Fallersleben: Abendlied.
Uhland: Maientau. Die sanften Tage.
Karl Beck: Frühling. Heimweh.
Julius Sturm: Frühlingsgespenster. Herbstlieder. Auf dem Wasser.
Robert Reinick: Sommernacht.
Jul. Rodenberg: Schönheit. Dämmerung.
Kinkel: Abendstille. Abendmahl der Schöpfung.
Rittershaus: Der Abendfalter. Nach dem Sturme.
Cäsar von Lengerke: Der frühe Mond.
Herm. Lingg: Mondaufgang. Waldnacht.
Alfr. Meißner: Jn der Gebirgswüste.
Gottschall: Am Strande. Die letzte Rose.
Otto Roquette: Wandergruß.
Fr. Storck: Wach auf! u. a. m.
1. Man nennt das Minne- oder Liebeslied auch erotisches Lied
(von Eros == Amor). Seinen Jnhalt bildet die Liebe. Das Liebeslied
erschließt das Herz des Lyrikers in seinen geheimsten Tiefen; es
enthüllt die leisesten Ahnungen und die zartesten Regungen des beseligenden
Liebesgefühls. Daher sind seine Töne die zartesten und innigsten, die
anmutigsten und heitersten und zugleich die erwärmendsten. Das Liebeslied
ist der Spiegel der keuschen Liebes-Einfalt in ihrer sonnigen Klarheit.
Rückerts Liebesfrühling ist das Musterbuch der Liebeslieder, das
Evangelium der Liebe. Er hat für die gesamte Lyrik eine erlösende,
bahnbrechende und vorbildliche Mission erreicht.
2. Die Bedeutung des Liebesliedes soll man nicht unterschätzen.
[110]1. Zur Zeit des historischen Minnesangs, welcher eine fortschwingende
Welle jener durch die Troubadours angeregten Lyrik war, galt die Verehrung
der Frauen als eine besondere Tugend, welche im Kultus der heiligen Jungfrau
ihren Gipfelpunkt und ihre höchste Veredlung erreichte. Es gehörte zu
den Eigenschaften eines echten Ritters, im Herzen eine Dame zu tragen, für
die er in inniger Verehrung (Minne) erglühte, die er schützte und die er im
Minneliede verherrlichte. Daher fiel mit der Blüte des Rittertums die Blüte
des Minnelieds zusammen.
Es giebt seit dem Minnesang kaum einen Lyriker, der nicht Liebeslieder
geschaffen hätte, da die Liebe das treibende Agens für unser ganzes Leben ist.
Jean Paul spricht: Jeder Jüngling, sogar der prosaische, grenzt an den
Dichter ─ wie die Jungfrau eine kurzblühende Dichterin ist, beide wenigstens
in der Liebeszeit; oder vielmehr, die reine Liebe ist eine kurze Dichtkunst, wie
die Dichtkunst eine lange Liebe.
H. Heine sagt bezüglich des Gegenstandes des Liebesliedes: Die Engel
nennen's Himmelsfreud', die Teufel nennen's Höllenleid, die Menschen nennen
es Liebe.
Und Rückert, der nach Walther von der Vogelweide die zartesten und
innigsten Minnelieder sang, und der neben Chamisso in Frauenliebe und Leben
die der weiblichen Seele eigene Fülle an zarten Gefühlen am schönsten und
reichsten zum Ausdruck brachte, ruft aus:
2. Trotz der hohen Stellung des Liebeslieds findet man nicht selten
geringschätzige Urteile über dasselbe. Eine energische Verteidigung der Liebeslyrik
hat Th. Winkler der Redaktion der „Neuen Dichterhalle“ gewidmet, als
diese dem Liebesliede die Aufnahme in ihr Dichterjournal erschwerte. Warum,
so ruft Winkler in hochgradiger Entrüstung aus, soll die Liebeslyrik ausgeschlossen
sein? Jst diese Gattung der Poesie plötzlich in Bann und Acht
gethan? Oder ist das Gebiet etwa so abgegrast und ausgebeutet, daß kein
neuer, frischer Halm mehr darauf zu sprossen vermag? Bildet man sich wirklich
ein, daß mit Heine, Lenau, Rückert, Geibel &c. alles gesagt und poetisch ausgestaltet
worden sei, was je eine Menschenbrust im Gefühlssturm der Liebe
bewegen könne? Ein unbefangener Blick auf die neuere Produktion in der Lyrik
ergiebt, daß gerade das Kapitel des Liebesliedes die duftigsten, farbenprächtigsten
Blüten getrieben hat, Blüten, die trotz aller lyrischen Großmächte ihr
volles Recht haben, im Garten der Dichtkunst zu stehen und daselbst Freunde
und Verehrer zu finden. Eine Dichterhalle ist daher keinesfalls befugt, hier
eine Grenzsperre einzuführen. Nur sichten und sondern soll ihre Redaktion unter
den Einläufen. Jn der erotischen Lyrik ist die äußerste Strenge geboten, weil
sie der frequentierteste Tummelplatz des Dilettantismus ist. Es gehört in
manchen Kreisen zur Mode, ja, manche Menschen geben sich damit den Anschein [111]
einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer
Nennung des Wortes „Lyrik“ mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht
befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne
der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten
Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat
und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf:
Liebeslieder mag Niemand mehr! ─ So lange es noch liebende Herzen und
empfindungsfähige Gemüter auf Erden giebt, so lange es dem Schachergeiste
unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu
zwingen, so lange wird ein wahrhaft poetisches, ein wahrhaft empfundenes und
künstlerisch ausgestattetes Liebeslied noch immer einen Wiederhall finden, wenn
auch nicht unter der feilschenden Menge des Marktes.
Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour,
welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte:
sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel,
dessen Zartheit und Milde ihm die Anerkennung und den Ruhm eines unserer
größten Lyriker sichern:
Wie herrliche Blüten die erotische Lyrik auch noch in unserer Zeit zu
treiben vermag, beweisen unter vielen Liebesliedern hervorragender Dichter der
Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann,
die er in „Unter den Reben“ (Berlin. Lipperheide. S. 46─96) seiner
Amara George gesungen hat. Diese tiefempfundenen, formenschönen Gedichte
erscheinen wie eine Fortsetzung des Liebesfrühlings von Fr. Rückert, an den so
mancher süße Ton erinnert, ja, den man zu hören glaubt in den ergreifenden
Ghaselen: „Es führt das Schicksal Dich in weite Ferne, o bleib getreu!“, sowie
in „Jch liebe Dich nach Gottes ew'gem Schlusse ─ verlaß mich nicht!“
Beispiele des Liebesliedes:
(Rückert) [112]
(Alexander Kaufmann.)
(Uhland, Hohe Liebe.)
Weitere Proben bekannter Liebeslieder sind:
Rückerts Liedercyklus: Der Liebesfrühling.
Chamisso: Frauenliebe und Leben.
Redwitz: Einzelne Lieder des Epos Amaranth z. B. Zieht hin, ihr lieben, stillen
Lieder zu meiner süßen Amaranth! &c. (§ 121. V. d. Bds.)
Goethe: Freudvoll und Leidvoll (Liebesglück).
Salis: Wann, o Schicksal, wann wird endlich.
Schiller: An der Quelle saß der Knabe.
Tieck: Geliebte, wo zaudert dein irrender Fuß?
Geibel: O stille dies Verlangen. ─ Rühret nicht daran. &c.
Uhland: Was wecket aus dem Schlummer mich. Nachts. &c.
Bodenstedt: Lieder des Mirza-Schaffy z. B. Jch fühle Deinen Odem &c.
Mörike: Liebesvorzeichen. Hochzeitslied und neben anderen erotischen Gedichten
insbesondere das tief ergreifende Lied Agnes (Rosenzeit! wie schnell vorbei,
schnell vorbei, bist du doch gegangen! &c.).
E. Ferrand: Jugendliebe. Am Fenster.
Dingelstedt: Erste Liebe. Wiedersehen.
v. Gottschall: Liebes-Reminiscenzen.
G. Schwab: An die Geliebte.
Herm. Rollet: An die Geliebte.
Hoffmann v. Fallersleben: Liebe und Klagen.
Clemens Brentano: Nach Sevilla. Abendständchen.
Platen: Sonette.
R. Prutz: Reue. Vergessen. Die tote Braut.
Alfr. Meißner: An meine Rose.
Karl Beck: Weltgeist. Zur Nacht.
Lenau: Dein Bild. An die Entfernte. Das tote Glück. Frage. Das Mondlicht.
Cäsar von Lengerke: Liebesleid.
[113]Betty Paoli: Gabe. Jn einer Abendstunde. Gelöbnis. Bewältigung.
Heine: Der Stern der Liebe.
Fr. Storck: Von Liebe. Das Lied der süßen Liebe.
Karl v. Holtei: Frühlings-Atem weht entgegen.
Amara George: Das süße Wort. Was Liebe kann. Die Augen, die geweint. &c.
1. Das komische Lied nimmt irgend einen erheiternden, ergötzlichen
Gegenstand zum Stoff. Der Dichter fühlt sich in der gehobensten
Laune und singt aus ihr heraus.
2. Das komische Lied darf nie die zarte Linie des Schicklichen, d. i.
des ästhetisch Zulässigen überschreiten.
1. Der heiteren Seelenstimmung unserer Dichter sind eine Menge komischer
Lieder entsprungen, die schon durch ihren Titel Stoffgebiet und Tendenz verraten
und allbekannt geworden sind. Jch erinnere aus der großen Zahl derselben
nur an die folgenden komischen Lieder:
Ein lust'ger Musikante marschierte einst am Nil, o tempora o mores!
(E. Geibel). Als Noah aus dem Kasten war (Kopisch). Jch hab' mein Sach'
auf nichts gestellt (Goethe). Der Ostwind kam an's Schenkenthor; Mönch! die
Predigt schenk ich dir; Manch Jahr ist's her, seit mein letztes Buch versetzt; Die
Liebe fiel in's Grübchen am Kinn; Es ist der Kopf ein Luftgezelt (Rückert).
Die Hussiten zogen vor Naumburg (Seiffert). Das Essen, nicht das Trinken
bracht uns um's Paradies (Wilh. Müller). Grad aus dem Wirthshaus nun
komm ich heraus (Mühler). Ach! das Exmatrikulieren ist ein böses Ding, ja
ja! (W. Gabriel). Fürst Bismarck dem deutschen Manne (J. Meyer). Tragische
Geschichte (Chamisso). Krapulinski und Waschlapski, Polen aus der Polakei;
Krambambuli, das ist der Titel; Jch bin der Fürst von Thoren; Ça, ça geschmauset!
laßt uns nicht rappelköpfisch sein; viele Lieder der soeben erschienenen
Sammlung Wechselnde Lichter von Schmidt-Cabanis; Vom Hund, der das
Sprechen gelernt hat (A. Kaufmann) u. a.
2. Bei aller Munterkeit, ja Ausgelassenheit, die ja das Horazische est
modus in rebus nicht immer zu beachten braucht, müssen sich komische Lieder,
welche nicht in's Bereich der Bänkelsängerlieder gehören wollen, innerhalb der
elastischen Grenzen feinen Taktes zu halten suchen. Der Hortus deliciarum
von Eichrodt enthält neben ergötzlichen Liedern (die ─ als Ausdruck des Hochkomischen,
Burlesken, Zwerchfellerschütternden, ja, auch des Niedrigkomischen im
Bänkelsängerton ─ das Tollste bieten, was je dem Humor entquollen ist) zum
Glück nur einzelne Parodieen (wie z. B. auf das Goethesche „Nur wer die
Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“: Nur wer die Milzsucht kennt, weiß was
ich leide), die selbst den zum Jokus aufgelegten Mann wie ein Unrecht an der
lieb gewordenen Form und wie ein Hohn auf das berechtigte, innige Empfinden
des Dichters berühren.
Beispiel des komischen Liedes.
Als solches wählen wir ein Lied V. v. Scheffels, welches rasch zum
beliebten Volksliede wurde und nach der Melodie „Die Hussiten zogen vor
Naumburg“ allüberall gesungen wird.
Der Dichter schreibt uns mit Bezug auf dasselbe: „Das Lied von der
Teutoburger Schlacht, ursprünglich ein lustig Studentenlied aus der Zeit, da
weder die Vollendung des Denkmals noch die der deutschen Einheit sehr wahrscheinlich
erschien, wurde 1875 zur Einweihung des Hermannstandbildes am
16. August neu ausstaffiert, umredigiert und mit einer volkstümlichen Melodie
versehen. Es wurde auch ─ eigentlich wider die eigentliche Stimmung bei
seiner Abfassung ─ das Festlied jenes Tages und als fliegendes Blatt mit Jllustrationen
und Noten vielfach verbreitet .... Daß viele Textänderungen vorgenommen
wurden, entspricht der veränderten Sachlage; von wem dieselben
herrühren, ist mir nicht erinnerlich“ ....
Demnach illustriert dieses Lied, wie kein zweites Volkslied, die Wahrheit
des am Schluß des § 51 d. Bds. vom Volksliede Gesagten. Mit großer
Kühnheit brachte das Volk unbekümmert um den Dichter seine Änderungen an,
ja, es dichtete sogar neue Strophen hinzu. Und in dieser neuen Volks-Redaktion
hat das Gedicht seit 1875 seinen Weg in die Volksliederbücher gefunden.
Wir halten es für ersprießlich, beide Formen zu vermitteln:
Originaldruck aus V. v. Scheffels
Gaudeamus. 32. unveränderte
Aufl. 1878. S. 44.
Die Teutoburger Schlacht.
Druck aus dem Allg. Reichs-Commersbuch
von Müller v. d. Werra.
Leipz. Breitkopf u. Härtel. S. 289.
Quinctilius Varus.
[115]
[116]
Man unterscheidet drei Arten von geselligen Liedern:
1. Gesellschaftliches Lied,
2. Anakreontisches Lied,
3. Skolion.
Diejenigen Gedichte, welche der Freundschaft, der Freude und
den Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens gewidmet sind, die
Gelegenheitsgedichte, wie Geburgstags=, Tauf- und Hochzeitslieder,
Weinlieder, Trinklieder, Wanderlieder u. s. w. nennt man gesellige
Lieder oder Gesellschaftslieder.
Die geselligen Lieder sind meist Gelegenheitsgedichte. Das ist kein Vorwurf,
denn die schönsten Dichtungen der deutschen Lyrik im Mittelalter, der
Provençalen, der Jtaliener und Franzosen sind Gelegenheitsgedichte. (Vgl.
§ 7 d. Bds.) Die Minnesinger wußten durch ihre Subjektivität den Gelegenheitsmotiven
eine poetische Seite abzugewinnen; weniger die schlesische Dichterschule,
die jede Taufe und Hochzeit besang, und deren Dichter ganze Bände
dieser Sorte von Gelegenheitsgedichten drucken ließen. (Vgl. Bd. I S. 34.)
Goethes Gelegenheitsgedichte waren die Vereinigung seiner Empfindung
mit dem wirklichen Leben. Nachdem Goethe den Namen und den Begriff des
Gelegenheitsgedichtes erklärt und gehoben hatte, ist Rückert geradezu als Virtuos
desselben bezeichnet worden, d. h. als ein Dichter, der, was ihm im Leben
und Studium in weitesten, engern und engsten Sphären aufstieß, in ein Gedicht
verwandelte. Aus der großen Zahl von Gesellschaftsliedern, in denen eigentlich
jeder Dichter etwas geleistet hat, und von denen manche zu Volksliedern wurden,
erwähnen wir nur: Fischart (Der liebste Buhle, den ich han. Uhlands Volksl.
214 A und B); Goethe (I. Bd. Ausg. 1840. S. 87 bis 124, z. B. Mich
ergreift, ich weiß nicht wie“; Mit Mädchen sich vertragen; Ergo bibamus;
das dem Volkston nachgebildete Stiftungslied: Was gehst du, schöne Nachbarin,
im Garten so allein?); Rückert (Einladung auf's Land; Entschuldigung und
Einladung; Verwahrung); Wilh. Müller (Die Arche Noah; Doppeltes Vaterland
&c.); Kugler (Gesellige Lieder); Justinus Kerner (Wohlauf! noch getrunken); [117]
Daumer (Liederblüten des Hafis); Usteri (Freut euch des Lebens); Kotzebue
(Es kann ja nicht immer so bleiben); Miller (Was frag ich viel nach Geld und
Gut); Hölty (Wer wollte sich mit Grillen plagen).
Hoffmann v. Fallersleben hat unter dem Titel: „Gesellschaftslieder des
16. und 17. Jahrhunderts“ eine Sammlung solcher Lieder herausgegeben &c.
Desgleichen im G. J. Göschenschen Verlag F. W. Freih. v. Ditfurth 100
Volks- und Gesellschaftslieder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit und
ohne Singweisen, sowie 100 unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts
mit ihren zweistimmigen Singweisen.
Beispiel des geselligen Liedes.
Trinklied von Hoffmann v. Fallersleben.
Drum trinken wir, von Fr. Storck.
Das Anakreontische Lied besingt meist Liebe, Wein und Lebensgenuß.
Es hat anmutigen, leichten, lyrischen, sangbaren Charakter
und liebt Maßhalten im feineren Takte. Es ist einfach, leicht, naiv.
Seinen Namen hat es von dem griechischen Dichter Anakreon (geb.
550 v. Chr), dessen 67 uns erhaltenen Liedern es nachgebildet ist.
Seit Gleim leichte Gedichte als „Lieder nach dem Anakreon“ (1766)
erscheinen ließ, sind eine Menge sog. anakreontischer Gesellschaftslieder erschienen.
Viele Anakreontika sind läppisch, matt und haben oft kaum den Stoff gemein
mit denen Anakreons, der es verstand, in frischen Farben leicht tändelnd seine
dichterischen Gedanken in anmutige Form zu kleiden. Die ursprüngliche Anakreontische
Versart bestand aus 2 steigenden Jonikern. Bei uns ist folgende,
der ersten Hälfte des neuen Nibelungenverses entsprechende Form am häufigsten:
⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑, wobei die 2. Verszeile (zuweilen auch die 1.) verkürzt sein kann.
Wilh. Buchholz bedient sich in seinem „Anakreontischen Liedchen“ (vgl. deutsche
Lyriker von Kneschke und Moltke. Leipzig, Theile 1873. S. 86) des viertaktigen
Trochäus.
Beispiel des anakreontischen Liedes:
Lied von Gleim.
(Vgl. noch Gleims Anakreontika Der Vorsatz, und Die schöne Gegend,
welch letzteres Lied mehrere Zeilen des obigen Liedes wiederholt, indem es beginnt:
u. s. w.)
Man versteht unter Skolien kurze Trinklieder, improvisierte Gedichte
bei Gastmählern und dergleichen.
Bei den Griechen waren Skolien lediglich Tischlieder oder Rundgesänge.
Bloß einzelne Tischgenossen sangen sie, wie sie ihnen Laune oder Talent eingaben. [119]
Man nannte sie auch Schlangenlieder, oder auch Zickzacklieder. Der
Skoliensänger mußte einen Lorbeer- oder Myrtenzweig in die Hand nehmen,
der sodann dem folgenden Sänger überreicht wurde. Sie folgten den ersten,
dem Lobe der Götter geweihten Gesängen und waren meist scherzhaft, satirisch,
launig. Jhr Gegenstand war Liebe und Wein. Zuerst wurden sie von Terpander
aus Antissa (650 v. Chr.) gesungen.
Es giebt Skolien, deren Versmaß ein besonderes und strenges ist. Meist
waren sie nur einstrophig, wie ja überhaupt die älteste Lyrik in Griechenland
oft mit einer Strophe sich begnügte.
Als Skoliendichter bei den Griechen sind zu nennen: Alkäos, Pindar,
Simonides. Die Skolien des Pindar waren länger als die übrigen und der
Chor tanzte zu ihnen einen Reigen.
Beispiel des deutschen Skolion:
(Rückert.)
(Trinkspruch.)
Man vgl. noch die vielen meist einstrophigen Rundgesänge und Trinksprüche
unserer Kommersbücher; ferner Matthissons Skolie (Gedichte S. 75) &c.
Man versteht unter elegischem Lied das Lied, welches sanfte, leidenschaftslose
Empfindungen erklingen läßt, z. B. ruhige Klagen über entschwundenes
Glück, zarte Wehmut, süße Sehnsucht. Sein Charakter
ist somit Ruhe und sanftes Gefühl.
Elegisch sind alle Lieder, welche der Sehnsucht und der Bangigkeit, dem
Trennungsschmerz und der Trauer klagenden Ausdruck verleihen, welche das Verwelken,
das Vergehen alles Schönen, Erhabenen, Edlen betrauern, welche zu
trösten versuchen, deren Grundton (man vgl. viele Liebeslieder, Heldenlieder,
Vaterlandslieder, Freiheitsgesänge &c.) Trauer um ein verlorenes oder wenigstens
um ein bedrohtes Jdeales ist.
Von der im heroischen Aufschwung einherschreitenden Elegie (§ 75) unterscheidet
sich das sanfte, gemütsinnige, elegische Lied dadurch, daß es der unmittelbare
Erguß voller subjektiver Empfindung, also reiner Lyrik ist, während [120]
die sinnig verweilende Elegie reflektierende Überlegung und Betrachtung zuläßt
und somit an der Grenze zwischen Lyrik und Didaktik steht. Der große überflutende
Schmerz kann sich in der Elegie, und auch in der Ode ergießen, nimmermehr
aber im zarten, in Wehmut und einer harmonischen Herzensstimmung
gipfelnden, ruhig dahinfließenden, den Schmerz in stiller Klage erklingen lassenden
elegischen Lied. Die Wehmut an sich gehört nicht unbedingt zum Wesen des
elegischen Lieds, obwohl dieses eine wehmütige Art der Auffassung sehr begünstigt
Beispiele des elegischen Liedes.
a. Die Schiffersfrau von Herm. Lingg.
b. Das Bächlein, von Rückert.
[121]
(Vgl. die elegischen Herbstlieder Rückerts Ges.=Ausg. II 576.)
Nach Jahren, von Alex. Kaufmann.
Weitere Beispiele des elegischen Liedes sind:
Uhland: Die Kapelle. Der Wirtin Töchterlein.
H. Heine: Das gelbe Laub. Ferner: „Jch hab' im Traum geweinet“ u. a.
Melchior Meyr: Frühlingstrauer.
Mörike: Verborgenheit.
J. Mosen: Sehnsucht.
Eichendorff: Das zerbrochene Ringlein.
Goethe: Rastlose Liebe.
Feuchtersleben: Es ist bestimmt in Gottes Rat.
Jul. Sturm: Jm Frühling.
Hoffmann v. Fallersleben: Die Leidtragenden.
Lenau: Blick in den Strom.
v. Leitner: Der Auswanderer.
Rückert: Bleibet im Lande. Das ruft so laut.
Bürger: Feldjägerlied.
Amara George: Verlassen und allein.
Fr. Storck: Ade, mein Lieb, ade! (Aus dem tief empfundenen Cyklus: Scheiden
und Meiden! Vgl. noch dessen Daheimlieder und Auf dem Friedhof in
„Lyrik“ 1876. S. 23 ff.)
Herwegh: Reiterlied.
Karl Siebel: Deine Sterne. Begrabe deine Toten.
Faust Pachler: Vor der Reise. Angekommen. (Jm lyrischen Cyklus: Rohitscher
Brunnenkur.)
(Es ist instruktiv, aus den früher gegebenen Beispielen die elegischen Gedichte
auszuwählen.)
Das idyllische Lied ist der Gegensatz des elegischen. Sein Charakter
ist heitere, frohe, hoffnungsreiche Stimmung.
Schiller sagt: „Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Jdeal der
Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten überwiegt und das
Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn
elegisch.“ Er fügt dann hinzu: „Entweder ist die Natur und das Jdeal ein
Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt
wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich
vorgestellt werden.“ Somit unterscheidet Schiller je nach dem Unterschied
in der Empfindungsweise zwischen elegischem und idyllischem Liede. Jn der
That ist das idyllische Lied der Gegensatz des elegischen, insofern das subjektive
Empfinden die Freude an der Natur mit so schönen Farben malt, daß das
Gefühl eines Gegensatzes zwischen Natur und Jdeal in uns gar nicht Platz
greifen kann. Das idyllische Lied gestattet keinen Blick auf den Unbestand des
Seienden, sondern lediglich den Blick auf jene freudigen Gefilde, welche der
schönen Zukunft entblühen. Jhm ist z. B. der Winter die Voraussetzung des
Frühlings, der Tod bringt ihm das Wiedersehen, der Schmerz die Freude.
Beispiele des idyllischen Liedes.
Frühlingsahnung, von Uhland.
Morgenlied, von P. A. Wolf.
Er ist's! von E. Mörike.
Weitere Beispiele idyllischer Lieder.
S. Dach: Der Mensch hat nichts so eigen.
H. Heine: Leise zieht durch mein Gemüt.
W. Müller: Frühlingseinzug. Das Wandern ist des Müllers Lust. Jch hört'
ein Bächlein rauschen. Halt! Kinderlust.
Geibel: Der Mai ist gekommen. Die Liebe saß als Nachtigall.
Goethe: Bundeslied. Tischlied. Vanitas &c.
Claudius: Weihelied. (Stimmt an mit hellem, hohem Klang.)
Hoffmann v. Fallersleben: Winters Flucht.
Eichendorff: Frühlingsgruß.
Schenkendorf: Unsere Muttersprache.
Uhland: Frühlingsruhe. Die Lerchen.
Arndt: Scherz.
Reinick: Heraus.
Tieck: Vogelgesang.
Aug. Stöber: Die Mutter.
Fontane: Guter Rat.
Pfarrius: Wie es den Sorgen erging.
Fr. Kugler: Wanderlied.
Faust Pachler: Kurmusik (a. a. O. S. 25, vgl. § 67) u. s. w.
(Die Bemerkung am Schluß des § 67 gilt auch für das idyllische Lied.)
Erblüht das Lied aus einer andächtigen Stimmung, oder stammt
sein Jnhalt aus der Religion, so kann man es ein andächtiges oder
geistliches Lied nennen. Seine zwei Formen sind: 1. das religiöse
Lied, 2. das Kirchenlied.
Das religiöse Lied besingt in würdevollem Tone einen religiösen
Gegenstand, oder beschäftigt sich mit den Gefühlen der Andacht, der
Reue, der Liebe zu Gott und dem Nächsten, ─ das Verhältnis zu
Gott in rein menschlicher Weise auffassend.
Erhebung des gläubigen Gemüts, zuversichtliches Hoffen und gläubiges
Vertrauen auf Gott ist der Jnhalt des religiösen Lieds. Es äußert sein religiöses,
gottergebenes Gefühl im Hause wie in der Natur. Es will sagen, was
des Menschen Brust bewegt, wenn er des allliebenden Vaters gedenkt, der ihn
mit täglichen Wohlthaten überhäuft. Aus jeder Verszeile ersieht man das Abhängigkeitsgefühl
des Dichters von einem allliebenden Wesen und den Glauben
an eine Vorsehung.
Beispiele des religiösen Liedes.
Leben wir, von Rückert.
(Sein letztes 1861 gedichtetes religiöses Lied.)
Die Nähe des Herrn, von Novalis.
(Vgl. Wenn ich nur ihn habe, von Novalis.)
Gott grüße dich, von Julius Sturm.
Weitere Beispiele des religiösen Liedes.
J. A. Cramer: Der menschliche Geist.
R. Reinick: Weihnachtsfest. (Der Winter ist gekommen.)
[125]W. Wackernagel: Der Christbaum.
K. Mayer: Glockenlaute.
Arndt: Himmelfahrt.
Grüneisen: Hinauf.
Fr. v. Schlegel: Der Ewige.
Herder: Das Saitenspiel.
Eichendorff: Wer hat dich, du schöner Wald.
G. Jakobi: Gott in der Natur.
Geibel: Morgenwanderung. Gute Nacht.
Wilh. Müller: Das Frühlingsmahl.
Ad. Stöber: Wachtelschlag.
A. Knapp: Der Morgenstern.
Spitta: Kehre wieder, kehre wieder.
K. Gerok: Kindergottesdienst.
Fr. Eggers: Trost, u. a.
1. Zum Kirchenlied wird das geistliche Lied, wenn es in Sprache
und Gedanken bestimmte Beziehungen auf die kirchlichen Dogmen und
den Kultus der bestimmten Konfession nimmt, wenn es, von epischen
Motiven ausgehend, von Jesu Leben und Leiden erzählt &c.
Das Kirchenlied unterscheidet sich vom geistlichen Lied, wie sich
das Volkslied vom Lied der Kunstpoesie unterscheidet. Es kann sich
Niemand hinsetzen, ein Volkslied oder Kirchenlied zu dichten; er muß
warten, ob sein Lied je zum Volks- oder Kirchenliede wird. Kirchenlied
== geistliches Volkslied, auch da, wo es einen bekannten Verfasser
hat. Weil es Anklang fand, ist es in die Volksgesangbücher gekommen,
und es fand Anklang, weil es das christliche Gesamtbewußtsein, das
christliche Gesamtbekenntnis aussprach.
2. Von großem Einfluß auf die Entwickelung des Kirchenlieds
war die hebräische Lyrik.
3. Luther wurde der Begründer des evangelischen Kirchenlieds.
4. Eine Epoche in der Geschichte des Kirchenlieds bildet Paul
Gerhardt. Die wertvollste Sammlung von Kirchenliedern hat Ph.
Wackernagel herausgegeben.
1. Das Kirchenlied hatte ursprünglich den Zweck, dem liturgischen Kirchengebrauche
zu dienen. Seine Bezugnahmen auf den kirchlichen Lehrbegriff befähigten
es, das Evangelium zu verbreiten und den neuen Glauben zu beleben.
Oft knüpfte der Dichter des Kirchenlieds an die Erzählung vom Leben
Jesu die Entwickelung jener inneren Zustände, welche die Betrachtung derselben
weckt. Jnsofern ist das Kirchenlied episch=lyrisch. Geht der Dichter weiter und
durchdringt er seine epische Grundlage mit einem subjektiven, persönlichen Motiv,
mit einem Seelenvorgang, der nur ihm gehört, dann ist sein Lied subjektives
geistliches Lied, nicht aber Kirchenlied der Gemeinde. Dies ist der Grund,
weshalb die katholische Kirche, bei welcher zur christlichen Geschichte ─ so zu [126]
sagen ─ noch ein Stück christlicher Mythologie in der Legende hinzu kommt,
mehr episch=lyrische Kirchenlieder, und die protestantische mit ihrer Verinnerlichung
des Gefühls mehr echt lyrische geistliche Lieder hat. Da, wo in der protestantischen
Kirche durch das geistliche Lied dogmatische und moralische Tendenzen verfolgt
werden, wird das geistliche Lied meist lyrisch=didaktisch. Dies findet man besonders
bei den geistlichen Liedern des 17. u. 18. Jahrhunderts, wo dogmatische und
moralische Bestrebungen die Signatur der ecclesia militans bildeten.
Nur wenige Dichter, wie z. B. Paul Gerhardt, Benjamin Schmolcke,
Gellert, Spee, oder bei den Herrnhutern Baptista von Albertini († 1831),
Garve († 1841) &c. blieben rein lyrisch und haben sich daher für alle Zeiten
den Namen geistlicher Lyriker gesichert.
2. Was die geschichtliche Seite des Kirchenliedes anlangt, so wurzelt dasselbe
in den lateinischen Gesängen der christlichen Kirche und der altchristlichen Hymnen.
Als Erbteil aus dem Schoße der Religion des alten Bundes hat die
junge christliche Kirche die Sitte des Psalmengesangs erhalten. Wie Jesus bei
der Stiftung des Abendmahls die bei der Passafeier gebräuchlichen Psalmen,
das große Halleluja, anstimmte, so folgten auch die Christen seinem Beispiel.
Der Gesang von Psalmen wurde fester Bestandteil ihres Gottesdienstes. Der
neue Jnhalt des gläubigen Gemüts suchte jedoch ein neues Lied und fand einen
begeisterten neuen Ausdruck in der Dichtung neuer Hymnen, die sich schon früh
neben dem alttestamentlichen Hymnus einbürgerten. Die altchristliche Hymnik
nahm von dem Geiste des klassischen Altertums neue Formen, Ausdrücke
und Bilder an. Die christliche Hymnendichtung wurde zum Kunstgesang, der
in vollendeter Form die Heilsthat Christi pries. Diesen Charakter behielt sie
bis zur Reformation. Weder Gregor der Große, der mit Vorliebe die klassischen
Versmaße gebrauchte, noch der Mönch Notker von St. Gallen, der die Sequenzen
einführte, hat der christlichen Hymnendichtung neue Bahnen gezeichnet.
Auch die Leiche (vgl. Bd. I. S. 620 ff.), welche als Grundlage des deutschen
Kirchenlieds zu betrachten sind und dem Volke Ersatz für die altheidnischen
Volkslieder bieten sollten, hatten nur die nüchternen, christlichen Wahrheiten zum
Gegenstande und blieben, unbeeinflußt von dem Geiste der hebräischen Lyrik,
meist matt und ohne Schwung. Die deutsche Gemütsinnigkeit sehnte sich nach
einem geistlichen Volkslied in der Muttersprache, und diese Sehnsucht war auf's
höchste gestiegen, als man sah, wie das Volk in Böhmen Lieder in seiner
Muttersprache sang. (Auch Ephraim Syrus hatte nach dem Vorgang des
Gnostikers Bardesanos syrische Kirchenlieder verfaßt, wie ja auch die griechische
und die armenische Kirche solche in eigener Sprache hatten.)
3. Da kam Luther, die wittenbergische Nachtigall, und setzte an Stelle
des lateinischen Hymnus das deutsche Kirchenlied, an dem sich die Gemeinde
beteiligen durfte. Er wurde der Begründer des Kirchenlieds (wenn auch nicht
der Begründer des Kirchenlieds in der Vulgärsprache, denn schon im 9. und
13. Jahrhundert finden sich Spuren deutscher Kirchenlieder. H. Hofmann teilt
in seiner Geschichte des deutschen Kirchenlieds, Breslau 1832, mit, daß man
1323 in Bayern lateinisch sang. Jm 14. Jahrhundert erst begann man die [127]
lateinischen Kirchengesänge in's Deutsche zu übersetzen. Einer der ersten Übersetzer
war der Benediktinermönch Hermann in Salzburg. Früher war das Singen
kirchlicher Lieder, wie das Bibellesen, von der Kirche verboten). Erst durch Luther
wurde das deutsche volkstümliche Kirchenlied auf die höchste Stufe seiner Vollendung
gebracht. So etwas Tiefreligiöses, Herrliches kann kein Volk aufweisen,
als die deutschen kirchlichen Lieder der Reformation. Sie boten gemeinsam
Erlebtes, Volksmäßiges in volksmäßigen Formen, oft in bekannten Volksliedermelodieen.
„Der Handwerksgesell sang sie bei seiner Arbeit, die Dienstmagd
beim Schüsselwaschen, der Ackersmann auf dem Acker und die Mutter sang sie
dem weinenden Kinde vor.“ (Kath. Zellin in der Vorrede zu einem Gesangbuche.)
Das war der Grund weshalb die Gegner Luthers dieses kirchliche
Volkslied so sehr anfeindeten. Von Luthers 38 kräftigen Kirchenliedern wurden
besonders die folgenden zu religiösen Volksliedern:
Ein großer Teil der Lieder Luthers geht auf eine Umarbeitung der lateinischen
Hymnen und geistlichen Volkslieder zurück. Aber Luther begnügte sich nicht mit
Nachbildungen. Er hat auch einzelne Psalmen für den gottesdienstlichen Gesang
umgedichtet. „Ein' feste Burg ist unser Gott“, ist als freie Schöpfung aus dem
46. Psalm hervorgegangen. Nicht verwendet hat er hierbei die kraftvollen Bilder
und poetischen Vergleichungen der Psalmen: diese mußten erst durch die Bibelübersetzung
dem Volke näher gebracht werden, bevor man sie für das Kirchenlied
benützen konnte. Beim geistlichen Lied, welches nicht für den Kirchengesang
bestimmt war, bediente sich Luther der Bilder und der Ausdrucksweisen der alttestamentlichen
Lyrik. Er hat das Verdienst, die Forderung aufgestellt zu haben,
daß das Kirchenlied subjektiv=lyrisch sein müsse und daß es sich an die alttestamentliche
Lyrik anzuschließen habe. Bei ihm findet sich nichts Gezwungenes,
nichts Eingebildetes oder Verdorbenes. Durch seine Bibelübersetzung hat er
die Förderung schriftgemäßer Poesie ermöglicht: das deutsche Kirchenlied erhielt
fortan das Element seiner geistigen und sprachlichen Ausbildung von seiner
Bibelübersetzung.
Angesichts dieser Bedeutung Luthers für das evangelische Kirchenlied ist
die Frage aufzuwerfen, wie die einzelnen Dichter den Forderungen Luthers
entsprochen haben. Der hohe Aufschwung, den das Kirchenlied durch Luther
genommen, war von kurzer Dauer. Jn den religiösen Streitigkeiten der Folgezeit
verlieren die Kirchenlieder ihren geistigen Schwung. Die folgende Periode
von Ringwaldt bis Heermann war Übergangszeit. Die Lieder sind teils noch
befangen in der trockenen, dogmatischen Weise der vorigen Periode, teils zeigen
sich die Anfänge subjektiver Poesie. Die Zeit des dreißigjährigen Krieges ist
eine Blütezeit des evangelischen Kirchenliedes. Es ist die Poesie der geängsteten [128]
und betrübten Seelen, die sich auf's engste anschließt an die Psalmen, denen
sie an subjektiver Gefühlswahrheit an die Seite gestellt werden kann. Äußerlich
wurde durch Martin Opitz eine Umwandlung insofern hervorgerufen, als derselbe
an Stelle der Silbenzählung Silbenmessung treten ließ. Bedeutsam
ist, daß auch er die Psalmen seiner Lyrik zu Grunde legte. Jhm folgten Paul
Flemming, Simon Dach und andere, die jedoch mehr den kernhaften Jnhalt,
als die Bilder der alttestamentlichen Lyrik zum Ausdrucke brachten. Dieser
Blütezeit reihte sich eine Zeit des Verfalls an: die Kraft der Nation war
durch den ungünstigen westfälischen Frieden erschüttert. Es lag die Gefahr nahe,
daß das Kirchenlied seine seitherige Glaubensinnigkeit und Frische einbüßen und
die innere Kraft mit einer äußerlichen Form vertauschen würde.
4. Da trat ein Mann auf, der dem Kirchenlied die geschwundene Frische
wieder zurückgab: Paul Gerhardt. Mit ihm beginnt eine neue Blüte des
Kirchenliedes. Seine sinnlich lebendige Darstellungsweise, seine würdige Sprache
verdankte er seinem Studium der alttestamentlichen Poesie. Die andere Seite
der Bedeutung Paul Gerhardts liegt darin, daß er der Urheber jener Richtung
wurde, welche im Kirchenlied neben dem Gemeindebewußtsein auch das persönliche
Gefühlsleben geltend machte. Die individuelle Lebendigkeit entfaltete sich
immer mehr, besonders durch Gellert, dessen bewußtes Zurückgehen auf die
hebräische Lyrik das Kirchenlied abermals in eine neue Periode lenkte. Er
stellte die Forderung Luthers auf, daß in den geistlichen Liedern die Sprache
der Schrift herrschen müsse. Klopstock nahm die Mittel seiner schwungvollen
rhetorischen Ausdrucksweise nicht aus der Schrift. Mit der Zeit der Aufklärung
beginnt eine trübe Zeit für das evangelische Kirchenlied: durch eine vermeintliche
Verbesserung und Umdichtung der alten Kirchenlieder werden dieselben
stark entstellt. Erst Ernst Moritz Arndt trat für die Befreiung des Kirchenliedes
von diesen unnatürlichen Fesseln ein. Als er ein neues geistliches Lied
sang und die romantische Schule wiederum das Element kindlicher Frömmigkeit
hineintrug in das verwässerte, mattgewordene Kirchenlied, da griff man
wieder zurück auf die Sprache der alttestamentlichen Lyrik.
Wir dürfen behaupten, daß das Kirchenlied überall da, wo es sich an
die ewig schöne Lyrik des alten Testamentes anschloß, an Kraft der Sprache,
an poetischem Schwung und gläubiger Jnnigkeit gewann, und daß es alsdann,
frisch und warm gesungen, auch um so tiefer zum Herzen des Volkes dringen
konnte.
Durch Luther erhielten seine Anhänger (1524) das erste Gesangbuch.
Erst spät wurde es verdrängt: 1696 durch ein holsteinisches, 1703 durch ein
hallesches, 1711 durch ein berliner, 1735 durch ein nordhäusisches. Zollikofer
verbesserte das Gesangbuch (1766); ihm folgten die Gemeinden in Bremen
und Lüneburg (1767), in der Pfalz (1773), Braunschweig (1776), Kopenhagen
(1782) u. s. w.
Wir können die Kirchenlieder einteilen in Bußlieder, Danklieder, Trostlieder,
Gebetlieder, Loblieder, Glaubens- oder Bekenntnislieder &c. Eine ähnliche Einteilung
zeigen alle evangelischen kirchlichen Gesangbücher, auf die wir hiermit verweisen.
Beispiele des Kirchenlieds.
a. Bußlied.
1.
2.
3.
4.
5.
(Nr. 290 des Württ. Gesangbuchs.)
b. Danklied.
, von Rinckart.(Württ. Ges.=Buch Nr. 2.)
c. Trostlieder.
, von Rodigast. (Ebenda Nr. 461.)
, von P. Gerhardt.
(Ebenda Nr. 462.)
d. Gebetlied.
, von Steegmann, † 1632. (Ebenda Nr. 7.)
[130]e. Loblied.
, von Luther.(Ebenda Nr. 1.)
f. Glaubenslied.
, von Arndt.(Ebenda Nr. 324.)
Litteratur des geistlichen Liedes.
Dichter bekannter geistlicher Lieder sind außer
Luther: Ringwaldt; Hans Sachs; Lazarus Spengler von Nürnberg (Wer
hofft auf Gott); Johann Graumann gen. Poliander († 1541: Nun lob, mein
Seel, den Herren); Johannes Heermann († 1647, der 400 Lieder schrieb,
darunter „O Gott, du frommer Gott“); Hasse von Hassenstein (O Welt, ich
muß dich lassen); Justus Jonas von Eisfeld (Wo Gott der Herr nicht bei
uns hält); Wolfgang Musculus von Bern (verfaßte 560 geistliche Lieder);
Johann Matthesius aus Rochlitz (Aus meines Herzens Grunde); Michael Weiß
(† 1540); Paul Eber von Wittenberg (Wenn wir in höchsten Nöten sein);
Nic. Decius von Stettin (Allein Gott in der Höh' sei Ehr); Ludw. Helmbold
von Mühlhausen (Von Gott will ich nicht lassen); Nic. Selnecker († 1592:
Laß mich dein sein und bleiben); S. Dach (O wie selig); Kaspar Bienemann
von Nürnberg (Jch weiß, daß mein Erlöser lebt); von Birken (Lasset uns mit
Jesu ziehen); Flemming († 1640); Nic. Hermann von Joachimsthal (Lobt
Gott, ihr Christen allzugleich); Mart. Schalling († 1608 zu Nürnberg: Herzlich
lieb); Phil. Nicolai († 1608 zu Hamburg: Wie schön leucht't uns der Morgenstern.
Wachet auf, ruft uns die Stimme) u. s. w. Auch fürstliche Personen
pflegten im 16. Jahrhundert das Kirchenlied, z. B. Johann Friedrich von
Sachsen (Wie's Gott gefällt); Wilhelm II., Herzog von S.=Weimar (Herr Jesu
Christ, dich zu uns wend); Albrecht von Brandenburg-Kulmbach (Was mein
Gott will); Karls V. Schwester, Marie von Ungarn (Mag ich Unglück); Luise
Henriette, Churfürstin von Brandenburg († 1667: Jesus meine Zuversicht);
Emilie Juliane, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt († 1706: Wer weiß, wie
nahe mir mein Ende) u. s. w.
Außerdem nennen wir den Jesuiten Spee von Lengenfeld († 1635, gab
heraus: „Trutznachtigall“, eine Sammlung religiöser Lieder, „die trotz einer
Nachtigall“ so schön klangen, „daß sie sich auch wol bei sehr guten lateinischen
und anderen Poeten dörfft hören lassen,“ und deren Gegenstand der Seelenbräutigam
Jesus ist). Paul Gerhardt, (einer der bedeutendsten Kirchenliederdichter,
† 1676, dichtete 120 Kirchenlieder, z. B. Befiehl du deine Wege. O Haupt
voll Blut und Wunden. Nun ruhen alle Wälder. Wach' auf, mein Herz und
singe); Burmeister († 1688: Es ist genug); Georg Neumark († 1681: Wer
nur den lieben Gott läßt walten); v. Bogatzky (schrieb über 400 geistliche Lieder);
Joh. Scheffler (Angelus Silesius, wie Spee ein katholischer Dichter, † 1677,
z. B. Mir nach, spricht Christus unser Held; ferner „Cherubinischer Wandersmann“
== geistliche Epigramme und Gnomen &c.); Tersteegen († 1769); Martin
Rinckart aus Eulenburg (Nun danket alle Gott); Albinus († 1679 zu Naumburg: [131]
Alle Menschen müssen sterben); Samuel Rodigast († 1703: Was Gott
thut, das ist wohlgethan); Joh. Frank aus Guben (Jesus, meine Freude);
Gellert (Auf Gott, und nicht auf meinen Rat. Wie groß ist des Allmächt'gen
Güte. Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. Gott, deine Güte reicht so weit.
Mein erst Gefühl sei Preis und Dank. Nach einer Prüfung kurzer Tage.
Wenn Christus seine Kirche schützt); Chr. Fr. Richter († 1711); Rambach
(† 1735); Benjamin Schmolcke († 1737; schrieb über 1000 geistliche Lieder
in den Sammlungen: Geistlicher Pestweihrauch, Freudenöl in Traurigkeit &c.);
Neumeister († 1756; schrieb über 700 geistliche Lieder); Lavater (Gott der
Tage &c.); Hippel († 1796: Dir hab' ich mich ergeben); Arndt; von Schenkendorf;
Gleim (Vater Unser); Uz (Der Erlöser); Cramer; Freylinghausen († 1730:
Wer ist wohl wie du); Hiller († 1769); Olearius († 1711); Klopstock (Auferstehn,
ja auferstehn wirst du. Selig sind des Himmels Erben); v. Zinzendorf
(† 1760: Jesu, geh voran &c.); Joh. Adolph Schlegel († 1793); Jacobi, Herder,
Hölty, Fr. L. Stolberg, Diterich († 1797, dichtete viele Kirchenlieder); Voß,
v. Moser († 1798: Es ist noch eine Ruh vorhanden); Novalis (Wenn ich
ihn nur habe. Wenn alle untreu werden); Mahlmann, Woltersdorf († 1761);
Christ. Sturm († 1786); Münter; Krummacher; Clemens Brentano; Eschenburg
(† 1820, dichtete viele Kirchenlieder); Funk († 1814); Schubart († 1791);
Schöner († 1818); Albert Knapp (einer der bedeutendsten Neubegründer des
gegen die Aufklärung protestierenden Kirchenliedes); Meister († 1814: Laß mir
die Feier deiner Leiden); Eichendorff, G. Görres, V. v. Strauß (Lieder aus
der Gemeinde für das christliche Kirchenjahr); Philipp Spitta (Psalter und
Harfe); Oskar von Redwitz, Geibel, Jul. Sturm (Nimm Christum); K. Gerok
(Sammlungen: Palmblätter, Pfingstrosen &c.); Agnes Franz, K. A. Döring,
J. Fr. v. Meyer, J. P. Lange, Heinr. Möwes, W. Hey, G. Jahn, Franz
Engstfeld, Albert Zeller, v. Albertini († 1831); Niemeyer († 1828); Garve
(† 1841: Preis dir, du aller Himmel); Ludw. Knack (Simon Johanna, hast
du mich lieb? eine Liedersammlung); Sachse; Hugo Hagenbach; Rochlitz († 1842);
Adolf Schults († 1858); Karl Rubel († 1868); Droste Hülshoff (katholische
Gedichte auf alle Sonn- und Festtage); Louise Hensel (katholische tiefinnige
Lieder, z. B. Müde bin ich, geh' zur Ruh'); Rückert (Saat von Gott gesäet,
zu reifen. Jn unsern Tagen ist zu erwähnen der Elsäßer Friedr. Weyermüller,
der treffliche geistliche Lieder im kirchlichen Volkston schrieb, sowie Ernst
Lehmann-Schkölen; Fr. Storck (Vertraue!); Angelika von Michalowska (Sammlung:
„Nach Gottes Rat“ 1861) &c. Die reichhaltigste Sammlung geistlicher
Lieder ist: Das deutsche Kirchenlied &c. von Ph. Wackernagel.
Lpz. 1864. 1. Bd. vom 4. bis 16. Jahrhundert (enthält Hymnen und
Sequenzen); 2. Bd. von Otfried bis zur Reformation (enth. Lieder und Leiche);
3. Bd. bis Luthers Tod; 4. Bd. von 1554─84 (von Eber bis Ringwaldt);
5. Bd. bis Anfang des 17. Jahrh. Dieser letzte Band enthält auch die
Lieder der Wiedertäufer und die der römisch=katholischen Kirche. ─ Erwähnenswert
ist vor vielen Sammlungen noch A. Knapps Evang. Liederschatz (3. Aufl.
1865).
II. Lyrik der Begeisterung.
§ 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik
und das Gemeinsame derselben.
Die Lyrik der Begeisterung hat folgende Formen:
a. Ode,
b. Lyrische Rhapsodie,
c. Hymnus,
d. Dithyrambus,
e. Elegie.
Da sämtliche hierhergehörige Formen durch die Römer und
Griechen zu uns gelangten, so unterscheiden sie sich nach Stoff, Sprache
und Schwung des Ausdrucks von unserem sangbaren Liede. Dieses
repräsentiert die Lyrik für jeden Stand und jeden Bildungsgrad. Die
obigen Formen dagegen wenden sich an die höchst gebildeten Kreise.
Sie sind die Lyrik der Gebildeten. Man kann sagen: Das Lied in
seinem höchsten Schwung wird zur Ode und zum Dithyrambus, das
geistliche zur Hymne oder zur lyrischen Rhapsodie, das elegische Lied
zur Elegie.
Die Abstammung der obigen Formen bedingt einen auf das Erhabene,
Majestätische, Feierliche, Große gerichteten, durch Phantasie und gedankliche
Thätigkeit geschaffenen ernsten Gegenstand, der durch die Subjektivität des Dichters
lyrische Umhüllung annimmt. Man erhält den Eindruck, als sei das Vorbild
der Griechen die Veranlassung zu einer den Dichter erfassenden Berauschung
und Begeisterung, zu einer Herbeiziehung der gewagtesten Bilder und des höchsten
Schwungs der Darstellung.
Das Lied geht mit seinem leichten, auf den Wellen des Gefühls geschaukelten
Stoff den direkten Weg vom Herzen zum Herzen: die Lyrik des
Aufschwungs wählt den Weg durch den Kopf zum Herzen.
Die Folge ist ein gegensätzliches Verhalten zum Lied. Während das Lied
einfache Darstellungsform, leichte fließende Sprache und allgemein verständliche
Bilder und Ausdrucksformen wählt, gefällt sich die Lyrik des Aufschwungs in den
kühnsten, nicht so leicht verständlichen Metaphern, in den verschlungensten Jnversionen
und im wohlberechneten künstlerisch gewundenen Bau der Rede. Note: Werkgr.: Lyrik des Aufschwungs Nicht
selten verschmäht die Lyrik des Aufschwungs unsere deutschen Kunstmittel, deutschen
Rhythmus und Reim, wohl aber entlehnt sie ihrer Abstammung gemäß häufig
die antiken Metren und den antiken Rhythmus.
Sanfte Gefühle, anmutende, allgemein verständliche Ausdrucksweise, weniger
feierliche Stoffe, Harmlosigkeit, naive Munterkeit sind der Charakter des Liedes;
die Formen des Aufschwungs verlangen die edelste, erhabenste Sprache: die
Göttersprache. Nicht allmählich ─ wie im Lied ─ erhebt sich hier das Gefühl,
sondern plötzlich, voll ungestümen Feuers. Man vgl. zum Beleg des Unterschieds [133]
zwischen dem Lied und den Formen der Begeisterung die erste Strophe
eines Frühlingslieds von Uz mit dem Anfang einer Hymne von Klopstock:
Gott im Frühlinge, von Uz.
u. s. w.
Die Frühlingsfeier, von Klopstock.
u. s. w.
Einfach und sinnig ist die anmutige Art, wie Uz im obigen Lied den
Frühling personifiziert. Der Dichter hält sich ─ etwa die letzte Zeile ausgenommen
─ frei von Überschwenglichkeit des Gefühls.
Dagegen ist Klopstock in seinem obigen Hymnus trunken von den Gefühlen
des Dankes und der schwärmerischen Bewunderung gegen den Schöpfer, der alle
Schönheiten hervorgerufen. Seiner Ekstase entspricht der Jdeengang und der
Rhythmus des ganzen Hymnus bei einfacher Sprache.
Hier ist nichts von Gleichheit in der Versart zu bemerken, nichts von einem
feststehenden Ton- oder Silbenmaß. Es herrscht je nach dem Verhältnis der
Naturscenen die bunteste Abwechslung. Auch das Kunstmittel des Reims wird
als überflüssige Zier und als Hemmnis weggelassen.
Der Dichter wollte ein Loblied singen; aber im Anschauen der Weisheit
und Größe Gottes sehen wir ihn von der Fülle und Menge seiner Gefühle überwältigt;
es wird ein Hymnus anstatt eines Liedes. Wie er sich im kühnen
Bild vom Ocean der Welten zum Tropfen am Eimer, zur Erde, herunterläßt
(denn wie der Tropfen zum Ocean, so verhält sich die Erde zum Weltall), so
erwähnt er im weiteren Verlauf vom Kleinen nur wieder das Kleinste, und
einige Frühlingswürmchen und sanft wehende Lüftchen reichen hin, seine Seele
in die Glut heißester Andacht zu tauchen. Wenn dann die Lüfte in Winde
sich wandeln und dunkle Wolken am Himmel daherrauschen und der brausende
Sturm den Wald neigen macht, da wird seine religiöse Begeisterung zur Vision.
Betend wirft er sich vor dem ihm sichtbar werdenden Gott nieder. Gott erscheint
ihm im fruchtbaren Regen, im Säuseln der Lüste, indem er den Friedensbogen
über die Erde ausbreitet u. s. w.
Ähnliche Vergleichungen, wie das Lied Uzens mit Klopstocks Hymnus [134]
ermöglichen z. B. das Rheinweinlied von Claudius und Klopstocks Ode Der
Rheinwein; ferner Schenkendorfs Lied Die Muttersprache mit Klopstocks Ode:
Unsere Sprache; Goethe's Winter mit Klopstocks Eislauf u. s. w.
§ 71. Die Ode.
1. Ode (ὠδή Gesang von ἀείδω singen) in der allgemeinen
Wortbedeutung bezeichnet eigentlich, ähnlich wie unser Wort Lied, jedes
sangbare Gedicht. Jm engeren, jetzt gebräuchlichen Sinn nennt man
jedoch Ode als Blüte der Lyrik nur das lyrische Gedicht, welches die
höchsten Jdeale in begeisterter Erregung dichterischer Empfindung besingt
und dem in die Sphäre des Jdealen erhobenen Gefühl einen
Ausdruck verleiht.
Jhr Charakter ist a. das Erhabene (z. B. das Naturerhabene
beim Anblick des Sternenhimmels in Schillers Ode: die Größe der
Welt), b. das erregte Gefühl, c. die schwungvolle Sprache und der
Bilderreichtum, d. der kunstvolle Strophenbau (die sogenannten Odenmaße).
2. Jn der Geschichte der Ode bildet Klopstock für uns die erste
Epoche: Sein Studium ist für den Odendichter unerläßlich.
1. Der Jnhalt der Ode ist wie der des weltlichen Liedes Liebe, Vaterland,
Sieg, Ruhm, Freiheit, Freundschaft, Tugend. Schon der Schluß des vorigen
§ 70 beweist, daß Ode und Lied den gleichen Gegenstand besingen können. Nicht
durch den Stoff unterscheidet sich also eigentlich die Ode vom Liede, sondern
durch den höhern Schwung, durch das Pathos (d. i. durch die leidenschaftlichere
Erregung des Gefühls), durch erhobenere Empfindung, durch glanzvolleren, sprachlichen
Ausdruck, durch Kühnheit der Wortbildung (Neologismen), durch künstlicheren
Periodenbau (Anakoluthieen, Jnversionen), durch prächtigere, schwungvollere
Bilder, durch kunstreiche, nach antiker oder moderner Form gebaute Strophen,
endlich durch eine, der größeren Begeisterung entsprechende, rhythmische Form,
welcher die ausgedehnteste Freiheit gestattet ist.
Unsere Ode richtet sich hauptsächlich auf Begebenheiten von nationalem, ja,
allgemein menschlichem Jnteresse; sie reiht ihre Gefühlszustände an eine Persönlichkeit
von unbestrittener, nationaler Achtung und Wertschätzung, um die Stimmung
und Stimme Aller zu vertreten; sie erstrebt das Jdeale und idealisiert,
um die Person oder Begebenheit über die gemeine Wirklichkeit emporzuheben.
Sie redet den von ihr besungenen Gegenstand oft an oder ermuntert und ermutigt
andere zu gleicher Begeisterung für diesen Gegenstand. Doch läßt sie
sich nicht in planloser Schwärmerei sorglos gehen, sondern ergreift die aufgestiegene
Empfindung, d. i. den bestimmten Zustand des Gefühls-Vermögens
und giebt ihm einheitliche, vollendete ästhetische Form.
Die höchste Höhe ist der Ode doch nicht zu hoch, das Erhabenste ist ihr
nicht zu erhaben. Jhr Gegenstand kann sein Gott und Natur; auch Fürsten,
Helden, Denker und Dichter in ihrer Bedeutung für die Menschheit kann sie [135]
besingen. Die Erhabenheit des Jnhalts macht es unmöglich, daß der Dichter
den Jnhalt in sich hineinziehe und in sein eigenes Gefühlsleben umsetze, vielmehr
singt der in seinem Jnnersten tiefbewegte Lyriker aus sich heraus, zu
seinem erhabenen Gegenstande empor. Die Lyrik der Ode ist eben keine kontemplativ
beschauliche ruhige Empfindung, sondern begeisterte Bewunderung. So
umschlingen sich in der Ode Subjektivität und Objektivität. Dies ist freilich
auch in der Hymne der Fall, aber man schränkt füglich den Begriff Ode ein,
indem man unter Ode nur diejenigen Gedichte versteht, welche mit höherer
Begeisterung Menschen und Personifikationen feiern; da wo ihr Gegenstand das
Allerhöchste ─ selbst die Gottheit ─ ist, nennt man die Ode Hymne (§ 73).
Gervinus sagt, was Minckwitz bestreitet: „Die Ode widersetzt sich und widerstrebt
allen logischen verständigen Grenzen und jeder Regel, die eine bestimmte
Ordnung da vorschreiben will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein
soll, der vor jedem Gegenstand anders thätig ist, wo sich eine Empfindung, ein
Gefühl aus sich selbst und nach seinem eigenen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos
erscheinenden Tonstück formen will.“
Und doch muß ─ bei allen Ausschreitungen der Phantasie ─ in der
Ode eine bestimmte Jdee regelvoll hervortreten, welche versöhnt, und die im
Metaphernschmuck prangende Ode zur Blüte der Lyrik erhebt. Note: Werkgruppe: Ode
Bei der Konzeption der Ode übt die Phantasie eine hervorragende Thätigkeit,
sie versetzt ─ nach Wackernagel ─ die Anschauung in's Gebiet des Erhabenen,
wo der Verstand nicht mehr der Phantasie nachmißt und nachrechnet.
Gefährlich ist die willkürliche Jdealisierung irdischer Wirklichkeit; hier wird die
Überwirklichung der gemeinen Wahrheit nur zu leicht eine Übertreibung und eine
Lüge, die Schöpfungen der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz
und ungeschickt vorkommen, daß er sich nicht gefangen giebt, sondern im Widerspruche
verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf welche der
Dichter ausging, die bloße Lächerlichkeit (nach Minckwitz' Mittheilung an
den Verfasser auch Humor) tritt, wo also nach dem bekannten Worte
Napoleons vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Darum stehen
die hebräischen Psalmisten und steht Klopstock soviel höher als irgend ein andrer
Odendichter, weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge
sind (bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge); darum
gerät auf der anderen Seite Ramler so oft in's Lächerliche (Prosaische), weil er
auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst schon groß und erhaben genug wäre
(z. B. wo er Friedrich II. besingt), dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden
ist, sondern immer noch höher und drüber hinaus möchte. Darum befremdet
Ramlers und vieler Andrer Muster: Horaz durch Humoristik und jene gesuchten
Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur wie ein Schraubenwerk
erscheinen, um den Gegenstand über sich selbst zu erheben.
2. Klopstock gab der deutschen Ode ihren eigentlichen Charakter durch
Erhabenheit der Bilder, schwungvolle feierliche Sprache, eigenartige Strophik u. a.
Nach Klopstocks Vorgang hat man sich zur Ode meist antiker Maße bedient,
die unserem deutschen Ohre oft wenig zusagen. Jndem man die Griechen nachahmte, [136]
verließ man den Reim und hielt sich streng an die klassische Form.
Den Reim überhaupt zu verwerfen, hat man aber kein Bedürfnis, da er eine
berechtigte, liebgewordene Eigentümlichkeit der deutschen Poesie geworden ist.
(Vgl. Bd. I. S. 530.)
Aus der ängstlichen Nachahmung wie auch der schlechten Beherrschung
der antiken Ode entstanden mehrfach erkünstelte Gedichte, bei denen die antike
Form die Hauptsache war, während doch die Ode der von Wort zu Wort dahin
wogende Erguß des erregten und erhaben gesinnten Herzens sein soll.
Die versuchte Einteilung in philosophische und heroische Oden ist unwichtig,
unwesentlich, ja falsch. (Vgl. übrigens § 73.)
Während auf der einen Seite das antike Maß für eine Ode nicht nötig
ist, erweiterte doch die Benutzung desselben das Gebiet der Oden. Es wird
nämlich auch ein Gedicht mit Liedesinhalt (und sanfterer Empfindung) Ode genannt,
sobald es in antikes Versmaß gefaßt ist. Dies wäre die liedartige Ode.
Beispiele der Oden.
Die Grotte der Nacht, von Uz.
(Ein etwas seltsames Bild.)
(Phantasus, ein Sohn des
Schlafs, stellt in Träumen
nur leblose Dinge dar, während
Morpheus, Gott der
Träume, nur menschliche
Gestalten anzunehmen vermochte.)
[137]
(Philomele, die Nachtigall,
wie Prokne, die Schwalbe,
beide verwandelte Töchter
des attischen Königs Pandion.)
Man beachte in dieser herrlichen gereimten Ode, wie der Dichter die vor
der Sonne fliehende Nacht einer geheimnisvollen Meeresgrotte zueilen läßt, die
dem Dichter offen liegt und die er wonnevoll im Odenschwung mit schlagenden
Beiwörtern schildert, die Schatten personificierend, indem er sie zu „erschrockenen“
Schatten macht u. s. w.
Jn der nachstehenden kraftvollen „Ode an die preußische Armee“ fordert
Kleist das preußische Heer auf, mit erhöhtem Mute die zahllosen Feinde zu
bekämpfen; er verspricht der Nachwelt Ruhm, welcher das Heer über die Römer,
sowie Friedrich über Cäsar setzen werde. Jn gewaltigen Weisen mit wahrhaft
dramatischem Schwung schildert der Dichter, wie das Winken Friedrichs die
Feinde vernichte. Ja, mit Farben, wie sie das ruhige Lied nimmermehr vertragen
würde, malt er, in seiner Empfindung sich an Friedrich wendend, die
weitgehendsten Gegensätze.
Er schließt mit einer der Ode eigenen Kühnheit, indem er die Erwartung
ausspricht, der stolze Feind werde noch vor kleinen Haufen fliehn, und er, der
Dichter, werde „im rasenden Getümmel Ehr' oder Tod finden“.
Ode an die preußische Armee, von E. Ch. v. Kleist. (Sämmtl. Werke,
2. Aufl. 1790. S. 79.)
(Ähnlich die weggelassene
folgende Strophe.)
Als Beispiel einer liedartigen Ode diene noch die von Dankbarkeit und vorurteilsfreier
Anerkennung zeugende Ode Rudolf Niggelers an Johannes Minckwitz,
dem bedeutendsten Odendichter der Gegenwart, der über 200 gehaltvolle
Oden dichtete und viele antike übersetzte:
Litteratur der Ode.
Der bedeutendste Odendichter war der Grieche Pindar († 441 v. Chr.).
Darauf folgten eine Reihe Odendichter und Odendichterinnen der melischen und
chorischen Lyrik. Am würdigsten schließt sich an Pindar der Römer Horatius
an († 8 v. Chr.), der nach griechischen Mustern dichtete. Spätere Odendichter
sind der Jtaliener Petrarka (übersetzt von Förster), die Franzosen Racine,
Lamartine, der Engländer Pope &c. Die ältesten Oden findet man wohl in
den Büchern des alten Testaments. Die älteste deutsche Ode ─ obgleich man
damals den Namen nicht dafür hatte ─ ist das Annolied aus dem Jahre 1185,
das dem Frankenbekehrer, dem Erzbischof Hanno von Köln, gewidmet war (I. 86).
Zum erstenmal wurde in der deutschen Litteratur der Name Ode von
Weckherlin gebraucht, welcher 1618 eine „Sammlung von Oden und Gesängen“
herausgab. Als spätere deutsche Odendichter sind zu nennen: Gryphius (Kirchhofsgedanken
und geistliche Oden). Paul Flemming (Erstes Buch der Oden).
Günther (Ode auf den Prinzen Eugen). Klopstock (dessen Oden seine vorzüglichsten
Leistungen sind, vgl. z. B. An Fanny; Der Eislauf; Der Zürchersee;
Mein Vaterland; Die frühen Gräber; Hermann und Thusnelda &c.). Uz (Ode
auf die Sonne). Cramer (David). Denis (Die Zeit. Josephs 1. 2. 3.
4. Reise). Schubart (Auf Friedrich II). Jacobi (Die Tempel). Herder (Klopstocks
lyrische Poesie). Hölty (An die Ruhe). Stolberg, der Ausbilder klassischer
Maße (Die Natur, Der Harz, Leipzigs Schlacht, Deutschlands Beruf,
Mein Vaterland, Die Begeisterung). Voß (Anbetung, An Klopstock, An Brückner,
Der Winterschmaus). Kosegarten (Der Morgen, Die Unsterblichkeit). Goethe
(Mohamed, Meine Göttin). Schiller (Das Jdeal und das Leben, Die
Macht des Gesanges). A. Bercht (Preußens Helden). Ramler (Friedrich
der Große). Matthisson (Sehnsucht nach Rom, Genuß der Gegenwart).
Heidenreich (Die Freiheit des Menschen, Die Wollust). Hölderlin (Der Tod
für's Vaterland, Das Schicksal, Rückkehr in die Heimat). Platen (er hat
die strenge, namentlich von den Romantikern verdrängte Odenform besonders
gepflegt. Vgl. Der Vesuv, An Franz II.). Johannes Minckwitz. (Seiner besten
Oden eine ist die Nr. 221: An Samuel Brassai, 1881 gedichtet). Rückert (1.
Übergang vom Liede zur Ode: Die Berge. An unsere Sprache. Abschied.
2. Oden in freiem Versmaß: Brünstige Nachtigall. Die preußische Viktoria.
3. Oden in Ghaselenform: Du Duft, der meine Seele speiset. Sei mir
gegrüßt &c.). Kinkel. Pfizer. J. G. Fischer. R. Gottschall. Melch. Meyr. O. Banck.
Hamerling. Geibel. Hertz. Max Moltke. Jul. Sturm. v. Lepel. Scherer. Fr. Storck
(Das freie Wort) u. a.
§ 72. Die lyrische Rhapsodie.
Man versteht unter lyrischen Rhapsodien odenartige Gedichte, die
dem Jnhalte nach nur als Bruchstücke erscheinen, im übrigen nicht durchaus
den Charakter der Ode oder den der Hymne tragen. Die lyrische
Rhapsodie sucht in einer freieren Form ihren Gegenstand von der sub= [140]
jektiv fühlenden schönen Seite oft mit dithyrambischen Zügen darzustellen.
Lange vor Christi Geburt trugen wandernde Sänger bei den Griechen,
gelegentlich einzelner Feste Gesänge vor, wobei sie einen Lorbeerzweig oder einen
Stab (ῥάβδος d. i. Rhabdos) in der Hand hielten. Von diesem Rhabdos
hießen diese Sänger die Rhapsoden, bei den Deutschen varnde liute ==
fahrende Leute, singaere == Sänger, ihre Gesänge aber nannte man Rhapsodien.
(Das Wort Rhapsode leiten einige von ῥάπτειν ᾠδήν her, nicht aber
von ῥάβδος Stabsänger. Hesiod spricht im Fragm. 34 von ῥάψαντες
ἀοιδήν. Bei Pindar ist ῥαπτῶν ἐπέων ἀοιδοί Umschreibung für ῥαψῳδοί.)
Rhapsodiendichter sind: Schiller, Ramler, Kotzebue, Fr. Müller, Püttmann,
Kosegarten, Hölderlin, A. Moser, H. Heine (Nordseebilder), Goethe (Ganymed,
Das Göttliche, Grenzen der Menschheit), E. Chr. v. Kleist (Lob der Gottheit,
Sehnsucht nach Ruhe, An Doris &c.) u. a.
Beispiel der lyrischen Rhapsodie. (Jn griechischen Rhythmen.)
An die untergehende Sonne, von Kosegarten.
§ 73. Hymnus (Hymne).
Ein, in der höchsten Begeisterung gesungenes, religiöses Lied, eine
religiöse, dem Preise der Gottheit gewidmete Ode, welche zum Lob=
und Preis-Gesang auf Gott, auf Christus, auf die Wohlthaten der
Naturmächte, auch auf irdische, wie Götter gefeierte Personen sich gestaltet
und in welchem Andacht und Bewunderung sich vereinigen,
wird Hymne (ὕμνος Lobgesang, Preis einer Gottheit, von ὑμνεῖν
== preisen, besingen) oder Hymnus genannt.
Sie stimmt in Behandlung des Stoffes, in Sprache und Rhythmus ganz
mit der Ode überein und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß ihre
Gegenstände meist dem religiösen Gebiet angehören. Zum geistlichen Liede verhält
sie sich, wie die Ode zum weltlichen. Wollte man die Oden in philosophische,
heroische und religiöse teilen, so wäre die Hymne eben die religiöse Ode. Nicht
die Gefühle der Demut, Wehmut, Reue, auch nicht Betrachtungen über Tod
und Unsterblichkeit veranlassen sie, sondern die Bewunderung Gottes oder einer
heidnischen Gottheit, auch eines erhabenen wie eine Gottheit angestaunten Menschen
oder irgend einer wunderbaren Naturerscheinung, weshalb man auch von weltlichen
Hymnen sprechen kann, die freilich besser den Namen Oden (Festlieder) tragen.
(Als Beispiele solcher Hymnen nenne ich: Frühlingsfeier von Klopstock; Hymne an [142]
die Sonne von Knebel; ebenso die Volkshymnen, Kriegshymnen, Kaiserhymnen,
Vaterlands-Hymnen, z. B. God save the King; „Gott erhalte Franz den
Kaiser“ von Seidl; an Österreich von Anastasius Grün; an Bismarck von
Minckwitz, eine gewaltige Ode, welche an Umfang fast der 4. Pythischen Ode
des Pindar gleichkommt, 300 Zeilen in Strophe, Antistrophe und Epode umfaßt
und rhythmisch malt z. B. den Wachtelton: Vaterland, Vaterland, Vaterland,
u. s. w.)
Auf den religiösen Charakter der Hymne, besonders in der hebräischen
Hymnenpoesie, hat zuerst Herder (Geist der hebräischen Poesie) hingewiesen. Die
Psalmen, besonders der 29te und 33te, sind in der That treffliche Hymnen.
Bei den Griechen wurde Andacht und Bewunderung teils durch feierlich
stetigen Gesang des epischen Versmaßes (Homer, Kallimachos), teils durch den
feierlichen und zugleich bewegten, lyrischen Gesang ausgedrückt. (Pindar.) Der
Hymnus wurde bei festlichen Veranlassungen mit Musikbegleitung vorgetragen.
Vom Gesang für die Gottheit löste sich das allgemeine Lied ab ─ als
Ode auf seinen Ursprung weisend ─, wovon freilich die leichten Lebe= und
Liebeslieder (die sog. Anakreontischen) ausgenommen sind. Die dem Bacchus
gewidmete Hymne wurde zum begeisterten Gesang gleichsam des Rausches und
hieß Dithyrambus (vgl. § 74), während der Sang zu Ehren Apolls: Päan
hieß. (Päan ist zunächst Fremdwort. Es soll nämlich Pa-iâon [Mann für
Krankheiten] ägyptisch sein. Bei Homer erscheint Παιήων als Götterarzt und
Stammvater der ägyptischen Ärzte (Il. F 401 od. J 232), daher schon dort
Il. A 473 παιήονα auch als Lobgesang oder Dankgesang für Erlösung von der
Pest. Dann ebenso im Triumphgesang, mit Tutti oder Refrain Il. X 391─94.
So wurde durch die Dorer besonders im Kulte des delphischen Apollon der
Paian Lob=, Dank- und Gebetslied [in der Not] an Apollo und Artemis, an
alle Schutzgötter. Eine kürzere Form ist der am Schluß des Gastmahls vor
dem Symposium gesungene. Durch kretischen Einfluß wurde der Päan auch
Angriffslied in der Schlacht; daher z. B. die Griechen bei Kunaxa unter Absingen
eines Päan den Angriff einleiteten. &c.)
Die äußere Form der deutschen Hymne ist entweder liedartig oder antik
oder auch ganz frei.
Beispiele der Hymne.
a. An den Sturmwind, von Fr. Rückert.
b. Das große Hallelujah, von Klopstock.
Zur Litteratur der Hymne.
Jm Geiste der hebräischen Poesie und durch dieselbe angeregt sind die
Hymnen der ersten christlichen Kirche entstanden. Wir erwähnen hier von den
christlichen Hymnologen zunächst die besten lateinischen Hymnendichter: Ambrosius
(Bischof von Mailand, † 398 n. Chr., dichtete den Ambrosianischen Lobgesang
„Te Deum laudamus“. Nach einer Sage sollen bei der Taufe des Augustinus
durch Ambrosius in der Osternacht 367 beide fromme Männer diesen Hymnus
wie aus göttlicher Eingebung gedichtet und abwechselnd strophenweise vor der
versammelten Gemeinde gesungen haben, bis endlich Augustinus mit den Worten
geschlossen habe: In te domine speravi, deutsch: Auf dich habe ich gehofft,
Herr! Die fromme Monika, Mutter des Augustinus, soll entzückt über diesen
Gesang ausgerufen haben: Malo te Christianum Augustinum, quam
Augustum imperatorem, d. h. Es ist mir lieber, daß du nun Augustinus [144]
der Christ bist, als wenn du Augustus der Kaiser wärest.) ─ Papst Gregor der
Große, der einen erhebenden Morgengesang gedichtet hat, schuf auch kirchliche
Hymnen. ─ Robert (König von Frankreich 997─1031, dichtete Veni sancte
Spiritus, welches am Pfingstfeste und am Anfang eines neuen Schuljahres
an katholischen Lehr-Anstalten immer noch gesungen wird. (Vgl. Wackernagel,
K. L. I, 105.)
Hermann der Lahme (Benediktinermönch im Kloster Reichenau am Bodensee,
dichtete Salve Regina, Gegrüßet seist du, Königin).
Bernhard von Clairvaux († 1153, wurde durch „Salve Regina“ bei
seinem Einzug in den Dom zu Speyer so ergriffen, daß er den nunmehrigen
Schluß zudichtete: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria. Von ihm
der schöne Kirchengesang: Jesu dulcis memoria).
Thomas von Celano (vom Minoritenorden, Mitte des 13. Jahrhunderts,
dichtete das ergreifende Dies irae == Tag des Zorns, welches meist bei Totenmessen
gesungen wird. Eine wirkungsvolle Musik zu diesem, das Weltgericht
in erschütternder Weise schildernden Hymnus, danken wir Mozart).
Thomas von Aquino († 1274, Verfasser der meisten Kirchengesänge
für den Gottesdienst beim Fronleichnamsfeste, dichtete Lauda Sion und Pange
lingua == Preis o Zunge, die als die erhabensten Festgesänge der katholischen
Kirche berühmt sind).
Jakopomus (Minorit, † 1306, dichtete Stabat mater == Es stand die
Mutter, welches den Schmerz Mariä beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes
ausdrückt, und am Fest der 7 Schmerzen in den katholischen Kirchen gesungen
wird. Palestrina, Haydn, Rossini u. a. haben es komponiert).
Hymnen in deutscher Sprache dichteten: Kleist (Die Größe Gottes). Uz
(Preis des Höchsten). Klopstock (Die Frühlingsfeier; Dem Erlöser; Der Erbarmer;
Die Glückseligkeit Aller). Denis (An Gott). Stolberg (Der Himmel;
Schwanengesang). Novalis (Hymne an die Nacht). Ernst Schulze (Hymnus
an die heilige Cäcila). Gellert. Goethe (Prometheus). Hölderlin (Hymne an
den Äther). K. Gerok. A. Knapp. Knebel (An die Sonne). v. Haller (An
die Ewigkeit). Schubart (Erstickter Preisgesang). Schiller (Das eleusische Fest).
Platen brachte in der Hymne die lyrische Kunst auf den Gipfel. Sein Nachfolger
Johannes Minckwitz, welcher vier der größten Pindarschen Hymnen übersetzte
und über 20 frei dichtete, ist weiter vorgeschritten als Platen a. in der
Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen Strophen als Dreigliederung
anreihte, b. im freieren, flüssigeren deutschen Stil. Wilh. Müller (Pfingsten).
Rückert (bei welchem manche Hymnen die ausländische Form des persischen Ghasels
annahmen, was auch bei Oden der Fall ist. Z. B. Flammt empor in
euren Höhn, Morgensonnen, lobt den Herrn. An das Meer. Von seinen
Hymnen in Strophen nenne ich: An die Göttin Morgenröte. Die Allgegenwärtige.
Gesang der heiligen drei Könige ist im freiesten Versmaß gedichtet).
Anastasius Grün, Geibel, Hamerling, Spitta, Otto Banck, J. Neumann u. a.
§ 74. Dithyrambus.
Wie das gewöhnliche Lied in der Ode und das geistliche Lied in
der Hymne eine höhere Form besitzen, so das gesellige Lied in der
Dithyrambe (vom griechischen διθύραμβος == Beiname des Bacchos).
Jeder Erguß auflodernder Gefühle voll stürmisch=trunkener Begeisterung
heißt Dithyrambus.
Das gesellige Lied heißt Dithyrambe, wenn Empfindung und Ausdruck
(in bezug auf gesellige Freude, Wein und Liebe &c.) höheren
Schwung, eine gleichsam trunken=schwärmerische, poetische Erregung
annehmen.
Die Dithyrambe atmet stürmische Begeisterung, überströmendes Wonnegefühl
und liebt auch in der Form eine an Ungebundenheit grenzende Freiheit.
Zuweilen wird statt Wein der Gott des Weines Bacchus (oder Dionysos, dem
überhaupt die ersten Dithyramben galten und von dem ─ dem zweimal
gebornen ─ sie ihren Namen haben) besungen, so daß die Dithyrambe eigentlich
eine dem Bacchus gewidmete Hymne wäre. Die Dithyrambe ist noch feuriger,
als die Hymne, wie wiederum diese mehr Schwung hat als die Ode. Jm
Gegensatz zur Hymne ist es eben die irdische Wonne, welche in der Dithyrambe
den Dichter begeistert, ja fast trunken macht, obwohl ihr Stoff nicht ausschließlich
das Zechen, Trinken und irdischen Genuß zu preisen braucht. Die bekannteste
Dithyrambe ist Schillers „Lied an die Freude“ (Freude, schöner Götterfunken
&c.), sowie J. H. Voß' Dithyrambus (Wenn des Kapweins Glut im
Krystall mir flammt). Außer einigen Liedern, welche den Übergang vom Lied
zum Dithyrambus bilden, sind bei Rückert eigentliche Dithyramben in den
östlichen Rosen zu finden. Dithyrambisch ist z. B. sein „Lebensgnüge“. Dithyrambisch,
jedoch mit mehr odenmäßigem Jnhalt, sind ferner von ihm: Zum
Empfang der rückkehrenden Preußen, Adler und Lerche &c. Dithyramben liefert
Schmidt-Cabanis in „Wechselnde Lichter“, z. B. Ein lustig Totentänzlein S. 106 &c.
Beispiele der Dithyrambe.
Am ersten Maimorgen, von M. Claudius.
Dithyrambe, von Schiller.
Litteratur der Dithyrambe.
Besonders reich an Dithyramben waren die Griechen. Die beiden horazischen
Oden II. 19 und III. 25 werden zwar als Nachbildungen griechischer Dithyramben
angesehen; aber sie haben weder die Ungebundenheit des Versmaßes
derselben, noch deren begeisterten Schwung. Außer den Fragmenten bei Bergk
Poetae lyrici graeci P. III ist besonders Eurip. Bacch. 64─165 als
eine annähernde Dithyrambe zu vergleichen. Horaz bezeichnet Od. 4. 2 die
Pindarschen Dithyramben durch folgende 3 Züge: per audaces nova Dithyrambos
verba devolvit numerisque fertur Lege solutis.
Bei uns nannte zuerst Willamov seine 1763 erschienenen lyrischen Gedichte
wegen der in ihnen herrschenden Begeisterung Dithyramben. ─ Klopstock wählte
für sein Odengebäude Wingolf den dithyrambischen Ton, den er jedoch in der
Umarbeitung alterierte. Dithyramben finden wir bei den Stürmern und Drängern,
z. B. Maler Müller; ferner bei Schiller, Goethe (Wanderers Sturmlied),
Voß, Kopisch, Kretschmann, Schubart, Tieck, sowie bei Rückert, Scheffel,
Hertz, H. Heine, Bodenstedt, Müller v. d. Werra u. a.
§ 75. Elegie.
1. Die Elegie ist eine Art höchstbegeisterten elegischen Liedes (§ 67),
ein Gedicht, welches in gehobeneren Gefühlen und im höheren Geistesfluge
als das elegische Lied einherschreitet, dabei auch dem sinnenden
Verweilen, dem betrachtenden, reflektierenden Beschauen Raum gestattet.
2. Bei den Griechen war der Elegos eine besondere Art ihrer
sog. Threnoi (θρῆνος).
Aus dem griechischen Elegos (== Klagelied, Trauerlied) wurde die
Elegie und das Elegeion, d. i. jedes in Distichen verfaßte Gedicht.
3. Das Versmaß der Elegie war das Distichon. ─ Bei unserer
Elegie ist es nicht absolutes Erfordernis.
1. Die deutsche Elegie charakterisiert neben sinnendem Verweilen hochflutendes
Schmerz- oder Wehmutsgefühl, süße, tiefe, ungestillte Sehnsucht, schwärmerischer
Tiefsinn der Liebe, schmelzende Klage. Jede Elegie verlangt ein episches, der
äußeren Wirklichkeit entlehntes Objekt, das der begeisterte Dichter mit seiner
subjektiven Empfindung durchdringt.
Jm allegorischen Sinne ist die Elegie eine Genie oder Nymphe genannt
worden (F. H. Jakobi), welche, das Gesicht in die Hand gelegt, voll Rührung
und sanfter Wehmut, nachdenkend, in Erinnerung verloren ruhig dasitzt. Ein
halb zerrissener Kranz in ihren Locken und ein welker Blumenstrauß auf ihrem
Schoße erinnern an entflohene Freudentage, an herben Verlust. Jn der Ferne
ist ein Grabmal zu sehen, von dem nur die obere Hälfte aus einem Cypressenwalde
hervorragt. Hinter diesem liegt ein Hügel voll Rosenknospen und
Morgenrot.
Der Ton der Elegie ist so verschieden, als auch der Anlaß und die Art
der Trauer verschiedene sind; anders klagt die Jungfrau, die ihren Weltschmerz
nicht entdecken will, anders der Freund, der den früh geschiedenen Genossen
seiner Jugend betrauert u. s. w.
2. Eine naive Etymologie leitet das Wort Elegie von ἔ ἔ λέγειν ==
weh weh rufen ab. Das ist jedoch nicht stichhaltig; eher wäre an eine
Verwandtschaft mit ὀλολύζω == klagen, wimmern, namentlich zu den Göttern
empor, und ἀλαλάζω == ein Kriegsgeschrei erheben, zu denken. Beachtenswert
ist, daß in Vorderasien, wo Flötenspiel zu Hause war, elegn das Rohr,
(vgl. Plin. 16. 36. 66) die Flöte, geheißen haben soll. Diese war nämlich
das begleitende Jnstrument der alten griechischen Elegie, wie ja auch der verwandten,
späteren römischen Nänien.
Die charakteristische Versart der Elegie war nach Wilh. Wackernagel der
Pentameter, vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt,
vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung von Elegos
(ἔλεγος) ist Elegeion (ἐλεγεῖον), das vielleicht ursprünglich nur der Name
des Pentameters war, dann aber jedenfalls der aus Hexameter und Pentameter
zusammengesetzten Strophe, also des späteren sogenannten Distichons. Die
neue Dichtungsart, die Elegie (d. i. das im Elegeion abgefaßte Gedicht), teilte
mit dem alten Elegos die Anlehnung an die epische Wirklichkeit; sie sprach auch
nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem Elegos den Gebrauch
des Distichons samt der mit dem Gesange verbundenen Flötenbegleitung. Alles
dies war Anlaß, jene von Elegos gebildete Ableitung Elegeion (ἐλεγεῖον) nun
in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es ward nun eben jedes episch=lyrische
Gedicht in der Form des Distichons Elegie, Elegeia (ἐλεγεία) genannt (entweder [148]
als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als sing. fem. ἡ ἐλεγεία). Beispielsweise
nannte man die Kriegslieder des Tyrtäos Elegieen. Auch Philetas und Kallimachos
nannten ihre nicht klagenden Gedichte in Distichen Elegieen. Somit
finden wir auch in den Benennungen eine Rückbeziehung auf die Epik: in der
älteren, ἔπη, auf die reine eigentliche, in der späteren Elegie (ἐλεγεία) auf
die lyrisch gefärbte, den Elegos (ἔλεγος).
3. Es ist wohl nicht zufällig, daß die Griechen, von deren eigentlichen
Elegieen wir nur noch Fragmente besitzen, zu denselben sich des Distichons
bedienten. Auf dem rollenden Rücken des Daktylus strebte der mehr epische
Hexameter in's Unendliche, während ihm der wehmütige, stockende, mehr
lyrische Pentameter seinen Halt gab, ihn zur Einkehr in sich selbst veranlassend.
Der meist epische Vordersatz des Hexameters fand seine Ruhe im meist
lyrischen Nachsatz des Pentameters. Die metrische Distichen-Form des Elegos
ist auch auf die deutsche Elegie übergegangen. Jn unserer Zeit ist sie jedoch
kein wesentliches, strenges Erfordernis mehr, ja, sie ist infolge des häufig angewandten
zierdevollen Reims nicht einmal wünschenswert. Wir wählen jede
Strophenform, z. B. die Kanzone (Schlegel in Totenopfer; Zedlitz, Totenkränze;
Max Waldau &c.). Wackernagel empfiehlt die Terzine, die man bekanntlich
bei erzählenden Gedichten beliebte. Opitz wandte den Alexandriner an, ebenso
Flemming u. a.; auch Geibel (Welt und Einsamkeit). Rückert bediente sich
häufig des Sonetts (vgl. Agnes' Totenfeier; Rosen auf das Grab einer edlen
Frau), ebenso Platen &c.
Beispiele und Litteratur der Elegie.
Die elegischen Gesänge eines Tyrtäos, Solon, Theognis &c. preisen den
Tod für's Vaterland und können als politisch=patriotische Elegieen bezeichnet
werden.
Mimnermos, der Stifter der zärtlichen, sanftklingenden Elegie, trauert in
erotischen Weisen um seine geliebte Nanno.
Von Simonides an, der das Distichon zu Grabschriften und Totenepigrammen
benutzte, hat man die ganze Gattung des Silbenmaßes Elegie
genannt. Die erotische Elegie haben bei den Römern Catull, Tibull, Properz
und Ovid gepflegt. Jhre Elegien haben bereits den Charakter der antiken
Elegie abgestreift und sind nur Klagelieder. Goethe in seinen römischen, nach
griechisch=römischen Mustern gebauten Elegien setzte in den Geist des Properz
und des Tibull ein. Goethes Elegien haben etwas veränderten Jnhalt, insofern
sich in ihnen nicht selten heiterer Lebens- und Kunstgenuß auf dem
Hintergrunde einer untergegangenen gewaltigen Welt ausspricht. Er näherte
sich dadurch der antiken Elegie, die ja auch das beunruhigte Gemüt zu erheitern
strebte. (Vgl. Goethes Elegie Euphrosyne; ferner die anders gestalteten römischen
Elegieen, der neue Pausias, Amyntas, und Alexis und Dora.) Aus Kleists
Elegie „Sehnsucht nach Ruhe“ spricht seine Schwermut, die ihn von dem Punkt
an befiel, als er gezwungenermaßen in's Militär eintrat. ─ Klopstocks Elegie [149]
„An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden
veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen,
der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von
denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich
vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses
trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt
dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe
aus in der reizenden Elegie, die er also schließt:
Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin
des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende
erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der
Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.)
Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie:
Jn der Elegie „An den Frieden“ drückt Ramler mit kräftigem, ungekünsteltem
Ausdruck den Wunsch nach Frieden aus. Wir hören die vom
Kriege geängstete Menschheit in Not und Elend rufen:
Aus der Elegie „Bei dem Begräbnis eines Kindes“ von Claudius spricht
christliche Resignation, die den Schmerz zu verklären vermag. Sie schließt:
Jn engem Rahmen sind in Höltys „Elegie auf ein Landmädchen“ viele
treffende Bilder vereint und der Gegensatz städtischer Eitelkeit und ländlicher
Einfalt herrlich hervorgehoben. Die 3. Strophe lautet:
Matthisson, der ähnliche Elegien schrieb (vgl. Elegie in den Ruinen
geschrieben), lehnt sich an eine landschaftliche Wirklichkeit an, in die er den
Leser nicht einzuführen vermag; er hat ungesunde Affektation und Sentimentalität,
die man bei dem naturwahren innigen Hölty nicht findet.
A. W. Schlegel beginnt in seiner Elegie „Rom“ mit Gründung der
Stadt, um nach lyrisch epischer Ausführung der Elegie einen an Frau v. Staël
gerichteten rein lyrischen Abschluß zu geben.
Ergreifend wirkt die Übersetzung Gotters einer auf einem Kirchhofe geschriebenen
Elegie des britischen Pindars Thomas Gray († 1771).
Eine der besten Elegien ist Schillers Spaziergang, der ursprünglich auch
Elegie benannt war. Eine Landschaft ist's, die der Dichter durchwandert und
der er historischen Charakter in den einzelnen Bildern verleiht. Die Beschreibung
der Gegend wird von lyrischen Betrachtungen durchzogen; der Wechsel
der Naturscenen erscheint nur als Abbild der sich immer mehr von der Natur
entfremdenden Menschheitsgeschichte, sie gipfelt in der Überzeugung, daß die
Menschheit nur in der Rückkehr zur unveränderlichen Natur ihr Heil finden
könne. Die lyrische Betrachtung allein hätte für eine Elegie genügt; um so
gedrungener und vollendeter ist sie durch den auf Natur und Geschichte gebauten
Parallelismus, um so mehr bietet sie dem im Präsens sprechenden Dichter
Gelegenheit zur Entfaltung einer durch und durch gemütentsprossenen Lyrik.
(Auch Schillers Siegesfest, Kassandra, Die Götter Griechenlands, Sänger der
Vorwelt, Pompeji und Herkulanum, sowie Das eleusische Fest sind wohl zu
beachten.) Erwähnenswert sind von den deutschen Elegiendichtern außer den
genannten noch: Opitz. Haller (Auf den Tod seiner Gattin). Zachariä (Die
Nacht). Denis (Abschied von der sichtbaren Welt). Pfeffel (Auf Sunims Grab).
Jakobi (Die Linde auf dem Kirchhofe). Salis (Mitleid). Herder (Des Einsamen
Klage). Bürger (Bei dem Grabe meines guten Großvaters Jacob
Philipp Bauers). Stolberg (Der Abend). Voß (Besorgnis). Tiedge (Elegie auf
dem Schlachtfelde von Kunersdorf). Kosegarten (Nachtgesang). Novalis (Sehnsucht
nach dem Tod). Körner (Die Eichen). Mahlmann (Lied des Trostes).
Sonnenberg (Die Grabesblumen auf Jdas Hügel). Uhland (An den Tod).
Chamisso (Schloß Boncourt). Hebel (Auf einem Grabe). Miller (Klagelied
eines Bauern). Tieck (Lied von der Einsamkeit). Ernst Schulze. Hölderlin
(Der Wanderer). Mörike (Die schöne Buche). Nic. Lenau (Natur und Geschichte
werden von ihm in originellen, ergreifenden, bilderreichen, durch Zartheit und
Jnnigkeit der Empfindung, wie durch düstere Wehmut und Melancholie ausgezeichneten
Elegien besungen). Seidl (König Erichs Glaube). Foglar (Zypressen,
Strahlen und Schatten). Emil Rittershaus. Zelle. Freiligrath (Die Bilderbibel).
Kinkel. Alfred Meißner. Scherer. V. v. Strauß. Karl Beck. Th. Storm
(Abseits). Dingelstedt (Am Grab Chamissos). H. Lingg. Minckwitz (Elegie an
Carus 1844). Betty Paoli. Anastasius Grüns Schutt (Eine Sammlung bilderreicher
Elegien, mit dem Grundgedanken, es werde aus Europas Zerstörung eine
bessere Welt erblühen. Die vier Teile des Gedichtes sind: Der Thurm am
Strande, eine Fensterscheibe, Cincinnatus, fünf Ostern). Karl Lehmann u. a.
§ 76. Nänie.
1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches
zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt),
heißt Nänie.
2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener,
sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien.
1. Die Nänien (Neniae, Naeniae) entsprachen in der römischen Litteratur
den Threnoi (θρῆνοι) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie
waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul
gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz
sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang
wurde von ihnen Nänie genannt.
2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen.
Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit
der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.)
Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David
redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller
seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora
nach dem Siege über Sissera).
Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B.
das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias
mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien)
und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der
griechischen und lateinischen Übersetzung Threnos (θρῆνος) genannt werden,
sind für diese Bezeichnung nicht episch genug.
Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien
auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller
setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie.
Beispiel der Nänie:
Nenie von Schiller.
§ 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen.
Sobald die epische Poesie eines Volks eine gewisse Höhe erreicht
hat, zeigt sich bei jedem Volke die Lyrik. Jst diese Lyrik Volkspoesie,
so ist sie zugleich ein Bild des Volkscharakters, der Gefühls- und Anschauungskreise
eines bestimmten Volkes. Jst sie Kunstlyrik, so ist sie
ein Bild des bestimmten Dichters. Es ist jedenfalls lohnend, einen
Blick auf die lyrischen Leistungen der fremden Litteraturen zu werfen
und einzelne Repräsentanten herauszuheben.
a. Die Griechen. Die Griechen mit ihrem schönen Himmel und ihrer
herrlichen Natur zeichneten sich frühzeitig durch ihren Sinn für's Schöne und
durch ihre lebhafte Phantasie aus. Jn der Epik leisteten sie das Höchste. Aber
auch in der Lyrik wurden sie Vorbilder.
Von den Hymnen des Orpheus (angeblich um 1250? wahrscheinlich eine
späte Personifikation) behauptete man hyperbolisch, daß die Bäume die Wipfel
neigten, und die wilden Tiere des Waldes lauschten, wenn sie gesungen wurden.
Die weltliche Lyrik blühte besonders, als die Monarchien allmählich in
Republiken sich verwandelten. Freundschaft, Vaterland boten den Stoff für die
Lyrik. Die hervorragendsten Dichter dieser Zeit sind:
Arion, welcher 624 v. Chr. der Schöpfer des Dithyrambus war und
auf der Jnsel Lesbos lebte.
Alkäus (ebenfalls von Lesbos, wo die lyrische Poesie blühte), etwas jünger
als der vorige, wurde der Begründer der sog. alkäischen Strophe in seinen
kräftigen Oden und Hymnen.
Sappho, wegen ihrer Gesänge die lesbische Nachtigall und die zehnte Muse
genannt, ist eine Zeitgenossin des Alkäos.
Erinna, Zeitgenossin und Landsmännin der vorigen, dichtete die herrliche,
uns erhaltene Hymne: „An die Stärke.“
Tyrtäos (Tyrtaios) aus Milet in Kleinasien, lebte in Athen während des
messenischen Krieges. Durch seine Kriegsgesänge (Elegien genannt, von denen
drei erhalten sind) feuerte er die Spartaner zu Kampfesmut an.
Die 2te Blüteperiode der griechischen Lyrik war von Solons Gesetzgebung
bis zur Thronbesteigung Alexanders des Großen (594─336 v. Chr.). Besonders
zu erwähnen sind: Jbykos (durch Schillers „Kraniche des Jbykus“ bei uns
populär geworden. Er hielt sich meist in Samos am Hof des Polykrates auf;
von seinen Gedichten sind nur wenige Fragmente erhalten).
Anakreon (530 v. Chr., hielt sich abwechselnd bei Polykrates und bei
Hipparch in Athen auf. Seine Hymnen und Elegien sind verloren gegangen).
Simonides aus Keos (559─469 v. Chr. dichtete Siegeslieder, Dithyramben
&c.).
Pindar (521─438 v. Chr., aus Theben, der bedeutendste griechische
Lyriker. Seine 45 Siegesgesänge zur Verherrlichung der Sieger in den griechischen
Nationalspielen gaben ihm größte Berühmtheit).
b. Die Römer. Jhre Begeisterung für griechische Kunst und Wissenschaft
trieb sie zu eigenem Schaffen an. Wenn ihre Pflege der Lyrik auch
hinter den griechischen Leistungen zurückstand, so waren die lyrischen Dichter
immerhin bedeutend genug.
Horaz (von Ramler, Binder, Kayser u. a. übersetzt) schrieb seine Lyriken
meist in der strengen Odenform. Sein Zeitgenosse Tibull schrieb vier Bücher
Elegien, die von J. H. Voß übersetzt sind.
Propertius, 9 Jahre jünger als der vorhergehende, dichtete ebenfalls Elegien.
Catull (gest. 54 v. Chr.) schrieb 2 große Hochzeitslieder u. a.
Publius Ovidius Naso, gewöhnlich Ovid genannt (geb. 43 v. Chr.),
starb 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomi (jetzt Anadol=köi bei Küstendsche
am schwarzen Meer). Seine „Klagelieder“ atmen tiefen Schmerz über die Verbannung.
Er schrieb zuerst „Heroiden“ (21 an der Zahl) u. s. w.
c. Die Hebräer. Die Religiosität ist das Grundgefühl der Lyrik dieses
theokratischen, unter spezieller Leitung Jehovahs stehenden Volkes. Den ältesten
Siegesgesang stimmte Moses an nach dem Durchgang durchs rote Meer. Samuel
errichtete Prophetenschulen, in denen die Lyrik gepflegt wurde. David (1055
bis 1015 v. Chr.) zeigte sich in seinen Psalmen als bedeutender Lyriker.
Salomo (1015─975) hinterließ in dem zur Vermählung seiner Tochter mit
dem ägyptischen Könige Hophra gedichteten „Hohen Liede“ eines der wertvollsten
lyrischen Gedichte. Auch bei den Propheten findet sich viel Lyrisches z. B.
Jeremias (Klagelieder), Jesaias (Babels Fall), Ezechiel (Fall des Königs von
Tyrus), Habakuk (Klaggesang) u. s. w. Vgl. auch das Buch Hiob u. a.
d. Die Jtaliener. Den weichen Charakter der vokalreichen volltönenden
Sprache der Jtaliener trägt auch ihre gefühlswarme, für den Gesang prädestinierte
Lyrik. Der bedeutendste Lyriker der Jtaliener war: Petrarka (geb.
1304 n. Chr.). Seiner lateinischen Gedichte wegen wurde er zu Rom als
Dichter gekrönt. Seine Kanzonen und Sonette, die er seiner Laura widmete,
sind mustergültig. (Er wurde von K. Forster in's Deutsche übersetzt, auch von
Joh. Gotthard von Reinhold.) Noch sind zu nennen Pietro Bembo († 1547),
Alamanni († 1556), Giovanni della Casa († 1556), Torquato Tasso († 1595),
Filicaja († 1707), Carlo Gozzi († 1806), Giuseppi Giusti († 1880), der
italienische Beranger, Goffredo Manelli, der Theodor Körner Jtaliens während
des Krieges 1859, und besonders Giac. Leopardi († 1837) und Alessandro
Manzoni († 1873), welch' beide man als die Vorbilder der beiden Hauptrichtungen
bezeichnen kann, die sich in jüngster Zeit in Jtalien geltend gemacht
haben.
e. Die Spanier und Portugiesen. Der Jahrhunderte währende
Kampf des Christentums in Spanien mit dem Jslam entfaltete die religiöse
Lyrik, die sich durch Prachtliebe und Jnnigkeit des Gefühls auszeichnet. Lope
de Vega († 1635 n. Chr. mit dem Beinamen „das Wunder der Natur“),
dichtete wunderbar innige geistliche Lieder. Einige sind von Diepenbrock im
„geistlichen Blumenstrauße“ deutsch übersetzt. Von Lyrikern unseres Jahrhunderts
sind zu nennen: Lista y Aragon, José Joaquin de Mora, Martinez [155]
de la Rosa, der sich die klassische Schule der Franzosen zum Vorbilde nahm,
Ventura de la Vega u. a.
Jm benachbarten Portugal erwarb sich Luiz de Camoëns (1524─79)
für alle Zeiten den Ruhm des größten Lyrikers seines Landes.
f. Die Franzosen. Der Franzose mit seinem leichten, espritvollen Konversationstone
kennt die Tiefe unseres Gefühles nicht. Daher ist seine Lyrik
mehr leicht und geistreich, als tief und innig. Bei den Provençalen bildete
sich allerdings im Mittelalter eine Poesie aus, die Religion und Liebe, sowie
Abenteuer zum Gegenstande hatte: die sogenannte provençalische, deren Dichter
Troubadours genannt wurden (von trobar oder trouver, ital. trovare, erfinden,
ersinnen, erdichten). Die Zahl der Troubadours war so groß, als die
unserer Minnesinger, welche durch sie manche Anregung erhielten. Von den
späteren hervorragenden Dichtern sind zu nennen: Voltaire († 1778) und der
größte klassische Dichter des 18. Jahrhunderts Rousseau († 1741), sowie aus
unserem Jahrhundert: Lamartine († 1869), der 1848 eine Zeit lang Präsident
der Republik war. Er begründete seit 1820 durch seine Méditations
poétiques eine neue Zeit der höheren Lyrik, ebenso durch seine Harmonies
poétiques et réligieuses. (Seine Werke sind von Gust. Schwab, Demmler und
Herwegh deutsch übersetzt.) Jhm folgte die Periode des Romanticismus mit Viktor
Hugo und Alfred de Vigny. Später war beliebt: Beranger (geb. 1780),
ein Volksdichter, der bedeutendste Chansonnier, in dessen Chansons sich so recht
der Charakter der Franzosen ausspricht, was schon deren Einteilung in „liederliche,
politische und rein menschliche“ ersehen läßt. Jhm schlossen sich an
Debraux, Auguste Vacquerie, Barbier, Quinet, A. de Musset, die schwärmerische,
dabei zarte Frau Desbordes-Vallmore u. a.
Als Elegiker haben sich bei den Franzosen neben Lamartine ausgezeichnet:
Deshoulières, La Lure, Victor Hugo u. a.
g. Die Briten. Die Lyrik der Briten ist der deutschen verwandt.
Sie ist tief, ernst, wenn auch die Form weniger klangvoll und anziehend ist,
als bei den romanischen Völkern. Jn früherer Zeit waren die Minstrels die
Repräsentanten der Lyrik. Sie trugen mit Harfenbegleitung die englischen
Nationallieder vor und wahrten den Charakter der altenglischen Volkspoesie
gegen das eindringende Franzosentum (z. B. unter Wilhelm dem Eroberer,
der bekanntlich 1066 durch die Schlacht von Hastings den südlichen Teil Englands
unterwarf). Die Schöpfer der englischen Lyrik sind: Graf von Surrey
(1547), sowie Thomas Wyatt († 1542), Shakespeare (Dichter herrlicher
Sonette, † 1616).
Von den neueren Lyrikern sind zu nennen: Robert Burns († 1796),
ein schottischer Landmann, dessen Lieder erfrischend wirken, wie Bergluft. Walter
Scott (1771─1832). Lord Byron (1788─1824), wohl der bedeutendste
Lyriker Englands. Thomas Campbell (1777─1834). Thomas Moore († 1852,
ein gottbegnadeter Liederdichter. Seine „Irish melodies“ sind von Freiligrath
und Plönnies deutsch übersetzt). Zwei der jüngsten bedeutenden Lyriker sind
Algeron Charles Swinburne und Alfred Tennyson.
Die bedeutendsten Elegiker der Briten sind: Gray, Lord Byron, Shelly,
Hammond, Beattie, Jermingham &c.
h. Die Czechen. Der Charakter der czechischen Lyrik ist Weichheit in
sanften Weisen, Sentimentalität, weshalb alle Lyriken in Moll-Weisen komponiert
sind. Reich an Volksliedern sind besonders die Slaven und Böhmen, deren
älteste Lyrik religiös war. Jhr ältestes, geistliches Lied (deutsch: „Herr, erbarme
dich unser“) wird heute noch in czechischen Kirchen Böhmens gesungen. Auch
weltliche Volkslieder haben sich aus früher Zeit erhalten, z. B. das von Goethe
übersetzte „Sträußchen“ (Kytice), das viel Ähnlichkeit mit Goethe's Romanze
hat. Wenzel I. trat als deutscher Minnesinger auf. Später erhielten sich
die hussitischen Kirchen- und Kriegslieder, deren Melodien zum Teil von Luther
benutzt sein sollen. Mit der Thronerhebung der Habsburger, besonders unter
Rudolf II., feierte die böhmische Litteratur ihr goldenes Zeitalter.
Zu erwähnen sind als Dichter: Der Bischof der Brüder Joh. Augusta
(† 1575. Seine religiösen Poesien enthalten 20 000 Verse). Lomnicky von
Budeck (geb. 1560, von Rudolf II. gekrönt und in den Adelstand erhoben).
Von den Neueren: Celakovsky († 1852 als Professor in Prag; in's Deutsche
übertragen von Wenzig). Johann Rolar († 1852. Neben slovakischen Volksliedern
besitzt die Litteratur von ihm als Hauptwerk: Slary dceva == Tochter
des Ruhmes: fünf Gesänge aus etwa 600 Sonetten bestehend. Analyse:
Der Dichter lernt an der Saale die Tochter der Slava [Ruhm] kennen und
liebt sie. Von ihr getrennt, erzählt er in Ungarn die Nachricht vom Tode
der Jungfrau. Auch aus dem Jenseits geben die Sonette Mitteilung, schildern
die Freude der Verklärten, die Qualen der Verdammten u. s. w.).
i. Die Serben. Die Volkslieder der Serben sind durch Herder, Goethe,
Grimm und besonders durch die Talvj (Pseud. von Ther. Albertine Luise
Robinson) deutsch übersetzt worden. Einer der hervorragendsten Kunstdichter
der Serben war der Vladika von Montenegro, Peter P. Nejkosch. Die ersten
Lyriker der Neuzeit sind: Jovanowitsch. Sundetschitsch, Nenadowitsch, Raditschewitsch
u. a.
k. Die Ungarn. Als hervorragende ungarische Lyriker sind zu nennen:
Johann Rimay († 1631), Graf Stefan Kohary († 1730), Nikolaus Zrinyi,
Benedikt Viray († 1830) und Michael Vörösmarty († 1835). Der bedeutendste
ungarische Lyriker der Gegenwart ist Petöfi (1823─49). Seine von
Kertbeny in's Deutsche übersetzten Schlachtenlieder begeisterten 1848─49 die
ungarische Jugend.
l. Die Russen. Jn der lyrischen Poesie zeichneten sich in Rußland
u. a. aus: Karamsin, Kapnist, Schukowski (Dichter der Nationalhymne „Gott
beschütze den Kaiser“), Basil. und Alex. Puschkin, Dolgoruki, Rosenheim,
Ogarew, die Gräfin Rostoptschin, Elis. Kulmann (welche deutsch, ital. und
russ. dichtete) u. a.
m. Die Neugriechen. Neben Alex. Ypsilanti und den Brüdern Sutsos,
die durch ihre Freiheitslieder bekannt wurden, sind besonders gefeiert Athanasios
Christopulos, Georgios Zalakostas († 1858) und Alexandros Zoïros.
n. Nordische Völker. Die Poesie der nordischen Völker trägt den
germanischen Charakter des Ernsten, Großartigen, Überwältigenden. Die Dichter
Baggesen († 1826; er schrieb auch 2 Bände deutscher Gedichte), Steffens
(† 1845, ein Norweger), Munch, Bierregaard (Norweger), Öhlenschläger
(† 1850, Däne) und die Schweden Atterbom, Dahlgren, Nicander, Tegner
(† 1847) u. a. haben in ihren Litteraturen Unvergängliches geschaffen.
o. Jnder. Lyrische Dichtungen der alten Jnder finden sich in den
Vedas. Bedeutende Lyriker sind: Tschaura, Ghatakarpara, Bhartrihari, Amaru,
Kalidasa, sowie Jayadevas, der Verfasser des herrlichen Liebesidylls Gita=
Gowinda. Jn unserem Jahrhundert werden als hervorragende indische Lyriker
gerühmt: Mumin aus Delhi († 1852), Naçir († 1843), Atasch († 1847),
Mul-Chand, der Übersetzer des Schah-Nameh; endlich Mamnun, der beliebteste
indische Lyriker der Gegenwart u. a. m.
p. Perser. Zu den berühmtesten Lyrikern des 12. Jahrhunderts gehören:
der Odendichter Chakani, und Saadi. Dann begann mit Hafis die Blüte der
persischen Lyrik. (Man vgl. die deutschen Ausgaben: Daumers Hafis, 2. Ausg.
Hamburg 1846. Ferner: Duftkörner aus persischen Dichtern, gesammelt von
Hammer-Purgstall; endlich Rückerts Östliche Rosen &c.) Erwähnenswert sind:
Enweri, Nisami, Dschelaleddin-Rumi, Dschami u. a.
q. China. Als Denkmal der chinesischen Lyrik ist vor allem das von
Rückert in metrischem Deutsch nachgebildete Liederbuch Schi-King zu erwähnen.
r. Araber. Bei den Arabern ist besonders Abu Temmam (der Sammler
der von Fr. Rückert in's Deutsche übertragenen Hamasa) neben vielen andern
Lyrikern zu nennen, die der Leser zum Teil aus der erwähnten Rückertschen
Hamasa kennen lernen kann u. s. w. Vgl. auch von Rückert: Amrilkais &c.,
sowie Hariri &c.
s. Türken. Die beiden größten Lyriker der Türken waren Tedschati
(† 1508) und der unsterblich gepriesene Baki († 1600) u. s. w.
Anthologien und Hilfsmittel.
a. Für andere bedeutende Lyriker fremder Litteraturen, die hier begreiflicherweise
nicht genannt werden konnten, sowie für ausgewählte Proben verweisen
wir 1. auf Jolowiczs Polyglotte der orientalischen Poesie (Leipzig 1856), sowie
2. auf Scherrs Bildersaal der Weltlitteratur (Stuttg. 1848 und 1869).
Erstere Anthologie umfaßt Chinesen, Jnder, Hebräer, Araber, Perser, Syrer,
Türken, Tscherkessen, Afghanen, Armenier, Mongolen, Kalmücken, Turkomanen
Kurden, Yesiden, Javanesen, Malayen, Bugis, Makassaren und Madagassen
Scherr behandelt Jndien, China, Hebräer, Arabien, Persien, Türkei, Hellas,
Rom, die Troubadours, Jtalien, Spanien und Portugal, Frankreich, England,
Schottland, Jrland, Nordamerika, Deutschland, Niederland, Skandinavien, sowie
die Slavenländer: Böhmen, Serbien, Polen, Rußland nebst Ungarn und
Neugriechenland &c.
Für Proben aus deutschen Lyrikern, die wir zum Teil nicht einmal erwähnen
konnten, machen wir auf folgende Auswahlen aufmerksam: W. Menzel,
Die Gesänge der Völker (Leipzig 1851). J. Schenkel, Deutsche Dichterhalle
(Mainz. 2 Aufl. 1856). Rud. Gottschall, Blütenkranz neuer deutscher Dichtung
(Breslau, 9. Aufl. 1878). E. Kneschke und M. Moltke, deutsche Lyriker
seit 1850 (Leipzi. 3. Aufl. 1873). Maxim. Bern, deutsche Lyrik seit Goethes
Tode (Leipzig). Gödeke, a. Elf Bücher deutscher Dichtung von Sebast. Brant
bis auf die Gegenwart (2 Bände. Leipzig 1849); b. Edelsteine aus den
neuesten Dichtern (Hannover 1851); c. Deutsche Dichtung im Mittelalter
(Hannover 1852. Neue Ausg. 1871) u. s. w.
Für ein beschauliches Betrachten einzelner hervorragender Lyriker dürfte
sich neben andern in dieser Poetik bereits genannten Hilfsmitteln besonders
auch die durch freundliche Detaillirung &c. sich auszeichnende, bereits in 5. Aufl.
erschienene Deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts von
Rud. v. Gottschall empfehlen, die auch wir hie und da (z. B. Bd. I. § 18)
zu Rate ziehen konnten.
Drittes Hauptstück.
Die didaktischen Dichtungen. ──────
§ 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen.
Wir unterscheiden 1. symbolische Didaktik, 2. Didaktik mit besonderer
Tendenz, 3. eigentliche Didaktik.
Das belehrende (instruktive), zugleich aber auch das erhebende, erbauende,
belebende Element der didaktischen Dichtungen kann vom Dichter auf eine dreifache
Weise eingeführt werden:
1. Er kann einen Gedanken, eine Jdee in einem Bilde versinnlichen.
Diese Art einer Jnstruktion im höheren Sinne dieses Wortes, in welchem wir
es nicht mit bloßem „Unterrichten“ verwechseln dürfen, kann man füglich als
symbolische Didaktik bezeichnen.
2. Jn einer anderen Art wirkt der didaktische Dichter dadurch, daß er
der Verkehrtheit oder Einfalt gegenüber Jronie, Spott, Satire, Humor u. s. w.
anwendet, indem er je nach seiner Gemütsart nicht offen bessern oder belehren,
vielmehr durch Feinheit des Witzes und Humors auf die rechte Bahn leiten will.
Dieses charakteristische Verfahren bedingt das Lehrgedicht mit besonderer
Tendenz.
3. Jn einem dritten Fall spricht der Dichter seine Gedanken, Jdeen,
Belehrungen als solche unverblümt aus, die, weil er Dichter ist, immerhin
poetisch=künstlerisch sein werden. Es entstehen auf diese Weise die eigentlichen
didaktischen Gedichte.
Somit haben wir drei Arten Lehrgedichte, welche (je nachdem sie einen
einzelnen Gedanken oder eine Reihe von belehrenden Jdeen aussprechen) entweder
kurze Sinngedichte, oder einfache didaktische Gedichte,
oder große Lehrgedichte sein können. Nach diesen Gesichtspunkten ergiebt
sich die folgende Einteilung:
I. Symbolische Didaktik.
1. Fabel.
2. Parabel, Paramythie.
3. Sinnbild.
4. Allegorie.
a. Allegorie.
b. Rätsel.
II. Didaktik mit besonderer
Tendenz.
1. Satire.
2. Travestie und Parodie.
3. Humoristische Dichtungen.
III. Eigentliche Didaktik.
1. Jdeale Gedankenlyrik.
2. Kulturhistorisches Gedicht.
3. Epigramm.
a. Sinngedicht.
b. Gnome, Spruch.
4. Poetische Epistel,
Heroide.
5. Kurze lyrisch=didaktische
Formen.
6. Wirkliches Lehrgedicht.
I. Symbolische Didaktik.
§ 79. Fabel.
1. Eine kurze, einfache, erdichtete Erzählung, welche der Sprache
unfähige Geschöpfe, oder auch leblose Gegenstände sprechend und handelnd
einführt, um in belehrender Absicht dem Menschen sein eigenes
Bild vorzuhalten, oder einen Erfahrungssatz aus dem Gebiet der Sittlichkeit
zu versinnlichen, heißt Fabel (griech. αἶνος == Spruch ─ verwandt
mit aio? ─; lat. fabula von fari == sagen). Jhre Lehre (didaxis)
bezieht sich lediglich auf einfache moralische Wahrheiten, auf Verhaltungs=,
Klugheits- und praktische Lebensregeln, weniger auf tiefe Wahrheiten.
2. Die Fabel verlangt Einfachheit, Kürze, Kindlichkeit, und Beachtung
des Charakters ihres Objekts.
3. Sie ist gleich der Mythe eine der ältesten Gattungen der
Poesie. Der Vater der Fabel ist Äsop.
4. Jm Mittelalter hieß bei uns die Fabel auch Bîspël, von bî
bei und spël Rede, Erzählung (gleichsam παραμυθία).
5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.
6. Fröhlich brachte ein lyrisches Motiv in die Fabel.
7. Das deutsche Sprichwort ist teilweise das übriggebliebene
Epimythium (Lehre, Nutzanwendung) untergegangener Fabeln.
8. Die metrische Form ist vorzuziehen.
9. Das Einteilungsprinzip ist ein mannigfaches. Gewöhnlich
unterscheidet man ernste und humoristische Fabeln.
1. Lessing definiert den Begriff der Fabel folgendermaßen: „Wenn wir
einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen,
diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus
dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt
diese Erdichtung eine Fabel.“
Vischer sagt: „Die Fabel ist im besten Sinn ein Stück Bauernpoesie.
Die Bauernklugheit entnimmt aber praktische Sätze, Regeln des Lebensverstandes [161]
aus dem verwandten Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der
Sinnlichkeit, der List der Tiere.“
Obwohl ihrer Form und ihrer Natur nach zu den epischen Dichtungen
gehörig, vereint die Fabel wie keine Dichtungsgattung die Zwecke und Teile der
didaktischen Poesie. Unter der symbolischen Hülle des tierischen Jnstinkts stellt sie
ihre Lehren als Handlungen der Tiere dar. Diese didaktische Tierfabel ist aus der
epischen Tiersage entstanden. Die epische Tiersage beschränkt sich aber lediglich auf
Tiere, welche ihre Orte wechseln können und durch ihre Art von Sprache und verständigem
Urteil zur Übertragung menschlicher Geschichten auf die Tierwelt anreizen.
Später gestattete man der Phantasie größeren Spielraum und führte neben
Tieren auch Pflanzen und leblose Gegenstände redend ein. Auf dem Standpunkt
heutiger Bildung dürfen anorganische und andere beliebige Gegenstände
der Natur die Stelle der Tierwelt vertreten. Es kann z. B. das Schilfrohr zur
Bezeichnung der Charakterlosigkeit dienen, die Eiche als Symbol der Kraft, der
Selbständigkeit u. s. w.
Menschen machen in der Fabel die geringste Wirkung, weil sich so leicht
die menschlichen Leidenschaften mit in's Spiel mischen und die naive Anschauung
wie die Überzeugung von der Wahrheit verhindern. Man würde auch immer
erst eine Charakteristik vorausschicken müssen, was bei Tieren mit ihrem bekannten
typischen Charakter und bestimmten Jnstinkt überflüssig ist, bei dem sogar die
Handlung den Schein einer Notwendigkeit trägt.
Die Erzählung in der Fabel ist nicht eigentliche Absicht, vielmehr ist die
Erzählung nur für Vermittlung einer Moral gegeben. Das was die Fabel
lehrt, heißt ihre Moral. Diese aus der Fabel zu schöpfende Moral (Lehre
oder Nutzanwendung) ist oft ihrer Erzählung angehängt. Jn diesem Fall heißt
sie Epimythium (ἐπιμύθιον == Nachwort), das im Latein regelmäßig eingeleitet
wird mit haec fabula docet. Jst die Lehre am Anfang ausgesprochen,
so heißt sie Promythium.
2. Anforderung. Die Fabel muß einfach, naturgemäß, kurz, anschaulich,
verständlich in Bildern und Sprache, kindlich im Tone sein, damit das
niedere Volk und die Kinderwelt, für welche diese didaktische Volksdichtung
geschrieben zu sein scheint, ihre Moral leicht zu erkennen vermögen. Das
redende oder handelnde Tier muß so gewählt und gezeichnet sein, daß der
Mensch in ihm seine eigenen guten und bösen Eigenschaften erkennt. Die Bestimmtheit
der Charaktere (z. B. die List des Fuchses, die Treue des Hundes,
die Trägheit des Esels u. s. f.) darf von dem Dichter nicht verändert werden.
Nur dadurch, daß z. B. der Esel ein Esel bleibt (also nicht etwa den Mut
des Löwen zeigt), bleibt die Fabel naiv, wirklich. Die Fabel will nicht als
Allegorie, sondern als Wirklichkeit aufgefaßt sein. Es sind deshalb nur Regeln
und Wahrheiten für das gewöhnliche Leben, welche in der Fabel ihren Ausdruck
finden, weil ja höhere Wahrheiten und tiefe erhabene Regungen des
Menschenherzens nicht auf die Tiere zu übertragen sind.
Die Poesie der Fabel besteht nach Götzinger darin, daß der Dichter in
eine Sache, die an und für sich nur dem Verstande einleuchten soll, poetisches [162]
Leben bringt; daß seine Figuren also nicht bloß als personifizierte Abstrakta
auftreten, sondern eine lebendige, bestimmte Gestaltung gewonnen haben; daß
er unser Jnteresse nicht nur für den Sinn der Fabel erregt, sondern für die
Form derselben; daß also die Fabel uns nicht mehr als bloße Einkleidung
erscheint, sondern als selbständiges Werk, welches uns erfreut, auch wenn wir
gar nicht auf Sinn und Zweck desselben sehen.
3. Die Fabel (wie ja auch ihre für sittliche Lehren von höherer Bedeutung
geeignete Seitenart: die Parabel) entwickelte sich am frühesten bei den
Orientalen: den Jndern und den Juden, welche letztere die ältesten Fabeln
und Parabeln besaßen. (Z. B. Richter 9. 8─15, und 2. Sam. 12. 1─4.)
Die Griechen hatten nach dem Tierepos Batrachomyomachie (das
fälschlich dem Homer zugeschrieben wird) die kurze, präcise, die Absichtlichkeit
auf der Stirn tragende Fabel von Äsop um 600 v. Chr. (bearbeitet von
Babrios im 2. Jahrhundert v. Chr.) mit ihrer Nutzanwendung. Man nennt
diese äsopische Fabel die epigrammatische.
Die Lateiner, welche dem Äsop als dem Vater der Fabel nachdichteten,
besonders Phädrus, liebten ebenfalls den moralischen Anhang.
Dies war auch bei unsern Fabeln des Mittelalters der Fall, die den
Lateinern nachgedichtet sind. Unsere Fabel wurde bald redseliger, als bei den
Lateinern und den Griechen, und erhielt nach dem Latein eine angefügte Moral.
Wir hatten bereits einen um den Fuchs Reinecke gesammelten Tiersagenkreis,
ließen uns aber gern die äsopische Fabel gefallen. Man behandelte
und verdarb teilweise einheimische Tiersagen; d. h. man äsopisierte sie
ebenso, wie man äsopische Fabeln nationalisierte. So verschwand die epische
Tiersage aus der Poesie der Gebildeten und das dem Altertum entlehnte
Fremde, die didaktische äsopische Tierfabel, siegte. (Jm Fuchs Reinhart, wie
später in Rollenhagens Froschmäusler (1505), welch letzterer auf der
Batrachomyomachie aufgebaut war, wiederholte sich der Versuch, eine ganze Epopöe
didaktisch auszuführen, wobei trotzdem der symbolische Charakter (d. i. die Lehrabsicht)
fehlt. Reinecke Fuchs, der bis nach Altindien hinüber reicht, und den
Goethe in's Hochdeutsche übertrug, war anfangs auch bloß eine harmlose Schilderung
des Tierlebens, und der Erzählung wegen da. Erst später wurde er absichtlich
zum Sinnbilde des Menschenlebens gemacht, das ja dem Tierleben in
so vielen Beziehungen so ähnlich ist, wurde er episch=didaktisch.)
4. Die didaktisch gemeinten Fabeln und Erzählungen bezeichnete man im
Mittelalter durch den gemeinschaftlichen mittelhochdeutschen Namen „Bispel“,
woraus unser Wort Beispiel wurde. (Nicht verwandt mit spel ist das Spiel,
wohl aber in Kirchspiel. Grundwort lat. (s)pellare, z. B. ap ─ anreden,
com ─ bereden; frz. épeler, engl. spell, wovon go(d)spel == Gotteswort,
Evangelium, demnach bîspël == Nebenerzählung : Parallele.)
5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.
Er war es, der gegen die allmählich sich einbürgernde Breite und Geschwätzigkeit
der deutschen Fabel reformatorisch vorging und die äsopische Fabel
als Muster hinstellte. Nach seinem Vorgang beschränkte man sich bei uns in [163]
den Fabeln auf ein Ereignis und befleißigte sich der äsopischen Kürze. Jn
seinen eigenen Fabeln vom Jahre 1759 sucht er irgend einen moralischen
Kern aus der Tierwelt zur Anschauung zu bringen ohne besondere Nutzanwendung:
ohne Epimythium. Seine Nachfolger, die ihm zum Teil in Anwendung
der Prosa folgten, haben ebenfalls dem Leser die moralische Nutzanwendung
überlassen.
6. Fröhlich († 1865) gab der Fabel eine neue Wendung, indem er sie
aus dem Gebiet der Epik dem der Lyrik näherte, die Wirklichkeit weniger verstandesmäßig
als gemütlich auffaßte und seinen Fabeln, bei denen er die sittliche
Bedeutung in die Handlung legte, poetische Form ohne Epimythium verlieh.
7. Von vielen alten Fabeln blieb nur ein kurzer Rest übrig, den man
Sprichwort nennt.
Somit ist das Sprichwort einer paläontologischen Betrachtung fähig und
wert. Es ist eine Art versteinertes Knochengerüste früherer, in Vergessenheit
geratener Fabeln.
8. Bezüglich der Form der Fabel ist metrische Gestaltung der Prosa vorzuziehen.
Lessing hat nach seinem eigenen Geständnisse nur deshalb Prosa
gewählt, weil er befürchtete, Reim und Silbenmaß werden hie und da dem
naiven Ausdruck entgegen treten oder ihn ─ den Meister ─ meistern.
9. Man kann die Fabel einteilen in a. theoretische (Verstand bildende),
b. sittliche (Willen bestimmende), welche beide Arten ein Ereignis in
der Natur als Gesetz darstellen für die allgemeine Weltordnung, der auch der
Mensch gehorchen muß; die Geschichte der Fabel zeigt hier, wie es in der
Welt geht; c. Schicksalsfabeln, welche das Walten einer höheren
Macht im Erdenleben als Nemesis zeigen; die Lehre der Fabel heißt sodann:
so mußte es kommen; das sind die Folgen.
Sonst teilt man die Fabeln noch ein: in ernste und in humoristische
Fabeln; ferner in Fabeln mit angehängtem Epimythium und ohne ein solches;
endlich in Tierfabeln und solche, welche leblose Gegenstände redend einführen.
Beispiele der Fabel.
A. Tierfabel.
a. Mit Epimythium.
Das Schäfchen und der Dornstrauch, von Hagedorn.
b. Tierfabel, die das Epimythium dem Leser überläßt.
Das Johanniswürmchen, von Pfeffel.
B. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt.
a. Mit Epimythium.
Der Eppich und der Thymian, von Pfeffel.
b. Ohne Epimythium.
Niederes Loos, von Abr. Em. Fröhlich.
Litteratur der Fabel.
Als Fabeldichter sind zu nennen: Bei den Griechen Äsop (geb. in
Phrygien um 550 v. Chr.). Er war ursprünglich Sklave und lebte dann
am Hofe des Krösus. Seine nur durch Erzählung fortgepflanzten Fabeln
wurden 300 v. Chr. gesammelt und erst im 2. Jahrh. v. Chr. von dem
griechischen Dichter Babrios in choliambische Verse gebracht. Jhm dichtete der
Römer Phädrus nach (kurz v. Chr. Geburt). Er schrieb im jambischen Trimeter
Fabulae Aesopiae in 5 Büchern; 60 Fabeln hievon scheinen eigener Erfindung.
32 wurden erst 1727 aufgefunden. Von Phädrus haben teilweise die Stoffe entlehnt:
Stricker, als der älteste deutsche Fabeldichter (Mitte des 13. Jahrh.). Boner
(1340. Edelstein; es sind dies 2100 Fabeln in einfacher Sprache, die lange
ein Lieblingsbuch waren). Gerhard von Minden, Burkhard Waldis
(letzterer der bedeutendste Fabeldichter des 16. Jahrhunderts, der als solcher
über Luther, Hans Sachs und Alberus von Neubrandenburg im Mecklenburgischen
steht, welch letzterer durch seine Sammlung von 49 satirischen Fabeln
bekannt ist. Waldis schrieb den „Neuen Esop“, eine Sammlung von 400
teils selbst erfundenen, teils nachgebildeten Fabeln). Dann seit 1740 die
Mehrzahl der Fabeldichter von Hagedorn und Gellert bis Fröhlich.
Von den Arabern ist zu nennen Lokman. Er lebte lange vor Muhamed.
Seine Fabeln sind den Äsopischen ähnlich, weshalb man vermutete, daß teils
aus dem Sanskrit, teils aus dem Griechischen verschiedene Fabeln in's Arabische
übertragen und Lokman zugeschrieben wurden.
Von den Jndiern sind erwähnenswert die Sammelwerke 1. Hitopadesa.
(Die Dichter der Fabeln der Hitopadesa sind unbekannt. Die Hitopadesa
wurde teilweise von Rückert übertragen oder benutzt. 1844 übersetzte
sie auch Max Müller.) 2. Die Fabelsammlung Pantschatantra, die der Brahmine
Wischnu Sarma vereint haben soll und deren Fabeln sich als Fabeln
des Bidpai erhalten haben. (Der persische König Chosru Nuscherwan ─
6. Jahrh. v. Chr. ─ ließ diese vom Weisen Bidpai erhaltenen Fabeln aus
Jndien holen. Nach der Eroberung Persiens durch die Araber wurde die
Sammlung des Bidpai in's Arabische übertragen; so ist sie uns erhalten worden.)
Der Rosengarten des Saadi (persisch == Gulistan) und Der
Fruchtgarten desselben Dichters († 1291 zu Schiras) sind bei den Persern
berühmte Fabelsammlungen.
Bei den Engländern sind Gay und Mandeville zu nennen. (Mandevilles
Bienenfabel ist eine in gereimten Knüttelversen geschriebene Erzählung,
die um 1714 das größte Aufsehen erregte, indem die große Jury das Buch
als eines der unsittlichsten denuncierte, während es doch nur nachweisen wollte,
wie aus dem Schlimmen oft Gutes erwächst. Jn seinem Bienenstocke sorgt
alles nur für sich, die Juristen, die Ärzte, die Geistlichen, die Minister &c.;
doch prahlte alles mit Ehrlichkeit. Jeder betrog und jeder rief: fort mit den
Betrügern! Merkur lachte. Aber Zeus erlöste den Staat vom Betrug. Da
sanken die Lebensmittelpreise &c. Keine Biene machte mehr Schulden, man
imponierte nicht mehr nach außen. Man brauchte keine Künstler, keine Gewerbtreibenden [166]
mehr; ein Kleid genügte, die Genügsamkeit sammelte keine Schätze:
der Staat wurde volklos. Die Moral lautet: Also lasset die Klagen.
Die Reize der Welt, im Kriege Ruhm, und zugleich im Leben Luxus verlangen
ohne große Laster, ist ein eitles, utopisches Hirngespinst. Durch die Gerechtigkeit
gebändigt, hat auch das Laster sein Gutes; ja, sogar, wo das Volk
groß dastehen will, ist es dem Staat ebenso notwendig, wie der Hunger notwendig
ist, um zum Essen zu treiben u. s. w. Die Tendenz dieser Fabel ist
nach dem Erwähnten ebensowenig eine Empfehlung des Lasters, als es eine
Empfehlung des Zwanges wäre, wenn man sagt: „Hoffahrt muß Zwang
leiden“ u. s. w.).
Von den zu uns verpflanzten Franzosen sind besonders zu nennen La
Motte und La Fontaine, dessen humoristische Fabeln dem Tiere den gesellschaftlichen
Unterhaltungston verleihen. (Vergl. Edition corrigée Paris Libr.
classique d'Eugene Belin.)
Jn Deutschland sind außer den oben Genannten zu erwähnen: Hagedorn
(z. B. der Hahn und der Fuchs; der Bauer und die Schlange). Kleist
(der gelähmte Kranich); Gellert (er war wie Lichtwer und Gleim meist satirisch
oder epigrammatisch; seine Sprache ist rein und seine Versifikation leicht,
so daß er das Vorbild der meisten Fabeldichter der Folgezeit wurde). Eine
gute Sammlung von Fabeln (Fabellese) gab Ramler heraus. Michaelis
(† 1772, z. B. Die Stadtmaus und die Feldmaus). Lichtwer schrieb vier
Bücher Äsopischer Fabeln (z. B. Die Katzen und der Hausherr; Der Affe und
die Uhr). Gleim (z. B. Der Greis und der Tod; Der Hirsch der sich im
Wasser sieht). Müchler (Der Affe). Langbein (Das Pferd und der Stier).
Tiedge (Das Privilegium). Pfeffel (schrieb sentimental=satirische Fabeln, z. B.
Der Wolf, der Schöps und das Reh; Ochs und Esel zankten sich &c.). Gottl.
Meißner († 1807. Fabelsammlung). Bertuch, der verdienstvolle Herausgeber
des Bilderbuchs für Kinder in 237 Heften, schrieb wertvolle Fabeln von denen
mehrere in Fabelsammlungen für Schüler übergingen (z. B. das Lämmchen;
das milchweiße Mäuschen).
Der Reformator der Fabel, der sie in seinen „Abhandlungen über die
Fabel“ wissenschaftlich begrenzte, war Lessing.
Er hat häufig den Stoff anderer Fabeln benutzt, um neue zu bilden.
So läßt er z. B. das Stück Fleisch, welches bei Äsop dem Raben aus dem
Schnabel fällt, vergiftet sein und erhält nun die Fabel: Der Rabe und der
Fuchs. Oder er gestaltet die Moral edler (in Fab. Aes. 112). Oder unter
Benützung des hauptsächlichsten Moments einer Fabel macht er eine neue Fabel,
(z. B. wie dem Wolf der Knochen im Halse stecken blieb) u. s. w.
Um die Reform der poetischen Fabel hat sich nach Lessing besonders der
Schweizer Abr. Em. Fröhlich verdient gemacht. (Vgl. Ellengröße; die Sanften;
Wiederfinden &c.) Ebenso that auch Rückert manches für die Fabel. Nach
seinem Vorgang wurde die Fabel für Kinderlitteratur gepflegt durch Güll,
Hey, Franz Hoffmann, Holzmüller &c.
Von Rückerts Fabeln erwähnen wir:
a. Nicht der Tierwelt angehörige, z. B. Messerchen und Gäbelchen;
b. Aus der Tierwelt, z. B. Sperling und Kater; Die Beichte der Tiere;
Des Hahn Gockels Leichenbegängnis.
Goethe schrieb: Der Adler und die Taube. Jn neuerer Zeit sind nennenswert
K. A. Mayers heitere Fabel Spatz und Spätzin, sowie die Fabeln von
J. Sturm. Die unter dem Titel: „Vom Frühling zum Winter. Zwölf Mährlein
von B. Paul“, in Leipzig erschienenen sogenannten „Märchen“ sind ein
neues Genre dieses Verfassers, der dasselbe bereits durch seine vor einigen
Jahren erschienenen „Abendmärlein für mein Mütterlein“ in die Litteratur
eingeführt hat. Märchen im Schulsinn sind sie nicht; vielmehr könnte man
mehrere derselben Pflanzen- und Tierfabeln nennen, erdichtete Erzählungen, welche
die der Sprache unfähigen Geschöpfe oder Gegenstände sprechend und handelnd
einführen, um das Bild der Menschen zu versinnlichen, Wahrheiten zu verkörpern
oder die Elemente naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu verbreiten &c.
§ 80. Parabel.
1. Parabel (griech. παραβολή == Nebeneinanderstellung oder Vergleichung)
ist jene didaktische Dichtungsform, welche durch eine Erzählung
die indirekte Antwort auf eine bedeutungsvolle Frage des
geistigen oder sittlichen Lebens bietet (wie z. B. Lessing auf die Frage
nach der wahren Religion durch die Erzählung von den 3 Ringen antwortet
─ vgl. Nathan III 3).
2. Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas
Anschauliches, vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie für
eine Wahrheit.
1. Nachdem die Tiersage didaktisch geworden war, zog man auch die
menschliche Geschichte, ja selbst die der Götter in das Gebiet des Didaktischen,
und man wählte oft nur fingierte Ereignisse, um den Vorwand einer Lehre zu
erhalten. So war man zur Parabel d. i. zur Gleichniserzählung gelangt,
unter welcher man nunmehr diejenige poetische Dichtung versteht, welche im
Gegensatz zur Fabel höhere Wahrheiten vorzuführen sucht.
Sie knüpft ihre Lehre nicht an Tiere oder redend eingeführte Gegenstände, wie
die Fabel, sondern bei der höheren Bedeutung ihrer sittlichen und religiösen
Wahrheiten gegenüber den einfachen, volksmäßigen Wahrheiten der Fabel an
rein menschliche Verhältnisse (vgl. das Gleichnis vom Säemann. Matth. 13.
3 ff.), oder an geschichtliche Begebenheiten, die immer wieder vorkommen können.
Die Parabel enthält ein Gleichnis, und stellt einen einzelnen Seelenzustand,
eine bestimmte Handlungsweise oder irgend ein Verhältnis des Menschen dar,
nicht als ein einzelnes bestimmtes Ereignis, sondern als etwas Allgemeines.
Sie dient als Sinnbild einer andern Handlung, der ein moralischer Satz als
Bestimmungsgrund des Handelns untergelegt ist. Sie vergegenwärtigt einen [168]
Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend,
als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte
Belehrung.
2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der
Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend,
eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von
höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn
des § 116 (Bd. I.) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel a.)
Bei der Lehre, welche die Fabel giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das
Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein
Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit:
die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe
nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel
gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine
Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch,
daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem höheren Geistesleben
angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind.
Nur ausnahmsweise werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem
Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der
Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die
Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares
Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich
macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung
erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung.
Beispiele der Parabel.
a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von
Amara George. (Aus Mythoterpe. 1858. S. 406.)
b. Der thörichte Mann, von Fr. Rückert.
(Der Vergleichung wegen machen wir auf die Bearbeitung dieser Parabel
durch Rudolf von Hohen-Ems in „Barlaam und Josaphat“ aufmerksam, welche
anstatt des Kamels ein Einhorn nennt; ferner auf die Bearbeitung, wie sie
sich im „Buch von den sieben Weisen“ findet. Vgl. unsere Studie in Nachgel.
Ged. Rückerts. Wien, Braumüller. 1878. Von den übrigen Parabeln Rückerts
sind: „Jm Feld der König Salomo“, und „Es ritt ein Herr, das war sein
Recht“ und „Die vier Thüren“, welche an Lessings Erzählung von den 3
Ringen erinnern, in die besseren Schullesebücher und Mustersammlungen übergegangen.
Desgleichen die allbekannte „Des fremden Kindes heiliger Christ“,
eine legendenartige Parabel. Man vergleiche auch die vielen Gleichnisse in
Rückerts „Leben Jesu“, denen des neuen Testaments nachgebildet, wie z. B.
Der Weinstock und die Rebe; Der Säemann.)
c. Parabel von Herder. (Ausgew. Werke. 1844. S. 104.)
Zur Litteratur der Parabel.
Die ältesten Parabeln finden wir in der Bibel, namentlich in den Gleichnissen
Jesu. Durch Herder und später durch Rückert wurde die Parabel
aus dem Orient zu uns gebracht. Seitdem hat man auf ethischen, religiösen
und ästhetischen Gebieten durch sie gewirkt. Die meisten Parabeln sind in
Prosa geschrieben, z. B. die von Krummacher (1768─1845), der seine
Berühmtheit nur seinen kindlich frommen Parabeln zu danken hat. Hervorragende
Parabeldichter sind ferner: Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius),
Herder (Wozu es wird), Voß, Richter, Niemeyer, Bürger, Schiller
(Das verschleierte Bild zu Sais), Chamisso (Die Kreuzschau), Agnes
Franz, Amara George u. a.
§ 81. Paramythie.
1. Paramythie (griech. παραμυθία == Ermunterung oder Ermahnung,
Erholung, Trostrede) ist eine Art Parabel, in welcher mythische
Wesen, also Götter aus der Mythologie, Engel, überhaupt höhere übermenschliche
Wesen u. s. w. auftreten.
2. Den Namen erhielt diese Dichtungsart durch Herder.
1. Die Paramythie hat mit der Parabel gleiche Absicht, indem sie sittliche
und religiöse Wahrheiten zur Anschauung bringt.
2. Folgende Stelle von Herder (Ausgewählte Werke, 1844. S. 272)
möge die Benennung dieser Dichtungsart zeigen:
Theano. Paramythien? Was bedeutet das Wort?
Demodor. Paramythion heißt eine Erholung; und wie Guys erzählt,
nennen noch die heutigen Griechinnen die Erzählungen und Dichtungen, womit
sie sich die Zeit kürzen, Paramythien. Jch konnte den meinen noch aus einem
dritten Grunde den Namen geben, weil sie auf die alte griechische Fabel, die
Mythos heißt, gebauet sind und in den Gang dieser nur einen neuen Sinn legen.
Theano. Ein schöner Name zu einer schönen Sache: denn Demodor,
ich wünschte, daß ich alle abgetragene, zu oft gebrauchte Märchen der Mythologie
wenigstens in einer neuen Absicht wiederkommen sähe. Ja, mir wäre
es lieb, wenn ich jeden schönen Gegenstand um mich her mit einer Dichtung
aus alten Zeiten gleichsam verwandeln und neu zu beleben wüßte.
Demodor. Versuchen Sie es, Theano, und Sie werden unvergleichbar
schönere hervorbringen, als hier versucht sind. Wissen Sie, wie diese entstanden?
Durch das Spiel eines Wettstreites auf einigen Spaziergängen. Zwei
Einsiedler gaben sich auf einigen ihrer Spaziergänge Gegenstände auf, darüber eine
Fabel, eine Dichtung oder was ihnen sonst einfiele, zu sagen. Jch war einer
derselben, setzte auf, was gesagt wurde, und so sind diese Erzählungen worden.
Jn einigen werden Sie noch Spuren des Wettstreites finden.
Theano. Ein Spiel, das nicht jedem glücken wird.
Demodor. Jhnen gewiß, und ich sehe schon schöneren Paramythien
über einige Jhnen geliebte Gegenstände entgegen. Niemals dichtet die Seele
angenehmer, als in solchen Spielen, und ich wollte, wie schon Lessing bei der
Äsopischen Fabel gesagt hat, daß man auch Kinder darin übte.
Die alte Mythologie würde ihnen durch diese Verwandlung lieb werden,
ihre Erfindungskraft wird geschärft, und ich habe Proben, wie naive Gedanken
zuweilen aus der Seele eines Schoßkindes der Natur, das alle Gegenstände
noch mit neuer, frischer Liebe ansieht, lieblichen Knöspchen gleich, hervorkeimen.
Da Sie diese kindliche Einfalt lieben, Theano, will ich Jhnen zu einer andern
Zeit einige derselben mitteilen.
Theano. Und ich will versuchen, ob ich auch noch Kind sein kann, und
mir einige Gegenstände jugendlich malen. Wenn nicht so blumenreich ─
Demodor. Das Blumenreiche gehörte hier zu den Gegenständen; sonst
wäre es ein Fehler. Je schöner Jhre Dichtung sein wird, desto weniger hat
sie des Schmucks nötig. Sie kennen das griechische Epigramm:
Beispiele der Paramythie.
Die gefallenen Engel, von Rückert.
(Sinn: Sprecht nicht Geheimnisse denen gegenüber aus, die niedriger
stehen, als ihr; sonst fallt ihr, während sich jene über euch erheben.) (Vgl.
noch von Rückert die Paramythie „Wischnu auf der Schlange“, deren Sinn
ist: Nichts ist ganz unabhängig von Gott, ohne Geist wächst kein Stoff.)
Die Nektartropfen, von Goethe.
Zur Litteratur der Paramythie sind neben Herder (das Kind der Sorge),
Rückert und Goethe zu nennen: Krummacher, Agnes Franz, Richter, Schiller,
Daumer, Al. Kaufmann u. a.
§ 82. Sinnbild.
1. Sinnbilder sind symbolische Gedichte, welche keinen religiösen
Charakter haben, auch nicht die Sprache der biblischen Gleichnisse
nachahmen, sondern im Bilde eine allgemeine Wahrheit darstellen, ohne
Lob oder Tadel (vgl. § 91 das Sinngedicht). Sie sind der Ausdruck
einer übersinnlichen Wahrheit durch etwas Sichtbares, durch die Sinne
Wahrnehmbares.
2. Sie unterscheiden sich von der Allegorie und vom Gleichnis.
(S. Bd. I. § 35. und § 39.)
1. Jmmer sind es menschliche Gefühle, Jdeen und Zustände, welche
im Sinnbilde gezeichnet werden. Das Sinnbild bedeutet wie die Allegorie
etwas anderes, als es äußerlich darstellt.
2. Doch unterscheidet es sich von der Allegorie dadurch, daß es immer
nur ein Symbol für einen sinnlichen Gegenstand giebt, während die Allegorie
eine Reihe Symbole zu einem Ganzen vereint, zu einem Sinnbild für eine
Jdee. (Vgl. § 83.) Die einzelnen Jdeen des Ganzen entsprechen den einzelnen
Eigenschaften des sinnlichen Gegenstandes.
Vom Vergleich unterscheidet sich das Sinnbild dadurch, daß jener die
Sache nicht statt der andern nennt, sondern nur neben ihr.
Rückert definiert den Begriff des Sinnbilds folgendermaßen:
(Ges. Ausg. VIII. 43.)
Beispiele des Sinnbildes.
Den Gärtnern, von Rückert.
(Sinn: Die Erziehung darf natürliche Triebe und Anlagen nicht hemmen.)
(Heinrich Leuthold, Gedichte. 1880. S. 193.)
Weitere Beispiele des Sinnbilds s. bei Rückert: Die Cypresse,
sowie in dessen 7. Buch der Weisheit des Brahm.
Seidl: Gärtner Tod.
Herder: Der Regenbogen. Wünsche.
Logau: Heutige Weltkunst. Die deutsche Sprache.
Pfeffel: Die Wiege.
Lessing: Auf einen Lügner.
Schiller: Übereinstimmung &c.
§ 83. Allegorie.
1. Als Tropus nennt man bekanntlich schon Allegorie (vgl. Bd. I.
§ 39. S. 173) eine gedanklich zusammenhängende Reihe von Metaphern. Note:
Als Dichtungsgattung versteht man unter Allegorie die durch Verbindung
mit Sinnbildern zum abgeschlossenen dichterischen Ganzen
erweiterte Allegorie, die ein bestimmtes Bild ausführt. (Vgl. Bd. I.
S. 176.)
2. Die Allegorie hat (wie das Gleichnis, das Sinnbild und die
allegorisierende Fabel) die Absicht, einen bestimmten, lehregebenden Zustand
zu veranschaulichen.
3. Das Element der Allegorie ist das konkrete Symbol (oder
auch das Emblem).
4. Dieses ist von jeher in allen Künsten ein treibendes Agens
der Darstellung gewesen.
1. Als Dichtungsgattung bezeichnet Allegorie ein Gedicht, welches einen
übersinnlichen Gegenstand durch Anwendung von Bildern versinnlicht (z. B.
Jdeen und personifizierte Kräfte als Gottheiten), so daß die einzelnen Momente
des sinnlichen Gegenstandes den Momenten des zu vergleichenden Jdealen entsprechen.
Die Dichtungsgattung Allegorie nennt den Gegenstand ebensowenig,
als der Tropus Allegorie, aber sie stellt ihn in einem vollkommen durchgeführten
Bilde dar. Sonach kann man sagen: Die Allegorie ist ein
Gedicht, welches einen Gedanken unter einem, diesem verwandten
Bilde anschaulich darstellt und mit dem Bilde vollständig durchführt
(z. B. Das Mädchen aus der Fremde, von Schiller).
2. Als didaktisches Gedicht verfolgt die Allegorie (wie das Sinnbild und
das Gleichnis) den Zweck, einen Zustand durch Bilder in ein klares
Licht zu setzen, während die moralisierende Parabel eine Wahrheit im
Bilde veranschaulicht und die allegorisierende Fabel das Treiben der Menschen
unter der Tiermaske enthüllt.
3. Ein einzelnes Symbol zur Veranschaulichung der Poesie ist z. B. die
Lyra. Eine Summe von Symbolen (z. B. im „Mädchen aus der Fremde“
von Schiller) veranschaulicht ebenfalls die Poesie. Diese Veranschaulichung ist
zur Dichtungsgattung Allegorie geworden. Für die Stärke dient das Symbol
„Eiche“ oder „Löwe“. Dasselbe Konkretum kann dienen zur Allegorie eines
Gattungsbegriffes (z. B. die einzelnen Eigenschaften der Eiche für einen Charakter).
Nicht aber ist etwa jedes einzelne, welches aus dem Zusammenhang der Allegorie
genommen würde, ein Symbol zu nennen. Oft hat es nur in der
ganzen Reihe symbolische Geltung.
4. Eine schöne Vereinigung der Symbole zu einer sinnlichen Allegorie war
zu allen Zeiten eine der edelsten Freuden gefühlvoller Naturen. Nur wenige
Sätze mögen ausführen, wie alle Vereinigungen ihre allegorischen Symbole haben.
Jm Mittelalter begann unter dem Einflusse der religiösen Vorstellungen
das Bedürfnis des Symbolisierens auf die Baukunst einzuwirken, weshalb
die gothische Bauart meistens den Charakter des Symbolischen trägt, bis die
Renaissance auf die Antike zurückgriff und ihre Formen zu freier Verzierung
verwandte.
Die spätere Entwickelung zeigt, (abgesehen von naturwidrigen Gestalten,
wie im sogenannten Jesuiten=, Zopf=, Rokoko- und Barockstil), das Gepräge
eines dem sich reinigenden Zeitgeschmack entsprechenden Eklektizismus, in welchem
das Symbolische nur im gefälligen Schmucke als plastisches Beiwerk
(z. B. in Bekrönung des Gesimses, oder Treppendekoration &c.) seine Verwendung
findet.
Jhrer Natur nach ist die Plastik hauptsächlich zur Symbolik: zur allegorischen
Personifikation geeignet. (Vgl. Bd. I, S. 176.) Die alten Griechen
gestalteten ihre Götter und Helden anschaulich, wozu die rein plastische Form das
entsprechendste Mittel gewährte, indem sie von der wirklichen Erscheinungswelt
durch ihre Farblosigkeit abzog.
Darum aber ist die Malerei für das Gebiet des Symbolischen unangemessener;
und es mag als eine Verirrung des ästhetischen Geschmacks angesehen
werden, wenn Mythen, antike Vorstellungen, oder sogar Parabeln,
Allegorien &c. in koloristischer Weise zur malerischen Darstellung gebracht werden. ─
Die Poesie, ihrem formalen Wesen nach metaphorisch, bietet ein weites
Feld für das Symbolisieren; aber darin gerade werden in der bildenden Kunst
viele Fehler begangen, weil viele von dem Jrrtum ausgehen, auch das in
jenem künstlerischen Gebiete Mögliche in dem ihrigen darstellen zu können. Die
vielfach verunglückten Gemälde nach Dichterstellen beweisen dies. Die darstellenden
Maler vergessen, daß die Hauptbedingung des von der Poesie ausgehenden
ästhetischen Eindruckes, die Bewegung der poetischen Jdee, der Fluß
der Handlung, der Malerei abgeht.
Jn der Musik zeigt sich das Symbolische darin, daß der Ton (ohne begriffliches
Beiwerk) als Ausdruck einer seelischen Empfindung wirkt. Daher
beweist sich der symbolische Charakter in der wortlosen Musik (in der Symphonie)
am reinsten.
Wenn man endlich die Tanzkunst ihrem Ursprunge nach als bewegte
Plastik der menschlichen Gestalt, als Ausdruck der Bewegung seelischer Empfindungen
auffaßt, ist sie durchaus symbolisch, was sich deutlich genug in allen
Nationaltänzen zeigt; die Liebe besonders gelangt in ihren mannigfachen Äußerungsformen
zum lebendigen, symbolischen Ausdruck. Wenn freilich, wie in
unseren modernen Tänzen, das Bewußtsein vom symbolischen, der Tanzkunst zu
Grunde liegenden Charakter verschwunden ist, verflacht sie zu einer mechanischen,
nur sinnlich aufregenden Bewegung.
Proben der Allegorie.
a. Der treue Gefährte, von Anastasius Grün.
b. Der beste Berg, von G. Herwegh.
Litteratur der Allegorie.
Allegorien finden wir bei den Römern besonders von Claudianus,
bei den Jtalienern von Petrarka und Mestastasio, bei den Franzosen
von J. J. Rousseau, bei den Engländern von Pope. Bei den Deutschen
liebte besonders die romantische Poesie die Allegorie, indem ihre Personen
entweder die Personifikationen der Tugend oder des Lasters waren, oder die
Charaktere wirkliche Personen in anderem Gewande darstellten. (Jch erinnere
für Letzteres an den 1517 erschienenen Teuerdank von Melchior Pfinzing,
der das Treiben am Hof des Kaisers Maximilian I. allegorisch schildert. Vgl.
Bd. I. S. 48.) Deutsche Dichter der Allegorie sind außer Pfinzing noch Joh.
Valentin Andreä († 1654; „Christenburg“, allegorisch=epische Dichtung vom
Kampf und Sieg der lutherischen Kirche vor dem dreißigjährigen Kriege);
Pfeffel (Das Schachbrett; Das Schiff); Krummacher, Herder (z. B.
Tag und Nacht; Der sterbende Schwan u. s. w.); Tieck, Schiller (Teilung
der Erde); Uhland (Bei einem Wirte wundermild; Man höret oft im fernen
Wald); Lessing, Rückert (Die Blumenengel; Der Apotheker; Die hohle
Weide u. a.); Goethe (Gefunden; Zueignung); Novalis (Allegorie auf den
Wein); Chamisso (Tragische Geschichte) &c.
Große episch=didaktische Gedichte mit allegorischer Darstellung sind z. B.
Ernst Schulzes Bezauberte Rose und seine Dichtung Psyche, sowie besonders
Julius Mosens Ritter Wahn und dessen Ahasver. (Jm ersteren Gedicht
wird der Tod, die Erde und das irdische Geschick verherrlicht und die Vergänglichkeit
gerechtfertigt; im zweiten (1838) wird ebenfalls die Jdee einer Rechtfertigung [179]
irdischer Vergänglichkeit zum Ausdruck gebracht. Ahasver ist Repräsentant
des Weltschmerzes und der ganzen Menschheit; er kann nicht sterben, weil er
dem kreuzbeladenen Jesu die Ruhe vor seinem Hause verwehrte &c.)
§ 84. Rätsel.
1. Man versteht in der Poetik unter Rätsel allegorische Gedichte,
welche den zu erratenden Gegenstand andeutend, umschreibend bezeichnen.
Viele stehen an der Grenzscheide der Poesie.
2. Arten des Rätsels sind: Worträtsel, Charade, Logogriph,
Anagramm, Palindrom, Homonyme.
1. Jns Gebiet der Dichtkunst gehören die Rätsel nur dann, wenn sie
weniger kaltes Nachdenken, als Phantasie und Gemüt anregen. Das gute
Rätsel kann man daher das Rätsel der Phantasie oder das poetische Rätsel
nennen. Dasselbe muß sowohl durch seinen Jnhalt als auch durch die Schönheit
seiner poetischen Form Jnteresse für den Gegenstand des Gedichts erwecken
und befriedigen, wie wir dies bei den Schillerschen poetischen Rätseln finden.
Man könnte das Rätsel (was auch Wackernagel thut) zu den Epigrammen
zählen. Dasselbe giebt nämlich ─ ähnlich der Priamel ─ eine größere oder
geringere Summe sinnlicher Einzelheiten, die oft gar nicht zusammen zu gehören
scheinen, deren Klausel ein einzelner, alle Merkmale vereinigender Begriff ─
das Subjekt aller Prädikate ─ ist, das der Leser erraten soll. Nach dem
griechischen Bacchusfeste Agrionia, zu dessen Schlusse Rätsel aufgegeben wurden,
heißen sie auch Agrionien (Ἀγριώνια).
Arten des Rätsels.
a. Das Worträtsel.
Das Worträtsel giebt die wesentlichen Merkmale seines von ihm nicht
genannten Objekts an. Es schildert Wesen und Bedeutung des Ganzen, des
zu erratenden Wortes.
Beispiele des Worträtsels.
α.
(Lösung: Feuer, Luft.) (Schiller.)
β.
[180]
(Lösung: Regenbogen.)
(Schiller.)
Bei diesen Worträtseln Schillers schimmert die Lehre als Hintergrund
durch: Man lernt Gott aus seinen Werken kennen. Sie sind Muster
des poetischen Worträtsels. Goethe rügte an ihnen den „schönen Fehler“, daß
sie zu entzückte Anschauungen des Gegenstandes seien, mit andern Worten,
daß sie durch zu anschauliche poetische Ausführung und Ausmalung den Gegenstand
zu leicht erraten lassen. Bei dem rätselreichen Rückert finden sich Worträtsel
in den Makamen des Hariri (Makame 35, S. 248─253 und im
XII. Band seiner Ges. Ausg. S. 279 unter dem Titel: „Der Rätselmann.
Abfälle von Hariris Rätselmakamen“).
Poetischen Wert haben neben den Schillerschen und Rückertschen Worträtseln
die von Mises (Fechner), Apel, Winkler, Tiedge, Kind,
Moser, Houwald, Matthisson, Hebel, Haug, Körner, Ch.
Niemeyer, A. P. Däves, v. Kyaw, Arthur v. Nordstern (Ernst
von Nostitz), Alexander Kaufmann (Rätsel mit einer poetischen Antwort in Unter
den Reben, S. 160) u. a.
b. Charade oder Silbenrätsel.
Die Charade oder das Silbenrätsel giebt erst die Bedeutung der
Silben der Reihe nach, um sodann das ganze Wort erraten zu lassen. Sie
behandelt jede Silbe einzeln, zuletzt das Ganze und besteht somit aus mehreren
zusammenhängenden Rätseln.
Charaden, wie diese von Castelli über Roßbach:
sind gereimte Spielereien, die nicht in das Gebiet der Poesie gehören.
Beispiele der Charade.
α.
(Lösung: Steuermann.)
(Körner.)
β.
(Lösung: Nachtschatten.) (Th. Körner.)
Weitere Beispiele der Charade finden sich bei Körner (Werke, Bd. I.
Rätselspiele), bei Hebel (Zeitlose), Kind (Bachstelze), Matthisson (Rheinfall), Houwald
(Wegweiser), Hauff (Preßfreiheit), K. G. Th. Winkler (Goldpapier, Lichtscheere)
u. a.
c. Logogriph.
Logogriph (von λόγος == Wort und γρῖφος == Rätsel, fälschlich
Logogryph, wie Körner, vgl. Ausg. von 1839, und A. schreiben) ist unser
sogenanntes Buchstabenrätsel. Jhm liegt ein Hauptwort zu Grunde, das durch
Weglassung oder Zusetzung oder auch (wie bei Hebel und Körner) durch
Vertauschung eines oder mehrerer Buchstaben stets einen verschiedenen Sinn
erhält, woraus man sodann dieses Hauptwort selbst mit Sicherheit zu erraten
befähigt wird, (z. B. Tasche ─ Asche, Ziegel ─ Jgel, Hammel ─ Hummel ─
Himmel &c.
Beispiele des Logogriph.
α.
(Semele ─ Seele.)
(K. G. Th. Winkler, Pseud. für Th. Hell.)
β.
(Schmerz.)
[182]
(Merz.)
(Erz.)
(Herz.)
(Scherz.) (Apel.)
Weitere Beispiele des Logogriph.
Körner (Werke I. unter: Rätselspiele).
Tiedge (Greis. Reis. Eis).
Hauff (Treue. Reue).
Krummacher (Schmerz. Merz. Erz. Herz).
F. P. Jakobs (Mohren. Ohren.) u. s. w.
d. Anagramm.
Anagramm (von ἀναγραμματισμός == Buchstabenversetzung). Es
bedeutet die Versetzung eines oder mehrerer Buchstaben eines oder mehrerer
Wörter, so daß ein anderes Wort oder ein anderer Satz daraus wird. So
entsteht aus Lampe == Ampel, aus Leib == Blei, aus Revolution française
== un Corse la finira, aus Carl Heun == Clauren, aus Lange == Nagel
─ Angel ─ Algen ─ Galen (Schriftsteller), aus Faulpelz == Paul Felz.
Eine Reihe Schriften sind dieser dem Orient entstammenden müßigen
Spielerei gewidmet (z. B. Wheatty, On Anagrams etc. London 1862).
Beispiele des Anagramms.
α.
[183]
(Rose.)
(Eros.) (Th. Körner.)
β.
(Lösung: Ampel == Lampe.) (Hebel.)
e. Palindrom (Doppelrätsel).
Palindrom (Rückwärtslesung von παλίνδρομος rückläufig == versus
cancrinus) war ursprünglich ein Vers, welcher von vorn oder rückwärts gelesen
gleich lautete (z. B. Otto tenet mappam, madidam, mappam tenet
Otto). Als Rätselform bezeichnet Palindrom ein Wort, welches rückwärts gelesen
ebenfalls ein Rätselwort ergiebt (z. B. Regen ─ Neger). Es ist somit
ein Doppelrätsel.
Beispiele des Palindroms.
α.
(Lösung: Leben, Nebel.) (Körner.)
β.
(Lösung: Roma, Amor.) (Hauff.)
Weitere Beispiele des Palindrom.
Körner (Werke I. unter Rätselspiele).
K. G. Th. Winkler (Bast ─ Stab).
Roos (Sarg ─ Gras).
Hebel (Werke Bd. I. Nr. 66, S. 226) u. a.
f. Die Homonyme.
Die Homonyme (auch das Homonym, nach a. sogar der Homonym
von ὁμώνυμος == gleichnamig) ist eine Rätselgattung, bei welcher
dasselbe Wort einen Doppelsinn (also verschiedene Bedeutung) hat;
z. B. die Hut ─ der Hut.
(Homonym heißt das, was mehrfache Bedeutung, aber nur einerlei Namen
hat, ist also das Gegenteil von Synonym.)
Beispiele der Homonyme:
α.
(Kiel.)(Rückert.)
β.
[185]
(Lösung: Flügel.)
(E. A. W. v. Kyaw.)
Weitere Beispiele der Homonyme:
Hauff (Römer).
Castelli (Acht).
Haug (Modern).
A. G. Eberhardt (Stern).
Körner (Werke I. unter Rätselspiele).
Rückert (in der 35. Makame, sowie Ges. Ausg. Bd. XII. S. 281 ff.) u. a.
II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.
§ 85. Satire.
1. Die Satire ist altrömischen Ursprungs.
2. Wir verstehen heutzutage unter Satire diejenige Dichtungsgattung,
welche auf launige, witzige, sarkastische, persiflierende Weise
Schwächen, Verkehrtheiten, Thorheiten, Fehler und Laster der Menschen
lächerlich zu machen sucht, um dadurch zu warnen, zu tadeln, zu bessern,
und den Sinn für Höheres, Jdealeres zu pflegen.
3. Sie ist somit eine Art lehrhaftes Spottgedicht mit ethischem
Ziele.
4. Der Satiriker muß über Witz, Laune, Jronie &c. verfügen
und mit liebenswürdiger Urbanität ausgerüstet sein.
5. Man teilt die Satiren in ernste und lachende ein.
1. Das Wort Satire kommt von satura her, was die Schreibweise desselben
bedingt (== satira, ähnlich wie optumus, maxumus zu optimus,
maximus &c. wurden).
Die altrömische Satire als älteste Gattung bezeichnete dem Wortlaut
nach (satura sc. lanx == Fruchtschale, tutti frutti) ein Allerlei,
Quodlibet, Potpourri. Sachlich war sie eine lustige dramatische Aufführung
der ländlichen Jugend bei Erntefesten, wobei neckische Lieder, komische Erzählungen,
bei mimischem Tanz unter Flötenspiel abwechselnd vorgetragen wurden. Seitdem
es in Rom ein stehendes Theater gab (a. 364 v. Chr.), wanderten solche
auch auf die Bühne, bis sie zu Nachspielen (exodia) herabsanken. ─ Jn
anderem Sinne als Gemengsel (nämlich von Gedichten in verschiedenen
Maßen) schrieb Ennius (a. 239─169) saturae mit lehrhaftem Jnhalt, auch
mit Fabeln untermischt. Schon früher hatte der Grieche Menippos (ca. 270
v. Chr.) Philosopheme verspottet, und ihn ahmte der gelehrte Varro in Rom [186]
(116─28 n. Chr.) nach in seinen saturae Menippeae, in welchen er teils
in Prosa teils in Versen die mannigfachsten philosophischen, historischen, litterarischen
Stoffe geistvoll behandelte. Dieselbe Mischung von Prosa und Versen
hat noch im I. Jahrhundert n. Chr. Seneca und Petronius Arbiter, im
5. Jahrhundert n. Chr. Martianus Capella, und im VI. Boethius.
Anderer Art ist die Satura des Lucilius (180─103 v. Chr.), welcher
saturae in 30 Büchern, teils in jambisch=trochäischen, teils in daktylischen
Maßen und Hexametern schrieb und zwar mit ethischer Tendenz den Luxus und
die Sittenverderbnis seiner Zeit schonungslos geißelte (secuit Lucilius urbem),
andererseits auch Gegenstände der Litteratur und Geschichte behandelte; eine
Reisebeschreibung und grammatische Stoffe befanden sich darunter, sowie Zurechtweisung
der gräcisierenden Dichter. Volkstümlicher Witz, Scherz und Bitterkeit
mischend, zeichnete ihn aus. Jhn ahmte eingestandenermaßen der uns noch
erhaltene Horaz (65─8 v. Chr.) nach, welcher jedoch mehr die Thorheiten
verlacht, als mit finsterem Ernste geißelt, der seinem Wesen überhaupt fremd
ist. Auch der junge, reichgebildete Persius (34─62 n. Chr.) dichtete erst
eine Reisebeschreibung, dann eine Verherrlichung seiner Verwandten Arria
(Paete, non dolet!), und als Schüler des Stoikers Cornutus schrieb er
sechs nicht vollends ausgearbeitete Satiren in moralischer, milder, ruhiger Darstellung,
aber freilich ohne die nötige Lebenserfahrung, und ohne sein Vorbild
Horaz in der Darstellung auch nur entfernt zu erreichen. Endlich Decim. Jun.
Juvenalis (47 bis nach 130 n. Chr.) wurde aus Zorn und Schmerz über
die greuliche Verderbnis seiner Zeit (facit indignatio versum) dazu getrieben,
in 16 Büchern Satiren die Verderbnisse im Privatleben unter Kaiser Domitian
naturgetreu und schonungslos zu schildern; er ist der ernste Sittenrichter, der
mit Sehnsucht nach der Größe des alten Rom und mit Entrüstung über die
allgemeine Korruption zu Gericht sitzt.
So ist die Satire, wie Quintilian schon hervorhob, eine echt römische
Litteraturgattung, mit welcher bei den Griechen nur zum teil die uns nicht
genug bekannten σιλλοί vergleichbar wären; der Grundzug bei der Mehrzahl
der römischen Satiriker ist die Sittenmalerei, welcher sich bald ernster, bald
heiterer die Sittenkritik beimengt.
2. Die deutsche Satire in der heutigen Form ist didaktischer Natur.
Lehrend wendet sie sich gegen die bestehende Erbärmlichkeit und Nichtigkeit, und
zwar thut sie dies oft dadurch, daß sie (mit Jronie) das lobt, was sie tadeln
möchte. Jhre Absicht ist, zu beschämen, um dadurch den Entschluß zur Besserung
hervorzurufen. Durch juvenalische Geißelung des Lasters wirkt sie nicht selten
empfindlicher, als der ernsteste Tadel eines Lehrers oder Predigers. Sie
bekämpft und trifft diejenigen, welche durch ihre Stellung oder Lehre Verderben
säen, ohne daß man ihnen sonst beikommen kann, oder ohne daß diese von
jemand sonst die Wahrheit zu hören bekommen.
Jn unserer Zeit sind der Kladderadatsch und die Wespen Organe
der Satire.
3. Die Satire, welche auch im Lustspiele, sowie in den Dichtungsgattungen
Fabel, Epistel &c. auftreten kann, fällt mit den Bestrebungen der Moralphilosophie
zusammen, indem sie durch die Art ihrer Darstellung die Beseitigung
der gerügten Mängel bezweckt. Auch die alten deutschen Satiren, welche unter
dem Namen Lichter bekannt waren, hatten ethische Tendenz. Sie wurden des
Nachts bei Licht zur Belohnung der Guten und zur Bestrafung der Schlechten
vor den Häusern abgesungen, woher der Name Lichter kam.
4. Der Satiriker muß mit feiner Menschen- und Sittenkenntnis einen
ausgezeichneten Scharfblick im Erspähen menschlicher Schwächen verbinden (was
Horaz an Lucilius rühmt: emunctae naris), um im Tone Horazischer Sermone
─ fern von Schadenfreude und niederer Absichtlichkeit ─ ein objektives
Bild menschlicher Narrheiten voll Witz, Laune, Humor &c. zu liefern. Er muß
sich des freien Witzes bedienen. (Vgl. z. B. Börnes epigrammatische Satire
Bd. I, S. 103.) Sein Humor muß sich als schalkhafte Laune entfalten (vgl.
z. B. Lessings naive Äußerung über die Galathee:
Seine feine Jronie muß den Schein des Ernstes und den Ernst des
Scheines treffen (vgl. Bd. I, S. 105). Durch diese feine Jronie muß er
den zu Geißelnden sogar als einfältig hinzustellen vermögen, sofern dieser das
Jronische gar nicht merken soll. Ein Beispiel solcher Jronie ist es, wenn
Gurdafrid (Rückerts Ges. Ausg. XII, 159) dem Suhrab, den sie entfliehend
betrog, von der Zinne zuruft: „Nun warte, Freund, bis ich die Schlüssel
bringe!“ Oder wenn Horaz mit Selbstironie, ja mit großer Naivetät an seiner
eigenen Person zeigt, was er an anderen lächerlich gefunden.
Der Satiriker muß stets bei der Sache bleiben und die Person nur als
Trägerin der Sache treffen. Hervortretende Absichtlichkeit gegen die Person an
sich würde die Wirkung der Satire von vorne herein vereiteln. Nur die Fehler
dieser Person darf der Satiriker mit grellem Lichte überstrahlen; nur die Mißbräuche,
Übelstände, Thorheiten &c. in der Gesellschaft darf er von ihrer lächerlichen
Seite darstellen und geißeln, um die Entfernung von der Natur oder
den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale zu strafen. Durch diese
Objektivität allein wird sich der Satiriker davor bewahren, die Grenzen der
Wahrheit zu überschreiten und in das Bereich der karikierenden Verleumdung,
der verletzenden Bitterkeit und der Pöbelhaftigkeit zu geraten, die sein Gedicht
zum Pasquill erniedrigen oder ihn so tief herabsteigen lassen würde, wie z. B.
Rabener, von welchem Schlosser in Gesch. des 18. Jahrh. behauptet, daß der
Jnhalt seiner Satiren gar nicht der Öffentlichkeit angehöre, vielmehr den Kaffeegesellschaften,
Schenken und Kasinos seiner Zeit &c.
5. Die Satiren scheiden sich in a. ernste (strenge, bittere, affektvolle,
direkte) und b. in lachende (scherzhafte, heitere) Satiren.
Beispiele der Satire.
α. Die Sterne, von Hoffmann von Fallersleben.
β. Unterhaltung im Freien, von Saphir.
[189]
γ. Anfang der „Philosophie des Bewußten“ von Joh. Scherr.
Litteratur der Satire.
Als besondere Dichtungsgattung kannte man die Satire bei den Griechen
nicht, wenn auch die griechischen Lustspiele viel Satirisches enthielten. Wohl aber
erzählt man von den satirischen Jamben des Archilochos, daß die durch sie Gegeißelten
aus Verzweiflung sich erhängt hätten. Es waren Spottgedichte voll
von Persönlichem. Die Satiriker bei den Römern haben wir unter 1 dieses
Paragraphen S. 185, 186 aufgezählt.
Von den Jtalienern sind als Satiriker zu erwähnen: Salvator Rosa,
und Ariosto; von den Spaniern die beiden Argensola; von den Engländern
Pope, Young, Jonathan Swift († 1744. Seine besten satirischen
Werke, die Märchen von der Tonne und die Bücherschlacht, hat Kottenkamp
in's Deutsche übertragen).
Von den Franzosen sind zu nennen: Boileau, Regnier, und als
der beste Rabelais.
Bei den Deutschen bezeichnete man die erste satirische Poesie als Narrenpoesie,
weil sie die Narrheiten verschiedener Klassen der Gesellschaft geißelte. Brant,
Murner, Fischart entsprechen dem römischen Trio Horaz, Juvenal, Persius.
Sebastian Brant, Stadtsyndikus von Straßburg (1494; Bd. I. 49),
geißelte in den 113 Kapiteln seines satirischen Narrenschiffs die Laster und
Gebrechen aller Stände. Durch Schilderung der verschiedenen Gattungen von
Narren seiner Zeit, die in einem großen Transport auf einem Schiffe in ihr
Vaterland Narragonien zurückgebracht werden, entwirft er ein Bild der damaligen
Zustände und erregte dadurch so gewaltiges Aufsehen, daß z. B. der
berühmte Theologe Geiler von Kaisersberg in Straßburg Predigten über sein
Buch hielt.
Aus Brants Narrenschiff:
Thomas Murner (vgl. Bd. I. S. 49).
Der zügelloseste und größte Satiriker Deutschlands war Joh. Fischart
(† 1590), dessen schonungslose Schriften sich schon durch ihre drolligen Titel
auszeichneten. (Vgl. z. B. Bd. I. S. 592.)
Rollenhagen (witzig, anschaulich, fein, schlagend hält sich im Gegensatz
zu Murner von Straßburg innerhalb der Schranken der Sittlichkeit). Vgl.
noch die Bd. I. S. 50 erwähnten Satiren.
Schöpfer der eigentlichen poetischen Satire in Deutschland ist Joachim
Rachel († 1669 als Schulrektor zu Schleswig. Er schrieb zehn Satiren,
in welchen er in gutmütig tadelnder Weise die Schwächen seiner Zeit geißelt,
z. B. Das poetische Frauenzimmer oder die böse Sieben. Vgl. die Probe,
Bd. I. S. 33). Als deutsche Satiriker haben sich ferner einen Namen erworben:
Laurenberg († 1659 als Professor der Dichtkunst; schrieb vier
nachlässige frivole Scherzgedichte in plattdeutscher Mundart. Das Gedicht von
der Kinderzucht ist Nachbildung der 14. Satire Juvenals). Moscherosch
(schrieb: „Wunderliche und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald,
d. i. Strafschriften, in welcher aller Welt Wesen, aller Menschen Händel mit
ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalt, Heuchelei, Thorheit bekleidet,
öffentlich auf die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellt und gesehen
werden.“ Während Grimmelshausens Simplicissimus besonders das Soldatenleben
behandelt, nimmt diese Nachbildung der Suennos y discursos des
Spaniers Franzisko de Quevedo die deutschen Thorheiten und Laster aller
Stände zur Zielscheibe und sucht z. B. Hofleute, Quacksalber, Advokaten, Tabakraucher,
renommierende Soldaten, Modenarren, Sprachverdreher &c. lächerlich zu
machen, welch letztere er durch deutsches, lateinisches, griechisches, französisches &c.
Durcheinanderreden höhnt). Abraham a Santa Clara (Bd. I. 52).
Philander von der Linde (pseudonym Burkhard Monke, † 1732)
teilt in einem Anhange seiner 1710 in Leipzig erschienenen Gedichte ein satirisches
Gedicht mit: „Cartell des Bramarbas an Don Quixote.“ Joh. Christ.
Günther (Bd. I. 51) schrieb mehrere Satiren, z. B. Auf einen Büchersaal. [191]
Rabeners spießbürgerliche Satiren geißeln alte Jungfern, Landjunker, Advokaten,
Richter &c.
Haller (z. B. Die verdorbenen Sitten). Pyra, Rost, Lange (vgl.
Bd. I. S. 54). Liskow (Bd. I. 54) kam 1760 wegen seiner Satiren in's
Gefängnis, woselbst er starb; man nannte ihn den Swift der Deutschen.
(„Von der Vortrefflichkeit und Notwendigkeit elender Skribenten“ ist seine beste
satirische Arbeit.) v. Canitz (Tod eines ungerechten Geizhalses). Hagedorn
(nahm sich Horaz zum Muster). Wieland (giebt in den Abderiten eine heitere,
zutreffende Satire auf das Leben und Treiben der Kleinstädter). Stolberg
(Der Frohn an Lichtwehr; Über die Persiflage; Der zweite Rat). Falk
(† 1826. Rezept zu einer modernen Elegie; Leben des Johannes von der Ostsee).
Jean Paul (der bedeutendste Satiriker in Prosa). Haug, Lichtenberg
(Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond; Bittschrift der Narren).
Börne, Platen, Schlegel (Die satirische Ehrenpforte Kotzebues).
Heine (Deutschland, ein Wintermärchen, satirische Geißelung deutscher Zustände
am Faden seiner Reise von Paris nach Hamburg &c.). Bogumil Goltz,
Ad. Glaßbrenner (z. B. Neue lustige Komödien). Goethe (z. B. Musen
und Grazien in der Mark). Schiller (Shakespeares Schatten; Die Weltweisen;
Die Philosophen). Uhland (Frühlingslied des Recensenten; Wanderung).
Rückert (Auf die Schlacht an der Katzbach; Die 99 Schneider &c.).
Saphir (Unterhaltung im Freien, fliegendes Album für Ernst, Scherz,
Humor). Alfred Meißner (Sohn des Atta Troll). Hartmann (Reimchronik
des Pfaffen Mauritius, satirische Gedichte auf die politischen Zustände
Ungarns, Deutschlands, auf die Glieder des Frankfurter Parlaments &c.).
H. Döring (Der leere Titel). Bauernfeld (Die dramatische Satire „Reichsversammlung
der Tiere“). Gruppe (Abendentzückungen). Herloßsohn
(† 1849. Mephistopheles). Rellstab (Henriette). Schmidt-Cabanis u. a.
§ 86. Travestie.
Travestie (Vermummung) ist die Ummodelung, Umgestaltung eines
ernsthaften, oft erhabenen Gedichts zu einem scherzhaften, Lachen erregenden.
Oder: Travestie ist ein Gedicht, welches den ernsten würdigen
Stoff (== Jnhalt) eines allbekannten Gedichts beibehält und nur
die Form (Versmaß &c.) verändert, um durch Verwebung mit heiteren
Beziehungen, lächerlichen Zufälligkeiten, Gebräuchen, Sitten, Thorheiten,
modernen Anschauungen und durch trivial=komische in's Lächerliche
ziehende satirische Behandlung u. a. dem ernsten Stoff eine komische,
meist karikierende Wendung zu geben.
Jndem der Dichter den nämlichen Gegenstand eines Gedichts im entgegengesetzten
Sinn und Geist behandelt, erinnert er durch ähnliche Ausdrücke,
oder auch durch dieselben Worte, zuweilen sogar durch Beibehaltung der
Strophenart u. s. w. an das Original, dessen Ernst und Würde er karikiert [192]
und lächerlich macht. Daher heißt travestieren soviel als ein erhabenes Gedicht
in's Lächerliche ziehen, es scherzhaft umformen, umkleiden.
Da der Gegenstand häufig in niedrige, gewöhnliche Sphären herabgezogen,
ja nicht selten herabgewürdigt wird, so wirkt der Kontrast mit dem erhabenen
Vorbild um so greller. Daher haben nur wenige Travestien poetischen Wert. Die
meisten sind lediglich als Ausdruck von Witz und Laune bemerkenswert und
werden nur so lange ertragen, als sie nicht in's Frivole und Gemeine übergehen.
Zu den vornehmsten Arten des Lächerlichen gehört der Kontrast zwischen
Ursache und Wirkung, zwischen Zweck und Mittel, ferner die Entdeckung einer
unerwarteten Ähnlichkeit zwischen unähnlichen Gegenständen, endlich der Kontrast
zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem, Großem und Kleinem nebst kurzen
witzigen Einfällen (Bonmots).
Darauf gründet sich ebenso der heroisch=komische, wie der niedrigkomische
oder burleske Stil in der Travestie (wie auch in der Parodie;
§ 87 d. Bds.).
Der heroisch=komische Stil stellt Unwichtiges als wichtig in erhabener feierlicher
Ausdrucksweise dar. Der burleske Stil dagegen zieht Erhabenes in's
Niedrige. Das Launige und Humoristische stellt Ernstes lächerlich dar und umgekehrt.
Didaktisch wirkt die Travestie dann, wenn sie satirisch ist und ihr also
ein höheres Jnteresse als bloße Belustigung zu Grunde liegt. Jn diesem Falle
macht sie eine falsche, überschwengliche Richtung des Gefühls lächerlich und
vertritt somit die Sache der Wahrheit und der Vernunft.
Jm Französischen hat Scarron die gelungensten Travestien geliefert; im
Deutschen Blumauer (Äneis). Gesammelte Travestien finden sich z. B. im
Buche deutscher Parodien und Travestien von Z. Funk. 1840.
Beispiel der Travestie.
Äneas' Flucht aus Troja.
Originalgedicht Schillers nach
Virgil.
Strophe 119.
120.
Travestie. (Aus: Blumauers travestierte
Äneis.)
[193]
121.
122.
u. s. f.
§ 87. Parodie.
1. Die Parodie (Nebengesang) ist die möglichst treue Nachahmung
irgend eines bekannten Gedichts durch fremdartigen Stoff.
2. Man unterscheidet ernste und komische Parodien.
1. Jm Gegensatz zur Travestie (welche, wie in § 86 erwähnt, den
gleichen Gegenstand in neuer Form meist karikierend erzählt) ist der Gegenstand
der Parodie vom Gegenstande des Originalgedichts durchaus verschieden;
er ist meist niedriger, gemeiner. Zum Wesen der Parodie gehört es nur, daß
Form (Metrum), Gedankenfolge, Ausdrucksweise (Wortlaut) thunlichst mit dem
Originalgedicht übereinstimmen und an dasselbe erinnern. Das älteste parodistische
Gedicht ist die im ernsten Ton der Jlias die Kämpfe der Mäuse und
Frösche erzählende Batrachomyomachie.
Unsere Litteratur ist nicht arm an Parodien. Überwiegend sind jene
schlechten Parodien, welche das Erhabene in den Staub ziehen und das Heilige,
Weihevolle, Würdige &c. sträflich verletzen. Jm 16. Jahrhundert schon
dichtete man in ernster Absicht beliebte, weitgesungene weltliche Lieder in geistliche
um, indem man die weltliche Form beibehielt und nur für den weltlichen [194]
Gegenstand einen geistlichen wählte. Beispiele haben wir in § 57 d. Bds.
genügend aufgezählt. Weitere Proben finden sich in Wackernagels Kirchenliede.
2. Der Geist der ernsten Parodien ist dem Geiste des Urbilds verwandt,
wie dies unsere erste Probe von Bretschneider beweist und wie dies viele
bekannte Parodien zu Schillers „Hektors Abschied“ und „Worte des Glaubens“
darthun. Vgl. auch die Beispiele in § 57 d. Bds.
Die komische Parodie verkehrt den Geist des Urbilds in's Komische. Sie
wird durch den Kontrast zu einer Art Travestie. Vgl. jenes allbekannte Kaffeegedicht,
durch welches Schillers Lied von der Glocke parodiert ist, sowie die
gelungene Rüpelkomödie in Shakespeares Sommernachtstraum, die mit ihrem
Pathos den tragischen Ton damaliger Poeten verhöhnt.
Berechtigt erscheint die Parodie nur dann, wenn sie eine schiefe Richtung
des Geistes lächerlich macht, also satirisch ist und didaktische Tendenz hat.
Beispiele der Parodie.
Originalgedicht: Mignon von
Goethe.
Ernste Parodie von Bretschneider.
(NB. Eine gelungene Parodie auf Goethes Mignon ist noch das Vaterland
von Cl. Harms: „Kennt ihr das Land, auf Erden liegt es nicht“ ─ u. s. w.)
Originalgedicht: Das Mädchen aus
der Fremde von Schiller.
Komische Parodie: Die Erscheinung
im Kaffeesaale von Röller.
[195]
(NB. Eine Parodie auf Schillers Mädchen aus der Fremde ist auch Saphirs
„Die deutsche Litteratur“: Jn Leipzig auf der Büchermesse erscheint mit jedem halbem
Jahr u. s. w.)
Aus Matthissons Adelaide.
u. s. w.
Aus Wießmanns Parodie:
Der Witwer.
u. s. w.
Weitere Beispiele von Parodien haben geliefert: Fischart, Murner,
Brant. Von Späteren: Mahlmann (Herodes vor Bethlehem, oder der
triumphierende Viertelsmeister, ─ eine höchst gelungene satirische Parodie auf
Kotzebues Thränenstück Die Hussiten vor Naumburg); Castelli (der Schicksalsstrumpf,
Parodie auf Müllners Schuld); Kosegarten (Klagelied eines Mißvergnügten,
Parodie auf Höltys Aufmunterung zur Freude); Blumauer, Rabener,
Falk, Roller, Schütz, Hagedorn, Lichtenberg, Wieland, Goethe (Musen und Grazien
in der Mark ─ gegen Schmidt von Werneuchen gerichtet); Hauff (Mann im
Monde ─ Clauren persiflierend); Voß, Uhland, Heine, Börne, Brunner,
Sommer (Gedichte in Rudolstädter Mundart); Rückert (Marschall Mai ─,
Parodie auf dessen Marschall Ney); Johr (Der Reimjäger, Parodie auf
Schillers Alpenjäger); Louis Wallo (Die Bürgschaft, Parodie auf Schillers
Bürgschaft); Eichrodt (im Hortus deliciarum, vgl. § 65) u. a. (Die Parodie
in der klassischen Litteratur hat H. Blümner-Zürich in der Decembernummer
1881 des „Süd und Nord“ von P. Lindau behandelt.)
§ 88. Humoristische Dichtungen.
1. Humoristische Dichtungen sind solche Dichtungen, welche durch
Anwendung von Gegensätzen (Kontrasten) das Komische ernst und das
Ernste komisch behandeln und dadurch eine komische oder erheiternde
Wirkung erreichen. Die humoristischen Gedichte verletzen niemanden:
ihr Grundgefühl ist das der menschlichen Ohnmacht und Nachsichtsbedürftigkeit.
(Von den komischen Liedern ─ § 63 ─ unterscheiden
sie sich durch ihre didaktische Tendenz.) Mit dem in ihnen waltenden
Humor darf die von den Romantikern so genannte Jronie des Schicksals
nicht verwechselt werden.
2. Der Humorist muß durch Bildung und Feinsinnigkeit über
seinem Gegenstande stehen und die Höhen des menschlichen Lebens zu
überschauen vermögen.
1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es
sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen
Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (κρᾶσις, temperamentum)
von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus
und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente.
Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die
satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender
Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als
Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in
naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt
und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.
Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen
das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend;
in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare,
Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben.
Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen
Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den
von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen
tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich
das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen
nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. „Dann
schwingt sich das Gemüt ─ um mit Wackernagel zu sprechen ─ empor und
schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns,
halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt
zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über
der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose
Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor
die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten
Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende
religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul,
bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit,
kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende
Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes
mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der
letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf
die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem
sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“
Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die
nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.
Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß
wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen
gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden.
Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir
zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen [197]
sich beständig, ja, sind unzertrennlich von einander. Wir beklagen und
belächeln uns zugleich, unsre Lust ist unser Schmerz.
Ätzende Jronie, die im Gegensatz zum Humor das Kleine groß macht,
ja, der Spott sind dem Humor fern, denn der Humor wird nie frivol. Der
Humor zeugt von geistiger Überlegenheit; Spott und Frivolität dagegen meist
von Beschränktheit und niedriger Gesinnung. Trotzdem scheint mancher Mensch
geistig überlegen, der es nicht ist. Er produziert Lächerliches und fade Albernheiten,
die nur wie Humor aussehen; und Goethe hat mit bezug auf diese
ganz recht, wenn er sagt, es gebe keinen Unsinn, der nicht, fratzenhaft ausgedrückt,
wie Humor aussehe.
Etwas anderes als Humor ist jene verzweifelte Lustigkeit, jener Hohn
des Schicksals, den die neuere Zeit oft statt leichter Heiterkeit und jovialen
Spasses in dramatischen Dichtungen zur Schau trägt. Diese sogenannte Jronie
des Schicksals, die selbstredend nicht im antikisierenden Sinn, wohl aber in
dem unserer romantischen Dichterschule zu verstehen ist (vgl. Bd. I, S. 106),
kommt nur aus einem zerrissenen unversöhnten Gemüte; unabsichtlich leuchtet
durch erzwungenen Scherz der Ernst oder Schmerz des Lebens hindurch.
2. Der Humorist als Schöpfer humoristischer Dichtungen kann durch mancherlei
Situationen zu seinen Dichtungen veranlaßt werden, z. B. wenn der
lehrende Verstand im feinen Witz Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Gegenstände
treffend und sinnreich vergleichend darstellt und eine gesunde frische Phantasie
ihm zu Hilfe kommt.
Der Gegenstand des Humors kann auch ein Gefühl sein. Um dem
Schmerze Worte zu leihen und ihn mit Geist und Lebenskraft doch zu verbergen,
stellt sich der echte Humorist über das Gefühl und macht sich Luft durch
kontrastierende schalkhafte Lustigkeit. Goethe meint daher mit Recht im Faust:
Um die Ansichten, Meinungen, Sitten der Menschen humoristisch behandeln
zu können, bedarf es hoher Bildung und Feinsinnigkeit. Die menschlichen
Angelegenheiten erscheinen dann entweder alle groß, oder alle klein. Der
Humorist wird sich über dieselben nur auf eine erfindungsreiche, witzige Weise
äußern, weil seine Lebens- und Weltanschauung originell und zugleich mit dem
Kopfe auch das Herz voll ist. Jmmer wird sein Humor, wenn er sich besonders
mit dem im Leben und Staate Sittlichen befaßt, den Ernst einer
höheren Wahrheit durchblicken lassen.
Ein wahrer Humorist steht, wie über seinem Gegenstand, so über dem
gewöhnlichen Leben. Jhm werden die Mängel des Erdenlebens klein und er
tröstet sich in der drückenden Wirklichkeit mit erhabenen Jdeen und lacht im
Besitze derselben.
Freilich giebt es unverschuldete Leiden, über welche nur ein Roher lachen
könnte. Bei dem echten Humoristen sieht der Ernst des Lebens auch bei dieser
humoristischen Weltanschauung hindurch. Wahre Größe durchdringt jede Form
des echten Humors.
Beispiele der humoristischen Dichtungen.
a. De Krone der Schepfung, von Edwin Bormann.
(Aus den Dagebuche eines alten Leibzigers.)
b. Wenn Einer deiht (thut), wat hei deiht, denn kann hei nich mihr
dauhn (thun), as hei deiht.
Aus Läuschen un Rimels, von Reuter. (Sämmtl. Werke II. 54.)
Litteratur des Humors.
Beispiele des Humors finden sich am anschaulichsten in jenen größeren
Dichtungsgattungen, in welchen sich der menschliche Charakter am freiesten entwickeln
kann, also in Romanen, Schauspielen, Novellen. (Jch verweise beispielshalber
auf die humoristischen Romane I 58, 69, sowie 4. Hptst.
d. Bds; ferner auf H. Heines Romancero; endlich auf einzelne Dramen
Shakespeares, den Aug. Siebenlist den unübertroffenen Meister des Humors
nennt, über den sich J. L. Klein in seiner epochebildenden Gesch. des Drama
XII. 556, sowie der Fabeldichter Jos. R. Ehrlich in seiner kleinen, 1878
erschienenen Schrift: Der Humor Shakespeares verbreitet. Vgl. des Näheren
das vortreffliche Werk: Schopenhauers Philosophie der Tragödie von
Aug. Siebenlist. 1880. S. 405 ff., wo der geistvolle Jnterpret des Philosophen
des Pessimismus erschöpfend ausführt, wie der subjektive Humor ─
den Schopenhauer den hinter dem Scherz versteckten Ernst nennt ─ als spezifische
Errungenschaft der auf dem Christentum beruhenden neuzeitlichen Tragödie ein
gleichfalls ästhetisches, unendlich höher stehendes Kompositionsmoment sei, als
die objektive Jronie u. s. w.). Doch giebt es genug kleinere didaktische Dichtungen,
welche die freie Entfaltung des Humors begünstigen. Es sind in der
Regel dieselben Dichter, welche neben größeren Dichtungen auch kleinere humoristisch
zu halten verstanden, wodurch sie sich als Humoristen erwiesen. Wir
nennen von den deutschen: Claudius, Lichtenberg, Jean Paul, Tieck, Musäus,
Mises, Heine, Aug. Kopisch, Eichrodt, Alex. Kaufmann (Der Student von
Oxford), Gottfr. Keller, Scheffel, besonders aber Eckstein, Schmidt-Cabanis und
Fritz Reuter, welchen der wahre freie Humor eigen ist, jene innige Mischung
von Witz, Laune und Gemütlichkeit, die ebenso im Kopf wie im Herzen des
Dichters ihren Ursprung hat und daher auch Geist und Gemüt des Lesers [200]
wirkungsvoll entzückt. Den Humor suchten in Deutschland vor allem die
Münchener fliegenden Blätter aufrecht zu erhalten, in neuerer Zeit auch der
Schalk unter Redaktion des Humoristen Ernst Eckstein, u. s. w.
III. Eigentlich didaktische Gedichte.
§ 89. Die ideale Gedankenlyrik.
Viele Gedichte, die in der Mitte stehen zwischen dem lyrischen
und dem didaktischen Gedicht, müssen doch ihrer lehrhaften Absicht und
Bestimmung wegen zu den didaktischen Gedichten gezählt werden. Diese
im Glanz einer schönen Sprache prangenden Gedichte entquellen
gewissermaßen dem denkenden Gefühle des Dichters, besingen einen
bestimmten instruktiven Gegenstand, entfalten Phantasie und Gemüt
und bilden so die Gattungen, welche wir unter „idealer Gedankenlyrik“
vereinen wollen.
Obwohl ihr didaktischer Zweck nicht eben in den Vordergrund tritt, so
haben die Dichtungen der idealen Gedankenlyrik doch die Absicht, einen Gedanken,
eine Wahrheit, eine Lehre zur Anschauung zu bringen. Jch
erinnere nur an viele Gedichte Schillers, die man als „Jdealgedichte“ zu einer
besonderen „ideellen Poesie“ zu vereinigen suchte, weil man sie sonst nicht zu
rubrizieren vermochte. Es tritt uns in ihnen der Dichter entgegen, von großartigen
Jdeen durchdrungen, „jedoch weder dithyrambisch fortgerissen, noch im
Begeisterungsdrange mit der Größe seines Gegenstandes kämpfend, sondern desselben
vollkommen Meister, indem er ihn mit eigener poetischer Reflexion in
ebenso schwungreicher Empfindung, als umfassender Weite der Betrachtung in
den prächtigsten volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen,
aber schlagenden Rhythmen und Reimen, nach allen Seiten hin vollständig
darlegt.“ Als solche Gedichte der idealen Gedankenlyrik bezeichne ich bei Schiller:
Das Jdeal und das Leben, An die Freude, Das Glück, Der Genius, Würde der
Frauen, Die Jdeale, Die Götter Griechenlands. Ferner bei Rückert: Edelstein
und Perle, und besonders Die sterbende Blume &c. Um an letzterem Gedichte das
Wesen der idealen Gedankenlyrik näher zu zeigen, so tritt hier das lehrhafte
Motiv so zu Tage: Wenn die Betrachtungen über die Vergänglichkeit und
Hinfälligkeit alles Jrdischen zur Wehmut stimmen und schmerzliche Gefühle des
Leides mit der Trauer hervorrufen, so liegt dies in dem Umstand begründet,
daß die Vergänglichkeit den Fortbestand alteriert, also in siegreichen Kampf mit
der Existenz tritt und somit von dieser gefürchtet werden muß. Die Furcht vor
dem Aufhören ist bei dem ungebildeten Menschen nicht so intensiv, weil sein
Gefühlsleben auf der unteren Stufe steht. Er wird sich der obigen Betrachtung
kaum flüchtig hingeben können. Die Fähigkeit für diese Betrachtung erlangt
der Mensch aber in eben dem Grade, in welchem er seine Gemütsbildung
pflegt. Rückert mit seinem sehr gebildeten Gemütsleben konnte in der That in [201]
seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern.
Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch
das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer
Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher
idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der
idealen Gedankenlyrik hebt. „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich
des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte;
der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin,
die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen;
das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für
den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch
fühlenden Dichters würdig.
Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten
Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht
einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur
Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern,
die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen
haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen
Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen
Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der
Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.
Beispiel der idealen Gedankenlyrik.
Die sterbende Blume, von Rückert.
§ 90. Kulturhistorisches Gedicht.
Ein Gedicht, welches die Schicksale der Menschen und deren Entwickelungsgang
poetisch auffaßt und darstellt, so daß die wichtigsten
Momente auf Ausbildung des menschlichen Geistes und der gesellschaftlichen
Verhältnisse entweder einzeln oder im Zusammenhang
berechnet sind, kann als kulturhistorisches Gedicht bezeichnet werden.
Schiller ist der Vater dieser didaktischen Dichtungsform. Zu nennen sind
von ihm Die Künstler (ein Gedicht, das den Wert des Schönen versinnlicht),
Der Spaziergang (welcher lehrt, daß der Überbildung am besten durch die
Natur entgegen zu wirken sei), Das eleusische Fest (welches die Segnungen
des Ackerbaues preist, und die im Spaziergang nur angedeutete Kulturentwickelung
in mythologischen Bildern weiter ausführt); namentlich aber Das
Lied von der Glocke (welches das menschliche Leben in seinen wichtigsten
Momenten darstellt, wobei es auch alle menschlichen Empfindungen lehrend
berührt und damit viel Subjektives, viel echt Lyrisches verbindet). Bei Rückert
finden wir das kulturhistorische Gedicht: Der Bau der Welt u. a.
Als Beispiel des kulturhistorischen Gedichts möge Schillers Lied von der
Glocke aufgestellt sein, dessen Form den Gegenstand eines Paragraphen (Bd. I.
S. 515) bildet. (Auf den Abdruck dieser umfangreichen Dichtung können
wir um so lieber verzichten, als sich dieselbe zweifellos in Aller Händen befindet.)
§ 91. Sinngedicht oder Epigramm.
1. Ein humoristischer Einfall oder Gedanke, eine Ansicht oder ein
Urteil über ein Ereignis oder eine Person, möglichst kurz und gedrängt
in poetischer, schöner Form ausgedrückt, oder mit andern Worten:
ein kurzes, treffendes, hauptsächlich witziges Gedicht, das die Bestimmung
hat, ein allgemein bekanntes Objekt zu loben oder zu tadeln,
oder eine Anschauung auszusprechen, heißt Sinngedicht oder Epigramm.
Die letzten Worte desselben enthalten die sogenannte Pointe oder
den Treffpunkt.
2. Besondere Arten sind das Empfindungsepigramm und das
didaktische Epigramm.
3. Jn den Ausgangspunkten ist das Epigramm mit der Elegie
verwandt.
4. Die Teile des Epigramms sind Vordersatz und Nachsatz; oder
Exposition und Klausel.
5. Das ursprüngliche Metrum des Epigramms war das Distichon.
Jm Deutschen bedient man sich neben demselben noch anderer Formen.
1. Man rechnet das Epigramm wegen seines witzig und kurz ausgedrückten,
lehrhaften, poetischen Gedankens in die Reihe der didaktischen Dichtungen. Es
kann bald mit einer kleinen knospenden, aus Dorngebüschen Wohlgerüche hauchenden
Rose verglichen werden, bald und in der Regel mit einem Stachel, der
verwundet. (§ 82.) Klopstock spricht dies so aus:
Das Witzige, Tadelnde, Überraschende wird meist bewirkt, indem der
Gedanke gegen den Schluß noch eine unerwartete Wendung nimmt. Dies ist
die sogenannte Pointe oder der Treffpunkt.
2. Ursprünglich verstand man unter Epigramm (dem Wortsinn des griechischen
ἐπίγραμμα entsprechend) eine Aufschrift auf einem Weihgeschenk,
Denkmal, Grabmal, Theater, Tempel, Odeon &c. Die Gewohnheit, diese
Denkmäler mit einer Jnschrift zu versehen, gab neben dem Namen des zu
Feiernden eine oder die andere Notiz, wohl auch eine Andeutung der Empfindung,
die der Anblick des Denkmals dem Schreiber hervorrief. Bei Gräbern
war der Ausdruck dieser Empfindung mehr elegischer Art, bei Kunstwerken nicht
selten witziger, oder hyperbolischer Natur.
Viele Epigramme, ja, vielleicht die meisten, waren indes nicht wirklich
angebrachte Aufschriften, sondern sie bedeuteten nur, daß diese Unterschrift wohl
für das Denkmal sich eignen dürfte. So entstanden neben den eigentlichen
Epigrammen die Empfindungsepigramme, Epigramme ohne jeglichen Bezug
zum Kunstwerk, die sich lediglich auf historische Personen, auf Ereignisse, auf
Naturgegenstände bezogen; so wurde das Epigramm lyrisch=didaktisch.
Empfindungsepigramme, die den größten Teil der sogenannten griechischen
Anthologie bilden, kommen bei den Römern kaum vor. Doch hatten diese gewöhnliche
oder rein didaktische Epigramme schon ziemlich frühe; die alten ─ aus
der Zeit der Republik ─ sind meist verloren; dagegen haben wir noch 15
Bücher von Martialis (42─102 n. Chr.), freilich sehr verschieden nach Stoff
und Wert. Einiges von Ausonius (310─390) und noch aus dem 6. Jahrhundert
n. Chr. von Luxorius. (Alles dies gesammelt in der Anthologia
latina von H. Mayer. Leipz. 1835 und neu bearbeitet von A. Riese.)
Bei den Deutschen findet man Empfindungsepigramme seit Herder (der
1785 eine Auswahl in deutscher Übersetzung und 1791 eigene Epigramme
erscheinen ließ), und seit Goethe (der 1790 „venetianische Epigramme“ dichtete).
Man denke an die Empfindungsepigramme Goethes: „Über allen Wipfeln“
oder an Uhlands Ruhethal: „Wenn im letzten Abendstrahl“, u. s. w.
Jn den meisten Fällen drängt sich bei Römern und Deutschen der Verstand
so sehr in Exposition und Klausel ein, daß er mit dem epischen Moment eine
wirkliche Lehre oder eine Vorschrift verbindet, oder sie aus demselben abstrahiert,
oder daß er indirekt lehrend das Motiv bekämpft, verhöhnt, bewitzelt. Dadurch wird
der lyrische Charakter der Klausel verändert, sie wird didaktisch und es entsteht
somit das rein didaktische Epigramm, das Epigramm des Spottes, der
Lehre, das besonders von den Römern gepflegt worden ist (z. B. bei Martial).
Es ist wertvoll, wenn es der tiefsten Fülle der Erfahrungen entquillt.
3. Was die Verwandtschaft des Epigramms mit der Elegie betrifft, so
ging das griechische Epigramm, wie die Elegie von einem historisch gegebenen
Objekt, von einer epischen Wirklichkeit aus und diente zugleich auch der Empfindung
zum Ausdruck, welche aus der Betrachtung jener Wirklichkeit resultierte.
Während aber die Elegie des weitesten Spielraums und der größten Ausdehnung
fähig war, und sich über die weitesten Gebiete ausbreitete, beschränkt sich
das Epigramm nur auf einzelne Bilder, nur auf eine Person, nur auf ein
Kunstwerk &c. Ja, selbst die eine auf das einzige Objekt gerichtete Empfindung
durfte nur leise angedeutet werden, weshalb das Epigramm möglichst kurz war.
4. Die Elegie verschmolz das Epische mit dem lyrischen Moment, das
Epigramm hielt beide auseinander, weshalb man beim Epigramm von Vordersatz
(expositio oder auch narratio, indicatio) und Nachsatz (clausula oder
conclusio) spricht.
Die beiden Teile des Epigramms können noch bezeichnet werden als
Erwartung und Aufschluß (nach Lessing), oder Exposition und Anwendung (nach
Herder) oder auch als Thesis und Antithesis.
Der Umfang des poetischen Epigramms ist nach Maßgabe dieser beiden
Teile engbegrenzt.
5. Das gewöhnliche Metrum des Epigramms war bei den Griechen und
Römern das elegische Distichon. Der epische Hexameter bezeichnete die Erwartung
und der lyrische Pentameter gab den Aufschluß. Oder: der Hexameter exponierte,
während die Klausel ausdeutete.
Die Deutschen bedienen sich neben diesem griechischen Maß auch noch
anderer Maße und namentlich auch des Reims. Eine präzise Form für das
Epigramm ist das Sonett, das in den ersten acht Versen breiteren Raum für
die Exposition zum epischen Vordersatz hat, während die sechs folgenden Zeilen
den lyrischen Nachsatz, die Klausel, bilden können. (Vgl. Nr. 9─20 der
A. Möserschen Sonette in „Schauen und Schaffen“ 1881. S. 84 ff.) Heinr.
Leuthold hat sich neben Rückert auch der Ritornellform bedient u. s. w.
Beispiele des Epigramms.
Über das Verbot des Bettelns in Deutschland.
(Weißer.)
Hallers Lehrgedicht vom Ursprung des Übels.
(Gellert.)
(Amara George.)
Auf jagende Studenten.
(Kästner.)
Epigramm in Distichen-Form.
Auf die Thermopylenkämpfer.
(Schiller nach Simonides.)
Wissenschaft.
(Schiller.)
Die Schwaben.
(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 190.)
Epigramm in Vierzeilen-Form.
(Rückert.)
Epigramm in Ritornellenform.
Unglück.
(Rückert.)
(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 203.)
Litteratur des Epigramms.
Durch die Priamel aus dem 14. Jahrhundert (s. § 92) war bei uns
der Boden für das satirische Epigramm vorbereitet. Da sodann der sittliche
und politische Jammer des 17. Jahrhunderts Stoff genug bot, so adoptierte
man mit Vergnügen das römisch=satirische Epigramm, das Epigramm des Spotts.
Der bedeutendste deutsche Epigrammatiker, Frd. von Logau (welcher unter dem
Namen Salomon von Golau 3553 gute, treffende, von Simrock 1874 ausgewählte
und erneuerte Sinngedichte dichtete), bietet nach den vererbten deutschen
Sprüchen und Priameln satirische, geißelnde, indirekt belehrende Epigramme,
bis Herder und Goethe auch das Empfindungsepigramm schufen. Beide bildeten
auch insofern eine Epoche für das Epigramm, als sie dem bis dahin in Reimen
gegebenen didaktischen Epigramm die Form des elegischen Distichons gaben.
Noch sind als deutsche Epigrammatiker zu erwähnen: Opitz, Tscherning,
Kästner, Bürger, Herder, Weißer, Göckingk (Kritik über ein Drama);
Götz (Das Kind); Gleim (Aufschluß); Wernicke (der ein Buch über Epigrammatik
schrieb: Erfahrung ohne Klugheit &c.); Hagedorn (Auf gewisse Ausleger
der Alten); Kretschmann (Die Dichterin); Klopstock (Sitt' und Weise);
Lessing (der über das Epigramm schrieb und das Verdienst hat, zuerst den
vergessen gewesenen Fr. v. Logau wieder bekannt gemacht zu haben: Das
böse Weib, Der Schuster Franz, Die Verleumdung &c.); Küttner (Der
Deutsche); Menk (Der Renommist); Pfeffel (Der Selbstmord); Langbein (Der
leere Topf); Schiller (Mein Glaube, Buchhändler-Anzeige &c.); Blumauer
(Der Geizhals); Kleist (An die geschminkte Vetulla); Voß (Mein Barbier);
Kuh (Der Mann von Geblüt); Müchler (Frau Garulla); Kerner (Auf einen
Epigrammatisten); Platen; Friedrich Haug (Weiberzungen, Pilgers Grabschrift);
Rückert; und besonders Oskar Blumenthal, der unter dem Titel
„Aus heiterm Himmel“ 1880 seine gesammelten Epigramme erscheinen ließ,
in denen Theater und Litteratur eine Hauptrolle spielen und mancher Schriftsteller
arg mitgenommen wird.
Von den Franzosen dichteten besonders Scarron, Rousseau und Marot treffliche
Epigramme. Von den Engländern sind zu erwähnen: Pope und Swift.
Das englische Epigramm wurde bei uns durch Weckherlin († 1651) eingeführt.
§ 92. Die Priamel oder der Schnepper.
Die ursprüngliche Form des deutschen Epigramms ist die seit dem
14. Jahrhundert beliebt gewesene Priamel (von praeambulum == Vordersatz,
Vorspiel, Vorlauf). Sie besteht aus einer Reihe kurzer, gar nicht
zusammengehörig erscheinender Vordersätze, von denen man erst gar
nicht einsieht, was sie wollen, deren Aufzählung präambuliert, bis sie
endlich durch einen abstrakten Allgemeinbegriff (oder Urteil) verbunden
werden, durch einen sie alle umfassenden, meist eine unerwartete Gedankenwendung
nehmenden kurzen „abschneppenden“ Nachsatz.
Der Nachsatz in den Priameln, deren Verfasser häufig unbekannt blieben,
enthielt meist eine aus den Vordersätzen abgeleitete Lehre oder ein Urteil über
die in den Vordersätzen aufgestellten Behauptungen, weshalb die Priamel
gewissermaßen den Übergang von der Gnome (Spruch) zum Epigramm bildete.
Jn einer Gerichtsordnung aus dem Jahre 1482 heißt es: „Des ersten
macht ein Harfner ein Priamel oder Vorlauf, daz er die luit (Leute) im uff
zu merken bewog.“ Die Priamel war in der That sehr geeignet, zum Aufmerken
anzuregen und zwar wegen des hinausgeschobenen, aufgesparten, auf die
ganze Reihe von Vordersätzen passenden, oft überraschenden Schlußsatzes.
Schnepper nannte man die Priameln insofern, als die Reihe der Vordersätze
durch den präzisen Schlußsatz in ihrem Fluß gehemmt oder „abgeschneppt“
wurde. Die häufig satirisch abschließende Priamel ist eine Art Epigramm oder
Rätsel, bei welchem der Leser die Klausel nicht erst zu suchen braucht, da sie
im Schlußsatz gegeben ist.
Eine originelle Priamelform findet sich in der als Manuscript gedruckten
Gedichtsammlung des Herzogs Ernst II. z. S., S. 53, bei welcher auf eine
Reihe von Negationen eine die Rätsel lösende abschließende Doppelverszeile folgt.
Als Wiederbelebung der bereits in Vergessenheit geratenen Priamel dürfte diese
Form bedeutungsvoll genug erscheinen, um mitgeteilt zu werden.
Beispiele der Priamel.
a.
b.
c.
(Friedr. Spee.)
[209]Des Mannes Thräne.
d.
(Herzog Ernst II. z. S.)
§ 93. Xenien.
Xenien sind Epigramme, die am Ende eine scharfe, satirische, überraschende,
ja unerwartete Wendung nehmen.
Sie sind ihrer Pointe wegen gedichtet und heißen mit Rücksicht
auf dieselben auch „spitzige Epigramme“.
Dem Wortsinn nach bedeuten Xenien (vom griechischen ξένιον) Gastgeschenke
oder Andenken.
Der römische Epigrammatiker Martial nannte das 13. Buch seiner
Sinngedichte Xenien, und von ihm nahmen Schiller und Goethe den Namen
für ihre spitzigen Epigramme, die in ihrem Musenalmanach (Tübingen 1797)
erschienen, welche zunächst die Dichter Claudius und Stolberg scharf angriffen,
dann überhaupt das Philistertum, die Modethorheiten in der Litteratur, sowie
die Mittelmäßigkeit der Kunstleistungen mit Witz und Spott überschütteten.
Eine ausführliche Schrift über „Die Schiller-Goetheschen Xenien“ ist von
Saupe (Leipzig 1852) erschienen; vgl. auch Boas, Schiller und Goethe im
Xenienkampf. 2 Bde. Stuttg. 1851. Xenien aus der Neuzeit, die denen von
Schiller und Goethe in bezug auf treffende und stimmungsvolle Satire an die Seite
gestellt werden können, sind die von K. J. Schröer zum Berliner Kongreß
(Neue illustr. Zeitg. Wien u. Leipz. 7. Juli 1878 S. 646).
Beispiele der Xenien.
(Goethe. Zahme Xenien.)
(Goethe. Zahme Xenien.)
Klein-Griechenland, von Karl Julius Schröer.
Was den Türken zu raten? von K. J. Schröer.
§ 94. Gnome.
Gnome (Denkspruch, von γνώμη, sententia, Urteil, Spruch), das
kürzeste didaktische Gedicht, ist ein kurz ausgesprochener Gedanke, ein
Weisheitsspruch, ein Sinnspruch, eine Klugheitsregel, ein Stammbuchvers,
eine nichts satirisches enthaltende Sentenz.
Ein einfacher Denkspruch ist ebenso wenig ein Epigramm, als eine Anekdote
eine Novelle ist.
Während sich das Epigramm wie eine Aufschrift zu einem Gegenstand
ausnimmt und nicht direkt zu belehren braucht, will die Gnome, die des
epischen Vordersatzes des Epigramms entbehrt, direkt belehren. Das Epigramm
drückt Jdeen aus, die Gnome Wahrheiten. Das Epigramm ist immer in
streng poetischer Form, der Spruch häufig im Volkston. Gnomen, welche in
kalter Abstraktion abgefaßt sind, an deren Entstehen die produzierende Einbildungskraft
keinen Teil hat, fallen aus dem Bereich der Poesie heraus. Die
metrische Form, die nur das Einprägen in's Gedächtnis erleichtert, erhebt sie
nicht in's Bereich der Poesie. Rückert hat sich zu seinen Gnomen häufig der
Vierzeile bedient. Bei solch zwanglosen Reimversen kann die Gnome auch Reimspruch
genannt werden. Die poetischen Sprichwörter mit Reim (oder auch mit
Allitteration) gehören zur Gnome, wenn sie sich auch zur eigentlichen poetischen
Gnome wie Naturpoesie zur Kunstpoesie verhalten.
Die Vereinigung mehrerer demselben Anschauungskreise zugehöriger Sinnsprüche
zu einem Ganzen nach Art des Freidank oder der Rückertschen Gnomen
in Angereihte Perlen oder vieler Gedichte in der Weisheit des Brahmanen
bildet das Spruchgedicht (Gnomologie).
Beispiele der Gnome.
a. Spruch.
(Tiedge.)
b. Poetische Gnomen.
(Schiller.)
(Goethe.)
(Rückert.)
(K. G. v. Brinckmann.)
c. Beispiel eines Spruchgedichts (Gnomologie).
(Julius Hammer.)
Litteratur der Gnome.
Die ersten griechischen Gnomen ─ wie überhaupt die erste didaktische
Poesie ─ findet man in Hesiods „Tage und Werke“; die gnomische Dichtung beginnt
mit der Zeit der sieben Weisen Griechenlands. Gnomen finden wir auch
von Solon, von Theognis &c. (Die goldenen „Sprüche des Pythagoras“ sind
wahrscheinlich nicht von ihm.) Seit Hesiod blieb bei den Griechen der Hexameter
die metrische Form der Gnomen. Andere wählten die zweizeilige aus
Hexameter und Pentameter gebildete Strophe, wieder andere den Trimeter.
(Bd. I. S. 321.)
Die Gnomen Salomons und des Jesus Sirach bei den Hebräern beschränken
sich auf den einfachsten Parallelismus der Worte und Satzglieder.
Arabische Sprüche gab 1879 Socin (Tübingen) heraus, osmanische die
k. k. orientalische Akademie zu Wien (1877. Constantinopel). Die griechischen
gab Gaisford (Oxf. 1830) heraus. Lateinische sammelte Wüstemann (1864.
Nordhausen) u. a. Auch neuere Völker besitzen einen reichen Schatz von Sprüchen.
Ende des 14. Jahrhunderts war besonders die böhmische Litteratur an gnomischen
Dichtungen reich. Emil von Pardubitz († 1403) hat zur Zeit des
Königs Wenzel I. eine Sammlung der ältesten böhmischen Sprüche und Epigramme
veranstaltet, die von Joh. Wenzig in's Deutsche übersetzt wurden.
Von einem unserer Vorfahren hat die sämundische Edda treffliche
Gnomen aufbewahrt.
Jn Deutschland gab es Spruchdichter schon im 12. Jahrhundert, z. B.
Spervogel. Manche Sprüche derselben leben heute noch als Sprichwörter
im Munde des Volkes fort.
Reinmar von Zweter, einer der ersten Gnomendichter in Deutschland,
dichtete statt Lieder nur Sprüche, ─ das Wort im alten Sinn gebraucht, in
welchem der Spruch eine Strophe, wenn auch oft von größerem Umfang umfaßt.
Reinmar von Zweter lehrt selbst da, wo er die Liebe behandelt. (Bei
ihm begegnen wir zum erstenmal der gnomischen Poesie der Griechen, die er
auf deutschen Boden verpflanzte.)
Die bedeutendste Spruchsammlung ist die zum Teil auf einem Kreuzzug
etwa um 1229 verfaßte, welche nach W. Grimm und Wackernagel von Walther
von der Vogelweide, dem Frydank (== Freidenkenden), nach andern vom Fahrenden
Bernh. Freidank herrühren soll, und unter dem Namen Bescheidenheit (d. i. Bescheid
wissen == Verständigkeit) des Freidank auf uns gekommen ist. Es kommen darin
reine Sprüche, reine Sprichwörter und Verbindung beider zu sprichwörtlichen
Sprüchen vor, welch letztere man als didaktische Epigramme auffassen könnte.
Seine nach ihrer Verwandtschaft zu mehreren Hauptabschnitten verbundenen
Gnomen bilden einen Weltspiegel, in welchem alle Stände vom Kaiser und
Papst bis zum niedrigsten Manne, sowie öffentliche und private Verhältnisse,
ferner Glaube, Tugend, Laster u. s. w. in größter Abwechslung behandelt
sind. Nennenswert sind von älteren Spruchdichtern die Bd. I. S. 47, 48
und 52 erwähnten. Besonders aber Zincgref, der 1624 wie schon Agrikola
(1528) und Sebast. Franck (Spruchweisheit, 1541) eine Sammlung der deutschen
Sprichwörter (Apophthegmata) veranstaltete. Ferner Angelus Silesius
(Joh. Scheffler Bd. I. S. 52), der zu vielen Spruchgedichten der Weisheit
des Brahmanen Fr. Rückerts den Stoff liefern mußte. (Vgl. den Nachweis in
„Fr. Rückert, ein biographisches Denkmal“ vom Verf. S. 158.) Außerdem
haben uns Gnomen hinterlassen: Gleim, Kästner, Herder, Bürger,
Schiller, Lessing, Tiedge, Goethe (Gnomen 1─17), Leopold Schefer,
Haug, Rückert (in Weisheit d. Brahmanen, in Lieder und Sprüche u. s. w.)
u. a. Jnteressant sind die vielen Sprichwörtersammlungen, von denen wir
nur aus der Neuzeit diejenigen von Körte (1837 und 1861), Eiselin (1838),
Simrock (1846 und 1863), Wander (deutsches Sprichwörter-Lexikon, Leipzig
1863─78) und Binder (Stuttgart 1874) erwähnen.
§ 95. Epistel.
Poetische Epistel nennt man einen Brief in Gedichtform mit
didaktischer Tendenz.
Ähnlich unseren Prosabriefen richtet sich die poetische Epistel an eine bestimmte
Person und teilt Gefühle und Gedanken in poetischer Form und in
lehrhafter Weise mit, so daß sie von der ganzen Menschheit mit Jnteresse gelesen
werden kann, und somit nicht nur für den Einzelnen Wert hat.
Die Griechen kannten diese Art von Epistel in der klassischen Zeit fast
gar nicht, denn die Briefe des Plato, Demosthenes u. a. sind wohl großenteils
unecht. Der römische Dichter Horaz, der seine Episteln, wie seine Satiren [213]
in Hexametern verfaßte, ist der Begründer der poetischen Epistel insofern, als
er zuerst systematisch solche dichtete, wie vor ihm sporadisch Sp. Mummius
vor Korinth 146 v. Chr., der Bruder des Siegers L. Mummius. Die Episteln
des Horaz zeigen Humor, aber weniger Spott als seine Satiren. Seine Lehre
steht immer in subjektiver Beziehung zu seiner Persönlichkeit.
Er spricht frei und offen, wie an einen Freund, und einige Briefe sind
wirklich durch besonderen Anlaß hervorgerufen. Dieselben stammen sämtlich aus
seinen letzten Jahren, wo er ernst gestimmt war und Neigung zum Philosophieren
bei ihm vorherrscht. Bei einem Brief nimmt jeder Mensch seine Gedanken mehr
zusammen, als bei einer Tischunterhaltung. Daher haben die Episteln einen
geregelteren Gang und verschmähen das Nachlässige, das in der Satire herrscht.
Die bedeutendste Epistel des Horaz ist die an die Pisonen, die den
individuellen Charakter ganz verleugnet und deshalb gewöhnlich aus der Briefsammlung
als ein besonderes Gedicht unter dem Titel de arte poetica ausgeschieden
wird. Es ist eine die Regeln der Dichtkunst in poetischer nicht eben
systematischer, sondern aphoristischer Weise darlegende Poetik in Versen, die für
Schulen sehr oft gedruckt und kommentiert wurde. (Vgl. Bd. I S. 3.)
Jn der neuesten deutschen Litteratur kommen die Episteln nur höchst vereinzelt
vor, während sie nach Günthers, Uz' ─ ihrer Begründer ─ Vorgang Ende
des vorigen und anfangs unseres Jahrhunderts an der Tagesordnung waren.
Die neueren deutschen Episteldichter wenden meist kein episches Maß an,
wie Horaz es that, da wir eben ein allgemein anerkanntes nationales episches
Maß nicht mehr haben; aber sie wenden auch keine lyrischen Strophen an,
bedienen sich vielmehr meist langer unstrophischer Reihen reimender Zeilen u. s. w.
Beispiel der poetischen Epistel.
Epistel an Stockmar, von Fr. Rückert.
Litteratur der poetischen Epistel.
Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: Francesco Algarotti;
von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Racine, Rousseau,
Voltaire u. a.
Von den Deutschen haben zuerst Günther und Uz Episteln gedichtet.
Dann Gleim (An Jakobi); Jakobi (Antwort); Göckingk (An meinen Bedienten,
An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); Wieland,
Manso, Ernst Schulze (An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte);
Pfeffel (An Zoe &c.); Gotter (Der Trost); Tiedge (An Schmidt); Thümmel,
Goethe, Platen, Rückert u. a.
§ 96. Heroide.
1. Heroiden (lat. heroides von ἡρωίς == Heldin) sind lyrischdidaktische,
in erhabenem oder elegischem Ton gehaltene Episteln, in
welchen der Dichter nicht in seinem Namen spricht, vielmehr eine
historische, mythische oder fingierte Person reden läßt.
Ovid dichtete die ersten Heroiden und ist somit ihr Begründer.
2. Die deutschen Heroiden weichen von den Ovidschen ab.
1. Ovids Heroiden sind Briefe, welche von berühmten Liebhaberinnen an
ihre entfernteren Geliebten gerichtet wurden (z. B. Deïanira an Herkules. Vgl.
auch die vorbildliche Heroide bei Properz [49─15 v. Chr.] V. 3, welche
eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich
lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung
innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt
wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht
auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen eine Art Elegie.
2. Seit Chr. Hoffmann v. Hoffmannswaldau (Bd. I 51) hat man
die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den
Namen falsch auf, indem man unter Heroides nicht Heldinnen, Heroinen, d. h.
episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, Herois verhalte sich zu Heros
wie Aeneis zu Aeneas und sei also ein Gedicht, das von Helden handle.
Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder
schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine [216]
Gedanken in den Mund, die sie von jenseits des Grabes ihren Freunden mitteilte.
Doch ließ man die Heroide auch von einer noch lebend gedachten, berühmten
Person (auch wohl von fingierten Personen) ausgehen. Ende des vor.
Jahrhunderts erreichte die 1716 von Pope geschriebene Heroide Heloise an
Abälard, welche Bürger und Tiedge deutsch übersetzten, bei uns verdiente
Berühmtheit.
Beispiele der Heroide.
α. Choröbus der Kassandra, von Platen.
β. Aus: Clemens an seinen Sohn Theodorus, von Schiebeler.
Litteratur der Heroide.
Heroiden schrieb von den Römern Ovid, Properz; von den Jtalienern:
Bruni und Crasso; von den Engländern: Pope; von den Franzosen:
Dorat; von den Deutschen Schiebeler, Eschenburg, A. W. Schlegel
(Neoptolemus an Diokles); Hofmannswaldau (Eginhard an Emma); Kosegarten
(Agathon an Thelxione); Kuffner (Thusnelda an Arminius); Therese
v. Artner (Sappho an Phaon); W. Smets (Ernst, Graf Gleichen an sein
deutsches Eheweib); Platen (Choröbus der Kassandra); Tiedge; Bürger; Kind
(Einsiedler an der Twerza); Wieland (Briefe Verstorbener an ihre noch lebenden
Freunde); Dusch; Trautzschen; Ernst Eckstein (Mutter und Kind. Jn
Ecksteins Sammlung: „Jn Moll und Dur.“) u. a.
Heroiden der Deutschen hat Raßmann (1824) herausgegeben.
§ 97. Kurze lyrisch-didaktische Formen.
Wie schon manche Episteln recht gut als Heroiden, oder Elegien,
oder Satiren, oder poetische Erzählungen aufgefaßt werden können,
wie ferner manche Satiren in Form von Briefen oder Fabeln &c.
auftreten, so findet man eine Anzahl kleinerer Dichtungen, welche sich
in keine der früher vorgeführten lyrischen Arten einordnen lassen.
Entweder ist ihr Jnhalt nicht vom Gefühl diktiert, oder es fehlen ihnen
die Anforderungen an das religiöse, elegische, gesellige, epigrammatische
Gedicht, oder endlich es geht ihnen eine, den bisher vorgeführten
Gattungen eigentümliche, charakteristische Form ab. Es steht eben dem
Dichter frei, sich von der Schablone je nach Bedürfnis zu trennen,
und die einzelnen Gattungen je nach Belieben und Bedürfnis zu vermengen
oder durch neue zu vermehren.
Wir verweisen die unbestimmten lyrischen Formen mit didaktischer
Tendenz in die besondere Rubrik der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.
Diese kurzen lyrisch=didaktischen Formen zählen selbstredend zur didaktischen
Gelegenheitspoesie, die ähnlich der Pindarschen Gelegenheitspoesie oder den in [219]
didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirventêsen (== Dienstgedichten) der Provençalen,
dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt.
Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte
in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen
Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des
sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur eine Strophe, zuweilen von größerer
Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt.
Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.
Reaktion, von Fr. Rückert.
Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in
mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern,
besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B.
S. 87. 101. 102 &c.)
Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime (Bouts-rimés). Vgl.
Rückerts: Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois Schreibers: Das
neue Jahrhundert u. s. w.
§ 98. Wirkliches Lehrgedicht.
1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung
von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu
einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand
ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst,
der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie.
2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der
Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation.
1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung
gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der
Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche
Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur
Parodie ist.
2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur
Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind:
a. Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition
kaum die Form gemein hat, indem sie Begriffe zur Erklärung häuft, während
jene nur die Kennzeichen des Begriffs einzeln vorführt.
Beispiel:
(Rückert.)
b. Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt.
Beispiel:
(Aus Gellerts Reichtum und Ehre.)
c. Die poetische Analogie, welche die Ähnlichkeit des Gegenstandes
in Beziehung mit anderen setzt. (Vgl. als Probe „Dem Liebesänger“ unter
I. der Beispiele.)
d. Die poetische Jndividualisation, welche statt eines abstrakten
Begriffes die untergeordneten Jndividuen nimmt. (Vgl. als Beispiel die gute
Lehre des Bettlers unter II.)
Beispiel des wirklichen Lehrgedichts.
I. Lyrisch-didaktisch.
Dem Liebesänger, von Rückert.
Als weiteres lyrisch=didaktisches Beispiel vgl. „Sei ein Mensch“, von
Leop. Schefer.
II. Episch-didaktisch.
Die gute Lehre des Bettlers, von Fr. Rückert.
III. Dramatisch-didaktisch.
Gegenstück zu Uhlands „Gespräch“, von Fr. Rückert.
Weitere Beispiele vgl. Sallets Fragment aus einer Tragödie im antiken
Stil (Sallets Ges. Ged. S. 171), sowie die am Schluß des folgenden Paragraphen
(99) gegebenen Proben aus Rückerts Weisheit des Brahmanen.
Litteratur des wirklichen Lehrgedichts.
Das wirkliche Lehrgedicht haben besonders Gellert, Herder, Tiedge,
Schefer, Sallet, Rückert &c. gepflegt.
Die Weisheit des Brahmanen von Rückert ist eine Sammlung
kleiner wirklicher Lehrgedichte, die durch gleiche Empfindung verbunden als
großes Lehrgedicht aufgefaßt werden und im nächsten Paragraph (99, ebenso
wie Sallets Laienevangelium und Schefers Laienbrevier) noch einmal erwähnt
werden müssen. Die einzelnen Gedichte sind als wirkliche Lehrgedichte zu
rubrizieren, während die Vereinigung dieser sämtlichen Dichtungen je als großes
Lehrgedicht gelten kann.
§ 99. Großes Lehrgedicht.
Giebt ein Dichtwerk nicht nur eine einzelne gute Lehre, sondern eine
ganze Anzahl von Gedanken aus einem Gebiet oder auch aus verschiedenen
Gebieten, so daß eine große didaktische Dichtung aus kleinen Einheiten
sich ausbreitet, wodurch schließlich das Thema erschöpfend behandelt
wird, so nennen wir dies ein großes Lehrgedicht.
Das große Lehrgedicht macht in seiner Ausdehnung und in seinem Verlauf
die allermannigfaltigsten Verhältnisse (z. B. Gott, Sittlichkeit, Freiheit, Tugend,
Unsterblichkeit und Glückseligkeit) zum Gegenstande seiner Betrachtung, welche es
vom Standpunkte einer höheren Weltanschauung beurteilt. Je mehr dabei der
reflektierende Verstand sich mit Phantasie und Gefühl vereinigt, desto vorzüglicher
wird das große Lehrgedicht sein. Gefühl und Phantasie werden in ihm übrigens
durch die Verstandesthätigkeit in Bewegung gesetzt. (Vgl. S. 18. 2. d. Bds.)
Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und
namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters),
wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz
zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit einer
hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe
von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe.
Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und
Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten
Aßmannschen Weltgeschichte noch Tscharners Regeln von der Wässerung der
Äcker, Trillers Pocken-Jnokulation, Schröers Drei Bücher von der Vormünder
und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das
Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa
und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden,
so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende
Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung
trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um
seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern
Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der
Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von
Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren
Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist.
Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer
Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen
Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei
den philosophischen Systemen selbst der Fall ist.
Beispiele des großen Lehrgedichts.
Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge.
Klagen des Zweiflers.
(Jn ähnlicher Weise und in diesem Metrum breitet sich die Dichtung
aus. Der Zweifler klagt die skeptische Philosophie an und fordert von ihr
seine Ruhe zurück. Er zweifelt an Gottes Dasein; das irdische Leben erscheint
ihm als ein Rätsel. Furchtbar schreckt ihn der Tod. Er betrachtet
sich als ein vom despotischen Schicksal hin- und hergeworfenes Wesen. Dennoch
fordert eine innere Stimme die Tugend; er soll, was er nicht kann: Hoffnungslos
schmachtet er nach Zuversicht, nach Trost. ─ ─ ─ Dies ist der
hauptsächliche Jnhalt des 1. Gesangs dieses großen, aus 6 Gesängen bestehenden
Lehrgedichtes über die Unsterblichkeit. Der aufmerksame Leser findet, wie
die Didaxis bald aus dem Gefühl, bald aus dem Verstand quillt, weshalb
ihn das Gedicht bald ergreift, bald kalt läßt, ohne viel mehr zu bewirken,
als die ruhelose Stimmung von Punkt zu Punkt weiter zu drängen. Jm 6. Gesang
kommt der Dichter zur Ansicht, daß eine zweifache Natur im Menschen
waltet; in jener entwickelt er sich als Naturwesen; in dieser reift er durch
sittliche Freiheit zur sittlichen Freiheit, von deren Höhe aller Prunk
der Zufälligkeiten des Lebens klein und nichtig erscheint &c.)
Bruchstück aus dem Laienevangelium, von Fr. von Sallet.
(Das Laienevangelium ist aus 131 solcher wirklichen Lehrgedichte zusammengesetzt.
Ein Prolog leitet es ein. Darauf folgen die Lehrgedichte: Jm Anfang
war das Wort. Die Geschlechtsregister. Maria Verkündigung. Simeon. Die
Weisen aus dem Morgenland und sodann alle jene Abschnitte aus Jesu Leben,
welche uns das Evangelium bietet bis zur Himmelfahrt. Ein Epilog schließt
das große Lehrgedicht. Das Ganze erstrebt eine Art Wiedergeburt des Christentums
im modernen Sinn.)
Litteratur des großen Lehrgedichts.
Von den Alten lieferten didaktische Gedichte: Empedokles (über die Natur);
Hesiod (Werke und Tage, vgl. S. 21 d. Bds.); Virgil (der bedeutendste
Didaktiker: „vom Landbaue“; es besteht aus vier Büchern: 1. Ackerbau, 2. Baumzucht,
3. Viehzucht und 4. Bienenzucht, ist überhaupt das beste, was das
Altertum bietet); Ovid (ars amandi, übersetzt von Pernice und F. Katsch,
Leipz. 1881, vgl. § 86 d. Bds.); Lucretius (de rerum natura); Horaz.
Ferner die Neulateiner: Vida (Seidenzucht); Milio (Gartenbau); die Jtaliener:
Vavasone (über die Jagd); Duchi (über Schachspiel); die Franzosen: Louis
Racine (über die Religion); Castel (über die Pflanzen); Boileau (die Kunst
zu dichten); die Engländer: Buckingham (über Dichtkunst); Pope (über den
Menschen); Young (über die Kraft der Religion, sowie die ergreifenden, Tod
und Unsterblichkeit behandelnden „Nachtgedanken“ dieses Dichters, übersetzt von
Benzel-Sternau). Von Deutschen sind zu nennen: Ringwald (geb. 1531:
Christliche Warnung des treuen Eckarts, oder die lautere Wahrheit, die sagt,
wie ein weltlicher und geistlicher Krieger sich zu verhalten haben); Opitz
(Zlatna oder von der Ruhe des Gemüts, ferner Trost in Widerwärtigkeit
des Kriegers); Cronegk (die Einsamkeiten); Schefer (1784─1862, Laienbrevier); [226]
Kästner (die Kometen); Lichtwer (das Recht der Vernunft);
Schiebeler (Poetik des Herzens); Schreiber (Harmonie); W. Jordan
(Demiurgos, hat Ähnlichkeit mit Goethes Faust, bewegt sich in allen Kreisen
der menschlichen Gesellschaft und führt den Gedanken aus: Der Mensch soll
unbekümmert um den Weltlauf sein eigenes Ziel erstreben); v. Gottschall
(die Göttin, hohes Lied vom Weibe); Schlönbach (Weltseele, ist in mancher
Beziehung mit Hallers Alpen zu vergleichen. Einzelne Bilder daraus z. B. „Vor
dem Sturm“ sind äußerst wirkungsvoll).
Endlich sind vorzugsweise die auf S. 21 und 22 d. Bds. genannten
großen Lehrgedichte hier zu verzeichnen, sowie zum Schluß das epochebildende,
aus 2800 kleineren Lehrgedichten bestehende große Lehrgedicht Rückerts: Weisheit
des Brahmanen, welches durch die Einheit des Sinns, der Form und
der Empfindung zu einem großen Ganzen verbunden ist, alle Verhältnisse des
Menschen nach Alter, Stand, Geschlecht, Staat, Religion, Gesellschaft umfaßt,
Resultate von Studien auf philosophischen, psychologischen, sprachlichen, naturwissenschaftlichen
und pädagogischen Gebieten darbietet, alle Saiten des Menschenherzens
erklingen läßt, zur Tugend mahnt, Mut im Unglück lehrt und selbst
den religiösen Fragen über Gott, Unsterblichkeit, Glauben, Offenbarung &c.
nicht aus dem Wege geht. Von welchem Gesichtspunkte aus der Dichter selber
seine Weisheit des Brahmanen angesehen wissen will, mögen die nachfolgenden
Bruchstücke darthun:
(Weish. d. Brahm. II. 31. 1. Ausg. II. 43.)
(Ebenda V. 5.)
(Ebd. XX. 61. 1. Ausg. XX. 106.)
(Ebd. XX. 64. 1. Ausg. XX. 111.)
Viertes Hauptstück.
Die epischen Dichtungen. ──────
§ 100. Einteilung der epischen Poesie.
Wir ordnen die Gattungen der Epik nach ihrem Jnhalt an und
unterscheiden demnach epische Gedichte, welche ihren Stoff
1. aus dem Leben der Wirklichkeit, dem Erlebnisse nehmen;
2. aus der Sagenwelt schöpfen;
3. dem prosaischen Leben der Wirklichkeit in Prosa nachbilden,
also erfinden.
Demzufolge erhalten wir die nachstehende für unsere Anordnung maßgebende
Einteilung:
I. Aus dem Leben der
Wirklichkeit.
Erlebtes.
1. Poetische Erzählung u.
epische Rhapsodie.
2. Jdylle.
3. Beschreibendes Gedicht.
II. Aus der Sagenwelt.
Überliefertes.
1. Sage.
2. Mythus.
3. Legende.
4. Märchen.
5. Romanze.
6. Ballade.
7. Epos.
A. Volksepos.
B. Kunstepos.
III. Dem Leben der Wirklichkeit
nachgebildet.
Erfundenes.
Prosaische Gattungen.
a. Roman.
b. Novelle.
Einige Litterarhistoriker beachten keinerlei Einteilungsprinzip und ordnen
die obigen Gattungen der Epik willkürlich an. Andere bereichern die epischen
Gattungen durch die von uns in den §§ 79─81 dieses Bandes abgehandelten
symbolischen Gattungen der Didaxis: Fabel, Parabel und Paramythie. Heinrich
Wittstock (im 3. Programm des Gymnasiums zu Bistritz) faßt die Gattungen
der Epik unter folgende allgemeine Gesichtspunkte zusammen:
A. Rein episch: Epos, Jdylle.
B. Lyrisch=episch: Ballade, Romanze, Rhapsodie.
C. Poetische Erzählung, Schwank, Legende, Sage, Märchen, Mythe.
D. Didaktisch=episch: Fabel, Parabel, Paramythie.
Wir würden dieser Einteilung gegenüber vorschlagen die Scheidung a. in
Epik der Einbildungskraft (epische Epik), b. Epik des Gefühls (lyrische Epik),
c. Epik des Verstandes (didaktische Epik).
Doch geben wir unserer oben dargelegten Rubrizierung nach der Stoffquelle
(Jnhalt) der epischen Gedichte den Vorzug.
I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende
epische Gattungen.
§ 101. Poetische Erzählung.
1. Eine poetische Erzählung (metrische Erzählung, erzählendes
Gedicht, Erzählung in Reimen oder Versen) ist im Grunde genommen
eine jede Erzählung in rhythmischer Form, sofern sie durch Jdealisierung
ein höheres Jnteresse zu erwecken vermag. Sie schildert mit dichterischem
Schwung eine einzelne Begebenheit, ein einzelnes Vorkommnis aus
dem Leben einer oder mehrerer Personen, oder sie veranschaulicht eine
ästhetische Jdee in der Form einer Begebenheit. Jhr Jnhalt muß somit
dem wirklichen Leben entsprechend sein. Alles Sagenhafte und Wunderbare
ist bei ihr ausgeschlossen.
2. Aus diesen Anforderungen ergiebt sich ihr Verhalten zur
Romanze und Ballade, zur Novelle, zur Epopöe, zur Parabel und
Fabel &c.
1. Durch die rhythmische Form unterscheidet sich die poetische Erzählung
äußerlich von der gewöhnlichen Prosa-Erzählung, die ja ebenfalls in's Bereich
der Poesie gezogen werden kann, sofern sie die inneren Gemütszustände enthüllt
und bei ihrer Darstellung die Phantasie thätig sein läßt. Der Umfang ist unwesentlich.
Die metrische Erzählung Jsabella von Kastilien vom Wupperthaler
Dichter K. Stelter umfaßt 354 vierzeilige Strophen; Bodenstedts Ada,
die Lesghierin, 72 Gesänge in 4= und 5taktigen Trochäen. Eine kurze
Erzählung in Prosa (Anekdote) kann durch die rhythmische Form ebenso zur
poetischen Erzählung werden, als eine lang fortgesponnene.
Betreffs der Form steht dem Dichter jedes Versmaß und jeder Reim frei.
Trochäen, Jamben, der Nibelungenvers, Alexandriner, Oktaven &c. sind mit
Erfolg angewandt worden.
Für die Entstehung der poetischen Erzählung ist zu betonen, daß man im
Streben nach höherer Kunstentfaltung, übersättigt von der Fabeldichtung, epische
Stoffe zu bearbeiten begann, wobei anfänglich allerdings wie in der Fabel die [229]
didaktische Tendenz überwog, so daß die poetische Erzählung sich von der Fabel
ursprünglich nur dadurch unterschied, daß statt der Tiere Menschen ihre handelnden
Gestalten waren. Dies ist noch bei vielen, satirisch gehaltenen sogenannten
poetischen Erzählungen von Gellert, Lichtwer, Gleim &c. der Fall, die deshalb
in's Gebiet der didaktischen Poesie gehören. Nach und nach erst trat die epische
Gestaltung in den Vordergrund, und allmählich bildete sich auch eine poetische
Erzählung aus, die man Schwank nannte, wenn sie komisch oder humoristisch
gehalten war.
2. Von der Parabel unterscheidet sich die poetische Erzählung dadurch,
daß sie nicht belehren will; von der Ballade und Romanze dadurch, daß sie
nicht direkt auf das Gemüt zu wirken sucht, und daß ihr die lyrische, subjektiv
erregte Färbung fehlt; von der Novelle und Novellette durch ihre metrische
Form; von der Epopöe durch kleineren Umfang, durch ihren dem wirklichen
Leben oder der Phantasie (nicht der Sage) entlehnten Stoff.
Man kann die poetischen Erzählungen einteilen:
1. in humoristische poetische Erzählungen;
2. in ernste poetische Erzählungen.
Beispiele der poetischen Erzählung.
1. Humoristische poetische Erzählung.
Der Milchtopf, von Michaelis.
(Dieselbe poetische Erzählung findet sich unter der Überschrift: Die Milchfrau
in anderer Form mit einer Lehre am Schluß bei Gleim, wodurch diese
Form didaktisch wird und den Beweis liefert, daß die poetische Erzählung an
der Grenze der didaktischen und epischen Poesie steht. Beide Erzählungen,
welche übrigens aus der Hitopadesa stammen, sind offenbar Nachahmungen
der Fabel von Lafontaine „La laitière et le pot au lait.“ Livre VII
fable 10.)
2. Ernste poetische Erzählung.
Als allbekannte Beispiele nenne ich: 1. Schwäbische Kunde, von
Uhland. 2. Johannes Kant, von Gust. Schwab.
Litteratur der poetischen Erzählung.
Von den frühesten poetischen Erzählungen aus der Zeit der Minnesinger
erwähnen wir den „Armen Heinrich“ von Hartmann von der Aue (vgl. Bd. I.
S. 46), ferner den „Guten Gerhard“ von Rudolf von Ems, welcher die Bescheidenheit,
sowie auch die das geschaffene Gute vernichtende Selbstgefälligkeit
schildert. Aus späterer Zeit: Hans Sachs, der Vater des Schwanks, der auch
später seine Vertreter fand (z. B. Der Kaiser und der Abt, von Bürger).
Dann im 18. Jahrhundert Hagedorn, der die Franzosen und Engländer nachahmte
(z. B. den Lafontaine).
Verbreitete und allbekannte poetische Erzählungen von Wert haben außer
den Obigen geschrieben: Claudius (David und Goliath); Gellert (Der Jnformator,
Der Hut, Der sterbende Vater &c.); Kleist (Die Freundschaft); Lichtwer
(Die blinde Kuh); Lessing (Das Kruzifix &c.); Fouqué (Sängerlohn); Pfeffel
(Der Bauer und der Fluß, Der Geizhals und sein Sohn); Wieland (Die drei
Lehren &c.); Nikolai (Die Traube); Gotter (Der Genuß); Herder (Das Kind
der Sorge); Falk (Der Esel); Seume (Der Wilde); Göckingk (Predigt am
Magdalenentage, humoristisch); Tiedge (Die Orakelglocke); Thümmel; Kind;
Schulze (Psyche); Schiller; Simrock; Justinus Kerner (Der reichste Fürst);
Bürde (Karl V. im Kloster); Chamisso (Giftmischerin, schaurig ernst); ferner
Rückert (Die Erfrorenen); Freiligrath; Fr. Storck; Körner; Lenau; A. Grün;
Frankl; Castelli; Paul Heyse; Feod. Löwe; Rittershaus; Heinr. v. Collin
(Max auf der Martinswand); Ludwig Lesser (Schach Jbrahim und der
Derwisch &c.); von Gaudy (Die Pestjungfrau, Der Mönch Peter Forschegrund
&c.); Alexander Kaufmann (Die Bettlerin &c.); Amara George (Der
kleine Napoleon); J. Sturm (Martin Luther am Sterbebette seines Lenchens);
Bechstein (Haimonskinder); v. Heyden (Königsbraut &c.); Waldmüller; George
Morin (Stern und Rose); Al. Aar (Alarich auf der Akropolis); Waiblinger;
Karl Stelter; Karl Zettel &c. Außerdem haben die meisten deutschen Dichter
der Gegenwart poetische Erzählungen geliefert.
Als erzählender Dichter der Engländer ist besonders Lord Byron († 1824)
zu nennen. Nachahmer von ihm waren der Pole Mikiewicz und der Russe
Puschkin u. s. w.
§ 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie).
Die poetische Erzählung mit höherem Schwung und größerer
Begeisterung heißt epische oder erzählende Rhapsodie oder Märe. Auch
wird jede Romanze oder Ballade so genannt, sofern sie einen für sich
allein bestehenden Abschnitt einer größeren Heldensage enthält.
Somit verhält sich die epische Rhapsodie zur poetischen Erzählung, wie
die Ode zum Liede. Sie will die Thaten und den Charakter des Helden vor
unsern Augen entwickeln, und auf diese Weise auf unser Gefühl wirken, nicht
aber durch Betrachtungen und Gefühlserregungen. Bei den alten Griechen
hießen einzelne Gesänge eines Epos Rhapsodien. Heutzutage darf man auch
ein episches Gedicht Rhapsodie nennen, wenn sein Gegenstand so großartig ist,
daß es nur wie ein Bruchstück eines größern Ganzen zu betrachten ist. Namentlich
Goethe, Schiller und Uhland sind Meister in der epischen Rhapsodie.
Viele Balladen und Romanzen sind zugleich auch epische Rhapsodien. Jch
erwähne vor allem: Schillers Ballade Graf von Habsburg. Diese
Dichtung stellt eine große Scene vor, das festliche Mahl im Aachener Schloß
nach der Krönung. Um es möglich zu machen, alles zu konzentrieren, That
und späte Erfüllung der geweissagten Segnung in einer Scene beizubringen,
wird hier der inzwischen ergraute Priester zum Sänger, aber dieses Wort in
so veredelter Bedeutung genommen, als nur irgend möglich. Der Kaiser sucht
bei der Tafel einen Sänger, der ihm die Brust bewege mit göttlich erhabenen
Lehren. Dieser knüpft die Vergangenheit an die Gegenwart, und vollendet auf
diese Weise die Harmonie des Ganzen. (Calderon, dessen Bearbeitung Schiller
höchst wahrscheinlich kannte, hat denselben Stoff zuerst in dem Auto sacramental
[Apontes III. p. II. a] und in dem Vorspiele zum Auto sacramental
[El Arca de Dios captiva VI. 39] mit großer Ähnlichkeit behandelt.)
Schillers Ballade erscheint wie ein großes Bruchstück, verdient also den
Namen epische Rhapsodie.
Beispiele der epischen Rhapsodie.
Neben dem soeben genannten allbekannten Beispiel erwähne ich nur noch
a. Pegasus im Joche, von Schiller. b. Der letzte Ritter, von Anastasius
Grün (eine Verherrlichung des letzten deutschen Ritters Kaiser Maximilian).
c. Prinz Eugenius. d. Andreas Hofer. e. Cserhalom, von Vörösmarty,
übersetzt von Faust Pachler (Wien 1878), und f. den 1881 erschienenen
Rhapsodiencyklus Barbablanca von Jul. Ernst von Günthert. Weitere Beispiele
können leicht aus der unter Romanze und Ballade gegebenen Litteratur
ausgewählt werden.
§ 103. Die Jdylle.
1. Die Jdylle (oder auch das Jdyll, εἰδύλλιον == Bildchen, von
εἶδος == Form, Bild, Gestalt) ist eine poetische Erzählung, welche den
glücklichen, ruhigen, von Schuld freien Zustand des ländlichen Lebens [232]
schildert, das einfache, schlichte, glückliche Treiben von Menschen, die
mit der Natur anmutig verkehren.
2. Sie ist der Elegie verwandt.
3. Sie hat kein feststehendes Versmaß.
1. Nicht das Bestreben, vor Störendem bewahrt zu sein, und nicht die
träumerische Behaglichkeit am Abgeschlossenen und Abgegrenzten ist Merkmal des
Jdylls, wohl aber die Liebe zum Ländlichen, die Sehnsucht nach der Einfachheit
und Natürlichkeit ländlicher, ungekünstelter Zustände und Verhältnisse. Vischer
sagt: „Aus der unbefangenen Einheit der Natur und Kultur geht die arkadische
Beseligung hervor.“
Bilder aus dem einfachen Hirten=, Fischer=, Jäger=, Winzer- und Schäferleben
sind der Jdylle am liebsten.
Jn neuerer Zeit hat man auch in die Jdylle Personen hereingebracht, die
(wie Landgeistliche, Beamte und Lehrer) erfolgreich in das Naturleben ihres
Ortes eingreifen. Dadurch wurde sie erweitert, ohne zum Epos geworden zu
sein, bei welchem ein der Jdylle fremdes, großartiges Gepräge nicht fehlen darf.
Nur harmlose Kinder der Natur voll sanfter Gefühle treten in der Jdylle auf;
verwickelte und fremde Verhältnisse, gewaltige Ereignisse, eine zu große Anzahl
handelnder Personen &c. verstoßen gegen ihr Wesen, weil die Seele des Lesers
zu sehr auf den weiteren historischen Verlauf der Thatsachen hingelenkt und
dadurch verhindert würde, einen verweilenden Blick auf die Bäume und Blumen &c.
zu werfen, die schmückend die Scene beleben. Daher hat Gervinus Recht, wenn
er meint, die Jdylle sei da zu Haus, wo Mangel an bewegter Geschichte ist.
Ziererei und höhere Lebensverfeinerung kennt die Jdylle nicht, ihr Stil ist einfach,
naiv, wohl zuweilen warm und lebhaft, nie aber leidenschaftlich. Jhr
Charakter ist der des Anmutigen, Lieblichen. Jm Jdyll muß sich jeder zu
Hause fühlen, alles muß bekannt, verständlich sein, das niedere Leben, die
gemächliche Alltäglichkeit in Stadt und Land (d. h. eine Welt, in der nichts
Großes geschieht, deren Geschichte ohne Geräusch langsam dahinfließt), muß die
Scene bilden. Daher schrieben Opitz, Geßner, Maler Müller ihre Jdyllen in
Prosa. Wo es dem göttlichen Knaben Hermes im bekannten Homerischen Hymnus
wohl wird in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht nur von ihrer
Liebe, sondern auch von ihrem Hausrate, von ihren Kesseln und Dreifüßen.
Das Jdyllische findet man zuweilen auch in andern Dichtungsgattungen,
z. B. im sog. idyllischen Epos (Goethes Hermann und Dorothea), oder in den
sogenannten idyllischen Schäferspielen, einer besonderen Art von Dramen des
17. Jahrhunderts, oder in den Dorfgeschichten (z. B. Auerbachs und Schaumbergers,
welche einzelne reizende idyllische Bildchen in Prosa liefern). Die Bibel
enthält Manches, was den Charakter der Jdylle an sich trägt, z. B. das Buch
Ruth. Der Jliade fehlen (Hektors Abschied und eine Scene auf Achills Schild
abgerechnet) die idyllischen Züge, ebenso unserem Nibelungenepos, während man
sie in der Odyssee (z. B. Schilderung des Naturparks der Kalypso Od. E.
55 ff.) findet.
Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst
spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von
der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das
zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab,
losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen.
2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen
haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen
von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich
ruhende Äußerlichkeiten.
3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer
Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter.
Beispiele der Jdylle.
a. Minna, von Tiedge.
b. Schluß des 20. Jdylls Theokrits (die Spindel), übersetzt
von Fr. Rückert.
⏓ ⏓ – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ –
c. Anfang und Schluß der Wald-Jdylle von E. Mörike.
(Der Erzählende teilt nun Schneewittchens Geschichte mit. Als er geendet
kommt Margarete und bringt dem Vater das Essen. Er ißt mit und hat
diesen Wunsch:)
Litteratur der Jdylle.
Als erster Jdyllendichter in Griechenland wird Theokrit (270 v. Chr.)
genannt, der die Gattung der bukolischen Poesie oder das Hirtengedicht aus
Sicilien nach Alexandrien brachte. Seine Jdyllen sind mimische Gedichte. Nach
ihm glänzten Moschus und Bion.
Bei den Römern dichtete Virgil berühmte Jdyllen, ohne sein Vorbild Theokrit
erreicht zu haben. Er hat 10 Eclogen oder Hirtengedichte zurückgelassen.
Opitz' „Daphne“ rief in Deutschland ähnliche Gedichte hervor, besonders
bei den Pegnitzschäfern (I. 51).
Geßner (1730─1787) war der Schöpfer einer idealischen Hirtenwelt,
deren Vorbild ihm in der arkadischen Schweiz nahe genug lag. Seine Jdyllen
bieten in glatter zierlichen Prosa freundliche Scenen aus einem ersonnenen
Schäferleben. Die bis in's kleinste ausgeführten, oft unnatürlich süßlichen, oder
sentimentalen Schilderungen verraten den feinblickenden Landschafter. Sein bester
Schüler Franz Xaver Bronner († 1850 in Aarau) schrieb lebenswahre, leider
zu sentimentale Fischer-Jdyllen (z. B. der Getröstete).
Unter den deutschen Jdyllendichtern sind sonst noch bekannt: Chr. v. Kleist
(Jrin, in jambischen Viertaktern); Langbein (Abenteuer des Pfarrers Schmolke &c.
in jambischen Viertaktern); Hölty (Das Feuer im Walde; Der arme Wilhelm;
Christel und Hannchen); Voß (Der 70te Geburtstag. Diese Jdylle hat neben
Breitem und Spießbürgerlichem viele wahrhaft poetische Partien. Das Glückliche,
Schöne, Schuldlose und Einfache des Landlebens ist darin bis in's kleinste
mit anschaulichsten Farben gemalt. Vgl. auch I. 55); Kosegarten; Goethe
(Der Wanderer, das Sesenheimer Jdyll); Hebel (Habermuß); Neuffer († 1839,
Ein Tag auf dem Lande); Amalie von Helwig (das dramatische Jdyll Corcyra);
Platen (Die Fischer auf Capri; Amalfi; das Fischermädchen in
Burano); Wyß (Das Gemslein); Matzerath (Erntemahl, eine niederländische
Jdylle); Müller von Königswinter (Maikönigin, ein Gemälde des rheinischen
Volkslebens); Robert Giseke (Pfarr-Röschen); Robert Hamerling (Morgen=
Jdyll); Karoline Pichler (Der Sommerabend, und biblische Jdyllen); Günther
(die Landschaft); Rückert (Das Bienengesumme); Albert Möser hat Jdyllen
in Dialogform geschrieben, ähnlich wie Hebels Die Feldhüter oder wie Goethes
Der neue Pausias &c. Sein „Er“ beginnt mit einem Distichon, worauf seine
„Sie“ mit einem solchen fortfährt; dann spricht „Er“ wieder ein Distichon, dann
„Sie“ u. s. f. durch seine 4 Jdyllen. (Vgl. Mösers Schauen und Schaffen
S. 139 ff.); Anna Löhn (Der Schulmeister); J. G. Fischer (Der glückliche
Knecht, 9 Gesänge in trochäischen Viertaktern) u. a. Jul. Rodenberg schrieb
dramatische Jdyllen &c.
§ 104. Beschreibendes Gedicht.
Gedichte, bei welchen der Dichter bloß die Eigenschaften, Merkmale,
Zustände seines der Natur entlehnten Gegenstandes angiebt, ohne
seine eigenen Empfindungen mitzuteilen, bei denen ferner die poetische
Beschreibung meist zur erzählenden Schilderung wird, bei welchen endlich
das sinnende Verweilen der Elegie ausgeschlossen ist, nennt man
beschreibende Gedichte.
Sobald die poetische Beschreibung aufhört zu erzählen, weist sie die Einbildungskraft
von sich, welche allein im stande ist, die Einzelheiten der Beschreibung,
denen ja der organische Zusammenhang fehlt, durch die historische
Entfaltung zu verbinden. Bloße Aufzählung des in sinnlicher Erscheinung Entgegentretenden,
Reimereien, die dem Abgerissenen nicht den Eindruck der augenblicklichen
Stimmung zu verleihen vermögen, fallen somit aus dem Gebiete
der Poesie heraus, selbst wenn glänzende Rhetorik das Ohr besticht. Beim guten
beschreibenden Gedicht muß Erzählung und Gefühls-Ausdruck vereinigt sein.
Um poetisch zu sein, muß vor allem der Gegenstand des Gedichts von
so interessanter Beschaffenheit, von solcher Schönheit, Großartigkeit oder Seltenheit
sein, daß eine bloße Angabe der Merkmale schon hinreichen würde, den
Leser poetisch anzuregen (z. B. bei Naturerscheinungen, die durch Großartigkeit,
Schönheit, Seltenheit einen tiefen Eindruck machen). Der Gegenstand des beschreibenden
Gedichts kann ebenso aus dem Reiche der sichtbaren, wie aus dem
der unsichtbaren Welt des Geistes und Gemütes entnommen sein; er kann erfunden
sein. Sodann sind Anschaulichkeit und Jdealität zwei Hauptforderungen
an ein beschreibendes Gedicht. Unschönes, Störendes aus der prosaischen Wirklichkeit
ist wegzulassen, das Schöne, sofern es keinen Widerspruch hervorruft,
ist hinzuzusetzen. Das beschreibende Gedicht läßt oft Episoden zu, um die
ästhetische Kraft des Ganzen zu fördern. Ohne diese Episoden ermüdet es und
wird zur Malerei mit Worten. Daher fließen wie von selbst Betrachtungen und
lyrische Ausbrüche der Empfindungen ein.
Häufig kommen poetische Beschreibungen als Teile größerer Gedichte vor.
Torquato Tasso beschreibt z. B. im befreiten Jerusalem eine Dürre, unter
der das Kreuzheer zu leiden hat. Homer beschreibt den Schild des Achill in
der Jlias. Die unter den didaktischen Gedichten erwähnten „Jahreszeiten“ (the
seasons, vom Engländer James Thomson † 1748), ─ von Schneittheiner,
L. Schubart u. a. deutsch übersetzt ─ wurden die Veranlassung zu den beschreibenden
Nachdichtungen „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Brockes; Kleists
„Frühling“; Zachariäs „Die Tageszeiten“ und zu Haydns gleichnamigem
Oratorium.
Muster von beschreibenden Gedichten lieferte Schiller. Wir erinnern nur
an Laura am Klavier. Der Dichter hat hier eine Phantasie Lauras, die sie
ihm vorspielte, durch berechneten Rhythmuswechsel darzustellen gewußt. Die
Einleitung von V. 15─22 ist gewissermaßen ein Allegro Brillante, welches [237]
in ruhiges Spiel übergehend durch geschmackvollen Ausdruck mit zartem Piano
(23 und 24) und kühnem Forte (25 und 26) sich auszeichnet, endlich (V. 27
und 28) wieder zum rauschend bewegten Tanze der Töne wird, darauf im
schmeichlerischen, tändelnden, ruhigeren Spiel (29─32) dahinschwebt, (33─36)
um in ein melancholisches düsteres Adagio herabzusinken und erwartungsvoll,
Neues erhoffend, zu endigen.
Beispiele des beschreibenden Gedichts.
a. Aus Kleists Frühling. (S. Bd. I S. 171.)
b. Die Fahrt um den Posilip, von Fr. Rückert.
c. Abendlandschaft, von Matthisson.
(Nicht bloß der glückliche Versbau ist es, sagt Schiller [Über Matthissons
Gedichte], was diesem Liede eine so musikalische Wirkung giebt. Der metrische
Wohllaut unterstützt und erhöht zwar allerdings diese Wirkung, aber er macht
sie nicht allein aus. Es ist die glückliche Zusammenstellung der Bilder, die
liebliche Stetigkeit in ihrer Succession; es ist die Modulation und die schöne
Haltung des Ganzen, wodurch es Ausdruck einer bestimmten Empfindungsweise,
also Seelengemälde wird.)
d. Jn die Herrlichkeit des Himmels, von Ed. Tempeltey.
Litteratur des beschreibenden Gedichts.
Das erste größere beschreibende Gedicht unserer Litteratur ist von Opitz
(Der Vesuv, 1633 in Alexandrinern geschrieben). Später schrieben: Zachariä
(z. B. Die Tageszeiten in 4 Gesängen, in elegisch sentimentalem Ton; sein
berühmt gewordenes Hauptwerk); Kleist (Der Frühling); Stolberg (Hellebek);
Tiedge (Der Abend); Kosegarten (Der Gewitterabend); Matthisson (Der Genfersee
&c.); Lavater (Der Rheinfall); Neuffer (Die Herbstfeier); Salis (Das
Abendrot); Platen (Bilder aus Neapel); Freiligrath (Wüstenbilder); Heine
(Nordseebilder); Schiller (Elysium, Herkulanum und Pompeji &c.); Rückert (Naturbilder
in antikem Versmaß); Lenau (Mischka, Die Heideschenke, Die Werbung);
Geibel (Jtalien, Zigeunerleben, Das Negerweib); Dieffenbach (Das Kirschbäumchen);
A. Möser (Auf der Nordsee); Adolf Grimminger (Auf dem Königssee); Paul
Hagemann (Die Feuersbrunst) u. a.
II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische
Gattungen.
§ 105. Die Sage.
1. Sage (von sagen) ist die poetische Erzählung einer Begebenheit,
welche ihrem Stoffe nach von der im Volksmunde fortlebenden
und gefärbten Überlieferung herrührt und keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit
erhebt. Sie knüpft sich an mündlich überlieferte, durch das
Gedächtnis aufbewahrte, gefärbte Geschichte, oder an bestimmte historische
Personen, an einzelne, dem Volke interessante Orte (z. B. Ruinen,
Berge, Felsen).
2. Die Sage unterscheidet sich von der Mythe d. i. der religiösen
Sage.
3. Mehrere verwandte Sagen bilden einen Sagenkreis.
4. Besonders beliebte und verbreitete Sagen werden zu Volkssagen.
5. Es giebt ernste und humoristische Sagen.
1. Polybius hat zuerst (1. 2. 8. ὁ τῆς πραγματικῆς ἱστορίας τρόπος)
den Namen pragmatische Geschichtsforschung aufgebracht und versteht darunter
die wirkliche Geschichte, die sich im Gegensatz zur Sage wie zum Mythus befindet.
Saga (plur. Sögur) ist in der norddeutschen Mythologie eine dem Odin
als Gemahlin oder Tochter beigesellte Asin. Sie wohnt in der vierten Himmelsburg
Sökkwabeck, über welche kühle Wogen rauschen. Sie gilt als Personifikation
der Geschichte. Täglich trinkt sie mit Odin aus goldenen Schalen Weisheit und
Kunde. (Vgl. Edda 7.)
Das der Dichtungsgattung Sage zu Grunde liegende Geschichtliche ist
durch die Phantasie so entstellt, vergrößert oder verkleinert worden, daß das
geschichtliche Moment nur in den seltensten Fällen herauszufinden ist. Ursache
und Wirkung wird nicht mehr recht begriffen; es entstehen falsche Beziehungen;
das Wunderbare erscheint natürlich; der Volksgeist in seiner Eigentümlichkeit
kommt zum Ausdruck. Die Sage, welche sich aus Sagen aus- und umbildet,
bis sie mundgerecht wird, hat das Volk und die Zeit zum Dichter. Sie ist
somit Volkspoesie und muß daher einfach, ansprechend, fesselnd sein. Chamisso
urteilt über die Sage:
Das Charakteristische der Sage ist also die Überlieferung, die Tradition.
Der Dichter der Sage darf daher seinen unverbürgten Gegenstand nie der
Gegenwart entnehmen, sondern einer früheren Zeit. Nach Görres (Heldenbuch
von Jran II. 356) ist Sage der feurige Wein, in dem die vom Lebensgeiste
des Volkes durchwärmte Geschichte aufgegohren. Die Sage im Wesen historisch [241]
gemeint, ist älter als die geschriebene Geschichte. Sie ruht auf uralter,
wirklicher, ungeschriebener, entstellter Geschichte. Der Dichter darf sich daher
Einschaltungen, Ergänzungen, Änderungen gestatten.
2. Man gebraucht das Wort Sage meist für eigentlich weltliche Sagen,
wie auch für Volkssagen, also für Stamm=, Geschlechts- und Heroensagen, nicht
aber für religiöse Sagen oder Mythen (§ 107), deren Personen gottähnliche
Wesen oder Götter sind.
Neben den Sagen von geringem Umfang (z. B. Rückerts und Chamissos
Riesenspielzeug) giebt es solche von großer Ausdehnung (z. B. die Sagen von
Till Eulenspiegel, vom Doktor Faust, vom ewigen Juden aus dem 16. Jahrhundert
u. s. w.
3. Mehrere Sagen, die sich auf den nämlichen Helden und auf andere
mit dessen Erlebnissen verknüpfte hervorragende Personen beziehen, bilden einen
Sagenkreis.
Für einen Überblick der vielen deutschen Sagen besonders der mittelhochdeutschen
Poesie kann man dieselben in folgende nach den Volksstämmen angeordnete
Sagenkreise einteilen:
a. Der niederrheinische Sagenkreis: Hauptort desselben war die
Burg Xanten (oder Santen) am Niederrhein. Siegfried (altn. Sigurd) ist
ihr erster Held, der sich im Blute des erlegten Drachen badete und hörnern
(hürnen) wurde; Kriemhild ist seine Gemahlin. (I 44.)
b. Der burgundische Sagenkreis: Hauptort Worms. Der Held ist
Gunther. Neben ihm stehen Gernot, der junge Giselher, Gunthers Mutter
(Frau Ute) und ihre Tochter Kriemhild; Gunthers Gemahlin Brunhild (Brynhild
der Edda).
c. Der ostgotische Sagenkreis: Hauptheld: Dietrich von Bern
(Theodorich von Verona 423─526). Sein Waffenmeister Hildebrand, dessen
Sohn Hadubrand, ferner Wolfhard, Wolfbrand, Wolfwin, Sigestab, Helferich &c.
gehören zu diesem Sagenkreis.
d. Der ostdeutsche Sagenkreis: Hauptort: Etzelsburg (Ofen). Es
gehören dazu: Etzel (Attila), seine Gemahlin Helche; Rüdiger von Bechlarn,
Hawart, Jring und Jrnfried.
e. Der norddeutsche Sagenkreis: Schauplatz: Friesland. König
Hettel, dessen Tochter Gudrun, Horant, Wate und Frute, sowie Morung von
Nifland und Jrolt von Ortland &c.
f. Der lombardische Sagenkreis: Hauptort: Garden am See (Gardasee).
König Rother; Ortnit, Hugdietrich; Wolfdietrich. (I 45.)
g. Der fränkische Sagenkreis oder die Karlssage: Karl der Große
und Roland als Gotteskämpfer. (I 45.)
h. Der bretonisch=keltische Sagenkreis oder die Artussage: Artus
und seine Tafelrunde; ein britischer König, durch seine Verteidigung gegen die
Sachsen bekannt. Um ihn sind versammelt: Parcival, Lohengrin, Jwein,
Tristan, Gawein, Erec, Lanzelot, Wigalois u. a. (I 45.)
i. Der mit dem vorigen verwandte Gralsagen-Kreis: (le saint Graal
oder Gréal mißverstanden als Sang Réal, königliches Blut Jesu; richtiger:
heiliger Kelch, vom mittellat. gradale == crater) Titurel hat den Tempel
Montsalwäsche erbaut, in welchem der h. Gral ist. Artus sucht nach dem
Gral, um durch dessen Wunderkraft dem Tode zu trotzen.
4. Außer den vielverbreiteten Sagen dieser Sagenkreise leben in unserem
Volke viele sogenannte Volkssagen, die vereinzelt dastehen, keinem der vorstehenden
Sagenkreise unterzuordnen sind, oder wieder eigene Sagenkreise bilden.
W. v. Tettau-Erfurt verbreitet sich z. B. in einer Publikation unbekannter
Erfurter Drucke über folgende Volkssagen:
α. Die Königin von Frankreich, die vom Marschall verleumdet
wird. Es ist dies die bei den Franken verbreitet gewesene Volkssage
von einer fälschlich des Treubruchs angeklagten, von ihrem Gemahl für
schuldig gehaltenen Fürstin, bei welcher der Ankläger im Gottesgericht (durch
einen Zweikampf mit dem entdeckenden Tiere) überführt wird. (Vgl. Die Tierkomödie
im letzten Hauptstück dieses Bands.) Jhre Ausbildung erhielt dieselbe
in Nordfrankreich, um die Wanderung zu den Provençalen, Spaniern, Jtalienern,
Deutschen, Engländern, Skandinaviern zu machen. Lachmann hat ein
Fragment bekannt gemacht, das der Hauptsache nach in die große Kompilation
Karl Meinet überging. W. von Tettau hat den ganzen bezüglichen Sagenkreis
verglichen (nämlich a. die Königin Sibille, b. Sagen von Berta mit dem
großen Fuß und Hildegard, c. Macaire, d. Karl Meinet, e la gran conquista
de ultramar, f. die Oliva Sagen, g. Sir Triamour).
β. Der König im Bad des Stricker. Ein Engel tritt an des
Königs Stelle, als letzterer im Bade war, weil er in der Vesper die Vorlesung
der Worte im Magnificat deposuit potentes de sede verboten hatte.
Der Badediener verlachte nunmehr den König und erzeigte dem Engel als
dem wirklichen Könige die Ehre. Erst nachdem der König gelobt hatte, zu
glauben, was die Priester verkünden, wurde er wieder in seine Macht eingesetzt.
(Jn vielen Handschriften überliefert.)
γ. Ritter Morgeners Wallfahrt, eine der anmutigsten deutschen
Volkssagen des späteren Mittelalters, in welcher der totgeglaubte Ehegemahl
zurückkehrt, als seine zum zweitenmal vermählte Frau sich eben mit dem neu
Angetrauten in's Brautgemach zurückziehen will. Sie hatte die Treue nie verletzt.
Der Morgener gab dem zweiten Gemahl seine Tochter zur Gattin.
Zum Sagenkreis dieser Sage gehören die verwandten außerdeutschen und
deutschen Sagen: Gerhard von Holenbach; Hans von Bodman; der Graf von
Stadion; Reinfried von Braunschweig; Herzog Heinrich der Löwe; Karls des
Großen Rückkehr von Ungarn; Herzog Richard von der Normandie u. a. m.
δ. Die Historie vom Grafen von Savoyen, der, um nicht ewig
verdammt zu sein, zehn Jahre langes Ungemach und selbst die Trennung von
seinem trefflichen Weibe erträgt. Die Sage kann als eine Apotheose der Frauentreue
angesehen werden, ebenso wie die folgenden verwandten Sagen: Die [243]
gute Frau; Der Busant; Sir Jsumbras; Magelone; Märchen vom Prinzen
Kameralsaman.
Weitere Volkssagen s. unter Litteratur der Sage.
Beispiele der Sagen:
a. Ernste Sagen.
Die Riesen und die Zwerge, von Fr. Rückert.
(Gedanke: Die Mächtigen sollen die niedern Stände ihrer Brauchbarkeit
und Nützlichkeit wegen achten und schätzen; sodann mythisch ein Nachhall der
alten Riesen- und Kultursagen. NB. Das Material des erst 1831 entstandenen
Gedichtes „Des Riesen Spielzeug“ von Chamisso ist dem vorstehenden
schon 1817 geschriebenen Gedichte entlehnt.) Vgl. noch Rückerts ernste Volkssagen:
Die Begrüßung auf dem Kynast. Bestrafte Ungenügsamkeit. Ottilie.
Kind Horn in Rückerts Ges. Ausg. Band III. 56, und XII. 305 ff.
b. Humoristische Sagen.
Die Weiber von Winsperg, von Ad. v. Chamisso.
Litteratur der Sagen.
Bekannte poetische Sagen haben außer den oben Genannten noch gedichtet:
Uhland (Klein Roland); Kinkel (Dietrich von Bern); Seb. Longard (Rolands
Tod); Oer (Das weiße Sachsenroß); Otto Weber (Der schlummernde Friedrich);
A. Kopisch (Willegis); Wolfg. Müller (Die versunkene Stadt); K. Simrock
(Der bönnsche Wind; Wieland der Schmied, Neudichtung des Amelungenlieds);
E. Ebert (Frau Hitt); Müller von Königswinter (Loreley, neu gedichtete Rheinsagen);
Bechstein (Haimonskinder); Dräxler-Manfred (Sagenbuch vom Sonnenberg);
Fr. Dingelstedt (Der Scharfenstein, althessische Sage); Max Waldau
(Graubündener Sage „Cordula“); Karl Stelter (in Aus Geschichte und Sage.
2. Aufl. 1882, z. B. „Schonakisga“ &c.) u. s. w.
Die bekanntesten Sagen (Sammlungen) ─ meist in Prosa ─ wurden
herausgegeben: Altfranzösische von Ad. v. Keller, Althochdeutsche von
Simrock; Aus dem klassischen Altertum von Gust. Schwab (1838 ff. 1877);
Aus der Altmark von Temme (1839); Aus den Alpen von Vernaleken
(1858), desgleichen von Alpenburg (1861) und von Zöllner (1861); Aus Baden
von Baader (1851); Badisches Sagenbuch von Schnezler (1846); Bayerische
von Panzer (1848), desgleichen von Maßmann (1851), von Schöppner (1852)
und von Leoprechting (1855); Aus Böhmen von Grohmann (1863); Aus
Brandenburg von Kühn (1843); Die Deutschen Kaisersagen von Falkenstein
(1847); Deutsche Pflanzensagen von Gebhard (1862), desgleichen von
Perger (1864); Deutsche Sagen von J. W. Wolf (1845), desgleichen von
Rod. Benedix (1851), und von J. und W. Grimm (1865); Geschichtlich
deutsche Sagen von Simrock (1850); Deutsche Volkssage von Henne Am=
Rhyn (1874); Deutsche (1842) und thüringische (1837) von Adolf Bube; [245]
Aus der Eifel von Schmitz (1856); Aus dem Elsaß von Aug. Stöber
(1852); Aus Franken von Janssen (1852); Fränkische von Bechstein
(1842); Aus Hamburg von Beneke (1854); Aus der Vorzeit des Harzes
von Pröhle (1856); Harzsagen von Blumenhagen (1837 und 1850); Hessische
von Wolf (1853), desgleichen von Lynken (1854), und Bindewald
(1873); Aus Jndien und Jran von C. Beyer (1871); Aus Jsland von
Maurer (1860); Lithauische und preußische von Tettau und Temme (1837),
von Becker, Roose und Thiele (1847); Lübische von Deecke (1842); Aus
Luxemburg von Steffen (1853); Mainsagen von Alex. Kaufmann (1853),
desgleichen von Janssen (1852); Aus Mansfeld von Giebelhausen (1850);
Märkische von Kuhn (1843); Aus dem Neckarthale, der Bergstraße und
dem Odenwalde von Baader (1843); Niederländische von J. W. Wolf
(1843); Aus Niedersachsen von Harrys (1840), desgleichen von Schambach
und Müller (1856); Norddeutsche von Kuhn und Schwarz (1848); Aus
der Oberlausitz von Willkomm (1843); Aus der Oberpfalz von Schönwerth
(1857); Oberrheinisches Sagenbuch von Aug. Stöber (1842); Aus
Oldenburg und Mecklenburg von Studemund (1851), desgleichen von Niederhöffer
(1857); Aus dem Orlagau von Börner (1838); Österreichische von
Bechstein (1846); Aus der Pfalz von Baader und Moris (1842); Aus Pommern
und Rügen (1840); Aus dem preußischen Samland von Reusch
(1838); Sagenbuch des preußischen Staates von Grässe (1871); Rheinsagen
von Simrock (1837); Sagen des Rheinlands von Geib (für Göppinger.
1850); Rheinischer Sagenkreis von Ad. v. Stolterfoth (1835); Aus dem
Riesengebirge von Kräuterklauber (1843); Aus Rumänien von Schuller
(1857); Aus Sachsen von Ziehnert (1838), desgleichen von Grässe (1874);
Aus Sachsen und Thüringen von Sommer (1846); Aus Schleswig-Holstein
und Lauenburg von Müllenhoff (1843), desgleichen von Strackerjan
(1868); Aus Schwaben von Meier (1852), desgleichen von Birlinger (1862.
1874. 1878); Aus der Schweiz von Rochholz (1856), desgleichen von Lütolf
(1862); Aus Siebenbürgen von Müller (1857); Aus dem Spessart von
Herrlein (1851); Thüringische von Bechstein (1838); Aus Tirol von Zingerle
(1859), desgleichen von Mayer (1856); von Schneller (1867); Ungarische
aus der Erdelyischen Sammlung übersetzt von Stier (1850); Aus Vorarlberg
von Vonbun (1858. 1862); Aus Westfalen von Vincke (1856), desgleichen
von Kuhn (1859) &c.
Beachtenswert sind F. W. Genthes Deutsche Dichtungen des Mittelalters
in vollständigen Auszügen und Bearbeitungen. (Eisleben 1841─46.) Dieselben
enthalten in 3 Bänden 97 historische, legendenartige und erzählende Gedichte
des Mittelalters, welche meist sagenhaften Charakters sind, und sich zu Sagen=
Bearbeitungen sehr empfehlen dürften. Es sind zum Teil die von uns Bd. I
S. 44, 45, 46 aufgezählten Gedichte der nationalen Heldensagen, sowie Legenden
und Sagen aus den verschiedensten Sagenkreisen, Tiersagen u. a.
Für die Litteratur der Sage ist noch zu erwähnen: Brauns Naturgeschichte
der Sage (1865) und Uhlands Schriften zur Geschichte der Sage (1868).
§ 106. Mythus.
Mythus ist diejenige poetische Erzählung, welche die Thaten und
Erlebnisse der im Volksglauben einer vorgeschichtlichen Zeit vorhandenen
Götterwelt, ja, der Gottheit selbst darstellt, oder welche eine religiöse
Anschauung oder Jdee symbolisch veranschaulicht. Jhre Quelle
ist häufig der wörtlich genommene Tropus. (Vgl. die Ausführung
I. 150.) Jhre Domaine ist das unendliche, weite Geisterreich mit
seinen vielgestaltigen und vielgestalteten Figuren.
Das Wort Mythe heißt griechisch μῦθος == Rede. Der Stamm ist
mu == tönen. (G. Curtius sagt nur vermutungsweise: μύθος werde zu
dieser Wurzel gehören; wenn man aber an das englische mouth, deutsch mund
denkt, wird dies um so wahrscheinlicher.) Jm allgemeinen versteht man unter
Mythe jede Erzählung, Überlieferung des in der Vorzeit von Göttern und
Helden Geglaubten und Erzählten; der Mythus, den man füglich als Göttersage
bezeichnen kann, befaßt sich also mit Gottheiten und auf die Gottheit
Bezüglichem. Dadurch unterscheidet er sich von der Sage, welche ihren Stoff
aus der im Gedächtnis aufbewahrten nationalen Geschichte entlehnt. Der
Mythus ist bei seinem Hineingreifen in die Geschichte der Gottheit auf die
Phantasie angewiesen, die sich nun meist des Anthropomorphismus und
des Anthropopathismus bedient, indem sie die Menschengeschichte auf die Gottheit
überträgt. Selbstredend mußte dieses Streben zur Vielgötterei führen.
Jn Folge der vielen, meist aus dem Mißverständnis der Tropen entstandenen
Mythen, z. B. der Griechen, der Jnder &c., bildete sich deren Polytheismus
aus. Diese Mythen waren also die Ursache desselben, nicht die Folge. Bei
den an Mythen armen Juden erhielt sich der Monotheismus in seiner Reinheit.
Mit Recht ist behauptet worden, daß die christliche Mythologie des Mittelalters
zum Polytheismus hindrängte, den die Reformation durch Beseitigung aller
Legenden wieder über den Haufen warf.
(Der germanische Name „Gott“ für ein ewiges Wesen ist alt. Dafür
spricht schon das form- und sinngleiche persische chodâ und der Umstand, daß
das Wort in den germanischen Hauptdialekten überall vertreten ist: goth. guth,
gudaláus == gottlos, gudhûs == Gotteshaus &c. Weigand W. B. I. 608 ff.
Der Nachweis einer Verwandtschaft der Bezeichnung anderer Völker z. B. mit
dem sanskr. Devas (vgl. des Verf. Arja S. 484.) hat seine Schwierigkeiten.
Das lat. deus (samt divus, Diana, dies, diu &c.) stammt von der Wurzel
div == leuchten (δῖος, Διός, εὐδία) und ist ganz zu trennen vom griechischen
θεός. Soviel wird man G. Curtius in Grundzüge der griechischen
Etymologie 5. p. 513 ff. zugeben müssen, wenn auch eine stichhaltige Ableitung
für θεός noch nicht gefunden ist. Prof. Birlinger glaubt indes aus
derselben Wurzel djut, jut das alte guth (durch Übergang des j in g)
entstanden, welche auch in der einfachen Form dju in Tŷr, Ziu enthalten sei.
Die nur angenommene gotische Form Tius wird nur als Eigenname eines [247]
Gottes zu betrachten sein. Der altnordische Kriegs- und Siegesgott heißt Tŷr,
aber dies ist auch kein Appellativum.)
Zur Bildung von Mythen kam der sinnliche, rohe Naturmensch, wie erwähnt,
einesteils durch die wörtliche Auffassung der Tropen (vgl. I. 150),
dann, indem er schon früh die ihn erhaltende Fruchtbarkeit der Erde, die lichtspendende,
erwärmende Sonne, das Gewitter und den Sturm nicht als etwas
Zufälliges betrachtete, sondern als etwas von übersinnlichen, gewaltigen Wesen
Entsprungenes. Er personifizierte die Naturkräfte, und weil er in seiner sinnlichen
Anschauung sich diese Gewalten nicht geistig denken konnte, so schuf er
sie in Gestalten seiner Gattung um. Nur vollkommener und von feinerem
Stoff dachte er sich dieselben, die er wie Götter oder als solche verehrte.
Menschliche aber gewaltige Thaten wurden diesen Göttern angedichtet, menschliche
Verhältnisse ihnen untergelegt, menschliches Lieben von ihnen erzählt. So
entstand eben die sich auf Götter und Halbgötter beziehende Sage, also eine
Göttersage. (Vgl. I. § 38. S. 169.)
Die Bezeichnung Göttersage für Mythus ist vollständig erschöpfend für
die Mythe polytheistischer Völker. Für die Mythe monotheistischer Nationen ist
jedoch hinzuzufügen: Mythe ist auch diejenige Sage, welche einer religiösen
Anschauung oder Jdee symbolischen Ausdruck verleiht.
Die Wissenschaft von den Mythen der altheidnischen Völker, namentlich
der Griechen, bildet die Mythologie.
Später wurde der griechische Mythen-Kreis erweitert durch den religiösen
Einfluß des Auslandes, des fabulierenden Priestertums, so daß man nunmehr
ägyptische, nordische, germanische &c. Mythen hat. Die grübelnde Philosophie hat
die Götter sodann wieder in Jdeen von Natur und Welt aufgelöst und vergeistigt;
auch die Künstler und Dramatiker trugen viel zu Abänderungen der
mythischen Gestalten bei, so daß nicht selten die Mythen zu Sagen herabsanken.
Schon zur Zeit der Alexandriner gewann durch Krates aus Mallos,
den pergamenischen Grammatiker († 145 v. Chr.), die allegorische Deutung
und erklärende Umgestaltung der Mythen im Gegensatz zum strengeren, methodisch
nüchternen Aristarch die Oberhand. Krates behauptete nämlich in seinem Kommentar
zu Homer, daß alle Kenntnis und Weisheit der Späteren von dem
Dichter rätselhaft, allegorisch angedeutet sei.
Jn neuerer Zeit teilt sich die Behandlung der Mythen in die psychische,
religiöse und historische (Aristarchs Meinung).
Heyne verlangt Auflösung und Erklärung der Mythen, um zur ursprünglichen
Erkenntnis und Vorstellung zu gelangen. Ebenso Kreuzer, welcher diese
symbolische Ausdrucksweise systematisch begründet und eine Urreligion annimmt,
aus der alle Religionen stammen. J. H. Voß trat in seinen mythologischen
Briefen (1794 u. 95), besonders aber in seiner Antisymbolik (Stuttg. 1826)
gegen beide auf.
Mythus und Sage berühren sich zuweilen und gehen öfters in einander
über. Bei Homer ist z. B. Göttersage und Heldensage nicht scharf zu trennen.
Bei fortgehendem Anthropomorphismus sinken Götter zu Helden herab, erheben [248]
sich Helden zu Göttern, so daß nicht selten Sagen zu Mythen und Mythen
zu Sagen werden.
So ist Siegfried in den Nibelungen durch seine Verbindung mit historischen
Personen (Theodorich, Attila &c.) zu einer Art geschichtlicher, sagenhafter
Figur geworden, obwohl er (nach Lachmanns Ausführungen) als Gott, den
die nordische Mythologie Balder nennt, dem Mythus angehört und nur durch
die Nationalsage vermenschlicht wurde. Bestimmte Poesien können ebenso als
Sagen wie als Mythen aufgefaßt werden: als Mythen, wenn in ihnen ein mit
göttlicher Macht bekleidetes mythisches Wesen auftritt; als Sagen, wenn sie geschichtlich
erscheinen, an einem bestimmten Ort spielen u. s. w.
Beispiele der Mythe.
Hugin und Munin, von Fr. Bodenstedt.
Weitere allbekannte Beispiele erwähnen wir nachstehend unter Litteratur
der Mythe.
Litteratur der Mythe.
Gute Mythen haben u. a. geliefert: Goethe (Prometheus); Smets (die
Söhne); Hall (Biton und Kleobis, welchen Stoff auch von Feuchtersleben
benutzte); Tieck, Schlegel (beide bearbeiteten „Arion“); Streckfuß (Des Narcissus
Verwandlung); A. Grün (Elfenkönig); G. Schwab (Der Bau des Reißensteines);
Schiller (Klage der Ceres); Chamisso; Oehlenschläger; Bechstein; J. A.
Apel; A. Kopisch (Die Heinzelmännchen); Daxenberger (die erste griechische
Mythe); Wetzel (nordische); Geibel (gab Mythen in den Juniusliedern); Rückert
(schrieb Minerva und Vulkan, Griechische Tageszeiten, und morgenländische
Mythen) u. a.
Die Mythendichter schöpften lange Zeit besonders aus Homers Jlias und
Odyssee, aus Hesiods Theogonie, und aus den Tragikern Äschylos, Sophokles,
Euripides.
Bei den Römern schöpften sie aus Ovids Metamorphosen, welche in
15 Büchern Mythen behandeln, die mit Verwandlung der Menschen in Steine,
Pflanzen und Tiere endigen. (Voß hat sie übersetzt.)
Die Göttersagen der alten germanischen Völkerschaften blieben am reinsten
bei den Jsländern erhalten. Der gelehrte Priester Sämund Sigfusson (um 1100)
hat die im Volksmund lebenden Göttersagen und Gesänge gesammelt und unter
dem Namen Edda (== Ältermutter, Weisheit) uns aufbewahrt. Sie ist in
gebundener Rede gegeben, enthält 2 Teile und zeichnet sich durch ernsten,
großartigen, überwältigenden Charakter aus. Snorri Sturluson (13. Jahrhundert)
hat eine ähnliche Sammlung verfaßt, die im Gegensatz zur Sämund=
Edda die Snorri=Edda genannt wird. Simrock und Plönnies haben beide [250]
aus dem Jsländischen in's Neuhochdeutsche übertragen. Amara George, Alexander
Kaufmann und Georg Friedrich Daumer haben den Versuch gemacht, in einer
Sammlung eigner Gedichte (Mythoterpe. Ein Mythen=, Sagen- und Legendenbuch)
das weite, auf dem ganzen Erdkreis in den mannigfachsten Gestaltungen
verbreitete Reich der Mythe und Sage von ihrer Entstehung an bis zu den
noch heute im Volksmunde lebenden Nachklängen, zu ergründen, die Beziehungen
daraus auf Religion, Sitte und Sprache zu folgern und so nicht nur dem
eigenen Volke, sondern der gesamten Menschheit einen durch die Zeit und ihre
Umwälzungen halb verschütteten Schatz wieder an das Licht des Tages zu
fördern.
Wissenschaftliche Untersuchungen über Mythus haben außerdem geliefert:
Lobeck (im Aglaophamus); G. Hermann (in De mythologia Graecorum);
Buttmann (der den Mythus nicht wesentlich von der Geschichte verschieden findet,
im Mythologus); Welcker (die griechische Götterlehre); O. Müller (in Prolegomena),
Preller, Hartung u. a.
§ 107. Legende.
Legende (von legere ─ legenda == das dem Volke beim Gottesdienst
Vorzulesende) nennt man diejenige poetische Erzählung, welche
Heiligen- und Märtyrer-Geschichten aus den ersten Zeiten des Christentums
oder kirchliche Überlieferungen und wunderbare, dem frommen
Sagengebiete entstammende Begebenheiten poetisch darstellt.
Sie ist also die poetische Erzählung einer von der Kirche überlieferten
frommen Handlung von wunderbarem Erfolg, eine religiöse
Sage, deren Helden Christus und die Heiligen sind, ja, in der (wie
auch in der Sage und in der Mythe) selbst der Teufel auftreten kann.
Der Name Legende leitet sich her von Legenda, d. i. jenem Buche der
alten katholischen Kirche, welches unverbürgte, ungeschichtliche, fromme Sagen
von Heiligen und Märtyrern enthielt, die den Christen empfohlen wurden als
Legenda, d. i. etwas, das gelesen werden soll.
Der Charakter der Legende ist Einfachheit und Kindlichkeit des Stils.
Sie ist geeignet, Rührung und Erhebung hervorzurufen. Nie darf sie zum historischen
Denkmal werden, sondern sie muß immer den zarten Schimmer des
Wunders und des frommen Glaubens als Schmuck behalten. Hie und da
nähert sie sich in diesem Zuge der Frömmigkeit oder der Schwärmerei der
Romanze.
Die katholische Kirche, die in den Legenden eine Art christlicher Mythologie
besitzt, hat den meisten Stoff zur Legendenbildung geliefert.
Jn Spanien, wo jeder Christ als Kämpfer für die Gottessache erschien,
findet man die älteste Bearbeitung der Legende. Es giebt auch indische,
jüdische Legenden &c.
Herder hat die Legende als poetische Gattung in unsere Litteratur eingeführt.
Er sagt von ihr: „Nebst den Ritterbüchern war die Legende die [251]
höchste Blüte und Blume menschlicher Ausbildung.“ Ferner: „Eine kleine
Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat und Trost enthalten, als
vielleicht ein ganzes System kalter Sittenlehren.“ Er stellt sich dadurch in
Widerspruch mit Vischer, welcher der Legende (dieser „Spezialität des Mittelalters“,
wie er sie nennt,) bleibenden poetischen Wert abspricht.
Man teilt die Legenden in ernste und komische. Erstere stellen in
würdiger Weise eine wunderbare, ernste Begebenheit dar, letztere dagegen führen
entweder heitere humoristische Geschichten aus dem Leben eines Heiligen vor,
oder suchen das Abergläubische, Unhaltbare einer erzählten Handlung, den Mißbrauch
des Wunderglaubens zu Betrügereien nachzuweisen. Diese können zwar
schalkhaft, humoristisch heiter sein, nie aber dürfen sie den frommen Glauben
verhöhnen. Man nennt die komischen Legenden (wie auch die komischen poetischen
Erzählungen) wohl auch Schwänke. Hauptsächlich in den letzteren spielt nicht
selten der Teufel eine hervorragende Rolle. Er kann in jeder Erscheinung auftreten,
als betrogener, als dummer und als armer Teufel, wodurch er sein
Schreckliches, Furchtbares verliert und zu einer erheiternden, komischen Figur wird.
Beispiele der Legende.
α. Ernste Legende.
Elisabeths Rosen, von Bechstein.
β. Komische Legende.
Der betrogene Teufel, von Rückert.
Litteratur der Legende.
Die Geschichte der Legende unterscheidet drei Perioden:
1. Legenden, welche der religiösen Verherrlichung und der Stärkung des
Glaubens dienten bis zur Reformation;
2. Legenden, welche das Papsttum verspotten;
3. Poetische Legenden als Dichtungsgattung seit Herder.
Die Deutschen pflegten die Legende schon im Mittelalter, welches mehrere
Sammlungen aufweist. Berühmt war die Legenda Sanctorum oder Historia
Lombardica, auch Aurea Legenda von Jac. de Voragine († 1298 als
Erzbischof zu Genua). Die vollständigste Sammlung aller Heiligensagen enthalten
die Acta sanctorum, quotquot toto orbe coluntur (von Bollandus u. a.
Antwerpen 1643─1794 in 53 Foliobänden herausgegeben). Altberühmte
Legenden unserer Litteratur sind die Bd. I S. 46 aufgeführten. Unter denselben
besonders: 1. Gregor auf dem Steine (von Hartmann von der Aue.
Jnhalt: Gregor hat sich wegen unfreiwillig begagener Sünde an einen Felsen
anschmieden lassen. Nach 17 Jahren bei der Papstwahl wird derjenige für würdig
erklärt, der 17 Jahre auf einem Steine sitze. So wird er Papst.). 2. Legende
Konrads von Würzburg vom heiligen Alexius, der ─ weil er ein Kreuz zwischen
sich und seiner Braut sieht ─ Pilger wird und sodann unerkannt im Palaste
seiner Braut lebt. Außerdem waren bekannt: Die Legende Reimbots von
Durne († 1250) vom h. Georg, der 5 Jahre gegen die Heiden in Palästina
kämpft und schließlich die Märtyrerkrone sich erwirbt. Ferner die Legendensammlung: [253]
Buch von der Heiligen Leben von Herm. v. Fritzlar. Sehr beliebt
und verbreitet war im Mittelalter die Legende vom ewigen Juden. (Jnhalt:
Auf dem Wege zur Richtstätte verweigerte der Jude Ahasver unserm Heilande,
vor seiner Thüre auszuruhen. Daher darf Ahasver nicht sterben und bis zur
Wiederkehr Christi keine Ruhe finden.) Dieser Stoff wurde von neueren Dichtern
häufig benützt, z. B. von Rob. Hamerling in seinem Epos: Ahasver in Rom,
wo Ahasver mit Nero in Beziehung gebracht wird. Hier ist freilich Ahasver
weniger der ewige Jude, als der ewige Mensch, der mit dem ersten Menschenkinde
identifiziert wird: mit dem ersten Geborenen Kain, welchen der Tod
verschont zur Strafe dafür, daß er den Tod in die Welt gebracht. Die Sehnsucht
Ahasvers nach dem Tode ist als Mythe bei Hamerling nichts anders,
als die Ruhesehnsucht der Menschheit, die ewig qualvoll ringt und strebt, während
das Jndividuum sein Ruheziel im Tode findet. Vor Hamerling schon
wurde der Stoff vielfach bearbeitet z. B. von Schubart, von Lenau &c.
Nach Herders Vorgang (welcher folgende bekannter gewordene Legenden
schrieb: Das Bild der Andacht, Der gerettete Jüngling, Die Geschwister, Die
wiedergefundenen Söhne, Rosen, Der Schiffbruch u. a.) haben die Legende in
glücklicher Weise noch bearbeitet: Goethe (Petrus und das Hufeisen: diese komische
Legende ist zugleich Beispiel der Parabel und der Paramythie); A. W. Schlegel
(Der heilige Lukas); G. Schwab (Legende von den heiligen drei Königen);
Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius, Der Ermel des heiligen Martinus, Das Brot
des heiligen Jodokus &c.); Fouqué; Tieck; Kind; Kleist (Das Grab des Herrn);
v. Boguslawsky († 1817, Diocles); Pfeffel; Langbein; Helmine v. Chezy;
Amalie v. Helwig; Uhland (Die verlorene Kirche); Leop. Schefer (Der Gast);
Silbert; Simrock; Görres; Christ. v. Schmid; Vogl; Wetzel (Das Muttergottesbild
im Teiche); Kinkel (St. Peter aus dem Himmelsthor); Kugler (Kloster
Corwei, Bild des Heilands &c.); Fr. Rückert (Maria Siegreich, Die gefallenen
Engel, Der Wert der Jahre &c.); Justinus Kerner (Die heilige Regiswind von
Laufen); Jul. Mosen (Der Kreuzschnabel); Anast. Grün (Sanct Hilarion);
Theod. Bornowsky (San-Bovo); Jul. Sturm; Krais; Rollett; Pichler; Gottfried
Keller; Amara George &c.
Als komische Legenden nennen wir: 1. Hans Sachs' Sanct Peter mit
den Landsknechten, 2. Die von Geibel bearbeitete, von Rückert übersetzte persische
Erzählung (abgedruckt in Neue Mitteilungen zu Rückerts Leben vom Verf.
I. 304), 3. Langbeins Der Substitut des heiligen Georg, u. a.
§ 108. Das Märchen.
1. Unter Märchen versteht man eine erdichtete, von Einfalt und
Naivetät des kindlichen Sinns durchhauchte, den reinen Gedanken einer
kindlichen Weltbetrachtung erfassende Erzählung, welche im bunten Gemisch
das Natürliche mit dem Wunderbaren, das Wahre mit dem Unwahrscheinlichen
vereint. Die Phantasie treibt im Märchen ihr regel= [254]
loses Spiel, indem sie sich über die gemeine Wirklichkeit und deren
ursächlichen Zusammenhang hinwegsetzt.
Neben den Personen und Gegenständen der wirklichen Welt treiben
Zauberer, Riesen, Hexen, Zwerge, Kobolde, Gnomen, Feen und Elfen
im Märchen ihr traumhaftes Spiel. Auch den Tieren und selbst leblosen
Dingen verleiht es die Sprache. Es macht das Unmögliche möglich.
2. Es hat eine ganz bestimmte Anordnung (Disposition).
3. Die Märchen sind ihrem Ursprung nach Reste der Mythologie.
Der Jnhalt der späteren Märchen ist erdichtet.
4. Sie unterscheiden sich von der Sage wie von der Geschichte
und von der Mythe durch ihren erdichteten Stoff.
5. Man teilt sie ein in Feenmärchen, Volksmärchen, Kindermärchen,
Hausmärchen.
6. Von besonderer Bedeutung für die Bildung unserer Jugend
sind die Kindermärchen.
7. Die äußere Form des Märchens ist meist die ungebundene
Rede, zuweilen auch der Vers.
1. Das Wort Märchen stammt aus dem Altdeutschen her; es ist das
Diminutivum vom mittelhochdeutschen maere, althochdeutsch mâri, gotisch meritha
Gerücht, merjan verkündigen. (Appenzell. heute noch maeren == öffentlich
beschließen.)
Die Verkleinerungsform „Märchen“ war ursprünglich die verächtliche Bezeichnung
einer erdichteten, kindischen, albernen, unglaublichen Märe. Der
Grundzug des Märchens ist das Phantastische, Wunderbare, das Übernatürliche,
die Verzauberung, Verwünschung, Verwandlung, Seelenwanderung (Metamorphose).
Die mythisch ausgesponnene Sage wird zusammengedrängt, verkleinert,
um sich jenen Volksschichten (Kindern und diesen ähnlichen Gemütern) anzupassen,
bei denen sie schließlich noch Raum finden kann, weil bei ihnen die Phantasie
am mächtigsten ist.
Nach Herder ist das Märchen ein zauberischer Traum der Wahrheit, aus
dem wir nur ungern erwachen, nachdem wir uns durch denselben in's Reich
der Geister versetzt fanden.
Des Märchens Heimat sind am liebsten waldige Gegenden, in denen
Zauberer, Kobolde, Riesen, Feen und andere wunderbare Wesen hausen. Wenn
Tiere im Märchen auftreten, so geschieht dies nicht allegorisch, sondern in der
wirklichen Absicht der Mitteilung, fern aller Belehrung. Somit hat das Märchen
mit der didaktischen Tierfabel nichts gemein.
2. Die Teile des Märchens sind: a. „Es war einmal“, d. h. ein kindlicher,
unschuldsvoller Zustand des Glücks z. B. Schneewittchen. b. Eintritt
einer feindlichen Macht, um den glücklichen Zustand zu ändern: Zauberer;
Hexen; Verwünschung. c. Sieg des Guten: Entzauberung; Eintritt unermeßlichen
Glücks. ─ Die Entwickelung des Knotens wird herbeigeführt mittels ungewöhnlicher
Kräfte, sowie durch die Lösung eines die höheren Wesen des Märchens
bindenden Schicksalschlusses, durch menschliche Unschuld und Beharrlichkeit.
3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand
der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären
strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und
Bohne.)
Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen
Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten
in anderer Form wieder aufgetaucht wären: ─ zunächst in der Sage als Helden,
sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt,
welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.
Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben
vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die
Phantasie; dann in der Sage ─ die durch die Phantasie ergänzte oder alterierte
Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung.
(Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge
hat Görres in der Einleitung zum „Heldenbuch von Jran“ [I. p. III. IV.]
anschaulich nachgewiesen.)
Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden
Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen
der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger
Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen
und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung
mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht
mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie ─ wie erwähnt ─ in die
Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert
sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles
Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der
Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt
des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden
den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich
in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden.
Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest
unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen
fort.
4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen
Sage, welche durchaus auf einer ─ wenn auch veränderten ─ Geschichte
(auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition)
beruht:
a. Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und
Ort, wenn auch falsch oder entstellt.
Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollen
doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen
im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von
Riesen und Helden sein.
Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen [256]
Hintergrund und Schein, und es hat somit mit der Nationalgeschichte gar nichts
zu thun. Seine Personen und seine Orte tragen meist gar keinen Namen,
oder einen phantastischen, unwahrscheinlichen, nicht glaubwürdigen, oder endlich
einen internationalen, an dem alle Nationen gleiches Anrecht haben. Es beruht
heutzutage auf der vollständigen Erdichtung des Stoffes.
b. Die Sage verdankt unter allen Umständen ─ auch wenn
die Phantasie Anteil an ihrer der Geschichte entstammenden Stoffbildung
hat ─ ihre Entstehung dem Gedächtnisse, während das Märchen
seinen Ursprung aus der Phantasie niemals verleugnet. Deshalb glaubt
niemand das Märchen, während man die Sage ganz oder einem Teile nach
für wahr halten möchte.
Bezüglich des Wesens der Sage und des Märchens sagt die Vorrede zu
den deutschen Sagen der Gebr. Grimm (S. V): „Es wird dem Menschen
von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er in's Leben
auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer
nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er
die Grenze des Vaterlands überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohlthätige
Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten,
welche nebeneinander stehen und uns nacheinander die Vorzeit als
einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen
eigenen Kreis. Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes besteht
beinahe nur in sich selber fest, in seiner angeborenen Blüte und Vollendung;
die Sage, von einer geringeren Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere,
daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, an einem Ort
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. Aus dieser ihrer Gebundenheit
folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall zu Hause sein könne,
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da,
bald nur unvollkommen vorhanden sein würde. Kaum ein Flecken wird sich
in Deutschland finden, wo es nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche,
an denen die Volkssagen bloß dünn und sparsam gesät zu sein pflegen....
Die Märchen sind also teils durch ihre äußere Verbreitung, teils durch ihr
inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung
zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich,
oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen die
Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere
Farbe tragen und mehr Ernst und Nachdenken fordern. Über den
Vorzug beider zu streiten wäre ungeschickt; auch soll durch diese Darlegung
ihrer Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, noch geleugnet
werden, daß sie in unendlichen Mischungen und Wendungen ineinander greifen
und sich mehr oder weniger ähnlich werden.“
c. Der Geschichte stellen sich Märchen und Sage gegenüber,
insofern sie das Sinnlich-Natürliche und Begreifliche stets mit dem
Unbegreiflichen mischen, welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen
scheint, auch in der Darstellung nicht mehr verträgt.
d. Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat
nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen,
Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind.
Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen
Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste
des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen.
Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B.,
wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i.
die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind.
─ Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen
Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda,
daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn
gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichen
Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner
in seinem Siegfried benutzt hat. „Die 2 Brüder“ (Nr. 60 bei Grimm) lehnen
sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen
Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung
einer Jungfrau u. s. w.
Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit
dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation.
5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder
eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden,
Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: „Keine
Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein
Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz,
als eine Zauberwelt ganz unser.“
Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es
Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen,
romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst
kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen
trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. („Die Kindlichkeit,“
sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I. 110, „welche das Wesen
des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen
Geist fremd.“)
6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht
mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die
Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der
jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige
Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf
unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken.
Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder
nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet
sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit
mit sittlichem Wesen sich vereint.
Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles
Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist,
paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet
sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt,
sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie
das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts
Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter
des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer
acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die beabsichtigte
Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt;
sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische
Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen,
naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse
des Kindes erwecken und auch die Moral dem kindlichen Gedächtnis auf's
tiefste einprägen.
7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein,
z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde
Eckbert und der getreue Eckart.) Zu dramatischer Form hat es sich öfters
aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von
Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouquéschen
Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß
dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines
Gemütes öffnet &c.
Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie
z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. III. 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen,
O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos
Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in metrischer Form, oder wie
Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt
sein.
Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen
Kunstpoesie.
Beispiele des Märchens.
Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt.
(Schwedisches Volksmärchen.)
Die Lilien im Mummelsee, von Aug. Schnezler.
Vgl. Mörikes Die Geister am Mummelsee. Für ein Beispiel eines Märchens
in Prosa verweisen wir auf die allbekannten Kinder- und Hausmärchen der
Gebr. Grimm.
Litteratur des Märchens.
Des Märchens Heimat ist der Orient, vor allem Jndien, Persien, Arabien.
Nach Europa kam es wahrscheinlich aus Arabien, als sich um 711 n. Chr. [261]
die Mauren in Spanien niederließen. Durch die Troubadours nach Frankreich
verpflanzt, ging es endlich nach Deutschland über.
Vor 200 Jahren schwärmte man bei uns geradezu für die zum Modeartikel
gewordenen Märchen. Längere Zeit hielt diese Geschmacksrichtung an,
und wir verdanken ihr die Verbreitung der Sammlungen novellistisch verarbeiteter
Märchen von Perrault aus Frankreich (Contes de ma mère l'Oye) und der
Gräfin d'Aulnoy, sowie der bald nachher erschienenen, wichtigen Sammlung
orientalischer Märchen „Tausend und eine Nacht“, die eine Berühmtheit erlangte,
wie einst Homers Gesänge. Diese Sammlung erschien zuerst 1704 durch den
Franzosen Galland in 12 Bänden (Les milles et une nuits) und veranlaßte
spätere Dichtungen, wie Chamissos Abdallah, Platens Abassiden &c. Jhre
Märchen befreunden mit den Wundern einer Geisterwelt, wie nur die kühne,
morgenländische Phantasie sie schaffen konnte. Allegorien, Gleichnisse, Parabeln &c.
sind als Staffage eingewebt, erzählende Menschen wechseln mit plaudernden
Tieren, oder mit Wahrnehmungen aus der Pflanzenwelt und dem unorganischen
Naturreiche, ferner mit Denksprüchen, Erfahrungssätzen, Lebensregeln, Rätseln.
Die schönsten Märchen dieser Sammlung stammen wahrscheinlich aus der uralten
Märchenheimat Jndien; in der Schilderung sinniger Liebe erkennt man
den persischen Dichter, in der Schlichtheit naturkräftiger Bilder den Araber.
Alles aber ist dem Leben des Arabers angepaßt. Die neuere Forschung läßt
sie aus Ägypten stammen, wo man die zahlreichsten Handschriften auffand.
Den Namen gab dieser Dichtung der im 9. Jahrh. alle Märchen sammelnde
Dshehestâvi (zur Bezeichnung ihrer Menge: tausend == sehr viele und darüber
noch eines), nicht aber, wie häufig behauptet, Scheherazade, von der selbst ein
Märchen erzählt, daß sie jede Nacht ein neues Märchen in Aussicht gestellt und
dadurch ihren Gemahl ─ den Kalifen ─ veranlaßt habe, ihren Tod von Tag
zu Tag hinauszuschieben.
Jn Deutschland sah es mit der eigenen, echt kindlichen, nationalen Märchenproduktion
bis anfangs unseres Jahrhunderts sehr dürftig aus. Man griff
von einer französischen Übersetzung zur anderen, legte diese aber wegen ihrer
die Sittlichkeit verletzenden Anspielungen wieder zur Seite, um eigene Erfindungen
an deren Stelle zu setzen. Aber diese ersten sog. Märchen sprachen durch
ihre Beimischung von geschichtlichen und andern Beziehungen weit weniger an,
als die französischen. Manche wimmelten von politischen und litterarischen Anspielungen,
oder sie waren hauptsächlich durch ihren gemischten Stoff und dessen
Ausbreitung abgeschmackt, häßlich, langweilig.
Da trat besonders durch Musäus (I. 55, der durch seine, Soldaten und
Klatschfrauen abgehorchten, in origineller Weise weitererzählten Volksmärchen
einen deutschen Litteraturzweig einleitete und veranlaßte), sowie durch die Gebrüder
Grimm eine Wendung ein. Letztere haben das Verdienst, daß sie die
im Munde des Volkes erhaltenen Märchen sammelten und uns sodann in ihren
„Kinder- und Hausmärchen“ als Kleinod hinterließen, das uns zeigt, wie die
Phantasie unseres Volkes ursprünglich produzierte. Diese Märchen sind wie
Fouques Undine und Chamissos Schlemihl in Prosa geschrieben.
Die besten Märchendichter unserer Litteratur sind: Tieck (der auch eine
große Anzahl Märchen übersetzte oder bearbeitete, z. B. Blaubart, die Haimonskinder,
der getreue Eckart, Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, die Elfen,
Däumchen, von denen viele in seinem Phantasus gesammelt sind); Cl. Brentano
(† 1842; Gockel, Hinkel und Gackeleia, ein satirisches Märchen gegen die
Thorheiten seiner Zeit, Wickrams Goldfaden, eine alte Geschichte &c.); W. Hauff
(Märchenalmanach, Kalif Storch, Gespensterschiff, Der falsche Prinz &c.); Arnim;
Kletke; Müllenhof (Märchen aus Schleswig-Holstein &c.); Kühn (Nordd. Märchen
1848, Westfälische 1859); Wolf (Deutsche Hausmärchen 1852); Sommer
(Märchen aus Sachsen und Thüringen 1846); Haltreich (Volksmärchen aus
Siebenbürgen 1856 und 1877); Zingerle (Kinder- und Hausmärchen aus
Süddeutschland 1855; Märchen aus Tyrol 1858); Bechstein (Deutsches Märchenbuch
in mehr als 70,000 Exemplaren verbreitet); Simrock (Deutsche Märchen
1864); Eichendorff; Wieland; Wolfg. Müller; Schwab; Uhland; Zedlitz (Das
Waldfräulein, ein Märchen in 18 Abenteuern); Müller von Königswinter (Das
satirische Märchen „Germania“, sowie das humoristisch gehaltene „Prinz Minnewin“);
Böttger (Frühlingsmärchen, humoristisch sinnig); Otto Roquettes reizendes
Wein=, Rhein- und Wandermärchen: Waldmeisters Brautfahrt, worin der heitere
Lebensgenuß am Rhein geschildert ist); Grabbe (dramatisiertes Märchen Aschenbrödel);
Gustav zu Putlitz („Was sich der Wald erzählt,“ und das zartsinnige
Luana); Pröhle (Kinder- und Volksmärchen 1853); Bube; Hans Herrig
(Märchen und Geschichten 1878); Lang; Plönnies; Stolterfoth; Julius Rodenberg;
Kopisch; v. Sallet (Schön-Jrla); Kinkel (Ein Traum im Spessart);
Elise Polko (die singenden Blumen, Weihnachten im Walde &c.); Mörikes Märchen
vom sichern Mann, sowie „Schiffer- und Nixenmärchen“) &c. Als groß angelegte
und ausgeführte Märchen könnten Rückerts Hidimba, Sawitri, Nal und
Damajanti &c. aufgefaßt werden.
Von den Märchen fremder Nationen nennen wir aus Jndien das alte
Erzählungswerk Pantschatantra (übers. v. Benfey 1859) mit vielen Märchen
buddhistischen Ursprungs; die Märchensammlung des Somadeva (Sanskrit, deutsch
v. Brockhaus), aus Persien und Arabien: die bereits erwähnten Märchen
der 1001 Nacht (übers. v. Hagen, Schall, Habicht, G. Weil), Nechschebis Touti
Nameh (das Papageienbuch, übers. v. Jken, 1822); aus Wales und Jrland:
Mabinogion (übers. v. Lady Guest); San Marte, die Arthur-Sage; Jrische
Elfen-Märchen (übers. v. J. Grimm 1826); aus Serbien: Volksmärchen von
Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Kalmückisch sind die Märchen des Siddhi
Kür, von Jülg, 1866. Weitberühmt sind die Märchen der Dänen Öhlenschläger
und Andersen, (letztere mustergültig übersetzt durch Emil J. Jonas) u. a.
§ 109. Romanze und Ballade.
Wir behandeln in diesem Paragraphen das für die Begriffsbestimmung
charakteristische Allgemeine beider Formen. Sodann führen wir
2. das Besondere der Romanze und 3. das Eigenartige der Ballade vor.
1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung von
Romanze und Ballade.
Romanze ist eine dem Süden entsprossene poetische Erzählung im
Sinn und Geist des romantischen ritterlichen Heldenlebens des Mittelalters,
weshalb sie südlich heiteren romantischen, oft pittoresken Charakter
und Jnhalt hat. (Beispiele: Schillers Taucher; Handschuh;
Kraniche des Jbykus.)
Ballade ist eine dem nordischen Sagenkreis entreifte poetische Erzählung,
eine Art nordischen, episch=lyrischen Volksliedes, weshalb sie
nördlich ernsten, oft dämonisch=mysteriösen, tragischen, düsteren, plastischen
Charakter trägt. Sie ist wie das nordische Volkslied für den Gesang
bestimmt. (Beispiele: Bürgers Lenore; Goethes Erlkönig.)
Romanze und Ballade sind kleinere erzählende Gedichte volkstümlicher Natur
und lyrischer Färbung. Man könnte sie erzählende, lyrisch=epische, oder auch
episch=lyrische Lieder nennen. Jhr Zweck ist Mitteilung eines epischen Stoffs,
einer Begebenheit, einer Sage ohne subjektive Äußerung des Gefühls des Dichters,
weshalb beide trotz ihres meist liedartigen strophischen Baues zu den epischen
Dichtungsgattungen gehören. Sie werden oft mit einander verwechselt; sogar bedeutende
Denker haben Romanze und Ballade nur für verschiedene Namen gehalten,
welche verschiedene Völker für eine und dieselbe Dichtungsgattung gebraucht
hätten. Diese Ansicht teilt selbst der sonst scharf sezierende Wackernagel. Ja,
einzelne Dichter haben solche Gedichte, die den Namen Romanze verdienen,
Balladen genannt und umgekehrt.
Goethe nannte beispielsweise seine lyrisch=epischen Dichtungen nur Balladen,
manche seiner Balladen und Romanzen jedoch Lieder. Auch Schiller nennt
seine lyrisch=epischen Dichtungen Balladen, während er doch den Kampf mit dem
Drachen und die Bürgschaft mit Recht als Romanzen bezeichnet. Uhland löst
den Zweifel nicht, sondern wählt die gemeinschaftliche Überschrift: Balladen und
Romanzen.
Beiden Gattungen ist gemeinsam, daß die eine wie die andere erzählendes
Volkslied sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen aber (und dies soll hier
nachdrücklich betont werden, um der Verschwommenheit der Erklärungen entgegenzutreten)
liegt in der Natur ihres Ursprungs und dem damit verknüpften Unterschied
des Stoffes, zum Teil auch im Versmaße, indem die Romanzen meist
in spanischen assonierenden, viertaktigen Trochäen abgefaßt waren, die Balladen
hingegen in vierzeiligen Reimstrophen. Hiezu kommt die Charakterisierung der
auftretenden Personen und des Tones, der aus ihnen spricht. Die Romanze
ist der südlichen Natur entsprossen, die Ballade der nordischen,
und der Unterschied dieser Naturen, vorzüglich der früheren alten
Zeit, die an Mythus und Sage anstreift, giebt ein Hauptmerkmal
des Unterschieds bei diesen Dichtungs-Gattungen.
Durch unsere vorstehende bestimmte Auffassung werden beide Gattungen
im voraus streng begrenzt, und wenn es vorkommt, daß mancher Dichter einen [264]
Balladenstoff romanzenhaft behandelt, oder einen Romanzenstoff balladenhaft,
so ist eben ein Mangel des Dichterwerks vorhanden, welches bei aller übrigen
Schönheit mindestens nicht den gegebenen Namen verdient.
Aus dem Vorgeführten geht hervor, daß Uhlands Des Sängers Fluch
eine Romanze ist, wenn auch eine sangbare; in gleicher Weise sind Balladen Heines
Grenadiere und mehrere fälschlich sog. Romanzen seines Romancero. Ferner ist
Ritter Toggenburg von Schiller eine Ballade. Desgleichen Goethes herrlicher Erlkönig,
den der Dichter von „Elfenhöh“, der dänischen Ballade von Oluf, genommen.
(Erlkönig ist falsche Übersetzung des Wortes Ellerkonge == Elfenkönig.)
2. Die Romanze. Romaneska. Romancero.
1. Romanze (romance, spanisch romanza) war ursprünglich ein
in der lingua romana (oder lingua romanza == Volkssprache; Tochtersprache,
im Gegensatz zur Muttersprache == lingua latina) geschriebenes,
erzählendes Lied, weshalb sie bei uns heutzutage mehr eine Art
Erzählung südlichen, romantischen Charakters bildet, während die Ballade
ein episch=lyrisches, zum Singen bestimmtes mehr nordisches Lied ist.
2. Jene Romanze, welche zu religiösen Stoffen greift, wird zur
Legende.
3. Durch ihre lyrischen Zuthaten entfernt sich die Romanze wesentlich
von der poetischen Erzählung.
4. Man unterscheidet rein epische und lyrisch epische Romanzen.
5. Eine kleine Romanze heißt Romaneska. Eine Romanzensammlung
heißt Romancero. Unter Romanzencyklus versteht man eine
Sammlung zusammengehöriger Romanzen.
1. Nach Ebers' Wörterbuch der englischen Sprache ist Romanze eine Art
Dichtung in kurzen Versen, welche irgend eine alte Geschichte erzählt (a Spanish
Ballad, a sort of Poesy in short Verses, containing some ancient
story). Oder anderwärts ist nach ihm romance 1. eine erdichtete Liebes= oder
Heldengeschichte, eine kriegerische Begebenheit aus den mittleren Zeiten, 2. eine
Erdichtung (daher to romance == erdichten, lügen. Jn der Encyklopädie
heißt es: Romance, vieille historiette écrite en vers simples, faciles
et naturels. La naiveté est le caractère principal de la romance.
Ce poëme se chante et la musique française, lourde et niaise, est
très propre à la romance; la romance est divisée par stances etc.).
Nach Pla y Torres Diccionario de la l. castell. (Paris 1826) ist
Romance 1. Nuestro idioma ó lengua vulgar. 2. Cierta composicion
de poesia española.
Nach Booch-Arkossys Nuevo Diccionario (1868) ist Romance
1. span. Sprache, das Spanische 2. Romanze, heróico, ó real aus Elfsilblern
bestehend, llano aus achtsilbigen Versen bestehend. Die Grundbedeutung ist in
den romanischen Sprachen ein lyrisch=episches romanisches Gedicht, zunächst
aber das volkstümlich spanische. So wird schon 1678 Romantze == [265]
Heldengedicht gebraucht. (Vgl. Weigand Deutsch. W. B. II. 487). Es bleibt
sonach die romanische Sprache und der lyrisch=epische Ton und Gehalt das
Wesentliche.
Es sind die Momente des südlichen Lebens aus dem Mittelalter,
welche sich in unserer Romanze abspiegeln. Während der Norden etwas Dunkles,
Nebelhaftes, Ahnungsvolles hat in seinen schroffen Felsengebirgen, seinen Meerestiefen
und Strandgebirgen, seinen brausenden Sturmeswehen und seinen aus
diesen Natur-Elementen hervorgegangenen wunderbaren Gebilden von Göttern,
Walküren, Elfen und Nixen, trägt das südliche erzählende Volkslied ein leichtes,
helles, romantisches Gewand ─ dem blauen lichten südlichen Himmel, den
klingenden Spielen und Kämpfen der romanischen Völker mit all ihrem Apparat
des mittelalterlichen Rittertums, seiner Tapferkeit, Frömmigkeit und Liebe entnommen.
Durch die Vermischung der Sprachen germanischer Völker mit der römischen
Sprache war besonders nach der Völkerwanderung die lingua romanza ─
die Volkssprache ─ entstanden, und ein Lied in diesem Volksdialekt hieß anfänglich
Romanze. Jndem die Dichter späterer Zeit vorzüglich das Mittelalter
in seinem eigentümlichen Wesen von Andacht, Religion, Kunst (oft mit
seinem Aberglauben) wieder heraufbeschworen und doch in gleich schwärmerischer
Stimmung auch heidnische Kunstsagen, Kunstwerke und Natur behandelten, bezeichnete
man sie mit dem Namen Romantiker. (Vgl. I. 88. II. S. 6.) Diese
entlehnten besonders gern von den Spaniern und verpflanzten den Namen der
Romanze zugleich mit der ursprünglichen Form des assonierenden, trochäischen
Viertakters nach Deutschland.
2. Das Gebiet der Romanze wurde insoferne erweitert, als auch sagenhafter
Stoff aus dem griechischen Altertume, sowie besonders religiöse, legendenartige
Stoffe zu den Stoffen des Rittertums und seiner Feinde (der ungläubigen
Saracenen in Spanien) hinzukamen u. s. w.
3. Von der poetischen Erzählung unterscheidet sich die Romanze durch den
ihr eigentümlichen Geist romantischer Hingebung, christlichen Glaubenseifers,
glühender Vaterlandsliebe, ritterlichen Mutes, unbefleckter Ehre und treuer Liebe,
sowie dadurch, daß das eigentliche Jnteresse bei ihr nicht auf der Handlung selbst
beruht, sondern mehr auf den Beweggründen, aus welchen diese entstanden ist.
Der Dichter begnügt sich nicht damit, eine Begebenheit nur zu erzählen, sondern
er stellt in derselben ein Beispiel von der Macht des sittlichen Prinzips auf,
welches zum Sieg oder zur Vergeltung führt u. s. w.
4. Es giebt zwei Arten von Romanzen:
a. rein epische Lieder in der ältesten Weise, zuweilen mit einem, die
Thatsachen begleitenden, sie repräsentierenden Dialog (vgl. unten die Beispiele
aus dem Cid);
b. lyrisch=epische, ähnlich unsern Gedichten aus dem 12. Jahrhundert,
mit einer abgerissenen epischen Situation beginnend, worauf lyrische Zustände
dem Objekt der Dichtung an- und eingereiht werden. Beispiel: Uhlands
Sängers Fluch.
5. Größere Sammlungen von Romanzen (Romanceros), wurden bei uns
seit Ende des 16. Jahrhunderts veranstaltet. (Für unser Jahrhundert vgl. man
z. B. Romancero von Elisabeth Glück, Heinr. Heines Romancero u. a.)
Ein Romanzencyklus (auch Romanzenkranz) entsteht durch Aneinanderreihung
von Romanzen, welche die Thaten und Schicksale eines bestimmten Helden behandeln.
(Als Beispiel vgl. man Uhlands Romanzenkranz: Graf Eberhard
der Rauschebart, welcher enthält: 1. Überfall im Wildbad, 2. Die 3 Könige
zu Heimsen, 3. Die Schlacht bei Reutlingen, 4. Die Döffinger Schlacht.) Ein
weiteres Beispiel ist der Romanzencyklus „Cid“ von Herder, eine bald mehr,
bald weniger treue metrische Bearbeitung einer französischen Prosaübersetzung
der spanischen, aus dem 13. bis 15. Jahrhundert herstammenden Cidromanzen
mit manchem Originalen (z. B. das Zwiegespräch zwischen Cid und Ximene
in der 14. Romanze u. a.). Die Vereinigung dieser Cidromanzen bildet eine
Art romantisches Epos, welches die Geschichte des Cid erzählt, wie auch dessen
große Siege über die Mauren.
Beispiele der Romanze:
No. 1 und 14 aus dem Romanzencyklus „Der Cid“, von Herder.
1. (Herders Werke 14. Bd. S. 197.)
14. (Herders Werke 14. Bd. S. 221.)
Jn der stillen Mitternacht,
Wo nur Schmerz und Liebe wacht,
Nah' ich mich hier,
Weinende Ximene,
(Trockne deine Thräne!)
Zu dir.
Jn der dunkeln Mitternacht,
Wo mein tiefster Schmerz erwacht,
Wer nahet mir?
Vielleicht belauscht uns hier
Ein uns feindselig Ohr;
Eröffne mir ─
Dem Ungenannten,
Dem Unbekannten
Eröffnet sich zu Mitternacht
Kein Thor.
Enthülle dich;
Wer bist du, sprich!
Verwaisete Ximene,
Du kennest mich.
Rodrigo, ja ich kenne dich.
Du Stifter meiner Thränen,
Der meinem Stamm sein edles Haupt,
Der meinen Vater mir geraubt ─
Die Ehre that's, nicht ich, die Liebe will's versöhnen.
Entferne Dich! unheilbar ist mein Schmerz.
So schenk', o schenke mir dein Herz;
Jch will es heilen.
Wie? zwischen dir und meinem Vater, ihm!
Mein Herz zu teilen?
Unendlich ist der Liebe Macht.
Rodrigo, gute Nacht.
Als allbekannte Beispiele seien ferner genannt: Goethes Braut von
Korinth, Der Sänger; Schillers Kraniche des Jbykus &c.
Litteratur der Romanze.
Gute Romanzen finden sich außer den oben genannten bei: Stolberg
(Jn der Väter Hallen ruhte); Gotter (Röschen und Lukas); A. W. Schlegel
(Arion); Just. Kerner (Das treue Roß); Körner (Harras, der kühne Springer);
Graf v. Strachwitz (Das Herz von Douglas); Felix Dahn (Ralph Douglas);
H. v. Mühler (Die Schlacht bei Morgarten); Meinhold (Karl XII. und der
pommersche Bauer Müseback); Minding (Fehrbellin); Rückert (Johanna Stegen);
Goethe (Der König in Thule); Schiller (Der Gang nach dem Eisenhammer, sowie
die mustergültige Bürgschaft, welch letztere stofflich aus den Fabeln des Hyginus
entlehnt ist; vgl. auch Porphyrius Leben des Pythagoras 59. und Ciceros
Tusculanae 5. 22, sowie de finibus 2. 24, 79.); Uhland (Graf Eberhard
der Rauschebart, Sankt Georgs Ritter, Bertram de Born, Der blinde König);
L. Lesser (Die Schlacht bei Xerez, Julia, Die Liebesboten); Fontane (Archibald
Duglas); J. Mosen (Andreas Hofer, Der Trompeter an der Katzbach);
A. Möser; K. Stelter; K. Zettel und viele andere.
Die Heldenthaten des Cid (mit dem Beinamen Campeador, d. i. Kampfesheld,
† 1099 in Valencia) haben uns Herder, Duttenhofer, Regis u. a. in's
Deutsche übertragen. Andre spanische Romanzen vermittelte uns Geibel in:
Volkslieder und Romanzen der Spanier Berl., 1843; Johannes Fastenrath
in: Ein spanischer Romanzenstrauß. 1866; sowie die Wunder Sevillas. 1867. &c.
3. Die Ballade.
1. Der Name Ballade stammt ─ wie S. 269 unter 1 nachgewiesen
─ aus dem Keltischen und bedeutet ursprünglich Volkslied.
2. Zur Ergänzung des Begriffs Ballade (1 und 2 dieses §)
läßt sich aus der Geschichte der Ballade hinzufügen: 1. Die Ballade
wird gesungen: in der Vorzeit in Königspalästen und Schlössern, in [269]
den neueren Zeiten in Häusern und auf der Gasse; 2. Sie erzählt
irgend eine alte oder neuere Geschichte und ist somit der Bericht einer
geschichtlichen Begebenheit, entsprechend jenem Ton, wie er im nordischen
ernsten Volkslied herrscht.
3. Der dem Norden entnommene Stoff verleiht der Ballade im
Gegensatz zur südlichen Romanze ihren ernsteren Charakter.
4. Die Ballade liebt den Ton des Volkslieds.
5. Wie die Volkslieder, so haben auch die Volksballaden viel
gemeinsame Grundzüge, so entspringen sie wenigen einfachen Grundthematen.
6. Die Ballade liebt Reimverse und kurze volksmäßige Strophen.
1. Man hat mehrfach (vgl. Diez Etym. W. B. 3. p. 49) den Namen
Ballade vom italienischen ballata (ballare) hergeleitet, welches soviel als
Tanzlied bedeutet und entweder von balla == Ballspiel stammt, oder vielleicht
mit diesem vom griechischen βάλλω == werfen (Ballspiel), was beides in die
Bedeutung Tanzen überging. Aus diesem Grunde wurde der Begriff Ballade
allgemein als Lied entwickelt, welches so beschaffen sein müsse, daß man im
Absingen nach dem Rhythmus desselben tanzen könne. Nun ist aber diese Ableitung,
welche in bezug auf Entstehung keinen Unterschied zwischen Ballade
und Romanze zulassen würde, eine irrige. Vielmehr stammt das Wort nachweislich
von dem altbritischen, keltischen gwaelawd (sprich wallad) und bedeutet
Volkslied: also nordisches Volkslied, Gassenlied. Dieser
Ableitung begegnen wir auch bei Ebers, welcher Ballad als Gassenlied übersetzt.
To balled heißt nach ihm Lieder machen, Lieder singen und »balled
singer« ist ihm jemand, der Gassenlieder (Lieder auf der Straße) singt. Der
Vollständigkeit halber fügen wir noch einige andere Definitionen bei. Der alte
Mozin ─ Biber 1826 meint: ballade: espèce d'ancienne poésie française
[ungenau], qui était composé de 3 couplets par les mêmes rimes et
terminés par le même vers, avec un envoi. Nach Abbé Gattel (Nouveau
dictionnaire espagnol et français etc.) ist Ballade eine französische
Versart bestehend aus Couplets mit einem Refrain (composition de poesia
francesa, que se dividia en coplas con un mismo estribillo). Auch
andere erklären Ballade für eine Art altfranzösischer Verse etwa von 3 Strophen,
jede von 8 oder 10 Versen, deren letzter Vers allzeit einerlei sei (also Refrain)
und wobei immer einerlei Reimsilben von 2, 3 oder 4 Reimen bleiben u. s. w.
2. Alle Balladen, die bei uns populär wurden, erzählen nur alte Geschichten.
Dies war aber nicht immer so. Die heidnische Vorwelt des Nordens
hatte ─ wie das christliche Mittelalter ─ ihre Barden und Sänger, welche auch
die Thaten ihrer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit in Liedern feierten.
Ganz ist diese Form der Ballade bei uns nicht ausgestorben; dies beweisen
die Proben aus dem Befreiungskriege und namentlich aus dem letzten Kriege
1870─71 (vgl. die S. 107 d. Bds. erwähnte Sammlung von Lipperheide).
Da Deutschland zwischen Süden und Norden in der Mitte liegt, so kann es
nicht fehlen, daß auch seine Volkslieder halb der Ballade halb der Romanze angehören, [270]
obwohl sie sich mehr der Ballade zuneigen, besonders die aus dem
letzten Kriege, die recht gut den Stoff zu einem großen Nationalepos abgeben
könnten. Manche Ballade könnte als ein kleines Epos angesehen werden,
wenigstens als Keim eines solchen.
3. Der Stoff unserer volkstümlichen Ballade ist jener nordischen Mythenzeit
entnommen, die im Halbdunkel und Zwielicht Götter und Menschen und
Naturkräfte beseelt, symbolisiert oder verwechselt: die Luft mit dem wilden
Heere, die Seen mit Elfen und das Meer mit boshaften Geistern belebt, welch
letztere das Schiff im Schaum der Brandung an den Klippen zerschellen lassen
oder keuchend im Sturm durch die Wogen jagen. Daher ist zum Unterschied
von der bloßen Sage und der Romanze in der Ballade immer etwas Schauerliches,
Nebelhaftes, Tragisches, Mysteriöses, dämonisch Unheimliches
vorherrschend, wozu sich ursprünglich noch ein düsterer, melancholischer, oft rauher
Charakter gesellt. Jn der Ballade spiegeln sich eben die Eindrücke der Natur,
des Glaubens und der Beschäftigung des nordischen Bewohners auf sein Gemüt
ab. Meist bezeichnet sie daher etwas Tragisches, Rätselhaftes, Ahnungsvolles.
Dieses Charakterisierende, das ihr die Abstammung aus den Elementen
der nordischen Natur und Anschauungsweise aufprägt, bedingt es, daß die
Ballade in ihrem musikalischen Wesen mehr als die Romanze Volkslied ist,
freilich ein episches Volkslied, bei welchem der Dichter viel Subjektives zum
Gegenstand giebt, im Gegensatz zur Romanze, die ihrem Zweck nach romantische
Erzählung ist. Das Sangbare der Ballade geht auch aus der Form des Liedes
mit gleichmäßigen der nordgermanischen Poesie eigentümlichen Strophen und
Reimen hervor, während bei der Romanze gerade die Freiheit in der Kunstform
(man vgl. die Proben aus dem Cid &c.) ein Charakteristikum bildet.
4. Die Anlage der Erzählung und die Sprache ist einfach, oft nicht klar
und fließend, sondern den weitern Zusammenhang nur erraten lassend. Dadurch
behält sie den volkstümlichen, volksliedartigen Charakter und geht leicht
in's Volk über. Bei der Tiefe und Bedeutsamkeit des Erzählten erhält die
ungekünstelte Darstellung erst den rechten Ausdruck durch den Gesang. Das
Wort deutet an, die Musik führt aus. Deswegen hat die Ballade so viel
Lyrisches, wie keine andre epische Dichtungsart, und bildet so recht das Verbindungsglied
zwischen Epik und Lyrik.
5. Die Volksballaden des nordischen Volkes zeigen viel Verwandtes. Alle
Volkspoesie ist sich nahe verwandt, sowohl die des einen Volks, wie auch die
aller germanischen Stämme. Wenige Grundzüge treten hervor. Wir finden
oft 2, 3, 4 Balladen, jede von besonderer Schönheit und hohem Jnteresse ─
und doch sind sie nur Variationen des Grundthemas. Ein Dichter hörte z. B.
des anderen Ballade von der Bezauberung des Knaben durch Elfenreize singen.
Jn seiner Erinnerung blieb das Wesentliche ─ und er sang dasselbe Lied
nach, nur mit veränderten Worten, vielleicht auch mit Hervorhebung anderer
Bilder, welche ihn besonders ergriffen hatten, oder welche ihm bedeutungsvoller
erschienen sind. Jn vielen Balladen treten immer die gleichen Grundthemata
hervor: Der Braut stirbt der Bräutigam; treue Liebende gehen unter durch [271]
die Macht des Schicksals; ein vermeintes Unglück löst sich auf in Lust und
Freude u. s. w. Was anders ist die poetische Erfindung unserer Halbdichter
und Romanmacher, als Variation in der Komposition? Die Farben ─ ja auch
die Formen ─ sind wie im Kaleidoskop schon vorhanden. Einst können freilich
auch die Variationen erschöpft werden, aber diese Erörterung liegt außerhalb
menschlicher Berechnung. Jemehr der Dichter darauf ausgeht, absonderliche Situationen
zu erfinden, umsomehr entfernt er sich von der Natur der ursprünglichen
Volkspoesie; pikante Situationen haben nur das Jnteresse der Neuheit.
Die Volksballaden, welche über die Zeit den Sieg davon getragen haben, beruhen
auf den allereinfachsten Verhältnissen.
6. Selbstverständlich muß der Balladendichter der deutschen Gegenwart
sangbare Verse und Strophen bilden, wodurch ein Versmaß wie das des Hexameters
von selbst ausgeschlossen ist. Am häufigsten findet man Jamben, mit
eingemischten, die Bewegung erleichternden Anapästen, ferner meist männliche
Endreime, wie Binnenreime neben Alitteration und Annomination. Außerdem
Tonmalerei zur Hervorbringung der großen Wirkung, was indes (vgl. die Bürgschaft
v. Schiller) auch für die Romanze gilt, welche nicht selten trochäische
Verse mit weiblichen Reimen hat. Jn der leichten dem Volksliede abgelauschten
Anwendung metrischer, sprachlicher Kunstmittel der Ballade liegt das Geheimnis
ihrer gewaltigen Wirkung (Beispiel: Lenore, von Bürger).
Beispiele der Ballade:
Der Wassermann (Herders Werke 16. Bd. S. 363).
Weitere bekannte Beispiele der Ballade sind:
Goethes Erlkönig,
Bürgers Lenore &c.
Litteratur der Ballade.
Volkstümlich war die Ballade schon im 11ten und 12ten Jahrhundert
in Nord-England, wo sie der Erzäh