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Deutsche Poetik. ──────


Theoretisch-praktisches

Handbuch der deutschen Dichtkunst.


Nach den Anforderungen der Gegenwart

von

Dr. C. Beyer. ──────


Zweiter Band. ──────

Stuttgart.

G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.

1883.

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K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.

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Vorwort. ──────



Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den

bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im

engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers- und Formenlehre

die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie

und vollendet somit den Auf- und Ausbau einer Wissenschaft der

deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart.



Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es

dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Gesetz

&c. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen,

sondern auch den Feinheiten in der Technik &c. nachzugehen, alle auf

die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der

auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen. Jnsbesondere

wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der

Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungsarten

erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteraturgeschichte

auch durch diesen Band herzustellen.



So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden

Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichtskreise

zu erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich

finden dürfte, welche nicht Neues, Jnteressantes, litterarhistorisch Wertvolles

böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dramaturgie

ergebenden §§ 20─43, 149─177 &c., ferner jenen, den Begriff

der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, die Paragraphen über |#f0010 : RIV|



Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunstepos,

Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie

insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch dramatischen,

wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich

auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit

diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von

Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musikdrama,

Operette und Schauspiel mit Musik &c.) eingehend dargelegt

werden konnte.



Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Entgegenkommen

hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter,

welche Privat= wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich

mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar erwähne

ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten

Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister

Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek

Dr. Faust Pachler, Hofrath Dr. v. Zoller, Geh. Hofrath Dr. v. Wehl,

Rektor Dr. Blancke, Gymnasialdirektor Dr. Authenrieth, Professor

Dr. Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr. Joh.

Minckwitz,
Bibliothekvorstand Professor Dr. Wintterlin u. a. Erfreulich

war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste

eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die

ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten

Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen

von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeichnungen

poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach förderten

und in ihren Trägern ehrten.



Jndem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten

Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohlwollende

Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze

Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles,

Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen;

als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für

den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter;

als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bildungsuchende

Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes

Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für den
|#f0011 : RV|



gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die

deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei,

der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den

Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung

schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die

Kunst motivierten Jdealismus und zu ewig währenden

idealen Dichterthaten.



Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882.



Dr. C. Beyer.

|#f0012 : RVI|

|#f0013 : RVII|



Jnhalts-Verzeichnis. ──────

Deutsche Poetik. Zweiter Teil.


Die Dichtungsgattungen.


Einleitung.

Charakter der Poesie und Einteilung derselben.

Seite
§ 1. Objektive und subjektive Poesie 1
§ 2. Volkspoesie und Kunstpoesie 2
§ 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und moderne Poesie 6
§ 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form 7

(Lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie) 7
§ 5. Einteilungsschema der Poesie 9
──────
Erstes Hauptstück: Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik,

Epik und Dramatik.


I. Lyrik.

§ 6. Begriff der Lyrik 10
§ 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht 11
§ 8. Eigenart des Lyrikers 12
§ 9. Anforderungen an den Lyriker 13
§ 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik 15
§ 11. Umfang des lyrischen Gedichts 16
§ 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik 16
II. Didaktik.

§ 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie 18
§ 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie:

der Gedankenlyrik; ferner das Gesetz der Didaxis 20
§ 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter 23
III. Epik.

§ 16. Begriff der Epik 24
§ 17. Anforderungen an den Epiker 24
§ 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik 25
§ 19. Epischer Stil 26

Proben des epischen Stils 27
|#f0014 : RVIII|



IV. Dramatik.

Seite
§ 20. Begriff der Dramatik 29
§ 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama 31
§ 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden 32
§ 23. Anforderungen an die Handlung 33
§ 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama 35
§ 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held 36
§ 26. Stoff des Drama 37
§ 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale 38
§ 28. Tendenz des Drama 40
§ 29. Das Motivieren im Drama 41
§ 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung 41
§ 31. Teile des Drama und Umfang desselben 42
§ 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog 43
§ 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart 46

Beispiele für den Bau ganzer Dramen 47
§ 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama 47
§ 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama 49
§ 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung 51

Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen 52
Liebesscenen, Ensemblescenen 53
Massenscenen 54
§ 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen 54
§ 38. Sprache und Form des Drama 54
§ 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen 56
§ 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung 58
§ 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung 59
§ 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung 59
§ 43. Erfolg der dramatischen Dichtung 61
V. Übergänge der Gattungen der Poesie.

§ 44. Einteilung der Übergangsformen 62
§ 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen 63
§ 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten 64

(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.)
§ 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen 68
──────
Zweites Hauptstück: Die lyrischen Dichtungen.

§ 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen 70
I. Formen ruhiger Empfindung.

Das Lied und seine Formen.

§ 49. Begriff und Einteilung 71
§ 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen 72
|#f0015 : RIX|



Volkslied.

Seite
§ 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes 73
§ 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage

und poetisch=schöpferischer Volkskraft 78
§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie 81
§ 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds 82
§ 55. Einteilungsversuch der Volkslieder 87

Beispiele des Volksliedes 91
§ 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des Volkslieds 94
§ 57. Das geistliche Volkslied 95
§ 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes 96
§ 59. Das Volkslied der letzten Decennien 98
Kunstlied.

§ 60. Mission des Kunstliedes 99
§ 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes 100
Formen des Kunstliedes.

Weltliches Lied.

§ 62. Das Vaterlandslied und das Bardiet 101

Das Bardiët 103
§ 63. Das Naturlied 107
§ 64. Minne- oder Liebeslieder 109
§ 65. Das komische Lied 113
§ 66. Das gesellige Lied 116

1. Gesellschaftliches Lied 116
2. Anakreontisches Lied 117
3. Skolion 118
§ 67. Elegisches Lied 119
§ 68. Jdyllisches Lied 122
Geistliches Lied.

§ 69. Geistliches oder andächtiges Lied 123

1. Das religiöse Lied 123
2. Das Kirchenlied 125
II. Lyrik der Begeisterung.

§ 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik und das Gemeinsame

derselben 132
§ 71. Die Ode 134
§ 72. Die lyrische Rhapsodie 139
§ 73. Hymnus (Hymne) 141
§ 74. Dithyrambus 145
§ 75. Elegie 146
§ 76. Nänie 152
§ 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen 153

Anthologien und Hilfsmittel 157
|#f0016 : RX|



Drittes Hauptstück: Die didaktischen Dichtungen.

Seite
§ 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen 159
I. Symbolische Didaktik.

§ 79. Fabel 160

a. Tierfabel 163
b. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt 164
§ 80. Parabel 167
§ 81. Paramythie 171
§ 82. Sinnbild 174
§ 83. Allegorie 175
§ 84. Rätsel 179

a. Das Worträtsel 179
b. Charade oder Silbenrätsel 180
c. Logogriph 181
d. Anagramm 182
e. Palindrom (Doppelrätsel) 183
f. Die Homonyme 184
II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.

§ 85. Satire 185
§ 86. Travestie 191
§ 87. Parodie 193
§ 88. Humoristische Dichtungen 195
III. Eigentlich didaktische Gedichte.

§ 89. Die ideale Gedankenlyrik 200
§ 90. Kulturhistorisches Gedicht 203
§ 91. Sinngedicht oder Epigramm 203
§ 92. Die Priamel oder der Schnepper 207
§ 93. Xenien 209
§ 94. Gnome 210
§ 95. Epistel 212
§ 96. Heroide 215
§ 97. Kurze lyrisch=didaktische Formen 218
§ 98. Wirkliches Lehrgedicht 219
§ 99. Großes Lehrgedicht 222
──────
Viertes Hauptstück: Die epischen Dichtungen.

§ 100. Einteilung der epischen Poesie 227
I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende

epische Gattungen.


§ 101. Poetische Erzählung 228

1. Humoristische poetische Erzählung 229
2. Ernste poetische Erzählung 230
|#f0017 : RXI|



Seite
§ 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie) 231
§ 103. Die Jdylle 231
§ 104. Beschreibendes Gedicht 236
II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen.

§ 105. Die Sage 240
§ 106. Mythus 246
§ 107. Legende 250

α. Ernste Legende 251
β. Komische Legende 252
§ 108. Das Märchen 253
§ 109. Romanze und Ballade 262

1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung

von Romanze und Ballade
263
2. Die Romanze. Romaneska. Romancero 264
3. Die Ballade 268
§ 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied 274
§ 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches 279
§ 112. Die Volksepen 282
§ 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen 283
§ 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption, Ausführung &c.

1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee 283
2. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana 285
3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c. 289
4. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen 291

a. Das finnische Volksepos Kalewâla 291
b. Kalewipoeg 294
c. Das Volksepos der Lappen 297
§ 115. Gemeinsame Ausgangspunkte od. Vergleichsmomente sämtl. Volksepen 300
§ 116. Die Kunstepen 302
§ 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos 304
§ 118. Altromantisches oder höfisches Epos 304
§ 119. Vorführung der altromantischen Epen 306

1. Parzipal 307
2. Tristan und Jsolde 308
3. Jwein 311
4. Rolandslied 313
5. Der rasende Roland 315
§ 120. Das neuromantische Epos 317

1. Wielands Oberon 317
2. Ernst Schulzes Cäcilie 317
3. „ „ Bezauberte Rose 318
4. Kinkels Otto der Schütz 319
5. Redwitz' Amaranth 320
6. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard 320
§ 121. Das religiöse Epos 322

1. Die Messiade von Klopstock 322
2. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri 323
3. Das verlorene Paradies von Milton 323
§ 122. Das idyllische Epos (Eidyllion) 325

1. Luise von Voß 325
2. Jukunde, von Theobul Kosegarten 326
3. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard 326
4. Hermann und Dorothea, von Goethe 327
|#f0018 : RXII|



Seite
§ 123. Das historische Epos (Heldenepos) 329

1. Das Schah-Nameh des Firdusi 329
2. Rostem und Suhrab, von Rückert 331
3. Vergils Äneis 332
4. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso 333
5. Die Lusiaden des Camoëns 334
6. Scherenbergs historische Epen 335
§ 124. Das komische, humoristische, satirische Epos 337

1. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann 337
2. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün 339
3. Tulifäntchen von Karl Jmmermann 340
§ 125. Das Tierepos 342

1. Reineke Fuchs, von Goethe 342
2. Rollenhagens Frosch-Meuseler 344
3. Der Muckenkrieg, von H. C. Fuchs 345
III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen.

Roman und Novelle.


§ 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans 347
§ 127. Verhältnis des Romans zum Epos 349
§ 128. Verhältnis des Romans zum Drama 350
§ 129. Stoff des Romans 352
§ 130. Jdee des Romans 353
§ 131. Bau des Romans 356
§ 132. Der Held des Romans 356
§ 133. Die übrigen Charaktere des Romans 359
§ 134. Das Jdealisieren im Roman 360
§ 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans 361
§ 136. Stilgesetze des Romans 362
§ 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman 364
§ 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit 366
Arten des Romans.

§ 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul 367
§ 140. Einteilung nach Form und Jnhalt 367
§ 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane 371
§ 142. Unsere Einteilung der Romane 372

1. Der historische Roman 372
2. Der philosophische Roman 374
3. Der moderne Roman 374
4. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte 375
§ 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische

Stilproben 375
§ 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans 381
§ 145. Novelle 388
§ 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten 390
§ 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische Stilproben 391
§ 148. Litteratur der Novelle 399
|#f0019 : RXIII|



Fünftes Hauptstück: Die dramatischen Dichtungen.

Seite
§ 149. Einteilung der dramatischen Poesie 403
I. Formell dramatische Gedichte.

§ 150. Monolog 404
§ 151. Dialog 406

1. Lyrischer Dialog 407
2. Didaktischer Dialog 407
3. Epischer Dialog 408
4. Dramatischer Dialog 409
§ 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet) 410
II. Eigentliche Dramen.

§ 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen 413
§ 154. Das dramatische Gedicht 413
§ 155. Tragödie == Trauerspiel 421
§ 156. Der Held der Tragödie 425
§ 157. Die poetische Gerechtigkeit 428
§ 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie 431
§ 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen 434
§ 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein praktisch erläutert 439
§ 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien 449
§ 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung 450

1. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien 450
2. Philosophische Tragödien 451
3. Geschichtliche oder heroische Tragödien 451
4. Bürgerliche Tragödien 452
5. Schicksalstragödie 454
§ 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor.

Analysen der wichtigsten Tragödien aller Völker 456
§ 164. Schauspiel (Drama) 465
§ 165. Einteilung der Schauspiele 466
§ 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und Würdigung hervorragendster

Schauspiele 468
§ 167. Komödie oder Lustspiel 475
§ 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel 478
§ 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle 479
§ 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen des Helden, sowie

nach ihrer Tendenz und Herkunft 481
§ 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie das Jdeal

eines deutschen Lustspiels 483
§ 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung 484
§ 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank 485
§ 174. Die Tierkomödie 488
§ 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer Gattungen

und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer Dichtungen 490
§ 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener dramatischer

Gattungen 491
§ 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben 493
§ 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von Dramen aller

Arten, Übersetzungen und Quellenschriften 500
|#f0020 : RXIV|



III. Musikalisch-dramatischweltliche und kirchlich-musiaklische Formen.

Seite
§ 179. Einteilung dieser Formen 503
I. Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen.

§ 180. Das Melodrama 503
§ 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel 505
§ 182. Das Schauspiel mit Musik 507
§ 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches 508
§ 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland 509
§ 185. Die komische Oper in Deutschland 510
§ 186. Die Operette 511
§ 187. Das Jntermezzo. (Zwischenspiel) 512
§ 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der Oper in Jtalien,

Frankreich und Deutschland 513
Erste und älteste deutsche Oper 517
§ 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform 520
§ 190. Wagners Tetralogie 524
§ 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive 525
§ 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die Libretto-Dichtung,

und Beispiele besserer Librettos 527
II. Kirchlich-musikalische Formen.

§ 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung derselben 528
§ 194. Der Choral 529
§ 195. Das deutsch=accentuierende Prinzip und der Choral 531
§ 196. Die Motette 532
§ 197. Psalm 533
§ 198. Die Kantate 534
§ 199. Die Passion 536
§ 200. Die Messe 538
§ 201. Das Requiem 540
§ 202. Das Oratorium 541
§ 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie Litteratur des

Oratoriums. Weltliche Oratorien 543
Schlußbemerkung 546 ──────
Anhang.

Sach- und Namenregister für Band 1 und 2 547
|#f0021 : RXV|



Die

Dichtungsgattungen.
|#f0022 : RXVI|



Sämtliche Künste lernt und treibet der Deutsche; zu jeder

Zeigt er ein schönes Talent, wenn er sie ernstlich ergreift.

Eine Kunst nur treibt er, und will sie nicht lernen, die Dichtkunst.

Darum pfuscht er auch so; Freunde, wir haben's erlebt.


Goethe.

|#f0023 : E1|



Einleitung.

Charakter der Poesie und Einteilung derselben. ──────


§ 1. Objektive und subjektive Poesie.



1. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen

Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes- oder dem der Sinnenwelt

her: aus dem Anschauungs- und dem Empfindungsreiche. Auch

die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in

beiden gemeinschaftlich.



2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich

ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen.



3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn

der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder

Beabsichtigte entgegentritt.



1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff,

welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Gedicht

entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit

der von außen entgegen tretenden Objektivität.



2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität

hinzusetzen. Man könnte einen geringfügigen Stoff einem glatten Stamme

vergleichen, an welchem sich die subjektive Empfindung des Dichters emporrankt

und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto bedeutender

wird sich das Überwiegen des Subjektiven vor dem Objektiven nötig

machen müssen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpfungskraft zu bewähren

haben.



Jn folgendem Gedichte von Martin Greif überwiegt die subjektive

Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes:



Am Buchenbaum.

Jch sah im Herbst einen Buchenbaum

Jm leeren Felde steh'n;

Jm fahlen Laube sah ich kaum

Ein grünes Blättlein weh'n.

Lang stund ich da in tiefem Traum

Jhn anzuseh'n.
|#f0024 : 2|



Der Sommer und die Lieb' sind heiß,

Jhr weiß ich keinen Dank;

Sie sengte mich auf alle Weis',

Das grüne Laub entsank!

Zuletzt entschwand sie still und leis

Und ließ mich krank.



Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der

sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum Helden seiner Dichtung macht, schreibt

subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch

denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Jnhalt des subjektiven

Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objektiv,

als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen

läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Jndividualität aufgeprägt. Sein

Geist, seine Anschauungs- und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein

bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso

einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Jch mit in die

Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein

König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommnisse bei diesem Dichter sprechen

als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt

erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen

ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters

Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen

wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Graf von Habsburg Str. 5, dessen

Die Macht des Gesanges Str. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig

zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen

Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt.



3. Objektiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Gebiet

des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche

eingreift, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten.

Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem

Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu empfinden,

was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter

den Blicken des Lesers; nie schaut er direkt aus seinen Dichtungen hervor,

nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung

und Darstellung ist es, was das Jnteresse des Hörers fesselt und fesseln will.



§ 2. Volkspoesie und Kunstpoesie.



Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich

im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunstpoesie.





1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines

Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät

und Wahrheit.

|#f0025 : 3|



2. Die Kunstpoesie dagegen entreift dem individuellen Arbeiten

des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben

in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunstdichters.





1. Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie,

Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Darstellung

der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie

war wesentlich beschreibend, auch wo es sich um Darlegung des subjektiven

Gefühls handelte: sie bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als

einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch=naiven Sprache voll Wohllauts.

Ein Beispiel der Volkspoesie möge dies illustrieren:



Es wollt' ein Mägdlein tanzen gehn,

Sucht Rosen auf der Heide,

Was fand sie da am Wege stehn?

Eine Hasel, die war grüne.


„Nun grüß' dich Gott, Frau Haselin!

Von was bist du so grüne?“

„Nun grüß' dich Gott, feins Mägdelein!

Von was bist du so schöne?“


„Von was daß ich so schöne bin,

Das kann ich dir wohl sagen:

Jch eß' weiß Brod, trink kühlen Wein,

Davon bin ich so schöne.“


„Jßt du weiß Brod, trinkst kühlen Wein

Und bist davon so schöne,

Auf mich so fällt der kühle Tau,

Davon bin ich so grüne.“


„Hüt' dich, hüt' dich, lieb Haselin,

Und thu' dich wohl umschauen;

Jch hab' daheim zween Brüder stolz,

Die wollen dich abhauen.“


„Und hau'n sie mich im Winter ab,

Jm Sommer grün' ich wieder;

Verliert ein Mägdlein ihren Kranz,

Den find't sie nimmer wieder.“


(Aus Uhlands Volkslieder Bd. 1. S. 66.)



2. Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch,

daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes, den sie mit der Naturpoesie

gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Jdee zu

Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes

mögen dies beweisen.



a. Die Verlassene von Geibel.

O singt nur ihr Schwestern mit fröhlichem Mund,

Und führet den Reigen im Lindengrund

Mit den Burschen bei Zithern und Geigen! ─

Mich aber laßt gehn und schweigen.
|#f0026 : 4|



Was blickt ihr mir nach, und was wollt ihr von mir?

Jch habe die Freude getragen wie ihr

Jn der Brust mit Lachen und Scherzen ─

Nun trag' ich den Tod im Herzen.


Durch alle Wipfel der Lenzhauch geht,

Jch bin der Baum, der laublos steht;

Die Wasser rieseln so helle,

Jch bin die vertrocknete Quelle.


Die Treue, die Treue, darauf ich gebaut,

Sie ist mit dem Schnee vor der Sonne zertaut;

Wie Spreu vor dem Winde, so stiebet

Meine Liebe, die ich geliebet.



b. Die Verlassene, von Martin Greif.

Denk' ich nach, was ich nun bin,

Seit er mich verlassen,

Tauscht' mit mir kein' Bettlerin

Wahrlich auf der Straßen.


Geh' ich auf den Bittgang mit,

Weichen sie zur Seiten.

Tanzen! Gott, mein Lebtag nit ─

Das Gesichterschneiden!


Mach ich, was ich machen will,

Niemand thu' ich's rechte:

Trutzig heiß' ich, wenn ich still,

Red' ich, heiß' ich schlechte.


Tret' ich in die Kirche ein,

Geht es an's Gedeute;

Donnert recht der Pfarrer d'rein,

Blinzeln alle Leute.


Abends kann ich vor der Thür'

Keine Stunde bleiben.

Noch am liebsten ist es mir,

Meine Gänse treiben.


Komm ich an der Godel Haus,

Muß' ich mich verfärben ─

Wollt', ich wär' zum Dorf hinaus

Oder könnte sterben.



NB. Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünsteltes,

Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform

zu wagen. Vgl. z. B. kein' für kei' u. s. w.



c. Das verlassene Mägdlein, von Ed. Mörike.

Früh', wann die Hähne krähn,

Eh' die Sternlein verschwinden,

Muß ich am Herde stehn,

Muß Feuer zünden.


Schön ist der Flammen Schein,

Es springen die Funken;

Jch schaue so drein,

Jn Leid versunken.
|#f0027 : 5|



Plötzlich, da kommt es mir,

Treuloser Knabe,

Daß ich die Nacht von dir

Geträumet habe.


Thräne auf Thräne dann

Stürzet hernieder;

So kommt der Tag heran ─

O ging' er wieder!



Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift

„Gebrochene Treue“ tragen. Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegenstand

der Scene und die Trägerin der Jdee.



Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern nämlich

der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der

dritten Strophe und ihre rhetorische Pathetik in der vierten zu Erwägungen

über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Empfindung

in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Ausdruck,

daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird.



Und dennoch sind diese Dichtungen subjektiv. Sie zeichnen sich gewissermaßen

durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere

der abstrakten Jdee und der tiefen Empfindung ist.



So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objektiven Charakter Rechnung,

wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die

Jdee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal

der Kunstpoesie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge:



Blumengruß.

Der Strauß, den ich gepflücket,

Grüße dich viel tausendmal!

Jch habe mich oft gebücket

Ach, wohl ein tausendmal,

Und ihn an's Herz gedrücket

Wie hunderttausendmal!
(Goethe.)



Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Gedicht

Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Jdee der Vergänglichkeit

mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall

das subjektive Fühlen des deutschen, tiefinnigen Dichtergemütes das Poem

überstrahlt.



Derjenige Kunstdichter, welcher die Natur in ihrer Einfachheit, in ihrer

naiven Schönheit aufzufassen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung

gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunstdichter.

Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend

auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV. 3)

hinweist:



   Perdita:    Jch hörte,

Daß, nächst der großen schaffenden Natur,

Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt.
|#f0028 : 6|



   Polyxenes:    Sei's:

Doch wird Natur durch keine Art gebessert,

Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst,

Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es

Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen.

Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen

Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm,

Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art

Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst,

Die die Natur verbessert ─ mind'stens ändert:

Doch diese Kunst ist selbst Natur.


§ 3. Einteilung der Poesie in klassische, romantische und

moderne Poesie.



Jn Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann

man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste

und komische Poesie, insofern sie traurige, mitleidsvolle, strafende,

erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung

hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, romantische

und moderne Poesie ein.



Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen

zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine mustergültige,

fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung.



Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch

genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur

dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in

der Gediegenheit der Form, in der Jdealisierung und in der Erhabenheit des

innern Gehaltes mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man

anerkannt, daß die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller,

Rückert &c. allen Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man

hat diese Dichter als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I. S. 88.)



Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen;

denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene,

und es läßt sich erwarten, daß Geister kommen werden, welche größer sein

werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c.



Unter romantischer Poesie versteht man diejenige Poesie, welche

dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenverehrung

und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen

Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen

eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen

des Mittelalters sich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Übernatürlichen

zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantastische allenthalben hervortritt,

so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätselhafte.

Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine

ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „romantisch“ wurde zuerst |#f0029 : 7|



litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller

Unbefangenheit gewählten Titel „Romantische Dichtungen“ herausgegeben

hatte. (Vgl. R. Köpke: „Ludwig Tieck.“ I. 265.) Die romantische

Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine Vereinung

der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur. Jhre mit

Fichtes Jdealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung

versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich=christlicher Schwärmerei und Pantheismus.

Die Gedichte der romantischen Dichter (vgl. Bd. I. S. 58 und 88)

zeichnen sich durch eine gewisse Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte

Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen

kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charakterisiert.



Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem

Anschauungskreise unserer Generation sich bewegt, welche ihre Figuren und

Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum=

und Phantasieleben der romantischen Poesie einen Gegensatz bildet und dem

Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen,

Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung

trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich

schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines

Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf Anschaulichkeit

und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der

Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will.



§ 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form.



1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der

Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und dramatische

Poesie.



2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen

Fundaments.



3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a. im Zweck,

b. im Ursprung und Stoff der Poesie.



1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didaktische, epische und dramatische

Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A.

in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („Τοιοίδε

που τινὲς, ─ sc. εἰσὶν οἱ περὶ θεολογίας τύποι ─ ἦν δ' ἐγώ, οἷος

τυγχάνει ὁ θεὸς ὤν, ἀεὶ δή που ἀποδοτέον, ἐάν τε τις αὐτὸν ἐν

ἔπεσι ποιῇ, ἐάν τε ἐν τραγῳδίᾳ.“) Als Philosoph macht er nicht gelegentlich,

sondern recht systematisch nur einen Unterschied zwischen nachahmender und

heiliger Poesie. Selbst Homer verbannt er aus seinem Jdealstaate, in welchem

nur die heilige Poesie geduldet sein soll. (Rep. Buch II. III. gelegentlich,

dann X. bis pg. 607.) Anderwärts teilt er nach Bedürfnis ein in Epos

und Tragödie oder in diese und Komödie, oder er spricht auch noch vom Drama

(Sympos. 222 D.).

|#f0030 : 8|



Bis in unsere Zeit teilte man in der Regel nur in lyrische, epische und

dramatische Poesie.



Wackernagel und auch Goethe (über das Lehrgedicht) sprachen sich noch

gegen die didaktische Poesie als vierte Hauptgattung aus. Derselbe Goethe

sagt jedoch: „Alle Poesie soll belehrend sein, sie soll den Menschen aufmerksam

machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die Lehre selbst daraus

ziehen, wie aus dem Leben.“

(Vgl. hierzu Horatius A. P. 333 ff:

Aut prodesse volunt, aut delectare poetae;

aut simul et jucunda, et idonea dicere vitae.

Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci,

lectorem delectando, pariterque monendo
.)



Wir weisen der didaktischen Poesie aus den in den §§ 13, 14, 15 S. 18 ff.

d. Bds. entwickelten Gründen eine hohe ebenbürtige Stellung an.



2. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Einteilung in lyrische,

didaktische, epische und dramatische Poesie scheinbar an einem logischen Fehler

leidet. Sie scheint des einheitlichen Fundaments zu entbehren, indem Lyrik

(μέλος == das Gesungene), Epik (ἔπος == das Gesprochene), Drama (δρᾶμα

== die Handlung) auf das Darstellungsmittel der Poesie fundiert sind, die

Didaktik hingegen auf den Zweck.



3. Doch zeigt eine genauere Betrachtung die Möglichkeit einer einheitlichen

Fundierung a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff.



a. Jm Zweck.



Es steht fest, daß die Lyrik (d. i. die Poesie der Empfindung) die

eigenen d. i. subjektiven Gefühle und Empfindungen des Dichters, seine

eigene Welt ausdrückt und ihm ermöglicht, sein eigenes Fühlen zum Objekt

und zum Gegenstand der Empfindung auch für Andere, für die äußere Welt

zu machen; daß weiter die Didaktik (d. i. die Gedankenlyrik) mit der Absicht

zu belehren und sich über Fragen aus Natur, Welt, Menschenleben u. s. w.

zu verbreiten, das Gleiche thut; daß drittens die epische Poesie (oder die

Poesie der Anschauung) von vergangenen Dingen erzählt und der Anschauung

und Empfindung die äußere Welt mit den Gestalten und Begebenheiten einer

Vergangenheit vorführt; daß endlich die Dramatik (d. i. die Poesie der

Handlung) redend handelnde Personen unmittelbar vorführt und den übrigen

Dichtungsgattungen Gelegenheit zur ebenbürtigen Entfaltung wie zur harmonischen

Vereinigung bietet.



b. Jm Ursprung und Stoff.



Die lyrische und die didaktische Poesie sind subjektiv, denn der Dichter

giebt nur seine eigenen Gefühle und ist der eigene Held seiner Dichtungen,

während die epische Poesie objektiv ist und die dramatische das subjektive und

objektive Element vereinigt. Ein Fundament für die Einteilung ergiebt somit

der Umstand, ob der Stoff der Poesie der Jnnen- oder Außenwelt entstammt,

ob er der Thätigkeit unserer Phantasie entspringt, oder ob er der Sage und

Geschichte entquillt, ob erzählt wird, oder ob die Personen handelnd und redend |#f0031 : 9|



auftreten. (Erinnerung an eine antike Einteilung in I. μίμησις a. Ausprägung

in Bildern für die Phantasie, b. Plastische Darstellung. II. ἀπαγγελία

und διήγησις, erzählende und belehrende Darstellung. III. Reflexion.) Die

Phantasie, die man nicht ohne Grund das Vermögen der Dichter genannt hat,

befähigt uns, die übersinnliche Welt von Begriffen und Jdeen in sinnlichen

Bildern auszudrücken. Sie zeigt sich zunächst als schaffende und als empfindende

Phantasie. Die schaffende erzeugt unter Anwendung des ihr aus der Außenwelt

zukommenden Stoffes die epische und die dramatische Poesie, während die

empfindende Phantasie die Lyrik und die Didaktik hervorbringt. Diese Thatsache

beweist ein einheitliches Einteilungsfundamentum.



§ 5. Einteilungsschema der Poesie.



Aus dem Abgehandelten ergiebt sich folgendes übersichtliche Einteilungsschema:





Die Poesie entstammt stofflich

[Beginn Spaltensatz]A. Der Jnnenwelt.

Die Jnnenwelt (ihrer Art nach sub=

jektiv) umschließt:

a. Empfinden,   b. Denken,

und äußert sich als

1. Lyrik.   2. Didaktik.

Die Lyrik schildert    Die Didaktik lehrt,

subjektiv.   sofern sie schildert

oder erzählt.
[Spaltenumbruch]

B. Der Außenwelt.

Die objektive Außenwelt behandelt:

c. Raum,   d. Zeit,

und äußert sich als

3. Epik.   4. Dramatik.

Die Epik erzählt    Die Dramatik handelt,

objektiv.   gestaltet dialogisch.
[Ende Spaltensatz]

|#f0032 : E10|



Erstes Hauptstück.

Begriff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik

und Dramatik. ──────


I. Lyrik.


§ 6. Begriff der Lyrik.


1. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven

Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.



2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen,

an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente,

mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden,

ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe

und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.



1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des

Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen,
einen musikalischen Ausdruck

der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen

nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik.

Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von

welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar,

daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in

Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung,

in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der

Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges
&c. reden

könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten

Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt,

was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem

Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung

zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie

der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit

Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich

selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die |#f0033 : 11|



Stimmung künstlerische Gestalt gewonnen, steht das Gemüt ihr nicht nur als

einer fremden gegenüber, sondern es sieht seine Empfindungen, der Erdschwere

entnommen, in den lichten Äther gehoben und dem flüchtigen Spiel eine schöne

Dauer gegeben.



2. Man nannte die lyrische Poesie ursprünglich die melische in der Absicht,

durch diese Benennung die lyrischen Gedichte als organisch gegliederte

Ganze auszuzeichnen. (τὸ μέλος und τὰ μέλη, einstrophige und mehrstrophige

Gesänge, ähnlich: „daz liet und diu liet.“ Die Benennung μέλος oder

μέλη hatte auch den Gesang (Melodie) mitbezeichnet. Aristoteles kennt den

Ausdruck λυρική noch nicht: in den Anakreontea kommt λυρικὴ μοῦσα vor,

noch bei Plutarch aber μελικὴ ποίησις neben λυρική. (Vgl. Plut. Num.

4 u. Anth. ─ Plut. consol. ad Apoll. p. 365. ─ Schol. Ar. Av. 209.)



§ 7. Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht == Gelegenheitsgedicht.




1. Die Stoffe der Lyrik sind so reich und mannigfach, als die

Empfindung und die subjektive Auffassung verschieden ist. (Vgl. Bd. I.

§ 16. S. 39.)



2. Sie erblühen der individuellen Behandlungsweise, der eigenartigen

Geisteswelt und Weltanschauung des Lyrikers. (Vgl. Bd. I.

S. 40. 2.)



3. Da somit weniger der objektive Stoff, als die subjektive Auffassung

und Behandlung des Stoffs das Wesentliche ist, (vgl. Bd. I.

S. 40. 3) so ist das Stoffgebiet der Lyrik unerschöpflich.



4. Das lyrische Gedicht ist seiner Veranlassung nach Gelegenheitsgedicht.





1. Der Lyriker singt:

„von Lenz und Liebe, von sel'ger goldner Zeit,

Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit;

Er singt von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,

Er singt von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.“
(Uhland.)



2. Der Stoff der Lyrik ändert sich nicht, aber „der stets sich erneuernde

Blumenflor“, wie Hegel die Lyrik nennt, treibt immer wieder neue Blumen

hervor, je nach der Originalität des Dichters. Von den Naturlauten der

Volkspoesie bis zu den gedankenreichen malerischen lyrischen Dichtungen der

Kunstpoesie unserer Zeit ist die reichste Stufenleiter der Stoffe nachweisbar, die

lediglich durch die eigenartige Behandlung, d. h. durch den Zusatz von Subjektivität

seitens des Dichters Stoffe der Lyrik werden. Je einfacher, geringfügiger,

unscheinbarer der Stoff, desto mehr wird die Subjektivität des Dichters

hinzuthun. Zum Beleg beachte man das folgende Gedicht M. Greifs, dessen

winziger Stoff ein Mädchen ist, das in den Bach hineinblickt:

|#f0034 : 12|



Die Einsame.

„Vor meinem Kämmerlein fließet

Ein Wasser bei Tag und Nacht;

Jch seh' ihm zu vom Fenster,

Wenn einsam mein Leid erwacht.


Mir wird so traurig zu Mute

Bei seinem eiligen Lauf;

Die Wellen ziehen hinunter

Und kommen nimmer herauf.“



3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn

allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.





4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre

Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der

Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.



Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann

I. S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des

Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird.

Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß

die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird

ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine

Gedichte sind Gelegenheitsgedichte;
sie sind durch die Wirklichkeit angeregt

und haben darin Grund und Boden.“



„Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht,

Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“
(Goethe.)



§ 8. Eigenart des Lyrikers.



1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige

Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.



2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt

der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“,

mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen

erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.



3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und

seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin

die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann,

sind in der Lyrik das Wesentliche.



1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische

Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach

seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird.

Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche

Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar

der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige

Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.

|#f0035 : 13|



2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell,

der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus

dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht

daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn

anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die

Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist

Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente

seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten

als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl,

oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder

das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.



3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen

Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und

Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:



„Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist,

Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf;

Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge

Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.“


(Geibel, Distichen XVI.)



§ 9. Anforderungen an den Lyriker.



1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit

für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in

Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag,

Harmonie des Seelenlebens.



2. Der Dichter muß erhöht empfinden.



3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.



1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den

Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine

Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit

von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen,

oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu

naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre

heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne

darnach zu fragen, wer ihn höre.



„Wenn Jhr fragt, wer hier nun spricht,

Jch, der Dichter, oder sie?

Sag' ich Euch: ich weiß es nicht,

Sondert Jhr's, ich sondr' es nie.“
(Rückert.)



Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen

Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert,

der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der

Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)

|#f0036 : 14|



„Jch will die Fluren meiden

Mit meinem trüben Gram,

Daß nicht der Lenz muß scheiden,

Wo ich zu nahe kam.“
(u. s. w.)(Rückert.)



Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen,

was das Herz „leidvoll und freudvoll“ überfließen macht.



„Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer,

Jch finde sie nimmer und nimmermehr.“
(Goethe.)



Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer

den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl,

unbeachtet zu sein.



2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das

Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.



„Was mir nicht gesungen ist,

Jst mir nicht gelebet.“
(Rückert.)



Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine

innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte

Sonette, z. B. „Wir schlingen unsre Händ' in einen Knoten.“ Oder „Nennt

es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung.“) Jeder urteilt bei

solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das

ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung

der Gedichte Bürgers: „Mit Recht verlangt der gebildete Mann

von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe

mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken

will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern:

man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug;

man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter

uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor

Mit- und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr

als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern,

ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen

zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer

sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage,

eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns

in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich

sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst

zu verdecken suchen.“



3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus,

der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen

bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben

macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft.

Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer

andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet,

mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. |#f0037 : 15|



Ebenso muß er bei Stoffen aus der Natur die Natur mit seinem

Gefühl durchziehen, sie mit seiner Jdealität vermählen und aus diesem Gefühl

heraus sie reden lassen, wie es beispielsweise Heine in den Naturbildern

„Fichtenbaum“ und „Lotosblume“, ─ Goethe in „Erwin und Elmire“ &c.

gethan hat. Auch bei den Naturbildern muß die Empfindung und das Gefühl

des Dichters der Mittelpunkt bleiben, und stets muß der weitauszubreitende

Blütenbaum seiner Poesie auf dem Stamm seines subjektiven Jch ruhen bleiben.



„Herz, was willst du weiter,

Da der Himmel heiter,

Wie in dieser Flut,

Dir im Herzen ruht?“


§ 10. Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik.



1. Die Anschauung=verleihenden, malenden Beiwörter sind die

wichtigsten Bestandteile der Lyrik.



2. Viele derselben erscheinen wie eingetrocknete, gewissermaßen zu

Versteinerungen gewordene Metaphern.



3. Der gebildete Dichter wird seine erhöhte Empfindung durch

geschickte Verwendung der Metaphern beweisen, dem weniger gebildeten

fehlt der sprechende Ausdruck.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn. Anmerkung: Abgr. Beiwort



1. Schon Aristoteles sagt (Rhetorik III. 3) von Alkidamas, daß ihm die

Epitheta nicht bloß eine Würze der Rede (ἥδυσμα) seien, sondern die Hauptkost

(ἔδεσμα). Wie sehr er im Rechte war, haben wir in Bd. I. § 30

S. 137 ff. gezeigt. Jn der Lyrik sind die malenden Beiwörter umsomehr

am Platze, als sie wesentlich dazu beitragen, dem Gefühlsausdruck seine eigenartige

Färbung zu verleihen.



2. Die Auffassung der Lyrik als paläontologische Weltanschauung ─ wie

sie Karl du Prel in „Psychologie der Lyrik“ versucht hat, ─ zwingt uns, an

den Standpunkt zu denken, welchen der Mensch im Naturzustand und ohne

Schulbildung einnimmt. Es ist der Zustand, in welchem der Mensch seine

Anschauung durch Naturbelebung und Naturbeseelung (Personifikation) ausdrückt.



Viele Beiwörter aus jener Zeit und aus jener Bildungssphäre lassen

keinerlei Reflexion zu und haben es lediglich auf Anschaulichkeit abgesehen.

Sie sind Grenzsäulen der dichterischen Anschauung und muten uns wie Versteinerungen

an. Bekanntlich ist die Sprache der Wilden um so reicher an personificierenden

Metaphern, je ärmer sie ist. Vgl. Bd. I. S. 148 ff. u. S. 169 ff.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch.



3. Die erhöhte Empfindung des Lyrikers zeigt sich in der glücklichen

Anwendung des metaphorischen Beiworts, das dem lyrischen Gedichte

jedesmal ein besonderes Gepräge verleiht, und durch welches, wie schon B. I.

S. 138. 2. angedeutet,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. z. B. Goethe seine Weichheit und Anmut, Schiller

seinen idealen Schwung, Rückert seine herzerwärmende Jnnigkeit, Platen

seine klassische Würde, Lenau seinen gewitterschwülen, die Brust beängstigenden

und doch so süß bestrickenden Zauber, Heine seine bald leichtfertig tändelnde, |#f0038 : 16|



bald ergreifende Leichtigkeit, Chamisso seine anmutend liebenswürdige Naturwahrheit,

Freiligrath seine hochfliegende Freiheitsbegeisterung, Geibel seine

glatte, einfache, sinnige Weichheit, Gottschall seine vom Gedanken durchleuchtete

Klarheit, Keller sein sinniges Gemüt und seine gesunde Männlichkeit

erreicht. Die Metapher bedingt zum Teil das Unterscheidende der Richtungen

und Schulen.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Ein Dichter des Mittelalters hat andere Metaphern als

Homer, oder auch als der Dichter des 17., 18. und 19. Jahrhunderts,

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Personen: Dichter des MA, Homer, Dichter des 17., 18., 19. Jh. ein

Romantiker andere als ein Klassiker, Heine andere als Geibel, Herwegh

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Personengruppe. Anmerkung: Personen: Romantiker, Klassiker, Heine, Giebel, Herwegh andere

als Freiligrath.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Person nn. Anmerkung: Person: Freiligrath Freilich macht die Metapher nicht das Wesen der Lyrik aus;

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch.

dieses liegt, wie im vorigen Paragraphen ausgeführt wurde, im dichterischen

Jngenium, im gebildeten Gefühl des Dichters, in seiner quellsprudelnden

Phantasie, wodurch er befähigt wird, im Geistesflug über die Erde und ihre

Erscheinungen zur reinsten Ätherhöhe sich emporzuschwingen, bald hier das Auge

an den lebensvollsten Erscheinungen labend, bald dort den Blick an den brillantesten

Phantasiegemälden bezaubernd &c.



§ 11. Umfang des lyrischen Gedichts.



Da das reine Gefühl nur Eine Grundstimmung haben kann,

da ferner das lyrische Gedicht der Stimmung des Augenblicks entquillt,

so erhellt, daß ein Abirren nicht gut möglich ist.



Das Eine Gefühl bedarf keiner Ausbreitung; auch kann die Empfindung

als Spannung auf einen Punkt wohl Dauer, aber keinen großen Umfang

haben, weshalb das lyrische Gedicht seiner Natur nach kurz und einfach ist,

im Gegensatz zum epischen Gedicht, das unendlich ausgebreiteten Stoff zur

Beschauung gewährt.



Wird der äußeren Anschauung ein das subjektive Fühlen beeinträchtigendes

Übergewicht eingeräumt, so wird das Gedicht episch=lyrisch, ─ sofern es

aber Gedankenreihen entwickelt, didaktisch=lyrisch.



§ 12. Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik.



1. Der Stil im allgemeinen, wie speziell der Stil eines Gedichtes

ist von wesentlicher Bedeutung. Jeder Stil ist Form und doch spricht

aus ihm zugleich die Seele, das Eigenartige des Schriftstellers und

Dichters.



Man unterscheidet in der sprachlichen Darstellung:



a. den niederen Stil,



b. den mittleren Stil,



c. den hohen Stil oder den Stil der Lyrik.



2. Der Stil der Lyrik selbst hat mehrfache Abstufungen.



1. Der niedere Stil ist die Redeform des Verstandes und beherrscht

das Gebiet der Prosa. Er verlangt Deutlichkeit. Der mittlere Stil steht |#f0039 : 17|



im Dienste der Einbildungskraft und fordert vor Allem Anschaulichkeit,

weshalb er in der gesamten Poesie ─ die lyrische ausgenommen ─ sich

findet. Der höhere Stil ist der Stil des Gefühls, weshalb Erregung,

Erhabenheit über das Gewöhnliche, Leidenschaft &c. seine Merkmale sind, wenn

er auch der Deutlichkeit und Anschaulichkeit nicht entraten kann oder will.



Sofern der höhere Stil neben Belebung des Gefühls auch Deutlichkeit

erstrebt, ist er der oratorische Stil. Sofern er jedoch mit Erregung des

Gefühls epische Anschaulichkeit erstrebt, ist er der Stil der Lyrik.



Die griechischen Rhetoren führen als leidenschaftliche Erregungen des

Gefühls an: Ethos (ἦθος) und Pathos (πάθος), wofür Quintilian die

affectus mites und affectus concitatos setzt.



Die Affekte des Ethos sind sanfter, ruhiger, rührender, gemütlicher Natur,

die des Pathos lebhafter, bewegter, ergreifender, leidenschaftlich fortreißender Art.



2. Man teilt den Stil der Lyrik ─ denselben an sich betrachtet ─ wieder

ein in einen niederen, in einen mittleren und in einen höheren Stil der Lyrik.

Die Elegie, (§ 75) welche dem Lyrischen noch das Epische am meisten beimischt,

repräsentiert in dieser Beimischung den niedern Stil der Lyrik. Das

Lied, (§ 62 ff.) welches sich von den epischen Äußerlichkeiten teilweise losringt,

zeigt den mittleren Stil der Lyrik. Die Ode, (§ 71), der Hymnus (§ 73)

und der Dithyrambus (§ 74) hingegen, in welchen Gattungen die Empfindung

zum höchsten Jdealismus sich emporschwingt, zeigt den höheren Stil der Lyrik.

Jn der rührenden Elegie zeigt sich das Ethos; in der Ode, dem Hymnus &c.

das Pathos; das Lied steht in der Mitte.



Von dem Stil der oratorischen Prosa, welcher vor allem Deutlichkeit

neben Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, d. i. eine lebensvolle, schöne Wirklichkeit

erstrebt, unterscheidet sich der Stil der lyrischen Poesie dadurch, daß er

nicht das Verstandesmäßige aufsucht, weil das sezierende Verstandesmäßige nur

eine negative Rolle in der Lyrik spielt, und daß er Wohllaut in der metrischen

Anordnung der Worte fordert. Sein Ziel ist vielmehr schöner Ausdruck und

lebhafte Erregung des Gefühls. Dabei ist sein Ausdruck bald Ethos, bald

Pathos, bald eine Vereinigung beider. Jn seiner niedern Form bedient er

sich mehr der Figuren, in der höhern der plastischen Tropen. Der niedern Art

steht der volkstümliche, idyllische Ton gut, weshalb sie sich auch zuweilen der

Provinzialismen bedient, oder ganze Gedichte in einer der Mundarten bietet,

während die höhere Form kühnen Gedankenflug, kühne Bilder, Wortschöpfungen,

Neologismen erstrebt oder gestattet. Die Ode liebt Satzgefüge, die Elegie kürzere

Sätze (vgl. Schillers Elegie Der Spaziergang mit den Oden Klopstocks &c.).



Die Lyrik als höchste Gattung der Poesie (die vollkommenste ist das umfassende,

auch die Lyrik ermöglichende Drama) erhebt aus den Gebieten des

Sinnlichen zu denen des Jnnerlichen, Übersinnlichen, Geistigen, Gefühlsmäßigen.

Daher ist der Stil der Lyrik nicht mit der monotonen Wiederkehr gleicher

Rhythmen zufrieden, wie Epos und Drama, sondern er verlangt eine der

Bewegung, dem Gefühlsausdruck entsprechende Mannigfaltigkeit in den Verstakten,

Versen und Strophen. Wie die Gefühlszustände wechseln, so läßt er |#f0040 : 18|



im Äußeren belebte Mannigfaltigkeit eintreten. Er verbindet die verschiedenartigsten

Versarten unter einander, sowie symmetrische und unsymmetrische

Strophengebäude, er wendet zwei- und mehrgliedrige Strophen an, Antistrophen

und Epoden und a. m.



II. Didaktik.


§ 13. Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen

Poesie.



1. Gedichte der Kunstpoesie, in denen der Gedanke, die Jdee

vorherrscht, oder denen es lediglich um Veranschaulichung eines Gedankens

zu thun ist, oder welche Wahrheiten der Sittenlehre, der

Religion, der Philosophie in schöner Form zur Kenntnis bringen, sind

didaktische Gedichte.



2. Die didaktische Poesie gehört zur subjektiven Poesie. Sie ist

die Lyrik des Verstandes, die Gedankenlyrik. Jhr Gegenstand und

Wesen ist ein geist- und gemütreiches Abstraktes, das sie in schöner

Form bietet. Dieses Abstrakte ist der durch die dichterische Phantasie

bestrahlte und verklärt durch das Medium des Herzens gegangene

Gedanke.



3. Jm Gegensatz zur Lyrik läßt die Didaktik daher das Reflektierende,

das Jnstruktive und Spekulative zu, wenn dieses auch nicht

ihr eigentlicher Zweck ist.



1. Von der Lyrik des Gefühls unterscheidet sich die Didaktik dadurch,

daß die Erregung des Gefühls keine unmittelbar oder direkt diktierte ist, vielmehr

das Gefühl erst durch verstandesmäßige Anregung in Schwingung versetzt

wird, daß also die Erhebung auf den Gedanken gegründet ist und als

Zweck der poetischen Produktion erscheint.



2. Der Didaktiker wählt den Weg zum Herzen durch den Kopf und

erreicht seine Wirkung durch den Wiederhall, welchen der Gedanke dem Herzen

entlockt.



Da die didaktische Poesie somit hauptsächlich den Gedanken zu ihrem

Vorwurf nimmt, so gehören ihre Gegenstände entweder der Außenwelt, oder

doch wenigstens der objektiven Herzenswelt an. Letztere verwertet dieselben

nicht selten zu Spekulationen, so daß Gedankenreihen entstehen, die zunächst

belehrend (instruktiv) wirken, die aber mit dem Gemüt immerhin verschwistert

sind, und selbst in der Belehrung wie in der Spekulation mindestens eine

Beziehung auf das Gefühl haben. Jch denke hier zunächst an Rückerts Lehrgedicht

Weisheit des Brahmanen“ und muß mich daher auf Belehrung

und Spekulation als zwei durch Rückert in die didaktische Poesie gebrachte

wesentliche Momente etwas weiter einlassen.



3. Spekulation, Reflexion und Belehrung in der Didaxis. An

sich darf und will die Poesie nicht belehren; ihr ursprünglicher Zweck ist, wie |#f0041 : 19|



der alles Schönen, zu erfreuen. Daher gehören Belehrung und Spekulation nicht

in den eigentlichen Begriff der Poesie, deren Gesetz allein die Schönheit ist.

Beides, das Jnstruktive wie das Spekulative, beeinträchtigt das ruhige Empfinden,

die unmittelbare Aufnahme und den ungeteilten Eindruck: das Jnstruktive,

weil es das Gefühl erst in zweiter Linie berücksichtigen kann;

das Spekulative, weil es seinem Wesen nach nicht als fertig dargereicht

wird, und somit ebenfalls nicht auf das Gefühl unmittelbar wirkt. Dante

(Göttliche Komödie) und Goethe (Faust) haben allerdings das Problem der

Vereinigung von Spekulation und Poesie gelöst, während andere, wie W. Jordan

(Demiurgos), Mosen (Ahasver) philosophisch reflektierend blieben.



Wenn schon eine leichte Reflexion dem Dichter zum Gedichte werden kann,

und er zu seinem Gedichte die passende, schöne Form findet, soll dann nicht

auch für den höchsten Gedanken, für die höchste Spekulation eine Form gefunden

werden können, unter welcher das Gedankliche, Spekulative für die Poesie

flüssig gemacht wird, sollte nicht eine vollendete dichterische Darstellung zu erzielen

möglich sein, in welcher auch dieser tiefe Jnhalt mit einer dichterischen

Form sich deckt? Da hier der Jnhalt an das Erhabene grenzt, so wird allerdings

auch die Form erhaben sein müssen. Das Erhabene aber ist nur das

Schöne in gewaltiger Form. (Vgl. Bd. I. S. 92 u. 93.) Die wahre

ästhetische Freiheit liegt gerade in der Form, durch welche auf das Ganze

des Menschen gewirkt werden kann. Wir geben zu, daß ein in Reime gebrachtes

philosophisches System noch kein Gedicht sei; aber wir verlangen eben vom

didaktischen Gedichte etwas anderes, vielleicht das Höchste, was durch dichterische

Darstellung auszudrücken ist. Wir verlangen, daß der Dichter und der

Philosoph nicht zwei Personen
seien, sondern eine einzige normale,

geist- und phantasiereiche Persönlichkeit, welche ihren

Platz auf dem Parnaß hat, der aber die Thäler der Weisheit

nicht verschlossen seien.
Nur so finden die ernsten Harfentöne drunten

im Thale ihren entzückenden Wiederhall, während oben neben der Harfe die

Lyra bebt und leise harmonische Accorde mit einmischt, wenn die Schallwellen

der Harfe über sie hinstreichen.



Dies war auch Rückerts Ansicht. Er sprach sie nur mit andern Worten aus:

Poetische Blumenles' und hohes Spekulieren,

Von einem muß ich mich zum andern hin verlieren.


Das eine würd' ich denn verlieren überm andern,

Wenn ich von diesem weit zu jenem müßte wandern.


Die Auskunft traf ich drum, hier beides zu vereinen,

Wo Stern' und Blumen durch einander blühn im Kleinen.


(Weisheit des Brahmanen X. 98. S. 379.)



Jene sogenannte Didaktik, bei welcher sich das Lehrhafte als solches ausschließlich

in den Vordergrund drängt, oder die das Ergebnis von Spekulationen

ohne alle subjektive Durchdringung und Belebung nur in bloße Reime bringt,

fällt aus aller Poesie heraus, eben weil eine, wenn auch noch so schön

aufgeputzte nüchterne Lehre nur Reimerei sein kann; eine Reimerei, bei welcher |#f0042 : 20|



die Lyra nimmermehr mitschwingen wird. Jene Didaktik jedoch, welche die

höchsten Fragen aus Natur und Menschenleben begeistert zu erfassen und mit

den gemütbestrickenden Herztönen der dichterischen Empfindung sinnig zu vermählen

versteht, kann vielleicht als die vornehmste und höchste Gattung aller

Poesie angesehen werden. Jn diesem Sinne darf man kühn behaupten, daß

derjenige Dichter, welcher einen ewigen Jnhalt aus den Gebieten der Belehrung

und der Spekulation in eine schöne dichterische Form zu gießen vermag, ein

echter Didaktiker, ein wahrer Dichter sei, welcher geistige Kunst übt und für

die Unsterblichkeit wirkt. Ja, in dieser Richtung ist alle wahre Poesie belehrend,

didaktisch, jeder wahre Dichter ein Lehrer, ein Didaktiker.



§ 14. Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen

Poesie: der Gedankenlyrik. (S. § 13. 2. dss. Bds.)

Ferner das Gesetz der Didaxis.



1. Die von Schiller und Rückert gegebene didaktische Poesie wirkt

auf das tiefere Erkenntnisvermögen und läßt den tiefen Gedanken im

Gefühle aufgehen.



2. Beide Dichter bilden für die didaktische Poesie eine Epoche.

Von ihren Dichtungen ist daher für die Folge der Begriff und das Gesetz

der Didaktik zu abstrahieren.



3. Jean Paul ahnte bereits die Zukunft der didaktischen Poesie.



4. Rückert war der erste, der ihre Mission klar legte und

betonte.



1. Die didaktische Poesie, welche auf das tiefere Erkenntnisvermögen

wirkt, und bei welcher der Gedanke im Gefühle aufgeht, behauptet einen ausgezeichneten

Platz. Diesen Standpunkt nimmt die Schillersche wie die Rückertsche

Didaktik ein. Nie zur Unzeit schaut aus dem Dichter der Philosoph mit seiner

dürren Metaphysik hervor, überall deckt sich schöne Form mit dem tiefen Gedanken,

reine geistige Kunst ist vorhanden. Um auf den Verstand

zu wirken, stellen diese Dichter ihre Wahrheiten in poetischer Form dar; für

Einwirkung auf das Gefühl geben sie denselben eben diese schöne Form.



2. Nach Schillers und Rückerts didaktischen Gedichten wird man für die

Folge den Begriff und das Gesetz der wahren Didaktik, die man als Gedankenlyrik

bezeichnen muß, folgendermaßen zu präcisieren haben: Die

Didaktik besteht darin, das Abstrakte in konkreter Form zu geben, um

Wahrheiten und Jdeen bessern Eingang und Dauer zu verschaffen.

Jenes Abstrakte aber muß geist- und gemütreich, diese Form aber

vollkommen, schön und gediegen sein. Der durch die dichterische

schöpferische Phantasie bestrahlte Gedanke muß durch das Medium

des Herzens verklärt werden und im Gefühle aufgehen; die schöne

Form muß den tiefen Jnhalt decken.

|#f0043 : 21|



Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes

in „Gott und Welt“ und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf

das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies

muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über

jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden,

fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über

das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „Unsterblichkeit“ finden;

das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen,

verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern,

wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen

zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden

und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es

versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen),

v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs

Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen),

Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedge

(Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und

vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa

zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des

Reims unter der hochtrabenden Firma: „Didaktisches Gedicht“ in das Gebiet

der Poesie einschmuggeln zu können.



Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung

stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie,

der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der

Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher

Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller

griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „Werken und Tagen“, entgegentritt.

(Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt

von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich

prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem

Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann

wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen,

sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen

Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen,

überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder

ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das

alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk

als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte,

es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie,

welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging,

zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne

Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer

die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am

Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die |#f0044 : 22|



didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie jetzt einnimmt, und unter der

ihr der letztgenannte Dichter in der Weisheit des Brahmanen ein unvergleichliches

Denkmal gesetzt hat.



3. Jean Paul ahnte bereits mit prophetischem Geiste die Zukunft der

didaktischen Poesie zu ihrer nur von Schiller (z. B. die Glocke), Rückert, und

annähernd nur noch von wenigen erreichten Höhe, z. B. von Schefer

(Laienbrevier), Agnes Franz (Der Christbaum, an Schillers Glocke erinnernd),

Uz (Theodicee, eine didaktische Ode), Haller (vom Ursprung des Übels),

Tiedge (Urania, ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit in 6 Gesängen,

schön in Form und Gedanken, aber ermüdend und ohne Tiefe), Herder

(Jch, Selbst), Gleim (Halladat, eine eigentümliche Art kurzer Lehrgedichte,

aus seinen Studien des Koran entstanden), Hammer (Schau in dich und

schau um dich, 1851, und Zu allen guten Stunden, 1854), ferner von den

sog. philosophischen Lyrikern Mosen, Sallet, Titus Ulrich (Das hohe

Lied, 1845), Jordan, Gottschall, Schloenbach, Prutz und Geibel.

Jean Paul sagt: „Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre,

sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereicht, und als eine mit

Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten. Jn der Dichtkunst ist jeder Gedanke

Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer.“

Wie mochte er sich freuen, diesen Gedanken in den Werken Schillers verkörpert

gesehen zu haben (im Genius; An die Freude; Würde der Frauen; Die

Glocke; Die Jdeale; Resignation; Macht des Gesangs; Das Jdeal und das

Leben; u. s. w.). Wie mochte ihn die Wahrnehmung überrascht haben, daß

Schiller auf dem Gebiete des Denkens Eroberungen auch für die Poesie zu

machen verstand (z. B. im Gedicht: Die Künstler, welches als seine Ästhetik

in der Poesie bezeichnet werden darf), was ja auch Goethe anerkennt (vgl.

Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem er ihm schreibt: „Jhre Gedichte

haben besondere Vorzüge; sie sind nun, wie ich sie vormals von Jhnen hoffte.

Diese besondere Mischung von Anschaun und Abstraktion, die

in Jhrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle

übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung hervor“ &c.). Wie

mochte er in der Glocke die erreichte Harmonie zwischen Jnhalt und Erscheinung,

zwischen Jdee und Vorstellung erkennen. Bei Schiller fand er eine gewaltige

Fülle der schönen Gedanken mit dichterischem Gefühl vermählt. Schiller, wie

später besonders Rückert, wurde Repräsentant der zur Gedankenlyrik gewordenen

Didaktik.



4. Die hohe Mission der Didaktik hat zuerst Rückert in folgenden

Alexandrinern gezeichnet:

Wo der Gedanke fehlt, die unverwandte Richtung

Auf hochgestecktes Ziel, da ist ein Tand die Dichtung.


Das Phantasieenspiel der Kindermärchenlieder

Jst mit der Kindheit hin, und niemand bringt sie wieder.
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Statt Ammenkinderfrau sei nun Erzieherin

Die Muse dem Geschlecht zu höherm Lebenssinn.


Hinfort genügt nicht mehr anmutig Klingendes,

Nur Himmelringendes, Geschickbezwingendes.


(Rückerts W. d. Br. XIX. 6.)



Ferner:

Mannhafte Poesie ist was ich hier, o Sohn,

Dir bringe, denn du hast die knabenhafte schon.

Mannhafte Poesie, die Grundsatz und Gedanken

Führt gegen Phantasie und Traumwerk in die Schranken.


(W. d. Br. V. 1.)



§ 15. Der Didaktiker ein wahrer Dichter.



Der Didaktiker, der es auf das höhere Erkenntnisvermögen abgesehen

hat, bleibt Dichter, auch da, wo er noch so sehr als Philosoph

oder Sittenlehrer auftritt, sofern ihm ─ wie bemerkt ─ der Gedanke

im Gefühl aufgeht, und die schöne Form den schönen Jnhalt deckt.

(Vgl. § 13 d. Bds. am Schluß.)



Wie der Didaktiker im Stoffe einen Januskopf hat, der mit dem einen

Gesichte in das naheliegende, einzelne, kleine, deutsche Leben, mit dem andern

in weite fremdländische Zaubergärten schaut, so hat er auch in der Produktion

und in der Form seines dichterischen Geistes eine doppelte Gestalt. Die eine

ist ihm Quell rein lyrischer Ergüsse, die andere singt ihm in poetischem, vom

Gefühl geleiteten Schwunge philosophische Sätze und Weisheitssprüche. Beim

wahren Didaktiker bleibt, wie an Schiller und Rückert zu sehen ist, die

lebendige Vorstellung Hauptsache für die Dichtung. Wer könnte uns poetischer,

das Herz ergreifender mit den Worten der Weisheit erfreuen, als solche Dichter,

denen Natur, Leben und Menschenherz, ja, die ganze Welt das Buch war,

in dem sie forschten, die in goldenem Gefäß den tiefsten Jnhalt vermittelten?

Wo bei ihnen einmal das ästhetische Element weniger stark hervortrat, da war

es stets das ethische, das den Ersatz bildete und befriedigte.



Der didaktische Dichter stellt sich als Ziel seiner didaktischen Poesie nicht

eben die Belehrung an sich, vielmehr die auf den Gedanken gegründete Erhebung,

Erquickung und eine nachdrückliche Erbauung der Phantasie hin. Jch

mache zum Überfluß noch auf Rückerts Gedicht: „Griechische Tageszeiten“ (Ges.

Ausg. VII. 262) aufmerksam, welches, so lyrisch auch Ton und Sprache im

einzelnen sind, doch wegen seines Endzwecks und gedanklichen Zieles echt

didaktisch genannt werden muß. Der Didaktiker verkörpert eben seine Jdeen

dichterisch, ohne daß man ihnen die Gedankenschwere und Abstraktion anmerkt.

Dadurch erreicht er das Höchste, was man von der subjektiven Poesie verlangen

kann, dadurch sichert er sich im hervorragenden Sinn den Ehrennamen

─ eines wahren Dichters.

|#f0046 : 24|



III. Epik.


§ 16. Begriff der Epik.



1. Die epische Poesie hat ihren Namen vom griechischen Worte

Epos (ἔπος == Wort, Erzählung τὰ ἔπη, Od. 4. 597). Sie ist die

dichterische Erzählung des Geschehenen, des erlebten Wirklichen wie

des in der Sage Lebenden, oder auch des Erdichteten. Epische Poesie

und erzählende Poesie sind gleichbedeutend.



2. Sie ist objektive Poesie.



1. Sofern die Epik auf der Basis der nationalen Sage ruht, ist sie

national, während die das dichtende Subjekt wiederspiegelnde Lyrik individuell

oder im weiten Sinne kosmopolitisch, universell ist.



2. Die epische Poesie ist im Gegensatz zur subjektiven lyrischen und didaktischen

Poesie objektiv. Jhr Objekt sind äußere, außerhalb des Dichters

liegende Erscheinungen, Thatsachen, Begebenheiten des menschlichen Lebens,

oder auch Erdichtungen, welch letztere nur der innern Wahrscheinlichkeit nicht

entbehren dürfen und so dargestellt sein müssen, wie sie möglicherweise geschehen

konnten. Es soll nicht gesagt sein, daß die epische Poesie das Gefühl ganz

ausschlösse. Dieses geht jedoch von den Personen des Epos aus, sofern es

nicht in symbolischer Form auftritt. Ein Vorzug der Poesie im Epos ist es,

wenn sie ihre Helden mit dem dichterischen Zauber subjektiven Empfindens

schmückt, so daß ─ unter Hinzutritt anmutiger Wahrscheinlichkeit in den Verhältnissen

und Situationen ─ der objektive Gegenstand gleichsam mit der

subjektiven Empfindung und Anschauung zusammenschmilzt.



§ 17. Anforderungen an den Epiker.



1. Der Epiker muß malend vorgehen. Er muß das Leben erzählen;

er muß vergangene Begebenheiten in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge

wiedergeben, wie wir es des näheren unter Epos darlegen

werden.



2. Der Epiker darf sich nie in den Vordergrund drängen.



1. Die Anforderungen an den Epiker sind wahr in folgenden Versen

geschildert:

Hoch, o Demodokos, preist dich mein Herz vor den Sterblichen allen!

Dich hat die Muse gelehrt, Zeus Tochter sie, oder Apollon!

So genau nach der Ordnung besingst du der Danaer Schicksal,

Was sie gethan und erduldet im lang ermüdenden Feldzug;

Gleich als ob du selber dabei warst, oder es hörtest.


(Odyssee, übers. v. Voß 8. 487 ff., vgl. 11. 368 ff.)



2. Wesentlich für den Epiker ist, daß er hinter seinem epischen Helden

ganz verschwindet, daß er Entwickelung, Fortgang, Verwickelung und Lösung

aus den Charakteren hervorgehen lasse, ohne daß man seine leitende Hand merkt.

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„Wie die Gottheit hinter'm Weltgebäude, so muß der epische Dichter

hinter seinem Werke stehen.“ (Vgl. Schiller: „Über naive und sentimentale

Dichtung.“ Die Sage von der Blindheit epischer Dichter z. B. des Demodokos,

Od. 8. 64, des Homeros, soll andeuten, daß des Dichters Persönlichkeit, sein

Urteil und die Gegenwart verschwinde. Jch erinnere an die Stelle in Goethes

Sänger: „Der Sänger drückt' die Augen ein, und schlug in vollen Tönen“ &c.)



§ 18. Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik.



1. Die epische Poesie ist der Anfang und die Quelle aller Poesie.

Sie war überall die erste.



2. Erst nach Ausbildung der Epik entwickelte sich die Lyrik.



3. Die aufblühende Lyrik drängte zum Drama hin.



1. Mit der Epik begann überall die Litteratur. (Vgl. Bd. I. S. 18 ff.)

Sie ließ ursprünglich geschichtliche Stoffe in volksmäßig dichterischer Weise als

Sage erscheinen. Spätere Nachfragen nach Grund und Ursache dieser Sagen

ließen aus Naturphilosophie und Religion den Mythus erstehen, d. i. die

Erklärung der Erscheinung. So lange die spekulativ=phantastische Lösung geglaubt

wurde, war der Mythus rein. Später wurde derselbe didaktisch behandelt

oder mit Absicht allegorisch. Sobald die dichterische Phantasie eines Volkes

Geschichte und Naturleben in Sage und Mythe allseitig durchgearbeitet und

genügendes Material beschafft hatte, begann die Blütezeit der Epik. Große

Dichter bearbeiteten den aufgehäuften Stoff in künstlerischer Weise und Rhapsoden

verbreiteten die Dichtungen. Welche poesieempfänglichen Zeiten müssen es

gewesen sein, in denen nach Homers Bericht die Hörer dem Demodokos

lauschten, oder von denen Beowulf berichtet:

So kühnen Kampf hat der König der Schildinge

Mit gediegenem Golde mir gütig gelohnt

Und manchem Kleinod, als der Morgen kam,

Und wir beim Schmause saßen und zechten.

Da war Hall und Schall. Bald hub der alte Schilding,

Der vielerfahrene, von fernen Zeiten an;

Bald begann ein Held der Harfe Wonne

Lustsam zu wecken, bald ein Lied zu singen

Süß und schaurig; Geschichten erzählte bald

Der Wahrheit gemäß der weitherz'ge König.

Ein ander Mal hörten wir den altergebundenen

Greisen Krieger von des Kampfes Strenge

Der Blüte melden, daß die Brust ihm schwoll,

Wenn der Winterreiche der Wagnisse gedachte.

So saßen wir im Saale den sonnenlangen Tag,

Den Genuß erneuend. Die Nacht befiel nun

Die Erde abermals.


(Beowulf. Übers. und erläut. v. Simrock S. 106.)



An das Heldengedicht jener deutschen Zeit, die auch einen einheitlichen

Baustil für Errichtung unvergleichlicher Dome schuf, reihte sich das Kulturepos; |#f0048 : 26|



aus diesem entwickelte sich das idyllische Epos, wie aus der religiösen Sage

des Mittelalters die dem Didaktischen sich zuneigende christliche epische Gattung,

die Legende, erblühte.



Die ursprüngliche bloße poetische Erzählung war lediglich Naturpoesie.

Zur Kunstpoesie wurde das Epos, das einen mehr reflektierenden Charakter

annahm und dessen Stoff einer großen Jdee Ausdruck verlieh. Nunmehr war

die epische Muse einem lebendigen Gemälde zu vergleichen, auf welchem der

Blick die Mannigfaltigkeit durch die Kunst des Dichters zur Einheit sich

gestalten sah.



2. Als die Epik ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte sich ähnlich, wie

bei den Griechen, das subjektive Element der Poesie geltend. Die Erzählung

in Liedform (Ballade, Romanze) führte die Lyrik ein. Das lyrische Element

trennte sich nach und nach vom Epos ab. Die Formen, in welchen sich diese

Lostrennung offenbarte (Volkslied, Ballade &c.), waren sehr einfach, bis endlich

die Subjektivität erstarkte, die epischen Formen sprengte und gemischtere Weisen

zur Blüte führte.



3. Mit dem Aufblühen der Lyrik fiel das Abblühen der Epik zusammen,

bis endlich die Vereinigung des Subjektiven und Objektiven in der nunmehr

aufblühenden Poesie der Handlung, im Drama, erfolgte.



§ 19. Epischer Stil.



Der epische Stil kann sich nach drei Richtungen hin kundgeben:

Er kann a. naiv (vgl. Bd. I S. 103), b. ironisch (vgl. Bd. I S. 199),

c. sentimental sein. (Letzteres als Übergewicht des Subjektiven über

das Objektive in der poetischen Darstellung aufgefaßt.)



Die Stilarten hängen ─ um mich der Worte Keiters in Versuch einer

Theorie d. Rom. S. 223 zu bedienen ─ mit der Konstitution des Dichtergeistes

zusammen. Wo sich Phantasie, Gefühl und Verstand in schöner

Harmonie zusammenfinden, haben wir den objektiven Stil der Epik. Er ist

Eigentum des naiven Dichters oder eines solchen, der ihm in den Zeitaltern

der Kultur am nächsten kommt. Der naive Dichter geht (wie wir

dies im § 17 d. Bds. forderten), in seinem Stoffe auf und gewinnt so die einzig

künstlerische Darstellungsweise. Wiegt von den dreien den Dichter bildenden

Kräften der Verstand vor, so ist der ironische Stil das Ergebnis. Der

Dichter erhebt sich gleichsam über seinen Stoff. Er sieht weiter als die von

ihm dargestellten Personen, sein Horizont ist ein unbeschränkter, während der

Blick seiner Personen auf dem Nahen haften bleibt. Seine Miene zeigt deshalb

gern etwas gutmütig Spöttisches; er nimmt aber an den Schicksalen seiner

Personen herzlichen Anteil. Ein durchgängig ironischer Stil wird schließlich

unleidlich. Es muß deshalb des Dichters Streben sein, ihn den verschiedenen

Stadien der Entwickelung anzupassen. Ganz vortrefflich handhabt beispielsweise

Eliot in „Die Mühle am Floß“ den ironischen Stil. So lange die Hauptpersonen

noch Kinder sind, macht die Dichterin uns mit gutmütigem Spott |#f0049 : 27|



auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt

ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit

begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens

ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt

vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue

Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und

Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der

Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm

herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er

kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die

Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive)

Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht

dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet

er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.



Proben des epischen Stils:



a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke

XVI. S. 102.)



„Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren

Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei

anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der

Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes

Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der

Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre

blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach

dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze

umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes

Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer

am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen

abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem

er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein

Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte,

und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer

ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm

entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes

Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen

standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und

Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung

an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.)



b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der

Reichsfestung Ziebingen.)



Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß

mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre

Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker |#f0050 : 28|



Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse teils

Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet,

welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot

alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung.

Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte

eine solche Verletzung der Weideparität nicht schweigend erdulden, wenn sie

bleiben wollte, was sie war. ─ Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen

Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die

Festung geschickt ─ auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden ─

Schmerzensgelder wurden gefordert ─ Sturmläufer gedroht. ─ Aber die

Ziebinger, schuß- und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als

ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über

die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene

Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen

war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt- und Landphysikus,

daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif,

neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen

müsse, woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den

feindlichen Gänsen verschossen ... u. s. w.



Wir gingen da zu einem Töpfer, um ein Kabinetsgefäß zu kaufen, welches

allerdings nur dann in eine Küche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter

man's stellt, sonst nie. „Welche reine Farbengebung und Zeichnung,“ sagt'

ich, als ich in das Gefäß hineinschaute, und die Blumenstücke recht in's Auge

faßte, „Meister! Führ' Er so fort, und lief' Er sich täglich so selber den Rang

ab, Meister, ob Er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini- oder Portlandvase

überraschte? Da möchte ich den Mann sehen, der sich herstellte und

schwüre, diese könn' Er so wenig machen, als ein egyptischer Zauberer eine

Laus.“ ─ Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen

ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß

jetzo seine Schüssel saurer Milch erst ausessen, bis er allmählich sich durch den

Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel- oder Blumenstück

aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist?

Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand

ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt, und

die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. „Ach,“ sagte der Töpfer,

„vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein; und da

verfumfeiet er freilich jeden Bettel.“ So ist also die Bemerkung nicht allgemein

wahr, daß immer in Kriegsläufen, wie z. B. in Athen, die Künste

besonders blühen u. s. w. ─ (Man vgl. hiezu Bd. I S. 199.)



c. Sentimentaler Stil. (Bruchstück aus Brachvogels Friedemann.

Buch I S. 40 und 41.)



„Welch' eine stolze Versammlung Alles dessen, was Sachsen Reiches,

Schönes, Vornehmes und Berühmtes bot! Welche Fülle strahlender, froher

Gesichter! ─ War es nicht gerade, als wüßten diese Leute nicht, was eine |#f0051 : 29|



Thräne sei, als wäre unter ihnen der Schmerz ein Fremdling? ─ O prahlt

nur, wallende Federn, wehende Fächer, schwellende Busen, auf denen Demanten

blitzen! ─ Und wie das lacht und schwatzt und lustig ist, als sei die Ewigkeit

ein Traum und das Glück eine gefesselte Magd! ─ Und doch tanzt dieses

ganze Geschlecht auf seinem Grabe, und doch ist so manches Lächeln erlogen,

erzwungen; unter jenen seidenen Gewändern schlägt ein gemartertes, wimmerndes

Herz, unter diesen Sternen windet sich ein falsches, treuloses und gequältes

Gewissen. Schon seh' ich den geheimnisvollen Finger, der das Mene tekel

an die Wand schreibt, und ein schattenhaftes Gespenst, das durch die Gruppen

schreitet und bald auf diese, bald auf jene Stirn, wie sorglos sie noch heute

glänzen mag, das Siegel des Verhängnisses drücken wird.“ ─ (Als weiteres

Beispiel des sentimentalen Stils vgl. Börnes bekannte Denkrede auf Jean Paul.)



IV. Dramatik.


§ 20. Begriff der Dramatik.



1. Die dramatische Poesie (von δρᾶμα == Handlung) ist die

Poesie des Thuns oder der werdenden Handlung. Jhr Zweck ist die

Darstellung von etwas Geschehendem in mimisch und dialogisch handelnder

Form; ihre Absicht: Darstellung der Leidenschaft, die zur

That fortreißt, Darstellung jener starken Seelenbewegungen und inneren

Kämpfe, die der Mensch vom ersten Regen der Empfindung bis zum

leidenschaftlichen Handeln durchmacht, oder auch die das Handeln

anderer in ihm hervorruft.



2. Die dramatische Poesie soll das wirkliche Leben in seinen

erhabensten, entzückendsten Gestalten, in seinen ergreifendsten, reizvollsten

Weisen, durch Schönheit verklärt und durch Harmonie verbunden,

poetisch vorführen.



3. Auf die aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung der

dramatischen Poesie ist unsere Bezeichnung „Spiel“ mit seinen Zusammensetzungen

(Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel, Singspiel &c.) zu beziehen.



4. Das Skelet des dramatischen Körpers ist das, was mit den

Augen gesehen werden kann, was auf der Bühne (Scene) vorgeht.

Das gesprochene Wort trägt für die Ausschmückung Sorge.



1. Durch die Darstellung einer sich entwickelnden Handlung oder einer

Kette von Handlungen unterscheidet sich die dramatische Poesie wesentlich von

der epischen, welche Geschehenes, Thaten, Begebenheiten erzählt, oder dem

Erzähler in den Mund legt. Ebenso unterscheidet sie sich durch die handelnde

Form von der lyrischen Poesie, welche lediglich die innern Zustände (Gefühle

und Empfindungen) schildert und besingt. Jn ihrer sich selbst entrollenden

Handlung ist die dramatische Poesie die Poesie des in Bewegung begriffenen

Werdens,
während die Lyrik als Ausdruck innerer Zustände |#f0052 : 30|



und Seelenbewegungen die Poesie der Gegenwart des Gefühls, und

die Epik als Erzählen des Geschehenen die Poesie der Vergangenheit

genannt werden kann. Das Drama, welches sich aus der epischen und lyrischen

Poesie entwickelt hat, wurde schon von Aristoteles (Poet. 26) als höchste

Poesie
bezeichnet. Derselbe räumt der Epopöe die zweite Stelle ein, sofern

sie dramatisch ist oder es sein kann. Das Drama war erst nach Ausbildung

der Epik und Lyrik möglich. Es ist die Blüte aller Dichtkunst, indem es durch

Verschmelzung von Epik und Lyrik ─ also der äußern Wirklichkeit und der

innern Seelenzustände ─ ebenso auf die Anschauung wie auf die Empfindung

zu wirken vermag. (Aristoteles sagt in dieser Hinsicht in Poet. 3: ὅθεν

καὶ δράματα καλεῖσθαί τινες αὐτά φασιν, ὅτι μιμοῦνται δρῶντας,

desgleichen in Poet. 2: μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας.)



Der Handelnde repräsentiert die subjektive gegenwärtige Empfindung im

Affekt, in der Leidenschaft. Anstatt Erzählung der Begebenheiten ─ wie im

Epos, ─ führt das Drama die Begebenheit in dialogischer Form wirklich auf,

und es werden die Begebenheiten im Drama zur That, oder besser zu dem,

was man eben Handlung (d. i. die in Entwickelung begriffene entscheidende

That bis zur Vollendung) nennt. Jm Drama begiebt sich nicht nur Verschiedenes

mit und an den auftretenden Personen, sondern diese zeigen durch

eigene handelnde Vor- und Darstellung alle Seelenprozesse, welche in der

Hauptperson des Drama bis zur leidenschaftlich vollbrachten That sich vollziehen,

alle inneren Motive in ihrer vollen Geltung, weshalb die griechische Bezeichnung

Drama (von δρᾶν == handeln) viel bezeichnender ist, als die lateinische

fabula, die doch nur das epische Moment charakterisiert. (Der Lateiner hilft

sich, indem er sagt: fabulam agere.)



2. Nach Shakespeare (Hamlet Akt III, Scene 2) bezweckt die dramatische

Poesie, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen

Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der

Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (Jm Englischen lauten die letzten

Worte: to show ... the very age and body of the time his forme and

pressure
. Delius (3. Aufl. Elberf. 1872. II. 391) kommentiert: Dem

Jahrhundert (age) selbst wie der in Eins zusammengefaßten Zeit (body of

the time
) ihre Gestalt und ihren Ausdruck zu zeigen. Nach S. Johnson

bedeutet age bei Shakespeare any period of time attributed to something

as the whole or part of his duration
: also jede Periode, den ganzen

Verlauf der Zeit, auch den Charakter der Zeit soll das Drama nach Shakespeare

darstellen. Wir möchten ergänzend auch an die verkörperte Zeit, d. i. die

Zeitgenossen denken, insofern sie persönliche Zuschauer resp. Leser sind.



3. Das Wesen des Drama ist die in Kampf, Gegenkampf, Spannung &c.

sich zeigende Handlung. Diese bedarf zu ihrer Vorführung einer Bühne (σκηνή),

der Dekorationen, der Kostüme, wobei selbstredend auch ein Schauplatz (θέατρον)

und Zuschauer vorausgesetzt sind. Die Ausmalung, Schilderung und die Beschreibungen

der Gegenden sind beim Drama Aufgabe der Scenerie.

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4. Zum Ausdruck der innern Empfindungen und der Zustände, welche

in einem kausalen Verhältnisse stehen, bedient sich das Drama der Gesprächsform,

des durch Mimik und Gestikulation unterstützten Wortes,

der wechselnden Rede und Gegenrede.



§ 21. Handlung, Fabel und Charaktere im Drama.



Die unmittelbar vor den Augen des Zuschauers sich entrollende

Begebenheit ist die Handlung. Sie wird als äußere That durch den

freien Willen des Handelnden hervorgebracht. Sie unterscheidet sich

wesentlich von der Fabel, unter welcher lediglich diese nicht zur Darstellung

gelangte Begebenheit zu verstehen ist.



Die handelnden Personen nennt man die Charaktere.



Die Fabel im Drama ist die äußere stufenweise Entwickelung der Begebenheiten,

aus denen die That resultiert. Oder besser: Unter Fabel im Drama

versteht man die nach dem Zweck des Dichters eingerichteten Begebenheiten,

deren Anfang, Fortgang und Ende sich der Dichter dem Ausgang entsprechend

zubereitet, während Handlung die in Ausführung begriffene Begebenheit

ist.
Oder endlich: Handlung ist dasjenige, wodurch die Begebenheit geschieht,

ihren Fortgang gewinnt, ihr Ende erreicht: die Vorführung alles dessen,

was sich begiebt, was geschieht.



Über die Begriffe Handlung und Fabel herrscht selbst bei den gewiegtesten

Dramaturgen keine Übereinstimmung. Manche bezeichnen als Fabel,

was wir als Handlung bezeichnen, und umgekehrt. Die Römer nennen die Handlung,

wie erwähnt, fabula. (Vgl. S. 30 d. Bds.)



Die Handlung, welche im freien, nach bestimmter Absicht handelnden

Wesen ihren Grund haben und also aus den Charakteren und Verhältnissen

der Personen gewissermaßen entspringen muß, ist so wichtig, daß die handelnden

Personen erst in zweite Linie zu setzen sind. Ja, sie ist das Wichtigste

im Drama. Aristoteles sagt (Poet. 6): „Man handelt nicht, um seinen

Charakter darzustellen, sondern man macht durch seine Handlungen zugleich

auch seinen Charakter kund.



Daher sind die Thatsachen und die Fabel der Endzweck der tragischen

Darstellung, der Grundbestandteil und gleichsam die Seele der Tragödie.



Das zweite darin sind die Charaktere, d. h. die idealen Personen,

welche durch Kraft der Empfindung, Eigenart des Willens und Wesens besondern

Charakter besitzen. (Das Dritte sind nach Aristoteles die Gedanken, d. i. die

Gesamthandlung, die über die Entfaltung des Charakters hinübergeht, oder

wodurch die Charaktere ihr inneres Leben bethätigen: die nach bestimmter

Jdee organisierte Begebenheit, welche eben durch die Charaktere dargestellt wird.)



Eine Tragödie ohne Handlung ist undenkbar; aber immerhin wäre eine

solche ohne individuelle Charaktere möglich.



Charakterschildernde Reden und geistreiche Gespräche geben kein Drama,

aber sie werden in einem Drama möglich sein, in welchem die Handlung fortschreitet.

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§ 22. Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden.



1. Wesentlich ist im Drama der Fortschritt der Handlung. Es

ist daher ein Mangel des Drama, wie ein Verstoß gegen seine Schönheitsgesetze,

wenn das überwiegende lyrische oder epische Moment diesen

Fortschritt hindert, d. h. wenn die auftretenden Personen anstatt zu

handeln, sich in lyrischen Tiraden ergehen, oder den Fortschritt der

Begebenheit mehr erzählen und beschreiben, als durch wirkliche plastische

Handlungen vorführen.



2. Einschaltungen und Zwischenhandlungen, Episoden, können nur

mit gewisser Beschränkung gestattet werden.



3. Kein deus ex machina, kein Schicksal, keine Gottheit darf den

Fluß der Handlung stören.



1. Es soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine lyrischen und epischen

Stellen im Drama vorkommen könnten. Jn den besten Dramen finden sich

dergleichen, z. B. im Tell das Alpenjäger- und Fischerlied, die Erzählung vom

Ursprung der Schweizer &c.; im Wallenstein Erzählung des schwedischen Hauptmanns;

in der Jungfrau von Orleans Raouls Erzählung I. 9. Johannas

Monolog I. 4 u. s. w.



Erzählende Stellen sind sogar am Platze, wo wesentliche Momente, die

nicht auf der Bühne darstellbar sind, mitgeteilt werden müssen, um die Handlung

des Helden zu motivieren.

(Vgl. hierzu:

Segnius irritant animos demissa per aurem,

Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, et quae

Ipse sibi tradit spectator. Non tamen intus

Digna geri, promes in scenam; multaque tolles

Ex oculis, quae non narret facundia praesens:

Ne pueros coram populo Medea trucidet,

Aut humana palam coquat exta nefarius Atreus,

Aut in avem Progne vertatur, Cadmus in anguem.

Quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi.


Horatius, A. P. 180 u. flg.)



Jn besonderer Macht kommt u. a. bei Shakespeare in Romeo und Julie

die Leidenschaft der Liebe zum Ausdruck und zeigt, daß das lyrische Element

die Vorstufe des dramatischen ist. Das lyrische oder epische Element muß den

Verlauf der Handlung unterstützen, in genauer Verbindung mit dem Fortschritt

derselben stehen, zu deren größerer Veranschaulichung dienen, aber es darf

nicht dominieren wollen. Der Dichter kommt sonst in Gefahr, den Rahmen

der dramatischen Technik zu durchbrechen und seinem Gedichte die lyrische Form

zu verleihen, wie es Rückert in „Saul und David“ that, wo er z. B. (Ges.

Ausg. Bd. IX, S. 202) einen allzulangen, lyrisch. gefärbten Monolog mit

einem Sonett beginnt u. a. m.



2. Die sich absichtsvoll entwickelnde Handlung muß das Wesentliche des

Drama sein. Kein Moment darf im Drama sich finden, das nicht auf das |#f0055 : 33|



Endziel dieser Handlung hindrängte. Daher sind auch alle Einschaltungen und

Zwischenhandlungen (sog. Episoden), sofern sie nur äußere und keine innere

Verbindung mit der Handlung haben, unstatthaft. Sie thun der Mustergültigkeit

des Drama Eintrag, indem sie der Abgeschlossenheit der Handlung entgegenstreben

und sie hindern, aufhalten. Lediglich als Schmuck können sie an

Stellen, wo die Handlung Ruhe ermöglicht, zu Situationsbildchen erweitert

werden, um dem Dichter die Jllustration eines bedeutenden Grundzuges, einer

Eigenartigkeit seines Helden, einer interessanten Gestaltung der Nebenfiguren zu

ermöglichen. Episoden mit innerer Verbindung dienen im Drama auch zur

Motivierung. (Lady Milford ist z. B. die Motivierung der Härte des Präsidenten

gegen die Liebe seines Sohnes zu Luise. Jch verweise auch auf die Liebesepisode

des Max und der Thekla in Wallenstein. Aristoteles Poet. 17 sagt:

ἐν μὲν οὖν τοῖς δράμασι τὰ ἐπεισόδια σύντομα, ἡ δ' ἐποποιία

τούτοις μηκύνεται.) Shakespeare hat so viel des Schönen, die Totalwirkung

Fördernden in Episoden gegeben, daß sie niemand bei diesem Dichter vermissen

möchte; z. B. Hamlets Unterhaltung mit Schauspielern und Hofleuten, die

Totengräberscenen &c. sind für die psychologische Charakterentwickelung wertvolle

Zieraten, die dem Ganzen verwachsen sind und nicht ohne Schädigung abgelöst

werden können.



Ähnlich ist es bei Lessing, dessen Maler und dessen Gräfin Orsina in

Emilia Galotti, Riccaut in Minna von Barnhelm, Derwisch in Nathan &c.

als Muster der deutschen Episoden bezeichnet wurden. Goethe hat Episoden in

den regelmäßigen Dramen Tasso, Clavigo, Jphigenia vermieden, nicht aber

Schiller, der (z. B. durch den überflüssigen Parricida in Tell) des Guten zu

viel thut.



3. Schon Horaz ist gegen das Eingreifen eines deus ex machina.

(Nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit. A. P
. 192.

Vgl. hiezu Aristoteles Poet. 15.) Jnteressant ist, wie Euripides und Goethe

sich unterscheiden. Ersterer hat in der Katastrophe seiner Jphigenia des Eingriffs

der Athene nötig, während Goethe alles so fest exponiert und vorbereitet

hat, daß er dieses Eingreifens entraten konnte.



§ 23. Anforderungen an die Handlung.



Die Hauptforderungen an die Handlung beziehen sich auf ihre

Einheit, Wahrscheinlichkeit und Wichtigkeit oder Bedeutung.



1. Einheit der Handlung. Unter Einheit der Handlung ist das

Hinstreben sämtlicher Teile des Drama nach einem gemeinsamen letzten Ziele

der Haupthandlung zu verstehen: also Einheit des Zweckes und beabsichtigte

Richtung des Gemütes des Zuschauers nach diesem einen Zweck. (Vgl. Aristoteles

Poet. 23.) Die Einheit verlangt, daß die Handlung ─ sie mag aus noch

so vielen Einzelheiten zusammengesetzt sein ─ die gleiche vom Anfang bis

zum Schluß der dramatischen Dichtung bleibe. Die Einheit der Handlung, bei |#f0056 : 34|



der das Ende dem Anfang entspricht, bedingt nur einen Helden, nur eine

Haupthandlung, auf die sich alles bezieht. Ein gutes Drama kann anfänglich

als aus mehreren Handlungen zusammengesetzt erscheinen, aber es

müssen diese einzelnen Handlungen wie Bahnen einander nahe rücken und sich

endlich zu einer Haupthandlung vereinigen. Man vergleiche z. B. Shakespeares

Kaufmann von Venedig, wo ein Liebesabenteuer und eine Rechtssache nebeneinander

herlaufen. Jn Schillers Tell laufen sogar drei Handlungen neben

einander her, wodurch mehrfach das Jnteresse für die Haupthandlung geschädigt

wird. Die Familie Attinghausen könnte leicht ganz gestrichen werden, um die

Abschwächung des Jnteresses an der Haupthandlung, sowie die vielen Striche

unserer Schauspieler zu vermeiden. Jm „Geräuschlosen Feldzug“ vom Verfasser

(2. Aufl., Leipzig, C. G. Theile) läuft neben der Liebe der Fürstin das Unglück

der Familie Warandin her, um sich zur rechten Zeit als wesentliches Moment in

die Haupthandlung einzufügen. Jn A. Werners Martin Luther, dessen geniale

Einzelheiten wie zerstreute Blitze durch die mystische Nacht des ganzen Schauspiels

hindurch zucken, und dessen Gebetsscene am Schlusse des II. Aktes

wunderbar ergreifend wirkt, fehlt doch ganz und gar die Einheit der Handlung.

Der Dichter hat anstatt eines Drama eine Reihe wandelnder Bilder ohne

inneren Zusammenhang gegeben, in denen selbst die Gestalt des Helden einer

nebelhaften Verschwommenheit anheim fällt und mehr durch Pathos der Rede,

als durch Energie der That sich an unser Jnteresse wendet. Luther in Wittenberg,

Luther in Worms, Luther auf der Wartburg: das sind die Hauptpartieen

des Stücks, von denen jede einzeln für sich als selbständiges Drama gelten

sollte und könnte u. s. w.



Lessing bewahrt die Einheit der Handlung am meisten; Goethe beweist sie

in Clavigo, in Tasso und in Jphigenia; Schiller in Kabale und Liebe. Schillers

Neigung zu Episoden und Doppelhelden ließ ihn zuweilen die Grenze des Erlaubten

streifen, z. B. in Maria Stuart oder Wallenstein, wo ihn eine zu

dunkle Figur zur Schaffung der glänzenden des Max veranlaßt, die sich sodann

als Genius erweist, dem kein Gehör geschenkt wird. Es stört die Einheit,

wenn z. B. Schiller den feindlichen Brüdern in der Braut von Messina

überwiegende Bedeutung verleiht, was Klinger in den Zwillingen (dem Vorbilde

Schillers) dadurch vermieden hat, daß er den einen der Zwillinge von

vorne herein in den Vordergrund stellte. Jn Äschylus' „Sieben gegen Theben“

kommt nur Polynices auf die Bretter, vom zweiten Bruder werden die Begebenheiten

erzählt &c.



2. Wahrscheinlichkeit der Handlung. Wahrscheinlich ist die Handlung,

wenn sie jeden Augenblick in diesem oder jenem Lebenskreise möglich ist.

Zur Wahrscheinlichkeit der Handlung gehört, daß der Stoff der Wirklichkeit

entnommen und allgemein verständlich ist, daß nicht Unrichtigkeiten vorkommen,

die jeder Gebildete rügen muß (z. B. das Absenden von Seeschiffen am

böhmischen (!) Ufer, oder das Schießen mit Kanonen zur Zeit Karls des

Großen), daß nicht gegen die Stimmungen und berechtigten Empfindungen des

jeweiligen Publikums verstoßen werde, daß die Menschen, welche das Drama |#f0057 : 35|



darstellt, eben Menschen bleiben u. s. w. Wenn Riesen, Elfen, Zwerge auf

unseren Bühnen erscheinen, so verletzt dies die Wahrscheinlichkeit nicht, da diese

Gestalten im Volksglauben Teil an menschlicher Empfindung haben. Mephisto

ist Lustspielfigur. Shakespeares Zuschauer faßten den Geist Banquos, Cäsars,

des alten Hamlet und die Hexen in Macbeth gewiß anders auf als wir.

Aber auch uns stören sie nicht, weil wir uns in die frühere Anschauung leicht

zu versetzen vermögen. Für uns sind sie Arabesken, welche die Anschauung

und Stimmung der Zeit widerspiegeln. Der Geist Banquos ist uns z. B.

eine mit psychologischer Feinheit nach außen projicierte Hallucination des bösen

Gewissens in der eigentümlichen Situation, die dann natürlich als real genommen

wird und somit auch mit der Anschauung der Zeit harmoniert.



3. Wichtigkeit der Handlung. Die Handlung ist wichtig, bedeutungsvoll,

wenn sie in ihrem Verlauf, wie in ihrem Ausgang das Jnteresse aller

Edlen wachzurufen vermag. Um dies zu erreichen, muß sie vor allem jene

Lebenskreise aufsuchen, die das Leben widerspiegeln und die einer großen Jdee

Ausdruck verleihen. Nur eine solch bedeutende Handlung kann ihre großen

Personen rechtfertigen. Bei einer unbedeutenden Handlung wird ein Mißverhältnis

der großen leidenschaftlichen Bewegung der Charaktere unschön berühren.

Eine wichtige Handlung vermag durch lebhafte Bewegung der Charaktere

eine fortdauernde Steigerung der Wirkungen zu erstreben,
wie sie

z. B. politische Staatsaktionen, Handlungen eines staatsklugen Fürsten nicht

ergeben, wohl aber die Stoffgebiete der innern Kämpfe unserer Denker, Erfinder,

Künstler. Wir lieben für die Beweglichkeit keine epischen Berichte, wohl

aber wichtige Aktionen, wie sie den Griechen trotz Flugwerken und perspektivischer

Malerei unmöglich waren, z. B. Kriegführung u. s. w.



§ 24. Die Aristotelische Forderung an das Drama.



1. Aristoteles verlangte Einheit der Handlung, des Ortes und

der Zeit.



2. Die Franzosen beachten auch bis heute seine Forderung: Einheit

der Zeit, der Handlung und des Ortes.



3. Wir Deutsche begnügen uns mit der Einheit der Handlung.



1. Für ein gutes Drama fordert Aristoteles ursprünglich weniger die

Einheit des Ortes, als Einheit der Zeit und der Handlung. Es

war dies selbstverständlich, da die Handlung ohne Unterbrechung und Einschieben

nebenhergehender Handlungen vor den Augen des Zuschauers sich abwickeln

mußte, weil der Chor, anders als bei Akteinteilungen, nie die Bühne

verließ und die Pausen durch Gesang (in der Komödie durch Parabasen) ausfüllte.

Die Zeit der Handlung durfte einen Sonnenlauf, also die Zeit von

Sonnenuntergang bis wieder dahin nicht überschreiten, und der Ort durfte,

wenigstens bei der Genossenschaft des Sophokles, nicht wechseln.



2. Die sog. klassische Schule der Franzosen hält an der Aristotelischen |#f0058 : 36|



Lehre aus gewohnter Pedanterie fest, ohne wie bei den Griechen durch Einrichtung

der Bühne und durch den Chor dazu gezwungen zu sein. Es erklärt

sich das vielleicht dadurch, daß die Franzosen sich an die geläufige Jllusion

halten, welche die auf der Bühne erwirkten Jllusionen oder Vorstellungen

genau dem Leben adäquat macht, so daß z. B. eine Stunde auf der Bühne

auch einer Stunde der Wirklichkeit entspricht, daß ferner der Ort bleibt, weil

das Leben keinen unvermittelten Scenenwechsel giebt. Aber die Täuschung

sollte wenigstens nur so weit gehen, als es das Prinzip des Schönen gestattet.

Deshalb ändern wir Deutsche so oft, als es die Handlung fordert; uns gilt

die Minute oft für einen Tag. Wir haben eben Vertrauen in die geistigen

Fähigkeiten des Zuschauers, dessen Phantasie wir mehr als ein bloßes Hinnehmen

zumuten, und der bei uns nicht teilnahmloser Zuschauer ist (um ─

wie in Frankreich ─ alles ruhig genießend am Auge vorübergehen zu lassen),

sondern thätiger Mitdichter.



3. Die französische Schule läßt z. B. zur Erreichung der Einheit des

Ortes in ein- und demselben Zimmer die Hausfrau wie die Kammerzofe ihre

Liebesintriguen abspinnen und zum Austrag bringen; während nach Shakespeares

Vorgang besonders die deutschen Dramatiker ohne Nachteil für den ästhetischen

Eindruck sich eine größere Freiheit gestatten und namentlich seit Lessing (vgl.

Hamburger Dramaturgie) nur die Einheit der Handlung respektieren, derselben

die Einheit des Ortes und der Zeit unterordnend. Wohl muß das

Drama, das ja in wenigen Stunden vorzuführen ist, sich auch in der Zeit

beschränken, wohl fordert schon die Einheit der Handlung, daß nicht zu Verschiedenartiges

verbunden werde, und daß sich nicht die Helden mit ihren

Zwecken nach einander ablösen (wie etwa Cäsar und Brutus), aber für die

strenge Aristotelische Lehre läßt sich doch kein Beweis der Ästhetik erbringen.



§ 25. Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held.



Die Handlung wird nach § 20 repräsentiert durch die handelnden

Personen, die sog. Charaktere, vorzugsweise aber durch eine Hauptperson,

um deren Geschick sich alles dreht, und die aus freiem Entschluß

ihrem ganzen Wesen nach nicht anders handeln kann, als sie

eben handelt. Man nennt diese Hauptperson im Drama den Helden.

Jhm gegenüber sind die übrigen Personen Nebenpersonen. Statisten

nennt man sie, wenn sie als stumme Teilnehmer an der Handlung

für irgend einen Zweck auf der Bühne erscheinen.



Nach der Hauptperson sind viele klassische und moderne Dramen

benannt.



Die hauptsächlich handelnde Person ─ der Held ─ muß einen ausgeprägten

Charakter, einen bestimmten Zweck haben. Der Held muß der Centralpunkt

des Ganzen sein, er muß die sich entgegentürmenden Widerwärtigkeiten,

Hindernisse, Jntriguen kräftig bekämpfen, so daß durch den Aufbau dieser |#f0059 : 37|



Widerwärtigkeiten spannende Verwickelungen entstehen mit einer logischen Schürzung

des sog. dramatischen Knotens. Ein fortwährend schwankender Charakter paßt

für eine komische Figur, nimmermehr aber zum Helden eines Stückes, das

feste Ziele und Endzwecke haben soll. Ferner eignet sich ein Held, der nur

duldet, so wenig für's Drama, als ein solcher, welcher lediglich handelt ohne

die Rückwirkung seiner Handlungen zu verspüren. Er ist dann ein epischer

Held, ähnlich wie Odysseus, der bis zum Schluß des Epos ohne Veränderung

derselbe listige, ausdauernd unternehmende Held bleibt.



Ein dramatischer Held verändert sich in seinen einflußübenden Handlungen

durch das Werden. Man betrachte bei Othello, Richard III., Macbeth &c.

die Seelenstimmung, die Gewissensschläge, das Grausen, das diese dramatischen

Charaktere durchleben. Weiche Naturen, die einer leidenschaftsvollen Erregung

nicht fähig sind, passen ebenso wenig für's Drama, als hartgesottene Scheusale,

die jede Handlung unberührt läßt. Aristoteles (Poet. 2) will weder untadelhafte

noch durchaus böse Charaktere haben. Jedenfalls soll der Held in der

Handlung mit den sittlichen Anforderungen des Jahrhunderts im Einklang

stehen. Jn der Nichtbeachtung dieser Forderung ist wohl der Grund zu suchen,

weshalb z. B. Sakuntala mit der eigenartigen Ringgeschichte und der stark

orientalisch gefärbten Scene in der Laube (selbst in der verdienstlichen Wolzogenschen

Bearbeitung) für unsere deutsche Bühne nicht paßt, während ein

Hamlet, ein Othello nicht von ethischen Anschauungen des Jahrhunderts und

des bestimmten Volkes abhängen, da eben die Leidenschaft etwas allen Jahrhunderten

Gemeinsames ist. Shakespeare hat nur solche Helden gewählt, welche

durch beispiellose Energie und wunderbare Kraft der Leidenschaft und des

Willens die Handlung lebhaft vorwärts treiben. Die Helden der Deutschen

waren im vorigen Jahrhundert meist durch äußere Verhältnisse bewegt, und

selbst Schiller gab nicht selten den Gegenfiguren im ersten Teil die Führung.



§ 26. Stoff des Drama.



Einzelne Dramatiker entlehnen ihre Stoffe aus der Sagenwelt

und Geschichte, andere aus dem gesellschaftlichen Familienleben, andere

aus schon vorhandenen dichterischen Arbeiten, (aus der Novelle, aus

dem Romane, aus der Ballade), andere endlich aus der eigenen Erfindung,

aus der Phantasie. (Vgl. Bd. I. § 16. S. 36.)



Ein wirklich dramatischer Stoff darf in seiner Ausführung weder

gegen die ästhetischen, noch gegen die Rechts- oder Sittlichkeitsverhältnisse

des Zuschauers und seiner Zeit verstoßen.



Alle Lebensphasen, alle Verhältnisse des Menschen bilden die Domäne

des Dramatikers für den dramatischen Stoff. Hier eine Badekur, leichtes Leben,

dort Faust im Ringen nach dem Höchsten ─ nach Erkenntnis; hier Burleske

und Spott, dort Ernst und Würde: Aristophanes und Sophokles! Hier

ein Handel, der sich um nichts dreht, dort eine den Untergang eines Reiches |#f0060 : 38|



erzielende Jntrigue, hier Robert und Bertram, dort Julius Cäsar. Eine große

Anzahl der Shakespeareschen Dramen wurzelt in den so mannigfaltigen tiefen

Gemütsstimmungen, welche in der Seele des Menschen sich regen, oder in

sündlichen Leidenschaften, die mit ihren riesengroß anwachsenden Begierden das

ganze Wesen erfassen, verwildern, beherrschen u. s. w. Bei den Griechen, die

unsere Liebesscenen und deren Stoffgebiete in ihren Dramen nicht kannten,

enthält jeder Sagenkreis Verlust und Wiederfinden: das Erkennen. Kinder

finden z. B. ihre bis dahin ungekannten Eltern, Gatten begegnen sich nach

langer Trennung, Gäste, Freunde und Feinde, welche Namen und Absicht verhüllten,

enthüllen sich u. s. w.



§ 27. Jdee des Drama, Jdealisieren, Jdeale.



1. Der Dichter muß sich den rohen Stoff, den er bearbeiten

will, erst zurichten, herrichten; er muß ihn dichterisch gestalten. Alles

Zufällige, Gräßliche, Verletzende, Unsittliche muß er von ihm losschälen

und aus eigener Erfindung ihn zu einem einheitlichen Gefüge

mit festem Ziel gestalten. Diese so entstandene neue Einheit, dieses

Ziel ist die Jdee des Drama.



2. Man spricht von Jdealisieren des Stoffs, wenn dieser nach

solch einheitlicher Jdee künstlerisch umgebildet wird, und man nennt

auch die Personen des Dichters, im Gegensatz zu ihren Stoffbildern,

Jdeale. (Vgl. den geschichtlichen und den Schillerschen Wallenstein.)



3. Schon Aristoteles verlangt vom dramatischen Dichter das Jdealisieren.





1. Obwohl die originelle Erfindung höchst verdienstlich ist, so ist es doch

nicht der Stoff allein und somit auch nicht die Erfindung ausschließlich, wodurch

sich der Genius bewährt, vielmehr ist es die Gewalt der Darstellung,

die Weltanschauung, d. i. das, was der Dichter aus der Fabel zu machen

versteht: wie er eine Jdee im Drama entfaltet.



2. Jst der Stoff aus der Geschichte, so hat der Dichter in der Veränderung

wirklicher Umstände und in der Hinzudichtung neuer Momente sorgfältig

zu sein, um die innere Wahrheit nicht zu verletzen. Aber auch sonst

hat er die Stoffe erst zu dramatischen Stoffen zu gestalten, d. h. eben: er

hat sie zu idealisieren.
So hat Shakespeare seine der italienischen Novelle

entnommenen Stoffe nicht etwa bloß dramatisiert (d. i. in dramatische Dialogform

gebracht), sondern die schöpferische Gewalt seines Genius hat sie neu

gebildet; Shakespeare hat sie idealisiert. Sollen Personen aus der mythischen

oder sagenhaften Zeit als Träger von Jdeen dargestellt werden, so muß die

Behandlung so allgemein werden, daß sie lediglich zu typischen Personen umgeschaffen

werden. Wenn freilich der Dichter den Stoff modern gestalten will,

darf er eine individuelle Behandlung an Stelle der typischen treten lassen.

Äschylus hat mehr typische Behandlungsweise, Shakespeare mehr individualisierende. |#f0061 : 39|



Jedenfalls darf der Dichter niemals viele typische Personen neben

einander stellen, während die individuelle Zeichnung keine andere Beschränkung

fordert, als die der Übersichtlichkeit.



Die Vergeistigung des rohen Stoffs zu einer poetischen Jdee zeigt folgendes

Beispiel Gustav Freytags (S. 8 ff. a. a. O.): Ein junger Dichter des

vorigen Jahrhunderts liest folgendes Zeitungsinserat: Stuttgart vom 11. Am

gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste

Tochter Louise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot

auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche

Obduktion ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen

waren. Man spricht von einem Liebesverhältnis, welches der Vater des Majors,

der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal

des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Teilnahme

aller fühlenden Seelen.



Über diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie

des Dichters das Bild eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines

unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus

welcher der Liebende hervorgetreten ist, und der engen Atmosphäre eines kleinen

bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu

einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfnis

geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem

Verhältnis von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang

findet die schaffende Seele in einer Täuschung, dem Verdachte von der

Untreue der Geliebten, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes

geworfen ist. Jn solcher Weise macht der Dichter den Bericht sich und andern

verständlich, indem er, frei erfindend, einen inneren Zusammenhang hineinträgt.

Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz

selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht,

und etwa folgenden Jnhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch

den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt,

daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereignis

der Wirklichkeit zu einer dramatischen Jdee geworden. Von jetzt ab ist das

wirkliche Ereignis dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen

ab; ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern

Charakter und Stellung war, kümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung

und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein

verständlichen Jnhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen

des Stückes sind nicht mehr zufällige und individuelle, sie könnten geradeso

hundertmal wieder eintreten und bei den angenommenen Charakteren und dem

gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein....



Sogar aus dem oben erdachten Zeitungsinserat ist der beginnende Umbildungprozeß

bereits erkennbar. Jn dem letzten Satz: „Man spricht von einem

Liebesverhältnis, welches u. s. w.“ macht der Berichterstatter den ersten Versuch,

die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, die |#f0062 : 40|



Katastrophe zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhtes Jnteresse zu verleihen,

daß ihrem Wesen ein anziehender Jnhalt gegeben wird ─ u. s. w.



Um an einem andern Beispiel zu zeigen, wie der Dichter den Stoff

dramatisch gestaltet, wie er ihn durch Umarbeitung idealisiert, motiviert, neu

schafft, erinnere ich noch daran, daß Schiller aus der geschichtlichen, ränkesüchtigen,

buhlerischen Maria Stuart eine ideale, über alles menschliche Leid

erhabene vorbildliche Fürstin schuf, aus deren Charakter sich das Warum

ihres tragischen Geschicks mit Notwendigkeit entrollte. Das Wesen Wallensteins

hat er für einen ergreifenden Eindruck so umgebildet, daß der finstere, angsterweckende

Bandenführer ein peripatetischer Philosoph, ein hochsinniger, träumerisch

reflektierender General wird; und hiefür dichtet er die Begebenheiten um, schafft

er neue Charaktere (z. B. den Max), gestaltet er Schicksale und Schuld, verfährt

er mit souveräner Dichterfreiheit, und gliedert er sein Material in dramatische

Momente.



3. Schon Aristoteles verlangt (Kap. 17. 5. 6. 7. 8.), was Freytag im

obigen Beispiel ausführte, daß sich nämlich der dramatische Dichter bei überlieferten

wie bei selbsterfundenen Stoffen zuvörderst die allgemeinen Grundzüge

entwerfe, daß er sodann die Stoffe von allen Zufälligkeiten entkleide, bevor

er sie ins einzelne ausführt. Am Stoff der Jphigenia zeigt Aristoteles, wie

der dramatische Dichter den Hergang erst in allgemeinen Umrissen zur Anschauung

bringen müsse, wie also die Jphigenia und der Orestes im Drama

durchaus anders gestaltet sind, als im überlieferten Stoffe. Er beweist, daß

die Beibehaltung der Namen des rohen Stoffes für den schaffenden Dichter

fast gleichgültig ist. Erst wenn der Dichter Handlung und Charaktere aus dem

Zufälligen, aus dem geschehenen Faktum herausgeschält und einen allgemein

gültigen Jnhalt an dessen Stelle geschaffen habe, möge er den Personen die

Namen des rohen Stoffes und die Episoden desselben einfügen, „dabei aber

wohl darauf achten, daß die Episoden wirklich zur Sache gehören, wie z. B.

beim Orestes der Wahnsinnsanfall, durch welchen seine Gefangennahme zu Wege

gebracht wird, und seine Rettung durch die (vorgebliche) Reinigung.“



§ 28. Tendenz des Drama.



Die schwebende Jdee der Gegenwart nennt man Tendenz. Die

Tendenz hat es mit den Tagesfragen zu thun.



So ist die Befreiung des Menschengeschlechts, wie des Jndividuums als

absoluter Begriff Weltidee; die Befreiung Jtaliens von den Bourbonen und

von der päpstlichen Herrschaft als relativer Begriff Zeitidee; diese Jdee ist

eben die Tendenz des Drama.



Das Tendenzdrama wird immer nur politische und sociale Konflikte zum

Stoff der Handlung wählen, nie aber einfach menschliche Konflikte, deren Darstellung

doch die Bühne allein gewidmet sein soll.



Die Tendenz erhält Berechtigung, wenn sie sich mit der allgemeinen Weltidee |#f0063 : 41|



verschmilzt, wie es Lessing that, der von dem widerwärtigen Dogmenkampf

mit der Sehnsucht erfüllt wurde, im philosophischen Drama „Nathan“

der Toleranz und Gleichberechtigung einen Ausdruck zu geben. Nathan war

gegenüber einem Göze, Wöllner und Konsorten Tendenzstück, im Hinblick auf

die Weltidee der Toleranz hat es ewige Bedeutung.



§ 29. Das Motivieren im Drama.



Alle überraschenden Ereignisse in der Handlung des Drama müssen

so vorbereitet und erklärt sein, daß sie als wahrscheinlich erscheinen;

sie müssen ihre Begründung erhalten. Man nennt dies motivieren.



Durch Motivieren bringt der Dichter die einzelnen Teile der Handlung in

enge Beziehung, in einheitlichen Guß und Fluß, durch sie bewirkt er das dramatische

Jdealisieren seines Stoffes (§ 27). Jch erinnere beispielsweise daran,

wie Shakespeare durch feine Motivierung eine kleine Novelle zur Tragödie

Romeo und Julia gestaltet. Er führt die übermütigen Genossen des Romeo

ein, um diesen schwermütig erscheinen zu lassen. Er schafft die Masken= und

die Balkonscene, um die entstehende Zuneigung der Liebenden glaubhaft zu

machen und um zu beweisen, wie die süße Liebesleidenschaft das treibende Agens

edler Liebenden wird. Er schafft die Figur des Lorenzo, um Verwicklung und

Katastrophe zu motivieren. Er begründet den Haß Tybalts gegen Romeo und

dessen Genossen schon in der Zwischenscene beim Maskenfest, um später durch

Entfaltung der stärksten Motive, zu denen der Tot Mercutios gehört, Romeo

zum Kampfe zu reizen. Die Novelle läßt hier den Romeo ohne weiteres verbannen.

Shakespeare zeigt jedoch erst durch Motivierung den edlen Charakter

der Julia, um für deren späteren verzweifelten Entschluß das Substrat zu liefern.

Der Brautnacht läßt der Dichter das Versprechen des als heftig und hart

motivierten Vaters vorausgehen, dem Paris die Tochter zu geben. Nun motiviert

der Dichter auch noch durch Herbeiziehung des Zufalls, der sich

an Schlaftrunk und Begrabenwerden reiht und dem Zuschauer als wahrscheinlich

erscheint. Damit das Unglück um so unvermeidlicher erscheine, läßt seine

Motivierung auch noch den Paris vor der Gruft töten. Alle Hoffnung sinkt:

─ Untergang! Das ist eine untadelige Motivierung! So zeigt Shakespeare

den Unterschied zwischen epischer Darstellung und dramatischer Verbindung. Er

zeigt aber auch, um die Worte des Aristoteles in § 20 zu gebrauchen, daß

die Handlung das Erste und Wichtigste, die Charaktere erst das Zweite sind.



§ 30. Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung.



1. Der Aktion des Helden im Drama (speziell in der Tragödie)

stellt sich die Reaktion entgegen.



2. Mit Hinzurechnung einer Einführung hat daher das Drama

an sich schon eine Dreiteilung.

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3. Neben den Dramen, in welchen der Held dem Gegenkampf

unterliegt, giebt es deren, in welchen er als Sieger hervorgeht. (Wir

werden diese Gattung als Schauspiel weiter unten zu behandeln haben.)



1. Jn vielen Dramen schreitet die innere Bewegung der Hauptperson

bis zu jenem Punkte vorwärts, wo sich sein ganzes Sein zur folgenschweren

That entschließt, oder, wie im Wallenstein, zur entscheidenden That gedrängt

wird.
Von hier tritt die Umkehr der Handlung ein. Nun wirkt das Thun

des Helden auf ihn zurück, es macht ihn verantwortlich und führt (in der

Tragödie) seinen Untergang herbei. Der erste Teil des Drama ist also

Aktion, der zweite Reaktion.
So sind die Tragödien Shakespeares gebaut,

(Othello und Lear ausgenommen), so Wallenstein.



2. Der Bau dieser Dramen zeigt den Kampf des Helden und den Gegenkampf

oder die Bekämpfung desselben, das Aufsteigen des Konflikts bis zum

Kulminationspunkt und das Herabsinken bis zur Lösung. Sie haben somit

folgende drei Teile: 1. Einführung (Exposition), 2. Schürzung des Knotens

(δέσις) und 3. Lösung (λύσις).



Jn vielen Dramen treiben äußere Faktoren den Helden auf den Höhepunkt

verhängnisvoller Befangenheit, von wo aus derselbe handelnd bis zur

Katastrophe abwärts stürzt (z. B. Emilia Galotti; Kabale und Liebe). Bei

der ersten Art von Dramen treiben die Hauptfiguren, bei der zweiten werden

sie getrieben.



Wenn Kühnheit als die höchste Gewalt eines Menschen bezeichnet werden

darf, welcher sein eigenes Jnnere den feindlichen Gewalten gegenüberstellt, so

verdienen die Konstruktionen jener Dramen, die im ersten Teil das Spiel, im

zweiten Teil das besiegende Gegenspiel markieren, den Vorzug. Es sind die

Tragödien.
Doch kann derselbe Held siegreich aus dem Spiel hervorgehen.

Und man erwartet dies, wenn ihn keine Schuld trifft, da wir kein Fatum

kennen.



3. Seit Jffland unterscheiden wir Tragödien mit versöhnendem Schluß,

oder Dramen, bei welchen der Held siegreich aus den Kämpfen ─ oder durch

eine Art Kompromiß versöhnt ─ hervorgeht. Auch die Griechen hatten einzelne

Stücke mit versöhnendem Schluß. Sie scheinen es überhaupt, wie unser

Publikum, nicht ungern gesehen zu haben, daß der Held, wenn auch arg mitgenommen,

mit heiler Haut und heiterem oder selbstbewußtem Blick davonkam.



§ 31. Teile des Drama und Umfang desselben.



1. Die Dreiteilung ist nicht immer für die Akteinteilung des

Drama bestimmend.



2. Jn der Regel hat es 5 Teile, die man Akte nennt.



3. Mehr als 5 Teile sind nicht zu empfehlen.



1. Bei den alten Griechen war die Dreiteilung des Drama gebräuchlich

(nämlich Vorakt, Episodion, Schlußakt). Bei den modernen Völkern ist die |#f0065 : 43|



Dreiteilung nur selten. Seit Ausbildung der modernen Bühne bei Franzosen

und Deutschen zählt es in der Regel 5 Hauptabschnitte, die man Akte nennt,

von denen jeder ein für sich abgeschlossenes Teilganzes bildet. (Es sind: 1. Einleitung,

2. Steigerung, 3. Höhepunkt, 4. Umkehr, 5. Katastrophe.) Actus

hieß bei den Römern jeder Abschnitt der Handlung; bei uns bedeutet das

Wort soviel als Aufzug (vom Aufziehen des Vorhangs). Die Spanier, die

den Akt jornada (Tag) nennen, haben auch Dramen bis zu 7 Akten, desgleichen

die alten Jndier, bei denen einzelne Dramen sogar bis zu 10 Akten

zählten.



2. Cicero (an Quintus fr. I. 1) will 3 Akte haben. Dagegen verlangt

Horaz in seiner Epistel an die Pisonen 5 Akte von jedem Drama:

Neve minor neu sit quinto productior actu

Fabula, quae posci vult et spectata reponi.


(Ars poet. 189.)



3. Auf keinen Fall darf sich das Drama so lang ausspinnen, daß der

Zuschauer mit normalen Nerven längst vor dem Schluß erschlafft und ermüdet.

Ein sechsstündiges Drama ist entschieden zu kürzen, oder in zwei Stücke zu

zerlegen; bei noch längeren Dramen sind 3 Stücke zu bilden, was z. B. in

den Trilogien (Ödipus-Trilogie, ferner in Wallenstein, in dem Nibelungenring)

geschehen ist. Die an drei einander folgenden Tagen aufzuführenden

Trilogien (Dreihandlungen: mit dem Satyrspiel verbunden heißen sie Tetralogien

== Vierhandlungen) gaben den Griechen Gelegenheit, Zeit, Ort, Personen

&c. zu ändern und ausgedehntere Handlungen darzustellen, ohne der

Aristotelischen Forderung untreu zu werden, ─ also das zu erreichen, was wir

durch Akte und Scenenwechsel erstreben.



§ 32. Jnhalt der Akte. Prolog. Epilog.



1. Bei einem Drama von 5 Akten hat



der I. Akt die Exposition,



der II. Akt die Steigerung,



der III. Akt den Höhepunkt,



der IV. Akt die Peripetie,



der V. Akt die Katastrophe.



2. Nur ausnahmsweise hat ein Drama auch noch Prolog oder

Epilog.



3. Bei Dramen von geringerer Ausdehnung treten die einzelnen

Teile enger zusammen.



1. Erster Akt. Das Drama bringt in seinem ersten Akt mit dem einleitenden

Accorde die sog. Expositionsscene, d. h. mit der Vorbereitung

und Begründung der Handlung das aufregende Moment und die

erste Steigerung.

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Beispiel: Jn Emilia Galotti giebt die Scene des Prinzen am Arbeitstisch

den stimmenden Accord, die Unterredung mit dem Maler die Exposition,

die Scene mit Marinelli das aufregende Moment (welches die

Meldung der bevorstehenden Vermählung liefert), der Entschluß, Emilia bei den

Dominikanern zu treffen, die erste Steigerung. Der Dichter führt im ersten

Akte die Personen vor, welche seine wichtige Angelegenheit beschäftigt, er bringt

sie mit all den umgebenden Lebensverhältnissen unserem Jnteresse nahe, zeigt

uns die Grundlage seines Baues und spannt nun unsere ganze Aufmerksamkeit

auf das Wie und Wodurch des darüber aufzuführenden Gebäudes. Er

versetzt uns a priori ─ der Bestimmung des ersten Aktes gemäß ─ in die

dramatische Stimmung, in die Situation des Drama, und gewährt so einen

ahnenden Vorblick in die Zukunft derjenigen Personen, deren Geschick sich vor

unsern Augen abspielt.



So versammelt sich ─ um noch ein Beispiel zu geben ─ im Oedipus

tyrannos
von Sophokles die Jugend Thebens unter Führung der Priester

vor dem Palast des Königs. Wir erfahren, daß als Strafe der Götter für den

ungerächten Mord des vorigen Königs eine Pest wüte; das Volk kommt, um

die Entdeckung des Mörders herbeizuführen. Dies ist die Exposition der

Handlung.



Als Muster solcher Expositionen ist z. B. noch der erste Akt von Schillers

Tell zu nennen. (Einleitende Unterredung; Baumgartens Flucht und Rettung;

Scene vor Stauffachers Haus; Unterredung vor dem Hut auf der Stange;

Blendung Melchthals. Darauf die erste Steigerung: Beschluß, auf dem Rütli

zu tagen.)



Nicht durch Erzählung oder gar durch einen Prolog soll exponiert werden,

sondern durch Handlung; jedoch gehört zur Exposition auch das „aufregende

Moment“, d. i. das zu der Seele des Helden aufsteigende Gefühl und Wollen,

welches die Haupthandlung veranlaßt und den Helden bestimmt. Die Exposition

darf nie zu viel geben, um nicht den Verlauf der Handlung zu verraten; nur

ahnen lassen, nur das Verständnis vorbereiten soll sie. Die Exposition ist die

Frage, auf welche der Ausgang des Stückes (d. i. die Katastrophe) Antwort giebt.



Zweiter Akt. Jm Fortschritt und Verlauf der Handlung, also im

II. Akte (d. i. dem Akte der Steigerung), wird die eigentliche Verwickelung

(Kollision) klarer eingeleitet. Hier werden die Personen des Gegenspiels eingeführt.

Die Absichten und Pläne der Handelnden durchkreuzen sich: es

beginnt die eigentliche Handlung.
Situation erwächst aus Situation,

Ringen und Kämpfen gegen feindliche Mächte wechseln ab.



Beispiel: Jn Emilia Galotti führt der Dichter erst die Familie Galotti

ein; dann folgt die exponierende Jntrigue Marinellis; dann Handlung:

a. Emiliens Aufregung nach dem Kirchenbesuch, b. Marinellis Besuch und

Auftritt mit Appiani &c.



Dritter Akt. Jhren höchsten Punkt erreicht die Verwickelung im dritten

Akt, den man deshalb als den Akt des Höhepunktes im Drama |#f0067 : 45|



bezeichnet. Entschlüsse und Situationen der hervorragenden Personen wechseln.

Der Kontrast, in welchem sich die Charaktere gegenüberstehen und in welchen

sie zu ihren Situationen gebracht werden: dieses Kämpfen und Ringen gegen

das Schicksal giebt der dramatischen Handlung Bedeutung und anziehende

Kraft. Durch das Bestreben, die Verhältnisse ihrem Zwecke anzubilden,

schlingt oder schürzt sich der sog. dramatische Knoten. Der Konflikt spitzt

sich auf's äußerste zu, die höchste Spannung tritt ein.



Beispiel: Jn Emilia Galotti nach kurzer Einleitung, welche den Überfall

exponiert, Emilias Eintreten und darauf die Gipfelscene (5. Auftr. des 3. Aktes),

worin der Fußfall Emilias und des Prinzen Erklärung die Höhepunkte sind.

Durch die Erbitterung der Claudia gegen Marinelli wird die sinkende Handlung

eingeleitet.



Nach Aristoteles (Kap. 18. 9) zerfällt jede Tragödie in Schürzung und

Lösung. Er versteht unter Schürzung alles vom Anfang an bis zu demjenigen

Teil (der Begebenheiten) hin, welcher die Grenze bildet, von der ab der

Wechsel des Schicksals ─ sei es nun in Unglück oder in Glück ─ einzutreten

beginnt, ─ unter Lösung aber das, was von diesem Anfange des Glückwechsels

bis zum Ende erfolgt.



Vierter Akt. Die Krisis erfolgt im 4. Akte durch Eintritt der sog.

Peripetie (περιπέτεια, d. i. Umschwung nach Aristoteles), oder den Umschlag der

Geschicke der handelnden Personen und des glücklichen in einen unglücklichen

Zustand, oder umgekehrt, besonders des Helden. Peripetie ist bei Aristoteles

auch als eine einzelne Scenenwirkung zu betrachten, ─ als das tragische

Moment, das plötzlich einbrechend die Handlung in das Gegenteil verwandelt.

Die Griechen hatten auch Tragödien ohne Peripetie. Aristoteles (Poet. 11. 4)

nennt als beliebte Form der Peripetie die in § 26 erwähnte Erkennung.

(ἀναγνώρισις. cf. auch Plat. Theaet. 193. c.) Ödipus erkennt, daß der

von ihm Erschlagene sein Vater, und daß sein Weib seine Mutter ist. Alles

will zusammenbrechen. ─ Jon erkennt in der Totfeindin die Mutter, Jphigenia

den Bruder, den sie opfern soll, Elektra den betrauerten Bruder u. s. w.

Die Erkennungsscenen wurden bei den Griechen häufig zu Peripetie-Momenten

verwertet.



Jm vierten Akte führen die Deutschen meist noch die neuen Charaktere

für's Gegenspiel ein (z. B. Gutzkow den Ben-Akiba in Uriel Acosta).



Beispiel: Jn Emilia Galotti erst Unterredung, dann Eingreifen der

Orsina; Odoardos Eintritt und Orsinas Einfluß steigern die Handlung zum

höchsten, die Lösung fordernden Punkte und leiten zum fünften Akt.



Fünfter Akt. Der 5. Akt führt die Lösung des Knotens herbei, die

Hinwegräumung der entgegenstehenden Hindernisse und Konflikte, die eigentliche

Katastrophe (καταστροφή == Sturz), das Ende des Drama. Wie die einzelnen

Aktschlüsse die Antwort auf einzelne Fragen geben, so ist die Katastrophe

die Kardinalantwort des Ganzen. Die Hauptperson hat nunmehr die Hindernisse

entweder beseitigt, oder sie erliegt denselben.

|#f0068 : 46|



Beispiel: Jn Emilia Galotti: Einleitung. Unterredung zwischen dem

Prinzen Odoardo und Marinelli; Weigerung, die Tochter zurückgeben zu wollen;

Katastrophe: Ermordung der Tochter.



2. Nur ausnahmsweise geht dem Drama ─ z. B. bei festlichen Gelegenheiten

─ ein besonderer Prolog voraus, der meist nichts mit dem Drama zu

thun hat, der nur ausnahmsweise die Handlung geschichtlich einleitet, oder den

Zusammenhang des Stücks mit der festlichen Gelegenheit angiebt. (Vgl. § 34. 1.)

Ebenso ausnahmsweise folgt dem Drama ein Epilog, der einem ähnlichen Zwecke

nach Abschluß des Drama dient, wie der Prolog vor dem Beginn desselben.



Es giebt auch 4=, 3=, 2= und 1aktige Dramen. Selbstredend treten bei

denselben Exposition, Kollision, Peripetie und Katastrophe entsprechend enger

aneinander.



§ 33. Schema für den Bau des Drama und Beispiele der

Bauart.



Die im Nachstehenden gegebenen Schemata bezwecken, das im § 32

Gelehrte durch Bild und Beispiel zu veranschaulichen.



Jn seiner o. a. Schrift (Seite 100) versinnbildlicht Gustav Freytag den

pyramidalen Aufbau des Drama (a. Einleitung, b. Steigerung, c. Höhepunkt,

d. Fall oder Umkehr, e. Katastrophe) durch Figur I.



Schillers Wallenstein (ohne die Piccolomini) versinnbildlicht er durch

Fig. II (a. a. O. S. 177):



[Abbildung]



Jn Fig. II wäre a b c == Teil bis zum Höhepunkt: die inneren Kämpfe.

c. Höhepunkt: erste Aktion des Verrats, z. B. Verhandlungen mit Wrangel,

c. d. Versuche zur Verführung des Heeres, d. Umkehr: das Gewissen der

Soldaten empört sich, e. Katastrophe: Wallensteins Tod.



(Jm Drama des Verfassers: „Römisches Schattenspiel“, ─ Leipzig,

Theile. 2. Aufl. ─ würde das Schema, sofern man sich die Exposition als

Bewegung a b denkt und dieselbe nicht, wie bei Freytag, auf den Punkt a

konzentriert, das Bild der Fig. III ergeben.



a─b Einleitung in die Handlung == Exposition, ruhiges Geschehenlassen

und Geschehen, b─c Aufwärtsstreben der Handlung, c─d rasche Entfaltung

zum höchsten Punkt, d─e Abwärtssinken mit dem Bestreben, das rasche Abfallen

noch aufzuhalten, e─f Katastrophe, Schluß.)

|#f0069 : 47|



Beispiele für den Bau ganzer Dramen.


a. Maria Stuart. (Schiller.)

Exposition. 1. Akt: Streit des Paulet und der Kennedy.



Schürzung des Knotens. 2. Akt: Elisabeth will ihre Feindin in

Schloß Fotheringhay sehen.



Höhepunkt. 3. Akt: Begegnung und Streit der Königinnen im Park.



Peripetie. 4. Akt: Leicesters Verrat und Marias Todesurteil.



Katastrophe. 5. Akt: Maria Stuarts Tod.



b. Othello. (Shakespeare.)

Exposition. 1. Akt: Mitteilung an Brabantio von Othellos und

Desdemonas Flucht.



Schürzung des Knotens. 2. Akt: Jagos Plan zum Verderben

des Othello; Absetzung Cassios.



Höhepunkt. 3. Akt: Erwachen der Eifersucht Othellos.



Peripetie. 4. Akt: Othellos Vorsatz, sich an Desdemona zu rächen.



Katastrophe. 5. Akt: Desdemonas Ermordung; Othellos Selbstmord.



§ 34. Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten

im Bau des Drama.



Zwischen den 5 Teilen des Drama liegen 3 dramatische Momente:

1. das erregende Moment ─ vgl. Figur I § 33 ─ zwischen a (Einleitung)

und b (Steigerung), 2. das tragische Moment, zwischen c

(Höhepunkt) und d (Fall) und 3. das Moment der letzten Spannung

kurz vor der Katastrophe e, um diese noch einmal zu steigern. Das

erste Moment ist wesentlich, das zweite kann fehlen, das dritte ist

Hilfsmittel.



Sonach hat der Bau des Drama folgende 8 wesentliche Teile zu

bieten: 1. Einleitung, 2. erregendes Moment, 3. die Steigerung, 4. den

Höhepunkt, 5. das tragische Moment, 6. die fallende Handlung, 7. das

Moment der letzten Spannung, 8. Katastrophe.



Wir suchen sie nachstehend näher darzulegen.



1. Einleitung. Vor die Einleitung tritt zuweilen ein die Handlung

bedingender Prolog. Bei Euripides ist er ein epischer Botenbericht; bei Shakespeare

eine artige Aufforderung zum Aufmerken. Jn Kleists Käthchen von Heilbronn

ist die Einleitung zum Situationsbild geworden, ebenso in Schillers Jungfrau

von Orleans. Ein Vorspiel ist verwerflich, weil es wieder aus Teilen zu

bestehen hat und als Teilganzes nur lockere Verbindung mit dem Drama hat.



Der Prolog ist nur ausnahmsweise, wie in Kleists Käthchen von Heilbronn,

Schillers Wallensteins Lager, und Jungfrau von Orleans, Goethes

Faust &c. zu gestatten, wenn er ein die Handlung einführendes, ihr zur Unterlage |#f0070 : 48|



dienendes Stimmungsbild entwirft; ganz kann er den Anforderungen an

eine in dialogischer Form gegebene, handelnd fortdrängende Exposition nicht

entsprechen.



Die Einleitung (Jntroduktion) hat Ort, Zeit, Verhältnisse und Gesamtstimmung

des Ganzen zu schildern, zu introducieren, gleichsam mit vollem

Accord anzuschlagen, z. B. in Hamlet: Kommandoruf, Nacht, Aufziehen

der Wache; in Romeo: Tag, offene Straße, Streit, Schwertergeklirr der

feindlichen Parteien; in Macbeth: Sturm, Donner, unheimliche Hexen auf

öder Heide.



Darauf folgt die Exposition, die vom Anfang häufig durch scenischen

Einschnitt getrennt ist, z. B. in Hamlet die Hofscene, in Macbeth Duncans

Auftreten &c. Die Exposition soll lediglich vorbereiten, nicht aber zersplittern,

zerstreuen. Daher wählt der Dichter meist eine etwas ausgebreitete Scene,

z. B. in Julius Cäsar den Festzug und die Unterredung des Cassius

und Brutus; in Maria Stuart den Streit, die Expositionsscene: Maria

und Kennedy.



2. Das erregende Moment. Die Handlung gelangt in Bewegung,

wenn im Helden der Entschluß zur That sich regt. Jn Julius Cäsar ist es

der Beschluß, Cäsar zu töten, in Maria Stuart das Bekenntnis Mortimers,

in Emilia Galotti die Nachricht von Emilias bevorstehender Vermählung;

im Faust beginnt es mit Mephistos Eintritt, das Vorhergehende ist Exposition.

Das erregende Moment muß kurz sein, da es eben nur Motiv ist. Nach

seiner Einführung beginnt die ernste Arbeit des Dramatikers.



3. Steigerung. Sie ist die interessevolle Fortspinnung der in Fluß

geratenen Handlung. Alle noch nicht vorgestellten Personen müssen jetzt erscheinen.

Jn Julius Cäsar ist die Steigerung allein schon durch die Verschwörung

ausgeführt. Jn Romeo und Julia durchläuft sie 4 Stadien in einer

trefflichen Scenengruppe: a. Maskenball, bestehend aus 2 Vorscenen (Julia,

Mutter, Amme) und einer Hauptscene: Ball. b. Gartenscene (Vorscene, in

welcher Romeo gesucht wird, und Hauptscene, in welcher die Liebenden die

Vermählung beschließen). c. Trauung (1. Scene: Lorenzo und Romeo,

2. Scene: Romeo, Genossen, Amme als Botenläuferin, 3. Scene: Julia und

Amme, 4. Scene: Trauung). d. Tybalts Tod.



4. Höhepunkt. Er bezeichnet die Stelle, wo die Handlung durch eigenes

Treiben des Helden oder durch die Resultate des Gegenspiels die höchste Macht

entfaltet, z. B. die effektvolle Hüttenscene in Lear, oder die Scene, in welcher

Jago die zum Untergang treibende Eifersucht Othellos anfacht.



5. Das tragische Moment. Es ist der Beginn der sinkenden Handlung.

Es wird meist mit dem durch Aktschluß getrennten Höhepunkt durch

eine erläuternde Scene verbunden.



Jn Maria Stuart ist es der Zank mit Elisabeth.



6. Die fallende Handlung. Sie ist die Umkehr oder der Wechsel

der Handlung vom Glück zum Unglück, oder umgekehrt. Die Behandlung der

Umkehr ist schwierig, weil die scenischen Effekte gesteigert werden müssen, um |#f0071 : 49|



das Jnteresse wach zu erhalten. Der Dichter beschränkt in der Regel die Zahl

seiner Personen, um große, bedeutende Scenen zu gewinnen. Die Handlung

drängt zur Entscheidung und verbietet weiteres Ausmalen, Begründen und

episodisches Motivieren. Nur in großen Kontouren kann noch eine Zeichnung

gestattet sein. Es handelt sich um Thaten, Erfolge, Wirkungen. Daher ist die

fallende Handlung (Umkehr) auch kürzer, als die aufsteigende. Vgl. den Monolog

der Julia in Romeo und Julia vor dem Schlaftrunk; das Nachtwandeln der

Lady Macbeth &c.



7. Das Moment der letzten Spannung. Es ist eingefügt, um

die Katastrophe so wirksam als möglich vorzubereiten, um sie auch nicht zu

rasch eintreten zu lassen. Shakespeare läßt z. B. im Romeo ganz zuletzt auch

noch den Paris vor dem Sarge der Julia töten, um den Gedanken an glückliche

Lösung nicht mehr aufkommen zu lassen (vgl. § 28), oder er läßt die

Ermordung Hamlets durch ein vergiftetes Rappier noch im Voraus besprechen

u. s. w.



Das Moment der letzten Spannung benützt zuweilen ein kleines Hindernis,

um für einen Augenblick noch an die Möglichkeit einer andern Wendung glauben

zu machen.



Jn Laubes Essex ist es der die Rettung ermöglichende Ring; in Romeo

der erwartete mögliche Eintritt Lorenzos in die Gruft; in Coriolan die Möglichkeit,

freigesprochen zu werden; in Wallenstein der Gedanke an eine mögliche

Rettung durch Gordon und die Schweden &c.



8. Die Katastrophe (== exodus der alten Bühne). Sie ist die

Lösung, der Zusammenbruch, der Untergang des Helden. Sie muß die logische

und moralische Konsequenz der Handlung und der Charaktere sein. Die Katastrophe

muß jedes überflüssige Wort vermeiden; in ihr müssen sich alle Scenen,

wie in einem Brennpunkt der auslaufenden Handlung vereinen, ergießen. Daher

muß jede dunkle Stelle in der Jdee hier durch Wort und Handlung erhellt werden.



§ 35. Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama.



Da es besser ist, das regelnde Gesetz an einem Beispiel eingehend

zu demonstrieren, als oberflächlich an vielen, so erläutern wir

hier noch den Bau des Drama an Hamlet, wie ihn Freytag (a. a. O.

S. 163) abstrahiert hat, und wie eine ähnliche Disposition jeder

Dramatiker bei Beginn seiner dramatischen Arbeit sich bilden sollte.



1. Einleitung. a. Der stimmende Accord: auf der Terrasse erscheint

der Geist; die Wachen und Horatio. b. Die Exposition selbst: Hamlet im

Staatszimmer vor dem Eintritt des aufregenden Moments. c. Verbindungsscene

zum Folgenden: Horatio und die Wachen unterrichten ihn vom Erscheinen

des Geistes.



2. Eingeschobene Expositionsscene. Die Familie Polonius bei

der Abreise des Laertes.

|#f0072 : 50|



3. Das aufregende Moment. a. Einleitender Accord. b. Der Geist

erscheint Hamlet. c. Hauptteil: Er offenbart ihm den Mord. d. Hamlet und

die Vertrauten als Übergang zum Folgenden.



Durch die beiden Geisterscenen, zwischen denen die Einführung der Hauptpersonen

stattfindet, werden diese Scenen zu einer Gruppe zusammengeschlossen,

deren Gipfelpunkt am Ende liegt.



4. Steigerung in 4 Stufen. Erste Stufe: Die Gegenspieler.

Polonius macht geltend, daß Hamlet aus Liebe zu Ophelia wahnsinnig geworden;

in 2 kleinen Scenen: Polonius in seinem Hause und vor dem König. Die

letztere schließt sich eng an die folgende:



Zweite Stufe: Hamlet beschließt, den König durch ein Schauspiel auf

die Probe zu stellen in einer großen Scene mit episodischen Ausführungen:

a. Hamlet und Polonius; b. Hamlet und die Hofleute; c. Hamlet und die

Schauspieler als Hauptteil; d. Monolog Hamlets leitet zu dem Folgenden über.



Dritte Stufe: Der Gegenspieler. a. Der König und die Jntriguanten.

b. Hamlets berühmter Monolog. c. Hamlet warnt Ophelia. d. Schluß: Der

König schöpft Verdacht.



Diese drei Stufen sind untereinander zu einem größern Organismus verbunden,

die erste wird zur Einleitung, die breite und behagliche Ausführung

der zweiten bildet den steigernden Hauptteil, die dritte, durch die Fortsetzung

des Monologs schön mit der zweiten verbunden, den Gipfelpunkt dieser Gruppe

mit schnellem Abfall.



Vierte Stufe, welche zum Höhepunkte hinüber leitet: das Schauspiel.

a. Einleitung: Hamlet und die Schauspieler und Hofleute. b. Hauptteil: die

Aufführung und der König. c. Übergang: Hamlet, Horatio und die Hofleute.

Bestätigung des Verdachts. Hamlet soll zu seiner Mutter kommen.



5. Höhepunkt. Eine Scene mit Vorscene: Der König betend, Hamlet

zaudernd. Eng daran schließt sich



Das tragische Moment. Eine Scene: Hamlet ersticht in der Unterredung

mit seiner Mutter den Polonius. Zwei kleine Scenen als Übergang

zum Folgenden: Der König beschließt, Hamlet wegzusenden.



Auch diese drei Scenengruppen sind zu einem Ganzen verbunden, in deren

Mitte der Höhepunkt steht. Zu beiden Seiten in großer Ausführung die letzte

Stufe der Steigerung und das tragische Moment.



6. Die Umkehr. Einleitende Zwischenscene. Fortinbras und Hamlet

auf dem Wege.



Erste Stufe: Eine Scene: Ophelias Wahnsinn und der Rache fordernde

Laertes.



Kleine Zwischenscene: Brief Hamlets an Horatio.



Zweite Stufe: Eine Scene: Laertes und der König bereden den Tod

Hamlets. Schluß und Übergang zum Folgenden bildet der Bericht der Königin

über den Tod der Ophelia.



Der Bau dieser Scenengruppe ist nicht so durchgebildet, als in den frühern

Abteilungen; der Zusammenhang wird durch die Zwischenscene unterbrochen, |#f0073 : 51|



welche korrespondierend mit der einleitenden Scene eine Erklärung der Reise

Hamlets darstellt.



Dritte Stufe: Begräbnis der Ophelia. Die episodische Einleitungsscene:

Hamlet und die Totengräber; die Hauptscene, kurz gehalten: scheinbare Versöhnung

des Hamlet mit Laertes.



7. Katastrophe. Einleitende Scene: Hamlet und Horatio, Haß gegen

den König; als Übergang zum Folgenden: die Meldung Osricks. Dann Hauptscene:

die Entscheidung. Darauf Schluß: Ankunft des Fortinbras.



Auch die zweite Stufe der sinkenden Handlung hat keine regelmäßige

Bildung, die episodische Einleitung füllt den größten Teil; die Arbeit des

dramatischen Ausgangs ist von altertümlicher Kürze und Strenge. ─



Es giebt kein besseres Mittel, in die Technik des Drama einzudringen,

als gute Dramen nach Maßgabe des vorstehenden Schemas zu schematisieren.



§ 36. Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen

Dichtung.



1. Jedes Erscheinen einer neuen Person auf der Bühne wird als

neuer „Auftritt“ bezeichnet, ebenso das Abtreten einer oder mehrerer

Personen von der Bühne. Es giebt sehr verschiedenartige Scenen. Die

Veränderung der Bühne wird als Veränderung der Scene bezeichnet.



2. Der Scenenwechsel auf der Bühne muß möglichst rasch erfolgen.



3. Die Scenen haben je nach ihrem Charakter verschiedene Bestimmung

und Wirkung.



1. Das Wort Scene bedeutet ebenso den offenen Bühnenraum, als

dasjenige Bruchstück der Handlung, welches die gleiche Dekoration hat. Für

den Dichter ist Scene die Verbindung mehrerer dramatischen Momente, welche

die gleichen Hauptpersonen haben. Die Scene kann einen ganzen Akt oder

einen Teil desselben umschließen.



Es giebt Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen,

Liebesscenen, Ensemblescenen, Massenscenen
&c. Der Scenenwechsel

wird auf der Bühne meist durch den Niedergang eines Zwischenvorhangs

angezeigt. Bei den gedruckten Dramen wird der Scenenwechsel durch

das Wort „Verwandlung“ angezeigt. Die Scene des dramatischen Dichters

und des Regisseurs fallen nicht immer zusammen, da ja bei dem Abgang selbst

des Helden nicht immer die Dekoration zu wechseln braucht.



Um ein Beispiel anzugeben, so bietet der 4. Akt von Maria Stuart in

12 Auftritten zwei kleinere und 1 größere dramatische Scene, und durch einen

Koulissenwechsel wird der Akt in zwei Bühnenscenen geschieden. Die Verweisung

des Grafen Aubespines und der Streit Leicesters mit Burleigh bilden

in drei Auftritten die erste Scene; der Monolog Leicesters, seine Besprechung

mit Mortimer, Mortimers Tod im 4. Auftritt bilden die 2. Scene. Hier

tritt die zweite Bühnenscene ein, indem das Zimmer der Königin hergerichtet |#f0074 : 52|



wird. Der 5. bis 12. Auftritt des 4. Aktes ergeben sodann nur noch eine

große Scene: (Doppelscene.) Kampf um's Todesurteil. (5. Auftritt: Elisabeth

und Burleigh gegen Leicester. 6. Auftritt: Leicesters Unterredung. 7., 8., 9.,

10. mit ausklingendem und verbindendem 11. und 12. Auftritt: Unterschrift

des Bluturteils.)



2. Der Niedergang des Vorhangs am Aktschluß gestattet Zeit, im Zwischenakt

die Scene zu wechseln. Diese Zeit sollte stets nur ein paar Minuten

betragen, besonders zwischen den beiden durch die Handlung so eng zusammenhängenden

Schlußakten. Dekorationswechsel ist immer mißlich, weil er die

Handlung hindert; doch ist er am besten noch in den ersten Akten anwendbar,

wo die Richtung der im Verlauf immer mehr drängenden Handlung noch nicht

so genau bestimmt hervortritt.



Was den Bau der dramatischen Scenen betrifft, so sollte eine jede nach

der Einleitung eine Steigerung durch Widerspruch, Widerstreben, Gegenrede,

Gegenhandlung und schließlich ein Resultat zeigen oder ahnen lassen, das auch

negativ sein kann.



Es ist dramaturgisches Gesetz, die Scene nie leer stehen zu lassen, wenn

dies nicht gewisse Handlungen verlangen, wie ein Mord, oder das Hinwegstürzen

der Handelnden z. B. in den beiden Grachen &c.



3. Wir geben im Nachstehenden den Begriff der wesentlichsten sogenannten

Scenen:



a. Die Monologscenen geben Gelegenheit, das geheimste Empfinden

und die dunklen Ziele dem Publikum zu entrollen, einen Blick in die Herzkammer

des unbelauschten Handelnden thun zu lassen. (Hamlet reflektiert über

die Wirkung des Schauspielers. Er bringt Thatlosigkeit in Vergleich; er faßt

den Entschluß zu handeln und legt dadurch für den Zuschauer die Einwirkung

klar, welche seine Unterhaltung mit den Schauspielern auf ihn und auf den

Fortgang der Handlung übt.) Die Monologe sind meist lyrischer Natur. (Vgl.

Tell, 4. Aufz. 3. Scene.)



b. Die Dialogscenen bilden die Seele der Handlung, die durch sie

zum Ausdruck gelangt. Hat man sich klar gemacht, daß das Wesen des Drama

Handlung ist, so wird man auch einsehen, daß die Dialogscene im ernsten

Drama anders sein muß, als z. B. im Lustspiel, im Salon- und Konversationsstück.

Sie muß den Fortschritt der Handlung ausdrücken. (Z. B. die Dialogscene

zwischen Orsini und Odoardo, 4. Akt, 7. Auftritt in Emilia Galotti:

Odoardo: Weiß ich nicht schon genug? Orsina: Sie wissen nichts. Wenn

es gar Jhre einzige Tochter ─ Jhr einziges Kind wäre! ─ Appiani ist

tot. Jhre Tochter, schlimmer als tot. Odoardo: Sprach sie in der Messe?

Der Prinz meine Tochter? ─ Nun, Mütterchen? haben wir nicht Freude

erlebt! O des gnädigen Prinzen! ─ Wunder, daß ich aus Eilfertigkeit nicht

auch die Hände zurückgelassen! Orsina: Nehmen Sie ihn! (ihm den Dolch

aufdringend). Odoardo: Liebes Kind, wer wieder sagt, daß du eine Närrin

bist, der hat es mit mir zu thun &c.)



c. Die Botenscenen sind der Gegensatz, da ihre Berichte nur referieren. |#f0075 : 53|



Sie werden bei längeren Dramen häufig beschnitten. Mit Unrecht, da sie

über die Züge des Gegenspiels aufklären und zu neuem Fortgang drängen.

Man vgl. z. B. den Botenbericht des Schweden in Wallenstein, der den Tod des

Max meldet und Gelegenheit giebt, das ganze Seelenleben der Thekla zu entrollen.



d. Die Liebesscenen bilden in der Tragödie einen wunderbaren

Kontrast zu dem finsteren Geschick. Die großartigsten Liebesscenen finden sich

in Romeo mit der unübertroffenen Balkonscene, und in Faust die Scene Gretchens

im Garten. Sie heben sich da in der Gewalt der unmittelbaren Empfindung

von denen Schillers ab, z. B. im Tell zwischen Rudenz und Bertha, im

Wallenstein, wo die Anwesenheit der Terzki die Entfaltung hemmt. Der Eintritt

eines Dritten in den Dialog kann hemmend oder treibend wirken, da er als

Partei die Absicht des einen lähmt oder fördert, oder auch seinen Willen

einem jeden der beiden entgegensetzt.



e. Ensemblescenen. Sobald mehr als drei Personen an der Handlung

sich beteiligen, entstehen die Ensemblescenen, die in der griechischen

Tragödie fehlten, uns aber geradezu unentbehrlich sind. Sie sind zwar nicht

der Ausdruck der größten Steigerung oder Spannung, aber sie liefern einen

Beitrag, der Handlung Glanz, Bewegung, Farbe und Wirkung zu verleihen,

die Triebfedern der Handlung ersehen zu lassen, oder dieselbe effektvoll abzuschließen.

Diese Wirkung der Ensemblescenen ist nicht sowohl von der Anwesenheit

vieler Personen auf der Bühne abhängig, als vielmehr von dem

thätigen, charakteristisch=bewegten Eingreifen derselben. Der Dichter ist daher mit

Recht als der Wirt bezeichnet worden, welcher jedem seiner Gäste die Unterhaltung

in dieser Scene und das Eingreifen in dieselbe ermöglichen soll. Scenen

von großer Personenzahl (Volksscenen &c.) müssen eine sehr verständnisvolle

Gliederung haben, um ebenso die führenden Stimmen zu markieren, als das

harmonische Zusammengreifen zu ermöglichen. Selbstredend ist hier ein weises

Maßhalten geboten; auch der Held wird vieles unausgesprochen lassen müssen,

da hier eine große Gruppe nicht zum Schweigen auf lange Zeit verurteilt

werden kann.



Eine gewaltige Ensemblescene ist die Rütliscene im Tell. Jhre Teile sind:

Ankunft der Unterwalder, Melchthals und Stauffachers Unterredung, Begrüßung

der Schwyzer. Der Dichter hat es vermieden, durch wiederholtes Betonen des

Eintritts der 3 Kantone unsere Geduld auf die Probe zu stellen. Die Urner

erscheinen und die Handlung beginnt, geleitet von 2 Hauptpersonen, ja, sie

spinnt sich fort in kurzen Reden und lebhaftem Eingreifen der Nebenfiguren.

Stauffacher schildert glänzend die Absicht und das Ziel des Bundes. Widerstreit

der Ansichten über Stellung zum Kaiser; verständnisvolles Reden, Steigerung

der Gegensätze über die Mittel, sich von den Vögten zu befreien. Abstimmung,

Schwur. Stauffachers machtvoller Vortrag ist der Höhepunkt der

Scene, die so mannigfach ist in Bewegung, Händeerheben, Waffengerassel,

Steigerung, Ruhe, Umarmung! Dazu der schöne Ausklang der Scene, indem

die Morgenröte der entblößten Gruppe Farbe verleiht und das Licht der aufgehenden

Sonne die Eisberge übergießt.

|#f0076 : 54|



f. Bei Massenscenen, für welche man auf der Bühne ja doch nur

einen geringen Teil an Personal hat, muß durch Versatzstücke, Verengerung

des Platzes, Verkleinerung des Raumes eine so geschickte Aufstellung der Personen

erfolgen, daß die Täuschung hervorgerufen wird, als habe man es mit

einer unübersehbaren Menge zu thun.



Die Behandlung der Shakespeareschen Volksscenen, wie auch deren

Aufführung in neuerer Zeit durch das Meiningensche Mustertheater, ist vorbildlich.

Die Wirkung ist aber auch eine wunderbare. Das Zusammensprechen

zu üben, die Bewegung des einzelnen vom Massenkörper abzuschälen, künstlerisches

Bewegen auch dem Statisten einzuhauchen, sollte nach Art der

Meininger allenthalben erstrebt werden. Das Verdienst der feinen Ausführung

Shakespearescher Massenscenen ist nicht so gering, als es von manchem Neidischen

geschildert werden möchte.



§ 37. Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen.



Um die Handlung vor unsern Augen entstehen zu lassen, bedient

sich der dramatische Dichter kurzer Monologe (Rede des einzelnen mit

sich selbst) und treffender Dialoge (Zwiegespräch der Handelnden), was

nicht selten zur antithetischen geflügelten Wechselrede (Stichomythie)

wird, und eine erhabene Rhetorik der Leidenschaft als Resultat hat.



Der Monolog hat die Aufgabe, einen Blick in den Gemütszustand des

Handelnden zu ermöglichen. (S. 52. a.) Dagegen sucht der Dialog das Entgegensprechen

der Handelnden zu ermöglichen, das Bestreben, sich gegenseitig

zu überzeugen, manches anders darzustellen, Absichten und Gedanken hinter

Worten zu verbergen, zu imponieren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen u. s. w.

(S. 52. b.) Jn Wahrheit ruht die poetische Kraft der dramatischen Dichtung

hauptsächlich und vorzugsweise in den Worten der Handelnden: aus ihnen

erfahren wir Ursache und Absicht ihrer Handlungen.



§ 38. Sprache und Form des Drama.



1. Schon aus dem in § 37 angegebenen Grunde ist der Sprache

besondere Rücksicht zuzuwenden, wobei das Bd. I S. 107 ff. Gesagte

zu beachten ist.



2. Bezüglich der Form ist abzuwägen, ob gebundene Rede anzuwenden

sei oder nicht.



1. Das gute Drama hat vor allem alles Schwülstige, Affektierte, Manierierte,

Gekünstelte, Unwahrscheinliche in der Sprache zu vermeiden und der

Handlung, für deren Mangel geflügelte Worte und glänzende Denksprüche nicht

entschädigen können, die Form des würdigen Ausdrucks anzupassen. Harmonische

Vereinigung der innern Wahrheit mit Schönheit des äußern Ausdrucks ist

dabei Aufgabe der dichterischen Sprache.

|#f0077 : 55|



2. Bezüglich der Sprachform haben Schiller (Räuber), Goethe (in

seinen ersten Dramen Clavigo, Egmont, Götz von Berlichingen), Lessing,

ferner auch der Franzose Diderot nach dem Vorbild englischer Dramen des

17. und 18. Jahrhunderts die Prosa empfohlen. Es schien ihnen unnatürlich,

daß auf der Bühne eine andere Sprache gelten sollte, als im Parterre. Doch

schrieb Lessing später seinen Nathan im jambischen Quinar, dessen sich sodann

auch Goethe und Schiller bedienten. (Vgl. Bd. I S. 311.) Das sich

bahnbrechende Künstlerbewußtsein gab diesen Dichtern den Vers und sie zeigten,

daß der Dichter Veranlassung haben kann, auch die Sprache im Gebiet der

Kunst zu beteiligen.



Shakespeare ist insofern besonders beachtenswert, als er die Personen

aus niedern Ständen Prosa sprechen läßt, den edleren Personen aber Verse

giebt. Auf diese Weise malt er das Leben trefflich und zeigt ein die Einförmigkeit

vermeidendes, sich der Situation anschließendes Stilgefühl.



Für gewisse Dramen, für Komödien, Possen ist die Prosa am Platze;

die Unwahrscheinlichkeit eines rhythmisch gegliederten Dialogs moderner Figuren

empfiehlt bei diesen Gattungen von selbst die Prosa. Sie bequemt sich leicht

einer jeden Stimmung an; sie gestattet größere Unruhe und schnelleren Wechsel.



Sind aber die Helden des historischen Drama z. B. längst verstorbene

Personen, die nie unser modernes Deutsch sprachen, oder gehören sie einer

fremden Nationalität an, oder ist eine gehobene, edlere Stimmung des Herzens

verlangt, so ist die rhythmische Form geboten.



Diejenigen Völker, bei denen das Drama aus ihrem nationalen Kunststreben

emporblühte, haben nur die Form der Rede gewählt, welche der unrhythmischen,

prosaischen Form ziemlich nahe lag, z. B. die Griechen und

Römer den jambischen Rhythmus. (Aristoteles sagt von ihm: „μάλιστα γὰρ

λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ ἰαμβεῖον ἐστιν“.) Den trochäischen Tetrameter

bezeichnet Aristoteles als dithyrambisch: in der That findet er sich auch früher

─ bei Sophokles und Euripides ─ häufiger als später, wo die Abstammung

des Chors aus dem Dithyrambus zeitlich ferner gerückt war. Die Komödie

bediente sich auch noch des anapästischen Verses.



Unser ältestes deutsches Drama ─ der Wartburgkrieg ─ (vgl. Bd. I

S. 47) schloß sich in seiner Form der Lyrik an. Es hatte singbare Strophen.

Später gebrauchte das Drama kurze Reimpaare, bis Lessing, wie erwähnt, dem

jambischen Quinar die Bahn eröffnete. (Vgl. Bd. I S. 312, sowie 313 und

416, wo auch der Freiheiten im Gebrauch des jambischen Quinars gedacht

ist.)



Auch gereimte Trochäen hat man angewendet. Jn neuerer Zeit hat man

aus Opposition gegen die Monotonie der sog. Jambentragödie häufig die

metrische Form ganz aufgegeben, die doch von einzelnen, (z. B. von dem sprachgewandten

Ungar Doczi im „Kuß“ 1877) mit großem Erfolg verwertet

wird. Jn Frankreich wird immer noch der Alexandriner verwendet, in Spanien

der assonierend trochäische Vers.

|#f0078 : 56|



§ 39. Anforderungen an den dramatischen Dichter im

allgemeinen.



1. Der dramatische Dichter muß die Technik des Drama kennen

und sich in den Geist seiner Figuren zu versetzen wissen.



2. Er muß den Monolog wie den Dialog seinen Charakteren

entsprechend zu bilden vermögen.



3. Er muß daher vor allem Phantasie und hohe Bildung besitzen.



4. Er muß das Charakterisieren lernen und seine Kraft auf Gestaltung

guter Figuren wenden.



5. Er darf es nicht verschmähen, sich an guten Mustern zu bilden.



1. Die Anforderungen an den dramatischen Dichter in Bezug auf Disposition

der Handlung, Methode der Charakterbildung, Darstellung der Leidenschaft

und der Seelenvorgänge sind keine geringen. Er muß sich zunächst

Stimmung, Stand, Stellung, Lage, Alter, Verhältnisse seiner handelnden

Personen vergegenwärtigen, um seine Zeichnung objektiv zu gestalten, sowie die

Wahrheit der Unterredung und die Jndividualität dieser handelnden Personen

nicht zu beeinträchtigen, und auf diese Weise lediglich zum Ausdruck zu bringen,

was dieselben empfinden, denken, wollen.



Das wirklich Dramatische wirkt in ernster Handlung sicher tragisch, wenn

der Dichter es richtig zu gestalten vermag. (Das Wort tragisch ist als specifische

Folgenschweres, Trauriges bringende Art der dramatischen Wirkung zu betrachten.

Vgl. Bd. I S. 100.)



2. Der Dramatiker muß es verstehen, den Dialog einfach, natürlich, nur

aus der Handlung und den äußern wie innern Zuständen der Personen entspringend

zu gestalten und im Monolog (anstatt historisch unterrichtend) dem

innern Drang der Gefühle ein Organ zu sein. Nur solches Verständnis wird

ihn befähigen, den Zuschauer gleichsam dem Handelnden eng an die Seite zu

stellen, den ersteren in der Seele des Helden lesen zu lassen, wie es z. B.

Schiller beweist in dem zur Entfaltung der Leidenschaft mitwirkenden dramatischen

Monolog Tells vor der Ermordung Geßlers. (4. Akt 3. Scene.)



Vom Dramatiker muß man große poetische Kraft, männlichen Mut und

souveränen Sinn für die Schlußkatastrophe verlangen, um nicht vor dem Untergang

des Helden zurückzuprallen.



3. Für den Aufbau braucht der Dramatiker neben Phantasie auch Kenntnis,

poetischen Reichtum, dichterische Routine, um guten Stoff zu wählen und

diesen nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten. Der Dramatiker muß sich die

dramatische Bewegung vorstellen können, um nicht Hauptpersonen zu lang auf

der Bühne unbeschäftigt zu lassen, oder dem Darsteller zu viel zuzumuten. Er

muß die Leistungsfähigkeit des Sachdarstellers kennen, um nicht vom jugendlichen

Liebhaber zu verlangen, was nur der alte Jntriguant leisten kann.

Erzählende Partieen muß er zum Zweck der Andeutung der erregten Stimmung

der Hörer durch kurze Zwischenreden unterbrechen, wie dies Schiller in Wallenstein |#f0079 : 57|



durch den Bericht des schwedischen Hauptmanns erzielt. Geschehenes aber,

oder schwer Darstellbares muß er hinter die Bühne verlegen, oder er muß

durch die Reflexe wirken, z. B. Blitz, Geschützsalven, der dumpfe Fall des

Hauptes (Graf Essex von Laube) &c. Dagegen läßt er Emilia Galotti auf

der Bühne morden, weil der Mord durch Vaterhand hinter der Bühne die

Wahrscheinlichkeit verliert.



4. Jnsbesondere verlangt man vom Dramatiker die Kunst zu charakterisieren,

das Werden des Charakters zu malen, sein inneres Sein und Leben vorzustellen.

Aus dem Handeln des Helden muß man Sitte, Denk- und Handlungsweise

der Nation zu erkennen vermögen, welche der Held repräsentiert.



Unsere Helden zeichnen sich nicht selten durch beschauliche Ausbreitung der

Gefühlszustände aus, wiewohl einzelne nie der dramatischen Bewegung entbehren.

Lessing ist hochbedeutend, was Charakterisieren anlangt. Freytag sagt

mit Recht, daß der Reichtum an Detail, die Wirkung schlagender Lebensäußerungen,

welche sowohl durch Schönheit als Wahrheit überraschen, bei Lessing

in dem beschränkten Kreise seiner tragischen Figuren größer sei als bei Goethe,

unmittelbarer als bei Schiller. Bei ihm wird durch leidenschaftliche dramatische

Bewegung erreicht, was Goethe durch Darstellung der Gemütszustände, namentlich

bei seinen Frauencharakteren erreicht. Seine Helden lassen sich zum Teil

noch vorwärts schieben, aber doch fehlt es nicht an dramatischer Bewegung.

Schillers Bedeutung zeigt sich darin, daß seine Charaktere trotz der Ruhepunkte

in den bewegten Momenten in der höchsten Spannung verharren und in dieselbe

versetzen; sie sind voll Kraft und innern Gehaltes und handeln unbeirrt

um Konsequenzen ihrem Charakter gemäß. So kommen sie in Konflikt mit

der Umgebung und schmieden sich selbst ihr Geschick.



Es ist von Wert nachzuspüren, wie Schiller seine geschichtlichen Helden

konstruiert. Das einzige Beispiel des Wallenstein möge das in großen Umrissen

zeigen. Schiller zeigt nicht den Verräter Wallenstein, wie etwa Molière den

Geizigen, sondern er zeigt, wie Wallenstein durch das Schicksal allmählich zum

Verräter gemacht wird. Auf der Bühne sollen weder Thaten noch schöne Worte

allein wirken, sondern die Darstellung der Gemütsprozesse, welche das Empfinden

zum Wollen und zur That verdichten.



Schiller hatte vor sich den geschichtlichen Wallenstein, den egoistischen

Feldherrn mit seinen großen Plänen. Er sah ihn dem Wrangel gegenüber,

er sah ihn auf dem Observatorium. Die Erwägung, daß das Mißlingen der

Wallensteinschen Pläne den Helden in recht erbärmlichem Lichte erscheinen lassen

mußte, veranlaßte den Dichter, den Glauben Wallensteins an Astrologie poetisch

zu verwerten, um einen philosophisch denkenden, über die Erscheinungen des

Lebens dahinschreitenden Mann darzustellen, der an eine Vorsehung glaubt,

der sich durch seinen Glauben an sein Geschick auf Bahnen verlocken läßt, die

von anderen richtiger beurteilt werden, als von dem großen Feldherrn. Der

Dichter benützt das Moment, um Wallensteins Vertrauen zu denen zu rechtfertigen,

die ihn verrieten. ─ Um den Oktavio Piccolomini nicht zum kalten

Jntriguanten zu machen, knüpft er sein Schicksal durch den Max mit dem |#f0080 : 58|



Wallensteins zusammen &c. ─ Wie viel läßt sich an solcher Behandlungsweise

lernen!



5. Ein großer Teil der modernen Dichter historischer Dramen schreibt nur

dialogisierte, verstümmelte Geschichte, giebt epischen Stoff in dramatischer Form.

An Lessing, Schiller und besonders an Shakespeare sollte man sich ein Vorbild

nehmen! Des Letzteren Dichtungen: Julius Cäsar, Romeo und Julia,

Richard III., Coriolan sind im eminenten Sinne dramatisch und zeigen jene

wunderbare Kraft, die manchem berühmten Werke unserer großen Dichter fehlt.



§ 40. Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung.



Jedes Drama muß bühnengerecht sein, d. h. seine Bedeutung und

Berechtigung muß bei der Aufführung vom Publikum mit Anerkennung

gefühlt werden, und die Schauspieler müssen im Stande sein, durch

die Mittel ihrer Kunst das Eigenartige, Menschliche auch in wirksamer

Weise zur Darstellung zu bringen.



Ein Grieche würde die selbstverständliche Betonung der Forderung der

Aufführbarkeit mindestens überflüssig gefunden haben. Aber da unsere deutschmoderne

Litteratur (welche künstliche Lieder bildet, die niemand singen und

Dramen, die niemand inscenieren kann) nicht mehr in solcher Beziehung zum

Volke steht, wie dies bei der griechischen der Fall war, so ist wohl ein prüfender

Blick auf die Aufführungsmöglichkeit der Dramen am Platze.



Ein für die Aufführung geschriebenes Stück darf vor allem nicht zu

lang sein. (Cristofero Colombo von Rückert, welches einen Umfang von

618 Druckseiten hat, ist in dieser Richtung zu verwerfen). Weiter darf ein

Drama der Darstellung keine gegen Sitte und Anstandsgefühl verstoßenden

Scenen zumuten. (Wir werden uns gerne von einem Manne berichten lassen,

der ein Dutzend Angreifer vernichtet, aber wir werden uns gegen solche Balgerei

vor unsern Augen sträuben, um nicht mit der Wahrheit der Handlung in

Konflikt zu geraten. Wir werden ferner gegen gemeines Schimpfen und Raufen,

wie es sich z. B. bei Gryphius im Horribilikribrifax findet, auf unserer Bühne

ein Veto einlegen &c. Nackte Menschen, wie sie Rückert in Cristofero Colombo

vorführt, werden wir nicht auf der Bühne sehen wollen. Das Schwimmen

werden wir vielleicht in einem Zauberstück, sowie in der Ausstattungsoper

gestatten, nimmermehr aber in einer Tragödie u. s. w. Jn dieser Beziehung

leistet R. Wagner das äußerste dadurch, daß er seine Rheintöchter nicht bloß

schwimmen, sondern auch dazu singen läßt). Endlich darf das Stück für seine

Jnscenirung keine Ungeheuerlichkeiten und Unmöglichkeiten fordern. Auch muß

es nur eine solche Jnscenierung vorschreiben, welche in bezug auf Dekorationswechsel

und Umkleidung innerhalb der Zwischenakte möglich ist, ohne diese zu

sehr auszudehnen &c. Um praktische Begriffe von Aufführbarkeit zu erhalten,

muß sich der Dichter gründliche Bühnenkenntnis verschaffen.

|#f0081 : 59|



§ 41. Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen

Dichtung.



1. Für die Wirkung der Handlung hat man im Drama der

Gegenwart dem dekorativen Momente und der scenischen Ausstattung

weit mehr Rücksicht zu widmen, als dies früher bei der Einfachheit

der griechischen oder der Shakespeareschen Bühne der Fall war.



2. Das Kostüm ist der bestimmten Zeit seiner Träger anzupassen.



1. Es wurde viel darüber gestritten, ob der wahren Kunst durch die

Beachtung dekorativer Nebenumstände gedient sei, und einige haben geglaubt,

der Aristotelischen Ansicht (daß das Theatralische nicht Sache der Poesie sei,

vielmehr die Tragödie ihre Kraft auch schon ohne Bühnendarstellung und

Schauspieler erproben könne, vgl. Kap. 6 seiner Poetik am Schluß) auch im

Hinblick auf unsere Zeit beipflichten zu sollen. Da das Drama aber nicht

bloß für's Ohr, sondern auch für's Auge ist, so möchten wir die scenischen

Apparate unseres modernen Theaters namentlich in bezug auf Unterstützung

der nötigen Jllusion nicht verkümmert wissen. Es ist nur zu billigen, daß den

Jntentionen des Dichters durch treue Nachbildung der äußeren Räume (z. B. des

Meers, der Wartburg im Tannhäuser, des Hohentwiel im Ekkehard u. A.) Ausdruck

verliehen wird. Selbst bei Shakespeareschen Stücken fing man mit recht an,

die Dekorationsmalerei und die Maschinerie zur höchsten Bedeutung zu entfalten.

Shakespeare hatte s. Z. kaum mehr als eine graue und eine grüne Decke, mit

deren Hülfe er Gebäude oder die grüne Natur auf seiner in bestimmte Felder

für Haus, Straße, offenes Land u. s. w. eingeteilten Bühne vorstellte. Karl

Jmmermann (vgl. Theaterbriefe von G. zu Putlitz) wagte zuerst den Versuch,

angemessene, scenische Einrichtungen für Shakespearesche (und Calderonsche)

Stücke zu erfinden; L. Tieck begann sodann im Sommernachtstraum Shakespeare

für die moderne Bühne auszustatten. Jhnen folgte mit einer feenhaften Scene

Fr. Haase in Leipzig, ferner Dingelstedt in Wien, F. Wehl in Stuttgart u. a.



Otto Devrient inscenierte den Faust nach Art der Mysterien; berühmt

sind die Jnscenierungen des Herzogs von Sachsen-Meiningen.



2. Weiter fordern wir, daß bei Aufführung des Drama auch im Kostüm

das Besondere des Charakters ausgedrückt werde. Antiquarische Raritäten

kann man nicht verlangen; aber die Tracht des Jahrhunderts und des bestimmten

Volkes kann der Zuschauer fordern.



§ 42. Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der

dramatischen Dichtung.



1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist leichter, als die

des klassischen. Dafür muß das ernste Studium der Poetik seine

spezielle Aufgabe sein.



2. Weiter muß sich der moderne Schauspieler die höchste Bildung

erwerben, um seine Rolle durchgeistigen zu können.

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3. Diese Bildung muß ihn befähigen, der alten, natürlichen Kunstrichtung

zu huldigen und allem Virtuosentum entgegenzutreten, dessen

Unnatürlichkeiten und Künsteleien die Anteilnahme des Publikums

ausschließen, sofern die Charaktere den wirklichen Menschen unähnlich

erscheinen.



1. Die Aufgabe des modernen Schauspielers ist keine geringe, wenn sie

auch weniger anstrengend ist, als die seines antiken Kollegen. Der erste

Schauspieler bei Sophokles hatte in etwa 10stündiger Darstellung circa

1600 Verse in der durch die Flöte dazwischen angegebenen Tonlage zu sprechen.

Dabei waren die Anforderungen an dramatische Sprachweise nicht unbedeutend.

Ein falscher Accent, ein Hiatus, ein falscher Artikulationston konnte eine Aufregung

herbeiführen, die ihm den Sieg entriß. Unsre größte Rolle, Richard III.,

hat etwa 1128 Verse (oder in Wirklichkeit 900, da mehr als 200 gestrichen

sind). Dabei sind unsre jambischen Quinare kürzer, als die antiken Verse.

Wir haben leichtere freiere Bewegung in den Stimm-Mitteln, ebenso in der

Körperhaltung. Wie sehr mußte die Maske vor dem Gesicht dem antiken

Schauspieler lästig werden, ebenso der Kothurn unter den Füßen! Dafür hat

aber der moderne Schauspieler für Beachtung der ungemein schwierigen Accentuation,

Artikulation und Modulation der Stimme, die Gesetze des freien

Rhythmus zu studieren und zu üben. Von ihm verlangt man, was man vom

antiken Schauspieler nicht forderte, daß seine Kunst die jambischen Verse nicht nach

dem Versaccent, sondern nach dem eigenartigen Sinnaccent deklamiere u. a. m.



2. Der Schauspieler muß so viel Bildung besitzen, um am rechten Ort

durch den Blick des Hasses, der Verachtung, der Furcht, des Entsetzens u. s. w.

den Dichter zu unterstützen. Er muß seine Rolle zu durchgeistigen vermögen,

d. h. er muß sich so in dieselbe hineindenken können, daß er schließlich aus

seiner Empfindung herausspielt. Je gebildeter der einzelne Schauspieler ist,

desto größer wird sich die Wirkung des Stückes zeigen.



3. Die Aufgabe des Schauspielers wird um so schwieriger sein, je mehr

er sich bemüht, der sogenannten alten oder natürlichen Kunstrichtung zu huldigen

und seine Rolle schlicht und menschlich einfach, prätentionslos zu spielen,

je mehr er sich bewußt ist, allein im Verein mit Genossen das Gesamtbild

der dramatischen Handlung zu verkörpern.



Die neue Kunstschule bevorzugt leider nicht immer die schlicht=menschliche

Seite, welche ihren darzustellenden Charakter allen übrigen Menschen ähnlich

macht, sie erstrebt vielmehr etwas Apartes, in der Darstellung Virtuoses. Sie

zeichnet wunderbare, mit Pointen und mimisch dialektischen Kunststücken ausgestattete

Charaktere, wodurch sie nicht selten eine Rolle zur Kuriosität, zur

Kunstleistung, zur Monstrosität erhebt. Der Künstler der virtuosen Richtung

spielt wie Paganini auf der Geige seine Partie möglichst solo und das „Orchestergesindel“

der Mitspielenden, die doch Genossen sind, ist leider häufig genug

verurteilt, zu Gunsten des Virtuosen sich in den Schatten zu stellen.



Der Schauspieler sollte nie vergessen, daß für Erweckung von Mitleid,

Furcht, Lachlust die Anteilnahme des Publikums nötig ist. Er sollte nicht |#f0083 : 61|



wünschen, Jongleur oder Löwenbändiger zu sein. Sein Streben sollte bleiben,

Mensch zu sein, so daß sich das Publikum in seine Lage versetzen, sich mit

ihm identificieren kann. Dann erst wird es mit ihm leiden, fürchten, lachen.



Jst es nicht genug, wenn der Schauspieler die ihm vom Dichter geschaffenen

Charaktere belebt, sie zur menschlichen Existenz erhebt, muß er auch noch durch

virtuose Künsteleien und Unnatürlichkeiten glänzen und Überraschung und eine

dem Seiltänzer gezollte Bewunderung suchen? Die neue Schule hascht nach

Bewunderung und findet Bewunderung. Aber ein jeder sagt sich: „Dieser

Mann auf den Brettern ist dem Menschen unähnlich; so wie er, bist du nicht.“

Vor lauter Bewunderung geht sodann die ethische Wirkung des Drama, die

Würde der Poesie und der Schauspielkunst verloren. Das Haschen nach Bewunderung

verleitet den Darsteller, nicht nach der Gediegenheit des aufzuführenden

Dramas zu sehen, sondern darnach, ob seine Rolle viele auf Erregung

von Bewunderung auslaufende Effekt-Scenen habe!



Die Effekthascher unter den Schauspielern würdigen das Publikum zum

„Janhagel einer Reiterbude“ herab, anstatt durch Erregung aller menschlichen

Affekte sittlich zu reinigen und auf Verschönerung des Lebens hinzuwirken.

So verleiten sie auch den Schriftsteller, nur noch Bravourscenen zu schreiben.

So tragen sie zum Verfall der Bühne bei, und das Publikum rächt sich durch

„grobsinnliche Unersättlichkeit seiner gesunkenen Bildung“.



Jn neuester Zeit sind es in Deutschland in hervorragender Weise die

Meininger-Schauspieler, welche ihre Aufgabe begreifen und lösen, welche in

Wiedergabe der klassischen Dichtungen in ihrer Totalität künstlerische Thaten

liefern, die ihresgleichen in Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Kunst

nicht haben. Jm harmonischen Zusammenwirken aller Künste ist es ein Kultus,

den sie feiern, ein Triumph des wahrhaft Schönen. Die harmonische Zusammenwirkung

ist hinreißend, erschütternd, erhebend. Wir betrachten diese Thaten

edler und wahrer Kunst als den Beginn einer neuen Ära deutscher Schauspielkunst.





§ 43. Erfolg der dramatischen Dichtung.



1. Jst ein Drama in Hinsicht auf Erfindung wie auf innere und

äußere Technik gelungen, und wird es gut aufgeführt, dann ist seine

Wirkung eine bedeutende.



2. Das gute Drama hat die Aufgabe, die Bildung des Jahrhunderts

zu heben.



1. „Hier sieht,“ wie schon A. W. Schlegel (Sämtl. Werke V 37) sagt,

„der Fürst, der Staatsmann und Heerführer die großen Weltbegebenheiten der

Vorzeit, denen ähnlich, in welchen er selbst mitwirken konnte, nach ihren innern

Triebfedern und Beziehungen entfaltet; der Denker findet Anlaß zu den tiefsten

Betrachtungen über die Natur und Bestimmung des Menschen; der Künstler

folgt mit lauschendem Blick den vorüberfliehenden Gruppen, die er seiner

Phantasie als Keime künftiger Gemälde einprägt; die empfängliche Jugend |#f0084 : 62|



öffnet ihr Herz jedem erhebenden Gefühl; das Alter verjüngt sich durch Erinnerung;

die Kindheit selbst sitzt mit ahndungsvoller Erwartung vor dem

bunten Vorhange, der rauschend aufrollen soll, um noch unbekannte Wunderdinge

zu enthüllen; alle finden Erholung und Aufheiterung und werden auf

eine Zeitlang der Sorgen und des täglichen Drucks ihrer Lebensweise enthoben.“



2. Jede Wirkung hinterläßt einen Eindruck, eine bleibende Spur. Die

Summe dieser Spuren bedingt und hebt die ästhetische und moralische Durchschnittsbildung

des Jahrhunderts. Daraus erwächst die Forderung, nur solche

dramatische Dichtungen vorzuführen, welche für das Edelste und Erhabenste

Begeisterung schaffen. Nicht darf eine dramatische Dichtung durch sinnlichen

Glanz blenden, nicht Verbrechen als Tugend stempeln, nicht Verführung in

anziehendem Gewande erscheinen lassen, nicht niedrige und gewöhnliche Ausbrüche

der Leidenschaft und Gemeinheit ihren Personen in den Mund legen,

nicht anstand- und schamverletzend (wie es in vielen französischen Machwerken,

sogar in dem neuerdings beliebt gewordenen bessern Stück „Dora“ von Sardou

geschieht; vgl. Ende des I. Aktes), die Handlung fortspinnen; vielmehr muß

das Jdeale, Erhabene, Edle, Wahre und Schöne das Ziel der guten dramatischen

Dichtung sein, das sie durch Entfaltung aller Mittel, durch Sinnestäuschungen

(Jllusionen), durch Mimik, Deklamation, Malerei erreicht. So

wird die Dramatik auch durch die Bühne nachhaltiger wirken, als das Leben

selbst; so wird sie sogar diejenigen gewinnen, denen sonst alles Jdeale unverständlich

ist; so wird sie einen Beitrag liefern zur Geistes- und Herzensbildung

der Nation.



V. Übergänge der Gattungen der Poesie.


§ 44. Einteilung der Übergangsformen.



Nicht immer beschränken sich die einzelnen Dichtungen einseitig

auf das lyrische, didaktische, epische und dramatische Element. Häufig

gehen in einem und demselben Gedichte verschiedene dichterische Elemente

in einander über, so daß man das Gedicht für lyrisch, oder für episch &c.

halten könnte. Jn solchem Falle wählt man folgende zusammengesetzte

Bezeichnungen und Einteilungen:



I. Vorwiegen des lyrischen Elements.



a. lyrisch=episch, b. lyrisch=didaktisch, c. lyrisch=dramatisch.



II. Vorwiegen des didaktischen Elements.



a. didaktisch=lyrisch, b. didaktisch=episch, c. didaktisch=dramatisch.





III. Vorwiegen des epischen Elements.



a. episch=lyrisch, b. episch=didaktisch, c. episch=dramatisch.



IV. Vorwiegen des dramatischen Elements.



a. dramatisch=lyrisch, b. dramatisch=didaktisch, c. dramatischepisch.



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§ 45. Darstellung der häufigsten Übergangsformen.



a. Lyrisch-episch.



Lyrisch=episch ist eine Dichtung, deren Gefühlsausdruck mit Erzählung

oder Beschreibung verbunden ist.



Die Bezeichnung lyrisch=epischer Dichtungsarten verdienen daher vorzugsweise

Balladen und Romanzen, sowie einzelne Legenden. An Balladen und

Romanzen nenne ich als Beispiele: Bürgers Der brave Mann; Goethes Sänger,

Fischer, Erlkönig; Schillers Bürgschaft, Handschuh, Taucher, Kraniche des

Jbykus; Chamissos Riesenspielzeug; Uhlands Des Sängers Fluch; Mosens

Andreas Hofer; Platens Das Grab im Busento; Heines Grenadiere; Freiligraths

Löwenritt; Georg Schultzes Präriebrand; H. Bessers Choral von Leuthen.



Als Beispiele lyrisch=epischer Legenden nenne ich Goethes Legende vom

Hufeisen; Bürgers Schatzgräber; Kosegartens Amen der Steine; Rückerts

Chidher; Julius Sturms Luther beim Tode seines Lenchens; Herders Der

gerettete Jüngling.



Von anderen lyrisch=epischen Dichtungen sind erwähnenswert: Alfred

Meißners Ziska; Moritz Horns Die Pilgerfahrt der Rose, Die Lilie vom See,

Magdala; Adolf Böttgers Habaña; Otto Roquettes Hans Haidekuckuk; Fontanes

Gedicht von der schönen Rosamunde; Eduard Schulzes Die Himmel;

Rückerts Windstille; Lenaus Faust, Savonarola, Die Albingenser; G. Morins

Stern und Rose; Ad. Strodtmanns Rohana; C. Ferd. Meyers 2. Abteil.

seiner Gedichte; Wilh. Jensens Lieder aus dem Jahre 1870; A. Beckers

Jung-Friedel; Rob. Hamerlings Venus im Exil; sowie Geibels lyrisch=epische

Meisterstücke, (z. B. Mythus vom Dampf, Babel, Der Bildhauer des Hadrian,

Der Tod des Tiberius) &c.



b. Lyrisch-didaktische Dichtungen.



Lyrisch=didaktisch sind alle jene Dichtungen, deren Gefühlsausdruck

belehrende Tendenz gewinnt.



Als vorzügliche Proben sind zu nennen: Schillers Lied von der Glocke;

Rückerts Die hohle Weide &c. Rhetorisch=didaktisch sind die freireligiösen Gedichte

von Leberecht Uhlich (Gera 1872), didaktisch=lyrisch (== philosophisch=lyrisch)

ist Arnold Schlönbachs Dichtung Die Weltseele &c.



c. Lyrisch-dramatische Dichtungen.



So bezeichnet man jene Dichtungen, bei welchen das Gefühl in

Gesprächsform zum Ausdruck gelangt.



Als Proben nenne ich das bekannte Bienengesumme von Rückert, sowie

besonders M. Blanckarts' ergreifendes „Mutter und Kind“.



d. Episch-lyrische Dichtungen.



Sie verbinden die lyrische Entwickelung innerer Gefühlszustände

mit einem epischen Motiv.



Diese Form bildete den Übergang von der Epik zur Lyrik und ist daher

in den ältesten Denkmälern unserer Litteratur nachweislich. Man vgl. z. B. |#f0086 : 64|



in Tiecks Minnelieder (Werke Bd. XX S. 79) Nr. 33. Dieses Gedicht

Dietmars von Aist beginnt mit der Erzählung:



Es stunde eine Fraue alleine

Und wartete über Heide,

Und wartete ihres Liebes,

So ersah sie Falken fliegen.



Daran fügt Dietmar einen Monolog der Frau, welcher ihre Gefühlszustände

durch Vergleichung mit dem Falken darlegt und schließt:



O weh, wie lassen sie mir nicht mein Lieb,

Wohl begehrte ich doch ihres keines Trautes niemals nie.



Episch=lyrisch ist Reinmar der Alte. Episch=lyrisch, an vielen Stellen

rhetorisch=lyrisch, könnte man ferner Klopstocks Messiade nennen. Episch=lyrisch

sind J. G. Fischers Bilder vom Bodensee u. a.



e. Episch-didaktische Dichtungen.



Episch=didaktisch ist ein Gedicht, wenn die Lehre in Form einer

Erzählung gegeben wird.



Beispiel: Der Fürst und der Landmann von Fr. Rückert. Ferner:

Theophania von Fr. Beck (Gotha 1855) &c.



Didaktisch=episch ist das Gedicht Die Gesundbrunnen von Valerius Wilh.

Neubeck.



f. Episch-dramatische Dichtungen.



Bei ihnen ist Erzählung mit Gespräch verbunden.



Beispiele: Rückerts Gottesmauer. Ferner Die Vergeltung von Blanckarts

&c.



g. Dramatisch-didaktische Dichtungen.



Es sind dies diejenigen Gedichte, bei welchen das Belehrende in

Gesprächsform geboten ist.



Beispiel: Fr. Rückerts Gespräch mit Uhland, sowie Sallets Fragment

aus einer Tragödie im antiken Stil u. s. w.



§ 46. Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten.

(Eine historisch=philosophische Betrachtung im Umriß.)



1. Bevor wir die einzelnen Dichtungsarten vorführen, ist eine

mehr philosophische Betrachtung des Zusammenhangs und der historischen

Entwickelung der einzelnen Dichtungsarten im Anschluß an das in § 10

und § 18 des 1. Bandes gegebene Material geboten. Wir gehen dabei

davon aus, daß die Quelle der epischen Poesie die ursprünglich

älteste: die Erinnerung ist, indem wir fragen:



2. Wie verhält es sich mit dem Abblühen der Epik?



3. Wie lösten sich nachweislich die einzelnen Gattungen der Poesie

ab? Endlich

|#f0087 : 65|



4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für

die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung

bis in die Gegenwart war maßgebend?



1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser

Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von

der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen,

daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das

Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung

war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis

der Musen Mutter genannt worden. Die Muse (μόντια == μοῦσα) hat vom

Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders

da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I.

S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens

nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen,

Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung,

als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer

fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden

Sänger (ἀοιδοί), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken

&c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie

ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab

der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung.



2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen

der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich

kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger,

deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind.



3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden

sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische,

äolische und dorische Lyrik zu denken.



Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier,

dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die

freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge

fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt.

Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von

Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters

des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche

Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches

die einmal erlangte Herrschaft behielt.



4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab;

sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h.

aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr

durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen

Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist)

die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Provençalen nach,

und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern, |#f0088 : 66|



was sich unter der Pflege der bevorzugteren Geister hätte national

entfalten können. Die Nachahmung zeigt sich in der Nachbildung der Formen

und in der Übertreibung derselben. Auch fehlte der nachgeahmten Dichtung

die Fülle der Gefühlsäußerung. Bei den Franzosen und Provençalen mit ihrer

mehr südlichen Glut war die Minneverehrung begreiflich, bei uns nahm sich

diese nachgeahmte Minne-Verherrlichung, welcher der französische Humor fehlte,

manieriert aus; daher hatte die höfische Lyrik nur kurze Blüte, kurzen Bestand.

Die romantische Lyrik hemmte, erschwerte unsere nationale Lyrik. Der Minnesang,

der ausschließlich von den höheren Ständen in Burgen und Palästen

gepflegt wurde (man unterschied von diesen die das Volk mit Sagen und

Geschichten unterhaltenden, fahrenden Poeten), verstummte gar bald mit seinen

nicht selten schwärmerisch religiösen, die heilige Maria erhebenden Weisen.



Die Liebhaber des deutschen Meistergesangs, die wenig vom Wesen der

Poesie verstanden, und nur die äußere Form jener Lieder des Minnesangs,

das Regelwerk (Tabulatur), festhielten, bereicherten die Litteratur mit Liedern

ohne Schwung und Gehalt.



Jn der Reformationszeit begann man das klassische Altertum zu pflegen.

(Agrikola von Eisleben, Reuchlin aus Pforzheim, Erasmus von Rotterdam,

Melanchthon aus Bretten.) Das Kirchenlied erhielt durch Luther Übergewicht.



Der 30jährige Krieg brachte eine Verwilderung oder Ertötung in Deutschland

hervor, die jeden Aufschwung der dichterischen Phantasie für lange Zeit

unmöglich machte.



Nachahmungen des Ausländischen, fremdländische Wörter und Wendungen

überwucherten die Litteratur. Die erste schlesische Dichterschule unter Opitz'

Führung suchte vergebens der Litteratur aufzuhelfen. Die zweite unter Hoffmannswaldaus

und Lohensteins Leitung (Bd. I. S. 51) verschmähte das Verständige

der ersten und erstrebte das Gefühlvolle, ließ sich aber im Nichtverständnis

der Korrektheit der Form nicht selten zu Schwulst, Geschmacklosigkeit und

Schlüpfrigkeit hinreißen, bis endlich im 18. Jahrhundert der Nationalsinn in

herrlichen Flammen emporschlug und unsere Litteratur zur neuen Blüte brachte.



Der Schweizer Bodmer (mit Breitinger) trat siegreich gegen Gottsched auf,

der die Franzosen als Muster der Poesie empfiehlt, und frischte das Andenken

der altdeutschen Poesie auf durch Herausgabe der Minnesinger und der Nibelungen.



Drei Männer sind es besonders, welche die deutsche Litteratur zum

zweitenmal aufblühen machten und zwar schöner, als in der Zeit des Minnesangs.

Es waren der auf klassischem Boden stehende Klopstock, der im

„Messias“ ein deutsches Nationalwerk lieferte; ferner Lessing, der mit seiner

Kritik die fremden Beimischungen bekämpfte; endlich Wieland, der die Glätte

der deutschen Sprache darthat. Jhre Werke muß jeder Freund der Poesie

gelesen haben. Die Dichter des Hainbundes, die Stürmer und Dränger unterstützen

diese Bahnbrecher und helfen die Litteraturblüte herbeiführen.



Der gefühlvolle Barde Klopstock (I. S. 54) vereinigte Darstellung und Verschmelzung

des Deutschen (das deutsche Element zeigen seine Bardiete), mit dem

Christlichen (Messias), und dem Altklassischen (Hexameter und andere Maße &c.).

|#f0089 : 67|



Schillers Genius verdunkelte ihn, aber seine Einwirkung auf die Litteratur

war doch gewaltig. Größer war die des besonnenen, kühlen, kritischen

Lessing, der durch seine Leistungen, wie durch seine Kritik der Dichter wurde,

an den sich die Satiriker und Dramatiker der Folgezeit anreihten. Wieland

brachte durch seine fließende Sprache eine heilsame Bewegung hervor und wurde

Vorbild und Vorläufer der Romantiker, der Ritterdichter und vieler Romanschriftsteller.

Der Hainbund, der 1772 unter Boie gegründet wurde, wandte

sich gegen Wieland und nahm Klopstock als Vorbild. Nun traten die Kraftgenie's

der „Stürmer und Dränger“ auf, welche den Dichterparnaß gleichsam

zu erstürmen suchten, und zu denen auch Herder, Goethe und Schiller in der

Jugend gehörten; im reiferen Alter erreichten letztere das höchste Ziel: litterarische

Allseitigkeit und Gefühlsinnigkeit.



Obgleich Schiller und Goethe nunmehr die Poesie zur höchsten Stufe der

Entfaltung brachten, so waren doch die nun auftretenden sog. Romantiker nicht

zufrieden. Sie betrachteten die herrschende Poesie als eine Gelehrtenpoesie und sie

verlangten größere Gefühlsinnigkeit, Volkstümlichkeit der Poesie.



Sie nahmen ihren Stoff nicht aus dem klassischen Altertum, wohl aber aus

dem romantischen Mittelalter, und lehnten sich an die ihnen näher verwandten

englischen, italienischen und spanischen Dichter an (an Shakespeare, Tasso, Petrarka,

Camoëns, Dante, Calderon &c.), zum Teil auch deren Formen nachahmend. So

wurden sie die Vorläufer der modernen Poesie, und ihr Einfluß auf das

gesamte litterarische und künstlerische Leben Deutschlands war nicht zu verkennen.



An der Grenze der modernen Lyrik, welche reine Form mit nationalem

Jnhalt anstrebt, steht die schwäbische Dichterschule: ein Uhland, Schwab, Kerner,

Pfizer, Mörike. Der Schreck, welcher durch die Juli-Revolution die konservative

Aristokratie aufrüttelte, wirkte auflösend, zurückdrängend auf die romantische

Poesie, die mit ihrer Begeisterung für den Zauber des Mittelalters, mit ihrer

nicht selten salbungsvollen religiösen Schwärmerei, an diese Aristokratie sich

anlehnte. Das sogenannte junge Deutschland (junge Schriftsteller, die ein freies

Litteratenleben zum Beruf wählten) segelte auf den hochgehenden Wellen des

Zeitgeistes siegreich dahin, die Emancipation des Geistes auf das Banner schreibend.



Jmmer mehr rang die Poesie nach Selbständigkeit. Schon in Chamissos

und Eichendorffs Poesieen vernehmen wir die Totenklage der abscheidenden

Romantik. Man begann im ganzen sich frei zu machen von den veralteten

antiken Formen, und schloß sich der deutschen Anschauung und dem deutschen

Zeitbedürfnisse an. Dies wurde die Signatur der neuesten Litteratur.

Die modernen Dichter stehen zum Teil hinter den Klassikern zurück, aber sie

haben unstreitig den richtigen Weg betreten, indem sie aus dem Volksgeist

schöpfend dem wechselnden Leben der Zeit sich hingaben. Ein Hebbel, Strachwitz,

Feuchtersleben, deren Wirksamkeit zum Teil noch vor 1848 fiel, ein Rückert,

Freiligrath, Gutzkow, sie haben die Poesie aus der engen, idyllischen Dichterstube

auf den lebendigen Markt der bewegten Welt verpflanzt. Ein Heine,

Jordan, Scheffel, Hamerling, ja, ein Richard Wagner durchbrachen die hergebrachte

Schulmetrik und drängten ─ nur den deutschen Rhythmus und |#f0090 : 68|



Accent berücksichtigend ─ zum Deutschtum, aus dessen Gesundbrunnen auch die

Nachromantiker (Dreves, Görres, Victor v. Strauß), die Vertreter der modernen

Wald- und Blumenpoesie (Gustav zu Putlitz, Adolf Böttger, Moriz Horn,

Corrodi, Karl Lehmann), die frommen und beschaulichen Lyriker (Knapp, Spitta,

Julius Sturm, Gerok, J. Hammer, Schults, Alb. Träger, Heffemer), die

Realisten in der Poesie (G. Freytag, Ludwig, Edm. Höfer, Scherenberg, Fontane,

Sigismund, Anton Niendorf), unsere neuesten Dramatiker und Epiker (Otto

Banck, Bodenstedt, Hamerling, Grosse, Heyse, Hans Hopfen, Gottfried Keller,

H. Lingg, Albert Lindner, Scheffel, Roquette, Schneegans, Spielhagen, Ad.

Stern, Theodor Storm, Max Waldau, Ad. Wilbrandt, Robert Prölß), und

besonders auch unsere modernen Anakreontiker trinken (ein Geibel, Redwitz, Gottschall,

Kinkel, W. Jensen, Grosse, Rittershaus, Claire von Glümer, Ludwig

Bauer, P. Cornelius, Richard Pohl, Gotthelf Häbler, J. G. Fischer, Alb.

Möser, Emil Kuh, Zeise, Al. Kaufmann, Amara George u. A.).



So gewinnen wir eine nationale Litteratur und steuern zweifelsohne einer

dritten Blüteperiode zu, die in Vereinigung alles geistigen Kapitals mit Genialität

und Originalität den Ausdruck deutschen Empfindens, Denkens und Wollens

sicher erreichen wird.



§ 47. Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen.



Die in den nachfolgenden Hauptstücken ausgeführte Einteilung und

Darstellung entrollt die sämtlichen Dichtungsgattungen unserer Poesie.

─ Wir stellen denselben der Übersicht und Orientierung wegen eine

schematische Übersichtstafel voraus, um sodann den einzelnen Formen

in erschöpfender Weise nahe zu treten.



I. Lyrische Poesie.

[Beginn Spaltensatz]I. Formen ruhiger Empfindung.

Das Lied.

Volkslied.

Kunstlied und seine Formen.

A. Weltliches Lied.

1. Vaterlandslied.

2. Naturlied.

3. Liebeslied.

4. Komisches Lied.

5. Geselliges Lied.

6. Elegisches Lied.

7. Jdyllisches Lied.

B. Geistliches Lied.

1. Religiöses Lied.

2. Kirchenlied.

a. Bußlied.

b. Danklied.

c. Trostlied.

d. Gebetlied.

e. Loblied.

f. Glaubens= od. Bekenntnislied.[Spaltenumbruch]

C. Fremde Formen des Kunstliedes.

(NB. Abgehandelt Bd. I. § 164 ff.)

1. Sonett 2. Ritornelle 3. Sestine 4. Stanze 5. Sicilian 6. Kanzone 7. Vierzeile

Provençalisch=

italienische

lyrische Formen.
8. Decime 9. Glosse 10. Tenzone 11. Kancion 12. Seguidilla

Spanisch und

Portugiesisch.
13. Madrigal 14. Akrostichon 15. Triolett 16. Rondeau

Französisch.
17. Alexandrinerstrophen.
Fz.=Dtsch.
18. Persische Vierzeile 19. Ghasel

Orientalisch.
[Ende Spaltensatz] |#f0091 : 69|



[Beginn Spaltensatz]II. Formen begeisterter Empfindung.

1. Ode.

2. Lyrische Rhapsodie.[Spaltenumbruch]

3. Hymne.

4. Dithyrambe

5. Elegie.[Ende Spaltensatz]



II. Didaktische Poesie.

[Beginn Spaltensatz]I. Symbolische Didaktik.

1. Fabel.

2. Parabel. Paramythie.

3. Sinnbild.

4. Allegorie.

a. Allegorie.

b. Rätsel.

II. Didaktik mil besonderem Charakter.

1. Satire.

2. Travestie und Parodie.

3. Humoristische Dichtungen.[Spaltenumbruch]

III. Eigentliche Didaktik.

1. Jdeale Gedankenlyrik.

2. Kulturhistorisches Gedicht.

3. Epigramm.

a. Sinngedicht.

b. Gnome, Spruch.

4. Poetische Epistel. Heroide.

5. Kurze lyrisch=didaktische Formen.

6. Wirkliches Lehrgedicht.[Ende Spaltensatz]



III. Epische Poesie.

[Beginn Spaltensatz]I. Aus dem Leben der Wirklichkeit.

1. Poetische Erzählung und Rhapsodie.

2. Makame. (Abgehandelt I. S. 589.)

3. Jdylle.

4. Beschreibendes Gedicht.

II. Aus der Sagenwelt.

1. Sage.

2. Mythus.

3. Märchen.

4. Legende.

5. Romanze.

6. Ballade.

7. Epos. a. Volksepos.

b. Kunstepos.[Spaltenumbruch]

III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildet.



Prosaische Gattungen.

a. Roman.

b. Novelle.[Ende Spaltensatz]



IV. Dramatische Poesie.

[Beginn Spaltensatz]I. Gedichte mit nur dramatische Form.

1. Monolog.

2. Dialog.

3. Dramatisierte Begebenheit.

II. Eigentliche Dramen.

1. Dramatisches Gedicht.

2. Tragödie.

3. Schauspiel.

4. Komödie.

a. Lustspiel.

b. Posse.

III. Musikalisch dramatische Formen.

1. Weltliche Formen.

a. Große Oper (Oper. Singspiel).

b. Komische Oper.

c. Vaudeville.

d. Jntermezzo.

e. Melodrama.

2. Kirchliche Formen.

a. Motette.

b. Choral.

c. Kantate.

d. Passion.

e. Messe.

f. Oratorium.[Ende Spaltensatz]

|#f0092 : 70|



Zweites Hauptstück.

Die lyrischen Dichtungen. ──────


§ 48. Einteilung der lyrischen Dichtungen.



Am leichtesten wird sich das Gebiet der Lyrik übersehen und

rubricieren lassen, wenn wir den Jnhalt der Gedichte und die in denselben

zu Tage tretende größere oder geringere Erregtheit des Gefühls

zum Einteilungsgrund nehmen.



Die lyrischen Gedichte drücken entweder religiöse oder klagende Gefühle

aus oder Gefühle irgend eines poetischen Moments des Lebens. Sie äußern

sich in Teilnahme, in Freude und Lust; sie tragen heiteren oder traurigen

Charakter. Je nachdem die Gefühle in ruhiger Klärung oder in erregter,

schwärmerischer Bewegung oder Begeisterung sich äußern, wird auch das lyrische

Gedicht einen andern Charakter und in Folge davon einen andern Namen zu

erhalten haben. Es läßt sich je nach dem Jnhalt des Gedichts und der

Jntensität der Gefühlserregtheit folgendes Schema bilden:



[Beginn Spaltensatz]I. Der Jnhalt des lyrischen

Gedichts, der äußere Anstoß,

das Objekt stammt:


1. Aus dem Gefühlsleben:

2. Aus dem Leben der Geselligkeit:



3. Aus dem reflektierenden

Gefühl (Reflexion):

4. Aus der Religion:[Spaltenumbruch]

II. Der Grad des Jmpulses auf das Gefühl ergiebt:

[Beginn Spaltensatz]I. Dichtungsarten

ruhiger Empfindung.


Gruppe des ruhigen

Lieds.


Volkslied.

Kunstlied mit seinen Formen

(s. § 61 d. B.), wozu

die in den §§ 164 bis

185 des I. Bandes abgehandelten

Formen (II.

S. 68) wie die nachstehenden

Gattungen zu rechnen

sind.

Geselliges Lied.

Elegisches Lied.

Jdyllisches Lied.

Geistliches Lied. (S. § 61

d. Bds.)[Spaltenumbruch]

II. Dichtungsarten

höherer Erregtheit.


Gruppe des begeistert erregten

Lieds.


a. Ode und

b. Lyrische Rhapsodie.

c. Kantate. (Abgehandelt

im letzten Hauptstück d.

Bds.)

d. Dithyrambe.

e. Elegie. Nänie.

f. Hymnus.[Ende Spaltensatz]

|#f0093 : 71|



I. Formen ruhiger Empfindung.


Das Lied und seine Formen.


§ 49. Begriff und Einteilung.



1. Jedes lyrische, ein sanftes Gefühl darstellende Gedicht, dessen

eigentliche und ursprüngliche Bestimmung ist, gesungen zu werden,

und das man als den lebendigen poetischen Ausdruck einer individuellen

Stimmung des Gemüts betrachten kann, nennt man ein Lied.



2. Die erste Form des Liedes war das seit Herder sog. Volkslied.

Wir teilen daher die Lieder ein: in Volkslieder und Kunstlieder.



1. Das Lied ist die wesentliche Form und die Blüte aller Lyrik; in ihm

ist die Jndividualität und Subjektivität des Dichters am unvermitteltsten ausgeprägt.

Daz liet“ war in seiner ursprünglichsten Form eine einzelne

Gesangsstrophe. Zur Bezeichnung mehrerer Gesangsstrophen bediente man sich

des Plurals „diu liet“ (nicht zu verwechseln mit lit == Glied).



Vor allen andern Völkern haben die Deutschen den größten Reichtum an

herrlichen Liedern aufzuweisen. Dies hat seinen Grund teilweise darin, daß

der Deutsche die Weisen und Arten vieler fremder Völker abgelauscht hat.



Die Franzosen kennen das eigentliche Lied nicht und haben dafür auch

kein Wort, weshalb sie jetzt für diese Gattung das deutsche Wort „Lied“ aufgenommen

haben.



2. Dem Volkslied stellt sich das Kunstlied gegenüber. Dieses nahm

ursprünglich die Gestalt des Minneliedes an. Darauf folgte das Meistersängerlied.

Luther pflegte das geistliche Lied, und Opitz gab uns das Lied mit

gelehrtem Anstrich:
das Sprachlied im Gegensatz zum Singlied.

Durch Klopstock erhielt das Lied klassischen Charakter. Goethe war es, welcher

das Lied auf die höchste Höhe hob.



Die strophische Einteilung des Liedes hat bewirkt, daß man auch erzählende

Gedichte (z. B. das Nibelungenlied und Hildebrandlied &c.) fälschlich als Lieder

bezeichnet, was vielleicht noch dadurch veranlaßt wurde, daß diese Gedichte

gesangsweise vorgetragen wurden, also die rhythmische Form des Liedes hatten.

Auch Schillers Lied von der Glocke ist ein didaktisches Gedicht und kein Lied

im eigentlichen Sinn u. s. w.



Nach dem ruhigeren oder gesteigerten oder reflektierenden Gemütsausdruck

ließe sich diese Einteilung auch in folgendes Schema fassen:



A. Lyrik ruhiger Empfindung == Lied, geselliges Lied, geistliches

Lied, und fremde Formen.



B. Lyrik begeisterter Empfindung == Ode, lyrische Rhapsodie,

Dithyrambe, Hymne.



C. Lyrik der Reflexion == Elegisches Lied, Elegie.



Die Einteilung der lyrischen Poesie ist bei den verschiedenen Litterarhistorikern

je nach den Ausgangspunkten verschieden. Der Ästhetiker Vischer |#f0094 : 72|



macht die Art und Weise, wie das Gemüt das dichterische Objekt in sein inneres

Leben umsetzt, zum Einteilungsgrund und unterscheidet a. die Lyrik des

Aufschwungs
(das Hymnische, Dithyramb, Ode), b. die reine lyrische

Mitte
(das Liedartige), c. die Lyrik der Betrachtung (Elegie, orientalische

Lyrik, romanische Formen, Sonett, Epigramm u. s. w.).



Carrière unterscheidet Lyrik der Empfindung und der Anschauung

(auch des Verstandes). Rudolf Gottschall teilt in Lyrik der

Empfindung, der Begeisterung und der Reflexion. W. Wackernagel geht

vom historischen Verhältnis der Lyrik zur Epik aus und unterscheidet: a. lyrische

Lyrik == Lyrik des Gefühls; b. epische Lyrik == Lyrik der Einbildungskraft;

c. didaktische Lyrik == Lyrik des Verstandes.



Wir wählen auch aus äußeren Gründen bei Vorführung der lyrischen

Dichtungsarten die obige Einteilung in der Weise, daß wir zuerst die sämtlichen

weltlichen und geistlichen Liedformen abhandeln, um sodann die Formen

höherer Erregtheit zu bieten. Charakteristisch für unsere Unterscheidung ist,

daß das Lied prädestiniert ist, gesungen zu werden, während Ode, Dithyrambus,

Hymnus, Elegie mehr für die Recitation geschaffen zu sein scheinen. Letztere

Gattungen sowie die in Band I § 164 ff. abgehandelten Formen sind Kriterien

des künstlerisch gebildeten Lyrikers: sie sind die Lyrik gesteigerter dichterischer

Bildung und Befähigung.



Da die Kunstdichtung sich erst aus der Volksdichtung entwickelte, so lassen

wir den Volksliedern die Kunstlieder folgen.



Die verschiedenen Formen des Kunstliedes sind im § 61 aufgezählt.



§ 50. Anforderungen an das Lied im allgemeinen.



Die Haupterfordernisse des zum Gesang bestimmten Liedes sind:



1. Einfachheit und Schönheit,



2. gesetzmäßige rhythmische Anordnung,



3. Sangbarkeit.



1. Die Einfachheit und Schönheit fordert Natürlichkeit und Wahrheit

der Jdee sowie Wärme und Jnnigkeit der Gefühlsäußerung. Sie verlangt

ferner ─ gleichviel ob das Lied heiteren oder ernsten Jnhalts ist ─ eine

klare, leicht dahinfließende Sprache. Die schöne Jdee darf nur Mittel dazu

sein, die gemäßigte Empfindung zum gemütbestrickenden sprachlichen Ausdruck

zu bringen. Man soll es der ungezierten, ungekünstelten Sprache anmerken,

daß sie unmittelbar vom Herzen komme, „wie der Quell aus verborgenen

Tiefen“ u. s. w.



2. Da das Lied für den Gesang bestimmt ist, so unterscheidet man in

seiner äußerlichen Form eine geregelte Einteilung in Verse und Strophen, die

sich selbstverständlich in metrischer Hinsicht möglichst entsprechen müssen. Lieder

der Freude sind nicht selten in jambischen oder trochäischen, wie auch in

jambisch=anapästischen und trochäisch=daktylischen Maßen geschrieben, während |#f0095 : 73|



traurige, sentimentale, Schwermut atmende Lieder meist im drei- und fünftaktigen

Trochäus gedichtet sind. Außerordentlich viele Lieder sind in vierzeiligen

Strophen geschrieben. Überachtzeilige Strophen sind seltener. Doch wirken auch

mehrzeilige Lieder, wenn sie sangbar sind. (Vgl. Geibels Spielmannslied mit

seinen 12zeiligen Strophen.)



3. Sangbar ist ein Gedicht, welches von den Wellen des Gefühls getragen,

eine, der dichterischen Empfindung verwandte Stimmung hervorruft und

in Sprache, Accent und Modulation so natürlich volkstümlich klingt, daß wir

beim Vorlesen ohne weiteres eine eigenartige Melodie heraushören. Es tönt

wie Gesang, es zwingt uns zum Gesang, sein Wesen ist Gesang. Das sangbar

melodiöse Element des Lieds zeigt den bedeutenden Liederdichter. Von

diesem Gesichtspunkt aus sollte jeder Dichter auch der Komponist seiner Lieder

sein. Jn der Regel sind leider unsere Dichter unfähig, ihre Lieder in Musik

zu setzen, wie ja auch die meisten Musiker keine Dichter sind. Mindestens

sollte sich jeder Komponist in den Geist des Gedichtes versetzen, um dessen

ernsten, freudigen oder wehmütigen Charakter zum Ausdruck bringen zu können.

Leider singt man oft eine ganze Reihe Lieder ohne gleiche Grundstimmung

nach ein und derselben Melodie. Tüchtige Komponisten, die in den einzelnen

Strophen eine Steigerung des Gefühls oder Abweichungen vom Grundgefühle

wahrnehmen, komponieren das Lied „durch“, d. h. sie komponieren sämtliche

Strophen bis zum Ende nach Maßgabe des Jnhalts.



Volkslied.



„Es muß etwas in diesen simplen Liedern

stecken, das ihnen Stärke giebt, dem Zahn der

Zeit zu trotzen.“
   Elwert.



§ 51. Begriff, Charakter und Dichter des Volksliedes.



1. Volkslieder nennt man im allgemeinen jene in der Zahl beschränkten,

einfachen, gang- und sangbaren lyrischen oder lyrisch epischen,

der Naturpoesie entstammten Dichtungen in schlichter Form und in

kindlich naivem Ton, die ursprünglich das gemeinsame Eigentum des

gesamten Volkes in seiner Durchschnittsbildung und in seinem einfachen

Naturzustande waren.



2. Es giebt edle und gewöhnliche Volkslieder. Die edlen Volkslieder

sind der Ausdruck wahrer Schönheit und ächter Poesie.



3. Die Volkslieder galten als gemeinsame Schöpfung des Volks

insofern, als das ganze Volk sie sang, sie veränderte, ergänzte, redigierte.

Der Einzelne sang sie nur als Glied des Volks zum unmittelbaren

Ausdruck dessen, was das ganze Volk bewegte. Sie erhielten

sich durch Jahrhunderte im Volk, ohne daß man ihre Verfasser kannte.



4. Einzelne Volkslieder veränderten sich im Lauf der Jahrhunderte

durch Zufall oder Absicht.

|#f0096 : 74|



1. Man könnte die Volkslieder musikalische Gelegenheitsgedichte von naiver

Einfachheit und Natürlichkeit zur Bezeichnung der durchschnittlichen Volksempfindung

nennen, Lieder, welche die musikalischen Mittel der Sprache (Reim, Lautmalerei

&c.) zur Anwendung bringen, deren Melodieen daher einfach und ohne

künstlerischen Schmuck sind.



Schon der Dithmarsche Chronist Neokorus (Ausg. von Dahlmann) rühmte

die Einfachheit und Wirkung ihrer Komposition. („Und iß to verwundern, dat

so ein Volk, so in Scholen nicht ertagen, so vele schone leffliche Melodien jedem

Gesange nah Erforderinge der Wort und Geschichte geven konnen, up dat ein

jedes sine rechte Art und ehme gebörende Wise, entwederst mit ernster Graviteteschheit

oder frohdiger Lustigkeit hedde.“



Besonders die Naturwahrheit der Volkslieder ergreift das Herz eines jeden.

Sie sind in ihrer unvermittelte Übergänge liebenden Ausführung gewissermaßen

Produkte eines sogenannten „kecken Wurfs“ ihrer Dichter.



Herder (Ausgew. Werke 1844, S. 305) sagt: „Nichts in der Welt hat

mehr Sprünge und kühne Würfe als Lieder des Volks, und eben diejenigen

Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht,

ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung

und Feuer singen und zu singen nicht ablassen können.“ Grimms

Ausspruch: „Die Volksdichtung ist unbekümmert um den Zusammenhang abgebrochen

und fällt doch nie heraus“, ist eben so erwähnenswert.



Als kecken Wurf könnte man bezeichnen, was als das Charakteristische

an jedem Volksliede aller Nationen anzusehen ist. „Alles darin ist voll Lücken

und Sprünge, alles knapp und wie zum Nachhelfen und zum Ausfüllen auffordernd,

eine Reihe von Eindrücken für die Einbildungskraft, die der Nachhilfe

des Verstandes nicht bedürfen, der schönste innere Zusammenhang ohne

genaue logische Verknüpfung.“ (Gervinus, Gesch. der poet. Nat.=Lit. Bd. II.

5. Aufl. 1871, S. 492.)



Das Volkslied ist der ungekünstelte Ausdruck des ächten Naturgefühls,

und dieses ist bei allen Menschen das gleiche. Für Niemand ist das Volkslied

gedichtet und wird doch von allen gesungen; niemand soll es hören, und

doch paßt es für alle, doch ergreift es alle. Es ist allüberall heimisch. Vom

Wanderburschen, wie von der Stallmagd, in der Spinnstube, wie auf der

Alm, auf der Straße, wie in der Schenke wird es gesungen. Es wird

niemals alt oder alltäglich; für alle Jahrhunderte wahrt es sich fortdauernde

Schönheit und jugendliche Frische, eine an den erquickenden Erdgeruch des

Waldes erinnernde Naturanziehung, einen unwiderstehlichen, das Herz umstrickenden

Zauber. Was es besingt, das besingt es aus dem Charakter der

Zeit heraus. Sein Jnhalt, der durch Stoffe des allgemeinen Volksinteresses

und der Volksempfindung dargestellt wird, z. B. eine bedeutende Schlacht

(Prinz Eugen) oder eine unerhörte Handlung (Bernauerin) oder ein besonderes

Geschick (Pfarrerstochter von Taubenheim) war einmal allbekannt.



Der Jnhalt ist eben das wirklich Erlebte und Erfahrene mit den daraus

resultierenden Gefühlen und Stimmungen. Jm Volksliede sind „alle Farben |#f0097 : 75|



des Lebens ausgeteilt: Scherz, Lust, Mut, Üppigkeit, treue Liebe, Trauer

und höchstes Leiden, und in der Tiefe ruhen die Geheimnisse eines schönen

Glaubens, der die ganze Natur belebt und erhöht.“ (W. C. Grimm.) Treffend

sagt der Prospekt zu Scherers Volksliedern: „Jm deutschen Volksliede sprudelt

ein unversiegbarer Quell echtester Poesie. „Dergleichen Gedichte,“ sagt Goethe,

„sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen

Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung

stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend für's Alter hat.“

Es ist die Schönheit der Unschuld, die „nicht sich selbst und ihren heil'gen

Wert erkennt“. Waldfrische ist der Charakter dieser Lieder, sie erquicken und

erfreuen uns wie ein duftiger Strauß von Wald- und Feldblumen: es ist

der Duft der Jnnigkeit, des lauteren, braven, ehrlichen, grundguten Herzens,

der uns entgegenkommt. Es zittert, es schwebt um die Klänge dieser Lieder

ich weiß nicht welche besondere Art von Rührung, es ist so etwas darin, daß

man sagen möchte: arme gute Seele! Doch daneben scherzt und jauchzt auch

wieder Lustigkeit, Mutwillen, frohes derbes Lebensgefühl; in dunkeln, schrecklichen

Balladen zückt Haß und Zorn das Messer, dann hebt sich die geängstete,

schuldige, reuige Seele auf sanftem Flügel der Andacht zum Himmel. Diese

Kraftwelt, das Stramme, Sichere, was bei der rührenden Güte nicht fehlt,

der hohe Ernst stimmt uns wieder frei und zuversichtlich. ─ Das Volkslied

ist eine ergiebige Fundgrube für die Kulturgeschichte unseres Volkes; zugleich

aber ist es durch die Frische seiner Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für

die Kunst einer ausgetrockneten Bildung. ─ „Kein Moment der Einwirkung

des Volksliedes auf die Kunstdichtung war so bedeutend, als der, da Percy's

Sammlung in England, stärker und früher noch entscheidend in Deutschland

zündete, die Göttinger Schule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde,

Bürger die erste wahre Ballade dichtete, Herder die „Stimmen der Völker“

sammelte und Goethes Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu

trinken. Und wo wären Uhland, Wilhelm Müller, Eichendorff und die ganze

Gruppe der Lyriker, in welchen die romantische Schule ihre gesundesten Sprossen

trieb, wo wäre Heine geblieben, wenn sie nicht alle aus diesem frischen Felsquell

getrunken hätten?“ ─ Das Volkslied ist selbst der Jungbrunnen, von dem

es singt:



„Und wer des Brünnleins trinket,

Der jungt und wird nit alt.“



2. Das edle Volkslied ist von edler, idealer Gesinnung getragen und sinkt

nie zum Gassenhauer- oder Drehorgellied herab, welch letzteres nur der Ausdruck

der Stimmung des Pöbels ist, also eine Art niederen, rohen, gemeinen

Volksliedes, dessen Jnhalt gemeine Stoffe, Schauerscenen, Räuber- und Mordthaten

bilden. Das edle Volkslied lehrt ohne Absicht und Gelehrsamkeit; es

kennt keine philosophischen Systeme, keine Formen und Regeln. Aber trotz

seiner Nachlässigkeit im Strophenbau und im Reim &c. ist es der unmittelbare

Ausdruck des lebendigen Sprachgeistes und der poetischen Kraft der Nation,

und es ist daher schön und allmächtig in seiner Wirkung, ohne es zu beabsichtigen, |#f0098 : 76|



ohne es zu wissen. Jm edlen Volkslied hat bereits das Gemüt

seinen harmonischen Gleichmut erlangt und Jrrtum und Schmerz besiegt. Es

basiert auf einer Anschauung und Grundstimmung, an der auch die Hochgebildeten

Anteil nehmen können, in welcher reich und arm, alt und jung,

hoch und nieder Gütergemeinschaft zu machen im stande sind. Dies ist selbst

da der Fall, wo der Stoff in seiner gesunden Urwüchsigkeit den Quell des

Volkshumors zum Übersprudeln bringt durch Geißelung der Unzuträglichkeiten

und Einseitigkeiten des Lebens, oder wo Schuster, Schneider, Handwerker,

Bauern, oder Schwaben, Bayern, Pinzgauer &c. sich necken und höhnen.



Das edle Volkslied ist der Ausdruck des treuen, treuherzigen, ehrlichen,

offenen deutschen Gemüts, für das die fremden Sprachen ebensowenig ein

Wort haben, wie für das Wort „Lied“. Durch seinen lyrischen, liedartigen

Grundcharakter ist es, wie unsere Romanzen und Balladen, zum Gesang

prädestiniert. Es zeichnet sich durch Naturfrische und Freudigkeit aus, die sich

besonders in den Jägerliedern und Jägerballaden offenbart, und die selbst trotz

ihrer Derbheit und Sinnlichkeit kerngesund ist und trotz ihres naturwüchsigen

Realismus den idealen Keim nicht verleugnet. Es ist selbst, wo es die Form

des höfischen Minnelieds trägt, nie weichlich, oder süßlich, oder sentimental.



„Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den

Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehört oder gelesen?

Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu

haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache,

Denkart, Sitten, Thaten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte! Hier war zwar

einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und

Handlung, ein Notdrang an's Herz, schwere Accente oder schwere Pfeile für

die offne, wahrheittrunkene Seele.“ (Herder Ausg. 1844, S. 311.)



3. Oft haben die Volkslieder nicht einen Verfasser, sondern mehrere:



Und der uns diesen Reihen sang,

So wohl gesungen hat,

Das haben gethan zwei Hauer

Zu Freiburg in der Stadt.


(Jungbrunnen. Simrock 262.)



„Wer hat denn dies Lied erdacht?

Drei Goldschmiedejungen,

Die haben's gesungen

Zur guten Nacht.“



Man vgl. auch das im dreißigjährigen Krieg vielgesungene „Schloß in

Österreich“, das im Schwedischen fast gleichlautet und so schließt:



Wer ist, der uns dies Liedlein sang?

So frei ist es gesungen;

Das haben gethan drei Jungfräulein

Zu Wien in Österreiche.


(Vilmar Handbüchlein &c. 1868. S. 101.)



Jn munterer harmloser Gesellschaft unter der Dorflinde fing einer an,

einen Vers zu sagen, der andere machte einen neuen, der dritte reimte hinzu, |#f0099 : 77|



und auch der vierte half nach. Man sang die Strophe nach einer bekannten

Melodie, oder die lauschenden Mädchen und Bursche machten auch wohl eine neue,

wie es paßte. Auf der Straße wurde die Strophe wiederholt u. s. w. Gefiel

das Lied, so blieb es im Gedächtnisse und wurde Volkslied.



Selten erfährt man mehr vom Verfasser, als daß er Landsknecht, Reitersmann,

Jäger, fahrender Schüler, freier Knab, Jungfrau, oder gut Geselle ist z. B.



a.

„Der uns diesen Reihen sang,

Ein freier Landsknecht ist er genannt.“


(Die Türken vor Wien.)



b.

Das Liedlein ist in Eil gemacht,

Einem jungen Landsknecht wohlgeacht

Zu freundlichem Gefallen;

Von Einem, der wünscht Glück und Heil

Den frommen Landsknechten allen.“


(„Es geht ein Butzemann &c.“ Kriegslied gegen Karl V.)



c.

Der uns dies Liedlein neu gesang,

So wohl gesungen hat,

Das hat gethan ein gut Gesell

An einem Abend spat.


(Uhlands Volkslieder Nr. 49. Vgl. noch Nr. 60. 61. 144. 198. 288 &c.)



Es giebt mehrere Volkslieder, welche Ort und Zeit ihres Entstehens, sowie

auch den Namen ihrer Dichter auf der Stirne tragen. So ist z. B. von den späteren

gesungenen volkstümlichen Liedern ausnahmsweise der Dichter des einen oder des

anderen bekannt geworden. Jch erwähne beispielshalber: „Ännchen von Tharau“

(Simon Dach † 1659), „Sohn, da hast du meinen Speer“ (Stolberg),

„Wenn jemand eine Reise thut“ und „War einst ein Riese Goliath“ (Claudius),

„Heute scheid ich, heute wandr' ich“ (Maler Müller), „Gott erhalte Franz

den Kaiser“ (Seidl, geb. 1804 zu Wien), „Es ist bestimmt in Gottes Rat“

(v. Feuchtersleben † 1849), „Jch komme vom Gebirge her“ (Schmidt von

Lübeck † 1849), „Nun ruhen alle Wälder“ (Paul Gerhardt † 1676),

„Schier dreißig Jahre bist du alt“ (Carl E. v. Holtei † 1880), „Ach, wenn du

wärst mein eigen“ (Hahn-Hahn), „Steh ich in finstrer Mitternacht“ (Wilh. Hauff

† 1827), „Heil Dir im Siegerkranz“ (eine durch Schumacher 1793 vorgenommene

Umbildung des Harriesschen „Lied für den dänischen Unterthan,“ das am

27. Januar 1790 zuerst im Flensburger Wochenblatt erschien) u. s. w.



Einige Volkslieder weisen schon in ihrer Ausdrucksweise und geschlossenen

Bildung auf den Urheber hin; bei dem aus dem Gemeingefühl des Volkes

entsprossenen Volkslied hat freilich die Zeit wie die Gemeinsamkeit ein Anrecht auf

dasselbe. Die Verbreitung und fast traditionelle Fortpflanzung schliff sodann

das Eigentümliche, Jndividuelle nach der allgemeinen Volkssinnesart zu.

„Gewöhnlich“, so sagt Heinrich Heine anmutend, „sind die Verfasser des

Volksliedes wanderndes Volk, Vagabunden, Soldaten, fahrende Schüler oder

Handwerksburschen, und letztere ganz besonders. Gar oft auf meinen Fußreisen

verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen angeregt

von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten |#f0100 : 78|



oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die

auf den Baumzweigen saßen. Und kam nachher ein anderer Bursch mit

Ränzel und Wanderstab vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein

in's Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig.

Die Worte fallen solchen Burschen vom Himmel herab auf die Lippen, und

er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer, als all

die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln.“

K. Bormann meint in gebundener Rede:



Einst war in deutschen Landen das Volk so reich an Sang,

Daß dir auf Weg und Stegen sein Lied entgegenklang.

Jm Liede hat's gebetet, im Liede hat's geweint,

Beim Mahle, wie bei Gräbern zum Sange sich vereint.

Der Bauer hinterm Pfluge, der Hirt im Wiesenthal,

Die Mägde bei dem Rocken, sie sangen allzumal;

Und wo die Kinder spielten, da lenkt' ein Lied die Lust,

Und wo die Bursche zogen, da klang's aus voller Brust.

Wer sie erfand die Weisen, ward keinem je bekannt,

Sie wuchsen wie die Blumen und gingen von Hand zu Hand.



4. Manches noch lebende Volkslied kann durch eine Reihe von Textrezensionen

und =redaktionen mehr als drei Jahrhunderte zurückverfolgt werden

(vgl. z. B. Vilmars Handbüchlein &c. 1868. S. 116), wodurch der Nachweis

ermöglicht wird, wie der Text mit der Zeit sich leise und allmählich verändert

hat. Durch Absicht, durch Vergessen einzelner Strophen, durch mangelhafte

Überlieferung &c. erhielten so manche Volkslieder ihre Veränderungen

oder Entstellungen. Anders wurde das gleiche Lied an der See gesungen,

als im Gebirg, anders in der Stadt, als im Wald, anders im 18. Jahrhundert,

als im 16ten. Und doch war es im Grunde genommen das nemliche.

Manche Liedersammlungen gaben nur die ersten Gesätze, so daß die übrigen

oder einzelne derselben vergessen wurden, wodurch sich die Annahme begründete,

daß das Abgerissene, Lückenhafte, naiv Unsinnige ein Kriterium des echten

Volksliedes sei. Jn mancher Gegend hat daher ein Volkslied fünfzehn Strophen,

während es in der andern durch obigen Umstand und das redigierende Volk

nur drei oder fünf behielt u. s. w. (Als Beispiel kühner Redaktion des Volkes

selbst in der Gegenwart vgl. das Beisp. von Scheffel § 65 d. Bds.)



§ 52. Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer

Naturanlage und poetisch-schöpferischer Volkskraft.



Wenn auch bei allen Völkern Spuren von volksmäßigen Dichtungen

sich finden, so sprudelt doch bei keiner Nation ein so reicher

Quell von Volkspoesie, so gewähren die Volkslieder nirgends einen so

tiefen Einblick in's Geistes- und Gemütsleben, als bei uns Deutschen.

Man könnte daher urteilen: Die Fülle und Tiefe unseres deutschen

Volksliedes beweist die dichterische Beanlagung und Begabung unseres

Volkes, den Gehalt seines Gemüts- und Gefühlslebens.

|#f0101 : 79|



Dies zeige ein historischer Überblick.



Das deutsche Volkslied wurde vom Volke gesungen neben und vor den

Kunstliedern, welche in der Mitte des 12. bis Anfang des 14. Jahrhunderts

dem Ritterstand entsprossen sind und an den Höfen wie auf den Ritterburgen

geübt wurden. Die jugendliche Frische und der poetische Glanz der ersten

Minnelieder, die unmittelbar aus der Volksweise hervorgingen, lassen ahnen,

wie das kräftige Volkslied doch wohl schon vor dem 12. Jahrhundert geblüht

haben muß.



Man kann das deutsche geschichtliche Volkslied zweifelsohne als die letzte

Umgestaltung des epischen Nationalgesangs betrachten, als die letzte Zuckung

der alten Epen.



Die Verbreitung des Volksliedes zeigt, daß es eben so bedeutend in

seiner Wirkung auf die großen Kreise des ungebildeten Volkes war, als der

höfische Kunst- und Minnegesang, ja, daß es durch Vermittlung oder Benutzung

der Heldenstoffe und Heldengedichte, sowie der vaterländischen und örtlich=heimischen

Sagen noch viel populärer gewesen sein muß.



Die gelehrte und gelehrt thuende Kunstpoesie trat im 12. Jahrhundert

mit der volksmäßigen Poesie in schroffen Gegensatz, noch mehr die spätere

handwerksmeisterliche Formen-Dichtung. Die ächte Volkspoesie flüchtete sich daher

in die Kreise des gemeinen Volks, der fahrenden Schüler und Gesellen, der

Jäger, Landsknechte und Hirten. Auf diese Weise blieb ihr Jnhalt einfach

und natürlich=schlicht.



Als die das Volkslied verdrängende, gelehrt=kunstmäßige Dichtungsweise

im Meistersang zu erstarren begann, grünte und blühte ─ gleich dem immer

mehr erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstandes ─ das mit ihm verwachsene

Volkslied im 14. Jahrhundert in erneuter Pracht, um im 15. Jahrhundert

zur Herrschaft zu gelangen. Die deutschen Heldensagen, deren Grundlage ja

Volkslieder waren, lebten in volksmäßiger Form neu auf. Die bürgerlichen

Volkslieder der Spielleute und fahrenden Sänger, welche noch nicht in schulgemäßem

Zunft-Zwang abgeschlossen waren, und sich jener leichteren freien Form

bedienten, welche nur den Sinnton (die Hebungen mit beliebigen Senkungen)

respektiert, sangen noch hervorragende, volksbewegende Begebenheiten, oder Ereignisse,

so daß sie gewissermaßen das Volksgewissen repräsentierten. Die Märchenstimmung,

die im Volke heimisch war, kam ihnen entgegen und die Wanderburschen,

die fahrenden Schüler und Landsknechte leisteten durch Weiterverbreitung

in alle Teile der Windrose wichtige Dienste. Die Landsknechte hatten ihre

Landsknechtslieder, der Landmann sang Graslieder, der Jäger Jägerlieder, der

Bergknappe Bergliedlein; Abends zogen Jünglinge und Jungfrauen in den

Dörfern vereint „gassatim“ d. h. durch die Gassen und sangen Gassellieder

oder „Gassenhawer“. Bei frohen Gelegenheiten sang man Gesellschaftslieder.

Meist waren es episch=lyrische (historische) Volkslieder, die im 14., 15. und

16. Jahrhundert dem Volke entsprossen und vom Volk gesungen wurden.



Die höfische Poesie der gesangliebenden Hohenstaufen besang keine Heldenthaten,

sondern sang von Minne; der große Sieg Karl's V. über Franz I. von |#f0102 : 80|



Frankreich bei Pavia (25. Febr. 1525) konnte anstatt eines politischen Volksliedes

nur ein Trutzlied gegen den Kaiser hervorrufen.



Der große Sieg Österreichs über den Erbfeind bei Belgrad, war etwas

Gemeinsames, weshalb das Volkslied: „Prinz Eugen, der edle Ritter“ eine

nie erlebte Verbreitung fand.



Wie das nationale Epos, behandelt dieses Lied Ereignisse, welche das

ganze Volk bewegten und ergriffen. Dies war überhaupt beim historischen

Volkslied der Fall, das immer von einem Dichter ausging, „der dabei war“

und es miterlebte und dann mit dichterischer Fähigkeit es verstand, seinen Stoff

zu gestalten, poetisch zu verklären, ihn zu idealisieren, und ihm den Charakter

des mythischen Sagenstoffes zu verleihen. Das historische Volkslied „von der

schönen Bernauerin“ trägt ganz das Gepräge einer historischen Ballade an sich.

Das zeitlich und räumlich Auseinanderliegende ist hier wie in der Ballade eng

zusammengerückt. (Man beachte z. B. daß die Ertränkung der Bernauerin sich

1435 ereignete, Herzog Ernst aber erst 1438 starb, trotzdem aber das Lied

singt:



Es stand kaum an den dritten Tag,

Dem Herzog kam eine traurige Klag:

Sein Herr Vater ist gestorben.



Also 3 Jahre wurden zu 3 Tagen zusammengedrängt. Ähnlich ist es

auch bei den übrigen historischen Volksliedern.)



Jmmer gewaltiger verbreitete sich das Volkslied seit Erfindung der Buchdruckerkunst

und wurde ein nicht zu unterschätzender Kulturfaktor. Liederbücher,

denen meist die Melodieen beigedruckt waren, wurden allenthalben verbreitet.

Diese Verbreitung währte sodann bis in's 17. Jahrhundert. Der dreißigjährige

Krieg, der alle Spuren nationalen Lebens vernichtete, schädigte auch den Volksgesang

empfindlich. Dazu kamen die Bestrebungen der schlesischen Dichterschule

(Opitz, Weckherlin), welche durch gelehrte Buchdichtungen mit antiker Skansion

dem Volkslied den größten Eintrag thaten, ohne es indes ─ Dank dem poetischen

Sinn und unverbildeten Geschmack unseres Volkes ─ ganz erdrücken und

verdrängen zu können. Namentlich in abgeschlossenen Gegenden hat sich das

echte Volkslied erhalten.



Bereits im 15. und 16. Jahrhundert begann man, die Volkslieder aufzuzeichnen

auf Blätter und Bogen, auch in Liederbüchlein, ─ zu Straßburg,

Basel, Augsburg, Nürnberg gedruckt. Aus solchen Drucken und Handschriften

ging Uhlands Sammlung hervor.



Als man anfing, fabrikmäßig Zimmermanns=, Maurer=, Schmiede=,

Schneider=, Gerber- und Leineweberlieder zu dichten, trat ein nüchternes, reflexives

Moment in die Volkspoesie, das gar sehr der Prosa Vorschub leistete, wenn

es auch die Volkspoesie nicht ertöten konnte.



So ging es bis in die Neuzeit, in welcher das dramatisch hastende,

gelderwerbende Fabrikleben und die ruhelosen Lokomotiven und Dampfmaschinen

die ruhige Beschaulichkeit des Gemütslebens und die idyllische, volkspoetische

Stimmung illusorisch machen und das volksliedverbreitende Wanderleben mit |#f0103 : 81|



den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen

möchten.



„Nur das Einmaleins soll gelten,

Hebel, Walze, Rad und Hammer!

Alles andre, öder Plunder,

Flackre in der Feuerkammer.“


(Weber, Dreizehnlinden.)



Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt

aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen

Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache

gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl:



„welches tritt an Thränen Stelle,

Und reifen wird im Blut die Welt,“



ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche

verlacht wird:



„denn Armut ist ja Sklaverei“.



(Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier.

Übersetzt von Strodtmann.)



Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes

Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─



§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie.



1. Das Volkslied ist Naturpoesie, das volkstümliche Lied

Kunstpoesie.



2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter

läßt sich zum Volk herab.



1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie.

Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden

und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden

─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen

─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder

sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein

Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium,

ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─

wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch

naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in

ihrer Weise benutzt.



Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben,

bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht

scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt

in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit,

die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie |#f0104 : 82|



entzückend, wie die freien Berge mit ihren Felsen, Rissen, Schluchten, Wäldern

und Seen. Diese urwüchsige Schönheit ─, sowie auch ihr Ursprung ─ ist

ein wesentliches Unterscheidungs-Moment des Volksliedes von dem regelvollen

Kunstliede.



Das Volkslied wächst aus dem gesamten Volksgewissen und Volksgemüt

heraus. Der Dichter, welcher es gesungen hat, war nur das Organ dieses

Volksgeistes, der Ausdruck der die Nation bewegenden Volksstimmung; er wollte

sich nie in seiner Vorzugsstellung präsentieren; er wollte nur das ausdrücken,

was sein Volk bewegte. Daher ist das Volkslied arm geblieben in sprachlichen

Formen und Wendungen und Metaphern, daher kam es ihm auch nicht auf

Originalität an.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Werkgruppe. Anmerkung: Werkgr. Volkslied



2. Der Volksdichter setzt keine besondere Bildung bei seinem Publikum

voraus. Er ist daher auch dem Ungebildeten verständlich. Der Kunstdichter

muß sich herabstimmen, er muß sich der Bildung des Volks accommodieren.

Dies vermag nicht jeder.



Daher haben es nur wenige Kunstdichter verstanden, den Volkston zu

treffen; doch haben mehrere derselben Kunstlieder geschaffen, die mit einfachedlem

kräftigem Ausdruck und poetischem Gedanken nicht einer besonderen Kulturstufe,

wohl aber dem ganzen Volksleben entsprechen, die nicht Standespoesie,

sondern volkstümliche Poesie sind, die den Geist des Volks und seine Bedürfnisse

ausdrücken und die unsere Nation durchwogende Stimmung wiederspiegeln,

die also, wenn sie auch keine Volkslieder waren, doch (wie es zuerst Hoffmann

von Fallersleben that) volkstümlich genannt zu werden verdienen.



§ 54. Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds.



1. Das Volkslied meidet die Abstraktion. Es verlangt anschauliche

naive Ausdrucksweise.



2. Alle Volkslieder sehen sich ähnlich. Die geheimnisvolle Eigenart

ihres Baues besteht im Gebrauch gleicher Phrasen, Anklänge, Wendungen,

Vorschläge, Elisionen.



Eigenartig ist:



A. Die Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen im gleichen

Volksliede.



B. Wiederholung ganzer Satzteile und Satzformen in verschiedenen

Volksliedern.



C. Umbildungen und Nachbildungen beliebt gewordener Volkslieder.



D. Anklang des gleichen Gedankens in veränderter Form.



E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.



1. Das Charakteristische des Volksliedes erkennt man erst, wenn man

sich in dasselbe hineingelebt hat. Jst dies der Fall, so wird man sich hüten,

alles, was ein Teil des Volkes singt, ohne weiteres als Volkslied zu bezeichnen.

So ist ─ um nur eines zu erwähnen ─ das Lied „Freut Euch des Lebens“ |#f0105 : 83|



von Usteri trotz seines so volksmäßigen Refrains, trotz seines so herzlichen,

einfachen Tones, wegen der Absichtlichkeit seiner moralischen Beziehungen kein

Volkslied im eigentlichsten Sinn. Das Volk liebt keine Abstraktionen, in welchen

─ wie hier ─ von einer Genügsamkeit gesprochen wird, die bald zum Bäumchen

aufschießt, das goldene Früchte trägt u. s. w.



2. Eine Eigenart des geheimnisvollen Baues und der rätselhaften Beliebtheit

des Volksliedes sind seine Anklänge an lieb gewordene Phrasen, seine

Ausdrücke und Wendungen, seine Wiederholungen, Umbildungen, Anklänge,

Vorschläge, Elisionen &c. Wir beweisen dies durch Beispiele aus allen Volksliedern:



A. Volksmäßige Wiederholungen einzelner Satzteile und

Formen in ein und demselben Volksliede.



1. Wiederholung einzelner Wörter.



a.

Es ging ein Knab' spazieren,

spazieren wohl in den Wald.



b.

O du Deutschland, ich muß marschieren,

O du Deutschland, ich muß fort.

(Zum Ausmarsch.)



c.

Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag.


(Erlkönigs Tochter.)



2. Wiederholung der Frage in der Antwort oder ganzer

Strophenteile.



a.

Weinst du um deines Vaters Gut, oder bin ich dir nicht gut genug?

Jch wein' nicht um meines Vaters Gut.

(Ulrich u. Annchen.)



b.

Meine Mutter heißt Frau Ute, eine gewalt'ge Herzogin,

Und Hildebrand der Alte, der liebste Vater mein.

Heißt deine Mutter Frau Ute, ein' gewalt'ge Herzogin,

Bin ich Hildebrand der Alte, der liebste Vater dein.


(Volkslied vom Hildebrand.)



B. Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Satzteile und Satzformen

in verschiedenen Volksliedern verschiedener Dichter oder Zeiten.



1. Die Frageform wiederholt sich:



a.

Was fand sie in dem Grabe stan?

Einen Engel wolgetan.

(Magdalenenlied.)



b.

Was zog er aus seiner Tasche?

Ein Messer, so scharf und so spitz.

(Heimkehr.)



c.

Was zog er ab vom Finger?

Ein rotes Goldringelein.

(Falsche Liebe.)



d.

Was begegnet dir auf der Heiden?

Ein stolzer Degen jung.

Was begegnet dir in der Marke?

Der junge Hildebrand.

(Hildebrandlied.)



e.

Was zog sie aus ihrem Schürzelein?

Ein Hemd, so weiß wie Schnee.

(Treue.)



f.

Was zog er von dem Finger sein?

Ein'n Ring von rotem Golde sein.

(Die Linde im Thale.)



g.

Eine Anzahl von Volksliedern beginnt: Was wollen wir aber heben an;

Was wollen wir singen und heben an; Was wollen wir aber singen &c.


(Vgl. Uhlands Volksl. S. 283. 287. 356. 361. 376. 412. 431. 549. 557. 645 &c.)

|#f0106 : 84|



2. Eine bestimmte Form wiederholt sich, ähnlich dem stereotypen

Märchen-Anfang:
Es war einmal.



a. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod.(Schnitterlied.)

b. Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.

(Die schwarzbraune Hexe.)

c. Es ist ein Ros' entsprungen.(Winterrose.)

d. Es steht eine Lind' in jenem Thal. (Nachtigall.)

e. Es sangen drei Engel einen süßen Gesang. (Die arme Seele.)

f. Es sah ein Knab' ein Röslein stehn &c.(Röschen auf der Heide.)

g. Es war einmal ein feiner Knab'. (Der treue Knab.)

h. Es war einmal eine Müllerin.(Die stolze Müllerin.)



3. Die Anredeform wiederholt sich:



a. O Mutter, liebe Mutter mein, o Tochter, liebe Tochter mein.

b. O Reitknecht, lieber Reitknecht mein ─.

c. Ach Mutter, liebe Mutter, ach Tochter, liebe Tochter.

d. Ach Mutter, sagte sie, Mutter, ach Tochter, sagte sie, Tochter.

(Ähnlich Der Goldschmied. Simrock 60.)

e. Ach Mutter, liebste Mutter mein.

(Macht der Thränen. Ähnlich Der freche Knab. Simrock 113.

Ebenso in Der Erbgraf. Simrock 33.)


f. Ach Sünder, ach Sünder, was hast du für Not.

(Die untreue Braut.)

g. Ach Fischer, lieber Fischer &c.

h. Ach Mutter, ach Mutter, es hungert mich! &c.

(Volkslied aus Sachsen.)

i. Ach Eslein, liebstes Eslein mein. (Uhlands Volksl. Nr. 46 u. 45.)

k. Frau Luddelei, Frau Luddelei! und warum spinnt Jhr nicht?

(Ebd. Nr. 293.)



4. Ganze Teile beliebter Volkslieder werden wiederholt

oder nachgebildet:



a.

Es reiten drei Reiter zu München hinaus,

Sie reiten wohl vor der Bernauerin Haus:

Bernauerin bist du drinnen?

(Lied von der Bernauerin.)



b.

Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus,

Sie ritten dem Muschelbecken vor sein eigen Haus:

Muschelbeck, bist du drinnen?

(Lied vom Muschelbeck.)



c.

Frau Malerin, sind sie drinnen?


(Lied vom Reiter, der die Liebste aufgiebt.)



d.

Es ritten drei Reiter wohl über den Rhein,

Bei einer Frau Wirtin, da kehrten sie ein!

Frau Wirtin, hat sie so viel Gewalt,

Daß sie drei Reiter über Nacht behalt?


(Der Wirtin Töchterlein.)



e.

Kuchlebu, Schifflebu fuhren über den Rhein,

Bei einem Markgrafen da kehrten sie ein.


(Der grobe Bruder. Simrock 43.)



f.

Es wohnt ein Markgraf über Rhein,

Der hatte drei stolze Töchterlein.


(Des Markgrafen Töchterlein. Simrock 48.)



g.

Es waren drei Soldatensöhn,

Sie haben Lust in Krieg zu gehn,

Wohl in's Soldatenleben.
|#f0107 : 85|



Frau Wirtin sprang entgegen:

Frau Wirtin hat sie die Gewalt,

Ein'n Reiter über Nacht uns zu behalten,

Dazu und auch gastieren?
(Die Mordwirtin.)



h.

Es flohen drei Sterne wohl über den Rhein,

Es hatt' eine Wittwe drei Töchterlein.


(Zucht bringt Frucht.)



i.

Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, Ade!

Fein's Liebchen schaute zum Fenster hinaus, Ade!


(Drei Reiter am Thor.)



k.

Nun wollen wir aber heben an von dem Tannhäuser &c.


(Tannhäuser.)



l.

Nun wollen wir's aber heben an von einem Schreiber &c.


(Der Schreiber im Korb.)



m.

Aber so woll'n wir's heben an.


(Ein Thüringer Lied aus Spangenbergs Mansfeldscher Chronik. Vgl. hierzu

Uhlands V.=L. S. 155. 538. 761.)



C. Umbildungen, Nachbildungen der Form, Veränderungen,

Varianten, welche von späteren Sängern herrühren,

von der Gebirgsgegend, oder der Ebene, in der das Volkslied

gesungen wurde
&c.



Das Lied:

„Wenn ich ein Vöglein wär,

Und auch zwei Flüglein hätt',

Flög' ich zu dir.


(Vgl. Herder, Stimmen der Völker &c.)

tönt im thüringischen Volkslied wieder:

Blau ist ein Blümelein,

Heißet Vergißnichtmein.


(Vgl. Simrock 234.)

indem dessen dritte Strophe beginnt:

Wär' ich ein Vögelein,

Wollt' ich bald bei dir sein.


Ein Wiederklang dieses Liedes ist das Volkslied:

Wenn ich ein Waldvögelein wär',

Wollt' ich fliegen über Meer,

Schönster Tausendschatz, zu dir &c.


(Mitgeteilt von Meinert.)

welches ähnlich schließt, wie das vorige beginnt, nämlich:

Unten in dem Gärtelein

Wächst ein schönes Blümelein,

Blümelein Vergißnichtmein &c.



Das Wiegenlied:

„Schlaf, Kindlein schlaf,

Dein Vater hüt't die Schaf.“


ist imitiert aus Des Knaben Wunderhorn (III. 36:)

Spinn, Mägdlein spinn,

So wachsen dir die Sinn u. s. w.

|#f0108 : 86|



D. Gleichheit des Gedankens mit veränderter Ausdrucksform.



a.

Wenn gleich der Himmel papier'n wär,

Und jedes Sternlein ein Schreiberl wär,

Und schriebe ein jedes mit sieben Händ',

So schrieben sie meiner Liebe kein End.


(Lied aus dem Kuhländchen.)



b.

Wenn all' das Weltmeer Dinte wär',

Der Himmel all' Papier,

Wollt' ich beschreiben meinen Schmerz,

Nicht Genüge thät' es mir.


(Reise nach Albanien von Holhouse.)



c.

All' der Himmel, wenn's ein Blatt Papier wär,

All' der Wald, wenn's Rohrfedern wär'n,

All' das Meer, wenn's schwarze Dinte wäre,

Und wenn ich daran drei Jahre schriebe,

Nicht aufschreiben könnt' ich meine Schmerzen.


(Serbisches Volkslied.)



Die deutsche Volksballade „Königskinder“, welche der griechischen Sage

„Hero und Leander“ verwandt ist, findet sich in Varianten in der Schweiz,

in Schweden, Dänemark und Holland. Sie beginnt z. B.:

[Beginn Spaltensatz]Jm Deutschen:

Es waren zwei Edel Königskinder,

Die hatten einander so lieb.
[Spaltenumbruch]

Jm Schwedischen:

Zwei edle Königskinder fein,

Die schwuren sich Lieb' und Treu'.
[Ende Spaltensatz]

Jm Verlauf der Ballade heißt es u. A.:

[Beginn Spaltensatz]Jm Deutschen:

„Ach Liebster, kannst du schwimmen,

So schwimm doch herüber zu mir!

Drei Kerzen will ich anzünden,

Die sollen auch leuchten dir!“


Das hört ein loses Nönnchen,

Das thät als wenn es schlief,

Es thät die Kerzen ausblasen,

Der Jüngling ertrank so tief.


Ach Tochter, herzliebste Tochter,

Allein sollst du nicht gehn.
[Spaltenumbruch]

Jm Schwedischen:

Es rauschen wilde Fluten ─

Zwischen uns beiden allfort!

Jch zünd ein Licht in der Leuchte,

Jn jener Lilie dort.


Arglistiger du, Schmach über dich,

Seist du in Ewigkeit verdammt!

Der das Licht auslöscht in der Leuchte,

Das in der Lilie brannt.


„Jch sah ein edles Königskind,

Versinken in blauen Wellen.“
[Ende Spaltensatz]

Der Schluß lautet:

[Beginn Spaltensatz]Deutsch:

Da hörte man Glöcklein läuten,

Da hörte man Jammer und Not.

Hier liegen zwei Königskinder,

Die sind alle beide tot.
[Spaltenumbruch]

Schwedisch:

„Und grüßt mir Vater und Mutter,

Sie sollen verwinden ihren Harm.

Jch sink hinab ins Wellengrab

Und hab' meinen Liebsten im Arm.“
[Ende Spaltensatz]



Eine ähnliche, inhaltliche Verwandtschaft zeigt z. B. die Ballade „Lenore“

von Bürger mit der schottischen Ballade „Wilhelms Geist“, sowie auch mit

einer holländischen, durch Gebr. Grimm in Haus- und Kindermärchen mitgeteilten

Sage. (Teil III. S. 75.)



Das Lied, welches Bürger (nach Althofs „Leben Bürgers“, Göttingen

1798, S. 37) ursprünglich im Mondenschein von einem Bauernmädchen |#f0109 : 87|



singen hört, und das auch im norwegischen, sowie im englischen Volkslied wiederklingt

(vgl. Mohnike, Volkslieder der Schweden S. 160), findet sich ganz mitgeteilt

in „des Knaben Wunderhorn“. Vgl. Schillers Kindesmörderin mit dem

herrlichen Volkslied aus dem 17. Jahrh. „Joseph, lieber Joseph, was hast du

gemacht“ u. a.



E. Anwendung von Vorschlägen, Elisionen &c.



Charakteristisch und von großer Wirkung ist noch der bei Volksliedern sich

wiederholende Vorschlag, sowie die fast regelmäßig angewandte Elision. Herder,

welcher Vorschlag wie Elision auch in englischen Stücken fand und zuerst darauf

aufmerksam machte, wie viel die Minstrels darauf gehalten, sagt (Ausg. 1844,

S. 306): Der (Vorschlag) ist nun noch im Deutschen, wie im Englischen in

den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de

Knabe), 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a, und was

man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort

bekömmt auf solche Weise weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit.

‘Knabe sprach, ‘Röslein sprach, u. s. w. (Vgl. Goethes Heidenröslein

u. s. w.)



§ 55. Einteilungsversuch der Volkslieder.



1. Die Wissenschaft verteilt diese Volkslieder je nach den Lebenskreisen,

Stoffen, nach Jnhalt und Stimmung &c. in viele Gruppen

und Unterabteilungen.



2. Einfacher ist die auf S. 91 von uns vorgeschlagene und beibehaltene

Einteilung in ernste, in heitere und in historische Volkslieder.



1. Als wissenschaftlich und sachlich erschöpfende Einteilung der Volkslieder,

wie jener durch ihre Volksmelodie zu Volksliedern gewordenen volkstümlichen

Kunstlieder könnte vorgeschlagen werden:



A. Hymnenartige Volkslieder, Heimwehlieder, Vaterlandslieder

und Heldenlieder.



a. Hymnen.



Beispiele:

Herr Gott, dich loben wir.


(Der Ambros. Lobgesang. Deutsch von Luther.)

Ein feste Burg ist unser Gott.
(Luther.)



b. Heimwehlieder.



Beispiele:

Herz, mein Herz, warum so traurig.


(Des Schweizers Heimweh.)

Wohlauf! noch getrunken.
(Justinus Kerner.)



c. Vaterlandslieder.



Beispiele:

Was ist des Deutschen Vaterland.
(Arndt.)

Schleswig-Holstein, meerumschlungen.
(H. Straß.)

|#f0110 : 88|



d. Königslieder.



Beispiele:

Gott erhalte Franz, den Kaiser.
(Österr. Volkslied.)

Heil Dir im Siegerkranz.
(Heinr. Harries.)



e. Freiheitslieder.



Beispiele:

Der Gott, der Eisen wachsen ließ.
(Arndt.)

Freiheit, die ich meine.
(Schenkendorf.)



f. Völkerklagen.



Beispiele:

Was zieht ihr die Stirne finster und kraus?
(Körner.)

An rost'ger Kette liegt das Boot.
(Freiligraths Jrland.)



g. Nationale Heldenlieder.



Beispiele:

Prinz Eugenius.


(Histor. Volksl. v. Soltau, Nr. 85, desgl. Simrock 494.)

Was blasen die Trompeten? Soldaten heraus!


(Arndts Blücherlied.)



h. Manneswert.



Beispiele:

Der Mensch hat nichts so eigen.
(Dachs Mannestreue.)

Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.
(Körner.)



i. Soldaten- und Kriegslieder.



Beispiele:

O Straßburg, o Straßburg! du wunderschöne Stadt.


(Simrock 477.)

Gott grüß' Euch, Alter! ─ schmeckt das Pfeifchen?


(Pfeffel.)



k. Reiterlieder.



Beispiele:

Wohl auf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd!
(Schiller.)

Morgenrot! Morgenrot! leuchtest mir zu frühem Tod.


(Kretzschmers Volksl. I. Nr. 196 S. 346.)



l. Jägerlieder.



Beispiele:

Es blies ein Jäger wohl in sein Horn.


(Uhlands Volksl. Nr. 103.)

Mit dem Pfeil, dem Bogen.
(Schiller.)



B. Liebeslieder.



a. Sehnsuchtslieder.



Beispiele:

Du, du liegst mir im Herzen.


(Reinhold, Liederbuch S. 260.)

Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt.
(S. Dach.)

|#f0111 : 89|



b. Liebesgrüße.



Beispiele:

Guter Mond, du gehst so stille.


(Walter, Volksl. Nr. 18.)

Chimmt a Vogerl geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß.


(Liederbuch für deutsche Künstler S. 250.)



c. Ständchen.



Beispiele:

O gieb, vom weichen Pfühle.
(Goethe.)

O stille dies Verlangen.
(Geibel.)



d. Liebesglück.



Beispiele:

Mein Schatz ist a Reiter, a Reiter muß' sein.


(Liederbuch für deutsche Künstler S. 246.)

Uf'm Bergli bin i gesässe.
(Goethe, Schweizerlied.)



e. Liebesringen.



Beispiele:

Es sah ein Knab' ein Röslein stehn.


(Herders Stimmen der Völker.)

Und die Würzburger Glöckli hab'n schönes Geläut.


(Liederbuch für deutsche Künstler S. 249.)



f. Abschiedslieder.



Beispiele:

Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, ade!


(Wunderhorn I. 253.)

Wenn zwei von 'ander scheiden.


(Österr. Volksl.; mitgeteilt von Tschischka und Schottky.)



g. Liebeskummer.



Beispiele:

Geh ich zum Brünnelein, trink aber nicht.


(Wunderhorn I. 190.)

O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter.


(Altdeutsches Lied, bei Zarnack II. 51.)



C. Balladen und Romanzen.



a. Heldenlieder.



Beispiele:

Der alte Barbarossa.
(Rückert.)

Als Kaiser Rotbart lobesam.
(Uhland.)



b. Legenden.



Beispiele:

Der Sultan hatt' ein Töchterlein.
(Wunderhorn I. 15.)

Vom Toggenburg Graf Heinrich kam.
(Usteri.)

|#f0112 : 90|



c. Elfensagen.



Beispiele:

Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser &c.


(Uhlands Volksl. Nr. 297.)

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
(Goethe.)



d. Geistersagen.



Beispiele:

Lenore fuhr um's Morgenrot.
(Bürger.)

Zu Hannchens Thür da kam ein Geist.


(Aus Ursinis schottischen Balladen S. 95.)



e. Liebessagen.



Beispiele:

Es sollt' eine Jungfrau früh aufstehn.


(Wolffs altholländ. Volksl. S. 28.)

Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein.
(Uhland.)



f. Schwänke und Spottlieder.



Beispiele:

Jch bin der Doktor Eisenbart.
(Menzel, Ges. d. V. S. 577.)

Es waren einmal die Schneider.
(Wunderhorn II. 376.)



D. Freuden- und Trauerlieder.



a. Jahreszeitenlieder.



Beispiele:

Herzlich thut mich erfreuen die fröhlich Sommerzeit.


(Uhlands Volksl. Nr. 57.)

Wie schön blüht uns der Maie.
(Ebenda Nr. 58.)



b. Haus- und Arbeitslieder.



Beispiele:

Schlaf, Kindlein, schlaf! der Vater hüt't die Schaf.


(Aus des Knaben Wunderhorn.)

Spinn, Mägdlein, spinn! so wachsen dir die Sinn.


(Ebenda III. 36 u. 40.)



c. Trinklieder.



Beispiele:

In dulci jubilo.
(Altes deutsches Studentenlied.)

Ça Ça geschmauset.
(Studentenlied.)



d. Gesellige Lieder.



Beispiele:

Der Landesvater. (Alles schweige! Jeder neige.)


Es kann ja nicht immer so bleiben.
(Kotzebue.)



e. Totenlieder.



Beispiele:

Jn die Schlacht da zog der Sohn.


(Volkslieder der Polen 1833. S. 46.)

Auf dem großen Teich schwimmen weiße Schwäne.


(Ebenda S. 51.)

|#f0113 : 91|



2. Wir empfehlen für die vorstehende, komplizierte Einteilung die nachfolgende,

einfachere Rubrizierung:



a. rein ernste Volkslieder, die von Liebe, Trennung, Wiedersehen,

vom Wandern und der Natur handeln,



b. heitere, von Wein, Geselligkeit und Spott übersprudelnde,



c. historische.



Beispiele des Volksliedes.



a. Ernste Volkslieder.

Die Macht der Thränen.


Es kam von einer Neustadt her,

Eine Witwe sehr betrübet;

Es war gestorben ihr liebes Kind,

Das sie von Herzen geliebet.


Sie ging einmal in's Feld hinaus,

Jhre Traurigkeit zu lindern;

Da kam das liebe Jesulein

Mit so viel weißen Kindern.


Mit weißen Kleidern angetan,

Mit Himmelsglanz verkläret,

Mit einer schönen Ehrenkron

War'n diese Kinder gezieret.


Und als die Mutter ihr Kind erblickt,

Schnell thät sie zu ihm laufen.

„Was machst du hier, mein liebes Kind,

Daß du nicht bist beim Haufen?“


„Ach Mutter, liebste Mutter mein,

Der Freud' muß ich entbehren;

Hier hab' ich einen großen Krug,

Muß sammeln Eure Zähren.“


„Habt Jhr zu weinen aufgehört,

Vergessen Eure Schmerzen,

So find' ich Ruh' in dieser Erd',

Das freute mich von Herzen.“



Ein schlichtes, schmuckloses, im Rhythmus ungekünsteltes Volkslied ohne

Reim, bei dem die ergreifenden Worte: „verdorben, gestorben“ gewissermaßen

die unausgesprochene Moral des Ganzen sind, ist das folgende:

Weder Glück noch Stern. (Simrock 94.)

Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht,

Wohl über die schönen Blaublümelein,

Sie sind verwelket, verdörret.


Es hatt' ein Knab' ein Mädchen lieb,

Sie liefen heimlich von Hause fort,

Es wußt's nicht Vater noch Mutter.


Sie liefen weit in's fremde Land,

Sie hatten weder Glück noch Stern,

Sie sind verdorben, gestorben &c.
|#f0114 : 92|



Das in der beliebten, volksmäßigen Dialogform gehaltene Volkslied vom

Mädchen und der Hasel s. § 2 S. 3 d. Bds.



Lyrisch=episch ist „Erlkönigs Tochter“ aus Herders „Stimmen der Völker

in Liedern“, das irrtümlich meistens in sechszeiligen Strophen mitgeteilt wird.

Erlkönigs Tochter.

Herr Oluf reitet spät und weit,

Zu bieten auf seine Hochzeitleut';


Da tanzen die Elfen auf grünem Land,

Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand.


„Willkommen, Herr Oluf, was eilst von hier?

Tritt hier in den Reihen und tanz' mit mir.“


Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag,

Frühmorgen ist mein Hochzeittag.


„Hör' an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir,

Zwei güldne Sporen schenk' ich dir.


„Ein Hemd von Seide so weiß und fein,

Meine Mutter bleicht's mit Mondenschein.“


Jch darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag,

Frühmorgen ist mein Hochzeittag.


„Hör' an! Herr Oluf, tritt tanzen mit mir;

Einen Haufen Goldes schenk' ich dir.“


Einen Haufen Goldes nähm' ich wohl;

Doch tanzen ich nicht darf noch soll.


„Und willt, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir:

Soll Seuch' und Krankheit folgen dir.“


Sie thät einen Schlag ihm auf sein Herz,

Noch nimmer fühlt' er solchen Schmerz.


Sie hob ihn bleichend auf sein Pferd,

„Reit' heim nun zu dein'm Fräulein wert.“


Und als er kam vor Hauses Thür,

Seine Mutter zitternd stand dafür.


„Hör' an, mein Sohn, sag' an mir gleich,

Wie ist dein' Farbe blaß und bleich?“


Und sollt' sie nicht sein blaß und bleich,

Jch traf in Erlenkönigs Reich.


„Hör an, mein Sohn, so lieb und traut,

Was soll ich nun sagen deiner Braut?“


Sagt ihr, ich sei im Wald zur Stund,

Zu proben da mein Pferd und Hund.


Frühmorgen und als es Tag kaum war,

Da kam die Braut mit der Hochzeitschar.


Sie schenkten Meth, sie schenkten Wein,

„Wo ist Herr Oluf, der Bräut'gam mein?“
|#f0115 : 93|



„Herr Oluf, er ritt in Wald zur Stund,

Er probt allda sein Pferd und Hund.“


Die Braut hob auf den Scharlach rot,

Da lag Herr Oluf, und er war tot!


Die drei Soldaten.

Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt

Zu Straßburg wohl über den Rhein.

Sie wurden wohl alle geführet,

Keine Trommel ward dabei gerühret

Bis in Straßburg hinein.


Was begegnet ihnen auf der Brücke?

Ein schwarzbraun Mädelein;

Schwarzbraun Mädelein, jung von Jahren,

Willst du unser junges Leben sparen,

So thu eine Bitte für uns.


Das Mädchen wandte sich um und um,

Mit Weinen ging sie davon,

Sie ging wohl seufzend und weinend

Zu Straßburg wohl über die Steine

Bis zu des Kommedanten Haus.


Kommedant, herzliebster Kommedante mein!

Gott grüß Sie tausendmal!

Woll'n Sie meiner Ehr' gedenken,

Den drei'n Soldaten das Leben schenken,

So geb'n Sie mir den jüngsten zu der Trau.


Ach nein, ach nein, das kann ja nicht sein,

Das kann und darf ja nicht sein,

Die Soldaten, die müssen sterben,

Den Himmel müssen sie ererben,

Dazu die ew'ge Seligkeit.


Das Mädelein wandte sich um und um,

Mit Weinen ging sie davon,

Sie ging wohl seufzend und weinend

Zu Straßburg über die Steine,

Bis vor des Vaters Haus.


Was zog sie aus ihrem Kasten?

Ein schneeweiß Hemdelein.

Sieh da! Du Hübscher, du Feiner,

Du herzallerliebster Meiner,

Hierinnen leid'st du deinen Tod.


Was zog er von seinem Finger?

Ein goldnes Ringelein.

Sieh da! Du Hübsche, du Feine,

Du herzallerliebste Meine,

Hier hast du die Treue von mir.
|#f0116 : 94|



Was soll ich mit dem Ringelein thun?

Jch bin ein junges Blut. ─

Den leg' in deinen Kasten,

Laß ihn liegen, laß ihn ruhen, laß ihn rasten

Bis an den jüngsten Tag.


Und wenn ich dann vor Kisten und Kasten komm

Und schau das Ringelein an,

Das Herze möchte mir ja brechen,

Jn's Herze möcht' ich mich ja stechen,

O weh! mein Schatz ist tot!


(Vgl. Schenkel II. 577.)



b. Heitere Volkslieder.



Als Probe für das heitere Volkslied erinnern wir an das vielgesungene

Pinzgauerlied, ferner an die Studentenlieder: In dulci jubilo, und Ça ça

geschmauset; endlich an das allbekannte:



's ist mir Alles Eins, 's ist mir Alles Eins,

Ob ich Geld hab' oder keins.“



Hieher sind auch zu rechnen die zu Volksliedern gewordenen bekannten

Gedichte: Vanitas von Goethe, und Das Fläschlein von Langbein (Jch und

mein Fläschlein sind immer beisammen), Die Bitte Noahs von Kopisch (Als

Noah aus dem Kasten war), und Ein lustiger Musikante von Geibel.



c. Historische Volkslieder.



Als Probe für diese Gattung erinnere ich an die Volkslieder:



Prinz Eugenius, der edle Ritter (Hist. Volksl. v. Soltau Nr. 85).



Friederikus Rex, unser König und Herr (Wilibald Alexis).



Bertrands Abschied (Leb wohl, du teures Land, das mich geboren).



Die nächtliche Heerschau (Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein

Grab, von Zedlitz).



Andreas Hofer (Schenkendorf).



Das Blücherlied (Was blasen die Trompeten? &c. von Arndt. Vgl. I. S. 604).



§ 56. Wanderung durch die geographischen Bezirke des

Volkslieds.



Um einen Überblick über den zwar eigenartigen, aber dennoch einheitlichen

Ton des Volksliedes zu gewinnen, dürfte es sich empfehlen,

einzelne Volkslieder der verschiedensten Bezirke mit einander zu vergleichen.





Wir können selbstverständlich an dieser Stelle nur eine Anregung hierzu

geben, indem wir lediglich einige für die Vergleichung geeignete, leicht zugängliche

oder allbekannte Volkslieder auswählen:



1. Es reiten drei Reiter zu München hinaus (Von der schönen Bernauerin.

Simrock 492. Schenkel II. 568).

|#f0117 : 95|



2. Nun will ich aber heben an von dem Tannhäuser. (S. 90 d. Bds.)



3. Es wurden drei Soldaten gefangen und geführt zu Straßburg. (S. 93 d. Bds.)



4. Jnnsbruck, ich muß dich lassen (Abschiedsklage. Simrock 264).



5. Es steht ein Baum in Österreich (Die hohe Blume. Simrock 39).



6. Die Kindesmörderin (Simrock 85. Vgl. dasselbe argäuisch ebenda 87).



7. Schwabenstreiche (Simrock 116), sowie Schwäbische Tafelrunde (ebenda 536).



8. Zu Frankfurt an der Brücke (Simrock 135).



9. Ein Jäger aus Kurpfalz (Simrock 402).



10. O Straßburg, o Straßburg (Simrock 477).



11. Zu Koblenz auf der Brücken (Wassersnot. Schenkel II. 649).



12. Es steht ein Baum im Odenwald (Schenkel II. 645) u. s. w.



§ 57. Das geistliche Volkslied.



1. Das geistliche Volkslied entstand erst lange nach dem weltlichen.

Die Reformation schuf es.



2. Seine Wirkung war eine gewaltige.



3. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß man mehrfach die

Form beliebter weltlicher Volkslieder benützte, um geistlichen Jnhalt in

dieselbe zu gießen.



1. Durch Luthers Vorgang erhielt der Volksgesang bald seine ideale Spitze

im geistlichen Volks- oder Kirchenlied. Gewaltig wirkte auf die Massen das

protestantische Trutzlied „Ein' feste Burg ist unser Gott“, oder: „Vom Himmel

hoch, da komm ich her“ u. s. w.



Die christliche Begeisterung schuf aus dem Volke heraus christliche Volkslieder,

die alt und jung, gelehrt und ungelehrt sang, wie das weltliche

Volkslied.



(Wir begegnen diesen zum Volkslied gewordenen Liedern wieder beim

Kirchenlied.)



2. Mächtig war die Einwirkung dieser christlichen Volkslieder auf den

deutschen, gewohnten Volksgesang. Zur Körperlichkeit und Fülle desselben kam

die Verinnerlichung des christlichen Gefühls, die ergreifend wirkte. Thränen

vergoß Luther, als ein Bettler das Lied des Paul Speratus sang: „Es ist

das Heil uns kommen her“ und Luther erfuhr, daß dasselbe von der Ostsee

bis Wittenberg gesungen wurde.



3. Man suchte Kapital aus dem Volkslied dadurch zu schlagen, daß man

dasselbe zum Kirchenlied verwendete; einzelne beliebte Volkslieder (wie: In dulci

jubilo
) formte man ganz um; andere veränderte man parodistisch z. B.



„Jnnsbruck, ich muß dich lassen,“
(Simrock 264.)

in:

„O Welt, ich muß dich lassen.“


Oder:

„Herzlich thut mich erfreuen die fröhlich Sommerzeit“


in:

„Herzlich thut mich verlangen &c.“
|#f0118 : 96|



Oder:

Den liebsten Buhlen, den ich han, der ist mit Reifen bunden &c.


(vgl. Wunderhorn II. 425. Simrock 507. Uhlands Volksl. Nr. 214 A und B)

im 15. Jahrhundert in:

Den liebsten Herren, den ich han, der ist mit Lieb gebunden &c.


(Vgl. Wackernagels Kirchenlied Bd. II Nr. 835 sowie ebenda Nr. 836, endlich

die Umdichtung in eine fünfzeilige Strophe Nr. 837 u. s. w.)



§ 58. Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes.



Schöpfung, Verfall, Wiedererwachen, neue Blüte des Volksliedes

hielt stets mit unseren nationalen Schicksalen gleichen Schritt.

Die Mehrzahl der heute noch bevorzugten Volkslieder verdanken wir

dem aufgeweckten, mutigen, lebensfrischen Geiste unseres Volkes a. im

Zeitalter der Reformation, dann später b. dem Wiedererwachen des

deutschen Nationalgeistes unter Friedrich dem Großen von Preußen, wie

c. in den Befreiungskriegen.



Wie schon bei Beginn des Minnesangs, so wurde das Volkslied

später immer mehr die Wurzel, aus welcher das Kunstgedicht heraussproß.



Während die Gebildeten seit Opitz die Weisen der alten und neueren

Volkslieder nicht mehr beachten zu sollen meinten, sie für unschön und roh

hielten (so daß sich diese nur noch auf der Straße, in der Schenke, im Wald

im Mund des gemeinen Volkes erhielten, dem sie ja auch entsprossen waren),

hat zuerst Herder, und sodann Goethe das Volkslied wieder zu Ehren gebracht

und auf die Bedeutung desselben hingewiesen. Herder hat bereits 1778 Volkslieder

aus allen Zeiten gesammelt und unter dem Titel „Stimmen der Völker

in Liedern“ herausgegeben, wodurch er als der erste zur Ausbildung des Volksliedes

anregte und Neubearbeitungen einzelner Volkslieder veranlaßte; z. B. von

Goethe: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, ferner „Wenn ich ein Vöglein

wär“, „So viel Stern am Himmel stehen“, „Guter Mond, du gehst so

stille!“ u. s. w.



Herders Stimmen der Völker enthalten Lieder 1. aus dem hohen Norden

(grönländische, lappländische, esthnische, lettische, litthauische, tartarische, wendische

&c.), 2. aus dem Süden (griechische, italienische, spanische, französische),

3. nordwestliche (aus Ossian, schottische, englische), 4. nordische (skaldische,

dänische &c.), 5. deutsche, 6. Lieder der Wilden (aus Madagaskar und Peru).



Die Bestrebungen Herders machten zuerst klar, wie Deutschland nach Lage

und Geschichte befähigt sei, der Herd einer Weltlyrik zu werden, um sich im

Geben und Nehmen mit allen Ländern in Beziehung zu setzen. Dem Vorgang

Herders folgten 1806 und 1808 Clemens Brentano und A. v. Arnim mit:

„Des Knaben Wunderhorn“, neu und in guten gereinigten Texten herausgegeben

von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius 1874 ff. ─ Goethe urteilt |#f0119 : 97|



von des Knaben Wunderhorn in der Jen. Allg. Lit. Ztg. 1806. No. 18. 19:

„Von rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Haus, wo frische Menschen

wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher

zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblicke

der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes

oder Anregendes fände &c.“



Es schlossen sich an: die Sammlungen von Volksliedern, welche von der

Hagen und Büsching herausgaben, sowie Uhlands Deutsche Volkslieder (1844.

1882). Karl Simrocks Deutsche Volkslieder (1859), H. Pröhles Weltliche und

geistliche Lieder (1855), O. L. B. Wolffs Hausschatz der Volkspoesie (4. Aufl.

1853), Meiers Schwäbische Volkslieder, Kleinpauls Volkslieder, Erks Liederhort,

Kretzschmers, Soltaus, Körners und besonders v. Liliencrons historische Volkslieder.

Einen treuen Pfleger hat das Volkslied in unserer Zeit neben Böhme,

Birlinger, Crecelius, Hoffmann von Fallersleben, v. Ditfurt, Süß, Mittler,

Schlossar, auch an Georg Scherer, dem Dichter zarter und sinniger Lieder,

gefunden. Aus den verschiedensten Heimstätten deutschen Lebens trug er einen

Volksliederschatz zusammen, und mit diesem in der Hand förderte er die seit

Herder bei uns angehäufte Litteratur der Volkspoesie. Die erste Ausgabe

seiner illustrierten Pracht-Ausgabe des deutschen Volksliedes trug den Titel:

Die schönsten, deutschen Volkslieder mit ihren eigenen Singweisen.



Die Litteratur des Volksgesanges hat in der Neuzeit übrigens auch bei

anderen Nationen reiche Vermehrungen erfahren. Was außer den im Text

Genannten noch Elwart, Eschenburg &c. für den deutschen, ─ Percy, Pinkerton,

Walter Scott, Jameson für den englischen und schottischen Volksgesang thaten,

leistete Fauriel für den neugriechischen.



Geijer und Afzelius haben 1814─1816 die Volkslieder der Schweden

in 3 Bänden mit 3 Heften Musikbeilagen herausgegeben und das letzte Glied des

germanischen Volksgesangs ergänzt, zu welch letzterem wir außer dem eigentlich

deutschen, den so reichhaltigen skandinavischen, englischen und schottischen zählen.

England, Schottland, Deutschland und Skandinavien bilden hinsichtlich der

Sprache bekanntlich einen eigenen Stamm, der sich von den romanischen

Sprachen unterscheidet.



Diese Länder haben aber auch in ihrer älteren Volks-Poesie so viel Verwandtschaft,

daß man sie als ein eigenes großes Ganze betrachten kann. So

viel auch die Sammlungen dänischer Volksgesänge von Sofranson Wedel, Peter

Syw und besonders von Ryerup in Verbindung mit Abrahamson, Rahbeck und

Rasmussen in bezug auf schwedische Volkslieder ergaben, so verdienstlich ist die

obige Sammlung Geijers und Afzelius' in deren Volksliedern der jambisch=anapästische

Rhythmus vorherrschend ist, und die eine große Mannigfaltigkeit in der

Zeilenlänge, in der Folge der Silben, in der Strophik, ähnlich wie in der

Neuzeit die Gedichte des Königs Oscar II. von Schweden-Norwegen, aufweisen.



Arndt und Kosegarten (Blumen) haben das schwedische Volkslied zuerst

nach Deutschland verpflanzt; Herder hat nur dänische, aber keine schwedischen

Volkslieder seiner Sammlung beigegeben.

|#f0120 : 98|



Eine neue Sammlung schwedischer Volkslieder hat Arwidssohn in Stockholm

1834 herausgegeben, die Mohnike 1836 (Stuttgart) in's Deutsche übertrug.



Leider wird trotz aller Bemühungen ─ auch der verwandten Kulturländer

─ der größte Teil des versunkenen Schatzes mittelalterlichen Volksgesanges

ungehoben bleiben. Doch hat Uhland wenigstens die Volkslieder des

16ten Jahrhunderts in ziemlicher Reichhaltigkeit nach Handschriften und alten

Drucken zu vereinen gewußt. Er behauptet von den deutschen Volksliedern (in

„Alte, hoch- und nieder=deutsche Volkslieder“ S. 10), daß ihnen der einheitliche

Geist, der gleiche Schnitt, der durchgehende, volkspoetische Charakter fehle, fand

dafür aber die lebensvolle Erscheinung interessant, wie der deutsche Volksgesang

vom 13ten Jahrhundert an mehr und mehr der wichtigsten Ereignisse und Zeitfragen

sich bemächtigte und so allgemein und wirksam wurde, daß Luther selbst

die Psalmen zu Volksliedern stimmte u. s. w.



§ 59. Das Volkslied der letzten Decennien.



Jnteressant ist die Wahrnehmung, wie das moderne Volkslied der

letzten Decennien genau so wie das früheste Volkslied je nach dem

Volksbedürfnisse auftaucht, erst leise und schüchtern, dann lauter und

sicherer, bis es endlich überall Eingang in Herz und Haus gefunden hat;

wie ferner trotz unserer Presse auch bei uns erst niemand den Dichter

des Volksliedes kannte, wie der eine es vom andern hörte, dieser vom

dritten und vierten, bis es zuletzt die Kinder in allen Orten und

Straßen sangen, bis es durch die Zeitstimmung, durch große politische

oder soziale Ereignisse geweckt mit einem Schlag zur Geltung kam.



Wir liefern den geschichtlichen Nachweis:



Es war Ende der vierziger Jahre, da ertönte aus allen Winkeln Deutschlands:

Schleswigholstein meerumschlungen (Gedicht von H. Straß, comp.

von Chemnitz). Es kam 1848 die Revolution. Wir kümmerten uns wenig

darum und jubelten in geschlossenen Reihen:



Sang, Lieb und Freude

Führen uns heute;

Unsre lustge Kompagnie

Wandert so, spät und früh,

Durch die weite Welt,

Wohin es ihr gefällt.



Daneben machte sich das sog. Thüringer Volkslied Platz, das alle deutschen

Volksschichten ergriff und durchklang. Das Jahr 1859 kam und brachte den

französisch=ital. Krieg. Deutschland machte zwar mobil, aber der deutsche Michel

dehnte sich höchst gleichgültig. Überall erscholl das Lied:



Ach, ich bin so müde,

Ach, ich bin so matt,

Möchte gerne schlafen gehn,

Morgen nicht zu früh aufstehn.
|#f0121 : 99|



Es erklang kein allgemeines Volkslied mehr, bis 1863 Schleswig-Holstein

neu erwachte und in Deutschland aufging. Da schallte es 1867: „Jch bin

ein Preuße“ aus aller Soldaten und Preußen Munde. Jm übrigen Deutschland

sang man von der „schönen blauen Donau“ bis zum Wiener Krach. Der

Patriotismus erwachte und mit ihm das neue Volkslied. Es kam die Wacht

am Rhein. Schon 1840 war sie entstanden, als Frankreich zur Unterstützung

Mehemed Alis von Ägypten gegenüber der Allianz der Großmächte einen Krieg

in Aussicht stellte, der zugleich Frankreich die Rheingrenze wiedergeben sollte.

Man sang dazumal Beckers an Lamartine gerichtetes Rheinlied: „Sie sollen

ihn nicht haben.“ Man kannte die „Wacht am Rhein“ noch nicht, die 1854

erst vom Komponisten Wilhelm in Musik gesetzt wurde und langsam wuchernd

fortlebte, bis sie durch den französischen Krieg 1870/71 eine an die dämonische

Gewalt der Marseillaise von Rouget de Lisle erinnernde Macht erhielt und

ihren begeisternden, tyrtäischen Triumphzug durch ganz Deutschland hielt, ohne

daß man anfänglich den Dichter kannte. (Vgl. hierher S. 114 d. Bands.)



Kunstlied.


§ 60. Mission des Kunstliedes.



1. Jn unserer dem Volksliede feindlichen Zeit und angesichts der

wachsenden Kultur und Bildung unseres Jahrhunderts muß das Kunstlied

die Aufgabe übernehmen, das Volkslied teilweise zu ersetzen.



2. Es muß volkstümlich sangbar werden im Sinne der volkstümlichen

Kunstlieder Goethes, Heines, Uhlands u. a.



Unsere Eisenbahnen und Telegraphen als rastlos fortdrängende Kulturfaktoren,

ferner unser poesiefeindliches Cliquenwesen und unser Materialismus

drohen den letzten Schimmer eines gesund naturwüchsigen beschaulichen Lebens

und Seins zu erdrücken, in welchem das edle Volkslied fortlebte. Für die

Folge werden es nur wenige Fleckchen im gemeinsamen Vaterlande sein, wo

einzelne, naturfrische, urkräftige Menschen unberührt vom Parteigetriebe und der

prosaischen, modernen Kultur leben, bei welchen noch Gedanke und Gefühl mit

der Natur verschwistert bleiben, denen in Zeiten des Bedürfnisses ein Gott die

Zunge löst, damit sie aus Geist und Gemüt ihrer Nation heraus noch dichten

und singen, wie es dem Volksgewissen, dem deutschen Volksgefühl und dem unverkünstelten

Volkscharakter entspricht.



Jm Hinblick auf diese Thatsache, und angesichts der hohen Bedeutung,

welche das Volkslied für Poesie und Kultur, wie für Pflege des ästhetischen

Sinns, der Herzens- und Willensstimmung der Nation hat, muß das volkstümliche

Kunstlied an seine Stelle treten. Bereits haben die ersten Dichter der

Nation im Hinblick auf die große Wirkung der Volkslieder wie im Verein mit

dem Aufschwung germanischer Studien sich veranlaßt gesehen, volksliedartige,

volkstümliche Lieder zu dichten, den Ton des Volksliedes anzustreben, Gegenstände |#f0122 : 100|



des Volksinteresses im Volkston zu besingen, und zuweilen sogar durch

den Dialekt eine engere Verbindung mit dem Volke zu erzielen. Diese vom

Hauch der Volkspoesie belebten Dichter sahen ein, daß ─ wenn sie Poesieen

im Geist und Sinn der alten Volkslieder schaffen wollten ─ sie das poetisch

gestimmte Volksleben in ihren Liedern entfalten mußten. So drangen sie mit

einzelnen volkstümlichen Gesängen in den gesunden Kern des Volkes ein, fanden

Anerkennung, und ihre Lieder wurden wie ehemals die Volkslieder allüberall

gesungen. (Man vgl. beispielshalber „Sah' ein Knab' ein Röslein stehn“ von

Goethe, „Frisch auf, Kameraden auf's Pferd, auf's Pferd!“ von Schiller, Der

alte Barbarossa von Rückert u. s. w.)



2. Nach dem Vorgang Goethes, Uhlands, Heines &c. muß sich unser Kunstlied

immer mehr von allem Geschraubten, Gekünstelten frei machen. Es muß

vor allem aus dem Jungbrunnen des edlen Volksliedes schöpfen. Die schöne

Linie, an welcher sich Kunstgedicht und Volkslied berühren, muß sein: volkstümliche

Empfindung und volksmäßige Sangbarkeit. Somit wird für die Zukunft

Ausgangspunkt und Ziel jedes echten Kunstliedes werden müssen: Volkstümliche,

echte, ungezierte Empfindung, die sich in Anschauung

umsetzt und wiederum Empfindung machtvoll zeugt!



§ 61. Einteilungsprinzip des Kunstliedes.



1. Schon im Mittelalter unterschied man das weltliche und das

geistliche Lied mit ihren vielen Unterarten. Für das Kunstlied der

Gegenwart ist der Einteilungsmodus ein sehr verschiedenartiger.



2. Wir behalten die im § 48 aufgestellte Einteilungsweise bei.



1. Man teilt die Lieder in bezug auf ihren Stoff und Endzweck in geistliche

und weltliche Lieder ein. Die weltlichen Lieder zerfallen nach den Jahreszeiten

in: Frühlingslieder, Herbstlieder, Mailieder &c., nach den Tageszeiten: in

Morgen- und Abendlieder. Ferner spricht man von Nationalliedern, welche

Vaterlandsliebe und Nationalsinn zum Ausdruck bringen, oder bemerkenswerte

Ereignisse aus der Geschichte des Vaterlandes behandeln; von Kriegsliedern, die

zur Beharrlichkeit und Tapferkeit im Kampfe ermutigen; von moralischen,

welche Rechtschaffenheit und Tugend feiern; von Trink- und Gesellschaftsliedern,

die den freundschaftlichen Verkehr würzen; von Minneliedern, die besonders die

sanften Empfindungen der Freundschaft und Liebe zum Ausdruck bringen; von

Klageliedern, die traurige Erlebnisse schildern und beklagen u. s. w. Jedem

Volk, jedem Stande und jeder Altersstufe sind außerdem noch besondere Lieder

eigen, in denen sich ihr Lebensgefühl klar darlegt.



Nach den Ständen teilt man die Lieder ein in: Studentenlieder, Jäger=,

Soldaten=, Hirten=, Winzer=, Fischer- und Reiterlieder; nach Beschäftigung

und besonderen Verhältnissen in: Erntelieder, Schlachtenlieder, Wanderlieder,

Sehnsuchtslieder, Schlummerlieder &c. Endlich teilt man ein: in ernste und

komische Lieder.
Nach den ihnen zu Grunde liegenden Veranlassungen |#f0123 : 101|



und Stimmungen könnte man die Lieder Ermutigungslieder, Hoffnungslieder

u. s. w. heißen. Häufig teilt man die Lieder in Hinsicht auf ihren Jnhalt ein:

a. in subjektiv=individuelle, welche durch besondere eigene Lebensverhältnisse des

Dichters hervorgerufen wurden, b. in objektiv=individuelle, welche durch die

Verhältnisse einer zweiten Person entstanden sind. Eine andere Einteilung

rubriziert die Lieder nach ihrer Wirkung oder nach dem Gegenstand. Gegenstand

des Liedes kann jedes Gefühl sein; deshalb giebt es so viele Arten von Liedern,

als es Lebensverhältnisse, Stimmungen, Gefühle, Stände &c. giebt.



Das Kunstlied im Mittelalter war:



1. dem Frauendienste, dem Herrendienste, der Natur, und



2. der Gottesminne gewidmet.



Die alten Kunstdichter sangen (wie Uhland im „Märchen“ bemerkt):



„von Gottesminne,

Von kühner Helden Mut,

Von lindem Liebessinne,

Von süßer Maienblut.



Jhre Lieder hatten also entweder geistlichen oder weltlichen Jnhalt.



2. Diese Einteilung können wir in unserer Poetik beibehalten. Wir werden

somit im nachstehenden folgende Gruppen abzuhandeln haben:



A. Weltliches Lied.



1. Vaterlandslied.

2. Naturlied.

3. Liebeslied.

4. Komisches Lied.

5. Geselliges Lied.

6. Elegisches Lied.

7. Jdyllisches Lied.



B. Geistliches Lied.



1. Religiöses Lied.

2. Kirchenlied.

a. Bußlied.

b. Danklied.

c. Trostlied.

d. Gebetlied.

e. Loblied.

f. Glaubenslied.



Formen des Kunstliedes.


Weltliches Lied.


§ 62. Das Vaterlandslied und das Bardiët.



1. Die Vaterlandslieder sind der Begeisterung und der Liebe für's

Vaterland entsprungen und preisen die Freiheit und die Selbständig= |#f0124 : 102|



keit eines Volkes, oder feiern die Männer, die zum Gedeihen des

Ganzen beigetragen haben.



2. Viele derselben wecken Kampfesmut und Siegesfreude. Man

teilt sie ein in: a. Vaterlandslieder im engern Sinn, mit den Unterarten:

Freiheitslieder, nationale Heldenlieder und Schlachtenlieder;

sowie b. Bardiëte.



1. Die besseren Vaterlandslieder sind stets in Zeiten der Gefahr entstanden

und wurden nicht selten durch Stimmung und Bedürfnis zu Volksliedern

erhoben.



Jm Befreiungskrieg zu Anfang des 19. Jahrhunderts rühmten Freiheitssänger

(patriotische Romantiker) zum Teil noch in der traditionellen alt=klassischen

Form das hohe Gut der Freiheit, für welche Deutschlands Jugend mit Begeisterung

eintrat.



Die politischen Lyriker der dreißiger und vierziger Jahre (Prutz, Herwegh,

Kinkel, Strachwitz), die echt patriotische Gesänge schufen, erhoben sich auch gegen

die bestehende Ordnung, wurden Schildträger der Partei, Sänger oder Vorläufer

der Revolution von 1848.



Machtvoll entfaltete sich das Vaterlandslied 1870─71, als französischer

Übermut uns den Krieg erklärte. Den gesamten deutschen Dichterwald beseelte

nur ein Ziel: Befreiung vom Erbfeind; alle Gesänge sind durchglüht von Vaterlandsliebe.





2. Als Beispiele bekannter guter Vaterlandslieder aus den erwähnten drei

großen Perioden des Wachstums und der Fruchtbarkeit derselben, sowie aus

früherer Zeit, erwähnen wir die folgenden, die als patriotische Volkslieder in

Aller Munde leben und in die Kommersbücher übergegangen sind:



a) Vaterlandslieder im engern Sinn.



Was ist des Deutschen Vaterland?
(Arndt.)

Sie sollen ihn nicht haben &c.
(Becker.)

Schleswig-Holstein meerumschlungen.
(H. Straß.)

Dir möcht ich diese Lieder weihen.
(Uhland.)

Wo Mut und Kraft in deutschen Seelen flammen.


(C. Hinkel.)

Deutschland, Deutschland über Alles.


(Hoffmann von Fallersleben.)

Wie könnt' ich Dein vergessen.
(Derselbe.)

Wo solch ein Feuer noch gedeiht.
(Herwegh.)

Es braust ein Ruf wie Donnerhall.
(Schneckenburger.)



Freiheitslieder.



Zu Warschau schwuren tausend auf den Knieen &c.


(Julius Mosen.)

Frisch auf, mein Volk! die Flammenzeichen rauchen.
(Körner.)

Der Gott, der Eisen wachsen ließ.
(Arndt.)

Freiheit, die ich meine.
(Schenkendorf.)

Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.
(Körner.)

Der Landsturm, der Landsturm.
(Rückert.)

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Nationale Heldenlieder.



Viktoria! mit uns ist Gott.
(Gleim.)

Fridericus Rex.
(Wilibald Alexis.)

Nachts um die zwölfte Stunde.
(Zedlitz.)

Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!
(Arndt.)

Bedeckt mit Moos und Schorfe.
(Rückert.)

Der alte Barbarossa.
(Derselbe.)



Schlachtenlieder und Soldatenlieder.



Der Ritter muß zum blut'gen Kampf hinaus.
(Körner.)

Jch hatt' einen Kameraden.
(Uhland.)

Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?
(Körner.)

Vater, ich rufe Dich!
(Körner.)

Du Schwert an meiner Linken.
(Körner.)

Wohlauf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd.
(Schiller.)

Nun weg mit Feder und Papier.
(Emil Rittershaus.)



b) Bardiet (sprich: Bar=di=et).



Durch Klopstock, der eine gewaltige Vorstellung von der alten Bardendichtung

hatte, wurde unsere Litteratur mit dem Bardiet bereichert. Man versteht

unter Bardiet (auch Bardit ─ anklingend an den Namen Barden, den

die Dichter der keltischen oder gallischen Völker als besonderer Stand trugen)

Kriegs-Gesänge, deren Jnhalt aus der Bardenzeit ist, oder die wenigstens so

gedichtet sind, daß man sie für Bardengesänge halten könnte (vgl. Bd. I. S. 25).

Nach Klopstocks Vorgang bildete man im 18. Jahrhundert viele Bardiete, also

Lieder, welche den fingierten Charakter der alten Bardenlieder tragen sollten,

z. B. eines Ossian, des Repräsentanten des schottischen Bardentums, den man

den Kaledonischen Barden nannte.



Wenn dieselben auch nur von vorübergehender Bedeutung waren, so können

sie doch ihre Stellung und Einregistrierung in die Poetik verlangen. Sie dienten

zur Erweckung der Vaterlandsliebe, eines wesentlichen Elements deutscher Lyrik,

und sie trugen dazu bei, Sinn für nationale Gesänge zu schaffen. V. Gerstenbergs

(† 1823) Bardiet „Lied eines Skalden“ ist ebenso ergreifend, als die

Bardiete Klopstocks (Hermannsschlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns

Tod) oder die Bardiete Kretschmanns († 1809), den man „Rhingulf der

Barde“ nannte.



Klopstock hat dramatische Dichtungen geschaffen mit eingefügten lyrischen

Liedern (Bardiete im engeren Sinn), welche Vaterländisches aus der Zeit und

im Geist der Barden darstellen. Diesen Dichtungen gab er ebenfalls den umfassenden

Namen Bardiete. Da das Dramatische in denselben nur den Rahmen

und die Einleitung in die lyrischen Partieen bildet, so sind sie ─ wie die

übrigen Bardiete ─ an dieser Stelle zu erwähnen. Neuere Kriegssänger sind im

Unrecht, ihre gewöhnlichen Soldatenlieder als Bardiete einzuführen. Da dies

auch früher geschah, so bildete sich mit Recht eine Opposition gegen die Bardengesänge

überhaupt, und bekannt ist die komische Manier, in welcher Lichtenberg,

Kästner &c. gegen das überhandnehmende „Barden-Gebrüll“ loszogen.

|#f0126 : 104|



Die Nachahmer des Klopstockschen Bardensanges (Kretschmann [† 1809],

Denis [† 1800, Wiens Befreiung], Mastalier in Wien [† 1795]) bezeichnet

man vorzugsweise als die deutschen Barden. Sie bemühten sich, im Sinn und

Geist der alten Barden zu dichten, sie teilten ihre patriotischen Gefühle in antiken

Formen mit und wählten meist deutsche Helden und Fürsten zum Gegenstand

ihrer Gesänge.



Beispiel des Bardiets:



Laudon, von Mastalier.

Wen, Harfe, zitterst du zu verkündigen?

Was reizet deine Saiten zum Schlachtenton?

Jetzt, da des Friedens sanfte Gottheit

Städte bevölkert und Länder bauet?


Braust eines Helden etwa verschwiegner Ruhm

Vom Feld des Kampfs her? Horche, dort kommt ein Laut,

Zwar halb vom Tannenwald verschlungen,

Der auf der Quaden Gebirge türmet,


Doch Barden kennbar. Ha, wie der jungen Braut

Gefühlvoll Herz dem Jüngling entgegenschlägt,

Den ihr, durch Blut und Ruhm verschönert,

Jetzo der Fried' in die Arme führet.


So rauschet großen Thaten, den glänzenden

Gefährten hoher Lieder, so rauschet dir

Und deinen Siegen, großer Laudon,

Jetzo die bebende Harf' entgegen.


Auf denn, mein schüchtern Saitenspiel, säume nicht,

Die hellsten Thaten, die in der einzigen

Theresia Geschichte glänzen,

Kleinern Jahrhunderten vorzusingen.


Denn, wird der Zeiten fruchtbarer Schoß dereinst

Zu schwach, theresenähnliche Fürstinnen

Hervorzubringen (tönt nicht ihrer

Siege Geräusch bis zur jüngsten Nachwelt


Jn ewgen Liedern aufbewahrt?) o, so staunt

Ein blöder Enkel einst bei gemeiner That;

Denn er vermisset unsrer Tage

Wunder, und wähnt nichts von Laudons Thaten.


Zwar könnt' er anders? Wähnt es der Brenne denn,

Welch' heißer Kriegesdonner in Laudon ihm

Entgegenfuhr! Auch dann, als Böhmens

Blutig Gefild schon von Schlachten rauchte?


Und staunten nicht selbst unsre vom großen Sieg

Noch stolze Mauern, als sie das erste Mal

Dem unerhörten Siegesboten

Laudons sich feierlich aufgeschlossen?
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Der erst, ein kleiner Name, verdecket von

Gerühmtern Helden, plötzlich dem Dunkel sich

Entrissen und durch drei, vier Thaten

Bis zur Unsterblichkeit aufgeschwungen.


O klaget, Feinde, klagt, daß Theresiens

Scharfsichtig Auge mitten in Tausenden

Den raschen Sieger nicht verfehlet,

Der sich auf Feindes Gebiet die ersten,


Die schönsten Lorbeern brechen wird! Klaget, daß

Sie aus der Mitte feuriger Kämpfer ihn

An ihrer Heere Spitze führet;

Klaget! Denn, blitzte nicht in der Rechten


Des Helden ihrer Rache tiefschneidend Schwert,

Und schwäng' er's nicht so treffend, so schmelzten nicht

Vor seinem Anzug eure Haufen,

Wie vor dem Hauche des Süds der Winter.


So schlummert' jetzt noch Schweidnitz in sichrer Ruh,

So hießen deine dreifachen Schlösser, Glatz,

Unübersteiglich; so beschützte

Landshut den trotzigen, kühnen Führer,


Der stolz auf sieben steiler Gebirge Schanz'

Den Sieg mit müdem, halb schon gefangnem Arm

Noch aufhielt, und dem stärkern Sieger,

Nicht ohne Wunden und Scheelsucht nachgab;


So säh vielleicht die Oder ihr eigen Heer,

Die Brust voll offner Wunden, tief eingeschrumpft,

(Ach, sie zu waschen war nicht Zeit mehr!)

Hinter Küstrin sich nicht keuchend retten;


So kehrten tapfre Feinde nicht trauernd oft

Zurück von Laudon; denn sie erwartete

Daheim kein rauschendes Triumphlied.

Aber der Wiederhall seiner Thaten


Tönt schon an beiden Ufern des Oceans;

Betroffen suchen kriegrische Völker dort

Jn ihren schmeichelndsten Geschichten

Thaten der Ahnen, die seinen gleichen.


Wie schwer wirds ihnen! aber noch schwerer ist's,

Den Mann zu finden, der, durch sich selber groß,

Groß durch des größten Feindes Zeugnis

Und die entscheidende Gnade Josephs,


Sich selbst verkennet, der mit dem Glücke gern

Die Ehre seiner glänzenden Siege teilt,

Und mit den tapfern Kriegsgefährten,

Die er die Pfade des Ruhms geführet;
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Der, ob sein Name gleich bei den Sternen schallt,

Hier Feinde noch im modernden Grabe schreckt,

Der Sittsamkeit sanftroten Schleier

Über sein Siegen wirft. Welche Größe!


Nimm dir geschwind die Flügel des brausenden,

Des unermüdeten Nordwinds, mein festlich Lied,

Und hefte dieses Helden Namen

Fest an der äußersten Zukunft Thore.


Dort steht ein größrer noch nicht geborner Bard',

Und singt ihn einst, wenn finstre Vergessenheit

Die grauen Thaten mancher Helden

Aus der Geschichte Bahn weggerücket.


(Vgl. Laudon, von Janko. Wien, Braumüller 1881. S. 24.)



Litteratur des Vaterlandsliedes.



Die verbreitetsten, zum Teil durch ihre Melodien zu Volksliedern gewordenen,

patriotischen Gesänge schufen bei uns: Arndt (Was ist des Deutschen Vaterland?

Was blasen die Trompeten? Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Sind wir vereint

zur guten Stunde. Deutsches Herz, verzage nicht. Aus Feuer ward der Geist

geschaffen. Durch Deutschland flog ein heller Klang), Körner (Leier und Schwert.

Viele Lieder daraus sind von Himmel, K. M. v. Weber u. a. in Musik gesetzt

worden und werden noch heut zum Teil nach Volksweisen gesungen, z. B. Vater,

ich rufe Dich. Du Schwert an meiner Linken. Das Volk steht auf. Was

glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hör uns, Allmächtiger!), Schenkendorf

(Frühlingsgruß an das Vaterland. Landsturm. Schill. Soldaten-Morgenlied.

Die deutschen Städte. Freiheit die ich meine), Rückert (vgl. die Sammlung:

Kranz der Zeit), Stägemann (Siegeslied ist oft erklungen), Adolf Follen

(Vaterlandssöhne, traute Genossen!), Karl Follen (Brause, du Freiheitssang),

A. Binzer (Wir hatten gebauet), Karl Göttling (Stehe fest, o Vaterland!),

Uhland (Wenn heut' ein Geist herniederstiege). Die politischen Lyriker der 30er

und 40er Jahre: Herwegh (Jch bin ein freier Mann und singe; Reiterlied &c.),

Hoffmann von Fallersleben (Mein Vaterland), Robert Prutz (Die Mutter des

Kosaken; Noch ist Freiheit nicht verloren), Dingelstedt (Lieder eines kosmopolitischen

Nachtwächters), Freiligrath (Neue politische und sociale Gedichte), Strachwitz

(Die patriotische Hymne: Germania), Julius Rodenberg (Geharnischte Sonette),

Heinr. Zeise (Kampf- und Schwertlieder), Strodtmann (Schleswig-Holstein), Zedlitz

(Totenkränze, vgl. Bd. I. S. 560. Sein Soldatenbüchlein enthält patriotische,

der italienischen Armee gewidmete Gedichte), Anastasius Grün (Spaziergänge

eines Wiener Poeten, österreichische Zustände tadelnd), Alexander, Graf von Württemberg

(gen. Sander: Lieder eines Soldaten im Frieden), Karl Beck (Gepanzerte

Lieder, politische Zeitfragen behandelnd), Geibel (Patriotische Sonette, z. B. „Für

Schleswig-Holstein“), v. Gaudy (Kaiserlieder), Kugler (Vaterländisches Trinklied),

A. Knapp (Spielburg; Barbarossa und Saladin), Grüneisen (patriotische Lieder

und Romanzen z. B. Eberhard mit dem Barte), K. J. Simrock (Drei Tage und |#f0129 : 107|



drei Farben), Moritz Hartmann aus Böhmen (Kelch und Schwert), Th. Fontane

(Männer und Helden, eine Sammlung von Preußenliedern), G. v. Meyern

(Welfenlied &c.). Aus der neuesten Zeit durch den letzten Krieg hervorgerufene

politisch=patriotische Lyriken schrieben: Oskar v. Redwitz (Lied vom neuen

deutschen Reich. Nicht alle Sonette dieses Cyklus sind rein lyrisch. Bei vielen

ist die lyrische Sonettenform zur epischen Darstellung verwandt), G. v. Vincke,

W. Schröder, A. Pichler, Eug. Labes, E. Kauffer, K. Gutzkow, Herm. Grieben,

E. Förster, K. Elze, C. Beyer, G. Heusinger, Edm. Höfer, F. Hofmann,

W. Jensen, O. Marbach, M. Matzerath, Alfr. Meißner, M. Remy, O. Roquette,

E. Scherenberg, A. Stern, Fr. Storck (Alldeutschland hoch!), Adolf Stolterfoth,

A. Träger, Heinr. Viehoff, R. Waldmüller, F. Wehl, W. Winckler, Müller von

Königswinter, Müller v. d. Werra, Pläschke, v. Gottschall, Julius Grosse, Karl

Hackenschmidt, Georg Hesekiel, Marie Jhering, H. Lingg, Emil Rittershaus,

Julius Sturm, Rod. Benedix (Soldatenlieder), Moritz Blankarts (Kriegs= und

Siegeslieder), Fr. Bodenstedt, M. Carriere, Joh. Fastenrath, K. Gerok, Kl.

Groth, R. Hamerling u. A.



Als Sammlungen der politisch=patriotischen Lieder der Neuzeit sind zu

nennen: a. Alldeutschland von Müller v. d. Werra, b. Kriegspoesie aus den

Jahren 1870─71 (Mannheim bei Schneider), c. die bei Lipperheide in Berlin

erschienene Sammlung mit Autographen der Dichter &c.



§ 63. Das Naturlied.



Die Naturlieder sind aus dem Gefühl für das Ländliche, für

das Jdyllische und für die Natur hervorgegangen. Jn ihnen fällt das

Leben des Dichters mit dem Leben in der Natur zusammen. Alle

Regungen, welche die Natur durchziehen, durchzucken auch ihn. Man

hört bei den Naturliedern gleichsam die Dorfglocken ertönen, die den

Gruß der Liebe und des Friedens vermitteln, man sieht die Sommervögel

flattern, hört die summenden Jmmchen schwirren. Man nimmt

das Erwachen der Natur im Frühling, ihr Ersterben im Winter wahr.



Goethe und Rückert haben die Natur in unvergleichlicher Weise besungen.

Einer der hervorragendsten Naturdichter neben diesen hellstrahlenden Genien

ist der weniger bekannte Hölderlin (1770─1843). Er ist Naturdichter nicht

sowohl deshalb, weil die Natur der vorwiegende Stoff seiner Gedichte ist, weil

er die Erde, das Meer, den Äther, die Flüsse und die Bäume besingt, sondern

deshalb, weil die Versöhnung und Vermählung der Natur mit dem Geiste

sein künstlerisches Grundproblem bildet, auf dessen Lösung er vom ersten Erwachen

seines Genius bis zum Versinken desselben in die Nacht des Wahnsinns

hinarbeitete. Er faßte dieses Problem nicht etwa nur ästhetisch, sondern nahm

dafür von vornherein in echt antikem Geiste den ganzen Menschen in Anspruch.

So finden wir bereits unter den Erstlingen seiner Muse vor einer Hymne an

die Schönheit (1791) das bedeutsame Wort Kants: „Die Natur in ihren |#f0130 : 108|



schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffrenschrift

ist uns im moralischen Gefühl verliehen.“ Von diesem Gefühl ist zu

verstehen, was er in dem tiefsinnigen prosaischen Fragment „Grund zum

Empedokles“ sagt: „Natur und Kunst sind sich im reinen Leben nur harmonisch

entgegengesetzt. Der organischere, künstlichere Mensch ist die Blüte der Natur,

die selbstlose Natur, wenn sie rein gefühlt wird von rein organisierten, rein

in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung.“

Hölderlin feiert die Natur als die „allduldende“, denn sie duldet nicht allein

das in ihr selbst vorhandene Übel, sondern auch den an ihr und sich irrgewordenen

Geist, von dem sie gleichwohl ihre Erlösung allein zu hoffen hat.



Eigentümlich gefühlsinnig, mit Vorliebe für das Wunderbare sind noch

die Naturlieder des heiteren, seelenvollen, volkstümlichen und melodiereichen

schwäbischen Sängers Eduard Mörike. Wertvolle Naturlieder haben sonst noch

die unten in den Beispielen zu nennenden Dichter geliefert.



Beispiele der Naturlieder:



a. An die Natur.

Süße, heilige Natur,

Laß mich gehn auf deiner Spur,

Leite mich an deiner Hand,

Wie ein Kind am Gängelband!


Wenn ich dann ermüdet bin,

Sink' ich dir am Busen hin,

Atme reine Himmelsluft

Hangend an der Mutterbrust.


Ach! wie wohl ist mir bei dir!

Will dich lieben für und für;

Laß mich gehn auf deiner Spur,

Süße, heilige Natur!


(Friedr. Leop. Graf zu Stolberg, † 1819.)



b. Jm April.

Du feuchter Frühlingsabend,

Wie hab' ich dich so gern ─

Der Himmel wolkenverhangen,

Nur hie und da ein Stern.


Wie leiser Liebesodem

Hauchet so lau die Luft,

Es steigt aus allen Thalen

Ein warmer Veilchenduft.


Jch möcht' ein Lied ersinnen,

Das diesem Abend gleich;

Und kann den Klang nicht finden,

So dunkel, mild und weich.
(Geibel.)

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c. Frühling.

Frühling läßt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte,

Süße, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land.

Veilchen träumen schon,

Wollen balde kommen.

Horch, von fern ein leiser Harfenton!

Frühling, ja, du bist's!

Dich hab' ich vernommen.
(Mörike.)



Weitere Beispiele bilden die Naturlieder von:



Lenau: Schilflieder. Der Eichwald. Frühlings Tod. Herbst.



Rückert: Der Winter auf dem Lande. Abendlied. Frühlingslied, und besonders

sein dithyrambisches Lüfteleben.



Goethe: An den Mond.



Moritz Hartmann: Erster Schnee.



J. Mosen: Der träumende See.



Eichendorff: Winterlied.



Tieck: Herbst.



Heine: Fichtenbaum und Palme.



Hoffmann v. Fallersleben: Abendlied.



Uhland: Maientau. Die sanften Tage.



Karl Beck: Frühling. Heimweh.



Julius Sturm: Frühlingsgespenster. Herbstlieder. Auf dem Wasser.



Robert Reinick: Sommernacht.



Jul. Rodenberg: Schönheit. Dämmerung.



Kinkel: Abendstille. Abendmahl der Schöpfung.



Rittershaus: Der Abendfalter. Nach dem Sturme.



Cäsar von Lengerke: Der frühe Mond.



Herm. Lingg: Mondaufgang. Waldnacht.



Alfr. Meißner: Jn der Gebirgswüste.



Gottschall: Am Strande. Die letzte Rose.



Otto Roquette: Wandergruß.



Fr. Storck: Wach auf! u. a. m.



§ 64. Minne- oder Liebeslieder.



1. Man nennt das Minne- oder Liebeslied auch erotisches Lied

(von Eros == Amor). Seinen Jnhalt bildet die Liebe. Das Liebeslied

erschließt das Herz des Lyrikers in seinen geheimsten Tiefen; es

enthüllt die leisesten Ahnungen und die zartesten Regungen des beseligenden

Liebesgefühls. Daher sind seine Töne die zartesten und innigsten, die

anmutigsten und heitersten und zugleich die erwärmendsten. Das Liebeslied

ist der Spiegel der keuschen Liebes-Einfalt in ihrer sonnigen Klarheit.

Rückerts Liebesfrühling ist das Musterbuch der Liebeslieder, das

Evangelium der Liebe. Er hat für die gesamte Lyrik eine erlösende,

bahnbrechende und vorbildliche Mission erreicht.



2. Die Bedeutung des Liebesliedes soll man nicht unterschätzen.

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1. Zur Zeit des historischen Minnesangs, welcher eine fortschwingende

Welle jener durch die Troubadours angeregten Lyrik war, galt die Verehrung

der Frauen als eine besondere Tugend, welche im Kultus der heiligen Jungfrau

ihren Gipfelpunkt und ihre höchste Veredlung erreichte. Es gehörte zu

den Eigenschaften eines echten Ritters, im Herzen eine Dame zu tragen, für

die er in inniger Verehrung (Minne) erglühte, die er schützte und die er im

Minneliede verherrlichte. Daher fiel mit der Blüte des Rittertums die Blüte

des Minnelieds zusammen.



Es giebt seit dem Minnesang kaum einen Lyriker, der nicht Liebeslieder

geschaffen hätte, da die Liebe das treibende Agens für unser ganzes Leben ist.



Jean Paul spricht: Jeder Jüngling, sogar der prosaische, grenzt an den

Dichter ─ wie die Jungfrau eine kurzblühende Dichterin ist, beide wenigstens

in der Liebeszeit; oder vielmehr, die reine Liebe ist eine kurze Dichtkunst, wie

die Dichtkunst eine lange Liebe.



H. Heine sagt bezüglich des Gegenstandes des Liebesliedes: Die Engel

nennen's Himmelsfreud', die Teufel nennen's Höllenleid, die Menschen nennen

es Liebe.



Und Rückert, der nach Walther von der Vogelweide die zartesten und

innigsten Minnelieder sang, und der neben Chamisso in Frauenliebe und Leben

die der weiblichen Seele eigene Fülle an zarten Gefühlen am schönsten und

reichsten zum Ausdruck brachte, ruft aus:



Die Liebe ist der Dichtung Stern,

Die Liebe ist des Lebens Kern,

Und wer die Lieb' hat ausgesungen,

Der hat die Ewigkeit errungen.



2. Trotz der hohen Stellung des Liebeslieds findet man nicht selten

geringschätzige Urteile über dasselbe. Eine energische Verteidigung der Liebeslyrik

hat Th. Winkler der Redaktion der „Neuen Dichterhalle“ gewidmet, als

diese dem Liebesliede die Aufnahme in ihr Dichterjournal erschwerte. Warum,

so ruft Winkler in hochgradiger Entrüstung aus, soll die Liebeslyrik ausgeschlossen

sein? Jst diese Gattung der Poesie plötzlich in Bann und Acht

gethan? Oder ist das Gebiet etwa so abgegrast und ausgebeutet, daß kein

neuer, frischer Halm mehr darauf zu sprossen vermag? Bildet man sich wirklich

ein, daß mit Heine, Lenau, Rückert, Geibel &c. alles gesagt und poetisch ausgestaltet

worden sei, was je eine Menschenbrust im Gefühlssturm der Liebe

bewegen könne? Ein unbefangener Blick auf die neuere Produktion in der Lyrik

ergiebt, daß gerade das Kapitel des Liebesliedes die duftigsten, farbenprächtigsten

Blüten getrieben hat, Blüten, die trotz aller lyrischen Großmächte ihr

volles Recht haben, im Garten der Dichtkunst zu stehen und daselbst Freunde

und Verehrer zu finden. Eine Dichterhalle ist daher keinesfalls befugt, hier

eine Grenzsperre einzuführen. Nur sichten und sondern soll ihre Redaktion unter

den Einläufen. Jn der erotischen Lyrik ist die äußerste Strenge geboten, weil

sie der frequentierteste Tummelplatz des Dilettantismus ist. Es gehört in

manchen Kreisen zur Mode, ja, manche Menschen geben sich damit den Anschein |#f0133 : 111|



einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer

Nennung des Wortes „Lyrik“ mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht

befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne

der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten

Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat

und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf:

Liebeslieder mag Niemand mehr! ─ So lange es noch liebende Herzen und

empfindungsfähige Gemüter auf Erden giebt, so lange es dem Schachergeiste

unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu

zwingen, so lange wird ein wahrhaft poetisches, ein wahrhaft empfundenes und

künstlerisch ausgestattetes Liebeslied noch immer einen Wiederhall finden, wenn

auch nicht unter der feilschenden Menge des Marktes.



Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour,

welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte:



Gar wenig taugt mir ein Gesang,

Wo nicht der Klang vom Herzen dringt.

Und nicht vom Herzen dringt der Klang,

Wenn das nicht reine Liebe hegt. ─



sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel,

dessen Zartheit und Milde ihm die Anerkennung und den Ruhm eines unserer

größten Lyriker sichern:



Du Land des hohen, ernsteren Genius!

Du Land der Liebe! bin ich der Deine schon,

Oft zürnt' ich weinend, daß du immer

Blöde die eigene Seele läugnest.



Wie herrliche Blüten die erotische Lyrik auch noch in unserer Zeit zu

treiben vermag, beweisen unter vielen Liebesliedern hervorragender Dichter der

Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann,

die er in „Unter den Reben“ (Berlin. Lipperheide. S. 46─96) seiner

Amara George gesungen hat. Diese tiefempfundenen, formenschönen Gedichte

erscheinen wie eine Fortsetzung des Liebesfrühlings von Fr. Rückert, an den so

mancher süße Ton erinnert, ja, den man zu hören glaubt in den ergreifenden

Ghaselen: „Es führt das Schicksal Dich in weite Ferne, o bleib getreu!“, sowie

in „Jch liebe Dich nach Gottes ew'gem Schlusse ─ verlaß mich nicht!“



Beispiele des Liebesliedes:

Du meine Seele, du mein Herz,

Du meine Wonn', o du mein Schmerz,

Du meine Welt, in der ich lebe,

Mein Himmel du, darein ich schwebe,

O du mein Grab, in das hinab

Jch ewig meinen Kummer gab!

Du bist die Ruh, du bist der Frieden,

Du bist der Himmel mir beschieden.

Daß du mich liebst, macht mich mir wert,

Dein Blick hat mich vor mir verklärt,

Du hebst mich liebend über mich,

Mein guter Geist, mein beßres Jch!
(Rückert) |#f0134 : 112|



Mein Leben“ nenn' ich Dich; ─ doch nein, mein Leben

Jst stürmisch oft, von Wolkennacht umgeben:

Mit Dir an Lieb und Huld so Überreichen

Darf ich mein armes Leben nicht vergleichen.

Ein schön'res Bild, wo find' ich's? „Meine Seele?

Doch wie mein Leben, ist auch sie voll Fehle,

Verstimmt und schwach, wie oft auf falschen Gleisen; ─

Als meine Seele darf ich Dich nicht preisen!

Sei „meine Blume“, die ich liebend hege,

Bei Tag und Nacht mit gleicher Sorge pflege,

Sei meine Rose, blüh' empor, gedeihe,

Sei Königin in Deiner Schwestern Reihe. ─

Der Gärtner, der Dich pflegte, tritt zufrieden

Zurück in's Dunkel, wenn Dir Glanz beschieden.


(Alexander Kaufmann.)

Jn Liebesarmen ruht ihr trunken,

Des Lebens Früchte winken euch;

Ein Blick nur ist auf mich gesunken,

Doch bin ich vor euch allen reich.


Das Glück der Erde miss' ich gerne

Und blick, ein Märtyrer, hinan,

Denn über mir in goldner Ferne

Hat sich der Himmel aufgethan.


(Uhland, Hohe Liebe.)



Weitere Proben bekannter Liebeslieder sind:



Rückerts Liedercyklus: Der Liebesfrühling.



Chamisso: Frauenliebe und Leben.



Redwitz: Einzelne Lieder des Epos Amaranth z. B. Zieht hin, ihr lieben, stillen

Lieder zu meiner süßen Amaranth! &c. (§ 121. V. d. Bds.)



Goethe: Freudvoll und Leidvoll (Liebesglück).



Salis: Wann, o Schicksal, wann wird endlich.



Schiller: An der Quelle saß der Knabe.



Tieck: Geliebte, wo zaudert dein irrender Fuß?



Geibel: O stille dies Verlangen. ─ Rühret nicht daran. &c.



Uhland: Was wecket aus dem Schlummer mich. Nachts. &c.



Bodenstedt: Lieder des Mirza-Schaffy z. B. Jch fühle Deinen Odem &c.



Mörike: Liebesvorzeichen. Hochzeitslied und neben anderen erotischen Gedichten

insbesondere das tief ergreifende Lied Agnes (Rosenzeit! wie schnell vorbei,

schnell vorbei, bist du doch gegangen! &c.).



E. Ferrand: Jugendliebe. Am Fenster.



Dingelstedt: Erste Liebe. Wiedersehen.



v. Gottschall: Liebes-Reminiscenzen.



G. Schwab: An die Geliebte.



Herm. Rollet: An die Geliebte.



Hoffmann v. Fallersleben: Liebe und Klagen.



Clemens Brentano: Nach Sevilla. Abendständchen.



Platen: Sonette.



R. Prutz: Reue. Vergessen. Die tote Braut.



Alfr. Meißner: An meine Rose.



Karl Beck: Weltgeist. Zur Nacht.



Lenau: Dein Bild. An die Entfernte. Das tote Glück. Frage. Das Mondlicht.



Cäsar von Lengerke: Liebesleid.

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Betty Paoli: Gabe. Jn einer Abendstunde. Gelöbnis. Bewältigung.



Heine: Der Stern der Liebe.



Fr. Storck: Von Liebe. Das Lied der süßen Liebe.



Karl v. Holtei: Frühlings-Atem weht entgegen.



Amara George: Das süße Wort. Was Liebe kann. Die Augen, die geweint. &c.



§ 65. Das komische Lied.



1. Das komische Lied nimmt irgend einen erheiternden, ergötzlichen

Gegenstand zum Stoff. Der Dichter fühlt sich in der gehobensten

Laune und singt aus ihr heraus.



2. Das komische Lied darf nie die zarte Linie des Schicklichen, d. i.

des ästhetisch Zulässigen überschreiten.



1. Der heiteren Seelenstimmung unserer Dichter sind eine Menge komischer

Lieder entsprungen, die schon durch ihren Titel Stoffgebiet und Tendenz verraten

und allbekannt geworden sind. Jch erinnere aus der großen Zahl derselben

nur an die folgenden komischen Lieder:



Ein lust'ger Musikante marschierte einst am Nil, o tempora o mores!

(E. Geibel). Als Noah aus dem Kasten war (Kopisch). Jch hab' mein Sach'

auf nichts gestellt (Goethe). Der Ostwind kam an's Schenkenthor; Mönch! die

Predigt schenk ich dir; Manch Jahr ist's her, seit mein letztes Buch versetzt; Die

Liebe fiel in's Grübchen am Kinn; Es ist der Kopf ein Luftgezelt (Rückert).

Die Hussiten zogen vor Naumburg (Seiffert). Das Essen, nicht das Trinken

bracht uns um's Paradies (Wilh. Müller). Grad aus dem Wirthshaus nun

komm ich heraus (Mühler). Ach! das Exmatrikulieren ist ein böses Ding, ja

ja! (W. Gabriel). Fürst Bismarck dem deutschen Manne (J. Meyer). Tragische

Geschichte (Chamisso). Krapulinski und Waschlapski, Polen aus der Polakei;

Krambambuli, das ist der Titel; Jch bin der Fürst von Thoren; Ça, ça geschmauset!

laßt uns nicht rappelköpfisch sein; viele Lieder der soeben erschienenen

Sammlung Wechselnde Lichter von Schmidt-Cabanis; Vom Hund, der das

Sprechen gelernt hat (A. Kaufmann) u. a.



2. Bei aller Munterkeit, ja Ausgelassenheit, die ja das Horazische est

modus in rebus
nicht immer zu beachten braucht, müssen sich komische Lieder,

welche nicht in's Bereich der Bänkelsängerlieder gehören wollen, innerhalb der

elastischen Grenzen feinen Taktes zu halten suchen. Der Hortus deliciarum

von Eichrodt enthält neben ergötzlichen Liedern (die ─ als Ausdruck des Hochkomischen,

Burlesken, Zwerchfellerschütternden, ja, auch des Niedrigkomischen im

Bänkelsängerton ─ das Tollste bieten, was je dem Humor entquollen ist) zum

Glück nur einzelne Parodieen (wie z. B. auf das Goethesche „Nur wer die

Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“: Nur wer die Milzsucht kennt, weiß was

ich leide), die selbst den zum Jokus aufgelegten Mann wie ein Unrecht an der

lieb gewordenen Form und wie ein Hohn auf das berechtigte, innige Empfinden

des Dichters berühren.

|#f0136 : 114|



Beispiel des komischen Liedes.



Als solches wählen wir ein Lied V. v. Scheffels, welches rasch zum

beliebten Volksliede wurde und nach der Melodie „Die Hussiten zogen vor

Naumburg“ allüberall gesungen wird.



Der Dichter schreibt uns mit Bezug auf dasselbe: „Das Lied von der

Teutoburger Schlacht, ursprünglich ein lustig Studentenlied aus der Zeit, da

weder die Vollendung des Denkmals noch die der deutschen Einheit sehr wahrscheinlich

erschien, wurde 1875 zur Einweihung des Hermannstandbildes am

16. August neu ausstaffiert, umredigiert und mit einer volkstümlichen Melodie

versehen. Es wurde auch ─ eigentlich wider die eigentliche Stimmung bei

seiner Abfassung ─ das Festlied jenes Tages und als fliegendes Blatt mit Jllustrationen

und Noten vielfach verbreitet .... Daß viele Textänderungen vorgenommen

wurden, entspricht der veränderten Sachlage; von wem dieselben

herrühren, ist mir nicht erinnerlich“ ....



Demnach illustriert dieses Lied, wie kein zweites Volkslied, die Wahrheit

des am Schluß des § 51 d. Bds. vom Volksliede Gesagten. Mit großer

Kühnheit brachte das Volk unbekümmert um den Dichter seine Änderungen an,

ja, es dichtete sogar neue Strophen hinzu. Und in dieser neuen Volks-Redaktion

hat das Gedicht seit 1875 seinen Weg in die Volksliederbücher gefunden.



Wir halten es für ersprießlich, beide Formen zu vermitteln:

[Beginn Spaltensatz]Originaldruck aus V. v. Scheffels

Gaudeamus.
32. unveränderte

Aufl.
1878. S. 44.


Die Teutoburger Schlacht.

Als die Römer frech geworden,

Zogen sie nach Deutschlands Norden,

Vorne beim Trompetenschall

Ritt der Generalfeldmarschall,

Herr Quinctilius Varus.


Doch im Teutoburger Walde

Huh, wie pfiff der Wind so kalte;

Raben flogen durch die Luft

Und es war ein Moderduft

Wie von Blut und Leichen.


Plötzlich aus des Waldes Duster

Brachen krampfhaft die Cherusker;

Mit Gott für Fürst und Vaterland

Stürmten sie von Wut entbrannt

Gegen die Legionen.


Weh! das ward ein großes Morden.

Sie erschlugen die Kohorten;

Nur die römische Reiterei

Rettete sich noch in's Frei',

Denn sie war zu Pferde.
[Spaltenumbruch]

Druck aus dem Allg. Reichs-Commersbuch

von Müller
v. d. Werra.

Leipz. Breitkopf
u. Härtel. S. 289.


Quinctilius Varus.

Als die Römer frech geworden,

Zogen sie nach Deutschlands Norden,

Vorne mit Trompetenschall

Zog der Gen'ral=Feldmarschall

Herr Quinctilius Varus.


Jn dem Teutoburger Walde,

Huh! wie pfiff der Wind so kalte!

Raben flogen durch die Luft

Und es war ein Moderduft,

Wie von Blut und Leichen.


Plötzlich aus des Waldes Duster

Brachen krampfhaft die Cherusker.

Mit Gott für Fürst und Vaterland

Stürmten sie, von Wut entbrannt,

Gegen die Legionen.


Weh, das war ein großes Morden,

Sie erschlugen die Kohorten.

Nur die röm'sche Reiterei

Rettete sich in das Frei',

Denn sie war zu Pferde.
[Ende Spaltensatz] |#f0137 : 115|



[Beginn Spaltensatz]
O Quinctili! armer Feldherr!

Dachtest du, daß so die Welt wär'?

Er geriet in einen Sumpf,

Verlor zwei Stiefel und einen Strumpf

Und blieb elend stecken.


Da sprach er voll Ärgernussen

Zum Centurio Titiussen:

„Kamerade, zeuch dein Schwert hervor

Und von hinten mich durchbohr,

Da doch alles futsch ist.“


Jn dem armen römischen Heere

Diente auch als Volontaire

Scävola, ein Rechtskandidat,

Den man schnöd gefangen hat,

Wie die Andern Alle.


Diesem ist es schlimm ergangen;

Eh, daß man ihn aufgehangen,

Stach man ihn durch Zung' und Herz,

Nagelte ihn hinterwärts

Auf sein Corpus Juris.


Als die Waldschlacht war zu Ende,

Rieb Fürst Hermann sich die Hände

Und um seinen Sieg zu weih'n

Lud er die Cherusker ein

Zu 'nem großen Frühstück.


Nur in Rom war man nicht heiter,

Sondern kaufte Trauerkleider.

Grade als beim Mittagmahl

Augustus saß im Kaisersaal,

Kam die Trauerbotschaft.


Erst blieb ihm vor jähem Schrecken

Ein Stück Pfau im Halse stecken,

Dann geriet er außer sich

Und schrie: „Varus, Fluch auf Dich!

Redde Legiones!“


Sein deutscher Sclave, Schmidt geheißen,



Dacht': „Jhn soll das Mäusle beißen,

Wenn er sie je wieder kriegt,

Denn wer einmal tot da liegt,

Wird nicht mehr lebendig.“
[Spaltenumbruch]

O Quinctili, armer Feldherr!

Dachtest du, daß so die Welt wär'?!

Er geriet in einen Sumpf,

Verlor zwei Stiefel und einen Strumpf

Und blieb elend stecken.


Da sprach er voll Ärgernussen

Zu Herrn Centurio Titiussen:

„Kamerade, zeuch dein Schwert hervor

Und von hinten mich durchbohr,

Weil doch Alles futsch ist.“


Jn dem armen röm'schen Heere

Diente auch als Volontaire,

Scaevola, ein Rechtskandidat,

Den man schnöd' gefangen hat,

Wie die andern alle.


Diesem ist es schlecht ergangen,

Ehe, daß man ihn aufgehangen,

Stach man ihm durch Zung' und Herz,

Nagelte in hinterwärts

Auf sein Corpus Juris.


Als das Morden war zu Ende,

Rieb Fürst Hermann sich die Hände,

Und um sich noch mehr zu freu'n,

Lud er die Cherusker ein,

Zu dem großen Frühstück.


Hui, da gab's westphäl'sche Schinken,

Bier soviel sie wollten trinken.

Selbst im Zechen blieb er Held;

Doch auch seine Frau Thusneld

Trank als wie ein Hausknecht.


Nur in Rom war man nicht heiter,

Sondern kaufte Trauerkleider,

Grade, als beim Mittagmahl

Augustus saß im Kaisersaal,

Kam die Trauerbotschaft.


Erst blieb ihm vor jähem Schrecken

Ein Stück Pfau im Halse stecken,

Dann geriet er außer sich

Und schrie! Varus, Fluch auf dich!

Redde legiones!


Sein deutscher Sclave, „Schmidt“ gegeheißen,



Dacht': „Jhn soll das Mäusle beißen,

Wenn er je sie wieder kriegt!

Denn wer einmal tot da liegt,

Wird nicht mehr lebendig.“
[Ende Spaltensatz] |#f0138 : 116|



[Beginn Spaltensatz]
Und zu Ehren der Geschichten

That ein Denkmal man errichten,

Deutschlands Kraft und Einigkeit,

Verkündet es jetzt weit und breit:

„Mögen sie nur kommen!“
[Spaltenumbruch]

Und zu Ehren der Geschichten

Will ein Denkmal man errichten.

Schon steht das Piedestal,

Doch wer die Statüe bezahl',

Weiß nur Gott im Himmel.


Wem ist dieses Lied gelungen?

Ein Studente hat's gesungen.

Jn Westphalen trank er viel,

Drum aus Nationalgefühl

Hat er's angefertigt.
[Ende Spaltensatz]



§ 66. Das gesellige Lied.



Man unterscheidet drei Arten von geselligen Liedern:

1. Gesellschaftliches Lied,

2. Anakreontisches Lied,

3. Skolion.



1. Gesellschaftliches Lied.



Diejenigen Gedichte, welche der Freundschaft, der Freude und

den Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens gewidmet sind, die

Gelegenheitsgedichte, wie Geburgstags=, Tauf- und Hochzeitslieder,

Weinlieder, Trinklieder, Wanderlieder u. s. w. nennt man gesellige

Lieder oder Gesellschaftslieder.



Die geselligen Lieder sind meist Gelegenheitsgedichte. Das ist kein Vorwurf,

denn die schönsten Dichtungen der deutschen Lyrik im Mittelalter, der

Provençalen, der Jtaliener und Franzosen sind Gelegenheitsgedichte. (Vgl.

§ 7 d. Bds.) Die Minnesinger wußten durch ihre Subjektivität den Gelegenheitsmotiven

eine poetische Seite abzugewinnen; weniger die schlesische Dichterschule,

die jede Taufe und Hochzeit besang, und deren Dichter ganze Bände

dieser Sorte von Gelegenheitsgedichten drucken ließen. (Vgl. Bd. I S. 34.)



Goethes Gelegenheitsgedichte waren die Vereinigung seiner Empfindung

mit dem wirklichen Leben. Nachdem Goethe den Namen und den Begriff des

Gelegenheitsgedichtes erklärt und gehoben hatte, ist Rückert geradezu als Virtuos

desselben bezeichnet worden, d. h. als ein Dichter, der, was ihm im Leben

und Studium in weitesten, engern und engsten Sphären aufstieß, in ein Gedicht

verwandelte. Aus der großen Zahl von Gesellschaftsliedern, in denen eigentlich

jeder Dichter etwas geleistet hat, und von denen manche zu Volksliedern wurden,

erwähnen wir nur: Fischart (Der liebste Buhle, den ich han. Uhlands Volksl.

214 A und B); Goethe (I. Bd. Ausg. 1840. S. 87 bis 124, z. B. Mich

ergreift, ich weiß nicht wie“; Mit Mädchen sich vertragen; Ergo bibamus;

das dem Volkston nachgebildete Stiftungslied: Was gehst du, schöne Nachbarin,

im Garten so allein?); Rückert (Einladung auf's Land; Entschuldigung und

Einladung; Verwahrung); Wilh. Müller (Die Arche Noah; Doppeltes Vaterland

&c.); Kugler (Gesellige Lieder); Justinus Kerner (Wohlauf! noch getrunken); |#f0139 : 117|



Daumer (Liederblüten des Hafis); Usteri (Freut euch des Lebens); Kotzebue

(Es kann ja nicht immer so bleiben); Miller (Was frag ich viel nach Geld und

Gut); Hölty (Wer wollte sich mit Grillen plagen).



Hoffmann v. Fallersleben hat unter dem Titel: „Gesellschaftslieder des

16. und 17. Jahrhunderts“ eine Sammlung solcher Lieder herausgegeben &c.

Desgleichen im G. J. Göschenschen Verlag F. W. Freih. v. Ditfurth 100

Volks- und Gesellschaftslieder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit und

ohne Singweisen, sowie 100 unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts

mit ihren zweistimmigen Singweisen.



Beispiel des geselligen Liedes.

Trinklied von Hoffmann v. Fallersleben.

Den Stöpsel weg! und schenket ein!

Schenkt ein, daß unser Herz erglühe

Und wie die Blum' am Sonnenschein,

So an der Glut des Weins erblühe!


Den Stöpsel weg! dann wird es klar:

Was sich in einem Nu gefunden,

Das ist sogleich für jedes Jahr,

Ja für die Ewigkeit verbunden.


So recht! jetzt werft den Stöpsel fort!

Ei, der verfluchte Kerkermeister,

Der wollt' uns zwinghern Wein und Wort,

Und trennen alle guten Geister!


Der Stöpsel war Philisterei,

Die uns nichts Gutes wollte gönnen ─

Die Flasch' und unser Herz ist frei,

Und wir, wir zeigen, was wir können.


Drum trinken wir, von Fr. Storck.

Wir trinken, weil wir durstig sind,

Und weils uns eben schmeckt;

Weil Leib und Geist an Kraft gewinnt,

Zu Licht und Mut uns weckt.


Weil Sorg und Leid beim vollen Glas

Jn Lust sich wandelt schier,

Und weil uns Gott geschenkt das Naß:

Drum, Brüder, trinken wir.



2. Das Anakreontische Lied.



Das Anakreontische Lied besingt meist Liebe, Wein und Lebensgenuß.

Es hat anmutigen, leichten, lyrischen, sangbaren Charakter

und liebt Maßhalten im feineren Takte. Es ist einfach, leicht, naiv.

Seinen Namen hat es von dem griechischen Dichter Anakreon (geb.

550 v. Chr), dessen 67 uns erhaltenen Liedern es nachgebildet ist.

|#f0140 : 118|



Seit Gleim leichte Gedichte als „Lieder nach dem Anakreon“ (1766)

erscheinen ließ, sind eine Menge sog. anakreontischer Gesellschaftslieder erschienen.

Viele Anakreontika sind läppisch, matt und haben oft kaum den Stoff gemein

mit denen Anakreons, der es verstand, in frischen Farben leicht tändelnd seine

dichterischen Gedanken in anmutige Form zu kleiden. Die ursprüngliche Anakreontische

Versart bestand aus 2 steigenden Jonikern. Bei uns ist folgende,

der ersten Hälfte des neuen Nibelungenverses entsprechende Form am häufigsten:

⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑, wobei die 2. Verszeile (zuweilen auch die 1.) verkürzt sein kann.

Wilh. Buchholz bedient sich in seinem „Anakreontischen Liedchen“ (vgl. deutsche

Lyriker von Kneschke und Moltke. Leipzig, Theile 1873. S. 86) des viertaktigen

Trochäus.



Beispiel des anakreontischen Liedes:

Lied von Gleim.

Rings um mich her ist Freude,

Schön ist's, wohin ich seh;

Jm Feld und auf der Weide,

Jm Thal und in der Höh!

Für mich schuf deine Güte,

O Gott, die Welt so schön!

Für mich ist Frucht und Blüte

Jn Thälern und auf Höhn.


Für mich ist Freud' und Wonne

Hier, wo dein Ruhm erschallt!

Für mich bestrahlt die Sonne

Die Felder und den Wald!

Für mich spielt das Getümmel

Der Herden auf der Au!

Für mich wölbt sich der Himmel

So heiter und so blau!


Für mich sind jene Gründe

So lieblich anzusehn!

Für mich wehn kühle Winde!

Für mich ist alles schön.

Du Schöpfer dieser Wonne

Wie gütig mußt du sein!

Mit jeder Morgensonne

Will ich mich Deiner freun!


(Vgl. noch Gleims Anakreontika Der Vorsatz, und Die schöne Gegend,

welch letzteres Lied mehrere Zeilen des obigen Liedes wiederholt, indem es beginnt:

Für mich bestrahlt die Sonne

Die Wälder und die Aun
u. s. w.)



3. Skolion.



Man versteht unter Skolien kurze Trinklieder, improvisierte Gedichte

bei Gastmählern und dergleichen.



Bei den Griechen waren Skolien lediglich Tischlieder oder Rundgesänge.

Bloß einzelne Tischgenossen sangen sie, wie sie ihnen Laune oder Talent eingaben. |#f0141 : 119|



Man nannte sie auch Schlangenlieder, oder auch Zickzacklieder. Der

Skoliensänger mußte einen Lorbeer- oder Myrtenzweig in die Hand nehmen,

der sodann dem folgenden Sänger überreicht wurde. Sie folgten den ersten,

dem Lobe der Götter geweihten Gesängen und waren meist scherzhaft, satirisch,

launig. Jhr Gegenstand war Liebe und Wein. Zuerst wurden sie von Terpander

aus Antissa (650 v. Chr.) gesungen.



Es giebt Skolien, deren Versmaß ein besonderes und strenges ist. Meist

waren sie nur einstrophig, wie ja überhaupt die älteste Lyrik in Griechenland

oft mit einer Strophe sich begnügte.



Als Skoliendichter bei den Griechen sind zu nennen: Alkäos, Pindar,

Simonides. Die Skolien des Pindar waren länger als die übrigen und der

Chor tanzte zu ihnen einen Reigen.



Beispiel des deutschen Skolion:

Über meinen eignen Kopf

Bin ich nicht im Reinen,

Hab' ich wie ein andrer Tropf,

Einen oder keinen?


Jn der Schenke, wann der Wein

Mir zu Kopfe steiget,

Fühl ich erst, der Kopf ist mein,

Und der Zweifel schweiget.
(Rückert.)


Wenn einst der alte Knochenhauer

Mit unserm Freunde Punktum macht,

So werde ihm statt aller Trauer

Ein Gläschen Wein auf's Grab gebracht.

Dies nehm' er als Viaticum

Hinüber in's Elysium.
(Trinkspruch.)



Man vgl. noch die vielen meist einstrophigen Rundgesänge und Trinksprüche

unserer Kommersbücher; ferner Matthissons Skolie (Gedichte S. 75) &c.



§ 67. Elegisches Lied.



Man versteht unter elegischem Lied das Lied, welches sanfte, leidenschaftslose

Empfindungen erklingen läßt, z. B. ruhige Klagen über entschwundenes

Glück, zarte Wehmut, süße Sehnsucht. Sein Charakter

ist somit Ruhe und sanftes Gefühl.



Elegisch sind alle Lieder, welche der Sehnsucht und der Bangigkeit, dem

Trennungsschmerz und der Trauer klagenden Ausdruck verleihen, welche das Verwelken,

das Vergehen alles Schönen, Erhabenen, Edlen betrauern, welche zu

trösten versuchen, deren Grundton (man vgl. viele Liebeslieder, Heldenlieder,

Vaterlandslieder, Freiheitsgesänge &c.) Trauer um ein verlorenes oder wenigstens

um ein bedrohtes Jdeales ist.



Von der im heroischen Aufschwung einherschreitenden Elegie (§ 75) unterscheidet

sich das sanfte, gemütsinnige, elegische Lied dadurch, daß es der unmittelbare

Erguß voller subjektiver Empfindung, also reiner Lyrik ist, während |#f0142 : 120|



die sinnig verweilende Elegie reflektierende Überlegung und Betrachtung zuläßt

und somit an der Grenze zwischen Lyrik und Didaktik steht. Der große überflutende

Schmerz kann sich in der Elegie, und auch in der Ode ergießen, nimmermehr

aber im zarten, in Wehmut und einer harmonischen Herzensstimmung

gipfelnden, ruhig dahinfließenden, den Schmerz in stiller Klage erklingen lassenden

elegischen Lied. Die Wehmut an sich gehört nicht unbedingt zum Wesen des

elegischen Lieds, obwohl dieses eine wehmütige Art der Auffassung sehr begünstigt



Beispiele des elegischen Liedes.



a. Die Schiffersfrau von Herm. Lingg.



Wir sahn dem Schiff am Ufer nach,

Bis Wind die Segel fingen,

Bis über die See das Dunkel brach,

Und die Augen übergingen,

Dann kehrten wir heim, allein und zerstreut,

Wir Frauen und Töchter der Schifferleut'.


Seitdem ist's nun im zweiten Jahr,

Daß Dich die Wogen treiben,

Du irrst durch ferne Todesgefahr,

Und ich muß Witwe bleiben.

Jch schaukle zu Haus in der Wiege Dein Kind,

Und Dich, Dich schaukelt der wilde Wind.


Oft fallen mir alle die Namen bei

Von Männern, die untergegangen,

Von denen wir oft am Abend zu zwei

Die traurigen Lieder sangen.

Vergessene Menschen in fremder Tracht

Besuchen mich oft im Traume der Nacht.


Sie schütteln ihr lang' durchnäßtes Haar,

Und grüßen, wie fremde Boten,

Sie reichen einen Ring mir dar

Und Grüße von dem Toten,

Von Dir, von Dir ─ Jch erwach' und wein'

Und schlafe die Nacht nicht wieder ein.


Es lechzt vielleicht Dein heißer Mund,

Und ich kann Dich nicht laben,

Du liegst vielleicht im Meeresgrund

Sarglos und unbegraben!

Ach, daß ich selbst den Trost verlier',

Jm Frieden einst zu ruhn bei Dir.


b. Das Bächlein, von Rückert.

Das Bächlein zieht von dannen,

Läßt grün den Rand zurück,

Wie Freuden, die verrannen.

Doch fühl' ich noch das Glück.
|#f0143 : 121|



Das Bächlein fließt danieder,

Beständig neu und voll;

Mir aber kehrt nie wieder,

Was einst im Herzen schwoll.


(Vgl. die elegischen Herbstlieder Rückerts Ges.=Ausg. II 576.)



Nach Jahren, von Alex. Kaufmann.



O, es war eine schöne, schöne Zeit ─

Der Rhein floß stolz, der Rhein floß grün,

Und wir fuhren in Jugendseligkeit,

Die Herzen so voll, der Mut so kühn!


O, es war eine fröhliche, fröhliche Zeit ─

Die Mädchen blühten so jung, so schön;

Es war, als flöss' in Ewigkeit

Der rote Morgen um alle Höh'n;


Als gingen nimmer die Lieder aus,

Als welkte nimmer der kecke Mut; ─

Verklungen ist längst der tolle Braus,

Ringsum ward's still, stumm zieht die Flut.


Die Jugend schwindet, die Freude flieht,

Manch' Leben verrauschte, manch' Leben verrann; ─

Ein einsamer Vogel schweift mein Lied

Um den einsam rauschenden wilden Tann.


Weitere Beispiele des elegischen Liedes sind:



Uhland: Die Kapelle. Der Wirtin Töchterlein.



H. Heine: Das gelbe Laub. Ferner: „Jch hab' im Traum geweinet“ u. a.



Melchior Meyr: Frühlingstrauer.



Mörike: Verborgenheit.



J. Mosen: Sehnsucht.



Eichendorff: Das zerbrochene Ringlein.



Goethe: Rastlose Liebe.



Feuchtersleben: Es ist bestimmt in Gottes Rat.



Jul. Sturm: Jm Frühling.



Hoffmann v. Fallersleben: Die Leidtragenden.



Lenau: Blick in den Strom.



v. Leitner: Der Auswanderer.



Rückert: Bleibet im Lande. Das ruft so laut.



Bürger: Feldjägerlied.



Amara George: Verlassen und allein.



Fr. Storck: Ade, mein Lieb, ade! (Aus dem tief empfundenen Cyklus: Scheiden

und Meiden! Vgl. noch dessen Daheimlieder und Auf dem Friedhof in

„Lyrik“ 1876. S. 23 ff.)



Herwegh: Reiterlied.



Karl Siebel: Deine Sterne. Begrabe deine Toten.



Faust Pachler: Vor der Reise. Angekommen. (Jm lyrischen Cyklus: Rohitscher

Brunnenkur.)



(Es ist instruktiv, aus den früher gegebenen Beispielen die elegischen Gedichte

auszuwählen.)

|#f0144 : 122|



§ 68. Jdyllisches Lied.



Das idyllische Lied ist der Gegensatz des elegischen. Sein Charakter

ist heitere, frohe, hoffnungsreiche Stimmung.



Schiller sagt: „Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Jdeal der

Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten überwiegt und das

Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn

elegisch.“ Er fügt dann hinzu: „Entweder ist die Natur und das Jdeal ein

Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt

wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich

vorgestellt werden.“ Somit unterscheidet Schiller je nach dem Unterschied

in der Empfindungsweise zwischen elegischem und idyllischem Liede. Jn der

That ist das idyllische Lied der Gegensatz des elegischen, insofern das subjektive

Empfinden die Freude an der Natur mit so schönen Farben malt, daß das

Gefühl eines Gegensatzes zwischen Natur und Jdeal in uns gar nicht Platz

greifen kann. Das idyllische Lied gestattet keinen Blick auf den Unbestand des

Seienden, sondern lediglich den Blick auf jene freudigen Gefilde, welche der

schönen Zukunft entblühen. Jhm ist z. B. der Winter die Voraussetzung des

Frühlings, der Tod bringt ihm das Wiedersehen, der Schmerz die Freude.



Beispiele des idyllischen Liedes.



Frühlingsahnung, von Uhland.



O sanfter, süßer Hauch!

Schon weckest du wieder

Mir Frühlingslieder.

Bald blühen die Veilchen auch.


Morgenlied, von P. A. Wolf.



Die Sonn' erwacht!

Mit ihrer Pracht

Erfüllt sie die Berge, das Thal;

O Morgenluft!

O Waldesduft!

O goldener Sonnenstrahl!


Mit Sing und Klang'

Die Welt entlang!

Wir fragen woher nicht, wohin.

Es treibt uns fort

Von Ort' zu Ort'

Mit freiem, mit fröhlichem Sinn' &c.


Er ist's! von E. Mörike.



Frühling läßt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte,

Süße, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land.
|#f0145 : 123|



Veilchen träumen schon,

Wollen balde kommen.

─ Horch! von fern ein leiser Harfenton!

Frühling, ja, du bist's!

Dich hab' ich vernommen!



Weitere Beispiele idyllischer Lieder.



S. Dach: Der Mensch hat nichts so eigen.



H. Heine: Leise zieht durch mein Gemüt.



W. Müller: Frühlingseinzug. Das Wandern ist des Müllers Lust. Jch hört'

ein Bächlein rauschen. Halt! Kinderlust.



Geibel: Der Mai ist gekommen. Die Liebe saß als Nachtigall.



Goethe: Bundeslied. Tischlied. Vanitas &c.



Claudius: Weihelied. (Stimmt an mit hellem, hohem Klang.)



Hoffmann v. Fallersleben: Winters Flucht.



Eichendorff: Frühlingsgruß.



Schenkendorf: Unsere Muttersprache.



Uhland: Frühlingsruhe. Die Lerchen.



Arndt: Scherz.



Reinick: Heraus.



Tieck: Vogelgesang.



Aug. Stöber: Die Mutter.



Fontane: Guter Rat.



Pfarrius: Wie es den Sorgen erging.



Fr. Kugler: Wanderlied.



Faust Pachler: Kurmusik (a. a. O. S. 25, vgl. § 67) u. s. w.



(Die Bemerkung am Schluß des § 67 gilt auch für das idyllische Lied.)



Geistliches Lied.


§ 69. Geistliches oder andächtiges Lied.



Erblüht das Lied aus einer andächtigen Stimmung, oder stammt

sein Jnhalt aus der Religion, so kann man es ein andächtiges oder

geistliches Lied nennen. Seine zwei Formen sind: 1. das religiöse

Lied, 2. das Kirchenlied.



1. Das religiöse Lied.



Das religiöse Lied besingt in würdevollem Tone einen religiösen

Gegenstand, oder beschäftigt sich mit den Gefühlen der Andacht, der

Reue, der Liebe zu Gott und dem Nächsten, ─ das Verhältnis zu

Gott in rein menschlicher Weise auffassend.



Erhebung des gläubigen Gemüts, zuversichtliches Hoffen und gläubiges

Vertrauen auf Gott ist der Jnhalt des religiösen Lieds. Es äußert sein religiöses,

gottergebenes Gefühl im Hause wie in der Natur. Es will sagen, was

des Menschen Brust bewegt, wenn er des allliebenden Vaters gedenkt, der ihn

mit täglichen Wohlthaten überhäuft. Aus jeder Verszeile ersieht man das Abhängigkeitsgefühl

des Dichters von einem allliebenden Wesen und den Glauben

an eine Vorsehung.

|#f0146 : 124|



Beispiele des religiösen Liedes.



Leben wir, von Rückert.

(Sein letztes 1861 gedichtetes religiöses Lied.)



Leben wir, so leben wir dem Herren,

Sterben wir, so sterben wir dem Herrn,

Wer kann uns zu ihm den Zugang sperren?

Er ist überall, uns nirgends fern.


Dessen Hand durch's Leben uns geleitet,

Auch im Tode bleibt uns ihr Geleit;

Wer die Zeit mit Gottvertrau'n durchschreitet,

Geht mit Gottvertrau'n zur Ewigkeit.


Deine Hand wird schützend mich bedecken,

Wo des Grabes Dunkelheit mich deckt;

Aus dem Grabe wird dein Hauch mich wecken,

Der den Lenz im Winter auferweckt.


Die Nähe des Herrn, von Novalis.

Wenn in bangen trüben Stunden

Unser Herz beinah verzagt,

Wenn, von Krankheit überwunden,

Angst an unserm Jnnern nagt,

Wir der Treugeliebten denken,

Wie sie Gram und Kummer drückt,

Wolken unsern Blick beschränken,

Die kein Hoffnungsstrahl durchblickt;


O, dann neigt sich Gott herüber,

Seine Liebe kommt uns nah,

Sehnen wir uns dann hinüber,

Steht sein Engel vor uns da,

Bringt den Kelch des frischen Lebens,

Lispelt Mut und Trost uns zu,

Und wir beten nicht vergebens

Auch für der Geliebten Ruh.


(Vgl. Wenn ich nur ihn habe, von Novalis.)



Gott grüße dich, von Julius Sturm.



Gott grüße dich! kein andrer Gruß

Gleicht dem an Jnnigkeit.

Gott grüße dich! kein andrer Gruß

Paßt so zu aller Zeit.


Gott grüße dich! wenn dieser Gruß

So recht vom Herzen geht,

Gilt bei dem lieben Gott der Gruß

Soviel, wie ein Gebet.



Weitere Beispiele des religiösen Liedes.



J. A. Cramer: Der menschliche Geist.



R. Reinick: Weihnachtsfest. (Der Winter ist gekommen.)

|#f0147 : 125|



W. Wackernagel: Der Christbaum.



K. Mayer: Glockenlaute.



Arndt: Himmelfahrt.



Grüneisen: Hinauf.



Fr. v. Schlegel: Der Ewige.



Herder: Das Saitenspiel.



Eichendorff: Wer hat dich, du schöner Wald.



G. Jakobi: Gott in der Natur.



Geibel: Morgenwanderung. Gute Nacht.



Wilh. Müller: Das Frühlingsmahl.



Ad. Stöber: Wachtelschlag.



A. Knapp: Der Morgenstern.



Spitta: Kehre wieder, kehre wieder.



K. Gerok: Kindergottesdienst.



Fr. Eggers: Trost, u. a.



2. Das Kirchenlied.



1. Zum Kirchenlied wird das geistliche Lied, wenn es in Sprache

und Gedanken bestimmte Beziehungen auf die kirchlichen Dogmen und

den Kultus der bestimmten Konfession nimmt, wenn es, von epischen

Motiven ausgehend, von Jesu Leben und Leiden erzählt &c.



Das Kirchenlied unterscheidet sich vom geistlichen Lied, wie sich

das Volkslied vom Lied der Kunstpoesie unterscheidet. Es kann sich

Niemand hinsetzen, ein Volkslied oder Kirchenlied zu dichten; er muß

warten, ob sein Lied je zum Volks- oder Kirchenliede wird. Kirchenlied

== geistliches Volkslied, auch da, wo es einen bekannten Verfasser

hat. Weil es Anklang fand, ist es in die Volksgesangbücher gekommen,

und es fand Anklang, weil es das christliche Gesamtbewußtsein, das

christliche Gesamtbekenntnis aussprach.



2. Von großem Einfluß auf die Entwickelung des Kirchenlieds

war die hebräische Lyrik.



3. Luther wurde der Begründer des evangelischen Kirchenlieds.



4. Eine Epoche in der Geschichte des Kirchenlieds bildet Paul

Gerhardt. Die wertvollste Sammlung von Kirchenliedern hat Ph.

Wackernagel herausgegeben.



1. Das Kirchenlied hatte ursprünglich den Zweck, dem liturgischen Kirchengebrauche

zu dienen. Seine Bezugnahmen auf den kirchlichen Lehrbegriff befähigten

es, das Evangelium zu verbreiten und den neuen Glauben zu beleben.



Oft knüpfte der Dichter des Kirchenlieds an die Erzählung vom Leben

Jesu die Entwickelung jener inneren Zustände, welche die Betrachtung derselben

weckt. Jnsofern ist das Kirchenlied episch=lyrisch. Geht der Dichter weiter und

durchdringt er seine epische Grundlage mit einem subjektiven, persönlichen Motiv,

mit einem Seelenvorgang, der nur ihm gehört, dann ist sein Lied subjektives

geistliches Lied, nicht aber Kirchenlied der Gemeinde. Dies ist der Grund,

weshalb die katholische Kirche, bei welcher zur christlichen Geschichte ─ so zu |#f0148 : 126|



sagen ─ noch ein Stück christlicher Mythologie in der Legende hinzu kommt,

mehr episch=lyrische Kirchenlieder, und die protestantische mit ihrer Verinnerlichung

des Gefühls mehr echt lyrische geistliche Lieder hat. Da, wo in der protestantischen

Kirche durch das geistliche Lied dogmatische und moralische Tendenzen verfolgt

werden, wird das geistliche Lied meist lyrisch=didaktisch. Dies findet man besonders

bei den geistlichen Liedern des 17. u. 18. Jahrhunderts, wo dogmatische und

moralische Bestrebungen die Signatur der ecclesia militans bildeten.



Nur wenige Dichter, wie z. B. Paul Gerhardt, Benjamin Schmolcke,

Gellert, Spee, oder bei den Herrnhutern Baptista von Albertini († 1831),

Garve († 1841) &c. blieben rein lyrisch und haben sich daher für alle Zeiten

den Namen geistlicher Lyriker gesichert.



2. Was die geschichtliche Seite des Kirchenliedes anlangt, so wurzelt dasselbe

in den lateinischen Gesängen der christlichen Kirche und der altchristlichen Hymnen.



Als Erbteil aus dem Schoße der Religion des alten Bundes hat die

junge christliche Kirche die Sitte des Psalmengesangs erhalten. Wie Jesus bei

der Stiftung des Abendmahls die bei der Passafeier gebräuchlichen Psalmen,

das große Halleluja, anstimmte, so folgten auch die Christen seinem Beispiel.

Der Gesang von Psalmen wurde fester Bestandteil ihres Gottesdienstes. Der

neue Jnhalt des gläubigen Gemüts suchte jedoch ein neues Lied und fand einen

begeisterten neuen Ausdruck in der Dichtung neuer Hymnen, die sich schon früh

neben dem alttestamentlichen Hymnus einbürgerten. Die altchristliche Hymnik

nahm von dem Geiste des klassischen Altertums neue Formen, Ausdrücke

und Bilder an. Die christliche Hymnendichtung wurde zum Kunstgesang, der

in vollendeter Form die Heilsthat Christi pries. Diesen Charakter behielt sie

bis zur Reformation. Weder Gregor der Große, der mit Vorliebe die klassischen

Versmaße gebrauchte, noch der Mönch Notker von St. Gallen, der die Sequenzen

einführte, hat der christlichen Hymnendichtung neue Bahnen gezeichnet.

Auch die Leiche (vgl. Bd. I. S. 620 ff.), welche als Grundlage des deutschen

Kirchenlieds zu betrachten sind und dem Volke Ersatz für die altheidnischen

Volkslieder bieten sollten, hatten nur die nüchternen, christlichen Wahrheiten zum

Gegenstande und blieben, unbeeinflußt von dem Geiste der hebräischen Lyrik,

meist matt und ohne Schwung. Die deutsche Gemütsinnigkeit sehnte sich nach

einem geistlichen Volkslied in der Muttersprache, und diese Sehnsucht war auf's

höchste gestiegen, als man sah, wie das Volk in Böhmen Lieder in seiner

Muttersprache sang. (Auch Ephraim Syrus hatte nach dem Vorgang des

Gnostikers Bardesanos syrische Kirchenlieder verfaßt, wie ja auch die griechische

und die armenische Kirche solche in eigener Sprache hatten.)



3. Da kam Luther, die wittenbergische Nachtigall, und setzte an Stelle

des lateinischen Hymnus das deutsche Kirchenlied, an dem sich die Gemeinde

beteiligen durfte. Er wurde der Begründer des Kirchenlieds (wenn auch nicht

der Begründer des Kirchenlieds in der Vulgärsprache, denn schon im 9. und

13. Jahrhundert finden sich Spuren deutscher Kirchenlieder. H. Hofmann teilt

in seiner Geschichte des deutschen Kirchenlieds, Breslau 1832, mit, daß man

1323 in Bayern lateinisch sang. Jm 14. Jahrhundert erst begann man die |#f0149 : 127|



lateinischen Kirchengesänge in's Deutsche zu übersetzen. Einer der ersten Übersetzer

war der Benediktinermönch Hermann in Salzburg. Früher war das Singen

kirchlicher Lieder, wie das Bibellesen, von der Kirche verboten). Erst durch Luther

wurde das deutsche volkstümliche Kirchenlied auf die höchste Stufe seiner Vollendung

gebracht. So etwas Tiefreligiöses, Herrliches kann kein Volk aufweisen,

als die deutschen kirchlichen Lieder der Reformation. Sie boten gemeinsam

Erlebtes, Volksmäßiges in volksmäßigen Formen, oft in bekannten Volksliedermelodieen.

„Der Handwerksgesell sang sie bei seiner Arbeit, die Dienstmagd

beim Schüsselwaschen, der Ackersmann auf dem Acker und die Mutter sang sie

dem weinenden Kinde vor.“ (Kath. Zellin in der Vorrede zu einem Gesangbuche.)

Das war der Grund weshalb die Gegner Luthers dieses kirchliche

Volkslied so sehr anfeindeten. Von Luthers 38 kräftigen Kirchenliedern wurden

besonders die folgenden zu religiösen Volksliedern:



„Ein' feste Burg ist unser Gott,“


„Aus tiefer Not schrei ich zu dir,“


„Nun bitten wir den heil'gen Geist,“


„Wir glauben all' an einen Gott,“


„Es woll' uns Gott genädig sein.“



Ein großer Teil der Lieder Luthers geht auf eine Umarbeitung der lateinischen

Hymnen und geistlichen Volkslieder zurück. Aber Luther begnügte sich nicht mit

Nachbildungen. Er hat auch einzelne Psalmen für den gottesdienstlichen Gesang

umgedichtet. „Ein' feste Burg ist unser Gott“, ist als freie Schöpfung aus dem

46. Psalm hervorgegangen. Nicht verwendet hat er hierbei die kraftvollen Bilder

und poetischen Vergleichungen der Psalmen: diese mußten erst durch die Bibelübersetzung

dem Volke näher gebracht werden, bevor man sie für das Kirchenlied

benützen konnte. Beim geistlichen Lied, welches nicht für den Kirchengesang

bestimmt war, bediente sich Luther der Bilder und der Ausdrucksweisen der alttestamentlichen

Lyrik. Er hat das Verdienst, die Forderung aufgestellt zu haben,

daß das Kirchenlied subjektiv=lyrisch sein müsse und daß es sich an die alttestamentliche

Lyrik anzuschließen habe. Bei ihm findet sich nichts Gezwungenes,

nichts Eingebildetes oder Verdorbenes. Durch seine Bibelübersetzung hat er

die Förderung schriftgemäßer Poesie ermöglicht: das deutsche Kirchenlied erhielt

fortan das Element seiner geistigen und sprachlichen Ausbildung von seiner

Bibelübersetzung.



Angesichts dieser Bedeutung Luthers für das evangelische Kirchenlied ist

die Frage aufzuwerfen, wie die einzelnen Dichter den Forderungen Luthers

entsprochen haben. Der hohe Aufschwung, den das Kirchenlied durch Luther

genommen, war von kurzer Dauer. Jn den religiösen Streitigkeiten der Folgezeit

verlieren die Kirchenlieder ihren geistigen Schwung. Die folgende Periode

von Ringwaldt bis Heermann war Übergangszeit. Die Lieder sind teils noch

befangen in der trockenen, dogmatischen Weise der vorigen Periode, teils zeigen

sich die Anfänge subjektiver Poesie. Die Zeit des dreißigjährigen Krieges ist

eine Blütezeit des evangelischen Kirchenliedes. Es ist die Poesie der geängsteten |#f0150 : 128|



und betrübten Seelen, die sich auf's engste anschließt an die Psalmen, denen

sie an subjektiver Gefühlswahrheit an die Seite gestellt werden kann. Äußerlich

wurde durch Martin Opitz eine Umwandlung insofern hervorgerufen, als derselbe

an Stelle der Silbenzählung Silbenmessung treten ließ. Bedeutsam

ist, daß auch er die Psalmen seiner Lyrik zu Grunde legte. Jhm folgten Paul

Flemming, Simon Dach und andere, die jedoch mehr den kernhaften Jnhalt,

als die Bilder der alttestamentlichen Lyrik zum Ausdrucke brachten. Dieser

Blütezeit reihte sich eine Zeit des Verfalls an: die Kraft der Nation war

durch den ungünstigen westfälischen Frieden erschüttert. Es lag die Gefahr nahe,

daß das Kirchenlied seine seitherige Glaubensinnigkeit und Frische einbüßen und

die innere Kraft mit einer äußerlichen Form vertauschen würde.



4. Da trat ein Mann auf, der dem Kirchenlied die geschwundene Frische

wieder zurückgab: Paul Gerhardt. Mit ihm beginnt eine neue Blüte des

Kirchenliedes. Seine sinnlich lebendige Darstellungsweise, seine würdige Sprache

verdankte er seinem Studium der alttestamentlichen Poesie. Die andere Seite

der Bedeutung Paul Gerhardts liegt darin, daß er der Urheber jener Richtung

wurde, welche im Kirchenlied neben dem Gemeindebewußtsein auch das persönliche

Gefühlsleben geltend machte. Die individuelle Lebendigkeit entfaltete sich

immer mehr, besonders durch Gellert, dessen bewußtes Zurückgehen auf die

hebräische Lyrik das Kirchenlied abermals in eine neue Periode lenkte. Er

stellte die Forderung Luthers auf, daß in den geistlichen Liedern die Sprache

der Schrift herrschen müsse. Klopstock nahm die Mittel seiner schwungvollen

rhetorischen Ausdrucksweise nicht aus der Schrift. Mit der Zeit der Aufklärung

beginnt eine trübe Zeit für das evangelische Kirchenlied: durch eine vermeintliche

Verbesserung und Umdichtung der alten Kirchenlieder werden dieselben

stark entstellt. Erst Ernst Moritz Arndt trat für die Befreiung des Kirchenliedes

von diesen unnatürlichen Fesseln ein. Als er ein neues geistliches Lied

sang und die romantische Schule wiederum das Element kindlicher Frömmigkeit

hineintrug in das verwässerte, mattgewordene Kirchenlied, da griff man

wieder zurück auf die Sprache der alttestamentlichen Lyrik.



Wir dürfen behaupten, daß das Kirchenlied überall da, wo es sich an

die ewig schöne Lyrik des alten Testamentes anschloß, an Kraft der Sprache,

an poetischem Schwung und gläubiger Jnnigkeit gewann, und daß es alsdann,

frisch und warm gesungen, auch um so tiefer zum Herzen des Volkes dringen

konnte.



Durch Luther erhielten seine Anhänger (1524) das erste Gesangbuch.

Erst spät wurde es verdrängt: 1696 durch ein holsteinisches, 1703 durch ein

hallesches, 1711 durch ein berliner, 1735 durch ein nordhäusisches. Zollikofer

verbesserte das Gesangbuch (1766); ihm folgten die Gemeinden in Bremen

und Lüneburg (1767), in der Pfalz (1773), Braunschweig (1776), Kopenhagen

(1782) u. s. w.



Wir können die Kirchenlieder einteilen in Bußlieder, Danklieder, Trostlieder,

Gebetlieder, Loblieder, Glaubens- oder Bekenntnislieder &c. Eine ähnliche Einteilung

zeigen alle evangelischen kirchlichen Gesangbücher, auf die wir hiermit verweisen.

|#f0151 : 129|



Beispiele des Kirchenlieds.



a. Bußlied.

1.

Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen!

Dein gnädig Ohren kehr zu mir

Und meiner Bitt sie öffne!

Denn so du willt das sehen an,

Was Sünd und Unrecht ist gethan, ─

Wer kann, Herr, vor dir bleiben?


2.
Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,

Die Sünde zu vergeben;

Es ist doch unser Thun umsonst

Auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann;

Des muß dich fürchten jedermann

Und deiner Gnade leben.


3.
Darum auf Gott will hoffen ich,

Auf mein Verdienst nicht bauen;

Auf ihn mein Herz soll lassen sich

Und seiner Güte trauen,

Die mir zusagt sein wertes Wort;

Das ist mein Trost und treuer Hort,

Des will ich allzeit harren.


4.
Und ob es währt bis in die Nacht

Und wieder an den Morgen,

Soll doch mein Herz an Gottes Macht

Verzweifeln nicht noch sorgen.

So thut Jsrael rechter Art,

Der aus dem Geist erzeuget ward

Und seines Gotts erharret.


5.
Ob bei uns ist der Sünden viel,

Bei Gott ist viel mehr Gnaden;

Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,

Wie groß auch sei der Schaden.

Er ist allein der gute Hirt,

Der Jsrael erlösen wird

Aus seinen Sünden allen.


(Nr. 290 des Württ. Gesangbuchs.)



b. Danklied.

Nun danket alle Gott
, von Rinckart.(Württ. Ges.=Buch Nr. 2.)



c. Trostlieder.

Was Gott thut, das ist wohlgethan
, von Rodigast. (Ebenda Nr. 461.)

Warum sollt ich mich denn grämen
, von P. Gerhardt.

(Ebenda Nr. 462.)



d. Gebetlied.

Ach bleib mit deiner Gnade
, von Steegmann, † 1632. (Ebenda Nr. 7.)

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e. Loblied.

Herr Gott, dich loben wir
, von Luther.(Ebenda Nr. 1.)



f. Glaubenslied.

Jch weiß, an wen ich glaube
, von Arndt.(Ebenda Nr. 324.)



Litteratur des geistlichen Liedes.



Dichter bekannter geistlicher Lieder sind außer



Luther: Ringwaldt; Hans Sachs; Lazarus Spengler von Nürnberg (Wer

hofft auf Gott); Johann Graumann gen. Poliander († 1541: Nun lob, mein

Seel, den Herren); Johannes Heermann († 1647, der 400 Lieder schrieb,

darunter „O Gott, du frommer Gott“); Hasse von Hassenstein (O Welt, ich

muß dich lassen); Justus Jonas von Eisfeld (Wo Gott der Herr nicht bei

uns hält); Wolfgang Musculus von Bern (verfaßte 560 geistliche Lieder);

Johann Matthesius aus Rochlitz (Aus meines Herzens Grunde); Michael Weiß

(† 1540); Paul Eber von Wittenberg (Wenn wir in höchsten Nöten sein);

Nic. Decius von Stettin (Allein Gott in der Höh' sei Ehr); Ludw. Helmbold

von Mühlhausen (Von Gott will ich nicht lassen); Nic. Selnecker († 1592:

Laß mich dein sein und bleiben); S. Dach (O wie selig); Kaspar Bienemann

von Nürnberg (Jch weiß, daß mein Erlöser lebt); von Birken (Lasset uns mit

Jesu ziehen); Flemming († 1640); Nic. Hermann von Joachimsthal (Lobt

Gott, ihr Christen allzugleich); Mart. Schalling († 1608 zu Nürnberg: Herzlich

lieb); Phil. Nicolai († 1608 zu Hamburg: Wie schön leucht't uns der Morgenstern.

Wachet auf, ruft uns die Stimme) u. s. w. Auch fürstliche Personen

pflegten im 16. Jahrhundert das Kirchenlied, z. B. Johann Friedrich von

Sachsen (Wie's Gott gefällt); Wilhelm II., Herzog von S.=Weimar (Herr Jesu

Christ, dich zu uns wend); Albrecht von Brandenburg-Kulmbach (Was mein

Gott will); Karls V. Schwester, Marie von Ungarn (Mag ich Unglück); Luise

Henriette, Churfürstin von Brandenburg († 1667: Jesus meine Zuversicht);

Emilie Juliane, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt († 1706: Wer weiß, wie

nahe mir mein Ende) u. s. w.



Außerdem nennen wir den Jesuiten Spee von Lengenfeld († 1635, gab

heraus: „Trutznachtigall“, eine Sammlung religiöser Lieder, „die trotz einer

Nachtigall“ so schön klangen, „daß sie sich auch wol bei sehr guten lateinischen

und anderen Poeten dörfft hören lassen,“ und deren Gegenstand der Seelenbräutigam

Jesus ist). Paul Gerhardt, (einer der bedeutendsten Kirchenliederdichter,

† 1676, dichtete 120 Kirchenlieder, z. B. Befiehl du deine Wege. O Haupt

voll Blut und Wunden. Nun ruhen alle Wälder. Wach' auf, mein Herz und

singe); Burmeister († 1688: Es ist genug); Georg Neumark († 1681: Wer

nur den lieben Gott läßt walten); v. Bogatzky (schrieb über 400 geistliche Lieder);

Joh. Scheffler (Angelus Silesius, wie Spee ein katholischer Dichter, † 1677,

z. B. Mir nach, spricht Christus unser Held; ferner „Cherubinischer Wandersmann“

== geistliche Epigramme und Gnomen &c.); Tersteegen († 1769); Martin

Rinckart aus Eulenburg (Nun danket alle Gott); Albinus († 1679 zu Naumburg: |#f0153 : 131|



Alle Menschen müssen sterben); Samuel Rodigast († 1703: Was Gott

thut, das ist wohlgethan); Joh. Frank aus Guben (Jesus, meine Freude);

Gellert (Auf Gott, und nicht auf meinen Rat. Wie groß ist des Allmächt'gen

Güte. Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. Gott, deine Güte reicht so weit.

Mein erst Gefühl sei Preis und Dank. Nach einer Prüfung kurzer Tage.

Wenn Christus seine Kirche schützt); Chr. Fr. Richter († 1711); Rambach

(† 1735); Benjamin Schmolcke († 1737; schrieb über 1000 geistliche Lieder

in den Sammlungen: Geistlicher Pestweihrauch, Freudenöl in Traurigkeit &c.);

Neumeister († 1756; schrieb über 700 geistliche Lieder); Lavater (Gott der

Tage &c.); Hippel († 1796: Dir hab' ich mich ergeben); Arndt; von Schenkendorf;

Gleim (Vater Unser); Uz (Der Erlöser); Cramer; Freylinghausen († 1730:

Wer ist wohl wie du); Hiller († 1769); Olearius († 1711); Klopstock (Auferstehn,

ja auferstehn wirst du. Selig sind des Himmels Erben); v. Zinzendorf

(† 1760: Jesu, geh voran &c.); Joh. Adolph Schlegel († 1793); Jacobi, Herder,

Hölty, Fr. L. Stolberg, Diterich († 1797, dichtete viele Kirchenlieder); Voß,

v. Moser († 1798: Es ist noch eine Ruh vorhanden); Novalis (Wenn ich

ihn nur habe. Wenn alle untreu werden); Mahlmann, Woltersdorf († 1761);

Christ. Sturm († 1786); Münter; Krummacher; Clemens Brentano; Eschenburg

(† 1820, dichtete viele Kirchenlieder); Funk († 1814); Schubart († 1791);

Schöner († 1818); Albert Knapp (einer der bedeutendsten Neubegründer des

gegen die Aufklärung protestierenden Kirchenliedes); Meister († 1814: Laß mir

die Feier deiner Leiden); Eichendorff, G. Görres, V. v. Strauß (Lieder aus

der Gemeinde für das christliche Kirchenjahr); Philipp Spitta (Psalter und

Harfe); Oskar von Redwitz, Geibel, Jul. Sturm (Nimm Christum); K. Gerok

(Sammlungen: Palmblätter, Pfingstrosen &c.); Agnes Franz, K. A. Döring,

J. Fr. v. Meyer, J. P. Lange, Heinr. Möwes, W. Hey, G. Jahn, Franz

Engstfeld, Albert Zeller, v. Albertini († 1831); Niemeyer († 1828); Garve

(† 1841: Preis dir, du aller Himmel); Ludw. Knack (Simon Johanna, hast

du mich lieb? eine Liedersammlung); Sachse; Hugo Hagenbach; Rochlitz († 1842);

Adolf Schults († 1858); Karl Rubel († 1868); Droste Hülshoff (katholische

Gedichte auf alle Sonn- und Festtage); Louise Hensel (katholische tiefinnige

Lieder, z. B. Müde bin ich, geh' zur Ruh'); Rückert (Saat von Gott gesäet,

zu reifen. Jn unsern Tagen ist zu erwähnen der Elsäßer Friedr. Weyermüller,

der treffliche geistliche Lieder im kirchlichen Volkston schrieb, sowie Ernst

Lehmann-Schkölen; Fr. Storck (Vertraue!); Angelika von Michalowska (Sammlung:

„Nach Gottes Rat“ 1861) &c. Die reichhaltigste Sammlung geistlicher

Lieder ist: Das deutsche Kirchenlied &c. von Ph. Wackernagel.

Lpz. 1864. 1. Bd. vom 4. bis 16. Jahrhundert (enthält Hymnen und

Sequenzen); 2. Bd. von Otfried bis zur Reformation (enth. Lieder und Leiche);

3. Bd. bis Luthers Tod; 4. Bd. von 1554─84 (von Eber bis Ringwaldt);

5. Bd. bis Anfang des 17. Jahrh. Dieser letzte Band enthält auch die

Lieder der Wiedertäufer und die der römisch=katholischen Kirche. ─ Erwähnenswert

ist vor vielen Sammlungen noch A. Knapps Evang. Liederschatz (3. Aufl.

1865).

|#f0154 : 132|



II. Lyrik der Begeisterung.


§ 70. Die verschiedenen Formen der Begeisterungslyrik

und das Gemeinsame derselben.



Die Lyrik der Begeisterung hat folgende Formen:

a. Ode,

b. Lyrische Rhapsodie,

c. Hymnus,

d. Dithyrambus,

e. Elegie.

Da sämtliche hierhergehörige Formen durch die Römer und

Griechen zu uns gelangten, so unterscheiden sie sich nach Stoff, Sprache

und Schwung des Ausdrucks von unserem sangbaren Liede. Dieses

repräsentiert die Lyrik für jeden Stand und jeden Bildungsgrad. Die

obigen Formen dagegen wenden sich an die höchst gebildeten Kreise.

Sie sind die Lyrik der Gebildeten. Man kann sagen: Das Lied in

seinem höchsten Schwung wird zur Ode und zum Dithyrambus, das

geistliche zur Hymne oder zur lyrischen Rhapsodie, das elegische Lied

zur Elegie.



Die Abstammung der obigen Formen bedingt einen auf das Erhabene,

Majestätische, Feierliche, Große gerichteten, durch Phantasie und gedankliche

Thätigkeit geschaffenen ernsten Gegenstand, der durch die Subjektivität des Dichters

lyrische Umhüllung annimmt. Man erhält den Eindruck, als sei das Vorbild

der Griechen die Veranlassung zu einer den Dichter erfassenden Berauschung

und Begeisterung, zu einer Herbeiziehung der gewagtesten Bilder und des höchsten

Schwungs der Darstellung.



Das Lied geht mit seinem leichten, auf den Wellen des Gefühls geschaukelten

Stoff den direkten Weg vom Herzen zum Herzen: die Lyrik des

Aufschwungs wählt den Weg durch den Kopf zum Herzen.



Die Folge ist ein gegensätzliches Verhalten zum Lied. Während das Lied

einfache Darstellungsform, leichte fließende Sprache und allgemein verständliche

Bilder und Ausdrucksformen wählt, gefällt sich die Lyrik des Aufschwungs in den

kühnsten, nicht so leicht verständlichen Metaphern, in den verschlungensten Jnversionen

und im wohlberechneten künstlerisch gewundenen Bau der Rede.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Werkgruppe. Anmerkung: Werkgr.: Lyrik des Aufschwungs Nicht

selten verschmäht die Lyrik des Aufschwungs unsere deutschen Kunstmittel, deutschen

Rhythmus und Reim, wohl aber entlehnt sie ihrer Abstammung gemäß häufig

die antiken Metren und den antiken Rhythmus.



Sanfte Gefühle, anmutende, allgemein verständliche Ausdrucksweise, weniger

feierliche Stoffe, Harmlosigkeit, naive Munterkeit sind der Charakter des Liedes;

die Formen des Aufschwungs verlangen die edelste, erhabenste Sprache: die

Göttersprache. Nicht allmählich ─ wie im Lied ─ erhebt sich hier das Gefühl,

sondern plötzlich, voll ungestümen Feuers. Man vgl. zum Beleg des Unterschieds |#f0155 : 133|



zwischen dem Lied und den Formen der Begeisterung die erste Strophe

eines Frühlingslieds von Uz mit dem Anfang einer Hymne von Klopstock:



Gott im Frühlinge, von Uz.

Jn seinem schimmernden Gewand

Hast du den Frühling uns gesandt,

Und Rosen um sein Haupt gewunden.

Holdlächelnd kommt er schon!

Es führen ihn die Stunden,

O Gott, auf seinen Blumenthron
u. s. w.



Die Frühlingsfeier, von Klopstock.

Nicht in den Ocean der Welten alle

Will ich mich stürzen! schweben nicht,

Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,

Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!


Nur um den Tropfen am Eimer,

Um die Erde nur, will ich schweben und anbeten!

Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer

Rann aus der Hand des Allmächtigen auch!
u. s. w.



Einfach und sinnig ist die anmutige Art, wie Uz im obigen Lied den

Frühling personifiziert. Der Dichter hält sich ─ etwa die letzte Zeile ausgenommen

─ frei von Überschwenglichkeit des Gefühls.



Dagegen ist Klopstock in seinem obigen Hymnus trunken von den Gefühlen

des Dankes und der schwärmerischen Bewunderung gegen den Schöpfer, der alle

Schönheiten hervorgerufen. Seiner Ekstase entspricht der Jdeengang und der

Rhythmus des ganzen Hymnus bei einfacher Sprache.



Hier ist nichts von Gleichheit in der Versart zu bemerken, nichts von einem

feststehenden Ton- oder Silbenmaß. Es herrscht je nach dem Verhältnis der

Naturscenen die bunteste Abwechslung. Auch das Kunstmittel des Reims wird

als überflüssige Zier und als Hemmnis weggelassen.



Der Dichter wollte ein Loblied singen; aber im Anschauen der Weisheit

und Größe Gottes sehen wir ihn von der Fülle und Menge seiner Gefühle überwältigt;

es wird ein Hymnus anstatt eines Liedes. Wie er sich im kühnen

Bild vom Ocean der Welten zum Tropfen am Eimer, zur Erde, herunterläßt

(denn wie der Tropfen zum Ocean, so verhält sich die Erde zum Weltall), so

erwähnt er im weiteren Verlauf vom Kleinen nur wieder das Kleinste, und

einige Frühlingswürmchen und sanft wehende Lüftchen reichen hin, seine Seele

in die Glut heißester Andacht zu tauchen. Wenn dann die Lüfte in Winde

sich wandeln und dunkle Wolken am Himmel daherrauschen und der brausende

Sturm den Wald neigen macht, da wird seine religiöse Begeisterung zur Vision.

Betend wirft er sich vor dem ihm sichtbar werdenden Gott nieder. Gott erscheint

ihm im fruchtbaren Regen, im Säuseln der Lüste, indem er den Friedensbogen

über die Erde ausbreitet u. s. w.



Ähnliche Vergleichungen, wie das Lied Uzens mit Klopstocks Hymnus |#f0156 : 134|



ermöglichen z. B. das Rheinweinlied von Claudius und Klopstocks Ode Der

Rheinwein; ferner Schenkendorfs Lied Die Muttersprache mit Klopstocks Ode:

Unsere Sprache; Goethe's Winter mit Klopstocks Eislauf u. s. w.



§ 71. Die Ode.



1. Ode (ὠδή Gesang von ἀείδω singen) in der allgemeinen

Wortbedeutung bezeichnet eigentlich, ähnlich wie unser Wort Lied, jedes

sangbare Gedicht. Jm engeren, jetzt gebräuchlichen Sinn nennt man

jedoch Ode als Blüte der Lyrik nur das lyrische Gedicht, welches die

höchsten Jdeale in begeisterter Erregung dichterischer Empfindung besingt

und dem in die Sphäre des Jdealen erhobenen Gefühl einen

Ausdruck verleiht.



Jhr Charakter ist a. das Erhabene (z. B. das Naturerhabene

beim Anblick des Sternenhimmels in Schillers Ode: die Größe der

Welt), b. das erregte Gefühl, c. die schwungvolle Sprache und der

Bilderreichtum, d. der kunstvolle Strophenbau (die sogenannten Odenmaße).





2. Jn der Geschichte der Ode bildet Klopstock für uns die erste

Epoche: Sein Studium ist für den Odendichter unerläßlich.



1. Der Jnhalt der Ode ist wie der des weltlichen Liedes Liebe, Vaterland,

Sieg, Ruhm, Freiheit, Freundschaft, Tugend. Schon der Schluß des vorigen

§ 70 beweist, daß Ode und Lied den gleichen Gegenstand besingen können. Nicht

durch den Stoff unterscheidet sich also eigentlich die Ode vom Liede, sondern

durch den höhern Schwung, durch das Pathos (d. i. durch die leidenschaftlichere

Erregung des Gefühls), durch erhobenere Empfindung, durch glanzvolleren, sprachlichen

Ausdruck, durch Kühnheit der Wortbildung (Neologismen), durch künstlicheren

Periodenbau (Anakoluthieen, Jnversionen), durch prächtigere, schwungvollere

Bilder, durch kunstreiche, nach antiker oder moderner Form gebaute Strophen,

endlich durch eine, der größeren Begeisterung entsprechende, rhythmische Form,

welcher die ausgedehnteste Freiheit gestattet ist.



Unsere Ode richtet sich hauptsächlich auf Begebenheiten von nationalem, ja,

allgemein menschlichem Jnteresse; sie reiht ihre Gefühlszustände an eine Persönlichkeit

von unbestrittener, nationaler Achtung und Wertschätzung, um die Stimmung

und Stimme Aller zu vertreten; sie erstrebt das Jdeale und idealisiert,

um die Person oder Begebenheit über die gemeine Wirklichkeit emporzuheben.

Sie redet den von ihr besungenen Gegenstand oft an oder ermuntert und ermutigt

andere zu gleicher Begeisterung für diesen Gegenstand. Doch läßt sie

sich nicht in planloser Schwärmerei sorglos gehen, sondern ergreift die aufgestiegene

Empfindung, d. i. den bestimmten Zustand des Gefühls-Vermögens

und giebt ihm einheitliche, vollendete ästhetische Form.



Die höchste Höhe ist der Ode doch nicht zu hoch, das Erhabenste ist ihr

nicht zu erhaben. Jhr Gegenstand kann sein Gott und Natur; auch Fürsten,

Helden, Denker und Dichter in ihrer Bedeutung für die Menschheit kann sie |#f0157 : 135|



besingen. Die Erhabenheit des Jnhalts macht es unmöglich, daß der Dichter

den Jnhalt in sich hineinziehe und in sein eigenes Gefühlsleben umsetze, vielmehr

singt der in seinem Jnnersten tiefbewegte Lyriker aus sich heraus, zu

seinem erhabenen Gegenstande empor. Die Lyrik der Ode ist eben keine kontemplativ

beschauliche ruhige Empfindung, sondern begeisterte Bewunderung. So

umschlingen sich in der Ode Subjektivität und Objektivität. Dies ist freilich

auch in der Hymne der Fall, aber man schränkt füglich den Begriff Ode ein,

indem man unter Ode nur diejenigen Gedichte versteht, welche mit höherer

Begeisterung Menschen und Personifikationen feiern; da wo ihr Gegenstand das

Allerhöchste ─ selbst die Gottheit ─ ist, nennt man die Ode Hymne (§ 73).

Gervinus sagt, was Minckwitz bestreitet: „Die Ode widersetzt sich und widerstrebt

allen logischen verständigen Grenzen und jeder Regel, die eine bestimmte

Ordnung da vorschreiben will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein

soll, der vor jedem Gegenstand anders thätig ist, wo sich eine Empfindung, ein

Gefühl aus sich selbst und nach seinem eigenen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos

erscheinenden Tonstück formen will.“



Und doch muß ─ bei allen Ausschreitungen der Phantasie ─ in der

Ode eine bestimmte Jdee regelvoll hervortreten, welche versöhnt, und die im

Metaphernschmuck prangende Ode zur Blüte der Lyrik erhebt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Nennung. Quellenangabe Werkgruppe. Anmerkung: Werkgruppe: Ode



Bei der Konzeption der Ode übt die Phantasie eine hervorragende Thätigkeit,

sie versetzt ─ nach Wackernagel ─ die Anschauung in's Gebiet des Erhabenen,

wo der Verstand nicht mehr der Phantasie nachmißt und nachrechnet.

Gefährlich ist die willkürliche Jdealisierung irdischer Wirklichkeit; hier wird die

Überwirklichung der gemeinen Wahrheit nur zu leicht eine Übertreibung und eine

Lüge, die Schöpfungen der Phantasie können dem Verstande leicht so unnütz

und ungeschickt vorkommen, daß er sich nicht gefangen giebt, sondern im Widerspruche

verharrt, wo dann an die Stelle der Erhabenheit, auf welche der

Dichter ausging, die bloße Lächerlichkeit (nach Minckwitz' Mittheilung an

den Verfasser auch Humor) tritt, wo also nach dem bekannten Worte

Napoleons vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Darum stehen

die hebräischen Psalmisten und steht Klopstock soviel höher als irgend ein andrer

Odendichter, weil das epische Element ihrer Oden Gott und göttliche Dinge

sind (bei Klopstock wenigstens vorzüglich Gott und göttliche Dinge); darum

gerät auf der anderen Seite Ramler so oft in's Lächerliche (Prosaische), weil er

auch da, wo die Wirklichkeit an sich selbst schon groß und erhaben genug wäre

(z. B. wo er Friedrich II. besingt), dennoch mit dem Gegebenen nicht zufrieden

ist, sondern immer noch höher und drüber hinaus möchte. Darum befremdet

Ramlers und vieler Andrer Muster: Horaz durch Humoristik und jene gesuchten

Kühnheiten im Gange der Entwickelung, die zuletzt nur wie ein Schraubenwerk

erscheinen, um den Gegenstand über sich selbst zu erheben.



2. Klopstock gab der deutschen Ode ihren eigentlichen Charakter durch

Erhabenheit der Bilder, schwungvolle feierliche Sprache, eigenartige Strophik u. a.

Nach Klopstocks Vorgang hat man sich zur Ode meist antiker Maße bedient,

die unserem deutschen Ohre oft wenig zusagen. Jndem man die Griechen nachahmte, |#f0158 : 136|



verließ man den Reim und hielt sich streng an die klassische Form.

Den Reim überhaupt zu verwerfen, hat man aber kein Bedürfnis, da er eine

berechtigte, liebgewordene Eigentümlichkeit der deutschen Poesie geworden ist.

(Vgl. Bd. I. S. 530.)



Aus der ängstlichen Nachahmung wie auch der schlechten Beherrschung

der antiken Ode entstanden mehrfach erkünstelte Gedichte, bei denen die antike

Form die Hauptsache war, während doch die Ode der von Wort zu Wort dahin

wogende Erguß des erregten und erhaben gesinnten Herzens sein soll.



Die versuchte Einteilung in philosophische und heroische Oden ist unwichtig,

unwesentlich, ja falsch. (Vgl. übrigens § 73.)



Während auf der einen Seite das antike Maß für eine Ode nicht nötig

ist, erweiterte doch die Benutzung desselben das Gebiet der Oden. Es wird

nämlich auch ein Gedicht mit Liedesinhalt (und sanfterer Empfindung) Ode genannt,

sobald es in antikes Versmaß gefaßt ist. Dies wäre die liedartige Ode.



Beispiele der Oden.



Die Grotte der Nacht, von Uz.



[Beginn Spaltensatz]
Wohin wird mein Gesang verschlagen?

Der Ozean ist voller Glut;

Denn Titan kommt; sein strahlenreicher Wagen

Schwebt feurig über blauer Flut;


Jndessen auf betauten Schwingen

Die braune Nacht entlassen flieht,

Und Nymphen sie zu ihrer Grotte bringen,

Die kein unheilig Auge sieht.


Wird meinem Blick im tiefsten Meere

Dort ihre Herrschaft aufgethan?

Es trennen sich erschrockner Schatten Heere:

Sie machen mir entfliehend Bahn.


O Ruh! o welch ein heilig Schweigen

Beherrscht ihr schattiges Revier!

Kein Vogel schwätzt auf düstrer Ulmen Zweigen;

Der muntre West entschlummert hier.


Ein zitternd Schimmern bleicher Kerzen

Erleuchtet ihren dunklen Sitz,

Wo rings umher die leichten Träume scherzen,

Geflügelt wie der schnelle Blitz.


Von welchem schlau betrognen Kinde

Kommt hier der schöne Morgentraum?

Seht! Phantasus hüllt sich in rauhe Rinde,

Und grünt, beblättert, als ein Baum.


Nun da in junger Nymphen Händen

Gedämpfter Saiten Scherz erklingt,

Ertönt ein Lied von muschelreichen Wänden,

Das eine der Najaden singt.
[Spaltenumbruch]



(Ein etwas seltsames Bild.)



(Phantasus, ein Sohn des

Schlafs, stellt in Träumen

nur leblose Dinge dar, während

Morpheus, Gott der

Träume, nur menschliche

Gestalten anzunehmen vermochte.)

[Ende Spaltensatz]

|#f0159 : 137|



[Beginn Spaltensatz]
Geneuß die Ruhe, die du zeugest,

O Göttin! singt sie, holde Nacht!

Der Lärm entschläft, wenn du zum Himmel steigest

Und nur der Prokne Schwester wacht.
[Spaltenumbruch]



(Philomele, die Nachtigall,

wie Prokne, die Schwalbe,

beide verwandelte Töchter

des attischen Königs Pandion.)

[Ende Spaltensatz]



Man beachte in dieser herrlichen gereimten Ode, wie der Dichter die vor

der Sonne fliehende Nacht einer geheimnisvollen Meeresgrotte zueilen läßt, die

dem Dichter offen liegt und die er wonnevoll im Odenschwung mit schlagenden

Beiwörtern schildert, die Schatten personificierend, indem er sie zu „erschrockenen“

Schatten macht u. s. w.



Jn der nachstehenden kraftvollen „Ode an die preußische Armee“ fordert

Kleist das preußische Heer auf, mit erhöhtem Mute die zahllosen Feinde zu

bekämpfen; er verspricht der Nachwelt Ruhm, welcher das Heer über die Römer,

sowie Friedrich über Cäsar setzen werde. Jn gewaltigen Weisen mit wahrhaft

dramatischem Schwung schildert der Dichter, wie das Winken Friedrichs die

Feinde vernichte. Ja, mit Farben, wie sie das ruhige Lied nimmermehr vertragen

würde, malt er, in seiner Empfindung sich an Friedrich wendend, die

weitgehendsten Gegensätze.



Er schließt mit einer der Ode eigenen Kühnheit, indem er die Erwartung

ausspricht, der stolze Feind werde noch vor kleinen Haufen fliehn, und er, der

Dichter, werde „im rasenden Getümmel Ehr' oder Tod finden“.



Ode an die preußische Armee, von E. Ch. v. Kleist. (Sämmtl. Werke,

2. Aufl. 1790. S. 79.)



[Beginn Spaltensatz]
Unüberwundnes Heer, mit dem Tod und Verderben

Jn Legionen Feinde dringt,

Um das der frohe Sieg die goldnen Flügel schwingt,

O Heer, bereit zum Siegen oder Sterben!


Sieh! Feinde, deren Last die Hügel fast versinken,

Den Erdkreis beben macht,

Ziehn gegen dich, und drohn mit Qual und ew'ger Nacht;

Das Wasser fehlt, wo ihre Rosse trinken.


Verdopple deinen Mut! der Feinde wilde Fluten

Hemmt Friedrich, und dein starker Arm;

Und die Gerechtigkeit verjagt den tollen Schwarm;

Sie blitzt durch dich auf ihn, und seine Rücken bluten.


Die Nachwelt wird auf dich, als auf ein Muster sehen,

Die künft'gen Helden ehren dich,

Ziehn dich den Römern vor, dem Cäsar Friederich;

Und Böhmens Felsen sind dir ewige Trophäen.


Nur schone, wie bisher im Lauf von großen Thaten,

Den Landmann, der dein Feind nicht ist!

Hilf seiner Not, wenn du von Not entfernet bist!

Das Rauben überlaß den Feigen und Kroaten.
[Spaltenumbruch]



(Ähnlich die weggelassene

folgende Strophe.)

[Ende Spaltensatz] |#f0160 : 138|



Jch seh', ich sehe schon, ─ o freut euch, Preußens Freunde! ─

Die Tage deines Ruhms sich nahn.

Jn Ungewittern ziehn die Wilden stolz heran;

Doch Friedrich winket dir! Wo sind sie nun, die Feinde?


Du eilest ihnen nach, und drückst mit schweren Eisen

Den Tod tief ihren Schädeln ein,

Und kehrst voll Ruhm zurück, die Deinen zu erfreun,

Die jauchzend dich empfahn, und ihre Retter preisen.


Auch ich, ich werde noch, ─ vergönn' es mir, o Himmel! ─

Einher vor wenig Helden ziehn.

Jch seh' dich, stolzer Feind! den kleinen Haufen fliehn,

Und find' Ehr' oder Tod im rasenden Getümmel.



Als Beispiel einer liedartigen Ode diene noch die von Dankbarkeit und vorurteilsfreier

Anerkennung zeugende Ode Rudolf Niggelers an Johannes Minckwitz,

dem bedeutendsten Odendichter der Gegenwart, der über 200 gehaltvolle

Oden dichtete und viele antike übersetzte:



Segen dir Minckwitz, zu dem Tage Segen,

Wo du wardst, aus stiller bescheidner Hütte

Hinzuwall'n auf felsigem Pfad zum hohen

Tempel der Musen!


Segen dir, Vorkämpfer der goldnen Wahrheit,

Der du mutvoll kämpftest mit jenen Buben,

Welche Schmach aufhäuften der fern gebrochnen

Harfe von Platen!


Der du kühn eindrangst, wie Achill, und deines

Freundes Leichnam feindlicher Wut entrissest,

Und mit Purpur schmücktest und immergrünen

Kronen von Lorbeer.


Was die Zeit mir reifet an holden Früchten,

Darf ich dir als Opfer zu Füßen legen,

Darf des Lied's Alprosen zu deines Busens

Zierde dir pflücken!


Segen dir, tonreichste der Nachtigallen,

Welche Hellas' sonnige Kunstgefilde

Je besucht, und wiedergekehrt zu Deutschlands

Rauschendem Eichwald


Jener Lenzflur Düfte verströmt im Sange!

Segen dir, hellwirbelnde Himmelslerche,

Deren Festlied hoch vom azurnen Bogen

Würdig zu Klopstocks


Voll Begeist'rung schwellendem Sang herabklingt

Und zur maßvoll tönenden Weise Platens! ─

Doch das Volk hört lieber das regellose

Zwitschern des Sperlings!
|#f0161 : 139|



Litteratur der Ode.



Der bedeutendste Odendichter war der Grieche Pindar († 441 v. Chr.).

Darauf folgten eine Reihe Odendichter und Odendichterinnen der melischen und

chorischen Lyrik. Am würdigsten schließt sich an Pindar der Römer Horatius

an († 8 v. Chr.), der nach griechischen Mustern dichtete. Spätere Odendichter

sind der Jtaliener Petrarka (übersetzt von Förster), die Franzosen Racine,

Lamartine, der Engländer Pope &c. Die ältesten Oden findet man wohl in

den Büchern des alten Testaments. Die älteste deutsche Ode ─ obgleich man

damals den Namen nicht dafür hatte ─ ist das Annolied aus dem Jahre 1185,

das dem Frankenbekehrer, dem Erzbischof Hanno von Köln, gewidmet war (I. 86).



Zum erstenmal wurde in der deutschen Litteratur der Name Ode von

Weckherlin gebraucht, welcher 1618 eine „Sammlung von Oden und Gesängen“

herausgab. Als spätere deutsche Odendichter sind zu nennen: Gryphius (Kirchhofsgedanken

und geistliche Oden). Paul Flemming (Erstes Buch der Oden).

Günther (Ode auf den Prinzen Eugen). Klopstock (dessen Oden seine vorzüglichsten

Leistungen sind, vgl. z. B. An Fanny; Der Eislauf; Der Zürchersee;

Mein Vaterland; Die frühen Gräber; Hermann und Thusnelda &c.). Uz (Ode

auf die Sonne). Cramer (David). Denis (Die Zeit. Josephs 1. 2. 3.

4. Reise). Schubart (Auf Friedrich II). Jacobi (Die Tempel). Herder (Klopstocks

lyrische Poesie). Hölty (An die Ruhe). Stolberg, der Ausbilder klassischer

Maße (Die Natur, Der Harz, Leipzigs Schlacht, Deutschlands Beruf,

Mein Vaterland, Die Begeisterung). Voß (Anbetung, An Klopstock, An Brückner,

Der Winterschmaus). Kosegarten (Der Morgen, Die Unsterblichkeit). Goethe

(Mohamed, Meine Göttin). Schiller (Das Jdeal und das Leben, Die

Macht des Gesanges). A. Bercht (Preußens Helden). Ramler (Friedrich

der Große). Matthisson (Sehnsucht nach Rom, Genuß der Gegenwart).

Heidenreich (Die Freiheit des Menschen, Die Wollust). Hölderlin (Der Tod

für's Vaterland, Das Schicksal, Rückkehr in die Heimat). Platen (er hat

die strenge, namentlich von den Romantikern verdrängte Odenform besonders

gepflegt. Vgl. Der Vesuv, An Franz II.). Johannes Minckwitz. (Seiner besten

Oden eine ist die Nr. 221: An Samuel Brassai, 1881 gedichtet). Rückert (1.

Übergang vom Liede zur Ode: Die Berge. An unsere Sprache. Abschied.

2. Oden in freiem Versmaß: Brünstige Nachtigall. Die preußische Viktoria.

3. Oden in Ghaselenform: Du Duft, der meine Seele speiset. Sei mir

gegrüßt &c.). Kinkel. Pfizer. J. G. Fischer. R. Gottschall. Melch. Meyr. O. Banck.

Hamerling. Geibel. Hertz. Max Moltke. Jul. Sturm. v. Lepel. Scherer. Fr. Storck

(Das freie Wort) u. a.



§ 72. Die lyrische Rhapsodie.



Man versteht unter lyrischen Rhapsodien odenartige Gedichte, die

dem Jnhalte nach nur als Bruchstücke erscheinen, im übrigen nicht durchaus

den Charakter der Ode oder den der Hymne tragen. Die lyrische

Rhapsodie sucht in einer freieren Form ihren Gegenstand von der sub= |#f0162 : 140|



jektiv fühlenden schönen Seite oft mit dithyrambischen Zügen darzustellen.





Lange vor Christi Geburt trugen wandernde Sänger bei den Griechen,

gelegentlich einzelner Feste Gesänge vor, wobei sie einen Lorbeerzweig oder einen

Stab (ῥάβδος d. i. Rhabdos) in der Hand hielten. Von diesem Rhabdos

hießen diese Sänger die Rhapsoden, bei den Deutschen varnde liute ==

fahrende Leute, singaere == Sänger, ihre Gesänge aber nannte man Rhapsodien.



(Das Wort Rhapsode leiten einige von ῥάπτειν ᾠδήν her, nicht aber

von ῥάβδος Stabsänger. Hesiod spricht im Fragm. 34 von ῥάψαντες

ἀοιδήν. Bei Pindar ist ῥαπτῶν ἐπέων ἀοιδοί Umschreibung für ῥαψῳδοί.)



Rhapsodiendichter sind: Schiller, Ramler, Kotzebue, Fr. Müller, Püttmann,

Kosegarten, Hölderlin, A. Moser, H. Heine (Nordseebilder), Goethe (Ganymed,

Das Göttliche, Grenzen der Menschheit), E. Chr. v. Kleist (Lob der Gottheit,

Sehnsucht nach Ruhe, An Doris &c.) u. a.



Beispiel der lyrischen Rhapsodie. (Jn griechischen Rhythmen.)



An die untergehende Sonne, von Kosegarten.



Sonne, du sinkst!

Sonne, du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Still und ruhig ist deines Scheidens Gang,

Rührend und feierlich deines Scheidens Schweigen.

Wehmut lächelt dein freundliches Auge;

Thränen entträufeln den goldenen Wimpern;

Segnungen strömst du der duftenden Erde.

Jmmer tiefer,

Jmmer leiser,

Jmmer ernster und feierlicher

Sinkst du den Azur hinab.


Sonne, du sinkst!

Sonne, du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Es segnen die Völker,

Es säuseln die Lüfte,

Es räuchern die dampfenden Wiesen dir nach.

Winde durchrieseln dein lockiges Haar;

Wellen kühlen die brennende Wange,

Weit auf thut sich dein Wasserbett.

Ruh' in Frieden,

Schlumm're in Wonne!

Die Nachtigall flötet dir Schlummergesang.


Sonne, du sinkst!

Sonne, du sinkst!

Sink' in Frieden, o Sonne!

Schön sinkt sich's nach den Schweißen des Tages,

Schön in die Arme der Ruhe

Nach wohlbestandenem Tagwerk.

Du hast dein Tagwerk bestanden,

Du hast es glorreich vollendet,
|#f0163 : 141|



Hast Welten erleuchtet und Welten erwärmt,

Den Schoß der Erde befruchtet,

Die schwellenden Knospen gerötet,

Der Blumen Kelche geöffnet,

Die grünen Saaten gezeitigt,

Hast Welten gesäugt und Welten erquickt ─

Geliebt und Liebe geerntet,

Gesegnet und rings mit Segnungen

Dein rollendes Haar bekränzt.


Schlummre sanft

Nach den Schweißen des Tags!

Erwache freudig

Nach verjüngendem Schlummer!

Erwach', ein junger freudiger Held!

Erwach' zu neuen Thaten!

Dein harrt die lechzende Schöpfung;

Dein harren die Au' und Wiesen;

Dein harren Vögel und Herden;

Dein harrt der Wandrer im Dunkeln;

Dein harrt der Schiffer in Stürmen;

Dein harrt der Kranke im Siechbett;

Dein harret der Wonnen seligste:

Die Wonne liebend geliebt zu sein!

Der Seligkeiten unausredbarste:

Selber beseligt zu sein, derweil du andre beseligst.

Sink' in Frieden!

Schlummr' in Ruhe!

Erwach' in Entzückungen, Sonne!


§ 73. Hymnus (Hymne).



Ein, in der höchsten Begeisterung gesungenes, religiöses Lied, eine

religiöse, dem Preise der Gottheit gewidmete Ode, welche zum Lob=

und Preis-Gesang auf Gott, auf Christus, auf die Wohlthaten der

Naturmächte, auch auf irdische, wie Götter gefeierte Personen sich gestaltet

und in welchem Andacht und Bewunderung sich vereinigen,

wird Hymne (ὕμνος Lobgesang, Preis einer Gottheit, von ὑμνεῖν

== preisen, besingen) oder Hymnus genannt.



Sie stimmt in Behandlung des Stoffes, in Sprache und Rhythmus ganz

mit der Ode überein und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß ihre

Gegenstände meist dem religiösen Gebiet angehören. Zum geistlichen Liede verhält

sie sich, wie die Ode zum weltlichen. Wollte man die Oden in philosophische,

heroische und religiöse teilen, so wäre die Hymne eben die religiöse Ode. Nicht

die Gefühle der Demut, Wehmut, Reue, auch nicht Betrachtungen über Tod

und Unsterblichkeit veranlassen sie, sondern die Bewunderung Gottes oder einer

heidnischen Gottheit, auch eines erhabenen wie eine Gottheit angestaunten Menschen

oder irgend einer wunderbaren Naturerscheinung, weshalb man auch von weltlichen

Hymnen sprechen kann, die freilich besser den Namen Oden (Festlieder) tragen.

(Als Beispiele solcher Hymnen nenne ich: Frühlingsfeier von Klopstock; Hymne an |#f0164 : 142|



die Sonne von Knebel; ebenso die Volkshymnen, Kriegshymnen, Kaiserhymnen,

Vaterlands-Hymnen, z. B. God save the King; „Gott erhalte Franz den

Kaiser“ von Seidl; an Österreich von Anastasius Grün; an Bismarck von

Minckwitz, eine gewaltige Ode, welche an Umfang fast der 4. Pythischen Ode

des Pindar gleichkommt, 300 Zeilen in Strophe, Antistrophe und Epode umfaßt

und rhythmisch malt z. B. den Wachtelton: Vaterland, Vaterland, Vaterland,

u. s. w.)



Auf den religiösen Charakter der Hymne, besonders in der hebräischen

Hymnenpoesie, hat zuerst Herder (Geist der hebräischen Poesie) hingewiesen. Die

Psalmen, besonders der 29te und 33te, sind in der That treffliche Hymnen.



Bei den Griechen wurde Andacht und Bewunderung teils durch feierlich

stetigen Gesang des epischen Versmaßes (Homer, Kallimachos), teils durch den

feierlichen und zugleich bewegten, lyrischen Gesang ausgedrückt. (Pindar.) Der

Hymnus wurde bei festlichen Veranlassungen mit Musikbegleitung vorgetragen.



Vom Gesang für die Gottheit löste sich das allgemeine Lied ab ─ als

Ode auf seinen Ursprung weisend ─, wovon freilich die leichten Lebe= und

Liebeslieder (die sog. Anakreontischen) ausgenommen sind. Die dem Bacchus

gewidmete Hymne wurde zum begeisterten Gesang gleichsam des Rausches und

hieß Dithyrambus (vgl. § 74), während der Sang zu Ehren Apolls: Päan

hieß. (Päan ist zunächst Fremdwort. Es soll nämlich Pa-iâon [Mann für

Krankheiten] ägyptisch sein. Bei Homer erscheint Παιήων als Götterarzt und

Stammvater der ägyptischen Ärzte (Il. F 401 od. J 232), daher schon dort

Il. A 473 παιήονα auch als Lobgesang oder Dankgesang für Erlösung von der

Pest. Dann ebenso im Triumphgesang, mit Tutti oder Refrain Il. X 391─94.

So wurde durch die Dorer besonders im Kulte des delphischen Apollon der

Paian Lob=, Dank- und Gebetslied [in der Not] an Apollo und Artemis, an

alle Schutzgötter. Eine kürzere Form ist der am Schluß des Gastmahls vor

dem Symposium gesungene. Durch kretischen Einfluß wurde der Päan auch

Angriffslied in der Schlacht; daher z. B. die Griechen bei Kunaxa unter Absingen

eines Päan den Angriff einleiteten. &c.)



Die äußere Form der deutschen Hymne ist entweder liedartig oder antik

oder auch ganz frei.



Beispiele der Hymne.



a. An den Sturmwind, von Fr. Rückert.



Mächtiger, der du die Wipfel dir beugst,

Brausend von Krone zu Krone entsteigst,

Wandle, du stürmender, wandle nur fort,

Reiß mir den stürmenden Busen mit fort.


Wie das Gewölke, das donnernd entfliegt,

Dir auf der brausenden Schwinge sich wiegt,

Führe den Geist aus dem irdischen Haus

Jn die Unendlichkeit stürmend hinaus.
|#f0165 : 143|



Trage mich hin, wo die bebende Welt

Rings in Verwüstung und Trümmer zerschellt!

Über den Trümmern mit grausender Lust

Fühl' ich den Gott in der pochenden Brust.


b. Das große Hallelujah, von Klopstock.



Ehre sei dem Hocherhabnen, dem ersten, dem Vater der Schöpfung!

Dem unsre Psalme stammeln,

Obgleich der wunderbare Er

Unaussprechlich, und undenkbar ist.


Eine Flamme von dem Altar an dem Thron

Jst in unsere Seele geströmt!

Wir freuen uns Himmelsfreuden,

Daß wir sind, und über Jhn erstaunen können!


Ehre sei ihm auch von uns an den Gräbern hier,

Obwohl an seines Thrones letzten Stufen

Des Erzengels niedergeworfne Krone

Und seines Preisgesangs Wonne tönt.


Ehre sei, und Dank, und Preis dem Hocherhabnen, dem ersten,

Der nicht begann, und nicht aufhören wird!

Der sogar des Staubes Bewohnern gab,

Nicht aufzuhören.


Ehre dem Wunderbaren,

Der unzählbare Welten in den Ozean der Unendlichkeit aussäte!

Und sie füllete mit Heerschaaren Unsterblicher,

Daß Jhn sie liebten, und selig wären durch Jhn!


Ehre dir! Ehre dir! Ehre dir!

Hocherhabner! Erster!

Vater der Schöpfung!

Unaussprechlicher! Undenkbarer!


Zur Litteratur der Hymne.



Jm Geiste der hebräischen Poesie und durch dieselbe angeregt sind die

Hymnen der ersten christlichen Kirche entstanden. Wir erwähnen hier von den

christlichen Hymnologen zunächst die besten lateinischen Hymnendichter: Ambrosius

(Bischof von Mailand, † 398 n. Chr., dichtete den Ambrosianischen Lobgesang

Te Deum laudamus“. Nach einer Sage sollen bei der Taufe des Augustinus

durch Ambrosius in der Osternacht 367 beide fromme Männer diesen Hymnus

wie aus göttlicher Eingebung gedichtet und abwechselnd strophenweise vor der

versammelten Gemeinde gesungen haben, bis endlich Augustinus mit den Worten

geschlossen habe: In te domine speravi, deutsch: Auf dich habe ich gehofft,

Herr! Die fromme Monika, Mutter des Augustinus, soll entzückt über diesen

Gesang ausgerufen haben: Malo te Christianum Augustinum, quam

Augustum imperatorem
, d. h. Es ist mir lieber, daß du nun Augustinus |#f0166 : 144|



der Christ bist, als wenn du Augustus der Kaiser wärest.) ─ Papst Gregor der

Große, der einen erhebenden Morgengesang gedichtet hat, schuf auch kirchliche

Hymnen. ─ Robert (König von Frankreich 997─1031, dichtete Veni sancte

Spiritus
, welches am Pfingstfeste und am Anfang eines neuen Schuljahres

an katholischen Lehr-Anstalten immer noch gesungen wird. (Vgl. Wackernagel,

K. L. I, 105.)



Hermann der Lahme (Benediktinermönch im Kloster Reichenau am Bodensee,

dichtete Salve Regina, Gegrüßet seist du, Königin).



Bernhard von Clairvaux († 1153, wurde durch „Salve Regina“ bei

seinem Einzug in den Dom zu Speyer so ergriffen, daß er den nunmehrigen

Schluß zudichtete: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria. Von ihm

der schöne Kirchengesang: Jesu dulcis memoria).



Thomas von Celano (vom Minoritenorden, Mitte des 13. Jahrhunderts,

dichtete das ergreifende Dies irae == Tag des Zorns, welches meist bei Totenmessen

gesungen wird. Eine wirkungsvolle Musik zu diesem, das Weltgericht

in erschütternder Weise schildernden Hymnus, danken wir Mozart).



Thomas von Aquino († 1274, Verfasser der meisten Kirchengesänge

für den Gottesdienst beim Fronleichnamsfeste, dichtete Lauda Sion und Pange

lingua
== Preis o Zunge, die als die erhabensten Festgesänge der katholischen

Kirche berühmt sind).



Jakopomus (Minorit, † 1306, dichtete Stabat mater == Es stand die

Mutter, welches den Schmerz Mariä beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes

ausdrückt, und am Fest der 7 Schmerzen in den katholischen Kirchen gesungen

wird. Palestrina, Haydn, Rossini u. a. haben es komponiert).



Hymnen in deutscher Sprache dichteten: Kleist (Die Größe Gottes). Uz

(Preis des Höchsten). Klopstock (Die Frühlingsfeier; Dem Erlöser; Der Erbarmer;

Die Glückseligkeit Aller). Denis (An Gott). Stolberg (Der Himmel;

Schwanengesang). Novalis (Hymne an die Nacht). Ernst Schulze (Hymnus

an die heilige Cäcila). Gellert. Goethe (Prometheus). Hölderlin (Hymne an

den Äther). K. Gerok. A. Knapp. Knebel (An die Sonne). v. Haller (An

die Ewigkeit). Schubart (Erstickter Preisgesang). Schiller (Das eleusische Fest).

Platen brachte in der Hymne die lyrische Kunst auf den Gipfel. Sein Nachfolger

Johannes Minckwitz, welcher vier der größten Pindarschen Hymnen übersetzte

und über 20 frei dichtete, ist weiter vorgeschritten als Platen a. in der

Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen Strophen als Dreigliederung

anreihte, b. im freieren, flüssigeren deutschen Stil. Wilh. Müller (Pfingsten).

Rückert (bei welchem manche Hymnen die ausländische Form des persischen Ghasels

annahmen, was auch bei Oden der Fall ist. Z. B. Flammt empor in

euren Höhn, Morgensonnen, lobt den Herrn. An das Meer. Von seinen

Hymnen in Strophen nenne ich: An die Göttin Morgenröte. Die Allgegenwärtige.

Gesang der heiligen drei Könige ist im freiesten Versmaß gedichtet).

Anastasius Grün, Geibel, Hamerling, Spitta, Otto Banck, J. Neumann u. a.

|#f0167 : 145|



§ 74. Dithyrambus.



Wie das gewöhnliche Lied in der Ode und das geistliche Lied in

der Hymne eine höhere Form besitzen, so das gesellige Lied in der

Dithyrambe (vom griechischen διθύραμβος == Beiname des Bacchos).

Jeder Erguß auflodernder Gefühle voll stürmisch=trunkener Begeisterung

heißt Dithyrambus.



Das gesellige Lied heißt Dithyrambe, wenn Empfindung und Ausdruck

(in bezug auf gesellige Freude, Wein und Liebe &c.) höheren

Schwung, eine gleichsam trunken=schwärmerische, poetische Erregung

annehmen.



Die Dithyrambe atmet stürmische Begeisterung, überströmendes Wonnegefühl

und liebt auch in der Form eine an Ungebundenheit grenzende Freiheit.

Zuweilen wird statt Wein der Gott des Weines Bacchus (oder Dionysos, dem

überhaupt die ersten Dithyramben galten und von dem ─ dem zweimal

gebornen ─ sie ihren Namen haben) besungen, so daß die Dithyrambe eigentlich

eine dem Bacchus gewidmete Hymne wäre. Die Dithyrambe ist noch feuriger,

als die Hymne, wie wiederum diese mehr Schwung hat als die Ode. Jm

Gegensatz zur Hymne ist es eben die irdische Wonne, welche in der Dithyrambe

den Dichter begeistert, ja fast trunken macht, obwohl ihr Stoff nicht ausschließlich

das Zechen, Trinken und irdischen Genuß zu preisen braucht. Die bekannteste

Dithyrambe ist Schillers „Lied an die Freude“ (Freude, schöner Götterfunken

&c.), sowie J. H. Voß' Dithyrambus (Wenn des Kapweins Glut im

Krystall mir flammt). Außer einigen Liedern, welche den Übergang vom Lied

zum Dithyrambus bilden, sind bei Rückert eigentliche Dithyramben in den

östlichen Rosen zu finden. Dithyrambisch ist z. B. sein „Lebensgnüge“. Dithyrambisch,

jedoch mit mehr odenmäßigem Jnhalt, sind ferner von ihm: Zum

Empfang der rückkehrenden Preußen, Adler und Lerche &c. Dithyramben liefert

Schmidt-Cabanis in „Wechselnde Lichter“, z. B. Ein lustig Totentänzlein S. 106 &c.



Beispiele der Dithyrambe.



Am ersten Maimorgen, von M. Claudius.



Heute will ich fröhlich fröhlich sein,

Keine Weis' und keine Sitte hören;

Will mich wälzen, und vor Freude schrein,

Und der König soll mir das nicht wehren.


Denn er kommt mit seiner Freuden Schar

Heute aus der Morgenröte Hallen,

Einen Blumenkranz um Brust und Haar

Und auf seiner Schulter Nachtigallen.


Und sein Antlitz ist ihm rot und weiß,

Und er träuft von Tau und Duft und Segen ─

Ha, mein Thyrsus sei ein Knospenreis,

Und so tauml' ich meinem Freund entgegen.
|#f0168 : 146|



Dithyrambe, von Schiller.



Nimmer, das glaubt mir, erscheinen die Götter,

Nimmer allein.

Kaum daß ich Bacchus, den lustigen, habe,

Kommt auch schon Amor, der lächelnde Knabe,

Phöbus, der herrliche, findet sich ein.

Sie nahen, sie kommen, die Himmlischen alle,

Mit Göttern erfüllt sich die irdische Halle.


Sagt, wie bewirt' ich, der Erdegeborne,

Himmlischen Chor?

Schenket mir euer unsterbliches Leben,

Götter! Was kann euch der Sterbliche geben?

Hebet zu eurem Olymp mich empor!

Die Freude, sie wohnt nur in Jupiters Saale;

O füllet mit Nektar, o reicht mir die Schale!


Reich' ihm die Schale! Schenke dem Dichter,

Hebe, nur ein!

Netz' ihm die Augen mit himmlischem Taue,

Daß er den Styx, den verhaßten, nicht schaue,

Einer der Unsern sich dünke zu sein.

Sie rauschet, sie perlet, die himmlische Quelle;

Der Busen wird ruhig, das Auge wird helle.


Litteratur der Dithyrambe.



Besonders reich an Dithyramben waren die Griechen. Die beiden horazischen

Oden II. 19 und III. 25 werden zwar als Nachbildungen griechischer Dithyramben

angesehen; aber sie haben weder die Ungebundenheit des Versmaßes

derselben, noch deren begeisterten Schwung. Außer den Fragmenten bei Bergk

Poetae lyrici graeci P. III
ist besonders Eurip. Bacch. 64─165 als

eine annähernde Dithyrambe zu vergleichen. Horaz bezeichnet Od. 4. 2 die

Pindarschen Dithyramben durch folgende 3 Züge: per audaces nova Dithyrambos

verba devolvit numerisque fertur Lege solutis
.



Bei uns nannte zuerst Willamov seine 1763 erschienenen lyrischen Gedichte

wegen der in ihnen herrschenden Begeisterung Dithyramben. ─ Klopstock wählte

für sein Odengebäude Wingolf den dithyrambischen Ton, den er jedoch in der

Umarbeitung alterierte. Dithyramben finden wir bei den Stürmern und Drängern,

z. B. Maler Müller; ferner bei Schiller, Goethe (Wanderers Sturmlied),

Voß, Kopisch, Kretschmann, Schubart, Tieck, sowie bei Rückert, Scheffel,

Hertz, H. Heine, Bodenstedt, Müller v. d. Werra u. a.



§ 75. Elegie.



1. Die Elegie ist eine Art höchstbegeisterten elegischen Liedes (§ 67),

ein Gedicht, welches in gehobeneren Gefühlen und im höheren Geistesfluge

als das elegische Lied einherschreitet, dabei auch dem sinnenden

Verweilen, dem betrachtenden, reflektierenden Beschauen Raum gestattet.

|#f0169 : 147|



2. Bei den Griechen war der Elegos eine besondere Art ihrer

sog. Threnoi (θρῆνος).



Aus dem griechischen Elegos (== Klagelied, Trauerlied) wurde die

Elegie und das Elegeion, d. i. jedes in Distichen verfaßte Gedicht.



3. Das Versmaß der Elegie war das Distichon. ─ Bei unserer

Elegie ist es nicht absolutes Erfordernis.



1. Die deutsche Elegie charakterisiert neben sinnendem Verweilen hochflutendes

Schmerz- oder Wehmutsgefühl, süße, tiefe, ungestillte Sehnsucht, schwärmerischer

Tiefsinn der Liebe, schmelzende Klage. Jede Elegie verlangt ein episches, der

äußeren Wirklichkeit entlehntes Objekt, das der begeisterte Dichter mit seiner

subjektiven Empfindung durchdringt.



Jm allegorischen Sinne ist die Elegie eine Genie oder Nymphe genannt

worden (F. H. Jakobi), welche, das Gesicht in die Hand gelegt, voll Rührung

und sanfter Wehmut, nachdenkend, in Erinnerung verloren ruhig dasitzt. Ein

halb zerrissener Kranz in ihren Locken und ein welker Blumenstrauß auf ihrem

Schoße erinnern an entflohene Freudentage, an herben Verlust. Jn der Ferne

ist ein Grabmal zu sehen, von dem nur die obere Hälfte aus einem Cypressenwalde

hervorragt. Hinter diesem liegt ein Hügel voll Rosenknospen und

Morgenrot.



Der Ton der Elegie ist so verschieden, als auch der Anlaß und die Art

der Trauer verschiedene sind; anders klagt die Jungfrau, die ihren Weltschmerz

nicht entdecken will, anders der Freund, der den früh geschiedenen Genossen

seiner Jugend betrauert u. s. w.



2. Eine naive Etymologie leitet das Wort Elegie von ἔ ἔ λέγειν ==

weh weh rufen ab. Das ist jedoch nicht stichhaltig; eher wäre an eine

Verwandtschaft mit ὀλολύζω == klagen, wimmern, namentlich zu den Göttern

empor, und ἀλαλάζω == ein Kriegsgeschrei erheben, zu denken. Beachtenswert

ist, daß in Vorderasien, wo Flötenspiel zu Hause war, elegn das Rohr,

(vgl. Plin. 16. 36. 66) die Flöte, geheißen haben soll. Diese war nämlich

das begleitende Jnstrument der alten griechischen Elegie, wie ja auch der verwandten,

späteren römischen Nänien.



Die charakteristische Versart der Elegie war nach Wilh. Wackernagel der

Pentameter, vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt,

vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung von Elegos

(ἔλεγος) ist Elegeion (ἐλεγεῖον), das vielleicht ursprünglich nur der Name

des Pentameters war, dann aber jedenfalls der aus Hexameter und Pentameter

zusammengesetzten Strophe, also des späteren sogenannten Distichons. Die

neue Dichtungsart, die Elegie (d. i. das im Elegeion abgefaßte Gedicht), teilte

mit dem alten Elegos die Anlehnung an die epische Wirklichkeit; sie sprach auch

nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem Elegos den Gebrauch

des Distichons samt der mit dem Gesange verbundenen Flötenbegleitung. Alles

dies war Anlaß, jene von Elegos gebildete Ableitung Elegeion (ἐλεγεῖον) nun

in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es ward nun eben jedes episch=lyrische

Gedicht in der Form des Distichons Elegie, Elegeia (ἐλεγεία) genannt (entweder |#f0170 : 148|



als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als sing. fem. ἡ ἐλεγεία). Beispielsweise

nannte man die Kriegslieder des Tyrtäos Elegieen. Auch Philetas und Kallimachos

nannten ihre nicht klagenden Gedichte in Distichen Elegieen. Somit

finden wir auch in den Benennungen eine Rückbeziehung auf die Epik: in der

älteren, ἔπη, auf die reine eigentliche, in der späteren Elegie (ἐλεγεία) auf

die lyrisch gefärbte, den Elegos (ἔλεγος).



3. Es ist wohl nicht zufällig, daß die Griechen, von deren eigentlichen

Elegieen wir nur noch Fragmente besitzen, zu denselben sich des Distichons

bedienten. Auf dem rollenden Rücken des Daktylus strebte der mehr epische

Hexameter in's Unendliche, während ihm der wehmütige, stockende, mehr

lyrische Pentameter seinen Halt gab, ihn zur Einkehr in sich selbst veranlassend.

Der meist epische Vordersatz des Hexameters fand seine Ruhe im meist

lyrischen Nachsatz des Pentameters. Die metrische Distichen-Form des Elegos

ist auch auf die deutsche Elegie übergegangen. Jn unserer Zeit ist sie jedoch

kein wesentliches, strenges Erfordernis mehr, ja, sie ist infolge des häufig angewandten

zierdevollen Reims nicht einmal wünschenswert. Wir wählen jede

Strophenform, z. B. die Kanzone (Schlegel in Totenopfer; Zedlitz, Totenkränze;

Max Waldau &c.). Wackernagel empfiehlt die Terzine, die man bekanntlich

bei erzählenden Gedichten beliebte. Opitz wandte den Alexandriner an, ebenso

Flemming u. a.; auch Geibel (Welt und Einsamkeit). Rückert bediente sich

häufig des Sonetts (vgl. Agnes' Totenfeier; Rosen auf das Grab einer edlen

Frau), ebenso Platen &c.



Beispiele und Litteratur der Elegie.



Die elegischen Gesänge eines Tyrtäos, Solon, Theognis &c. preisen den

Tod für's Vaterland und können als politisch=patriotische Elegieen bezeichnet

werden.



Mimnermos, der Stifter der zärtlichen, sanftklingenden Elegie, trauert in

erotischen Weisen um seine geliebte Nanno.



Von Simonides an, der das Distichon zu Grabschriften und Totenepigrammen

benutzte, hat man die ganze Gattung des Silbenmaßes Elegie

genannt. Die erotische Elegie haben bei den Römern Catull, Tibull, Properz

und Ovid gepflegt. Jhre Elegien haben bereits den Charakter der antiken

Elegie abgestreift und sind nur Klagelieder. Goethe in seinen römischen, nach

griechisch=römischen Mustern gebauten Elegien setzte in den Geist des Properz

und des Tibull ein. Goethes Elegien haben etwas veränderten Jnhalt, insofern

sich in ihnen nicht selten heiterer Lebens- und Kunstgenuß auf dem

Hintergrunde einer untergegangenen gewaltigen Welt ausspricht. Er näherte

sich dadurch der antiken Elegie, die ja auch das beunruhigte Gemüt zu erheitern

strebte. (Vgl. Goethes Elegie Euphrosyne; ferner die anders gestalteten römischen

Elegieen, der neue Pausias, Amyntas, und Alexis und Dora.) Aus Kleists

Elegie „Sehnsucht nach Ruhe“ spricht seine Schwermut, die ihn von dem Punkt

an befiel, als er gezwungenermaßen in's Militär eintrat. ─ Klopstocks Elegie |#f0171 : 149|



„An Ebert“ bekundet seine Wehmut, die der Gedanke an ein mögliches Scheiden

veranlaßt. Einst in stiller Nacht erwog Klopstock das Gefühl eines Menschen,

der alle seine Freunde verloren. Er sah plötzlich seine engern Freunde, von

denen keiner gestorben war, wie aus den Gräbern erstandene Tote an sich

vorüberziehen. Jn der traulichen Gesellschaft Eberts erinnert er sich dieses

trüben Gedankens, die Wehmut entpreßt ihm Thränen, er weint sich aus, erzählt

dem Freunde seine Ahndung und spricht seine Anhänglichkeit und Liebe

aus in der reizenden Elegie, die er also schließt:



Leidender, ewiger Geist

Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde,

Das nur rufe zurück!

O ihr Gräber der Toten! ihr Gräber meiner Entschlafnen!

Warum liegt ihr zerstreut?

Warum lieget ihr nicht in blühenden Thalen beisammen?

Oder in Hainen vereint?

Leitet den sterbenden Greis! Jch will mit wankendem Fuße

Gehn, auf jegliches Grab

Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume

Für die Enkel erziehn,

Oft in der Nacht auf biegsamem Wipfel die himmlische Bildung

Meiner Unsterblichen sehn,

Zitternd gen Himmel erheben mein Haupt, und weinen, und sterben!

Senket den Toten dann ein

Bei dem Grabe, bei dem er starb! Nimm dann, o Verwesung!

Meine Thränen, und mich! ...

Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern!

Wie die Ewigkeit ernst,

Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele

Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!



Jn der Elegie „Die tote Clarissa“ stellt sich Klopstock Clarissa (die Heldin

des Richardsonschen Romans) so lebhaft vor, daß er sie da, wo ihr Ende

erzählt wird, mit rosigen Wangen sieht u. s. w. (Vgl. die Anmerkung in der

Göschenschen Ausg. 1876. S. 69.)



Wir bieten diese Elegie als mustergültige Probe der Elegie:



Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest,

Wert, in dieser Beschattung nicht zu wachsen,

Wert, schnell wegzublühen, der Blumen Edens

Beßre Gespielin!(Soll heißen: Gespielin der Engel solltest du sein.)


Lüfte, wie diese, so die Erd' umatmen,

Sind, die leiseren selbst, dir rauhe Weste.

Doch ein Sturmwind wird (o er kömmt! entflieh du,

Eh' er daher rauscht),


Grausam, indem du nun am hellsten glänzest,

Dich hinstürzen! allein, auch hingestürzet,

Wirst du schön sein, werden wir dich bewundern,

Aber durch Thränen!
|#f0172 : 150|



Reizend noch stets, noch immer liebenswürdig,

Lag Clarissa, da sie uns weggeblüht war,

Und noch stille Röte die hingesunkne

Wange bedeckte.


Freudiger war entronnen ihre Seele,

War zu Seelen gekommen, welch' ihr glichen,

Schönen, ihr verwandten, geliebten Seelen,

Die sie empfingen,


Daß in dem Himmel sanft die liedervollen,

Frohen Hügel umher zugleich ertönten:

Ruhe dir, und Kronen des Siegs, o Seele,

Weil du so schön warst!


So triumphierten, die es würdig waren.

Komm, und laß wie ein Fest die Stund' uns, Cidli,

Da sie fliehend uns ihr erhabnes Bild ließ,

Einsamer feiren!


Sammle Cypressen, daß des Trauerlaubes

Kränz' ich winde, du dann auf diese Kränze

Mitgeweinte Thränen zur ernsten Feier

Schwesterlich weinest!



Jn der Elegie „An den Frieden“ drückt Ramler mit kräftigem, ungekünsteltem

Ausdruck den Wunsch nach Frieden aus. Wir hören die vom

Kriege geängstete Menschheit in Not und Elend rufen:



Mit unsern Rossen fährt er Donnerwagen,

Mit unsern Sicheln mäht er Menschen ab;

Den Vater hat er jüngst, er hat den Mann erschlagen,

Nun fordert er den Knaben ab.


Erbarme dich des langen Jammers! rette

Von deinem Volk den armen Überrest!

Bind' an der Hölle Thor mit siebenfacher Kette

Auf ewig den Verderber fest.



Aus der Elegie „Bei dem Begräbnis eines Kindes“ von Claudius spricht

christliche Resignation, die den Schmerz zu verklären vermag. Sie schließt:



Schlaf wohl denn, bis die Stimme ruft!

Wir gönnen dir dein Glück,

Und gehen heim von deiner Gruft

Und lassen dich zurück.



Jn engem Rahmen sind in Höltys „Elegie auf ein Landmädchen“ viele

treffende Bilder vereint und der Gegensatz städtischer Eitelkeit und ländlicher

Einfalt herrlich hervorgehoben. Die 3. Strophe lautet:



Wie ein Engel stand im Schäferkleide

Sie vor ihrer kleinen Hüttenthür;

Wiesenblumen waren ihr Geschmeide,

Und ein Veilchen ihres Busens Zier.

Jhre Fächer waren Zephyrs Flügel,

Und der Morgenhain ihr Putzgemach;

Diese Silberquellen ihre Spiegel,

Jhre Schminke dieser Bach.
|#f0173 : 151|



Matthisson, der ähnliche Elegien schrieb (vgl. Elegie in den Ruinen

geschrieben), lehnt sich an eine landschaftliche Wirklichkeit an, in die er den

Leser nicht einzuführen vermag; er hat ungesunde Affektation und Sentimentalität,

die man bei dem naturwahren innigen Hölty nicht findet.



A. W. Schlegel beginnt in seiner Elegie „Rom“ mit Gründung der

Stadt, um nach lyrisch epischer Ausführung der Elegie einen an Frau v. Staël

gerichteten rein lyrischen Abschluß zu geben.



Ergreifend wirkt die Übersetzung Gotters einer auf einem Kirchhofe geschriebenen

Elegie des britischen Pindars Thomas Gray († 1771).



Eine der besten Elegien ist Schillers Spaziergang, der ursprünglich auch

Elegie benannt war. Eine Landschaft ist's, die der Dichter durchwandert und

der er historischen Charakter in den einzelnen Bildern verleiht. Die Beschreibung

der Gegend wird von lyrischen Betrachtungen durchzogen; der Wechsel

der Naturscenen erscheint nur als Abbild der sich immer mehr von der Natur

entfremdenden Menschheitsgeschichte, sie gipfelt in der Überzeugung, daß die

Menschheit nur in der Rückkehr zur unveränderlichen Natur ihr Heil finden

könne. Die lyrische Betrachtung allein hätte für eine Elegie genügt; um so

gedrungener und vollendeter ist sie durch den auf Natur und Geschichte gebauten

Parallelismus, um so mehr bietet sie dem im Präsens sprechenden Dichter

Gelegenheit zur Entfaltung einer durch und durch gemütentsprossenen Lyrik.

(Auch Schillers Siegesfest, Kassandra, Die Götter Griechenlands, Sänger der

Vorwelt, Pompeji und Herkulanum, sowie Das eleusische Fest sind wohl zu

beachten.) Erwähnenswert sind von den deutschen Elegiendichtern außer den

genannten noch: Opitz. Haller (Auf den Tod seiner Gattin). Zachariä (Die

Nacht). Denis (Abschied von der sichtbaren Welt). Pfeffel (Auf Sunims Grab).

Jakobi (Die Linde auf dem Kirchhofe). Salis (Mitleid). Herder (Des Einsamen

Klage). Bürger (Bei dem Grabe meines guten Großvaters Jacob

Philipp Bauers). Stolberg (Der Abend). Voß (Besorgnis). Tiedge (Elegie auf

dem Schlachtfelde von Kunersdorf). Kosegarten (Nachtgesang). Novalis (Sehnsucht

nach dem Tod). Körner (Die Eichen). Mahlmann (Lied des Trostes).

Sonnenberg (Die Grabesblumen auf Jdas Hügel). Uhland (An den Tod).

Chamisso (Schloß Boncourt). Hebel (Auf einem Grabe). Miller (Klagelied

eines Bauern). Tieck (Lied von der Einsamkeit). Ernst Schulze. Hölderlin

(Der Wanderer). Mörike (Die schöne Buche). Nic. Lenau (Natur und Geschichte

werden von ihm in originellen, ergreifenden, bilderreichen, durch Zartheit und

Jnnigkeit der Empfindung, wie durch düstere Wehmut und Melancholie ausgezeichneten

Elegien besungen). Seidl (König Erichs Glaube). Foglar (Zypressen,

Strahlen und Schatten). Emil Rittershaus. Zelle. Freiligrath (Die Bilderbibel).

Kinkel. Alfred Meißner. Scherer. V. v. Strauß. Karl Beck. Th. Storm

(Abseits). Dingelstedt (Am Grab Chamissos). H. Lingg. Minckwitz (Elegie an

Carus 1844). Betty Paoli. Anastasius Grüns Schutt (Eine Sammlung bilderreicher

Elegien, mit dem Grundgedanken, es werde aus Europas Zerstörung eine

bessere Welt erblühen. Die vier Teile des Gedichtes sind: Der Thurm am

Strande, eine Fensterscheibe, Cincinnatus, fünf Ostern). Karl Lehmann u. a.

|#f0174 : 152|



§ 76. Nänie.



1. Eine kleine Elegie, die sogar etwas Unbedeutendes, Kleinliches

zum Gegenstand haben kann (indem sie z. B. ein Tierchen beklagt),

heißt Nänie.



2. Sonst versteht man darunter noch Lobgedichte zu Ehren Verstorbener,

sowie kleine Klagelieder, kleine Elegien.



1. Die Nänien (Neniae, Naeniae) entsprachen in der römischen Litteratur

den Threnoi (θρῆνοι) der Griechen nur in Hinsicht auf die Veranlassung. Sie

waren zuweilen Klagelieder. So nannten die alten Römer besonders das Klagegeheul

gedungener Weiber bei Begräbnissen Nänia. Dieses war gewöhnlich ganz

sinnlos und ohne Zusammenhang. Auch ein kindisches Lied oder ein Wiegengesang

wurde von ihnen Nänie genannt.



2. Jn der Regel aber waren die Nänien Lieder zum Ruhm der Gestorbenen.

Man sang sie bei Gastmählern und Leichenfeierlichkeiten, und begleitete sie mit

der Flöte. (Vgl. Niebuhr, röm. Geschichte S. 146. 1853.)



Ähnliche Loblieder hatten auch die Hebräer (z. B. „das Lied, das David

redete vor dem Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller

seiner Feinde“, sowie 1. Chron. 17., ferner Richter 5., ein Lied der Debora

nach dem Siege über Sissera).



Neben diesen Lobgesängen hatten die Hebräer auch ihre Threnen, z. B.

das Klagelied Davids auf Saul und Jonathan. Die Klagelieder Jeremias

mit ihrem politischen Jnhalt (solchen hatten auch die ältesten griechischen Elegien)

und mit ihrem Gefühls-Ausdruck der Wehmut, des Schmerzes, die in der

griechischen und lateinischen Übersetzung Threnos (θρῆνος) genannt werden,

sind für diese Bezeichnung nicht episch genug.



Bei den Deutschen ist Nänie ein kleines Klagelied. Ramler hat Nänien

auf den Tod einer Wachtel sowie auf den einer Nachtigall gedichtet. Schiller

setzt nicht selten ohne weiteres Nenie für Elegie.



Beispiel der Nänie:



Nenie von Schiller.



Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget!

Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.

Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,

Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.

Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,

Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.

Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,

Wenn er, am skäischen Thor fallend, sein Schicksal erfüllt.

Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,

Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.

Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,

Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.

Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,

Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
|#f0175 : 153|



§ 77. Notiz über die Lyrik aller Litteraturen.



Sobald die epische Poesie eines Volks eine gewisse Höhe erreicht

hat, zeigt sich bei jedem Volke die Lyrik. Jst diese Lyrik Volkspoesie,

so ist sie zugleich ein Bild des Volkscharakters, der Gefühls- und Anschauungskreise

eines bestimmten Volkes. Jst sie Kunstlyrik, so ist sie

ein Bild des bestimmten Dichters. Es ist jedenfalls lohnend, einen

Blick auf die lyrischen Leistungen der fremden Litteraturen zu werfen

und einzelne Repräsentanten herauszuheben.



a. Die Griechen. Die Griechen mit ihrem schönen Himmel und ihrer

herrlichen Natur zeichneten sich frühzeitig durch ihren Sinn für's Schöne und

durch ihre lebhafte Phantasie aus. Jn der Epik leisteten sie das Höchste. Aber

auch in der Lyrik wurden sie Vorbilder.



Von den Hymnen des Orpheus (angeblich um 1250? wahrscheinlich eine

späte Personifikation) behauptete man hyperbolisch, daß die Bäume die Wipfel

neigten, und die wilden Tiere des Waldes lauschten, wenn sie gesungen wurden.



Die weltliche Lyrik blühte besonders, als die Monarchien allmählich in

Republiken sich verwandelten. Freundschaft, Vaterland boten den Stoff für die

Lyrik. Die hervorragendsten Dichter dieser Zeit sind:



Arion, welcher 624 v. Chr. der Schöpfer des Dithyrambus war und

auf der Jnsel Lesbos lebte.



Alkäus (ebenfalls von Lesbos, wo die lyrische Poesie blühte), etwas jünger

als der vorige, wurde der Begründer der sog. alkäischen Strophe in seinen

kräftigen Oden und Hymnen.



Sappho, wegen ihrer Gesänge die lesbische Nachtigall und die zehnte Muse

genannt, ist eine Zeitgenossin des Alkäos.



Erinna, Zeitgenossin und Landsmännin der vorigen, dichtete die herrliche,

uns erhaltene Hymne: „An die Stärke.“



Tyrtäos (Tyrtaios) aus Milet in Kleinasien, lebte in Athen während des

messenischen Krieges. Durch seine Kriegsgesänge (Elegien genannt, von denen

drei erhalten sind) feuerte er die Spartaner zu Kampfesmut an.



Die 2te Blüteperiode der griechischen Lyrik war von Solons Gesetzgebung

bis zur Thronbesteigung Alexanders des Großen (594─336 v. Chr.). Besonders

zu erwähnen sind: Jbykos (durch Schillers „Kraniche des Jbykus“ bei uns

populär geworden. Er hielt sich meist in Samos am Hof des Polykrates auf;

von seinen Gedichten sind nur wenige Fragmente erhalten).



Anakreon (530 v. Chr., hielt sich abwechselnd bei Polykrates und bei

Hipparch in Athen auf. Seine Hymnen und Elegien sind verloren gegangen).



Simonides aus Keos (559─469 v. Chr. dichtete Siegeslieder, Dithyramben

&c.).



Pindar (521─438 v. Chr., aus Theben, der bedeutendste griechische

Lyriker. Seine 45 Siegesgesänge zur Verherrlichung der Sieger in den griechischen

Nationalspielen gaben ihm größte Berühmtheit).

|#f0176 : 154|



b. Die Römer. Jhre Begeisterung für griechische Kunst und Wissenschaft

trieb sie zu eigenem Schaffen an. Wenn ihre Pflege der Lyrik auch

hinter den griechischen Leistungen zurückstand, so waren die lyrischen Dichter

immerhin bedeutend genug.



Horaz (von Ramler, Binder, Kayser u. a. übersetzt) schrieb seine Lyriken

meist in der strengen Odenform. Sein Zeitgenosse Tibull schrieb vier Bücher

Elegien, die von J. H. Voß übersetzt sind.



Propertius, 9 Jahre jünger als der vorhergehende, dichtete ebenfalls Elegien.



Catull (gest. 54 v. Chr.) schrieb 2 große Hochzeitslieder u. a.



Publius Ovidius Naso, gewöhnlich Ovid genannt (geb. 43 v. Chr.),

starb 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomi (jetzt Anadol=köi bei Küstendsche

am schwarzen Meer). Seine „Klagelieder“ atmen tiefen Schmerz über die Verbannung.

Er schrieb zuerst „Heroiden“ (21 an der Zahl) u. s. w.



c. Die Hebräer. Die Religiosität ist das Grundgefühl der Lyrik dieses

theokratischen, unter spezieller Leitung Jehovahs stehenden Volkes. Den ältesten

Siegesgesang stimmte Moses an nach dem Durchgang durchs rote Meer. Samuel

errichtete Prophetenschulen, in denen die Lyrik gepflegt wurde. David (1055

bis 1015 v. Chr.) zeigte sich in seinen Psalmen als bedeutender Lyriker.

Salomo (1015─975) hinterließ in dem zur Vermählung seiner Tochter mit

dem ägyptischen Könige Hophra gedichteten „Hohen Liede“ eines der wertvollsten

lyrischen Gedichte. Auch bei den Propheten findet sich viel Lyrisches z. B.

Jeremias (Klagelieder), Jesaias (Babels Fall), Ezechiel (Fall des Königs von

Tyrus), Habakuk (Klaggesang) u. s. w. Vgl. auch das Buch Hiob u. a.



d. Die Jtaliener. Den weichen Charakter der vokalreichen volltönenden

Sprache der Jtaliener trägt auch ihre gefühlswarme, für den Gesang prädestinierte

Lyrik. Der bedeutendste Lyriker der Jtaliener war: Petrarka (geb.

1304 n. Chr.). Seiner lateinischen Gedichte wegen wurde er zu Rom als

Dichter gekrönt. Seine Kanzonen und Sonette, die er seiner Laura widmete,

sind mustergültig. (Er wurde von K. Forster in's Deutsche übersetzt, auch von

Joh. Gotthard von Reinhold.) Noch sind zu nennen Pietro Bembo († 1547),

Alamanni († 1556), Giovanni della Casa († 1556), Torquato Tasso († 1595),

Filicaja († 1707), Carlo Gozzi († 1806), Giuseppi Giusti († 1880), der

italienische Beranger, Goffredo Manelli, der Theodor Körner Jtaliens während

des Krieges 1859, und besonders Giac. Leopardi († 1837) und Alessandro

Manzoni († 1873), welch' beide man als die Vorbilder der beiden Hauptrichtungen

bezeichnen kann, die sich in jüngster Zeit in Jtalien geltend gemacht

haben.



e. Die Spanier und Portugiesen. Der Jahrhunderte währende

Kampf des Christentums in Spanien mit dem Jslam entfaltete die religiöse

Lyrik, die sich durch Prachtliebe und Jnnigkeit des Gefühls auszeichnet. Lope

de Vega
(† 1635 n. Chr. mit dem Beinamen „das Wunder der Natur“),

dichtete wunderbar innige geistliche Lieder. Einige sind von Diepenbrock im

„geistlichen Blumenstrauße“ deutsch übersetzt. Von Lyrikern unseres Jahrhunderts

sind zu nennen: Lista y Aragon, José Joaquin de Mora, Martinez |#f0177 : 155|



de la Rosa, der sich die klassische Schule der Franzosen zum Vorbilde nahm,

Ventura de la Vega u. a.



Jm benachbarten Portugal erwarb sich Luiz de Camoëns (1524─79)

für alle Zeiten den Ruhm des größten Lyrikers seines Landes.



f. Die Franzosen. Der Franzose mit seinem leichten, espritvollen Konversationstone

kennt die Tiefe unseres Gefühles nicht. Daher ist seine Lyrik

mehr leicht und geistreich, als tief und innig. Bei den Provençalen bildete

sich allerdings im Mittelalter eine Poesie aus, die Religion und Liebe, sowie

Abenteuer zum Gegenstande hatte: die sogenannte provençalische, deren Dichter

Troubadours genannt wurden (von trobar oder trouver, ital. trovare, erfinden,

ersinnen, erdichten). Die Zahl der Troubadours war so groß, als die

unserer Minnesinger, welche durch sie manche Anregung erhielten. Von den

späteren hervorragenden Dichtern sind zu nennen: Voltaire († 1778) und der

größte klassische Dichter des 18. Jahrhunderts Rousseau († 1741), sowie aus

unserem Jahrhundert: Lamartine († 1869), der 1848 eine Zeit lang Präsident

der Republik war. Er begründete seit 1820 durch seine Méditations

poétiques
eine neue Zeit der höheren Lyrik, ebenso durch seine Harmonies

poétiques et réligieuses
. (Seine Werke sind von Gust. Schwab, Demmler und

Herwegh deutsch übersetzt.) Jhm folgte die Periode des Romanticismus mit Viktor

Hugo und Alfred de Vigny. Später war beliebt: Beranger (geb. 1780),

ein Volksdichter, der bedeutendste Chansonnier, in dessen Chansons sich so recht

der Charakter der Franzosen ausspricht, was schon deren Einteilung in „liederliche,

politische und rein menschliche“ ersehen läßt. Jhm schlossen sich an

Debraux, Auguste Vacquerie, Barbier, Quinet, A. de Musset, die schwärmerische,

dabei zarte Frau Desbordes-Vallmore u. a.



Als Elegiker haben sich bei den Franzosen neben Lamartine ausgezeichnet:

Deshoulières, La Lure, Victor Hugo u. a.



g. Die Briten. Die Lyrik der Briten ist der deutschen verwandt.

Sie ist tief, ernst, wenn auch die Form weniger klangvoll und anziehend ist,

als bei den romanischen Völkern. Jn früherer Zeit waren die Minstrels die

Repräsentanten der Lyrik. Sie trugen mit Harfenbegleitung die englischen

Nationallieder vor und wahrten den Charakter der altenglischen Volkspoesie

gegen das eindringende Franzosentum (z. B. unter Wilhelm dem Eroberer,

der bekanntlich 1066 durch die Schlacht von Hastings den südlichen Teil Englands

unterwarf). Die Schöpfer der englischen Lyrik sind: Graf von Surrey

(1547), sowie Thomas Wyatt († 1542), Shakespeare (Dichter herrlicher

Sonette, † 1616).



Von den neueren Lyrikern sind zu nennen: Robert Burns († 1796),

ein schottischer Landmann, dessen Lieder erfrischend wirken, wie Bergluft. Walter

Scott (1771─1832). Lord Byron (1788─1824), wohl der bedeutendste

Lyriker Englands. Thomas Campbell (1777─1834). Thomas Moore († 1852,

ein gottbegnadeter Liederdichter. Seine „Irish melodies“ sind von Freiligrath

und Plönnies deutsch übersetzt). Zwei der jüngsten bedeutenden Lyriker sind

Algeron Charles Swinburne und Alfred Tennyson.

|#f0178 : 156|



Die bedeutendsten Elegiker der Briten sind: Gray, Lord Byron, Shelly,

Hammond, Beattie, Jermingham &c.



h. Die Czechen. Der Charakter der czechischen Lyrik ist Weichheit in

sanften Weisen, Sentimentalität, weshalb alle Lyriken in Moll-Weisen komponiert

sind. Reich an Volksliedern sind besonders die Slaven und Böhmen, deren

älteste Lyrik religiös war. Jhr ältestes, geistliches Lied (deutsch: „Herr, erbarme

dich unser“) wird heute noch in czechischen Kirchen Böhmens gesungen. Auch

weltliche Volkslieder haben sich aus früher Zeit erhalten, z. B. das von Goethe

übersetzte „Sträußchen“ (Kytice), das viel Ähnlichkeit mit Goethe's Romanze

hat. Wenzel I. trat als deutscher Minnesinger auf. Später erhielten sich

die hussitischen Kirchen- und Kriegslieder, deren Melodien zum Teil von Luther

benutzt sein sollen. Mit der Thronerhebung der Habsburger, besonders unter

Rudolf II., feierte die böhmische Litteratur ihr goldenes Zeitalter.



Zu erwähnen sind als Dichter: Der Bischof der Brüder Joh. Augusta

(† 1575. Seine religiösen Poesien enthalten 20 000 Verse). Lomnicky von

Budeck (geb. 1560, von Rudolf II. gekrönt und in den Adelstand erhoben).

Von den Neueren: Celakovsky († 1852 als Professor in Prag; in's Deutsche

übertragen von Wenzig). Johann Rolar († 1852. Neben slovakischen Volksliedern

besitzt die Litteratur von ihm als Hauptwerk: Slary dceva == Tochter

des Ruhmes: fünf Gesänge aus etwa 600 Sonetten bestehend. Analyse:

Der Dichter lernt an der Saale die Tochter der Slava [Ruhm] kennen und

liebt sie. Von ihr getrennt, erzählt er in Ungarn die Nachricht vom Tode

der Jungfrau. Auch aus dem Jenseits geben die Sonette Mitteilung, schildern

die Freude der Verklärten, die Qualen der Verdammten u. s. w.).



i. Die Serben. Die Volkslieder der Serben sind durch Herder, Goethe,

Grimm und besonders durch die Talvj (Pseud. von Ther. Albertine Luise

Robinson) deutsch übersetzt worden. Einer der hervorragendsten Kunstdichter

der Serben war der Vladika von Montenegro, Peter P. Nejkosch. Die ersten

Lyriker der Neuzeit sind: Jovanowitsch. Sundetschitsch, Nenadowitsch, Raditschewitsch

u. a.



k. Die Ungarn. Als hervorragende ungarische Lyriker sind zu nennen:

Johann Rimay († 1631), Graf Stefan Kohary († 1730), Nikolaus Zrinyi,

Benedikt Viray († 1830) und Michael Vörösmarty († 1835). Der bedeutendste

ungarische Lyriker der Gegenwart ist Petöfi (1823─49). Seine von

Kertbeny in's Deutsche übersetzten Schlachtenlieder begeisterten 1848─49 die

ungarische Jugend.



l. Die Russen. Jn der lyrischen Poesie zeichneten sich in Rußland

u. a. aus: Karamsin, Kapnist, Schukowski (Dichter der Nationalhymne „Gott

beschütze den Kaiser“), Basil. und Alex. Puschkin, Dolgoruki, Rosenheim,

Ogarew, die Gräfin Rostoptschin, Elis. Kulmann (welche deutsch, ital. und

russ. dichtete) u. a.



m. Die Neugriechen. Neben Alex. Ypsilanti und den Brüdern Sutsos,

die durch ihre Freiheitslieder bekannt wurden, sind besonders gefeiert Athanasios

Christopulos, Georgios Zalakostas († 1858) und Alexandros Zoïros.

|#f0179 : 157|



n. Nordische Völker. Die Poesie der nordischen Völker trägt den

germanischen Charakter des Ernsten, Großartigen, Überwältigenden. Die Dichter

Baggesen († 1826; er schrieb auch 2 Bände deutscher Gedichte), Steffens

(† 1845, ein Norweger), Munch, Bierregaard (Norweger), Öhlenschläger

(† 1850, Däne) und die Schweden Atterbom, Dahlgren, Nicander, Tegner

(† 1847) u. a. haben in ihren Litteraturen Unvergängliches geschaffen.



o. Jnder. Lyrische Dichtungen der alten Jnder finden sich in den

Vedas. Bedeutende Lyriker sind: Tschaura, Ghatakarpara, Bhartrihari, Amaru,

Kalidasa, sowie Jayadevas, der Verfasser des herrlichen Liebesidylls Gita=

Gowinda. Jn unserem Jahrhundert werden als hervorragende indische Lyriker

gerühmt: Mumin aus Delhi († 1852), Naçir († 1843), Atasch († 1847),

Mul-Chand, der Übersetzer des Schah-Nameh; endlich Mamnun, der beliebteste

indische Lyriker der Gegenwart u. a. m.



p. Perser. Zu den berühmtesten Lyrikern des 12. Jahrhunderts gehören:

der Odendichter Chakani, und Saadi. Dann begann mit Hafis die Blüte der

persischen Lyrik. (Man vgl. die deutschen Ausgaben: Daumers Hafis, 2. Ausg.

Hamburg 1846. Ferner: Duftkörner aus persischen Dichtern, gesammelt von

Hammer-Purgstall; endlich Rückerts Östliche Rosen &c.) Erwähnenswert sind:

Enweri, Nisami, Dschelaleddin-Rumi, Dschami u. a.



q. China. Als Denkmal der chinesischen Lyrik ist vor allem das von

Rückert in metrischem Deutsch nachgebildete Liederbuch Schi-King zu erwähnen.



r. Araber. Bei den Arabern ist besonders Abu Temmam (der Sammler

der von Fr. Rückert in's Deutsche übertragenen Hamasa) neben vielen andern

Lyrikern zu nennen, die der Leser zum Teil aus der erwähnten Rückertschen

Hamasa kennen lernen kann u. s. w. Vgl. auch von Rückert: Amrilkais &c.,

sowie Hariri &c.



s. Türken. Die beiden größten Lyriker der Türken waren Tedschati

(† 1508) und der unsterblich gepriesene Baki († 1600) u. s. w.



Anthologien und Hilfsmittel.



a. Für andere bedeutende Lyriker fremder Litteraturen, die hier begreiflicherweise

nicht genannt werden konnten, sowie für ausgewählte Proben verweisen

wir 1. auf Jolowiczs Polyglotte der orientalischen Poesie (Leipzig 1856), sowie

2. auf Scherrs Bildersaal der Weltlitteratur (Stuttg. 1848 und 1869).

Erstere Anthologie umfaßt Chinesen, Jnder, Hebräer, Araber, Perser, Syrer,

Türken, Tscherkessen, Afghanen, Armenier, Mongolen, Kalmücken, Turkomanen

Kurden, Yesiden, Javanesen, Malayen, Bugis, Makassaren und Madagassen

Scherr behandelt Jndien, China, Hebräer, Arabien, Persien, Türkei, Hellas,

Rom, die Troubadours, Jtalien, Spanien und Portugal, Frankreich, England,

Schottland, Jrland, Nordamerika, Deutschland, Niederland, Skandinavien, sowie

die Slavenländer: Böhmen, Serbien, Polen, Rußland nebst Ungarn und

Neugriechenland &c.

|#f0180 : 158|



Für Proben aus deutschen Lyrikern, die wir zum Teil nicht einmal erwähnen

konnten, machen wir auf folgende Auswahlen aufmerksam: W. Menzel,

Die Gesänge der Völker (Leipzig 1851). J. Schenkel, Deutsche Dichterhalle

(Mainz. 2 Aufl. 1856). Rud. Gottschall, Blütenkranz neuer deutscher Dichtung

(Breslau, 9. Aufl. 1878). E. Kneschke und M. Moltke, deutsche Lyriker

seit 1850 (Leipzi. 3. Aufl. 1873). Maxim. Bern, deutsche Lyrik seit Goethes

Tode (Leipzig). Gödeke, a. Elf Bücher deutscher Dichtung von Sebast. Brant

bis auf die Gegenwart (2 Bände. Leipzig 1849); b. Edelsteine aus den

neuesten Dichtern (Hannover 1851); c. Deutsche Dichtung im Mittelalter

(Hannover 1852. Neue Ausg. 1871) u. s. w.



Für ein beschauliches Betrachten einzelner hervorragender Lyriker dürfte

sich neben andern in dieser Poetik bereits genannten Hilfsmitteln besonders

auch die durch freundliche Detaillirung &c. sich auszeichnende, bereits in 5. Aufl.

erschienene Deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts von

Rud.
v. Gottschall empfehlen, die auch wir hie und da (z. B. Bd. I. § 18)

zu Rate ziehen konnten.

|#f0181 : E159|



Drittes Hauptstück.

Die didaktischen Dichtungen. ──────


§ 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen.



Wir unterscheiden 1. symbolische Didaktik, 2. Didaktik mit besonderer

Tendenz, 3. eigentliche Didaktik.



Das belehrende (instruktive), zugleich aber auch das erhebende, erbauende,

belebende Element der didaktischen Dichtungen kann vom Dichter auf eine dreifache

Weise eingeführt werden:



1. Er kann einen Gedanken, eine Jdee in einem Bilde versinnlichen.

Diese Art einer Jnstruktion im höheren Sinne dieses Wortes, in welchem wir

es nicht mit bloßem „Unterrichten“ verwechseln dürfen, kann man füglich als

symbolische Didaktik bezeichnen.



2. Jn einer anderen Art wirkt der didaktische Dichter dadurch, daß er

der Verkehrtheit oder Einfalt gegenüber Jronie, Spott, Satire, Humor u. s. w.

anwendet, indem er je nach seiner Gemütsart nicht offen bessern oder belehren,

vielmehr durch Feinheit des Witzes und Humors auf die rechte Bahn leiten will.



Dieses charakteristische Verfahren bedingt das Lehrgedicht mit besonderer

Tendenz.



3. Jn einem dritten Fall spricht der Dichter seine Gedanken, Jdeen,

Belehrungen als solche unverblümt aus, die, weil er Dichter ist, immerhin

poetisch=künstlerisch sein werden. Es entstehen auf diese Weise die eigentlichen

didaktischen Gedichte.



Somit haben wir drei Arten Lehrgedichte, welche (je nachdem sie einen

einzelnen Gedanken oder eine Reihe von belehrenden Jdeen aussprechen) entweder

kurze Sinngedichte, oder einfache didaktische Gedichte,

oder große Lehrgedichte
sein können. Nach diesen Gesichtspunkten ergiebt

sich die folgende Einteilung:

|#f0182 : 160|



[Beginn Spaltensatz]I. Symbolische Didaktik.

1. Fabel.

2. Parabel, Paramythie.

3. Sinnbild.

4. Allegorie.

a. Allegorie.

b. Rätsel.[Spaltenumbruch]

II. Didaktik mit besonderer

Tendenz.


1. Satire.

2. Travestie und Parodie.

3. Humoristische Dichtungen.[Spaltenumbruch]



III. Eigentliche Didaktik.

1. Jdeale Gedankenlyrik.

2. Kulturhistorisches Gedicht.



3. Epigramm.

a. Sinngedicht.

b. Gnome, Spruch.

4. Poetische Epistel,

Heroide.

5. Kurze lyrisch=didaktische

Formen.

6. Wirkliches Lehrgedicht.[Ende Spaltensatz]



I. Symbolische Didaktik.


§ 79. Fabel.



1. Eine kurze, einfache, erdichtete Erzählung, welche der Sprache

unfähige Geschöpfe, oder auch leblose Gegenstände sprechend und handelnd

einführt, um in belehrender Absicht dem Menschen sein eigenes

Bild vorzuhalten, oder einen Erfahrungssatz aus dem Gebiet der Sittlichkeit

zu versinnlichen, heißt Fabel (griech. αἶνος == Spruch ─ verwandt

mit aio? ─; lat. fabula von fari == sagen). Jhre Lehre (didaxis)

bezieht sich lediglich auf einfache moralische Wahrheiten, auf Verhaltungs=,

Klugheits- und praktische Lebensregeln, weniger auf tiefe Wahrheiten.





2. Die Fabel verlangt Einfachheit, Kürze, Kindlichkeit, und Beachtung

des Charakters ihres Objekts.



3. Sie ist gleich der Mythe eine der ältesten Gattungen der

Poesie. Der Vater der Fabel ist Äsop.



4. Jm Mittelalter hieß bei uns die Fabel auch Bîspël, von

bei und spël Rede, Erzählung (gleichsam παραμυθία).



5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.



6. Fröhlich brachte ein lyrisches Motiv in die Fabel.



7. Das deutsche Sprichwort ist teilweise das übriggebliebene

Epimythium (Lehre, Nutzanwendung) untergegangener Fabeln.



8. Die metrische Form ist vorzuziehen.



9. Das Einteilungsprinzip ist ein mannigfaches. Gewöhnlich

unterscheidet man ernste und humoristische Fabeln.



1. Lessing definiert den Begriff der Fabel folgendermaßen: „Wenn wir

einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen,

diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus

dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt

diese Erdichtung eine Fabel.“



Vischer sagt: „Die Fabel ist im besten Sinn ein Stück Bauernpoesie.

Die Bauernklugheit entnimmt aber praktische Sätze, Regeln des Lebensverstandes |#f0183 : 161|



aus dem verwandten Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der

Sinnlichkeit, der List der Tiere.“



Obwohl ihrer Form und ihrer Natur nach zu den epischen Dichtungen

gehörig, vereint die Fabel wie keine Dichtungsgattung die Zwecke und Teile der

didaktischen Poesie. Unter der symbolischen Hülle des tierischen Jnstinkts stellt sie

ihre Lehren als Handlungen der Tiere dar. Diese didaktische Tierfabel ist aus der

epischen Tiersage entstanden. Die epische Tiersage beschränkt sich aber lediglich auf

Tiere, welche ihre Orte wechseln können und durch ihre Art von Sprache und verständigem

Urteil zur Übertragung menschlicher Geschichten auf die Tierwelt anreizen.



Später gestattete man der Phantasie größeren Spielraum und führte neben

Tieren auch Pflanzen und leblose Gegenstände redend ein. Auf dem Standpunkt

heutiger Bildung dürfen anorganische und andere beliebige Gegenstände

der Natur die Stelle der Tierwelt vertreten. Es kann z. B. das Schilfrohr zur

Bezeichnung der Charakterlosigkeit dienen, die Eiche als Symbol der Kraft, der

Selbständigkeit u. s. w.



Menschen machen in der Fabel die geringste Wirkung, weil sich so leicht

die menschlichen Leidenschaften mit in's Spiel mischen und die naive Anschauung

wie die Überzeugung von der Wahrheit verhindern. Man würde auch immer

erst eine Charakteristik vorausschicken müssen, was bei Tieren mit ihrem bekannten

typischen Charakter und bestimmten Jnstinkt überflüssig ist, bei dem sogar die

Handlung den Schein einer Notwendigkeit trägt.



Die Erzählung in der Fabel ist nicht eigentliche Absicht, vielmehr ist die

Erzählung nur für Vermittlung einer Moral gegeben. Das was die Fabel

lehrt, heißt ihre Moral. Diese aus der Fabel zu schöpfende Moral (Lehre

oder Nutzanwendung) ist oft ihrer Erzählung angehängt. Jn diesem Fall heißt

sie Epimythium (ἐπιμύθιον == Nachwort), das im Latein regelmäßig eingeleitet

wird mit haec fabula docet. Jst die Lehre am Anfang ausgesprochen,

so heißt sie Promythium.



2. Anforderung. Die Fabel muß einfach, naturgemäß, kurz, anschaulich,

verständlich in Bildern und Sprache, kindlich im Tone sein, damit das

niedere Volk und die Kinderwelt, für welche diese didaktische Volksdichtung

geschrieben zu sein scheint, ihre Moral leicht zu erkennen vermögen. Das

redende oder handelnde Tier muß so gewählt und gezeichnet sein, daß der

Mensch in ihm seine eigenen guten und bösen Eigenschaften erkennt. Die Bestimmtheit

der Charaktere (z. B. die List des Fuchses, die Treue des Hundes,

die Trägheit des Esels u. s. f.) darf von dem Dichter nicht verändert werden.

Nur dadurch, daß z. B. der Esel ein Esel bleibt (also nicht etwa den Mut

des Löwen zeigt), bleibt die Fabel naiv, wirklich. Die Fabel will nicht als

Allegorie, sondern als Wirklichkeit aufgefaßt sein. Es sind deshalb nur Regeln

und Wahrheiten für das gewöhnliche Leben, welche in der Fabel ihren Ausdruck

finden, weil ja höhere Wahrheiten und tiefe erhabene Regungen des

Menschenherzens nicht auf die Tiere zu übertragen sind.



Die Poesie der Fabel besteht nach Götzinger darin, daß der Dichter in

eine Sache, die an und für sich nur dem Verstande einleuchten soll, poetisches |#f0184 : 162|



Leben bringt; daß seine Figuren also nicht bloß als personifizierte Abstrakta

auftreten, sondern eine lebendige, bestimmte Gestaltung gewonnen haben; daß

er unser Jnteresse nicht nur für den Sinn der Fabel erregt, sondern für die

Form derselben; daß also die Fabel uns nicht mehr als bloße Einkleidung

erscheint, sondern als selbständiges Werk, welches uns erfreut, auch wenn wir

gar nicht auf Sinn und Zweck desselben sehen.



3. Die Fabel (wie ja auch ihre für sittliche Lehren von höherer Bedeutung

geeignete Seitenart: die Parabel) entwickelte sich am frühesten bei den

Orientalen: den Jndern und den Juden, welche letztere die ältesten Fabeln

und Parabeln besaßen. (Z. B. Richter 9. 8─15, und 2. Sam. 12. 1─4.)



Die Griechen hatten nach dem Tierepos Batrachomyomachie (das

fälschlich dem Homer zugeschrieben wird) die kurze, präcise, die Absichtlichkeit

auf der Stirn tragende Fabel von Äsop um 600 v. Chr. (bearbeitet von

Babrios im 2. Jahrhundert v. Chr.) mit ihrer Nutzanwendung. Man nennt

diese äsopische Fabel die epigrammatische.



Die Lateiner, welche dem Äsop als dem Vater der Fabel nachdichteten,

besonders Phädrus, liebten ebenfalls den moralischen Anhang.



Dies war auch bei unsern Fabeln des Mittelalters der Fall, die den

Lateinern nachgedichtet sind. Unsere Fabel wurde bald redseliger, als bei den

Lateinern und den Griechen, und erhielt nach dem Latein eine angefügte Moral.



Wir hatten bereits einen um den Fuchs Reinecke gesammelten Tiersagenkreis,

ließen uns aber gern die äsopische Fabel gefallen. Man behandelte

und verdarb teilweise einheimische Tiersagen; d. h. man äsopisierte sie

ebenso, wie man äsopische Fabeln nationalisierte. So verschwand die epische

Tiersage aus der Poesie der Gebildeten und das dem Altertum entlehnte

Fremde, die didaktische äsopische Tierfabel, siegte. (Jm Fuchs Reinhart, wie

später in Rollenhagens Froschmäusler (1505), welch letzterer auf der

Batrachomyomachie aufgebaut war, wiederholte sich der Versuch, eine ganze Epopöe

didaktisch auszuführen, wobei trotzdem der symbolische Charakter (d. i. die Lehrabsicht)

fehlt. Reinecke Fuchs, der bis nach Altindien hinüber reicht, und den

Goethe in's Hochdeutsche übertrug, war anfangs auch bloß eine harmlose Schilderung

des Tierlebens, und der Erzählung wegen da. Erst später wurde er absichtlich

zum Sinnbilde des Menschenlebens gemacht, das ja dem Tierleben in

so vielen Beziehungen so ähnlich ist, wurde er episch=didaktisch.)



4. Die didaktisch gemeinten Fabeln und Erzählungen bezeichnete man im

Mittelalter durch den gemeinschaftlichen mittelhochdeutschen Namen „Bispel“,

woraus unser Wort Beispiel wurde. (Nicht verwandt mit spel ist das Spiel,

wohl aber in Kirchspiel. Grundwort lat. (s)pellare, z. B. ap ─ anreden,

com ─ bereden; frz. épeler, engl. spell, wovon go(d)spel == Gotteswort,

Evangelium, demnach bîspël == Nebenerzählung : Parallele.)



5. Lessing bildet in der Geschichte der Fabel eine Epoche.



Er war es, der gegen die allmählich sich einbürgernde Breite und Geschwätzigkeit

der deutschen Fabel reformatorisch vorging und die äsopische Fabel

als Muster hinstellte. Nach seinem Vorgang beschränkte man sich bei uns in |#f0185 : 163|



den Fabeln auf ein Ereignis und befleißigte sich der äsopischen Kürze. Jn

seinen eigenen Fabeln vom Jahre 1759 sucht er irgend einen moralischen

Kern aus der Tierwelt zur Anschauung zu bringen ohne besondere Nutzanwendung:

ohne Epimythium. Seine Nachfolger, die ihm zum Teil in Anwendung

der Prosa folgten, haben ebenfalls dem Leser die moralische Nutzanwendung

überlassen.



6. Fröhlich († 1865) gab der Fabel eine neue Wendung, indem er sie

aus dem Gebiet der Epik dem der Lyrik näherte, die Wirklichkeit weniger verstandesmäßig

als gemütlich auffaßte und seinen Fabeln, bei denen er die sittliche

Bedeutung in die Handlung legte, poetische Form ohne Epimythium verlieh.



7. Von vielen alten Fabeln blieb nur ein kurzer Rest übrig, den man

Sprichwort nennt.



Somit ist das Sprichwort einer paläontologischen Betrachtung fähig und

wert. Es ist eine Art versteinertes Knochengerüste früherer, in Vergessenheit

geratener Fabeln.



8. Bezüglich der Form der Fabel ist metrische Gestaltung der Prosa vorzuziehen.

Lessing hat nach seinem eigenen Geständnisse nur deshalb Prosa

gewählt, weil er befürchtete, Reim und Silbenmaß werden hie und da dem

naiven Ausdruck entgegen treten oder ihn ─ den Meister ─ meistern.



9. Man kann die Fabel einteilen in a. theoretische (Verstand bildende),

b. sittliche (Willen bestimmende), welche beide Arten ein Ereignis in

der Natur als Gesetz darstellen für die allgemeine Weltordnung, der auch der

Mensch gehorchen muß; die Geschichte der Fabel zeigt hier, wie es in der

Welt geht;
c. Schicksalsfabeln, welche das Walten einer höheren

Macht im Erdenleben als Nemesis zeigen; die Lehre der Fabel heißt sodann:

so mußte es kommen; das sind die Folgen.



Sonst teilt man die Fabeln noch ein: in ernste und in humoristische

Fabeln; ferner in Fabeln mit angehängtem Epimythium und ohne ein solches;

endlich in Tierfabeln und solche, welche leblose Gegenstände redend einführen.



Beispiele der Fabel.



A. Tierfabel.


a. Mit Epimythium.



Das Schäfchen und der Dornstrauch, von Hagedorn.



Ein Schäfchen kroch in dicke Hecken,

Dem rauhen Regen zu entgehn.

Hier konnt' es freilich trocken stehn;

Allein die Wolle blieb ihm stecken.


[Abbildung]

Beglückt ist, den dies Schaf belehrt.

Bethörte Hadrer, laßt euch raten:

Vertraut die Wolle nicht den scharfen Advokaten,

Oft ist, was ihr gewinnt, nicht halb der Kosten wert.
|#f0186 : 164|



b. Tierfabel, die das Epimythium dem Leser überläßt.



Das Johanniswürmchen, von Pfeffel.



Ein Johanniswürmchen saß,

Seines Demantscheins

Unbewußt, im weichen Gras

Eines Bardenhains.


Leise schlich aus faulem Moos

Sich ein Ungetüm,

Eine Kröte, her und schoß

All ihr Gift nach ihm.


Ach! was hab' ich dir gethan?

Rief der Wurm ihr zu.

Ei, fuhr ihn das Untier an,

Warum glänzest du?


B. Fabel, die leblose Gegenstände redend einführt.


a. Mit Epimythium.



Der Eppich und der Thymian, von Pfeffel.



An einer Eiche Wurzel stand

Ein Stäudchen Thymian.

Ein Eppich, der den Baum umwand,

Sah es voll Mitleid an.


Du armes Ding, man sieht dich kaum,

Sprach er zu ihm, und ich

Erhebe mit Chronions Baum

Bis an die Wolken mich.


Jch trage, rief das Kraut ihm zu,

Mich selbst, so klein ich bin;

Doch ohne Stütze kröchest du

Ja gar am Boden hin.


Wer sich auf fremden Schultern hebt,

Jst Sklave, wer er sei,

Nur wer für sich im Dunkeln lebt,

Kann sagen: Jch bin frei!


b. Ohne Epimythium.



Niederes Loos, von Abr. Em. Fröhlich.



Zu der niedern Trauerweide,

Grünend an dem klaren Bach',

Sagt' die Pappel: „Wachs' mir nach

Zu der Höhe stolzer Freude!“

Und die Weide sprach dawider:

„Pappel, neige dich hernieder

Zu des Baches frischen Wellen,

Wo mir solche Freuden quellen,

Die du droben nicht genossen!

Schau, wie hier die Blumen sprossen,

Und die Sterne sich erhellen!“
|#f0187 : 165|



Litteratur der Fabel.



Als Fabeldichter sind zu nennen: Bei den Griechen Äsop (geb. in

Phrygien um 550 v. Chr.). Er war ursprünglich Sklave und lebte dann

am Hofe des Krösus. Seine nur durch Erzählung fortgepflanzten Fabeln

wurden 300 v. Chr. gesammelt und erst im 2. Jahrh. v. Chr. von dem

griechischen Dichter Babrios in choliambische Verse gebracht. Jhm dichtete der

Römer Phädrus nach (kurz v. Chr. Geburt). Er schrieb im jambischen Trimeter

Fabulae Aesopiae in 5 Büchern; 60 Fabeln hievon scheinen eigener Erfindung.

32 wurden erst 1727 aufgefunden. Von Phädrus haben teilweise die Stoffe entlehnt:

Stricker, als der älteste deutsche Fabeldichter (Mitte des 13. Jahrh.). Boner

(1340. Edelstein; es sind dies 2100 Fabeln in einfacher Sprache, die lange

ein Lieblingsbuch waren). Gerhard von Minden, Burkhard Waldis

(letzterer der bedeutendste Fabeldichter des 16. Jahrhunderts, der als solcher

über Luther, Hans Sachs und Alberus von Neubrandenburg im Mecklenburgischen

steht, welch letzterer durch seine Sammlung von 49 satirischen Fabeln

bekannt ist. Waldis schrieb den „Neuen Esop“, eine Sammlung von 400

teils selbst erfundenen, teils nachgebildeten Fabeln). Dann seit 1740 die

Mehrzahl der Fabeldichter von Hagedorn und Gellert bis Fröhlich.



Von den Arabern ist zu nennen Lokman. Er lebte lange vor Muhamed.

Seine Fabeln sind den Äsopischen ähnlich, weshalb man vermutete, daß teils

aus dem Sanskrit, teils aus dem Griechischen verschiedene Fabeln in's Arabische

übertragen und Lokman zugeschrieben wurden.



Von den Jndiern sind erwähnenswert die Sammelwerke 1. Hitopadesa.

(Die Dichter der Fabeln der Hitopadesa sind unbekannt. Die Hitopadesa

wurde teilweise von Rückert übertragen oder benutzt. 1844 übersetzte

sie auch Max Müller.) 2. Die Fabelsammlung Pantschatantra, die der Brahmine

Wischnu Sarma vereint haben soll und deren Fabeln sich als Fabeln

des Bidpai erhalten haben. (Der persische König Chosru Nuscherwan ─

6. Jahrh. v. Chr. ─ ließ diese vom Weisen Bidpai erhaltenen Fabeln aus

Jndien holen. Nach der Eroberung Persiens durch die Araber wurde die

Sammlung des Bidpai in's Arabische übertragen; so ist sie uns erhalten worden.)



Der Rosengarten des Saadi (persisch == Gulistan) und Der

Fruchtgarten desselben Dichters († 1291 zu Schiras) sind bei den Persern

berühmte Fabelsammlungen.



Bei den Engländern sind Gay und Mandeville zu nennen. (Mandevilles

Bienenfabel ist eine in gereimten Knüttelversen geschriebene Erzählung,

die um 1714 das größte Aufsehen erregte, indem die große Jury das Buch

als eines der unsittlichsten denuncierte, während es doch nur nachweisen wollte,

wie aus dem Schlimmen oft Gutes erwächst. Jn seinem Bienenstocke sorgt

alles nur für sich, die Juristen, die Ärzte, die Geistlichen, die Minister &c.;

doch prahlte alles mit Ehrlichkeit. Jeder betrog und jeder rief: fort mit den

Betrügern! Merkur lachte. Aber Zeus erlöste den Staat vom Betrug. Da

sanken die Lebensmittelpreise &c. Keine Biene machte mehr Schulden, man

imponierte nicht mehr nach außen. Man brauchte keine Künstler, keine Gewerbtreibenden |#f0188 : 166|



mehr; ein Kleid genügte, die Genügsamkeit sammelte keine Schätze:

der Staat wurde volklos. Die Moral lautet: Also lasset die Klagen.

Die Reize der Welt, im Kriege Ruhm, und zugleich im Leben Luxus verlangen

ohne große Laster, ist ein eitles, utopisches Hirngespinst. Durch die Gerechtigkeit

gebändigt, hat auch das Laster sein Gutes; ja, sogar, wo das Volk

groß dastehen will, ist es dem Staat ebenso notwendig, wie der Hunger notwendig

ist, um zum Essen zu treiben u. s. w. Die Tendenz dieser Fabel ist

nach dem Erwähnten ebensowenig eine Empfehlung des Lasters, als es eine

Empfehlung des Zwanges wäre, wenn man sagt: „Hoffahrt muß Zwang

leiden“ u. s. w.).



Von den zu uns verpflanzten Franzosen sind besonders zu nennen La

Motte und La Fontaine, dessen humoristische Fabeln dem Tiere den gesellschaftlichen

Unterhaltungston verleihen. (Vergl. Edition corrigée Paris Libr.

classique d'Eugene Belin
.)



Jn Deutschland sind außer den oben Genannten zu erwähnen: Hagedorn

(z. B. der Hahn und der Fuchs; der Bauer und die Schlange). Kleist

(der gelähmte Kranich); Gellert (er war wie Lichtwer und Gleim meist satirisch

oder epigrammatisch; seine Sprache ist rein und seine Versifikation leicht,

so daß er das Vorbild der meisten Fabeldichter der Folgezeit wurde). Eine

gute Sammlung von Fabeln (Fabellese) gab Ramler heraus. Michaelis

(† 1772, z. B. Die Stadtmaus und die Feldmaus). Lichtwer schrieb vier

Bücher Äsopischer Fabeln (z. B. Die Katzen und der Hausherr; Der Affe und

die Uhr). Gleim (z. B. Der Greis und der Tod; Der Hirsch der sich im

Wasser sieht). Müchler (Der Affe). Langbein (Das Pferd und der Stier).

Tiedge (Das Privilegium). Pfeffel (schrieb sentimental=satirische Fabeln, z. B.

Der Wolf, der Schöps und das Reh; Ochs und Esel zankten sich &c.). Gottl.

Meißner († 1807. Fabelsammlung). Bertuch, der verdienstvolle Herausgeber

des Bilderbuchs für Kinder in 237 Heften, schrieb wertvolle Fabeln von denen

mehrere in Fabelsammlungen für Schüler übergingen (z. B. das Lämmchen;

das milchweiße Mäuschen).



Der Reformator der Fabel, der sie in seinen „Abhandlungen über die

Fabel“ wissenschaftlich begrenzte, war Lessing.



Er hat häufig den Stoff anderer Fabeln benutzt, um neue zu bilden.

So läßt er z. B. das Stück Fleisch, welches bei Äsop dem Raben aus dem

Schnabel fällt, vergiftet sein und erhält nun die Fabel: Der Rabe und der

Fuchs. Oder er gestaltet die Moral edler (in Fab. Aes. 112). Oder unter

Benützung des hauptsächlichsten Moments einer Fabel macht er eine neue Fabel,

(z. B. wie dem Wolf der Knochen im Halse stecken blieb) u. s. w.



Um die Reform der poetischen Fabel hat sich nach Lessing besonders der

Schweizer Abr. Em. Fröhlich verdient gemacht. (Vgl. Ellengröße; die Sanften;

Wiederfinden &c.) Ebenso that auch Rückert manches für die Fabel. Nach

seinem Vorgang wurde die Fabel für Kinderlitteratur gepflegt durch Güll,

Hey, Franz Hoffmann, Holzmüller
&c.

|#f0189 : 167|



Von Rückerts Fabeln erwähnen wir:



a. Nicht der Tierwelt angehörige, z. B. Messerchen und Gäbelchen;



b. Aus der Tierwelt, z. B. Sperling und Kater; Die Beichte der Tiere;

Des Hahn Gockels Leichenbegängnis.



Goethe schrieb: Der Adler und die Taube. Jn neuerer Zeit sind nennenswert

K. A. Mayers heitere Fabel Spatz und Spätzin, sowie die Fabeln von

J. Sturm. Die unter dem Titel: „Vom Frühling zum Winter. Zwölf Mährlein

von B. Paul“, in Leipzig erschienenen sogenannten „Märchen“ sind ein

neues Genre dieses Verfassers, der dasselbe bereits durch seine vor einigen

Jahren erschienenen „Abendmärlein für mein Mütterlein“ in die Litteratur

eingeführt hat. Märchen im Schulsinn sind sie nicht; vielmehr könnte man

mehrere derselben Pflanzen- und Tierfabeln nennen, erdichtete Erzählungen, welche

die der Sprache unfähigen Geschöpfe oder Gegenstände sprechend und handelnd

einführen, um das Bild der Menschen zu versinnlichen, Wahrheiten zu verkörpern

oder die Elemente naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu verbreiten &c.



§ 80. Parabel.



1. Parabel (griech. παραβολή == Nebeneinanderstellung oder Vergleichung)

ist jene didaktische Dichtungsform, welche durch eine Erzählung

die indirekte Antwort auf eine bedeutungsvolle Frage des

geistigen oder sittlichen Lebens bietet (wie z. B. Lessing auf die Frage

nach der wahren Religion durch die Erzählung von den 3 Ringen antwortet

─ vgl. Nathan III 3).



2. Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas

Anschauliches, vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie für

eine Wahrheit.



1. Nachdem die Tiersage didaktisch geworden war, zog man auch die

menschliche Geschichte, ja selbst die der Götter in das Gebiet des Didaktischen,

und man wählte oft nur fingierte Ereignisse, um den Vorwand einer Lehre zu

erhalten. So war man zur Parabel d. i. zur Gleichniserzählung gelangt,

unter welcher man nunmehr diejenige poetische Dichtung versteht, welche im

Gegensatz zur Fabel höhere Wahrheiten vorzuführen sucht.


Sie knüpft ihre Lehre nicht an Tiere oder redend eingeführte Gegenstände, wie

die Fabel, sondern bei der höheren Bedeutung ihrer sittlichen und religiösen

Wahrheiten gegenüber den einfachen, volksmäßigen Wahrheiten der Fabel an

rein menschliche Verhältnisse (vgl. das Gleichnis vom Säemann. Matth. 13.

3 ff.), oder an geschichtliche Begebenheiten, die immer wieder vorkommen können.

Die Parabel enthält ein Gleichnis, und stellt einen einzelnen Seelenzustand,

eine bestimmte Handlungsweise oder irgend ein Verhältnis des Menschen dar,

nicht als ein einzelnes bestimmtes Ereignis, sondern als etwas Allgemeines.

Sie dient als Sinnbild einer andern Handlung, der ein moralischer Satz als

Bestimmungsgrund des Handelns untergelegt ist. Sie vergegenwärtigt einen |#f0190 : 168|



Zustand, wie dieser auch für weitere Zeiten, noch über die Gegenwart hinausreichend,

als zutreffend erscheint. Jhr Zweck ist somit symbolisch vorgeführte

Belehrung.



2. Lehre und einkleidende Anschauung unterscheiden die Parabel von der

Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen Stufe des Lehrhaften stehend,

eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel für sittliche Lehren von

höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen oder im Sinn

des § 116 (Bd. I.) metrisch freien Form fähig. (Vgl. unten Beispiel a.)

Bei der Lehre, welche die Fabel giebt, ist es meist ganz gleichgültig, ob das

Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein Apfelbaum oder ein

Birnbaum, oder eine Eiche ist; bei der Parabel besteht eine bestimmte Wirklichkeit:

die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse, weshalb sie eine höhere Stufe

nach Form und Lehre einnimmt, als die Fabel. Mit der Fabel hat die Parabel

gemein, daß sie irgend eine Wahrheit von allgemeiner Bedeutung durch eine

Erdichtung zur Anschauung bringt. Von ihr unterscheidet sie sich jedoch dadurch,

daß die durch sie ausgesprochene Wahrheit eben dem höheren Geistesleben

angehört und die Auftretenden daher am liebsten Menschen selbst sind.

Nur ausnahmsweise werden Tiere als Symbole gebraucht; in diesem

Falle aber nur edlere Tiere: Löwe, Elephant, Pferd, Kamel. Von der

Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen) unterscheidet sich die

Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch Bilder in ein klares

Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde anschaulich

macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur eine Beschreibung

erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung.



Beispiele der Parabel.



a. Die Königswahl der Bäume. Aus dem Buche der Richter von

Amara George. (Aus Mythoterpe. 1858. S. 406.)



Es wollten einst die Bäume

Sich einen König wählen.

Sie sprachen zu dem Ölbaum:

„Sei König über uns!

Wir wollen unter Deinem Schirme leben.“

Der Ölbaum aber sprach:

„Soll ich lassen von meiner Fettigkeit,

Die mir so großen Ruhm verleiht,

Um über Euch im Luftrevier zu schweben?“

Da sprachen sie, die Bäume,

Zum Feigenbaum: „Wohlan,

So sollst Du uns befehlen!“

Es sprach jedoch der Feigenbaum:

„Soll ich lassen von meiner Süße,

Von meiner Früchte Köstlichkeit,

Die alle loben weit und breit,

Solch einen luftigen Herrscher abzugeben?“

Da sprachen sie, die Bäume, zu dem Weinstock:

„So sei Du unser Herr und Hort!“

Der Weinstock aber sprach:
|#f0191 : 169|



„Soll ich lassen von dem Safte meiner Reben,

An dem sich alle Welt erfreut,

Der Menschen und Göttern Wonne beut,

Um über Euch

Mich thronend in die Lüfte zu erheben?“

Da sprachen sie, die Bäume,

Am Ende zu dem Dornbusch:

„So woll'n wir uns in Deine Hut begeben;

Sei du der König über uns!“

Und er darauf, der Dornbusch:

„Ja, König sein, das ist mein Amt;

Dazu geschaffen ganz und gar

Bin ich offenbar;

Vertrauet Euch dem Schatten,

Den meine Gedörne geben!

Wo nicht, so soll von ihnen

Ausgehen ein Feuer, ein fressendes,

Ein Grausen, ein nicht zu messendes;

Es sollen vor ihm

Die Cedern auf dem Libanon erbeben!“


b. Der thörichte Mann, von Fr. Rückert.



Es ging ein Mann im Syrerland,

Führt' ein Kamel am Halfterband.

Das Tier mit grimmigen Geberden

Urplötzlich anfing scheu zu werden,

Und that so ganz entsetzlich schnaufen,

Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.

Er lief und einen Brunnen sah

Von ungefähr am Wege da.

Das Tier hört' er im Rücken schnauben,

Das mußt' ihm die Besinnung rauben.

Er in den Schacht des Brunnens kroch,

Er stürzte nicht, er schwebte noch.

Gewachsen war ein Brombeerstrauch

Aus des geborstnen Brunnens Bauch;

Daran der Mann sich fest that klammern,

Und seinen Zustand drauf bejammern.

Er blickte in die Höh', und sah

Dort das Kamelhaupt furchtbar nah,

Das ihn wollt' oben fassen wieder.

Dann blickt' er in den Brunnen nieder;

Da sah am Grund er einen Drachen

Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,

Der drunten ihn verschlingen wollte,

Wenn er hinunter fallen sollte.

So schwebend in der beiden Mitte

Da sah der Arme noch das Dritte.

Wo in die Mauerspalte ging

Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,

Da sah er still ein Mäusepaar,

Schwarz eine, weiß die andere war.

Er sah die schwarze mit der weißen
|#f0192 : 170|



Abwechselnd an der Wurzel beißen,

Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,

Die Erd' ab von der Wurzel spülten;

Und wie sie rieselnd niederrann,

Der Drach im Grund aufblickte dann,

Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde

Der Strauch entwurzelt fallen würde.

Der Mann in Angst und Furcht und Not,

Umstellt, umlagert und umdroht,

Jm Stand des jammerhaften Schwebens,

Sah sich nach Rettung um vergebens.

Und da er also um sich blickte,

Sah er ein Zweiglein, welches nickte

Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;

Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.

Er sah nicht des Kameles Wut,

Und nicht den Drachen in der Flut,

Und nicht der Mäuse Tückespiel,

Als ihm die Beer' in's Auge fiel.

Er ließ das Tier von oben rauschen,

Und unter sich den Drachen lauschen,

Und neben sich die Mäuse nagen,

Griff nach den Beerlein mit Behagen,

Sie däuchten ihm zu essen gut,

Aß Beer auf Beerlein wohlgemut,

Und durch die Süßigkeit im Essen

War alle seine Furcht vergessen.


Du fragst: Wer ist der thöricht Mann,

Der so die Furcht vergessen kann?

So wiß, o Freund, der Mann bist du;

Vernimm die Deutung auch dazu.

Es ist der Drach' im Brunnengrund

Des Todes aufgesperrter Schlund;

Und das Kamel, das oben droht,

Es ist des Lebens Angst und Not.

Du bist's, der zwischen Tod und Leben

Am grünen Strauch der Welt mußt schweben.

Die beiden, so die Wurzel nagen,

Dich samt den Zweigen, die dich tragen,

Zu liefern in des Todes Macht,

Die Mäuse heißen Tag und Nacht.

Es nagt die schwarze wohl verborgen

Vom Abend heimlich bis zum Morgen,

Es nagt vom Morgen bis zum Abend

Die weiße, wurzeluntergrabend.

Und zwischen diesem Graus und Wust

Lockt dich die Beere Sinnenlust,

Daß du Kamel die Lebensnot,

Daß du im Grund den Drachen Tod,

Daß du die Mäuse Tag und Nacht

Vergissest, und auf nichts hast Acht,

Als daß du recht viel Beerlein haschest,

Aus Grabes Brunnenritzen naschest.
|#f0193 : 171|



(Der Vergleichung wegen machen wir auf die Bearbeitung dieser Parabel

durch Rudolf von Hohen-Ems in „Barlaam und Josaphat“ aufmerksam, welche

anstatt des Kamels ein Einhorn nennt; ferner auf die Bearbeitung, wie sie

sich im „Buch von den sieben Weisen“ findet. Vgl. unsere Studie in Nachgel.

Ged. Rückerts. Wien, Braumüller. 1878. Von den übrigen Parabeln Rückerts

sind: „Jm Feld der König Salomo“, und „Es ritt ein Herr, das war sein

Recht“ und „Die vier Thüren“, welche an Lessings Erzählung von den 3

Ringen erinnern, in die besseren Schullesebücher und Mustersammlungen übergegangen.

Desgleichen die allbekannte „Des fremden Kindes heiliger Christ“,

eine legendenartige Parabel. Man vergleiche auch die vielen Gleichnisse in

Rückerts „Leben Jesu“, denen des neuen Testaments nachgebildet, wie z. B.

Der Weinstock und die Rebe; Der Säemann.)



c. Parabel von Herder. (Ausgew. Werke. 1844. S. 104.)



Ein Bleicher hatt' ein weites großes Haus.

„Was soll das leer denn steh'n? Hier mach' ich Geld mir draus;

Mein Vetter Köhler soll hier wohnen.“

Der Vetter Köhler thät' ihn lohnen.

Der Bleicher machte weiß; der Köhler macht's voll Graus

Mit seinem Kohlendampf! Der Köhler mußt' hinaus.


[Abbildung]

Christus und Belial,

Was sollen sie in diesem großen Saal?

Freund, deine Kohlendampfphilosophie

Hier am Altar ─ o Freund, was soll sie hie?


Zur Litteratur der Parabel.



Die ältesten Parabeln finden wir in der Bibel, namentlich in den Gleichnissen

Jesu. Durch Herder und später durch Rückert wurde die Parabel

aus dem Orient zu uns gebracht. Seitdem hat man auf ethischen, religiösen

und ästhetischen Gebieten durch sie gewirkt. Die meisten Parabeln sind in

Prosa geschrieben, z. B. die von Krummacher (1768─1845), der seine

Berühmtheit nur seinen kindlich frommen Parabeln zu danken hat. Hervorragende

Parabeldichter sind ferner: Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius),

Herder (Wozu es wird), Voß, Richter, Niemeyer, Bürger, Schiller

(Das verschleierte Bild zu Sais), Chamisso (Die Kreuzschau), Agnes

Franz, Amara George
u. a.



§ 81. Paramythie.



1. Paramythie (griech. παραμυθία == Ermunterung oder Ermahnung,

Erholung, Trostrede) ist eine Art Parabel, in welcher mythische

Wesen, also Götter aus der Mythologie, Engel, überhaupt höhere übermenschliche

Wesen u. s. w. auftreten.



2. Den Namen erhielt diese Dichtungsart durch Herder.



1. Die Paramythie hat mit der Parabel gleiche Absicht, indem sie sittliche

und religiöse Wahrheiten zur Anschauung bringt.

|#f0194 : 172|



2. Folgende Stelle von Herder (Ausgewählte Werke, 1844. S. 272)

möge die Benennung dieser Dichtungsart zeigen:



Theano. Paramythien? Was bedeutet das Wort?



Demodor. Paramythion heißt eine Erholung; und wie Guys erzählt,

nennen noch die heutigen Griechinnen die Erzählungen und Dichtungen, womit

sie sich die Zeit kürzen, Paramythien. Jch konnte den meinen noch aus einem

dritten Grunde den Namen geben, weil sie auf die alte griechische Fabel, die

Mythos heißt, gebauet sind und in den Gang dieser nur einen neuen Sinn legen.



Theano. Ein schöner Name zu einer schönen Sache: denn Demodor,

ich wünschte, daß ich alle abgetragene, zu oft gebrauchte Märchen der Mythologie

wenigstens in einer neuen Absicht wiederkommen sähe. Ja, mir wäre

es lieb, wenn ich jeden schönen Gegenstand um mich her mit einer Dichtung

aus alten Zeiten gleichsam verwandeln und neu zu beleben wüßte.



Demodor. Versuchen Sie es, Theano, und Sie werden unvergleichbar

schönere hervorbringen, als hier versucht sind. Wissen Sie, wie diese entstanden?

Durch das Spiel eines Wettstreites auf einigen Spaziergängen. Zwei

Einsiedler gaben sich auf einigen ihrer Spaziergänge Gegenstände auf, darüber eine

Fabel, eine Dichtung oder was ihnen sonst einfiele, zu sagen. Jch war einer

derselben, setzte auf, was gesagt wurde, und so sind diese Erzählungen worden.

Jn einigen werden Sie noch Spuren des Wettstreites finden.



Theano. Ein Spiel, das nicht jedem glücken wird.



Demodor. Jhnen gewiß, und ich sehe schon schöneren Paramythien

über einige Jhnen geliebte Gegenstände entgegen. Niemals dichtet die Seele

angenehmer, als in solchen Spielen, und ich wollte, wie schon Lessing bei der

Äsopischen Fabel gesagt hat, daß man auch Kinder darin übte.



Die alte Mythologie würde ihnen durch diese Verwandlung lieb werden,

ihre Erfindungskraft wird geschärft, und ich habe Proben, wie naive Gedanken

zuweilen aus der Seele eines Schoßkindes der Natur, das alle Gegenstände

noch mit neuer, frischer Liebe ansieht, lieblichen Knöspchen gleich, hervorkeimen.

Da Sie diese kindliche Einfalt lieben, Theano, will ich Jhnen zu einer andern

Zeit einige derselben mitteilen.



Theano. Und ich will versuchen, ob ich auch noch Kind sein kann, und

mir einige Gegenstände jugendlich malen. Wenn nicht so blumenreich ─



Demodor. Das Blumenreiche gehörte hier zu den Gegenständen; sonst

wäre es ein Fehler. Je schöner Jhre Dichtung sein wird, desto weniger hat

sie des Schmucks nötig. Sie kennen das griechische Epigramm:



„Schön bist du, Aglaja, die ringsum alles verschönet,

Schön im Schmucke; doch nackt bist du die Schönheit selbst.“



Beispiele der Paramythie.



Die gefallenen Engel, von Rückert.



Harut und Marut, die Engel, gingen,

Himmlische Grüße der Welt zu bringen;

Hofften sich, wann sie beschaut die Erde,

Wieder zum Himmel empor zu schwingen;
|#f0195 : 173|



Denn sie verwahrten das Wort des Lebens,

Welches sie scheidend vom Herrn empfingen.

Wo auf der Erde die beiden zogen,

Saß Anahid und begann zu singen.

Sich vom Gesange die Engel ließen

Fangen in irdischer Liebe Schlingen;

Und um der Liebe Gewährung wollten

Mit Anahid sie, der schönen, ringen.

Doch Anahidis, die schön' und kluge,

Wollte von ihnen sich eins bedingen:

Daß sie ihr sagten das Wort, durch welches

Man sich zum Himmel vermag zu schwingen.

Wie sie sprachen das Wort, entsanken

Jhnen die tragenden Himmelsschwingen.

Doch Anahid mit dem Wort des Lebens

Schwang sich, zum Himmel empor zu dringen;

Und die gefallenen Engel hören

Jhren Gesang aus den Sternen klingen.



(Sinn: Sprecht nicht Geheimnisse denen gegenüber aus, die niedriger

stehen, als ihr; sonst fallt ihr, während sich jene über euch erheben.) (Vgl.

noch von Rückert die Paramythie „Wischnu auf der Schlange“, deren Sinn

ist: Nichts ist ganz unabhängig von Gott, ohne Geist wächst kein Stoff.)



Die Nektartropfen, von Goethe.



Als Minerva jenen Liebling,

Den Prometheus, zu begünst'gen,

Eine volle Nektarschale

Von dem Himmel niederbrachte,

Seine Menschen zu beglücken,

Und den Trieb zu holden Künsten

Jhrem Busen einzuflößen;

Eilte sie mit schnellen Füßen,

Daß sie Jupiter nicht sähe:

Und die goldne Schale schwankte,

Und es fielen wenig Tropfen

Auf den grünen Boden nieder.


Emsig waren drauf die Bienen

Hinterher, und saugten fleißig;

Kam der Schmetterling geschäftig,

Auch ein Tröpfchen zu erhaschen;

Selbst die ungestalte Spinne

Kroch herbei und sog gewaltig.


Glücklich haben sie gekostet,

Sie und andre zarte Tierchen!

Denn sie teilen mit den Menschen

Nun das schönste Glück, die Kunst.



Zur Litteratur der Paramythie sind neben Herder (das Kind der Sorge),

Rückert und Goethe zu nennen: Krummacher, Agnes Franz, Richter, Schiller,

Daumer, Al. Kaufmann u. a.

|#f0196 : 174|



§ 82. Sinnbild.



1. Sinnbilder sind symbolische Gedichte, welche keinen religiösen

Charakter haben, auch nicht die Sprache der biblischen Gleichnisse

nachahmen, sondern im Bilde eine allgemeine Wahrheit darstellen, ohne

Lob oder Tadel (vgl. § 91 das Sinngedicht). Sie sind der Ausdruck

einer übersinnlichen Wahrheit durch etwas Sichtbares, durch die Sinne

Wahrnehmbares.



2. Sie unterscheiden sich von der Allegorie und vom Gleichnis.

(S. Bd. I. § 35. und § 39.)



1. Jmmer sind es menschliche Gefühle, Jdeen und Zustände, welche

im Sinnbilde gezeichnet werden. Das Sinnbild bedeutet wie die Allegorie

etwas anderes, als es äußerlich darstellt.



2. Doch unterscheidet es sich von der Allegorie dadurch, daß es immer

nur ein Symbol für einen sinnlichen Gegenstand giebt, während die Allegorie

eine Reihe Symbole zu einem Ganzen vereint, zu einem Sinnbild für eine

Jdee. (Vgl. § 83.) Die einzelnen Jdeen des Ganzen entsprechen den einzelnen

Eigenschaften des sinnlichen Gegenstandes.



Vom Vergleich unterscheidet sich das Sinnbild dadurch, daß jener die

Sache nicht statt der andern nennt, sondern nur neben ihr.



Rückert definiert den Begriff des Sinnbilds folgendermaßen:

Was ist ein Sinnbild? Was der schöne Name meint:

Ein Sinn mit einem Bild auf's innigste vereint.


Ein tiefer Sinn, der in ein schönes Bild sich senkt,

Ein schönes Bild, bei dem ein tiefer Sinn sich denkt.


Schön sei das Bild und klar, tief sei der Sinn und wahr,

Und mit einander eins untrennbar sei das Paar.


(Ges. Ausg. VIII. 43.)



Beispiele des Sinnbildes.



Den Gärtnern, von Rückert.

Jch zog eine Wind' am Zaune;

Und was sich nicht wollte winden

Von Ranken nach meiner Laune,

Begann ich denn anzubinden,

Und dachte, für meine Mühen

Sollt' es nun fröhlich blühen.


Doch bald hab' ich gefunden,

Daß ich umsonst mich mühte;

Nicht, was ich angebunden,

War was am schönsten blühte,

Sondern was ich ließ ranken

Nach seinen eignen Gedanken.


(Sinn: Die Erziehung darf natürliche Triebe und Anlagen nicht hemmen.)

|#f0197 : 175|



Zwischen dem Elend und dem Glücke

Gähnt eine breite Kluft;

Die Hoffnung schlägt darüber die Brücke,

Aber sie hängt in der Luft.


(Heinrich Leuthold, Gedichte. 1880. S. 193.)



Weitere Beispiele des Sinnbilds s. bei Rückert: Die Cypresse,

sowie in dessen 7. Buch der Weisheit des Brahm.



Seidl: Gärtner Tod.



Herder: Der Regenbogen. Wünsche.



Logau: Heutige Weltkunst. Die deutsche Sprache.



Pfeffel: Die Wiege.



Lessing: Auf einen Lügner.



Schiller: Übereinstimmung &c.



§ 83. Allegorie.



1. Als Tropus nennt man bekanntlich schon Allegorie (vgl. Bd. I.

§ 39. S. 173) eine gedanklich zusammenhängende Reihe von Metaphern.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Abgrenzung nn.

Als Dichtungsgattung versteht man unter Allegorie die durch Verbindung

mit Sinnbildern zum abgeschlossenen dichterischen Ganzen

erweiterte Allegorie, die ein bestimmtes Bild ausführt. (Vgl. Bd. I.

S. 176.)



2. Die Allegorie hat (wie das Gleichnis, das Sinnbild und die

allegorisierende Fabel) die Absicht, einen bestimmten, lehregebenden Zustand

zu veranschaulichen.



3. Das Element der Allegorie ist das konkrete Symbol (oder

auch das Emblem).



4. Dieses ist von jeher in allen Künsten ein treibendes Agens

der Darstellung gewesen.



1. Als Dichtungsgattung bezeichnet Allegorie ein Gedicht, welches einen

übersinnlichen Gegenstand durch Anwendung von Bildern versinnlicht (z. B.

Jdeen und personifizierte Kräfte als Gottheiten), so daß die einzelnen Momente

des sinnlichen Gegenstandes den Momenten des zu vergleichenden Jdealen entsprechen.

Die Dichtungsgattung Allegorie nennt den Gegenstand ebensowenig,

als der Tropus Allegorie, aber sie stellt ihn in einem vollkommen durchgeführten

Bilde dar. Sonach kann man sagen: Die Allegorie ist ein

Gedicht, welches einen Gedanken unter einem, diesem verwandten

Bilde anschaulich darstellt und mit dem Bilde vollständig durchführt


(z. B. Das Mädchen aus der Fremde, von Schiller).



2. Als didaktisches Gedicht verfolgt die Allegorie (wie das Sinnbild und

das Gleichnis) den Zweck, einen Zustand durch Bilder in ein klares

Licht zu setzen,
während die moralisierende Parabel eine Wahrheit im

Bilde veranschaulicht und die allegorisierende Fabel das Treiben der Menschen

unter der Tiermaske enthüllt.

|#f0198 : 176|



3. Ein einzelnes Symbol zur Veranschaulichung der Poesie ist z. B. die

Lyra. Eine Summe von Symbolen (z. B. im „Mädchen aus der Fremde“

von Schiller) veranschaulicht ebenfalls die Poesie. Diese Veranschaulichung ist

zur Dichtungsgattung Allegorie geworden. Für die Stärke dient das Symbol

„Eiche“ oder „Löwe“. Dasselbe Konkretum kann dienen zur Allegorie eines

Gattungsbegriffes (z. B. die einzelnen Eigenschaften der Eiche für einen Charakter).

Nicht aber ist etwa jedes einzelne, welches aus dem Zusammenhang der Allegorie

genommen würde, ein Symbol zu nennen. Oft hat es nur in der

ganzen Reihe symbolische Geltung.



4. Eine schöne Vereinigung der Symbole zu einer sinnlichen Allegorie war

zu allen Zeiten eine der edelsten Freuden gefühlvoller Naturen. Nur wenige

Sätze mögen ausführen, wie alle Vereinigungen ihre allegorischen Symbole haben.



Jm Mittelalter begann unter dem Einflusse der religiösen Vorstellungen

das Bedürfnis des Symbolisierens auf die Baukunst einzuwirken, weshalb

die gothische Bauart meistens den Charakter des Symbolischen trägt, bis die

Renaissance auf die Antike zurückgriff und ihre Formen zu freier Verzierung

verwandte.



Die spätere Entwickelung zeigt, (abgesehen von naturwidrigen Gestalten,

wie im sogenannten Jesuiten=, Zopf=, Rokoko- und Barockstil), das Gepräge

eines dem sich reinigenden Zeitgeschmack entsprechenden Eklektizismus, in welchem

das Symbolische nur im gefälligen Schmucke als plastisches Beiwerk

(z. B. in Bekrönung des Gesimses, oder Treppendekoration &c.) seine Verwendung

findet.



Jhrer Natur nach ist die Plastik hauptsächlich zur Symbolik: zur allegorischen

Personifikation geeignet. (Vgl. Bd. I, S. 176.) Die alten Griechen

gestalteten ihre Götter und Helden anschaulich, wozu die rein plastische Form das

entsprechendste Mittel gewährte, indem sie von der wirklichen Erscheinungswelt

durch ihre Farblosigkeit abzog.



Darum aber ist die Malerei für das Gebiet des Symbolischen unangemessener;

und es mag als eine Verirrung des ästhetischen Geschmacks angesehen

werden, wenn Mythen, antike Vorstellungen, oder sogar Parabeln,

Allegorien &c. in koloristischer Weise zur malerischen Darstellung gebracht werden. ─



Die Poesie, ihrem formalen Wesen nach metaphorisch, bietet ein weites

Feld für das Symbolisieren; aber darin gerade werden in der bildenden Kunst

viele Fehler begangen, weil viele von dem Jrrtum ausgehen, auch das in

jenem künstlerischen Gebiete Mögliche in dem ihrigen darstellen zu können. Die

vielfach verunglückten Gemälde nach Dichterstellen beweisen dies. Die darstellenden

Maler vergessen, daß die Hauptbedingung des von der Poesie ausgehenden

ästhetischen Eindruckes, die Bewegung der poetischen Jdee, der Fluß

der Handlung, der Malerei abgeht.



Jn der Musik zeigt sich das Symbolische darin, daß der Ton (ohne begriffliches

Beiwerk) als Ausdruck einer seelischen Empfindung wirkt. Daher

beweist sich der symbolische Charakter in der wortlosen Musik (in der Symphonie)

am reinsten.

|#f0199 : 177|



Wenn man endlich die Tanzkunst ihrem Ursprunge nach als bewegte

Plastik der menschlichen Gestalt, als Ausdruck der Bewegung seelischer Empfindungen

auffaßt, ist sie durchaus symbolisch, was sich deutlich genug in allen

Nationaltänzen zeigt; die Liebe besonders gelangt in ihren mannigfachen Äußerungsformen

zum lebendigen, symbolischen Ausdruck. Wenn freilich, wie in

unseren modernen Tänzen, das Bewußtsein vom symbolischen, der Tanzkunst zu

Grunde liegenden Charakter verschwunden ist, verflacht sie zu einer mechanischen,

nur sinnlich aufregenden Bewegung.



Proben der Allegorie.



a. Der treue Gefährte, von Anastasius Grün.



Jch hatt' einst einen Genossen treu,

Wo ich war, war er auch dabei;

Blieb ich daheim, ging er auch nicht aus,

Und ging ich fort, blieb er nicht zu Haus.


Er trank aus einem Glas mit mir,

Er schlief in einem Bett mit mir,

Wir trugen die Kleider nach einem Schnitt,

Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit.


Und als mich's jüngst zu den Bergen zog,

Und Stab und Bündel im Arm ich wog,

Da sprach der treue Geselle gleich:

„Mit Gunsten, Freund, ich geh' mit euch!“


Wir wallen still hinaus zum Thor,

Die Bäume streben frisch empor,

Die Lüfte bringen uns warmen Gruß,

Da schüttelt der Freund den Kopf mit Verdruß.


Jm Äther jauchzt ein Lerchenchor,

Da hält er zugepreßt sein Ohr;

Süß duftet dort das Rosengesträuch,

Da wird er schwindlig und totenbleich.


Und als wir stiegen den Berg hinan,

Verlor den Atem der arme Mann;

Jch wallt' empor mit leuchtendem Blick,

Doch er blieb keuchend unten zurück.


Jch aber stand jauchzend ganz allein

Am Bergesgipfel im Sonnenschein!

Rings grüne Triften und Blumenduft!

Rings wirbelnde Lerchen und Bergesluft!


Und als ich wieder zu Thal gewallt,

Da stieß ich auf eine Leiche bald:

O weh, er ist's! Tot liegt er hier,

Der einst der treuste Gefährte mir!


Da ließ ich graben ein tiefes Grab

Und senkte die Leiche still hinab,

Drauf setzt' ich einen Leichenstein

Und grub die Wort' als Jnschrift drein:
|#f0200 : 178|



„Hier ruht mein treuster Genoß im Land,

Herr Hypochonder zubenannt;

Er starb an frischer Bergesluft,

An Lerchenschlag und Rosenduft!


Sonst wünsch' ich ihm alles Glück und Heil,

Die ewige Ruh' werd' ihm zu teil,

Nur wahr' mich Gott vor'm Wiederseh'n

Und seinem fröhlichen Aufersteh'n!“


b. Der beste Berg, von G. Herwegh.



[Beginn Spaltensatz]
Es ist ein Berg auf Erden,

Der Gutenberg genannt,

Der soll besungen werden

Wohl auf und ab im Land.


Er heget keine Veste,

Er pfleget keinen Wein,

Und wird doch stets der beste

Von allen Bergen sein.


Es ist ein Berg auf Erden,

Der steht zu Mainz am Rhein,

Mit trutzigen Geberden

Schaut er in's Land hinein.
[Spaltenumbruch]

Da schaut er, was wir treiben,

Vom Rheine bis an's Meer,

Da liest er, was wir schreiben

Jm weiten Land umher.


Zu lang war dem Kyffhäuser

Des Rotbarts Todesnacht,

Da ist für seinen Kaiser

Der gute Berg erwacht.


Zu Schanden heißt er werden

Der Raben schwarzes Werk,

Der beste Berg auf Erden,

Das ist der Gutenberg.
[Ende Spaltensatz]

Litteratur der Allegorie.



Allegorien finden wir bei den Römern besonders von Claudianus,

bei den Jtalienern von Petrarka und Mestastasio, bei den Franzosen

von J. J. Rousseau, bei den Engländern von Pope. Bei den Deutschen

liebte besonders die romantische Poesie die Allegorie, indem ihre Personen

entweder die Personifikationen der Tugend oder des Lasters waren, oder die

Charaktere wirkliche Personen in anderem Gewande darstellten. (Jch erinnere

für Letzteres an den 1517 erschienenen Teuerdank von Melchior Pfinzing,

der das Treiben am Hof des Kaisers Maximilian I. allegorisch schildert. Vgl.

Bd. I. S. 48.) Deutsche Dichter der Allegorie sind außer Pfinzing noch Joh.

Valentin Andreä
(† 1654; „Christenburg“, allegorisch=epische Dichtung vom

Kampf und Sieg der lutherischen Kirche vor dem dreißigjährigen Kriege);

Pfeffel (Das Schachbrett; Das Schiff); Krummacher, Herder (z. B.

Tag und Nacht; Der sterbende Schwan u. s. w.); Tieck, Schiller (Teilung

der Erde); Uhland (Bei einem Wirte wundermild; Man höret oft im fernen

Wald); Lessing, Rückert (Die Blumenengel; Der Apotheker; Die hohle

Weide u. a.); Goethe (Gefunden; Zueignung); Novalis (Allegorie auf den

Wein); Chamisso (Tragische Geschichte) &c.



Große episch=didaktische Gedichte mit allegorischer Darstellung sind z. B.

Ernst Schulzes Bezauberte Rose und seine Dichtung Psyche, sowie besonders

Julius Mosens Ritter Wahn und dessen Ahasver. (Jm ersteren Gedicht

wird der Tod, die Erde und das irdische Geschick verherrlicht und die Vergänglichkeit

gerechtfertigt; im zweiten (1838) wird ebenfalls die Jdee einer Rechtfertigung |#f0201 : 179|



irdischer Vergänglichkeit zum Ausdruck gebracht. Ahasver ist Repräsentant

des Weltschmerzes und der ganzen Menschheit; er kann nicht sterben, weil er

dem kreuzbeladenen Jesu die Ruhe vor seinem Hause verwehrte &c.)



§ 84. Rätsel.



1. Man versteht in der Poetik unter Rätsel allegorische Gedichte,

welche den zu erratenden Gegenstand andeutend, umschreibend bezeichnen.

Viele stehen an der Grenzscheide der Poesie.



2. Arten des Rätsels sind: Worträtsel, Charade, Logogriph,

Anagramm, Palindrom, Homonyme.



1. Jns Gebiet der Dichtkunst gehören die Rätsel nur dann, wenn sie

weniger kaltes Nachdenken, als Phantasie und Gemüt anregen. Das gute

Rätsel kann man daher das Rätsel der Phantasie oder das poetische Rätsel

nennen. Dasselbe muß sowohl durch seinen Jnhalt als auch durch die Schönheit

seiner poetischen Form Jnteresse für den Gegenstand des Gedichts erwecken

und befriedigen, wie wir dies bei den Schillerschen poetischen Rätseln finden.

Man könnte das Rätsel (was auch Wackernagel thut) zu den Epigrammen

zählen. Dasselbe giebt nämlich ─ ähnlich der Priamel ─ eine größere oder

geringere Summe sinnlicher Einzelheiten, die oft gar nicht zusammen zu gehören

scheinen, deren Klausel ein einzelner, alle Merkmale vereinigender Begriff ─

das Subjekt aller Prädikate ─ ist, das der Leser erraten soll. Nach dem

griechischen Bacchusfeste Agrionia, zu dessen Schlusse Rätsel aufgegeben wurden,

heißen sie auch Agrionien (Ἀγριώνια).



Arten des Rätsels.



a. Das Worträtsel.



Das Worträtsel giebt die wesentlichen Merkmale seines von ihm nicht

genannten Objekts an. Es schildert Wesen und Bedeutung des Ganzen, des

zu erratenden Wortes.



Beispiele des Worträtsels.



α.

Jch wohn' in einem steinernen Haus,

Da lieg' ich verborgen und schlafe;

Doch ich trete hervor, ich eile heraus,

Gefordert mit eiserner Waffe.

Erst bin ich unscheinbar und schwach und klein,

Mich kann dein Atem bezwingen,

Ein Regentropfen schon saugt mich ein;

Doch mir wachsen im Siege die Schwingen,

Wenn die mächtige Schwester sich zu mir gesellt,

Erwachs' ich zum furchtbarn Gebieter der Welt.


(Lösung: Feuer, Luft.) (Schiller.)



β.

Von Perlen baut sich eine Brücke

Hoch über einen grauen See;

Sie baut sich auf im Augenblicke,

Und schwindelnd steigt sie in die Höh'.
|#f0202 : 180|



Der höchsten Schiffe höchste Masten

Ziehn unter ihrem Bogen hin,

Sie selber trug noch keine Lasten

Und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn.


Sie wird erst mit dem Strom und schwindet,

So wie des Wassers Flut versiegt.

So sprich, wo sich die Brücke findet,

Und wer sie künstlich hat gefügt?
(Lösung: Regenbogen.)

(Schiller.)



Bei diesen Worträtseln Schillers schimmert die Lehre als Hintergrund

durch: Man lernt Gott aus seinen Werken kennen. Sie sind Muster

des poetischen Worträtsels. Goethe rügte an ihnen den „schönen Fehler“, daß

sie zu entzückte Anschauungen des Gegenstandes seien, mit andern Worten,

daß sie durch zu anschauliche poetische Ausführung und Ausmalung den Gegenstand

zu leicht erraten lassen. Bei dem rätselreichen Rückert finden sich Worträtsel

in den Makamen des Hariri (Makame 35, S. 248─253 und im

XII. Band seiner Ges. Ausg. S. 279 unter dem Titel: „Der Rätselmann.

Abfälle von Hariris Rätselmakamen“).



Poetischen Wert haben neben den Schillerschen und Rückertschen Worträtseln

die von Mises (Fechner), Apel, Winkler, Tiedge, Kind,

Moser, Houwald, Matthisson, Hebel, Haug, Körner, Ch.

Niemeyer,
A. P. Däves, v. Kyaw, Arthur v. Nordstern (Ernst

von Nostitz), Alexander Kaufmann (Rätsel mit einer poetischen Antwort in Unter

den Reben, S. 160) u. a.



b. Charade oder Silbenrätsel.



Die Charade oder das Silbenrätsel giebt erst die Bedeutung der

Silben der Reihe nach, um sodann das ganze Wort erraten zu lassen. Sie

behandelt jede Silbe einzeln, zuletzt das Ganze und besteht somit aus mehreren

zusammenhängenden Rätseln.



Charaden, wie diese von Castelli über Roßbach:



Das Erste aus dem Zweiten säuft,

Beim Ganzen gab es viel zu morden,

Das Erste läuft, das Zweite läuft,

Beim Ganzen ist gelaufen worden.



sind gereimte Spielereien, die nicht in das Gebiet der Poesie gehören.



Beispiele der Charade.



α.

Die ersten lenken die rüstige Fahrt,

Die letzte schmückt sich mit stattlichem Bart;

Und geht's in die Brandung des Lebens hinein,

So mag die Liebe das Ganze sein.
(Lösung: Steuermann.)



(Körner.)



β.

Auf finsterem Fittig komm' ich geflogen,

Berausche die Sinne mit trüglichem Traum,

Und von des Gesetzes Urkraft gezogen,

Schweb' ich schnell durch der Welten Raum.
|#f0203 : 181|



Es treibt mich, das ewige Licht zu erjagen,

Und wer ich bin, wird die erste sagen.


Jm dunkeln Laube ward ich geboren,

Die strahlende Sonne hat mich gezeugt,

Und schnell ist der Traum des Daseins verloren,

Wenn mich der Blick der Mutter erreicht.

Jm Dunkeln nur kann ich fest mich begründen;

Mich werden die letzten der Silben verkünden.


Bewegt von des Abends schmeichelnden Lüften

Steh' ich im Garten, die Blüte gesenkt.

Jch küsse die Nacht mit balsamischen Düften,

Die mich mit stiller Liebe umfängt;

Doch glänz' ich nimmer im farbigen Kranze.

Kennst du mein still bescheid'nes Ganze?


(Lösung: Nachtschatten.) (Th. Körner.)



Weitere Beispiele der Charade finden sich bei Körner (Werke, Bd. I.

Rätselspiele), bei Hebel (Zeitlose), Kind (Bachstelze), Matthisson (Rheinfall), Houwald

(Wegweiser), Hauff (Preßfreiheit), K. G. Th. Winkler (Goldpapier, Lichtscheere)

u. a.



c. Logogriph.



Logogriph (von λόγος == Wort und γρῖφος == Rätsel, fälschlich

Logogryph, wie Körner, vgl. Ausg. von 1839, und A. schreiben) ist unser

sogenanntes Buchstabenrätsel. Jhm liegt ein Hauptwort zu Grunde, das durch

Weglassung oder Zusetzung oder auch (wie bei Hebel und Körner) durch

Vertauschung eines oder mehrerer Buchstaben stets einen verschiedenen Sinn

erhält, woraus man sodann dieses Hauptwort selbst mit Sicherheit zu erraten

befähigt wird, (z. B. Tasche ─ Asche, Ziegel ─ Jgel, Hammel ─ Hummel ─

Himmel &c.



Beispiele des Logogriph.



α.

Jch starb, weil ich's gewagt, das Strahlendste zu lieben.

Doch werd' ich, ohne M in meiner Brust, geschrieben,

So leb' ich, ein erhabnes Wort,

Ein Strahl der Gottheit, ewig fort.
(Semele ─ Seele.)



(K. G. Th. Winkler, Pseud. für Th. Hell.)



β.

Ein Trauerbild am schwarzen Sarkophage,

Feind jedes Lebens, Tod der süßen Lust,

Erschein' ich dir, mein Kind ist bittre Klage,

Die Eltern Reu' und trauernder Verlust;

Doch wäge nicht mit ungerechter Wage,

Auch Götter führ' ich oft in deine Brust:

Der Mutter Natterngift, des Vaters Wermut

Bring' ich der Welt, doch Wonnen auch der Schwermut.


(Schmerz.)



Hinweg der Natter zischendes Getön!

Der Bräut'gam naht, laut hallen Feierglocken

Durch Trift und Wald; schon kränzen Thal und Höh'n

Der frohen Braut zum Liebesfest die Locken.
|#f0204 : 182|



Sein Herold kommt, gleich Himmelskindern schön,

Mit Blütenschnee verjagt er Winterflocken,

Er schmückt die Bahn dem frühlingsschönen Heros,

Dem ros'umkränzten Götterjüngling Eros.
(Merz.)



Der Biene Summen schweigt. Aus kalter Gruft

Steigt ein Tyrann in blendend stolzem Glanze.

Machtvoll durchhallt sein Donnerton die Luft,

Wo blut'ger Krieg aufschwingt die Todeslanze.

Doch wo sanft schmeichelnd seine Stimme ruft,

Erzittert selbst die sturmgeprüfte Schlange.

Erzürnt flieh't heil'ge Treu, der bange Bürger

Sieht schaudervoll im Oberhaupt den Würger.
(Erz.)



O komm zurück, du früh versunkner Schatten,

Du sanfter Hauch; das Schreckbild ist entflohn,

Willst küssend du mit dem Phantom dich gatten;

Jn jeder Brust erbau'st du dir den Thron.

Du siegst im Schlachtfeld, auf beblümten Matten

Empfängst und giebst du süßer Liebe Lohn,

Du kannst im Kampf mit drohenden Gefahren

Allein des Menschen Geist machtvoll bewahren.
(Herz.)



Kommt auch zurück, ihr, die zuvor versunken,

Jhr muntern Gaukler, mit dem frohen Spiel',

Mit eurem Lispeln weckt des Witzes Funken,

Doch ehrt der Sitte leicht umgangnes Ziel;

Nicht allzu ernst und nicht bacchantisch trunken,

Spielt nicht zu wenig, tobt nicht allzu viel,

Und selbst im Rätselspiel weicht von der Straße

Zu weit nicht ab; schwärmt, wenn ihr schwärmt mit Maße.


(Scherz.) (Apel.)



Weitere Beispiele des Logogriph.



Körner (Werke I. unter: Rätselspiele).



Tiedge (Greis. Reis. Eis).



Hauff (Treue. Reue).



Krummacher (Schmerz. Merz. Erz. Herz).



F. P. Jakobs (Mohren. Ohren.) u. s. w.



d. Anagramm.



Anagramm (von ἀναγραμματισμός == Buchstabenversetzung). Es

bedeutet die Versetzung eines oder mehrerer Buchstaben eines oder mehrerer

Wörter, so daß ein anderes Wort oder ein anderer Satz daraus wird. So

entsteht aus Lampe == Ampel, aus Leib == Blei, aus Revolution française

== un Corse la finira
, aus Carl Heun == Clauren, aus Lange == Nagel

─ Angel ─ Algen ─ Galen (Schriftsteller), aus Faulpelz == Paul Felz.



Eine Reihe Schriften sind dieser dem Orient entstammenden müßigen

Spielerei gewidmet (z. B. Wheatty, On Anagrams etc. London 1862).



Beispiele des Anagramms.



α.

Wenn Frühlingswonne, neu geboren,

Des Herzens tiefsten Sinn entzückt,

Steh' ich vom Wechseltanz der Horen

Als Blumenkönigin geschmückt.
|#f0205 : 183|



Und schöne Mädchen winden mich zu Kränzen,

Als Schmuck auf ihrer Locken Gold zu glänzen.
(Rose.)


Wird vorgesetzt das letzte Zeichen,

Als Götterknaben schaust du mich;

Zeus muß sich meinem Willen beugen,

Jch quäle, ich beglücke dich;

Aus meinen Händen fallen dir die Lose,

Doch ohne Dornen reich' ich keine Rose.


(Eros.) (Th. Körner.)



β.

Nehmt immer mir den Kopf, und setzt ihn an den Schwanz,

Jch bleib' wie der Polyp, dasselbe Ding, und ganz.


Jhr kennt mich wohl; in stiller Nacht,

Wenn nur der treue Wächter wacht,

Umstrahlt mich milder Glanz.


(Lösung: Ampel == Lampe.) (Hebel.)



e. Palindrom (Doppelrätsel).



Palindrom (Rückwärtslesung von παλίνδρομος rückläufig == versus

cancrinus
) war ursprünglich ein Vers, welcher von vorn oder rückwärts gelesen

gleich lautete (z. B. Otto tenet mappam, madidam, mappam tenet

Otto
). Als Rätselform bezeichnet Palindrom ein Wort, welches rückwärts gelesen

ebenfalls ein Rätselwort ergiebt (z. B. Regen ─ Neger). Es ist somit

ein Doppelrätsel.



Beispiele des Palindroms.



α.

Still empfangen im zarten Keime

Tritt es hervor in des Himmels Räume,

Und es formt sich zur blühenden schönen Gestalt,

Und die Gottheit segnet's mit heiliger Weihe,

Daß es im Drange der Zeiten gedeihe,

Und es reift mit des Wesens dunkler Gewalt.


Zwar muß es endlich vergeh'n und erkalten,

Und sinken muß es zur gräulichen Nacht;

Doch strahlt es verjüngt durch des Grabes Spalten

Jm neuen Frühling mit seliger Pracht.


Liest du es rückwärts, ein Kind der Erde

Umarmt es die Mutter mit trüber Geberde,

Still widerstrebend dem frühen Strahl;

Und wie des Mädchens rosige Wangen

Ein Schleier umflattert mit zartem Verlangen,

So webt es sich innig um Berg und Thal.


Doch glühender wächst die Flamme der Sonnen,

Und es fliegt zerstreut durch das bläuliche Haus;

So ist das Rätsel zur Klarheit zerronnen,

Sprichst du der Deutung Zauberwort aus.


(Lösung: Leben, Nebel.) (Körner.)



β.

Noch sitzt auf halb verfallnem Throne,

Noch hält die längst bestrittne Krone

Die alte Königin der Welt.

Ob sie wohl je vom Throne fällt?
|#f0206 : 184|



Vielleicht! ─ doch liest du sie von hinten,

So wirst du einen König finden,

Der herrscht, seitdem die Welt besteht,

Des Reich nur mit der Welt vergeht;

Sie schießt nicht ewge Donnerkeile,

Doch ewig treffen seine Pfeile.


(Lösung: Roma, Amor.) (Hauff.)



Weitere Beispiele des Palindrom.



Körner (Werke I. unter Rätselspiele).



K. G. Th. Winkler (Bast ─ Stab).



Roos (Sarg ─ Gras).



Hebel (Werke Bd. I. Nr. 66, S. 226) u. a.



f. Die Homonyme.



Die Homonyme (auch das Homonym, nach a. sogar der Homonym

von ὁμώνυμος == gleichnamig) ist eine Rätselgattung, bei welcher

dasselbe Wort einen Doppelsinn (also verschiedene Bedeutung) hat;


z. B. die Hutder Hut.



(Homonym heißt das, was mehrfache Bedeutung, aber nur einerlei Namen

hat, ist also das Gegenteil von Synonym.)



Beispiele der Homonyme:



α.

Sieh', welch ein Dreister

Und Weitgereister!

Mit Vögeln fliegt er,

Mit Schiffen kreist er;

Sodann beschreibend

Die Welt dir weist er,

Wenn auf den Blättern

Jhn lenkt ein Meister.

Den Westen kennt er,

Den Osten preist er;

Mit Süd umglüht er,

Mit Nord umeist er,

Bald rührt und schmelzt er,

Bald scherzt und beißt er;

Mit Wundern spielt er,

Mit Rätseln speist er,

Er schafft Gestalten

Und wecket Geister,

Wenn eure wach sind,

So sagt, wie heißt er?
(Kiel.)(Rückert.)



β.

Jch trage dich hoch durch stürmische Lüfte,

Weit über der Erde Thäler und Grüfte,

Weit über der Alpen Gipfel empor,

Durch Sonnenschimmer und Nebelflor.

Doch was erblick ich? Krieger im Streite!

Bebend erzittert das fürchtende Land.

Aber du fassest den Feind in die Seite ─

Entzieh' ihm den Lorbeer, entreiß ihm die Beute!

Erkämpft ist der Sieg mit tapferer Hand;
|#f0207 : 185|



Von allen Lippen erschallet dein Ruhm,

Gerettet sind Bürger und Eigentum.

Aber wenn in stillen Harmonieen,

Sanft von schöner Hand berührt,

Süße Töne dir entfliehen,

Wird das Herz von Lust entführt;

Ja, du wandelst um und um

Unser Leben zum Elysium.
(Lösung: Flügel.)

(E. A. W. v. Kyaw.)



Weitere Beispiele der Homonyme:



Hauff (Römer).



Castelli (Acht).



Haug (Modern).



A. G. Eberhardt (Stern).



Körner (Werke I. unter Rätselspiele).



Rückert (in der 35. Makame, sowie Ges. Ausg. Bd. XII. S. 281 ff.) u. a.



II. Lehrgedichte mit besonderer Tendenz.


§ 85. Satire.



1. Die Satire ist altrömischen Ursprungs.



2. Wir verstehen heutzutage unter Satire diejenige Dichtungsgattung,

welche auf launige, witzige, sarkastische, persiflierende Weise

Schwächen, Verkehrtheiten, Thorheiten, Fehler und Laster der Menschen

lächerlich zu machen sucht, um dadurch zu warnen, zu tadeln, zu bessern,

und den Sinn für Höheres, Jdealeres zu pflegen.



3. Sie ist somit eine Art lehrhaftes Spottgedicht mit ethischem

Ziele.



4. Der Satiriker muß über Witz, Laune, Jronie &c. verfügen

und mit liebenswürdiger Urbanität ausgerüstet sein.



5. Man teilt die Satiren in ernste und lachende ein.



1. Das Wort Satire kommt von satura her, was die Schreibweise desselben

bedingt (== satira, ähnlich wie optumus, maxumus zu optimus,

maximus
&c. wurden).



Die altrömische Satire als älteste Gattung bezeichnete dem Wortlaut

nach
(satura sc. lanx == Fruchtschale, tutti frutti) ein Allerlei,

Quodlibet, Potpourri. Sachlich war sie eine lustige dramatische Aufführung

der ländlichen Jugend bei Erntefesten, wobei neckische Lieder, komische Erzählungen,

bei mimischem Tanz unter Flötenspiel abwechselnd vorgetragen wurden. Seitdem

es in Rom ein stehendes Theater gab (a. 364 v. Chr.), wanderten solche

auch auf die Bühne, bis sie zu Nachspielen (exodia) herabsanken. ─ Jn

anderem Sinne als Gemengsel (nämlich von Gedichten in verschiedenen

Maßen) schrieb Ennius (a. 239─169) saturae mit lehrhaftem Jnhalt, auch

mit Fabeln untermischt. Schon früher hatte der Grieche Menippos (ca. 270

v. Chr.) Philosopheme verspottet, und ihn ahmte der gelehrte Varro in Rom |#f0208 : 186|



(116─28 n. Chr.) nach in seinen saturae Menippeae, in welchen er teils

in Prosa teils in Versen die mannigfachsten philosophischen, historischen, litterarischen

Stoffe geistvoll behandelte. Dieselbe Mischung von Prosa und Versen

hat noch im I. Jahrhundert n. Chr. Seneca und Petronius Arbiter, im

5. Jahrhundert n. Chr. Martianus Capella, und im VI. Boethius.



Anderer Art ist die Satura des Lucilius (180─103 v. Chr.), welcher

saturae in 30 Büchern, teils in jambisch=trochäischen, teils in daktylischen

Maßen und Hexametern schrieb und zwar mit ethischer Tendenz den Luxus und

die Sittenverderbnis seiner Zeit schonungslos geißelte (secuit Lucilius urbem),

andererseits auch Gegenstände der Litteratur und Geschichte behandelte; eine

Reisebeschreibung und grammatische Stoffe befanden sich darunter, sowie Zurechtweisung

der gräcisierenden Dichter. Volkstümlicher Witz, Scherz und Bitterkeit

mischend, zeichnete ihn aus. Jhn ahmte eingestandenermaßen der uns noch

erhaltene Horaz (65─8 v. Chr.) nach, welcher jedoch mehr die Thorheiten

verlacht, als mit finsterem Ernste geißelt, der seinem Wesen überhaupt fremd

ist. Auch der junge, reichgebildete Persius (34─62 n. Chr.) dichtete erst

eine Reisebeschreibung, dann eine Verherrlichung seiner Verwandten Arria

(Paete, non dolet!), und als Schüler des Stoikers Cornutus schrieb er

sechs nicht vollends ausgearbeitete Satiren in moralischer, milder, ruhiger Darstellung,

aber freilich ohne die nötige Lebenserfahrung, und ohne sein Vorbild

Horaz in der Darstellung auch nur entfernt zu erreichen. Endlich Decim. Jun.

Juvenalis (47 bis nach 130 n. Chr.) wurde aus Zorn und Schmerz über

die greuliche Verderbnis seiner Zeit (facit indignatio versum) dazu getrieben,

in 16 Büchern Satiren die Verderbnisse im Privatleben unter Kaiser Domitian

naturgetreu und schonungslos zu schildern; er ist der ernste Sittenrichter, der

mit Sehnsucht nach der Größe des alten Rom und mit Entrüstung über die

allgemeine Korruption zu Gericht sitzt.



So ist die Satire, wie Quintilian schon hervorhob, eine echt römische

Litteraturgattung, mit welcher bei den Griechen nur zum teil die uns nicht

genug bekannten σιλλοί vergleichbar wären; der Grundzug bei der Mehrzahl

der römischen Satiriker ist die Sittenmalerei, welcher sich bald ernster, bald

heiterer die Sittenkritik beimengt.



2. Die deutsche Satire in der heutigen Form ist didaktischer Natur.

Lehrend wendet sie sich gegen die bestehende Erbärmlichkeit und Nichtigkeit, und

zwar thut sie dies oft dadurch, daß sie (mit Jronie) das lobt, was sie tadeln

möchte. Jhre Absicht ist, zu beschämen, um dadurch den Entschluß zur Besserung

hervorzurufen. Durch juvenalische Geißelung des Lasters wirkt sie nicht selten

empfindlicher, als der ernsteste Tadel eines Lehrers oder Predigers. Sie

bekämpft und trifft diejenigen, welche durch ihre Stellung oder Lehre Verderben

säen, ohne daß man ihnen sonst beikommen kann, oder ohne daß diese von

jemand sonst die Wahrheit zu hören bekommen.



Jn unserer Zeit sind der Kladderadatsch und die Wespen Organe

der Satire.

|#f0209 : 187|



3. Die Satire, welche auch im Lustspiele, sowie in den Dichtungsgattungen

Fabel, Epistel &c. auftreten kann, fällt mit den Bestrebungen der Moralphilosophie

zusammen, indem sie durch die Art ihrer Darstellung die Beseitigung

der gerügten Mängel bezweckt. Auch die alten deutschen Satiren, welche unter

dem Namen Lichter bekannt waren, hatten ethische Tendenz. Sie wurden des

Nachts bei Licht zur Belohnung der Guten und zur Bestrafung der Schlechten

vor den Häusern abgesungen, woher der Name Lichter kam.



4. Der Satiriker muß mit feiner Menschen- und Sittenkenntnis einen

ausgezeichneten Scharfblick im Erspähen menschlicher Schwächen verbinden (was

Horaz an Lucilius rühmt: emunctae naris), um im Tone Horazischer Sermone

─ fern von Schadenfreude und niederer Absichtlichkeit ─ ein objektives

Bild menschlicher Narrheiten voll Witz, Laune, Humor &c. zu liefern. Er muß

sich des freien Witzes bedienen. (Vgl. z. B. Börnes epigrammatische Satire

Bd. I, S. 103.) Sein Humor muß sich als schalkhafte Laune entfalten (vgl.

z. B. Lessings naive Äußerung über die Galathee:



Die gute Galathee! Man sagt, sie schwärz' ihr Haar;

Da doch ihr Haar schon schwarz, als sie es kaufte, war.)



Seine feine Jronie muß den Schein des Ernstes und den Ernst des

Scheines treffen (vgl. Bd. I, S. 105). Durch diese feine Jronie muß er

den zu Geißelnden sogar als einfältig hinzustellen vermögen, sofern dieser das

Jronische gar nicht merken soll. Ein Beispiel solcher Jronie ist es, wenn

Gurdafrid (Rückerts Ges. Ausg. XII, 159) dem Suhrab, den sie entfliehend

betrog, von der Zinne zuruft: „Nun warte, Freund, bis ich die Schlüssel

bringe!“ Oder wenn Horaz mit Selbstironie, ja mit großer Naivetät an seiner

eigenen Person zeigt, was er an anderen lächerlich gefunden.



Der Satiriker muß stets bei der Sache bleiben und die Person nur als

Trägerin der Sache treffen. Hervortretende Absichtlichkeit gegen die Person an

sich würde die Wirkung der Satire von vorne herein vereiteln. Nur die Fehler

dieser Person darf der Satiriker mit grellem Lichte überstrahlen; nur die Mißbräuche,

Übelstände, Thorheiten &c. in der Gesellschaft darf er von ihrer lächerlichen

Seite darstellen und geißeln, um die Entfernung von der Natur oder

den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale zu strafen. Durch diese

Objektivität allein wird sich der Satiriker davor bewahren, die Grenzen der

Wahrheit zu überschreiten und in das Bereich der karikierenden Verleumdung,

der verletzenden Bitterkeit und der Pöbelhaftigkeit zu geraten, die sein Gedicht

zum Pasquill erniedrigen oder ihn so tief herabsteigen lassen würde, wie z. B.

Rabener, von welchem Schlosser in Gesch. des 18. Jahrh. behauptet, daß der

Jnhalt seiner Satiren gar nicht der Öffentlichkeit angehöre, vielmehr den Kaffeegesellschaften,

Schenken und Kasinos seiner Zeit &c.



5. Die Satiren scheiden sich in a. ernste (strenge, bittere, affektvolle,

direkte) und b. in lachende (scherzhafte, heitere) Satiren.

|#f0210 : 188|



Beispiele der Satire.



α. Die Sterne, von Hoffmann von Fallersleben.

Warum hat Gott der Herr geschmücket

Wit Sternen ohne Maß und Zahl

Den schönen weiten Himmelssaal?

Das wissen wir, wir Menschen nicht.


Warum hat Gott der Herr geschmücket

Mit Blumensternen Wies' und Feld,

Die ganze liebe weite Welt?

Das wissen wir, wir Menschen nicht.


Warum hat mancher Fürst geschmücket

Seit Jahr und Tag mit Stern und Band

So manche Brust in Stadt und Land?

Das weiß selbst Gott im Himmel nicht.



β. Unterhaltung im Freien, von Saphir.

Da sitzen die Herren und rauchen

Und gucken in die Höh',

Da sitzen die Damen und tauchen

Den Kuchen in den Kaffee.


Da scharrt ein Herrchen die Füße

Und macht sein Kompliment,

Die Damen erwidern die Grüße,

Dann ist die Sache zu End'.


Da nehmen die Herren die Stöckchen

Und klopfen sich die Schuh',

Die Damen verschieben die Löckchen,

Und zeigen die Händchen dazu.


Da rufen die Herren dem Hündchen

Und rufen: „Marsch! apport!“

Die Damen verziehen das Mündchen

Und stricken gähnend fort.


Da kriegt ein Herrchen Kourage

Und wird gar amüsant,

Die Damen befürchten Blamage

Und gucken in den Sand.


Das Herrchen sagt süßlich und herbe:

„Das Wetter ist so schön!“

Die Damen erwidern: „Süperbe,

Man kann's nicht schöner seh'n!“


Das Herrchen ist nun fertig

Und setzt den Hut sich schräg;

Die Damen sitzen gewärtig

Auf's Ende vom Gespräch'.


Das Herrchen schweigt aber verlegen

Und schaut zum Dach hinauf;

Die Damen, sie nehmen hingegen

Die Nadeln wieder auf.
|#f0211 : 189|



Dann geht das Herrchen nach Hause,

Ganz von sich selbst charmiert;

Sagt sich selbst beim fröhlichen Schmause:

„Die hab' ich amüsiert!“



γ. Anfang derPhilosophie des Bewußtenvon Joh. Scherr.

Willst du mit aller Welt in Frieden leben,

So hüte dich, auch nur um einen Zoll

Über die Menge dich emporzuheben!

Und willst du, daß man nehme dich für voll,

Mußt du verstehn, dich möglichst leer zu geben,

Die Losung der Gesellschaft ist: „Es soll

Nur Mittelmäßiges sich machen breit da!

Jch selber bin die Mittelmäßigkeit ja.“


Zieh' an des Ordinären Uniform;

Gemeinplatz mit Gemeinplatz zu bezahlen,

Das sei dir allezeit Gesetz und Norm.

Mahle nur Korn, das and're schon gemahlen,

Backe dein Brot in „meist gefragter“ Form,

Will sagen: in der gangbar liberalen!

Ein bißchen Liberalismus ─ nicht zu viel! ─

Ziert ja den Mann von Bildung und Gefühl.


Nur niemals schwimmen gegen Strom und Mode,

Nein, mit dem Strom und mit der neusten Mode stets,

Banaler Weg führt dich zu Amt und Brote!

Jch meine, beim Horaz in einer Ode steht's:

Die gold'ne Mittelstraße bis zum Tode

Einhalten ist die richtigste Methode stets;

Und sterbend noch befiehl du deinem Sohne

Den innigsten Respekt vor der Schablone.



Litteratur der Satire.

Als besondere Dichtungsgattung kannte man die Satire bei den Griechen

nicht, wenn auch die griechischen Lustspiele viel Satirisches enthielten. Wohl aber

erzählt man von den satirischen Jamben des Archilochos, daß die durch sie Gegeißelten

aus Verzweiflung sich erhängt hätten. Es waren Spottgedichte voll

von Persönlichem. Die Satiriker bei den Römern haben wir unter 1 dieses

Paragraphen S. 185, 186 aufgezählt.



Von den Jtalienern sind als Satiriker zu erwähnen: Salvator Rosa,

und Ariosto; von den Spaniern die beiden Argensola; von den Engländern

Pope, Young, Jonathan Swift († 1744. Seine besten satirischen

Werke, die Märchen von der Tonne und die Bücherschlacht, hat Kottenkamp

in's Deutsche übertragen).



Von den Franzosen sind zu nennen: Boileau, Regnier, und als

der beste Rabelais.



Bei den Deutschen bezeichnete man die erste satirische Poesie als Narrenpoesie,

weil sie die Narrheiten verschiedener Klassen der Gesellschaft geißelte. Brant,

Murner, Fischart
entsprechen dem römischen Trio Horaz, Juvenal, Persius.

|#f0212 : 190|



Sebastian Brant, Stadtsyndikus von Straßburg (1494; Bd. I. 49),

geißelte in den 113 Kapiteln seines satirischen Narrenschiffs die Laster und

Gebrechen aller Stände. Durch Schilderung der verschiedenen Gattungen von

Narren seiner Zeit, die in einem großen Transport auf einem Schiffe in ihr

Vaterland Narragonien zurückgebracht werden, entwirft er ein Bild der damaligen

Zustände und erregte dadurch so gewaltiges Aufsehen, daß z. B. der

berühmte Theologe Geiler von Kaisersberg in Straßburg Predigten über sein

Buch hielt.



Aus Brants Narrenschiff:



Wer nit gern hört von Weisheit sagen,

Der wird dest dicker von mir klagen,

Dem hört man an sin Worten an,

Was er sei für ein Gouckelmann.



Thomas Murner (vgl. Bd. I. S. 49).



Der zügelloseste und größte Satiriker Deutschlands war Joh. Fischart

(† 1590), dessen schonungslose Schriften sich schon durch ihre drolligen Titel

auszeichneten. (Vgl. z. B. Bd. I. S. 592.)



Rollenhagen (witzig, anschaulich, fein, schlagend hält sich im Gegensatz

zu Murner von Straßburg innerhalb der Schranken der Sittlichkeit). Vgl.

noch die Bd. I. S. 50 erwähnten Satiren.



Schöpfer der eigentlichen poetischen Satire in Deutschland ist Joachim

Rachel
(† 1669 als Schulrektor zu Schleswig. Er schrieb zehn Satiren,

in welchen er in gutmütig tadelnder Weise die Schwächen seiner Zeit geißelt,

z. B. Das poetische Frauenzimmer oder die böse Sieben. Vgl. die Probe,

Bd. I. S. 33). Als deutsche Satiriker haben sich ferner einen Namen erworben:

Laurenberg († 1659 als Professor der Dichtkunst; schrieb vier

nachlässige frivole Scherzgedichte in plattdeutscher Mundart. Das Gedicht von

der Kinderzucht ist Nachbildung der 14. Satire Juvenals). Moscherosch

(schrieb: „Wunderliche und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald,

d. i. Strafschriften, in welcher aller Welt Wesen, aller Menschen Händel mit

ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalt, Heuchelei, Thorheit bekleidet,

öffentlich auf die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellt und gesehen

werden.“ Während Grimmelshausens Simplicissimus besonders das Soldatenleben

behandelt, nimmt diese Nachbildung der Suennos y discursos des

Spaniers Franzisko de Quevedo die deutschen Thorheiten und Laster aller

Stände zur Zielscheibe und sucht z. B. Hofleute, Quacksalber, Advokaten, Tabakraucher,

renommierende Soldaten, Modenarren, Sprachverdreher &c. lächerlich zu

machen, welch letztere er durch deutsches, lateinisches, griechisches, französisches &c.

Durcheinanderreden höhnt). Abraham a Santa Clara (Bd. I. 52).



Philander von der Linde (pseudonym Burkhard Monke, † 1732)

teilt in einem Anhange seiner 1710 in Leipzig erschienenen Gedichte ein satirisches

Gedicht mit: „Cartell des Bramarbas an Don Quixote.“ Joh. Christ.

Günther
(Bd. I. 51) schrieb mehrere Satiren, z. B. Auf einen Büchersaal. |#f0213 : 191|



Rabeners spießbürgerliche Satiren geißeln alte Jungfern, Landjunker, Advokaten,

Richter &c.



Haller (z. B. Die verdorbenen Sitten). Pyra, Rost, Lange (vgl.

Bd. I. S. 54). Liskow (Bd. I. 54) kam 1760 wegen seiner Satiren in's

Gefängnis, woselbst er starb; man nannte ihn den Swift der Deutschen.

(„Von der Vortrefflichkeit und Notwendigkeit elender Skribenten“ ist seine beste

satirische Arbeit.) v. Canitz (Tod eines ungerechten Geizhalses). Hagedorn

(nahm sich Horaz zum Muster). Wieland (giebt in den Abderiten eine heitere,

zutreffende Satire auf das Leben und Treiben der Kleinstädter). Stolberg

(Der Frohn an Lichtwehr; Über die Persiflage; Der zweite Rat). Falk

(† 1826. Rezept zu einer modernen Elegie; Leben des Johannes von der Ostsee).

Jean Paul (der bedeutendste Satiriker in Prosa). Haug, Lichtenberg

(Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond; Bittschrift der Narren).

Börne, Platen, Schlegel (Die satirische Ehrenpforte Kotzebues).

Heine
(Deutschland, ein Wintermärchen, satirische Geißelung deutscher Zustände

am Faden seiner Reise von Paris nach Hamburg &c.). Bogumil Goltz,

Ad. Glaßbrenner
(z. B. Neue lustige Komödien). Goethe (z. B. Musen

und Grazien in der Mark). Schiller (Shakespeares Schatten; Die Weltweisen;

Die Philosophen). Uhland (Frühlingslied des Recensenten; Wanderung).

Rückert (Auf die Schlacht an der Katzbach; Die 99 Schneider &c.).



Saphir (Unterhaltung im Freien, fliegendes Album für Ernst, Scherz,

Humor). Alfred Meißner (Sohn des Atta Troll). Hartmann (Reimchronik

des Pfaffen Mauritius, satirische Gedichte auf die politischen Zustände

Ungarns, Deutschlands, auf die Glieder des Frankfurter Parlaments &c.).

H. Döring (Der leere Titel). Bauernfeld (Die dramatische Satire „Reichsversammlung

der Tiere“). Gruppe (Abendentzückungen). Herloßsohn

(† 1849. Mephistopheles). Rellstab (Henriette). Schmidt-Cabanis u. a.



§ 86. Travestie.



Travestie (Vermummung) ist die Ummodelung, Umgestaltung eines

ernsthaften, oft erhabenen Gedichts zu einem scherzhaften, Lachen erregenden.

Oder: Travestie ist ein Gedicht, welches den ernsten würdigen

Stoff (== Jnhalt) eines allbekannten Gedichts beibehält und nur

die Form (Versmaß &c.) verändert, um durch Verwebung mit heiteren

Beziehungen, lächerlichen Zufälligkeiten, Gebräuchen, Sitten, Thorheiten,

modernen Anschauungen und durch trivial=komische in's Lächerliche

ziehende satirische Behandlung u. a. dem ernsten Stoff eine komische,

meist karikierende Wendung zu geben.



Jndem der Dichter den nämlichen Gegenstand eines Gedichts im entgegengesetzten

Sinn und Geist behandelt, erinnert er durch ähnliche Ausdrücke,

oder auch durch dieselben Worte, zuweilen sogar durch Beibehaltung der

Strophenart u. s. w. an das Original, dessen Ernst und Würde er karikiert |#f0214 : 192|



und lächerlich macht. Daher heißt travestieren soviel als ein erhabenes Gedicht

in's Lächerliche ziehen, es scherzhaft umformen, umkleiden.



Da der Gegenstand häufig in niedrige, gewöhnliche Sphären herabgezogen,

ja nicht selten herabgewürdigt wird, so wirkt der Kontrast mit dem erhabenen

Vorbild um so greller. Daher haben nur wenige Travestien poetischen Wert. Die

meisten sind lediglich als Ausdruck von Witz und Laune bemerkenswert und

werden nur so lange ertragen, als sie nicht in's Frivole und Gemeine übergehen.



Zu den vornehmsten Arten des Lächerlichen gehört der Kontrast zwischen

Ursache und Wirkung, zwischen Zweck und Mittel, ferner die Entdeckung einer

unerwarteten Ähnlichkeit zwischen unähnlichen Gegenständen, endlich der Kontrast

zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem, Großem und Kleinem nebst kurzen

witzigen Einfällen (Bonmots).



Darauf gründet sich ebenso der heroisch=komische, wie der niedrigkomische

oder burleske Stil in der Travestie (wie auch in der Parodie;

§ 87 d. Bds.).



Der heroisch=komische Stil stellt Unwichtiges als wichtig in erhabener feierlicher

Ausdrucksweise dar. Der burleske Stil dagegen zieht Erhabenes in's

Niedrige. Das Launige und Humoristische stellt Ernstes lächerlich dar und umgekehrt.



Didaktisch wirkt die Travestie dann, wenn sie satirisch ist und ihr also

ein höheres Jnteresse als bloße Belustigung zu Grunde liegt. Jn diesem Falle

macht sie eine falsche, überschwengliche Richtung des Gefühls lächerlich und

vertritt somit die Sache der Wahrheit und der Vernunft.



Jm Französischen hat Scarron die gelungensten Travestien geliefert; im

Deutschen Blumauer (Äneis). Gesammelte Travestien finden sich z. B. im

Buche deutscher Parodien und Travestien von Z. Funk. 1840.



Beispiel der Travestie.



Äneas' Flucht aus Troja.

[Beginn Spaltensatz]Originalgedicht Schillers nach

Virgil.


Strophe 119.

Und lauter, immer lauter hört man schon

Des Brandes nahe Feuerflammen krachen.

Auf, Vater, ruf' ich, auf! Jch trage dich,

den Schwachen;

Leicht drückt des Vaters teure Last den

Sohn.

Was nun auch kommen mag, wir teilen

Tod und Leben,

Die Hand will ich dem Kleinen geben,

Jn ein'ger Ferne folgt Kreusa still.

Jhr Knechte, merkt, was ich verkünden will.


120.

Gleich vor der Stadt steht ihr an einem

Felsenhange,

Den ein verlassner Cerestempel schmückt,

Daneben ein Cypressenbaum, seit lange
[Spaltenumbruch]

Travestie. (Aus: Blumauers travestierte

Äneis.
)


Jch trat ins Zimmer. Welch' ein Bild!

Wie ward ich da betroffen!

Mein Vater hinter einem Schild,

Mein Söhnchen hinterm Ofen.

Mein Weib, das hoch die Hände rang,

Schrie heulend: Schütze mich vor Zwang,

Du heil'ge Mutter Anna!


Kourage, rief ich, faßt euch! Wißt,

Frau Venus hat mir eben

Ein Land, wo Milch und Honig fließt,

Statt diesem Nest gegeben.

Kommt mit in dies Schlaraffenland,

Da sind die Felsen von Tragant,

Die Wälder voll Zibeben.


Da will ich naschen, rief Askan,

Und hing an meiner Seite;
[Ende Spaltensatz] |#f0215 : 193|



[Beginn Spaltensatz]
Mit Andacht von den Vätern angeblickt.

Dort treffen wir uns in verschiednen

Scharen!

Du, Vater, wirst die Heiligtümer wahren!

Wie dürfte sie, noch nicht genetzt von frischer

Flut,

Berühren diese Hand voll Blut!


121.

Sogleich wird ein Gewand den Schultern

umgehangen,

Vom Rücken wallt noch eine Löwenhaut;

Jch neige mich, die Last des Vaters zu

empfangen,

Der Rechten wird mein Julus anvertraut,

Der neben mir mit kürzern Schritten eilet,

Und hinter unserm Rücken weilet,

Zu hintergehn den lauernden Verdacht,

Kreusens Schritt ─ so fliehn wir durch

die Nacht.


122.

Wie oft auch sonst im wildesten Gemenge

Der Schlacht mein Busen unerschüttert

blieb,

Wie wenig mir der Feinde furchtbarstes

Gedränge

Die Röte von den Wangen trieb,

Jetzt machte jeder Laut mich beben,

Mir schauerte vor jedes Lüftchens Zug,

Besorgt für des Begleiters Leben,

Bang für die Bürde, die ich trug. u. s. f.
[Spaltenumbruch]

Mein Weib that Pelz und Handschuh' an,

Und ich rief meine Leute,

Und sprach: ─ schickt euch zur Reise an!

Jm Bierhaus vor der Stadt beim Schwan,

Da kommen wir zusammen.


Drauf nahm ich meine Wildschur um,

Daß sie die Rüstung deckte,

Jndessen brannt' es um und um,

Und sieh, das Feuer reckte

Zum Fenster schon die Zung' herein:

Da fingen alle an zu schrei'n:

Sankt Florian, errett' uns!


Nur Weiber zittern in Gefahr;

Jch, ohne umzublicken,

Nahm meinen Vater, wie er war,

Und packt' ihn auf den Rücken.

Nun, rief ich: Vater, reitet zu,

Gieb her die Hand, Askan, und du,

Kreusa, geh' zur Seite!


Jch, der ich sonst dem Teufel steh',

Erbebte nun vor Lanzen

Und Schildgeklirr', und zitterte

Für meinen teuern Ranzen.

Jndessen trug ich meinen Sack

Ganz unverletzet huckepack

Durch Nacht und Graus und Flammen.


u. s. f.[Ende Spaltensatz]



§ 87. Parodie.



1. Die Parodie (Nebengesang) ist die möglichst treue Nachahmung

irgend eines bekannten Gedichts durch fremdartigen Stoff.



2. Man unterscheidet ernste und komische Parodien.



1. Jm Gegensatz zur Travestie (welche, wie in § 86 erwähnt, den

gleichen Gegenstand in neuer Form meist karikierend erzählt) ist der Gegenstand

der Parodie vom Gegenstande des Originalgedichts durchaus verschieden;

er ist meist niedriger, gemeiner. Zum Wesen der Parodie gehört es nur, daß

Form (Metrum), Gedankenfolge, Ausdrucksweise (Wortlaut) thunlichst mit dem

Originalgedicht übereinstimmen und an dasselbe erinnern. Das älteste parodistische

Gedicht ist die im ernsten Ton der Jlias die Kämpfe der Mäuse und

Frösche erzählende Batrachomyomachie.



Unsere Litteratur ist nicht arm an Parodien. Überwiegend sind jene

schlechten Parodien, welche das Erhabene in den Staub ziehen und das Heilige,

Weihevolle, Würdige &c. sträflich verletzen. Jm 16. Jahrhundert schon

dichtete man in ernster Absicht beliebte, weitgesungene weltliche Lieder in geistliche

um, indem man die weltliche Form beibehielt und nur für den weltlichen |#f0216 : 194|



Gegenstand einen geistlichen wählte. Beispiele haben wir in § 57 d. Bds.

genügend aufgezählt. Weitere Proben finden sich in Wackernagels Kirchenliede.



2. Der Geist der ernsten Parodien ist dem Geiste des Urbilds verwandt,

wie dies unsere erste Probe von Bretschneider beweist und wie dies viele

bekannte Parodien zu Schillers „Hektors Abschied“ und „Worte des Glaubens“

darthun. Vgl. auch die Beispiele in § 57 d. Bds.



Die komische Parodie verkehrt den Geist des Urbilds in's Komische. Sie

wird durch den Kontrast zu einer Art Travestie. Vgl. jenes allbekannte Kaffeegedicht,

durch welches Schillers Lied von der Glocke parodiert ist, sowie die

gelungene Rüpelkomödie in Shakespeares Sommernachtstraum, die mit ihrem

Pathos den tragischen Ton damaliger Poeten verhöhnt.



Berechtigt erscheint die Parodie nur dann, wenn sie eine schiefe Richtung

des Geistes lächerlich macht, also satirisch ist und didaktische Tendenz hat.



Beispiele der Parodie.



[Beginn Spaltensatz]Originalgedicht: Mignon von

Goethe.


Kennst du das Land? wo die Citronen blühn,

Jm dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl? ─ ─ Dahin! Dahin

Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.


Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, gethan?

Kennst du es wohl? ─ ─ Dahin! Dahin

Möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.


Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;

Jn Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.

Kennst du ihn wohl? ─ ─ Dahin! Dahin

Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn!
[Spaltenumbruch]

Ernste Parodie von Bretschneider.



Siehst du das Licht, das jenseits unbegrenzt

Aus tausend Welten auf uns niederglänzt?

Jn das der Nächte Finsternis nicht dringt,

Das rein und frei sich durch den Äther schwingt?

Siehst du das Licht? ─ ─ Dahin, dahin

Laß aus des Lebens banger Nacht uns fliehn!


Siehst du das Blau, das jeden Stern umschließt,

Den Äther, der durch alle Welten fließt,

Der, nie getrübt, von keinem Sturm bewegt,

Den Strahl des reinsten Lichtes trinkt und trägt?

Siehst du das Blau? ─ ─ Dahin, dahin

Laß aus des Lebens Nebelluft uns fliehn!


Siehst du den Stern, der dort so hell uns glänzt,

Wo keine Nacht des Lebens Traum begrenzt?

Wo keines Truges Gaukellicht uns scheint,

Kein Donner rollt, kein liebend Auge weint?

Siehst du den Stern? ─ ─ Dahin, dahin

Laß aus des Lebens Thränenthal uns fliehn!
[Ende Spaltensatz]



(NB. Eine gelungene Parodie auf Goethes Mignon ist noch das Vaterland

von Cl. Harms: „Kennt ihr das Land, auf Erden liegt es nicht“ ─ u. s. w.)



[Beginn Spaltensatz]Originalgedicht: Das Mädchen aus

der Fremde
von Schiller.


Jn einem Thal bei armen Hirten

Erschien mit jedem jungen Jahr,

Sobald die ersten Lerchen schwirrten,

Ein Mädchen schön und wunderbar.


Sie war nicht in dem Thal geboren,

Man wußte nicht, woher sie kam;

Doch schnell war ihre Spur verloren,

Sobald das Mädchen Abschied nahm.


Beseligend war ihre Nähe,

Und alle Herzen wurden weit;

Doch eine Würde, eine Höhe

Entfernte die Vertraulichkeit.


Sie brachte Blumen mit und Früchte,

Gereift auf einer andern Flur,

Jn einem andern Sonnenlichte,

Jn einer glücklichern Natur;
[Spaltenumbruch]

Komische Parodie: Die Erscheinung

im Kaffeesaale
von Röller.


Jn einer Stadt bei jungen Frauen

Erscheint ─ nach jedem Mittagsmahl,

So wie der Kaffee sich läßt schauen,

Ein geistig Wesen in dem Saal.


Es ist nicht in dem Saal geboren

Man fragt es nicht, woher es kam;

Doch schnell ist seine Spur verloren,

Sobald man wieder Abschied nahm.


Vereinigend ist seine Nähe,

Und alle Lippen thun sich auf,

Und keine Würde, keine Höhe,

Hemmt ihres Wörterstromes Lauf.


Es bringet Fehler mit und Namen,

Gemerkt in einem andern Haus,

Bei eingebildeteren Damen,

Auf einem andern Kaffeeschmaus;
[Ende Spaltensatz] |#f0217 : 195|



[Beginn Spaltensatz]
Und teilte jedem eine Gabe,

Dem Früchte, jenem Blumen aus;

Der Jüngling und der Greis am Stabe,

Ein jeder ging beschenkt nach Haus.


Willkommen waren alle Gäste;

Doch nahte sich ein liebend Paar,

Dem reichte sie der Gaben beste,

Der Blumen allerschönste dar.
[Spaltenumbruch]

Und schenkte jeder eine Gabe,

Der Witz und jener scharfen Blick;

Der Jüngling, wie der Greis am Stabe,

Ein jeder kommt beklatscht zurück.


Zum Tadel dienen alle Gäste;

Doch birgt sich wo ein liebend Paar,

Das giebt der Kaffeereden beste,

An dem läßt man kein gutes Haar.
[Ende Spaltensatz]



(NB. Eine Parodie auf Schillers Mädchen aus der Fremde ist auch Saphirs

„Die deutsche Litteratur“: Jn Leipzig auf der Büchermesse erscheint mit jedem halbem

Jahr u. s. w.)



[Beginn Spaltensatz]Aus Matthissons Adelaide.

Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten,

Mild vom lieblichen Zauberlicht umflossen,

Das durch wankende Blütenzweige zittert,

Adelaide!
   u. s. w.[Spaltenumbruch]

Aus Wießmanns Parodie:

Der Witwer.


Einsam wandl' ich Witwer in Bosens Garten,

Matt vom dürftigen Lampenlicht umflossen,

Das durch öde Kastaniengänge flimmert,

Alte Kathrine!
   u. s. w.[Ende Spaltensatz]



Weitere Beispiele von Parodien haben geliefert: Fischart, Murner,

Brant.
Von Späteren: Mahlmann (Herodes vor Bethlehem, oder der

triumphierende Viertelsmeister, ─ eine höchst gelungene satirische Parodie auf

Kotzebues Thränenstück Die Hussiten vor Naumburg); Castelli (der Schicksalsstrumpf,

Parodie auf Müllners Schuld); Kosegarten (Klagelied eines Mißvergnügten,

Parodie auf Höltys Aufmunterung zur Freude); Blumauer, Rabener,

Falk, Roller, Schütz, Hagedorn, Lichtenberg, Wieland, Goethe (Musen und Grazien

in der Mark ─ gegen Schmidt von Werneuchen gerichtet); Hauff (Mann im

Monde ─ Clauren persiflierend); Voß, Uhland, Heine, Börne, Brunner,

Sommer (Gedichte in Rudolstädter Mundart); Rückert (Marschall Mai ─,

Parodie auf dessen Marschall Ney); Johr (Der Reimjäger, Parodie auf

Schillers Alpenjäger); Louis Wallo (Die Bürgschaft, Parodie auf Schillers

Bürgschaft); Eichrodt (im Hortus deliciarum, vgl. § 65) u. a. (Die Parodie

in der klassischen Litteratur hat H. Blümner-Zürich in der Decembernummer

1881 des „Süd und Nord“ von P. Lindau behandelt.)



§ 88. Humoristische Dichtungen.



1. Humoristische Dichtungen sind solche Dichtungen, welche durch

Anwendung von Gegensätzen (Kontrasten) das Komische ernst und das

Ernste komisch behandeln und dadurch eine komische oder erheiternde

Wirkung erreichen. Die humoristischen Gedichte verletzen niemanden:

ihr Grundgefühl ist das der menschlichen Ohnmacht und Nachsichtsbedürftigkeit.

(Von den komischen Liedern ─ § 63 ─ unterscheiden

sie sich durch ihre didaktische Tendenz.) Mit dem in ihnen waltenden

Humor darf die von den Romantikern so genannte Jronie des Schicksals

nicht verwechselt werden.



2. Der Humorist muß durch Bildung und Feinsinnigkeit über

seinem Gegenstande stehen und die Höhen des menschlichen Lebens zu

überschauen vermögen.

|#f0218 : 196|



1. Das lateinische Wort humor bedeutet jede Feuchtigkeit, jedes Naß, es

sei Wasser, Milch, Wein oder Thränen. Humores hießen sodann im lateinischen

Mittelalter die verschiedenen Maß- und Mischungsverhältnisse (κρᾶσις, temperamentum)

von Feuchtigkeiten und von Wärme im menschlichen Organismus

und die darauf beruhenden Charakterunterschiede der menschlichen Temperamente.



Bei uns bezeichnet das Wort Humor (vgl. Bd. I S. 105) eine die

satirische Laune überragende, erheiternde Stimmung, welche in gutmeinender

Weise die menschlichen Fehler als Schwachheiten und Fehltritte, nicht aber als

Verbrechen betrachtet, sie daher wohlwollend, mitunter herzlich anteilnehmend in

naiver Weise von ihrer komischen, lächerlichen Seite nimmt, über sie scherzt

und sie gewissermaßen epikureisch=stoisch belächelt.



Nicht selten wird Humor mit Laune verwechselt. Die Engländer gebrauchen

das Wort humour noch heute unserem Worte Laune entsprechend;

in unserem Sinne wenden sie es nur an, wenn sie ihren Dichtern Shakespeare,

Swift, Sterne u. a. Humor zuschreiben.



Der Humor steht höher, als die Laune. Er ist als Widerspruch zwischen

Einbildung und Gemüt aufzufassen, insofern das Gemüt in Gegensatz zu den

von der Einbildung aus der Wirklichkeit entlehnten, ihr nachgebildeten Anschauungen

tritt; in solchen Konflikt und Kontrast mit der Einbildung stellt sich

das Gemüt aber, wenn die Anschauungen nicht die entsprechenden Beziehungen

nach Oben haben und nicht die gleiche edle Erhebung des Gefühls teilen. „Dann

schwingt sich das Gemüt ─ um mit Wackernagel zu sprechen ─ empor und

schaut hinab auf das gebrechliche, beschränkte Wesen da unten, halb voll Zorns,

halb voll Mitleidens lächelnd, aber unter Thränen; tragisch, aber es führt

zugleich die Versöhnung mit sich: es schwebt gleichsam wie die Taube über

der Sündflut, Trost und Heil von oben verkündigend, während der gemütlose

Spott eher dem ungetreu entweichenden Raben gleicht. Demnach ist dem Humor

die Beziehung auf religiöse Dinge durchaus nicht fremd, ja, bei den besten

Humoristen trägt er durchweg eine bald mehr bald minder hervorstechende

religiöse Farbe: so bei Claudius, bei Hippel, bei Hamann, bei Jean Paul,

bei Hebel; aus Hebels Gespräch auf der Straße nach Basel, die Vergänglichkeit,

kann man beinahe eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende

Theorie des Humors entwickeln; hier läßt sich die Entzweiung des Gemütes

mit der Wirklichkeit von Stufe zu Stufe fortschreitend verfolgen bis zu der

letzten und höchsten, wo vom Himmel selbst hinunter die seligen Geister auf

die arme vergangene Erde schauen und auf ihr das Dörflein suchen, in welchem

sie, da sie auch noch Menschen waren, ihr Leben hindurch 'gvätterlet' haben.“



Der Humor als Feind des Abstrakten bewahrt vor Verzweiflung, die

nur da Platz greift, wo der Mensch den Humor verloren hat.



Das Tragische des Humors geht aus dem Schmerzgefühl hervor, daß

wir selbst mitten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken des Jrdischen

gebannt sind, selbst an den Krankheiten der Zeit leiden.



Das Komische des Humors aber entspringt aus dem Gefühle, daß wir

zugleich auch über diesen Schranken stehen. Beide Gefühle wechseln und durchdringen |#f0219 : 197|



sich beständig, ja, sind unzertrennlich von einander. Wir beklagen und

belächeln uns zugleich, unsre Lust ist unser Schmerz.



Ätzende Jronie, die im Gegensatz zum Humor das Kleine groß macht,

ja, der Spott sind dem Humor fern, denn der Humor wird nie frivol. Der

Humor zeugt von geistiger Überlegenheit; Spott und Frivolität dagegen meist

von Beschränktheit und niedriger Gesinnung. Trotzdem scheint mancher Mensch

geistig überlegen, der es nicht ist. Er produziert Lächerliches und fade Albernheiten,

die nur wie Humor aussehen; und Goethe hat mit bezug auf diese

ganz recht, wenn er sagt, es gebe keinen Unsinn, der nicht, fratzenhaft ausgedrückt,

wie Humor aussehe.



Etwas anderes als Humor ist jene verzweifelte Lustigkeit, jener Hohn

des Schicksals, den die neuere Zeit oft statt leichter Heiterkeit und jovialen

Spasses in dramatischen Dichtungen zur Schau trägt. Diese sogenannte Jronie

des Schicksals, die selbstredend nicht im antikisierenden Sinn, wohl aber in

dem unserer romantischen Dichterschule zu verstehen ist (vgl. Bd. I, S. 106),

kommt nur aus einem zerrissenen unversöhnten Gemüte; unabsichtlich leuchtet

durch erzwungenen Scherz der Ernst oder Schmerz des Lebens hindurch.



2. Der Humorist als Schöpfer humoristischer Dichtungen kann durch mancherlei

Situationen zu seinen Dichtungen veranlaßt werden, z. B. wenn der

lehrende Verstand im feinen Witz Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Gegenstände

treffend und sinnreich vergleichend darstellt und eine gesunde frische Phantasie

ihm zu Hilfe kommt.



Der Gegenstand des Humors kann auch ein Gefühl sein. Um dem

Schmerze Worte zu leihen und ihn mit Geist und Lebenskraft doch zu verbergen,

stellt sich der echte Humorist über das Gefühl und macht sich Luft durch

kontrastierende schalkhafte Lustigkeit. Goethe meint daher mit Recht im Faust:



Von allen Geistern, die verneinen,

Jst mir der Schalk am wenigsten verhaßt.



Um die Ansichten, Meinungen, Sitten der Menschen humoristisch behandeln

zu können, bedarf es hoher Bildung und Feinsinnigkeit. Die menschlichen

Angelegenheiten erscheinen dann entweder alle groß, oder alle klein. Der

Humorist wird sich über dieselben nur auf eine erfindungsreiche, witzige Weise

äußern, weil seine Lebens- und Weltanschauung originell und zugleich mit dem

Kopfe auch das Herz voll ist. Jmmer wird sein Humor, wenn er sich besonders

mit dem im Leben und Staate Sittlichen befaßt, den Ernst einer

höheren Wahrheit durchblicken lassen.



Ein wahrer Humorist steht, wie über seinem Gegenstand, so über dem

gewöhnlichen Leben. Jhm werden die Mängel des Erdenlebens klein und er

tröstet sich in der drückenden Wirklichkeit mit erhabenen Jdeen und lacht im

Besitze derselben.



Freilich giebt es unverschuldete Leiden, über welche nur ein Roher lachen

könnte. Bei dem echten Humoristen sieht der Ernst des Lebens auch bei dieser

humoristischen Weltanschauung hindurch. Wahre Größe durchdringt jede Form

des echten Humors.

|#f0220 : 198|



Beispiele der humoristischen Dichtungen.



a. De Krone der Schepfung, von Edwin Bormann.

(Aus den Dagebuche eines alten Leibzigers.)



So manches Wunder beit das Erdenlewen,

Was mächtig eine Dichterseele riehrt;

Allein schon Sophokles hat zugegewen,

Daß dir, o Mensch, der erste Preis gebiehrt.

Die Krone aber ─ setz' ich gleich danewen ─

Das is der Mensch, den Leibzig produziert!

Un' dieses Kleinod unsrer Muddererde

Besing' ich jetzt von hohen Fliegelferde.


Fer's erste is der Leibz'ger hellisch helle,

Un' sein Gemieth is edel, groß un' weit.

Denn wenn Kollege Schiller sagt in Telle:

„De braune Liesel kenn' ich an Geleit'“ ─

Das Leibz'ger Kind erkennst de uff der Stelle

An seiner Hellig= un' Gemiethlichkeit.

Dies Erbstick zeigt von Seigling bis zum Greise

Ä jeder Leibz'ger in frabbanter Weise.


Wenn irgend meglich, weeß er „zu genießen

Mit Wehmut dieses Lewens Unverstand.“

Durch Musen läßt fei' Dasein er versießen,

Sie sinn (wie Geedhe spricht) ihn „wahlverwandt“;

Andächtig ruht er zu der Weisheit Fießen,

Js aufgeklärt, human un' dolerant;

Engherz'ges Handeln stimmt ihn miß un' triewe,

Denn seine Forsche is de Menschenliewe.


Un' eine seiner vordheilhaftsten Seiden ─

King Lear bemerkt ganz richtig: „last, not least

Das is der Fortschritt, dem zu allen Zeiden

Er Haus un' Herz un' Dhor un' Brust erschließt.

Es is fier ihn ä Urquell reenster Freiden,

Wenn wo was „Neies aus Ruinen sprießt“,

Den jungen Keimen wird er Hort un' Hieder;

Nischt is ihm mehr als alter Zopp zewieder.


Kurzum: ä Menschenschlag grassiert in Leibzig,

Wie ihn kein kiehnster Traum vollkommner treimt.

─ Die Mähne meines Begasusses streibt sich,

Stolz weht sei' Schweif, un' seine Zunge scheimt:

Er ahnt, womit sei' Herr de Zeit vertreibt sich,

Er ahnt, was ich gesungen, was gereimt!

Mich selwer awer backt ä wonnig Schauern:

Auch meine Wiege stand in Leibzigs Mauern!
|#f0221 : 199|



b. Wenn Einer deiht (thut), wat hei deiht, denn kann hei nich mihr

dauhn (thun), as hei deiht.



Aus Läuschen un Rimels, von Reuter. (Sämmtl. Werke II. 54.)



„Na, Corl, wo (wie) is Di dat denn gahn?“ ─ (gegangen.)

„„Jh, Herr, dat gung jo doch noch so'''' ─

„Na, hest Di düchtig 'rümmer slahn!“ ─

„„Ja, Herr, tauletzt bi Waterlo.'''' ─

„Dor hest Di denn woll eklich fecht't?“ ─

„„Ja, ümmer druf! as Blüchert seggt.'''' ─

„Wo was dat denn? Vertell (erzähle) doch blos!“

„„Je Herr, ick güng' e stiw up los, (ich ging da steif drauf los)

Un as ick irst so recht in Grimm,

Dunn haut' ick rechtsch un linksch herüm,

Un, Herr, den Einen haut' ick ─ den Einen!

Den'n haut' ick beide Beinen af.''''

„De Beinen? ─ Wo? Woso, de Beinen?

Worüm haut'st em den Kopp nich 'raf?“ ─

„„Je, Herr, de Kopp, de was all af.'''' (der war schon ab.)


Litteratur des Humors.



Beispiele des Humors finden sich am anschaulichsten in jenen größeren

Dichtungsgattungen, in welchen sich der menschliche Charakter am freiesten entwickeln

kann, also in Romanen, Schauspielen, Novellen. (Jch verweise beispielshalber

auf die humoristischen Romane I 58, 69, sowie 4. Hptst.

d. Bds; ferner auf H. Heines Romancero; endlich auf einzelne Dramen

Shakespeares, den Aug. Siebenlist den unübertroffenen Meister des Humors

nennt, über den sich J. L. Klein in seiner epochebildenden Gesch. des Drama

XII. 556, sowie der Fabeldichter Jos. R. Ehrlich in seiner kleinen, 1878

erschienenen Schrift: Der Humor Shakespeares verbreitet. Vgl. des Näheren

das vortreffliche Werk: Schopenhauers Philosophie der Tragödie von

Aug. Siebenlist.
1880. S. 405 ff., wo der geistvolle Jnterpret des Philosophen

des Pessimismus erschöpfend ausführt, wie der subjektive Humor ─

den Schopenhauer den hinter dem Scherz versteckten Ernst nennt ─ als spezifische

Errungenschaft der auf dem Christentum beruhenden neuzeitlichen Tragödie ein

gleichfalls ästhetisches, unendlich höher stehendes Kompositionsmoment sei, als

die objektive Jronie u. s. w.). Doch giebt es genug kleinere didaktische Dichtungen,

welche die freie Entfaltung des Humors begünstigen. Es sind in der

Regel dieselben Dichter, welche neben größeren Dichtungen auch kleinere humoristisch

zu halten verstanden, wodurch sie sich als Humoristen erwiesen. Wir

nennen von den deutschen: Claudius, Lichtenberg, Jean Paul, Tieck, Musäus,

Mises, Heine, Aug. Kopisch, Eichrodt, Alex. Kaufmann (Der Student von

Oxford), Gottfr. Keller, Scheffel, besonders aber Eckstein, Schmidt-Cabanis und

Fritz Reuter, welchen der wahre freie Humor eigen ist, jene innige Mischung

von Witz, Laune und Gemütlichkeit, die ebenso im Kopf wie im Herzen des

Dichters ihren Ursprung hat und daher auch Geist und Gemüt des Lesers |#f0222 : 200|



wirkungsvoll entzückt. Den Humor suchten in Deutschland vor allem die

Münchener fliegenden Blätter aufrecht zu erhalten, in neuerer Zeit auch der

Schalk unter Redaktion des Humoristen Ernst Eckstein, u. s. w.



III. Eigentlich didaktische Gedichte.


§ 89. Die ideale Gedankenlyrik.



Viele Gedichte, die in der Mitte stehen zwischen dem lyrischen

und dem didaktischen Gedicht, müssen doch ihrer lehrhaften Absicht und

Bestimmung wegen zu den didaktischen Gedichten gezählt werden. Diese

im Glanz einer schönen Sprache prangenden Gedichte entquellen

gewissermaßen dem denkenden Gefühle des Dichters, besingen einen

bestimmten instruktiven Gegenstand, entfalten Phantasie und Gemüt

und bilden so die Gattungen, welche wir unter „idealer Gedankenlyrik“

vereinen wollen.



Obwohl ihr didaktischer Zweck nicht eben in den Vordergrund tritt, so

haben die Dichtungen der idealen Gedankenlyrik doch die Absicht, einen Gedanken,

eine Wahrheit, eine Lehre zur Anschauung zu bringen.
Jch

erinnere nur an viele Gedichte Schillers, die man als „Jdealgedichte“ zu einer

besonderen „ideellen Poesie“ zu vereinigen suchte, weil man sie sonst nicht zu

rubrizieren vermochte. Es tritt uns in ihnen der Dichter entgegen, von großartigen

Jdeen durchdrungen, „jedoch weder dithyrambisch fortgerissen, noch im

Begeisterungsdrange mit der Größe seines Gegenstandes kämpfend, sondern desselben

vollkommen Meister, indem er ihn mit eigener poetischer Reflexion in

ebenso schwungreicher Empfindung, als umfassender Weite der Betrachtung in

den prächtigsten volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen,

aber schlagenden Rhythmen und Reimen, nach allen Seiten hin vollständig

darlegt.“ Als solche Gedichte der idealen Gedankenlyrik bezeichne ich bei Schiller:

Das Jdeal und das Leben, An die Freude, Das Glück, Der Genius, Würde der

Frauen, Die Jdeale, Die Götter Griechenlands. Ferner bei Rückert: Edelstein

und Perle, und besonders Die sterbende Blume &c. Um an letzterem Gedichte das

Wesen der idealen Gedankenlyrik näher zu zeigen, so tritt hier das lehrhafte

Motiv so zu Tage: Wenn die Betrachtungen über die Vergänglichkeit und

Hinfälligkeit alles Jrdischen zur Wehmut stimmen und schmerzliche Gefühle des

Leides mit der Trauer hervorrufen, so liegt dies in dem Umstand begründet,

daß die Vergänglichkeit den Fortbestand alteriert, also in siegreichen Kampf mit

der Existenz tritt und somit von dieser gefürchtet werden muß. Die Furcht vor

dem Aufhören ist bei dem ungebildeten Menschen nicht so intensiv, weil sein

Gefühlsleben auf der unteren Stufe steht. Er wird sich der obigen Betrachtung

kaum flüchtig hingeben können. Die Fähigkeit für diese Betrachtung erlangt

der Mensch aber in eben dem Grade, in welchem er seine Gemütsbildung

pflegt. Rückert mit seinem sehr gebildeten Gemütsleben konnte in der That in |#f0223 : 201|



seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern.

Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch

das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer

Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher

idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der

idealen Gedankenlyrik hebt.
„Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich

des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte;

der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin,

die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen;

das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für

den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch

fühlenden Dichters würdig.



Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten

Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht

einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur

Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern,

die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen

haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen

Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen

Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der

Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.



Beispiel der idealen Gedankenlyrik.



Die sterbende Blume, von Rückert.



Hoffe! du erlebst es noch,

Daß der Frühling wiederkehrt.

Hoffen alle Bäume doch,

Die des Herbstes Wind verheert,

Hoffen mit der stillen Kraft

Jhrer Knospen winterlang,

Bis sich wieder regt der Saft,

Und ein neues Grün entsprang. ─


„Ach, ich bin kein starker Baum,

Der ein Sommertausend lebt,

Nach verträumtem Wintertraum

Neue Lenzgedichte webt.

Ach, ich bin die Blume nur,

Die des Maies Kuß geweckt,

Und von der nicht bleibt die Spur

Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─


Wenn du denn die Blume bist,

O bescheidenes Gemüt,

Tröste dich, beschieden ist

Samen allem, was da blüht.

Laß den Sturm des Todes doch

Deinen Lebensstaub verstreu'n,
|#f0224 : 202|



Aus dem Staube wirst du noch

Hundertmal dich selbst erneu'n. ─


„Ja, es werden nach mir blüh'n

Andre, die mir ähnlich sind;

Ewig ist das ganze Grün,

Nur das Einzle welkt geschwind.

Aber, sind sie, was ich war,

Bin ich selber es nicht mehr;

Jetzt nur bin ich ganz und gar,

Nicht zuvor und nicht nachher.


„Wenn einst sie der Sonne Blick

Wärmt, der jetzt noch mich durchflammt,

Lindert das nicht mein Geschick,

Das mich nun zur Nacht verdammt.

Sonne, ja du äugelst schon

Jhnen in die Fernen zu;

Warum noch mit frost'gem Hohn

Mir aus Wolken lächelst du?


„Weh' mir, daß ich dir vertraut,

Als mich wach geküßt dein Strahl;

Daß in's Aug' ich dir geschaut,

Bis es mir das Leben stahl!

Dieses Lebens armen Rest

Deinem Mitleid zu entzieh'n,

Schließen will ich krankhaft fest

Mich in mich, und dir entflieh'n.


„Doch du schmelzest meines Grimms

Starres Eis in Thränen auf;

Nimm mein fliehend Leben, nimm's,

Ewige, zu dir hinauf!

Ja du sonnest noch den Gram

Aus der Seele mir zuletzt;

Alles, was von dir mir kam,

Sterbend dank' ich dir es jetzt:


„Aller Lüfte Morgenzug,

Dem ich sommerlang gebebt,

Aller Schmetterlinge Flug,

Die um mich im Tanz geschwebt;

Augen, die mein Glanz erfrischt,

Herzen, die mein Duft erfreut;

Wie aus Duft und Glanz gemischt

Du mich schufst, dir dank' ich's heut.


„Eine Zierde deiner Welt,

Wenn auch eine kleine nur,

Ließest du mich blüh'n im Feld,

Wie die Stern' auf höh'rer Flur.

Einen Odem hauch' ich noch,

Und er soll kein Seufzer sein;

Einen Blick zum Himmel hoch,

Und zur schönen Welt hinein.
|#f0225 : 203|



„Ew'ges Flammenherz der Welt,

Laß verglimmen mich an dir!

Himmel, spann' dein blaues Zelt,

Mein vergrüntes sinket hier.

Heil, o Frühling, deinem Schein!

Morgenluft, Heil deinem Weh'n!

Ohne Kummer schlaf' ich ein,

Ohne Hoffnung aufzusteh'n.


§ 90. Kulturhistorisches Gedicht.



Ein Gedicht, welches die Schicksale der Menschen und deren Entwickelungsgang

poetisch auffaßt und darstellt, so daß die wichtigsten

Momente auf Ausbildung des menschlichen Geistes und der gesellschaftlichen

Verhältnisse entweder einzeln oder im Zusammenhang

berechnet sind, kann als kulturhistorisches Gedicht bezeichnet werden.



Schiller ist der Vater dieser didaktischen Dichtungsform. Zu nennen sind

von ihm Die Künstler (ein Gedicht, das den Wert des Schönen versinnlicht),

Der Spaziergang (welcher lehrt, daß der Überbildung am besten durch die

Natur entgegen zu wirken sei), Das eleusische Fest (welches die Segnungen

des Ackerbaues preist, und die im Spaziergang nur angedeutete Kulturentwickelung

in mythologischen Bildern weiter ausführt); namentlich aber Das

Lied von der Glocke
(welches das menschliche Leben in seinen wichtigsten

Momenten darstellt, wobei es auch alle menschlichen Empfindungen lehrend

berührt und damit viel Subjektives, viel echt Lyrisches verbindet). Bei Rückert

finden wir das kulturhistorische Gedicht: Der Bau der Welt u. a.



Als Beispiel des kulturhistorischen Gedichts möge Schillers Lied von der

Glocke aufgestellt sein, dessen Form den Gegenstand eines Paragraphen (Bd. I.

S. 515) bildet. (Auf den Abdruck dieser umfangreichen Dichtung können

wir um so lieber verzichten, als sich dieselbe zweifellos in Aller Händen befindet.)



§ 91. Sinngedicht oder Epigramm.



1. Ein humoristischer Einfall oder Gedanke, eine Ansicht oder ein

Urteil über ein Ereignis oder eine Person, möglichst kurz und gedrängt

in poetischer, schöner Form ausgedrückt, oder mit andern Worten:

ein kurzes, treffendes, hauptsächlich witziges Gedicht, das die Bestimmung

hat, ein allgemein bekanntes Objekt zu loben oder zu tadeln,

oder eine Anschauung auszusprechen, heißt Sinngedicht oder Epigramm.



Die letzten Worte desselben enthalten die sogenannte Pointe oder

den Treffpunkt.



2. Besondere Arten sind das Empfindungsepigramm und das

didaktische Epigramm.



3. Jn den Ausgangspunkten ist das Epigramm mit der Elegie

verwandt.

|#f0226 : 204|



4. Die Teile des Epigramms sind Vordersatz und Nachsatz; oder

Exposition und Klausel.



5. Das ursprüngliche Metrum des Epigramms war das Distichon.

Jm Deutschen bedient man sich neben demselben noch anderer Formen.



1. Man rechnet das Epigramm wegen seines witzig und kurz ausgedrückten,

lehrhaften, poetischen Gedankens in die Reihe der didaktischen Dichtungen. Es

kann bald mit einer kleinen knospenden, aus Dorngebüschen Wohlgerüche hauchenden

Rose verglichen werden, bald und in der Regel mit einem Stachel, der

verwundet. (§ 82.) Klopstock spricht dies so aus:



Bald ist das Epigramm ein Pfeil, trifft mit der Spitze;

Jst bald ein Schwert, trifft mit der Schärfe;

Jst manchmal auch: ─ die Griechen liebten's so ─

Ein klein Gemäld', ein Strahl, gesandt

Zum Brennen nicht, nur zum Erleuchten.



Das Witzige, Tadelnde, Überraschende wird meist bewirkt, indem der

Gedanke gegen den Schluß noch eine unerwartete Wendung nimmt. Dies ist

die sogenannte Pointe oder der Treffpunkt.



2. Ursprünglich verstand man unter Epigramm (dem Wortsinn des griechischen

ἐπίγραμμα entsprechend) eine Aufschrift auf einem Weihgeschenk,

Denkmal, Grabmal, Theater, Tempel, Odeon &c. Die Gewohnheit, diese

Denkmäler mit einer Jnschrift zu versehen, gab neben dem Namen des zu

Feiernden eine oder die andere Notiz, wohl auch eine Andeutung der Empfindung,

die der Anblick des Denkmals dem Schreiber hervorrief. Bei Gräbern

war der Ausdruck dieser Empfindung mehr elegischer Art, bei Kunstwerken nicht

selten witziger, oder hyperbolischer Natur.



Viele Epigramme, ja, vielleicht die meisten, waren indes nicht wirklich

angebrachte Aufschriften, sondern sie bedeuteten nur, daß diese Unterschrift wohl

für das Denkmal sich eignen dürfte. So entstanden neben den eigentlichen

Epigrammen die Empfindungsepigramme, Epigramme ohne jeglichen Bezug

zum Kunstwerk, die sich lediglich auf historische Personen, auf Ereignisse, auf

Naturgegenstände bezogen; so wurde das Epigramm lyrisch=didaktisch.



Empfindungsepigramme, die den größten Teil der sogenannten griechischen

Anthologie bilden, kommen bei den Römern kaum vor. Doch hatten diese gewöhnliche

oder rein didaktische Epigramme schon ziemlich frühe; die alten ─ aus

der Zeit der Republik ─ sind meist verloren; dagegen haben wir noch 15

Bücher von Martialis (42─102 n. Chr.), freilich sehr verschieden nach Stoff

und Wert. Einiges von Ausonius (310─390) und noch aus dem 6. Jahrhundert

n. Chr. von Luxorius. (Alles dies gesammelt in der Anthologia

latina
von H. Mayer. Leipz. 1835 und neu bearbeitet von A. Riese.)



Bei den Deutschen findet man Empfindungsepigramme seit Herder (der

1785 eine Auswahl in deutscher Übersetzung und 1791 eigene Epigramme

erscheinen ließ), und seit Goethe (der 1790 „venetianische Epigramme“ dichtete).

Man denke an die Empfindungsepigramme Goethes: „Über allen Wipfeln“

oder an Uhlands Ruhethal: „Wenn im letzten Abendstrahl“, u. s. w.

|#f0227 : 205|



Jn den meisten Fällen drängt sich bei Römern und Deutschen der Verstand

so sehr in Exposition und Klausel ein, daß er mit dem epischen Moment eine

wirkliche Lehre oder eine Vorschrift verbindet, oder sie aus demselben abstrahiert,

oder daß er indirekt lehrend das Motiv bekämpft, verhöhnt, bewitzelt. Dadurch wird

der lyrische Charakter der Klausel verändert, sie wird didaktisch und es entsteht

somit das rein didaktische Epigramm, das Epigramm des Spottes, der

Lehre, das besonders von den Römern gepflegt worden ist (z. B. bei Martial).

Es ist wertvoll, wenn es der tiefsten Fülle der Erfahrungen entquillt.



3. Was die Verwandtschaft des Epigramms mit der Elegie betrifft, so

ging das griechische Epigramm, wie die Elegie von einem historisch gegebenen

Objekt, von einer epischen Wirklichkeit aus und diente zugleich auch der Empfindung

zum Ausdruck, welche aus der Betrachtung jener Wirklichkeit resultierte.

Während aber die Elegie des weitesten Spielraums und der größten Ausdehnung

fähig war, und sich über die weitesten Gebiete ausbreitete, beschränkt sich

das Epigramm nur auf einzelne Bilder, nur auf eine Person, nur auf ein

Kunstwerk &c. Ja, selbst die eine auf das einzige Objekt gerichtete Empfindung

durfte nur leise angedeutet werden, weshalb das Epigramm möglichst kurz war.



4. Die Elegie verschmolz das Epische mit dem lyrischen Moment, das

Epigramm hielt beide auseinander, weshalb man beim Epigramm von Vordersatz

(expositio oder auch narratio, indicatio) und Nachsatz (clausula oder

conclusio) spricht.



Die beiden Teile des Epigramms können noch bezeichnet werden als

Erwartung und Aufschluß (nach Lessing), oder Exposition und Anwendung (nach

Herder) oder auch als Thesis und Antithesis.



Der Umfang des poetischen Epigramms ist nach Maßgabe dieser beiden

Teile engbegrenzt.



5. Das gewöhnliche Metrum des Epigramms war bei den Griechen und

Römern das elegische Distichon. Der epische Hexameter bezeichnete die Erwartung

und der lyrische Pentameter gab den Aufschluß. Oder: der Hexameter exponierte,

während die Klausel ausdeutete.



Die Deutschen bedienen sich neben diesem griechischen Maß auch noch

anderer Maße und namentlich auch des Reims. Eine präzise Form für das

Epigramm ist das Sonett, das in den ersten acht Versen breiteren Raum für

die Exposition zum epischen Vordersatz hat, während die sechs folgenden Zeilen

den lyrischen Nachsatz, die Klausel, bilden können. (Vgl. Nr. 9─20 der

A. Möserschen Sonette in „Schauen und Schaffen“ 1881. S. 84 ff.) Heinr.

Leuthold hat sich neben Rückert auch der Ritornellform bedient u. s. w.



Beispiele des Epigramms.



Wer wird nicht einen Klopstock loben?

Doch wird ihn jeder lesen? ─ Nein!

Wir wollen weniger erhoben

Und fleißiger gelesen sein.(G. E. Lessing.)
|#f0228 : 206|



Über das Verbot des Bettelns in Deutschland.

Wie grausam ist's von dir, Germania,

Das Betteln deinem Volke zu verwehren;

So raubst du deinen besten Köpfen ja

Das letzte Mittel sich zu nähren.
(Weißer.)



Hallers Lehrgedicht vom Ursprung des Übels.

Des Übels Ursprung las ich jüngst in Hallers Werken,

Und nahm mir vor, mit einem Strich

Die besten Stellen zu bemerken.

Jch las, strich an, las fort, strich an, und freute mich,

Und da ich fertig war, sieh, da war Alles Strich.
(Gellert.)


Alle die Stunden,

Alle verwunden;

Eine, die letzte,

Tötet und heilt.
(Amara George.)



Auf jagende Studenten.

Klatscht, Bursche, klatscht! Laßt schwere Peitschen schallen!

Laßt Hieb auf Hieb auf müde Pferde fallen!

Der Fremdling sieht's mit Staunen an,

Und denkt, daß jeder noch ein Schweinhirt werden kann.
(Kästner.)



Epigramm in Distichen-Form.



Auf die Thermopylenkämpfer.

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest

Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.


(Schiller nach Simonides.)



Wissenschaft.

Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern

Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.
(Schiller.)



Die Schwaben.

Eigene Köpfe sind's, gleich sieht man's, denn wo sie geraten,

Ragen sie meist um den Kopf über die andern hinaus.


(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 190.)



Epigramm in Vierzeilen-Form.



Trinke bei des Lebens Feste

Ein paarmal, und geh hinaus.

Das sind unbescheidne Gäste,

Die hier fordern ew'gen Schmaus.
(Rückert.)



Epigramm in Ritornellenform.



Unglück.

Jch werf' ein Halm in's Meer, es geht zu Grunde;

Blei wirft ein andrer drein und es schwimmt oben:

Jch bin geboren zu 'ner Unglücksstunde.
(Rückert.)



Gustav Freytag!

Dein körniger Gehalt folgt unsrer Lyrik,

Wie reicher Junisegen einem Maitag.


(Heinr. Leuthold. Gedichte S. 203.)

|#f0229 : 207|



Litteratur des Epigramms.



Durch die Priamel aus dem 14. Jahrhundert (s. § 92) war bei uns

der Boden für das satirische Epigramm vorbereitet. Da sodann der sittliche

und politische Jammer des 17. Jahrhunderts Stoff genug bot, so adoptierte

man mit Vergnügen das römisch=satirische Epigramm, das Epigramm des Spotts.

Der bedeutendste deutsche Epigrammatiker, Frd. von Logau (welcher unter dem

Namen Salomon von Golau 3553 gute, treffende, von Simrock 1874 ausgewählte

und erneuerte Sinngedichte dichtete), bietet nach den vererbten deutschen

Sprüchen und Priameln satirische, geißelnde, indirekt belehrende Epigramme,

bis Herder und Goethe auch das Empfindungsepigramm schufen. Beide bildeten

auch insofern eine Epoche für das Epigramm, als sie dem bis dahin in Reimen

gegebenen didaktischen Epigramm die Form des elegischen Distichons gaben.

Noch sind als deutsche Epigrammatiker zu erwähnen: Opitz, Tscherning,

Kästner, Bürger, Herder, Weißer, Göckingk
(Kritik über ein Drama);

Götz (Das Kind); Gleim (Aufschluß); Wernicke (der ein Buch über Epigrammatik

schrieb: Erfahrung ohne Klugheit &c.); Hagedorn (Auf gewisse Ausleger

der Alten); Kretschmann (Die Dichterin); Klopstock (Sitt' und Weise);

Lessing (der über das Epigramm schrieb und das Verdienst hat, zuerst den

vergessen gewesenen Fr. v. Logau wieder bekannt gemacht zu haben: Das

böse Weib, Der Schuster Franz, Die Verleumdung &c.); Küttner (Der

Deutsche); Menk (Der Renommist); Pfeffel (Der Selbstmord); Langbein (Der

leere Topf); Schiller (Mein Glaube, Buchhändler-Anzeige &c.); Blumauer

(Der Geizhals); Kleist (An die geschminkte Vetulla); Voß (Mein Barbier);

Kuh (Der Mann von Geblüt); Müchler (Frau Garulla); Kerner (Auf einen

Epigrammatisten); Platen; Friedrich Haug (Weiberzungen, Pilgers Grabschrift);

Rückert; und besonders Oskar Blumenthal, der unter dem Titel

„Aus heiterm Himmel“ 1880 seine gesammelten Epigramme erscheinen ließ,

in denen Theater und Litteratur eine Hauptrolle spielen und mancher Schriftsteller

arg mitgenommen wird.



Von den Franzosen dichteten besonders Scarron, Rousseau und Marot treffliche

Epigramme. Von den Engländern sind zu erwähnen: Pope und Swift.

Das englische Epigramm wurde bei uns durch Weckherlin († 1651) eingeführt.



§ 92. Die Priamel oder der Schnepper.



Die ursprüngliche Form des deutschen Epigramms ist die seit dem

14. Jahrhundert beliebt gewesene Priamel (von praeambulum == Vordersatz,

Vorspiel, Vorlauf). Sie besteht aus einer Reihe kurzer, gar nicht

zusammengehörig erscheinender Vordersätze, von denen man erst gar

nicht einsieht, was sie wollen, deren Aufzählung präambuliert, bis sie

endlich durch einen abstrakten Allgemeinbegriff (oder Urteil) verbunden

werden, durch einen sie alle umfassenden, meist eine unerwartete Gedankenwendung

nehmenden kurzen „abschneppenden“ Nachsatz.

|#f0230 : 208|



Der Nachsatz in den Priameln, deren Verfasser häufig unbekannt blieben,

enthielt meist eine aus den Vordersätzen abgeleitete Lehre oder ein Urteil über

die in den Vordersätzen aufgestellten Behauptungen, weshalb die Priamel

gewissermaßen den Übergang von der Gnome (Spruch) zum Epigramm bildete.



Jn einer Gerichtsordnung aus dem Jahre 1482 heißt es: „Des ersten

macht ein Harfner ein Priamel oder Vorlauf, daz er die luit (Leute) im uff

zu merken bewog.“ Die Priamel war in der That sehr geeignet, zum Aufmerken

anzuregen und zwar wegen des hinausgeschobenen, aufgesparten, auf die

ganze Reihe von Vordersätzen passenden, oft überraschenden Schlußsatzes.



Schnepper nannte man die Priameln insofern, als die Reihe der Vordersätze

durch den präzisen Schlußsatz in ihrem Fluß gehemmt oder „abgeschneppt“

wurde. Die häufig satirisch abschließende Priamel ist eine Art Epigramm oder

Rätsel, bei welchem der Leser die Klausel nicht erst zu suchen braucht, da sie

im Schlußsatz gegeben ist.



Eine originelle Priamelform findet sich in der als Manuscript gedruckten

Gedichtsammlung des Herzogs Ernst II. z. S., S. 53, bei welcher auf eine

Reihe von Negationen eine die Rätsel lösende abschließende Doppelverszeile folgt.

Als Wiederbelebung der bereits in Vergessenheit geratenen Priamel dürfte diese

Form bedeutungsvoll genug erscheinen, um mitgeteilt zu werden.



Beispiele der Priamel.



a.

Wer einen Raben will baden weiß

Und darauf legt seinen ganzen Fleiß,

Und an der Sonne Schnee will dörren,

Und allen Wind in einen Kasten sperren,

Und Unglück will tragen feil,

Und Narren binden an ein Seil,

Und einen Kahlen will beschern,

Der thut auch unnütz Arbeit gern.


b.

Ain junge Maid ohn Lieb,

und ain großer Jarmarkt ohn Dieb,

und ain alter Jud' ohn gut,

und ain junger Mann ohn mut,

und ain alte Scheur ohn meuß,

und ain alter Pelz ohn leuß,

und ain alter Bock ohn bart:

Das ist alles widernatürlich art.


c.

Wer weiß, woraus das Brünnlein quillt, daraus wir trinken werden?

Wer weiß, wo noch das Schäflein geht, das für uns Wolle träget?

Wer weiß, woraus das Körnlein wächst, das uns zur Nahrung dienet?

Wer weiß, wer uns den Tisch noch deckt, der uns den Körper weidet?

Wer weiß, wer uns den Weg noch zeigt, darauf wir wandern müssen?

Wer weiß, wo wohl das Bettlein steht, darein mich Gott einleget?

Wer weiß, wannehr der Tod wohl kommt, der uns zum Richter führet?

Ach treuer Vater, das weißt du, dir ist ja nichts verborgen.


(Friedr. Spee.)

|#f0231 : 209|



Des Mannes Thräne.

d.

Die Perle nicht,

Die hell Fortuna's Haupt berührt;

Der Demant nicht,

Der rein der Schönen Locke ziert;

Die Sonne nicht,

Die goldnen Glanzes aufgezogen,

Und auch kein Stern

Am nächtlich heitern Himmelsbogen

So schön erscheint

Als jene Thräne, die der Mann geweint.


(Herzog Ernst II. z. S.)



§ 93. Xenien.



Xenien sind Epigramme, die am Ende eine scharfe, satirische, überraschende,

ja unerwartete Wendung nehmen.



Sie sind ihrer Pointe wegen gedichtet und heißen mit Rücksicht

auf dieselben auch „spitzige Epigramme“.



Dem Wortsinn nach bedeuten Xenien (vom griechischen ξένιον) Gastgeschenke

oder Andenken.



Der römische Epigrammatiker Martial nannte das 13. Buch seiner

Sinngedichte Xenien, und von ihm nahmen Schiller und Goethe den Namen

für ihre spitzigen Epigramme, die in ihrem Musenalmanach (Tübingen 1797)

erschienen, welche zunächst die Dichter Claudius und Stolberg scharf angriffen,

dann überhaupt das Philistertum, die Modethorheiten in der Litteratur, sowie

die Mittelmäßigkeit der Kunstleistungen mit Witz und Spott überschütteten.



Eine ausführliche Schrift über „Die Schiller-Goetheschen Xenien“ ist von

Saupe (Leipzig 1852) erschienen; vgl. auch Boas, Schiller und Goethe im

Xenienkampf. 2 Bde. Stuttg. 1851. Xenien aus der Neuzeit, die denen von

Schiller und Goethe in bezug auf treffende und stimmungsvolle Satire an die Seite

gestellt werden können, sind die von K. J. Schröer zum Berliner Kongreß

(Neue illustr. Zeitg. Wien u. Leipz. 7. Juli 1878 S. 646).



Beispiele der Xenien.



Jm Auslegen seid frisch und munter!

Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.


(Goethe. Zahme Xenien.)



Es mag sich Feindliches ereignen,

Du bleibe ruhig, bleibe stumm;

Und wenn sie dir die Bewegung leugnen,

Geh' ihnen vor der Nas' herum.


(Goethe. Zahme Xenien.)



Klein-Griechenland, von Karl Julius Schröer.



Weiß nicht, was ihr Völker wollet, Griechenland sei gar zu klein,

Darum läßt man's zur Beratung des Kongresses nicht herein;

Nichts bedeutend sei Klein-Hellas, wendet überall man ein:

Ei, ihr lieben Völker alle, ei so laßt es ─ größer sein! ─
|#f0232 : 210|



Was den Türken zu raten? von K. J. Schröer.



Türken, die als wilde Horden eingebrochen in Byzanz,

Unter Greuel, unter Morden ihm geraubt den letzten Glanz;

Euch hat rechtlos überfallen and'rer Horden wilde Schar,

Und ihr fragt: was wollt ihr Völker, fragt: was will der Russen Zar?

Hört, was von euch die Geschichte sagt, die Menschheit klagt, das hört:

Anders lachten Stambuls Fluren einst, bevor ihr sie zerstört:

Laßt sie wieder neu erblühen, reicht wie Brüdern uns die Hand,

Reicht den Franken sie, den Deutschen, laßt gedeihen Volk und Land!

Könnt ihr das nicht, legt die Herrschaft dann getrost in bess're Hand,

Was nicht leben kann, muß sterben; leben kann noch Griechenland!


§ 94. Gnome.



Gnome (Denkspruch, von γνώμη, sententia, Urteil, Spruch), das

kürzeste didaktische Gedicht, ist ein kurz ausgesprochener Gedanke, ein

Weisheitsspruch, ein Sinnspruch, eine Klugheitsregel, ein Stammbuchvers,

eine nichts satirisches enthaltende Sentenz.



Ein einfacher Denkspruch ist ebenso wenig ein Epigramm, als eine Anekdote

eine Novelle ist.



Während sich das Epigramm wie eine Aufschrift zu einem Gegenstand

ausnimmt und nicht direkt zu belehren braucht, will die Gnome, die des

epischen Vordersatzes des Epigramms entbehrt, direkt belehren. Das Epigramm

drückt Jdeen aus, die Gnome Wahrheiten. Das Epigramm ist immer in

streng poetischer Form, der Spruch häufig im Volkston. Gnomen, welche in

kalter Abstraktion abgefaßt sind, an deren Entstehen die produzierende Einbildungskraft

keinen Teil hat, fallen aus dem Bereich der Poesie heraus. Die

metrische Form, die nur das Einprägen in's Gedächtnis erleichtert, erhebt sie

nicht in's Bereich der Poesie. Rückert hat sich zu seinen Gnomen häufig der

Vierzeile bedient. Bei solch zwanglosen Reimversen kann die Gnome auch Reimspruch

genannt werden. Die poetischen Sprichwörter mit Reim (oder auch mit

Allitteration) gehören zur Gnome, wenn sie sich auch zur eigentlichen poetischen

Gnome wie Naturpoesie zur Kunstpoesie verhalten.



Die Vereinigung mehrerer demselben Anschauungskreise zugehöriger Sinnsprüche

zu einem Ganzen nach Art des Freidank oder der Rückertschen Gnomen

in Angereihte Perlen oder vieler Gedichte in der Weisheit des Brahmanen

bildet das Spruchgedicht (Gnomologie).



Beispiele der Gnome.



a. Spruch.



Der Mensch ist eine Frucht aus seiner eignen Saat.


(Tiedge.)



b. Poetische Gnomen.



Willst du dich selber erkennen, so sieh', wie die andern es treiben;

Willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz!


(Schiller.)

|#f0233 : 211|



Nur halb ist der Verlust des schönsten Glücks,

Wenn wir auf den Besitz nicht sicher zählten.
(Goethe.)



Wo mehr Füchs' als Trauben sind,

Ernte, was du kannst, geschwind.
(Rückert.)



Männer von Geist nur steigen mit Würd' auch Stufen herunter;

Kleinliche Menschen der Welt kriechen verächtlich hinauf.


(K. G. v. Brinckmann.)



c. Beispiel eines Spruchgedichts (Gnomologie).



Die Jugend, wenn du alterst, zu beneiden,

Verjüngt dich nicht und mehrt des Alters Leiden.


Wer jung noch scheinen will in weißem Haare,

Verdächtigt seine eignen Jugendjahre.


Wer alt noch täuschen will durch Jugendweise,

War niemals jung und ist nicht reif zum Greise.


Ehrwürdig ist der Greis, von dem man sagt:

Er ist ein Mann, auch noch so hoch betagt.


(Julius Hammer.)



Litteratur der Gnome.



Die ersten griechischen Gnomen ─ wie überhaupt die erste didaktische

Poesie ─ findet man in Hesiods „Tage und Werke“; die gnomische Dichtung beginnt

mit der Zeit der sieben Weisen Griechenlands. Gnomen finden wir auch

von Solon, von Theognis &c. (Die goldenen „Sprüche des Pythagoras“ sind

wahrscheinlich nicht von ihm.) Seit Hesiod blieb bei den Griechen der Hexameter

die metrische Form der Gnomen. Andere wählten die zweizeilige aus

Hexameter und Pentameter gebildete Strophe, wieder andere den Trimeter.

(Bd. I. S. 321.)



Die Gnomen Salomons und des Jesus Sirach bei den Hebräern beschränken

sich auf den einfachsten Parallelismus der Worte und Satzglieder.

Arabische Sprüche gab 1879 Socin (Tübingen) heraus, osmanische die

k. k. orientalische Akademie zu Wien (1877. Constantinopel). Die griechischen

gab Gaisford (Oxf. 1830) heraus. Lateinische sammelte Wüstemann (1864.

Nordhausen) u. a. Auch neuere Völker besitzen einen reichen Schatz von Sprüchen.

Ende des 14. Jahrhunderts war besonders die böhmische Litteratur an gnomischen

Dichtungen reich. Emil von Pardubitz († 1403) hat zur Zeit des

Königs Wenzel I. eine Sammlung der ältesten böhmischen Sprüche und Epigramme

veranstaltet, die von Joh. Wenzig in's Deutsche übersetzt wurden.



Von einem unserer Vorfahren hat die sämundische Edda treffliche

Gnomen aufbewahrt.



Jn Deutschland gab es Spruchdichter schon im 12. Jahrhundert, z. B.

Spervogel. Manche Sprüche derselben leben heute noch als Sprichwörter

im Munde des Volkes fort.

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Reinmar von Zweter, einer der ersten Gnomendichter in Deutschland,

dichtete statt Lieder nur Sprüche, ─ das Wort im alten Sinn gebraucht, in

welchem der Spruch eine Strophe, wenn auch oft von größerem Umfang umfaßt.

Reinmar von Zweter lehrt selbst da, wo er die Liebe behandelt. (Bei

ihm begegnen wir zum erstenmal der gnomischen Poesie der Griechen, die er

auf deutschen Boden verpflanzte.)



Die bedeutendste Spruchsammlung ist die zum Teil auf einem Kreuzzug

etwa um 1229 verfaßte, welche nach W. Grimm und Wackernagel von Walther

von der Vogelweide, dem Frydank (== Freidenkenden), nach andern vom Fahrenden

Bernh. Freidank herrühren soll, und unter dem Namen Bescheidenheit (d. i. Bescheid

wissen == Verständigkeit) des Freidank auf uns gekommen ist. Es kommen darin

reine Sprüche, reine Sprichwörter und Verbindung beider zu sprichwörtlichen

Sprüchen vor, welch letztere man als didaktische Epigramme auffassen könnte.



Seine nach ihrer Verwandtschaft zu mehreren Hauptabschnitten verbundenen

Gnomen bilden einen Weltspiegel, in welchem alle Stände vom Kaiser und

Papst bis zum niedrigsten Manne, sowie öffentliche und private Verhältnisse,

ferner Glaube, Tugend, Laster u. s. w. in größter Abwechslung behandelt

sind. Nennenswert sind von älteren Spruchdichtern die Bd. I. S. 47, 48

und 52 erwähnten. Besonders aber Zincgref, der 1624 wie schon Agrikola

(1528) und Sebast. Franck (Spruchweisheit, 1541) eine Sammlung der deutschen

Sprichwörter (Apophthegmata) veranstaltete. Ferner Angelus Silesius

(Joh. Scheffler Bd. I. S. 52), der zu vielen Spruchgedichten der Weisheit

des Brahmanen Fr. Rückerts den Stoff liefern mußte. (Vgl. den Nachweis in

„Fr. Rückert, ein biographisches Denkmal“ vom Verf. S. 158.) Außerdem

haben uns Gnomen hinterlassen: Gleim, Kästner, Herder, Bürger,

Schiller, Lessing, Tiedge, Goethe
(Gnomen 1─17), Leopold Schefer,

Haug, Rückert
(in Weisheit d. Brahmanen, in Lieder und Sprüche u. s. w.)

u. a. Jnteressant sind die vielen Sprichwörtersammlungen, von denen wir

nur aus der Neuzeit diejenigen von Körte (1837 und 1861), Eiselin (1838),

Simrock (1846 und 1863), Wander (deutsches Sprichwörter-Lexikon, Leipzig

1863─78) und Binder (Stuttgart 1874) erwähnen.



§ 95. Epistel.



Poetische Epistel nennt man einen Brief in Gedichtform mit

didaktischer Tendenz.



Ähnlich unseren Prosabriefen richtet sich die poetische Epistel an eine bestimmte

Person und teilt Gefühle und Gedanken in poetischer Form und in

lehrhafter Weise mit, so daß sie von der ganzen Menschheit mit Jnteresse gelesen

werden kann, und somit nicht nur für den Einzelnen Wert hat.



Die Griechen kannten diese Art von Epistel in der klassischen Zeit fast

gar nicht, denn die Briefe des Plato, Demosthenes u. a. sind wohl großenteils

unecht. Der römische Dichter Horaz, der seine Episteln, wie seine Satiren |#f0235 : 213|



in Hexametern verfaßte, ist der Begründer der poetischen Epistel insofern, als

er zuerst systematisch solche dichtete, wie vor ihm sporadisch Sp. Mummius

vor Korinth 146 v. Chr., der Bruder des Siegers L. Mummius. Die Episteln

des Horaz zeigen Humor, aber weniger Spott als seine Satiren. Seine Lehre

steht immer in subjektiver Beziehung zu seiner Persönlichkeit.



Er spricht frei und offen, wie an einen Freund, und einige Briefe sind

wirklich durch besonderen Anlaß hervorgerufen. Dieselben stammen sämtlich aus

seinen letzten Jahren, wo er ernst gestimmt war und Neigung zum Philosophieren

bei ihm vorherrscht. Bei einem Brief nimmt jeder Mensch seine Gedanken mehr

zusammen, als bei einer Tischunterhaltung. Daher haben die Episteln einen

geregelteren Gang und verschmähen das Nachlässige, das in der Satire herrscht.



Die bedeutendste Epistel des Horaz ist die an die Pisonen, die den

individuellen Charakter ganz verleugnet und deshalb gewöhnlich aus der Briefsammlung

als ein besonderes Gedicht unter dem Titel de arte poetica ausgeschieden

wird. Es ist eine die Regeln der Dichtkunst in poetischer nicht eben

systematischer, sondern aphoristischer Weise darlegende Poetik in Versen, die für

Schulen sehr oft gedruckt und kommentiert wurde. (Vgl. Bd. I S. 3.)



Jn der neuesten deutschen Litteratur kommen die Episteln nur höchst vereinzelt

vor, während sie nach Günthers, Uz' ─ ihrer Begründer ─ Vorgang Ende

des vorigen und anfangs unseres Jahrhunderts an der Tagesordnung waren.



Die neueren deutschen Episteldichter wenden meist kein episches Maß an,

wie Horaz es that, da wir eben ein allgemein anerkanntes nationales episches

Maß nicht mehr haben; aber sie wenden auch keine lyrischen Strophen an,

bedienen sich vielmehr meist langer unstrophischer Reihen reimender Zeilen u. s. w.



Beispiel der poetischen Epistel.



Epistel an Stockmar, von Fr. Rückert.



Höre, mein Arzt, womit mir zu helfen ist, hilf mir nur diesmal;

Lang schon forschend und lauernd, wie meiner Bitteren wäre (nämlich seiner Geliebten

Amaryllis)

Beizukommen mit einem Geschenkelchen, hab' ich zu guter

Stunde nun endlich erlauscht, sie werd' am künftigen Festtag

Gehn mit andern zugleich zum Markt des benachbarten Städtchens,

Einzukaufen daselbst ein Spiegelchen, um des zerbrochnen

Stell' an der Wand der Kammer, darin sie schläft, zu ersetzen.

Denn obgleich an dem Haus ihr zunächst ein ziemlicher Bach fließt, (die Baunach)

Mit recht spiegelnden Wellen, solang's nicht regnet wie heute,

Jst sie doch leider nicht ländlich genug, am Spiegel des Wassers

Sich genügen zu lassen, und den von Glas zu entbehren.

Höre nun, was du errätst! wie ich sogleich mich besonnen,

Jhr zu verderben die Freude des Markts, und selbst ihr den Spiegel

Einzumarkten durch dich. Was lächelst du? Seltsames Handwerk

Lehrt oft Amor uns treiben; was aber könnt' er uns lehren

Passenderes, als Spiegel, zerbrechliche Gläser, zu kaufen?

Drum, du darfst dich nicht sträuben, geschwind und kaufe den Spiegel!

Denn in euerer Stadt ist alles zusammengestapelt,

Was man schönes begehrt (das lebende Schöne verbleib' euch

Unbestritten für jetzt!) und auch zum Markte des Städtchens,
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Wo mein Kind sich zu holen gedenkt ihr kleines Bedürfnis,

Kommen die Schnitzel allein, die euere Krämer uns bringen,

Dessen, was ihr nicht mögt. Wie könnt' ich es besser denn machen,

Als dazu dich zu brauchen (zu wenigem bist du zu brauchen,

Sei's zu diesem mir nur!), durch dich dort gleich aus des Schönen

Sammelverein zu bezieh'n das Gewählteste, ohne zu warten,

Was auf dem Karren des Krämers der Gaul erst bringe des Zufalls.

Wähle mit sinniger Hand, und denke, für wen und für welche!

Wert sei's meiner Liebe für sie, wert deiner für mich auch.

Aber das wär' unendlich, und hier gilt's Grenzen zu setzen.

Also, wie breit und wie lang? So lang und so breit als genug ist,

Nicht für ein Prunkgemach, ein fürstliches, sondern ein stilles

Örtchen, wo er soll hangen, um keinerlei Ort zu beneiden.

Also nur eben so lang, daß, wenn das Mädchen hineinschaut,

Unter dem zierlichen Köpfchen der Hals auch noch und des Busens

Oberste Ränder sich zeigen, die schwellenden, ohne daß drüber

Über den Spiegel hinaus entrücket werde das Häubchen,

Und desgleichen so breit nur wenigstens, daß ich zu höchster

Not, wenn ich enge genug an die Schläf' ihr mich schmieg', in dem Glase

Jhrem Gesicht zur Seite mein eigenes kann mit den dunkeln

Locken sehn, wie die Wolke die schattende neben der Sonne.

Suche nur recht was tüchtiges aus, und laß dich vom blöden

Aug' einmal nicht berücken, du kannst ein andermal blind sein;

Daß dir nicht etwa ein Flecken entgeh', und sei es ein kleiner,

Der, nicht zufrieden im Glase zu stehn, auch auf das Gesicht sich

Prägen will ihr, an der ich im Bild auch Flecken nicht dulde;

Oder daß gar er mir sei von den tückischen einer, der Spiegel,

Welche die gradesten Züge zu widriger Schiefe verzerren.

Auch ein solcher nicht sei's, der, lebende Farben beneidend,

Dämpft die Röte der Wangen zu totenähnlichem Bleigrau.

Lieber auf feuchtem Grund, um die Wahl ein wenig zu dunkel,

Mag er mein bräunliches Mädchen noch etwas bräuner mir malen.

Wie nun von außen der Kern zu verzieren sei, oben und unten,

Und an den Seiten umher, das steht, um deinen Geschmack auch

Zeigen zu können, bei dir; nur wähle mir nichts zu modestes,

Oder zu einfachedles, eh'r helle gefällige Farben.

Götter der Lieb' auf dem Rahmen sind überflüssig; die Liebe,

Die mir hinein soll schaun, sie kennt sie nicht, und sie bedarf's nicht.

Eins nur bitt' ich zuletzt, du Lässiger, daß du mir diesmal

Deine Gewohnheit änderst, und eilest, damit ich zur rechten

Stunde das Liebesgeschenk aus deinen Händen empfange.

Wenn ich den Boten dir send', und du sendest ihn leer mir zurücke,

Und verderbst mir die Lust, die ich so schön mir geordnet!

Denn schon hab' ich mich heimlich einmal zur Kammer geschlichen,

Und in der Wand den Nagel befestiget, wo die Bescherung

Hangen soll; am Vorabend des Markttags aber noch einmal

Schleich' ich des Wegs, und bringe den heimlichen Markt in die Kammer.

Ordnend alles geschickt und geschwind. Ei, daß du mir schöne

Bänder nur auch nicht vergessest, daran der Spiegel soll hangen!

Wenn sie dann kommt zur Ruhe zu gehn, und weiter nicht acht hat ─

Daß sie zum Schlafengehn mit keinem anderen Licht sich

Leuchtet, als ihren Augen, ist eben zu meinem Betrug recht ─

Wenn sie dann morgens erwacht, und gleich mit dem ersten der Blicke

Trifft auf das neue Gerät, ich wette, sie wähnet, sie träume.

Wenn sie dann aber die Augen sich reibt, daß der Spiegel verschwinde,
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Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre.

Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun.

Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute!

Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist?

Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen,

Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen.

Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem

Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem

Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken!


Litteratur der poetischen Epistel.



Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: Francesco Algarotti;

von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Racine, Rousseau,

Voltaire
u. a.



Von den Deutschen haben zuerst Günther und Uz Episteln gedichtet.

Dann Gleim (An Jakobi); Jakobi (Antwort); Göckingk (An meinen Bedienten,

An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); Wieland,

Manso, Ernst Schulze
(An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte);

Pfeffel (An Zoe &c.); Gotter (Der Trost); Tiedge (An Schmidt); Thümmel,

Goethe, Platen, Rückert
u. a.



§ 96. Heroide.



1. Heroiden (lat. heroides von ἡρωίς == Heldin) sind lyrischdidaktische,

in erhabenem oder elegischem Ton gehaltene Episteln, in

welchen der Dichter nicht in seinem Namen spricht, vielmehr eine

historische, mythische oder fingierte Person reden läßt.



Ovid dichtete die ersten Heroiden und ist somit ihr Begründer.



2. Die deutschen Heroiden weichen von den Ovidschen ab.



1. Ovids Heroiden sind Briefe, welche von berühmten Liebhaberinnen an

ihre entfernteren Geliebten gerichtet wurden (z. B. Deïanira an Herkules. Vgl.

auch die vorbildliche Heroide bei Properz [49─15 v. Chr.] V. 3, welche

eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich

lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung

innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt

wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht

auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen eine Art Elegie.



2. Seit Chr. Hoffmann v. Hoffmannswaldau (Bd. I 51) hat man

die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den

Namen falsch auf, indem man unter Heroides nicht Heldinnen, Heroinen, d. h.

episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, Herois verhalte sich zu Heros

wie Aeneis zu Aeneas und sei also ein Gedicht, das von Helden handle.

Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder

schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine |#f0238 : 216|



Gedanken in den Mund, die sie von jenseits des Grabes ihren Freunden mitteilte.

Doch ließ man die Heroide auch von einer noch lebend gedachten, berühmten

Person (auch wohl von fingierten Personen) ausgehen. Ende des vor.

Jahrhunderts erreichte die 1716 von Pope geschriebene Heroide Heloise an

Abälard,
welche Bürger und Tiedge deutsch übersetzten, bei uns verdiente

Berühmtheit.



Beispiele der Heroide.



α. Choröbus der Kassandra, von Platen.



Nicht von Munde zu Mund und nicht von Auge zu Auge

Darf die Liebe den Drang ihrer Gefühle gesteh'n:

Strenge verschließest du dich in heilige, keusche Gemächer,

Giebst zerstörendem Schmerz, sinnender Trauer dich hin,

Wechselst allein mit dem pythischen Gotte verlorene Worte,

Der undankbar dafür Jammer und Sorge verheißt.

Zürne, Kassandra, mir nicht, und nicht dem verwegenen Griffel,

Der mir Blicke des Augs, Töne der Lippen ersetzt.

Siehe, mein Land verließ ich, die blühenden Freunde, den Vater,

Der, von Jahren gebeugt, kindlicher Stütze bedarf.

Dich zu gewinnen mir, zog ich hierher: mit bebenden Händen

Gab mir den Segen der Greis, als ich die Schwelle verließ:

Lange, so sprach er, und könnt' ich der mahnenden Worte vergessen?

Lange berühmt und geliebt blüht mein erhaben Geschlecht.

Viele bewohnten bereits, die nun du verlässest, die Wohnung,

Selbst Unsterbliche schon lebten und gasteten hier.

Also erschien auch einst mit Hermes Phöbus Apollon,

Und prophetischen Geists sagte der Deliergott:

Ewig besteh' dies Haus, wenn nie ein Gebieter des Hauses

Jm unrechtlichen Krieg waffnet die zürnende Brust.

Nie begegnete dies, noch soll dies jemals begegnen,

Und so hofft' ich zu sehn Enkel auf Enkel dereinst.

Aber ziehe nun hin zu Phrygiens Königin, Troja,

Eine von Priams Stamm wähle zur Gattin dir aus.

Denn ihn haben die Götter begabt mit Knaben und Jungfraun,

Während sie dich mir geschenkt, einziger Sprosse des Stamms.


Also sagte der Greis, und legte die bräutlichen Gaben

Selbst im Wagen zurecht, der mich nach Troja geführt.

Damals wohnte noch Helena nicht im Phrygerpalaste,

Duftiger Rauch umschlang friedlich noch jeden Altar.

Und ich sah dich im Priestergewande, du schmücktest das Opfer

Blumiger Äste Gewind zierte das wallende Haar:

Kypria schienst du zu sein, mit großen schmachtenden Augen,

Aber der Thräne Gewicht hing an der Wimper bereits:

Flieh, Unseliger flieh! So riefst du, wehe dem Epheu,

Der mit Liebe sich schlingt um den entwurzelten Baum!

Doch ich blieb; da kam mit dem Raube der Held Alexandros,

Aber die Fremdlingin wich dir an Reiz und Gestalt.

Bald erfüllten das Meer die schwärzlichen Schiffe von Hellas,

Und vor den Thoren der Stadt rief es zum wilden Gefecht.

Doch umsonst nur sandte der Vater mir Boten um Boten,

Ach, wo Liebe gebeut, fruchtet ein ander Gebot?
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Was betrauerst du wohl? Was fürchtet die schöne Kassandra?

Glaube mir, Jlion fällt nie durch Pelasgergewalt;

Denn es verzehren die Feinde sich selbst in verderblicher Zwietracht,

Mit dem atreischen Paar hadert noch grimmig Achill.

Ewiger Klage geweiht durchlebst du den Tag im Palaste,

Aber was fesselt dich dort ewiger Klage geweiht?

Deine Geschwister vielleicht? sie fliehen dich, schöne Prophetin!

Oder des Phöbus Altar, den du mit Schauder bedienst?

Oder die Stadt, die, wie du verkündiget, bald in den Staub sinkt?

Oder die heimische Flur, nun in der Feinde Gewalt?


Ziehe, Kassandra, mit mir zu den freundlichen Wohnungen Mygdons,

Und mit bräutlichem Schmuck tausche das Priestergewand.

Statt der verhaßten Befehle des Gott's und der Totenorakel,

Labe mit traulichem Ton Kindergelispel dein Ohr.

Das bedenke du wohl, und verjage den wolkigen Wahnsinn,

Der dir des heiteren Geists lieblichen Äther umhüllt.

Sieh mich an und dich selbst, sieh unsere glänzende Jugend,

So vergessen wir leicht künftiger Tage Geschick;

Aber wir ahnen es kaum, es bewahren die Götter ihr Vorrecht,

Gönnen dem Sterblichen nicht ihren unsterblichen Teil.


β. Aus: Clemens an seinen Sohn Theodorus, von Schiebeler.



─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─

Als dich, ein weinend Kind, des Segensboten Hand

Von Sünden rein gemacht, mit deinem Gott verband,

Hub dich mein Arm empor. Jch sprach mit tausend Zähren:

„Laß ihn, Allgütiger! laß ihn dich treu verehren,

Den Sohn, den du mir gabst! Herr, meine ganze Brust

Erfüllet dein Geschenk mit nie empfundner Lust.

Doch sollt' er je die Würd', ein Christ zu sein, verkennen,

Und nicht für deinen Ruhm sein Blut zu opfern brennen,

O, so entreiß' ihn jetzt, Herr, jetzt entreiß' ihn mir,

Und preisen will ich dich, und danken will ich dir.“

Du blühtest auf, es war, des zarten Geistes Kräfte

Zu bilden, meine Lust, mein süßestes Geschäfte.

Jch lehrte dich dein Heil und sah vergnügungsvoll

Der Wahrheit Frucht an dir, die täglich dir erscholl.

Wie oftmals hört' ich dich der Väter Mut in Leiden,

Jm tausendfachen Tod, bewundern und beneiden!

Und nun erzitterst du, da dir ein Engel schon

Die Palm' entgegenhält, der Überwinder Lohn?

Glühst du nur fern von Streit, von edlen Heldentrieben?

Und ist dies Leben wert, daß wir so sehr es lieben?

Von deinen Feinden lern', Kleinmüt'ger, deine Pflicht.

Was litt nicht Regulus! Wie froh starb Cato nicht,

Dem Vaterland zum Wohl, sich Nachruhm zu erwerben!

Dir winkt ein schönrer Ruhm, und du, du bebst zu sterben?

Für den, der dir zum Heil der Himmel Thron verließ

Der Erde Bürger ward, die er entstehen hieß;

Verspottet und verfolgt vom Frevler, der ihn haßte,

Jn Martern ohne Zahl für dich am Kreuz erblaßte.

Jch weiß es nur zu wohl, was deinem schwachen Geist

Den Tod so furchtbar macht, zum Staub ihn niederreißt;
|#f0240 : 218|



Jrene sah mit dir die längst gewünschte Stunde,

Die frohe Stunde nahn, bestimmt zu eurem Bunde,

Da stürzte der Tyrann, der unsrer Qualen lacht,

Dich, deine Braut und mich in tiefe Kerkernacht.

Die süßen Hoffnungen, die eure Brust erfreuten,

Bedeckt ein Augenblick mit großen Dunkelheiten,

Und statt des heil'gen Bands, das euch nun bald umgab,

So will es unser Gott, vereinigt euch das Grab.

Verehre sein Geheiß und dank' ihm mit Entzücken,

Daß er dein Blut begehrt, da deinen frohen Blicken

Am liebenswürdigsten des Lebens Aussicht schien.

Der Opfer größestes, ist es zu groß für ihn?

Schnell, wie ein Hauch, verfliegt das größte Glück hienieden.

Wir wünschen uns ein Gut, empfahn es und ermüden

Jn dem Besitz von ihm. Der Durst, der uns erfüllt,

Der heiße Durst nach Ruh' wird nur in Gott gestillt. u. s. w.


Litteratur der Heroide.



Heroiden schrieb von den Römern Ovid, Properz; von den Jtalienern:

Bruni und Crasso; von den Engländern: Pope; von den Franzosen:

Dorat; von den Deutschen Schiebeler, Eschenburg, A. W. Schlegel

(Neoptolemus an Diokles); Hofmannswaldau (Eginhard an Emma); Kosegarten

(Agathon an Thelxione); Kuffner (Thusnelda an Arminius); Therese

v. Artner (Sappho an Phaon); W. Smets (Ernst, Graf Gleichen an sein

deutsches Eheweib); Platen (Choröbus der Kassandra); Tiedge; Bürger; Kind

(Einsiedler an der Twerza); Wieland (Briefe Verstorbener an ihre noch lebenden

Freunde); Dusch; Trautzschen; Ernst Eckstein (Mutter und Kind. Jn

Ecksteins Sammlung: „Jn Moll und Dur.“) u. a.



Heroiden der Deutschen hat Raßmann (1824) herausgegeben.



§ 97. Kurze lyrisch-didaktische Formen.



Wie schon manche Episteln recht gut als Heroiden, oder Elegien,

oder Satiren, oder poetische Erzählungen aufgefaßt werden können,

wie ferner manche Satiren in Form von Briefen oder Fabeln &c.

auftreten, so findet man eine Anzahl kleinerer Dichtungen, welche sich

in keine der früher vorgeführten lyrischen Arten einordnen lassen.

Entweder ist ihr Jnhalt nicht vom Gefühl diktiert, oder es fehlen ihnen

die Anforderungen an das religiöse, elegische, gesellige, epigrammatische

Gedicht, oder endlich es geht ihnen eine, den bisher vorgeführten

Gattungen eigentümliche, charakteristische Form ab. Es steht eben dem

Dichter frei, sich von der Schablone je nach Bedürfnis zu trennen,

und die einzelnen Gattungen je nach Belieben und Bedürfnis zu vermengen

oder durch neue zu vermehren.



Wir verweisen die unbestimmten lyrischen Formen mit didaktischer

Tendenz in die besondere Rubrik der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.



Diese kurzen lyrisch=didaktischen Formen zählen selbstredend zur didaktischen

Gelegenheitspoesie, die ähnlich der Pindarschen Gelegenheitspoesie oder den in |#f0241 : 219|



didaktischen Betrachtungen gipfelnden Sirventêsen (== Dienstgedichten) der Provençalen,

dem Lyrischen entsprossen, das Lehrhafte in den Vordergrund stellt.

Der gewaltigste Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, räumte

in derartigen Gedichten dem Verstande nur soviel ein, als nötig für den gedanklichen

Aufbau des Gedichts war. Er bietet hier gewissermaßen die Form des

sog. Spruches, indem er jedem Gedicht nur eine Strophe, zuweilen von größerer

Ausdehnung und lang gestreckten unsangbaren Zeilen giebt.



Beispiel der kurzen lyrisch=didaktischen Formen.



Reaktion, von Fr. Rückert.



Vor zwanzig Jahren

Dachten wir hoch zu fahren,

Auf eigner Bahn,

Jn Saus und Braus,

All vornen hinan,

All oben hinaus.

Jetzt sind die Schwingen gebrochen,

Wir sind zum Kreuze gekrochen,

Bitten demütig,

Flehmütig, wehmütig:

Laßt uns im Haufen

Nur auch mitlaufen!



Einzelne derartige Gedichte, in denen der Jnhalt wenig bietet und in

mehr spruchartige präzise Form gedrängt ist, finden sich bei allen Dichtern,

besonders aber in Rückerts Liedern und Sprüchen. (Aus dem Nachlaß z B.

S. 87. 101. 102 &c.)



Weitere Beispiele bieten die sogenannten Endreime (Bouts-rimés). Vgl.

Rückerts: Aufgegebene Endreime (Auf dem Berg); Alois Schreibers: Das

neue Jahrhundert u. s. w.



§ 98. Wirkliches Lehrgedicht.



1. Das wirkliche Lehrgedicht ist die absichtsvolle poetische Darlegung

von Wahrheiten, die in Verwandtschaft und Beziehung zu

einander stehen und auf ein gemeinsames Ziel hinlenken. Sein Gegenstand

ist die Ausführung einer der Moral, der Wissenschaft, der Kunst,

der Religion, der Natur, dem Leben entstammenden Materie.



2. Es bedient sich zu seinem Aufbau je nach Bedürfnis der

Definition, der Jnduktion, der Analogie und der Jndividualisation.



1. Wenn im didaktischen Liede der Verstand durch das Gefühl in Schwingung

gebracht wird, so äußert in gerade umgekehrter Weise im wirklichen Lehrgedicht der

Verstand seine anregende Wirkung auf Gefühl und Phantasie. Das wirkliche

Lehrgedicht ist seinem Zweck nach ernster Natur, da das komische Lehrgedicht nur

Parodie ist.

|#f0242 : 220|



2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur

Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind:



a. Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition

kaum die Form gemein hat, indem sie Begriffe zur Erklärung häuft, während

jene nur die Kennzeichen des Begriffs einzeln vorführt.



Beispiel:



Vater ist, der alle Kinder,

Keines mehr und keines minder,

Liebt und jedes mehr als sich;

Solche Lieb ist väterlich.


Vater ist, der einen Bissen

Misset eh'r, als lässet missen,

Der den Kindern teilt sein Brot

Und für sich behält die Not.


Vater ist, der seine Rute

Jhnen führt, nicht sich zu Gute,

Und den Streich sich selber giebt,

Den er dem giebt, was er liebt.


Vater ist, der alle kennet,

Mit dem Namen alle nennet,

Und in seinem kleinen Reich

Alle hält in Liebe gleich.
(Rückert.)



b. Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt.



Beispiel:



Viel rühmen dich, Warum? aus Überzeugung? Nein!

Man lehrt durch Höflichkeit dich wieder höflich sein.

Warum hat dich Krispin so vielfach schon erhoben?

Er wird dein Lob, um sich der Welt selbst einzuloben.

Der Redner rühmet dich, nicht, weil du's würdig bist,

Nein, um uns darzuthun, daß er ein Redner ist.

Hier spricht ein Tisch von dir. Wie? schätzen dich die Blöden?

O nein, sie wollten jetzt nicht mehr vom Wetter reden.

Sarkast lobt heute dich; warum? dächtst du es wohl?

Damit sein künft'ger Spott mehr Eindruck machen soll.


(Aus Gellerts Reichtum und Ehre.)



c. Die poetische Analogie, welche die Ähnlichkeit des Gegenstandes

in Beziehung mit anderen setzt. (Vgl. als Probe „Dem Liebesänger“ unter

I. der Beispiele.)



d. Die poetische Jndividualisation, welche statt eines abstrakten

Begriffes die untergeordneten Jndividuen nimmt. (Vgl. als Beispiel die gute

Lehre des Bettlers unter II.)

|#f0243 : 221|



Beispiel des wirklichen Lehrgedichts.



I. Lyrisch-didaktisch.



Dem Liebesänger, von Rückert.



Wenn du willst in Menschenherzen

Alle Saiten rühren an,

Stimme du den Ton der Schmerzen,

Nicht den Klang der Freuden an.


Mancher ist wohl, der erfahren

Hat auf Erden keine Lust,

Keiner, der nicht still bewahren

Wird ein Weh in seiner Brust.



Als weiteres lyrisch=didaktisches Beispiel vgl. „Sei ein Mensch“, von

Leop. Schefer.



II. Episch-didaktisch.



Die gute Lehre des Bettlers, von Fr. Rückert.



Ein frommer Bettler stand an Krämerladenwand,

Hätt' einer Gabe not, doch streckte nicht die Hand.

Der geiz'ge Krämer denkt, sein Schweigen sei ein Heischen;

Jn seinem Kram gestört, begann er aufzukreischen.

Er hatt' in manchem Sack zu wühlen und zu kramen,

Und sprach zum Bettler barsch: Geh' hin in Gottes Namen!

Der Bettler sprach: Jch geh' in Gottes Namen leicht,

Da mir zum Hindernis kein schwerer Pack gereicht.

Du aber, der du hast so manchen Sack zu zu tragen,

Wie gehst du, wenn man wird des Aufbruchs Trommel schlagen?

Von diesem Worte ward des Krämers Herz getroffen,

Dem Bettler ging er nach, und ließ den Laden offen.

Er nahm den Bettelstab und wanderte durch's Leben.

So gute Lehren kann ein Bettler Krämern geben.

Wohl jenem Weisen gleich, der, als vor Feindesdrohn

Die Bürger, um Verlust der Habe klagend, flohn,

Jm schwerbepackten Zug ging leicht an seinem Stabe,

Und sagte, daß er all das Seine bei sich habe.


III. Dramatisch-didaktisch.



Gegenstück zu UhlandsGespräch“, von Fr. Rückert.



„Jch bin des Alten treuer Knecht,

Weil es ein Gutes ist.“

Das Gute bessern, ist ein Recht,

Das nur ein Knecht vergißt.


„Vom Guten hab' ich sich're Spur,

Vom Bessern leider nicht.“

Du schließest deine Augen nur,

Sonst zeigt' ich dir das Licht.


„Jch schwör' auf keinen einz'len Mann,

Denn einer bin auch ich.“

Wo dich das Jch nicht halten kann,

Sprich, woran hältst du dich?
|#f0244 : 222|



„Jch halt' es mit dem schlichten Sinn,

Der aus dem Volke spricht.“

Schlicht sinn'ges Sprechen ist Gewinn,

Verworr'nes Schreien nicht.


„Jch lobe mir den stillen Geist,

Der mählich wirkt und schafft.“

Doch fordert jedes Werk zumeist

Auch Schöpferarmes Kraft.


„Was nicht von innen keimt hervor,

Jst in der Wurzel schwach.“

Doch einmal muß man sä'n zuvor,

Was wurzeln soll hernach.


„Du meinst es löblich, doch du hast

Für unser Volk kein Herz.“

Für es trag' ich samt and'rer Last

Auch dieser Kränkung Schmerz.



Weitere Beispiele vgl. Sallets Fragment aus einer Tragödie im antiken

Stil (Sallets Ges. Ged. S. 171), sowie die am Schluß des folgenden Paragraphen

(99) gegebenen Proben aus Rückerts Weisheit des Brahmanen.



Litteratur des wirklichen Lehrgedichts.



Das wirkliche Lehrgedicht haben besonders Gellert, Herder, Tiedge,

Schefer, Sallet, Rückert
&c. gepflegt.



Die Weisheit des Brahmanen von Rückert ist eine Sammlung

kleiner wirklicher Lehrgedichte, die durch gleiche Empfindung verbunden als

großes Lehrgedicht aufgefaßt werden und im nächsten Paragraph (99, ebenso

wie Sallets Laienevangelium und Schefers Laienbrevier) noch einmal erwähnt

werden müssen. Die einzelnen Gedichte sind als wirkliche Lehrgedichte zu

rubrizieren, während die Vereinigung dieser sämtlichen Dichtungen je als großes

Lehrgedicht gelten kann.



§ 99. Großes Lehrgedicht.



Giebt ein Dichtwerk nicht nur eine einzelne gute Lehre, sondern eine

ganze Anzahl von Gedanken aus einem Gebiet oder auch aus verschiedenen

Gebieten, so daß eine große didaktische Dichtung aus kleinen Einheiten

sich ausbreitet, wodurch schließlich das Thema erschöpfend behandelt

wird, so nennen wir dies ein großes Lehrgedicht.



Das große Lehrgedicht macht in seiner Ausdehnung und in seinem Verlauf

die allermannigfaltigsten Verhältnisse (z. B. Gott, Sittlichkeit, Freiheit, Tugend,

Unsterblichkeit und Glückseligkeit) zum Gegenstande seiner Betrachtung, welche es

vom Standpunkte einer höheren Weltanschauung beurteilt. Je mehr dabei der

reflektierende Verstand sich mit Phantasie und Gefühl vereinigt, desto vorzüglicher

wird das große Lehrgedicht sein. Gefühl und Phantasie werden in ihm übrigens

durch die Verstandesthätigkeit in Bewegung gesetzt. (Vgl. S. 18. 2. d. Bds.)

|#f0245 : 223|



Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und

namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters),

wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz

zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit einer

hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe

von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe.

Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und

Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten

Aßmannschen Weltgeschichte noch Tscharners Regeln von der Wässerung der

Äcker, Trillers Pocken-Jnokulation, Schröers Drei Bücher von der Vormünder

und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das

Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa

und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden,

so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende

Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung

trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um

seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern

Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der

Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von

Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren

Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist.



Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer

Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen

Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei

den philosophischen Systemen selbst der Fall ist.



Beispiele des großen Lehrgedichts.



Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge.

Klagen des Zweiflers.



Mir auch war ein Leben aufgegangen,

Welches reich bekränzte Tage bot;

An der Hoffnung jugendlichen Wangen

Blühte noch das erste, zarte Rot;

Auf der Gegenwart umrauschten Wogen

Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut;

Hohe Traumgestalten zogen

Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut;

Leichte Stunden rannen schnell und schneller

An dem halberwachten Träumer hin,

Und die Gegend lag schon hell und heller,

Nur auch wüster, da vor meinem Sinn.


Forschend blickt' ich in die weiten Räume;

Aber bei dem zweifelhaften Licht

Sah ich jetzt nur meine Träume!

Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht!
|#f0246 : 224|



O der Helle, die dem guten Schwärmer

Nichts zu zeigen hat, als seine Nacht!

O des Lichtes, das den Glauben ärmer,

Und die Weisheit doch nicht reicher macht!


Stolze Weisheit! durftest du mir's rauben,

Das erhabne, stille Seelenglück?

Nimm, was du mir gabst; nur meinen Glauben,

Meine Hoffnung nur gieb mir zurück,

Daß mein Haupt auf ihren Schoß sich neige,

Und dies Herz, das schwere Seufzer trug,

Jhr die Narben von den Wunden zeige,

Welche mir das harte Leben schlug!

Wie geschreckt von einem grausen Fluche,

Der aus einem Himmel mich verstieß,

Fahr' ich zitternd auf, und suche

Mein verlornes Paradies.


Friede war um mich. Durch Blumenstellen

Wandelte mein unbefangner Schritt,

Wie ein Lenztag, der aus seinem hellen,

Sonnenroten Morgenhimmel tritt.


Hin, dahin ist diese holde Jugend u. s. w.



(Jn ähnlicher Weise und in diesem Metrum breitet sich die Dichtung

aus. Der Zweifler klagt die skeptische Philosophie an und fordert von ihr

seine Ruhe zurück. Er zweifelt an Gottes Dasein; das irdische Leben erscheint

ihm als ein Rätsel. Furchtbar schreckt ihn der Tod. Er betrachtet

sich als ein vom despotischen Schicksal hin- und hergeworfenes Wesen. Dennoch

fordert eine innere Stimme die Tugend; er soll, was er nicht kann: Hoffnungslos

schmachtet er nach Zuversicht, nach Trost. ─ ─ ─ Dies ist der

hauptsächliche Jnhalt des 1. Gesangs dieses großen, aus 6 Gesängen bestehenden

Lehrgedichtes über die Unsterblichkeit. Der aufmerksame Leser findet, wie

die Didaxis bald aus dem Gefühl, bald aus dem Verstand quillt, weshalb

ihn das Gedicht bald ergreift, bald kalt läßt, ohne viel mehr zu bewirken,

als die ruhelose Stimmung von Punkt zu Punkt weiter zu drängen. Jm 6. Gesang

kommt der Dichter zur Ansicht, daß eine zweifache Natur im Menschen

waltet; in jener entwickelt er sich als Naturwesen; in dieser reift er durch

sittliche Freiheit zur sittlichen Freiheit,
von deren Höhe aller Prunk

der Zufälligkeiten des Lebens klein und nichtig erscheint &c.)



Bruchstück aus dem Laienevangelium, von Fr. von Sallet.



O Morgenland! wie ein Erinnern schallend ─

Wie Heimweh zieht's nach deinen Märchenfernen.

Hier lag die Menschheit in der Wiege lallend,

Und langte spielend nach des Himmels Sternen. ─


Jm Taumel rasend und im Stumpfsinn brütend,

Wich dein Geschlecht aus schöner Menschheit Gleise,

Doch sann, der Kindheit Tiefsinn still behütend,

Jm Schatten deiner Palmen mancher Weise.
|#f0247 : 225|



Was vor uns steht im Taglicht der Erkenntnis,

Fühltest du leis durch deine Träume wallen;

Was unser Geist erkämpfte dem Verständnis,

Jst dir als Spielzeug in den Schoß gefallen.


Jn dir auch wachte mächtig auf ein Ahnen

Vom Gott, der in der Brust des Menschen wohne,

Und deine Weisen folgten froh den Bahnen

Des Sterns, zum neugebornen Menschensohne.


Sie boten fromm ihm Weihrauch, Gold und Myrrhen

Und beugten ihre Knie' dem Lichtgedanken,

Bis sie, heimkehrend auf des Weges Jrren,

Vergessend in ihr altes Träumen sanken. ─


Doch was dich einst durchzuckt mit Blitzesschnelle,

Das wird auf's neue deine Völker wecken,

Und Gottbewußtsein, heiter, frei und helle,

Durchwandelt siegend deine Länderstrecken.


Dann werden deine goldnen Traumesschätze

Des Westens Geiste dargebracht als Gabe,

Daß Mannesgeist an Blütenhauch sich letze,

Und Kindessinn an reifer Frucht sich labe.



(Das Laienevangelium ist aus 131 solcher wirklichen Lehrgedichte zusammengesetzt.

Ein Prolog leitet es ein. Darauf folgen die Lehrgedichte: Jm Anfang

war das Wort. Die Geschlechtsregister. Maria Verkündigung. Simeon. Die

Weisen aus dem Morgenland und sodann alle jene Abschnitte aus Jesu Leben,

welche uns das Evangelium bietet bis zur Himmelfahrt. Ein Epilog schließt

das große Lehrgedicht. Das Ganze erstrebt eine Art Wiedergeburt des Christentums

im modernen Sinn.)



Litteratur des großen Lehrgedichts.



Von den Alten lieferten didaktische Gedichte: Empedokles (über die Natur);

Hesiod (Werke und Tage, vgl. S. 21 d. Bds.); Virgil (der bedeutendste

Didaktiker: „vom Landbaue“; es besteht aus vier Büchern: 1. Ackerbau, 2. Baumzucht,

3. Viehzucht und 4. Bienenzucht, ist überhaupt das beste, was das

Altertum bietet); Ovid (ars amandi, übersetzt von Pernice und F. Katsch,

Leipz. 1881, vgl. § 86 d. Bds.); Lucretius (de rerum natura); Horaz.

Ferner die Neulateiner: Vida (Seidenzucht); Milio (Gartenbau); die Jtaliener:

Vavasone (über die Jagd); Duchi (über Schachspiel); die Franzosen: Louis

Racine
(über die Religion); Castel (über die Pflanzen); Boileau (die Kunst

zu dichten); die Engländer: Buckingham (über Dichtkunst); Pope (über den

Menschen); Young (über die Kraft der Religion, sowie die ergreifenden, Tod

und Unsterblichkeit behandelnden „Nachtgedanken“ dieses Dichters, übersetzt von

Benzel-Sternau). Von Deutschen sind zu nennen: Ringwald (geb. 1531:

Christliche Warnung des treuen Eckarts, oder die lautere Wahrheit, die sagt,

wie ein weltlicher und geistlicher Krieger sich zu verhalten haben); Opitz

(Zlatna oder von der Ruhe des Gemüts, ferner Trost in Widerwärtigkeit

des Kriegers); Cronegk (die Einsamkeiten); Schefer (1784─1862, Laienbrevier); |#f0248 : 226|



Kästner (die Kometen); Lichtwer (das Recht der Vernunft);

Schiebeler (Poetik des Herzens); Schreiber (Harmonie); W. Jordan

(Demiurgos, hat Ähnlichkeit mit Goethes Faust, bewegt sich in allen Kreisen

der menschlichen Gesellschaft und führt den Gedanken aus: Der Mensch soll

unbekümmert um den Weltlauf sein eigenes Ziel erstreben); v. Gottschall

(die Göttin, hohes Lied vom Weibe); Schlönbach (Weltseele, ist in mancher

Beziehung mit Hallers Alpen zu vergleichen. Einzelne Bilder daraus z. B. „Vor

dem Sturm“ sind äußerst wirkungsvoll).



Endlich sind vorzugsweise die auf S. 21 und 22 d. Bds. genannten

großen Lehrgedichte hier zu verzeichnen, sowie zum Schluß das epochebildende,

aus 2800 kleineren Lehrgedichten bestehende große Lehrgedicht Rückerts: Weisheit

des Brahmanen, welches durch die Einheit des Sinns, der Form und

der Empfindung zu einem großen Ganzen verbunden ist, alle Verhältnisse des

Menschen nach Alter, Stand, Geschlecht, Staat, Religion, Gesellschaft umfaßt,

Resultate von Studien auf philosophischen, psychologischen, sprachlichen, naturwissenschaftlichen

und pädagogischen Gebieten darbietet, alle Saiten des Menschenherzens

erklingen läßt, zur Tugend mahnt, Mut im Unglück lehrt und selbst

den religiösen Fragen über Gott, Unsterblichkeit, Glauben, Offenbarung &c.

nicht aus dem Wege geht. Von welchem Gesichtspunkte aus der Dichter selber

seine Weisheit des Brahmanen angesehen wissen will, mögen die nachfolgenden

Bruchstücke darthun:



Jch gebe dir, mein Sohn, das mögest du mir danken,

Gedanken selber nicht, nur Keime von Gedanken.


Nicht mehr zu denken sind Gedanken, schon gedacht;

Von Blüten wird hervor kein Blütenbaum gebracht.


Doch ein Gedankenkeim, wohl im Gemüt behalten,

Wird sich zu eigener Gedankenblüt' entfalten.


(Weish. d. Brahm. II. 31. 1. Ausg. II. 43.)



Ein anspruchvolles Buch will im Zusammenhang

Gelesen sein, und macht euch schwer den langen Gang.


Dies anspruchlose macht die kurzen Gäng' euch leicht;

Denn wo ihr stillstehn wollt, habt ihr ein Ziel erreicht.


(Ebenda V. 5.)



Wie wenig oder viel des Schönen mir gelang,

Erscheint mir doch am Ziel naturgemäß mein Gang.


Jch sehe, daß ich bin vom Schauen ausgegangen,

Um durch's Empfinden hin zum Denken zu gelangen.


(Ebd. XX. 61. 1. Ausg. XX. 106.)



Wenn ihr vielleicht vermißt in diesem Buch die Einheit,

Statt großes Ganzen seht der Einzelheiten Kleinheit;


Doch eine Einheit ist, und doppelte, darin:

Die Einheit in der Form, die Einheit auch im Sinn.


Auf wieviel Stoff nun angewandt die Einheit sei,

Das lenkt der Zufall, und ist wirklich einerlei.


(Ebd. XX. 64. 1. Ausg. XX. 111.)

|#f0249 : E227|



Viertes Hauptstück.

Die epischen Dichtungen. ──────


§ 100. Einteilung der epischen Poesie.



Wir ordnen die Gattungen der Epik nach ihrem Jnhalt an und

unterscheiden demnach epische Gedichte, welche ihren Stoff



1. aus dem Leben der Wirklichkeit, dem Erlebnisse nehmen;



2. aus der Sagenwelt schöpfen;



3. dem prosaischen Leben der Wirklichkeit in Prosa nachbilden,

also erfinden.



Demzufolge erhalten wir die nachstehende für unsere Anordnung maßgebende

Einteilung:



[Beginn Spaltensatz]I. Aus dem Leben der

Wirklichkeit.


Erlebtes.

1. Poetische Erzählung u.

epische Rhapsodie.

2. Jdylle.

3. Beschreibendes Gedicht.[Spaltenumbruch]

II. Aus der Sagenwelt.

Überliefertes.

1. Sage.

2. Mythus.

3. Legende.

4. Märchen.

5. Romanze.

6. Ballade.

7. Epos.

A. Volksepos.

B. Kunstepos.[Spaltenumbruch]

III. Dem Leben der Wirklichkeit

nachgebildet.


Erfundenes.

Prosaische Gattungen.

a. Roman.

b. Novelle.[Ende Spaltensatz]



Einige Litterarhistoriker beachten keinerlei Einteilungsprinzip und ordnen

die obigen Gattungen der Epik willkürlich an. Andere bereichern die epischen

Gattungen durch die von uns in den §§ 79─81 dieses Bandes abgehandelten

symbolischen Gattungen der Didaxis: Fabel, Parabel und Paramythie. Heinrich

Wittstock (im 3. Programm des Gymnasiums zu Bistritz) faßt die Gattungen

der Epik unter folgende allgemeine Gesichtspunkte zusammen:

|#f0250 : 228|



A. Rein episch: Epos, Jdylle.



B. Lyrisch=episch: Ballade, Romanze, Rhapsodie.



C. Poetische Erzählung, Schwank, Legende, Sage, Märchen, Mythe.



D. Didaktisch=episch: Fabel, Parabel, Paramythie.



Wir würden dieser Einteilung gegenüber vorschlagen die Scheidung a. in

Epik der Einbildungskraft (epische Epik), b. Epik des Gefühls (lyrische Epik),

c. Epik des Verstandes (didaktische Epik).



Doch geben wir unserer oben dargelegten Rubrizierung nach der Stoffquelle

(Jnhalt) der epischen Gedichte den Vorzug.



I. Aus dem Leben der Wirklichkeit ─ dem Erlebnisse ─ erblühende

epische Gattungen.


§ 101. Poetische Erzählung.



1. Eine poetische Erzählung (metrische Erzählung, erzählendes

Gedicht, Erzählung in Reimen oder Versen) ist im Grunde genommen

eine jede Erzählung in rhythmischer Form, sofern sie durch Jdealisierung

ein höheres Jnteresse zu erwecken vermag. Sie schildert mit dichterischem

Schwung eine einzelne Begebenheit, ein einzelnes Vorkommnis aus

dem Leben einer oder mehrerer Personen, oder sie veranschaulicht eine

ästhetische Jdee in der Form einer Begebenheit. Jhr Jnhalt muß somit

dem wirklichen Leben entsprechend sein. Alles Sagenhafte und Wunderbare

ist bei ihr ausgeschlossen.



2. Aus diesen Anforderungen ergiebt sich ihr Verhalten zur

Romanze und Ballade, zur Novelle, zur Epopöe, zur Parabel und

Fabel &c.



1. Durch die rhythmische Form unterscheidet sich die poetische Erzählung

äußerlich von der gewöhnlichen Prosa-Erzählung, die ja ebenfalls in's Bereich

der Poesie gezogen werden kann, sofern sie die inneren Gemütszustände enthüllt

und bei ihrer Darstellung die Phantasie thätig sein läßt. Der Umfang ist unwesentlich.

Die metrische Erzählung Jsabella von Kastilien vom Wupperthaler

Dichter K. Stelter umfaßt 354 vierzeilige Strophen; Bodenstedts Ada,

die Lesghierin,
72 Gesänge in 4= und 5taktigen Trochäen. Eine kurze

Erzählung in Prosa (Anekdote) kann durch die rhythmische Form ebenso zur

poetischen Erzählung werden, als eine lang fortgesponnene.



Betreffs der Form steht dem Dichter jedes Versmaß und jeder Reim frei.

Trochäen, Jamben, der Nibelungenvers, Alexandriner, Oktaven &c. sind mit

Erfolg angewandt worden.



Für die Entstehung der poetischen Erzählung ist zu betonen, daß man im

Streben nach höherer Kunstentfaltung, übersättigt von der Fabeldichtung, epische

Stoffe zu bearbeiten begann, wobei anfänglich allerdings wie in der Fabel die |#f0251 : 229|



didaktische Tendenz überwog, so daß die poetische Erzählung sich von der Fabel

ursprünglich nur dadurch unterschied, daß statt der Tiere Menschen ihre handelnden

Gestalten waren. Dies ist noch bei vielen, satirisch gehaltenen sogenannten

poetischen Erzählungen von Gellert, Lichtwer, Gleim &c. der Fall, die deshalb

in's Gebiet der didaktischen Poesie gehören. Nach und nach erst trat die epische

Gestaltung in den Vordergrund, und allmählich bildete sich auch eine poetische

Erzählung aus, die man Schwank nannte, wenn sie komisch oder humoristisch

gehalten war.



2. Von der Parabel unterscheidet sich die poetische Erzählung dadurch,

daß sie nicht belehren will; von der Ballade und Romanze dadurch, daß sie

nicht direkt auf das Gemüt zu wirken sucht, und daß ihr die lyrische, subjektiv

erregte Färbung fehlt; von der Novelle und Novellette durch ihre metrische

Form; von der Epopöe durch kleineren Umfang, durch ihren dem wirklichen

Leben oder der Phantasie (nicht der Sage) entlehnten Stoff.



Man kann die poetischen Erzählungen einteilen:



1. in humoristische poetische Erzählungen;



2. in ernste poetische Erzählungen.



Beispiele der poetischen Erzählung.



1. Humoristische poetische Erzählung.


Der Milchtopf, von Michaelis.



Wohl aufgeschürzt, mit starken, weiten Schritten,

Den Milchtopf auf dem Kopf, ging Marthe nach der Stadt,

Um ihre Sahne feilzubieten.

Weil doch nun beim Verkauf ein jeder Sorgen hat,

So überdachte sie, was, wenn's das Glück ihr gönnte,

Sie wohl damit gewinnen könnte.

Sechs Groschen, dachte sie, giebt mir doch jedermann ─

Denn in der Stadt ist alles teuer. ─

Die streich' ich also ein, und lege mir sie an,

Und kaufe mir, so weit sie reichen, Eier,

Die bring' ich wieder in die Stadt.

Das Glück hat oft sein Spiel! für das, was ich gewänne,

Kauft' ich mir lauter Hühner ein.

Dann legt mir eine jede Henne;

Jch zieh' auch dreimal Brut. Wie wird sich Marthe freun,

Wenn so viel Hühner um sie flattern!

Die soll gewiß kein Fuchs ergattern! ─

Dann, sind sie groß genug, so kauf' ich mir ein Schwein.

Aus Kälbern, sagt man, werden Kühe.

Das Ferklein wird ja groß; ich spar' auch keine Mühe,

Die Kleie hab' ich schon dazu.

Wenn ich das Schwein verkauft, kauf' ich mir eine Kuh:

Die wirft ein Kalb, ein Ding voll Mut, voll Feuer!

He! wie es springt! hopf, Anne Marthe, hopf!

Hier springt sie. ─ Gute Nacht, Kalb, Kuh, Schwein, Hühner, Eier!

Da lag der Topf.
|#f0252 : 230|



(Dieselbe poetische Erzählung findet sich unter der Überschrift: Die Milchfrau

in anderer Form mit einer Lehre am Schluß bei Gleim, wodurch diese

Form didaktisch wird und den Beweis liefert, daß die poetische Erzählung an

der Grenze der didaktischen und epischen Poesie steht. Beide Erzählungen,

welche übrigens aus der Hitopadesa stammen, sind offenbar Nachahmungen

der Fabel von Lafontaine „La laitière et le pot au lait.“ Livre VII

fable
10.)



2. Ernste poetische Erzählung.



Als allbekannte Beispiele nenne ich: 1. Schwäbische Kunde, von

Uhland.
2. Johannes Kant, von Gust. Schwab.



Litteratur der poetischen Erzählung.



Von den frühesten poetischen Erzählungen aus der Zeit der Minnesinger

erwähnen wir den „Armen Heinrich“ von Hartmann von der Aue (vgl. Bd. I.

S. 46), ferner den „Guten Gerhard“ von Rudolf von Ems, welcher die Bescheidenheit,

sowie auch die das geschaffene Gute vernichtende Selbstgefälligkeit

schildert. Aus späterer Zeit: Hans Sachs, der Vater des Schwanks, der auch

später seine Vertreter fand (z. B. Der Kaiser und der Abt, von Bürger).

Dann im 18. Jahrhundert Hagedorn, der die Franzosen und Engländer nachahmte

(z. B. den Lafontaine).



Verbreitete und allbekannte poetische Erzählungen von Wert haben außer

den Obigen geschrieben: Claudius (David und Goliath); Gellert (Der Jnformator,

Der Hut, Der sterbende Vater &c.); Kleist (Die Freundschaft); Lichtwer

(Die blinde Kuh); Lessing (Das Kruzifix &c.); Fouqué (Sängerlohn); Pfeffel

(Der Bauer und der Fluß, Der Geizhals und sein Sohn); Wieland (Die drei

Lehren &c.); Nikolai (Die Traube); Gotter (Der Genuß); Herder (Das Kind

der Sorge); Falk (Der Esel); Seume (Der Wilde); Göckingk (Predigt am

Magdalenentage, humoristisch); Tiedge (Die Orakelglocke); Thümmel; Kind;

Schulze (Psyche); Schiller; Simrock; Justinus Kerner (Der reichste Fürst);

Bürde (Karl V. im Kloster); Chamisso (Giftmischerin, schaurig ernst); ferner

Rückert (Die Erfrorenen); Freiligrath; Fr. Storck; Körner; Lenau; A. Grün;

Frankl; Castelli; Paul Heyse; Feod. Löwe; Rittershaus; Heinr. v. Collin

(Max auf der Martinswand); Ludwig Lesser (Schach Jbrahim und der

Derwisch &c.); von Gaudy (Die Pestjungfrau, Der Mönch Peter Forschegrund

&c.); Alexander Kaufmann (Die Bettlerin &c.); Amara George (Der

kleine Napoleon); J. Sturm (Martin Luther am Sterbebette seines Lenchens);

Bechstein (Haimonskinder); v. Heyden (Königsbraut &c.); Waldmüller; George

Morin (Stern und Rose); Al. Aar (Alarich auf der Akropolis); Waiblinger;

Karl Stelter; Karl Zettel &c. Außerdem haben die meisten deutschen Dichter

der Gegenwart poetische Erzählungen geliefert.



Als erzählender Dichter der Engländer ist besonders Lord Byron († 1824)

zu nennen. Nachahmer von ihm waren der Pole Mikiewicz und der Russe

Puschkin u. s. w.

|#f0253 : 231|



§ 102. Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie).



Die poetische Erzählung mit höherem Schwung und größerer

Begeisterung heißt epische oder erzählende Rhapsodie oder Märe. Auch

wird jede Romanze oder Ballade so genannt, sofern sie einen für sich

allein bestehenden Abschnitt einer größeren Heldensage enthält.



Somit verhält sich die epische Rhapsodie zur poetischen Erzählung, wie

die Ode zum Liede. Sie will die Thaten und den Charakter des Helden vor

unsern Augen entwickeln, und auf diese Weise auf unser Gefühl wirken, nicht

aber durch Betrachtungen und Gefühlserregungen. Bei den alten Griechen

hießen einzelne Gesänge eines Epos Rhapsodien. Heutzutage darf man auch

ein episches Gedicht Rhapsodie nennen, wenn sein Gegenstand so großartig ist,

daß es nur wie ein Bruchstück eines größern Ganzen zu betrachten ist. Namentlich

Goethe, Schiller und Uhland sind Meister in der epischen Rhapsodie.



Viele Balladen und Romanzen sind zugleich auch epische Rhapsodien. Jch

erwähne vor allem: Schillers Ballade Graf von Habsburg. Diese

Dichtung stellt eine große Scene vor, das festliche Mahl im Aachener Schloß

nach der Krönung. Um es möglich zu machen, alles zu konzentrieren, That

und späte Erfüllung der geweissagten Segnung in einer Scene beizubringen,

wird hier der inzwischen ergraute Priester zum Sänger, aber dieses Wort in

so veredelter Bedeutung genommen, als nur irgend möglich. Der Kaiser sucht

bei der Tafel einen Sänger, der ihm die Brust bewege mit göttlich erhabenen

Lehren. Dieser knüpft die Vergangenheit an die Gegenwart, und vollendet auf

diese Weise die Harmonie des Ganzen. (Calderon, dessen Bearbeitung Schiller

höchst wahrscheinlich kannte, hat denselben Stoff zuerst in dem Auto sacramental

[Apontes III. p. II. a
] und in dem Vorspiele zum Auto sacramental

[El Arca de Dios captiva VI
. 39] mit großer Ähnlichkeit behandelt.)



Schillers Ballade erscheint wie ein großes Bruchstück, verdient also den

Namen epische Rhapsodie.



Beispiele der epischen Rhapsodie.



Neben dem soeben genannten allbekannten Beispiel erwähne ich nur noch

a. Pegasus im Joche, von Schiller. b. Der letzte Ritter, von Anastasius

Grün (eine Verherrlichung des letzten deutschen Ritters Kaiser Maximilian).

c. Prinz Eugenius. d. Andreas Hofer. e. Cserhalom, von Vörösmarty,

übersetzt von Faust Pachler (Wien 1878), und f. den 1881 erschienenen

Rhapsodiencyklus Barbablanca von Jul. Ernst von Günthert. Weitere Beispiele

können leicht aus der unter Romanze und Ballade gegebenen Litteratur

ausgewählt werden.



§ 103. Die Jdylle.



1. Die Jdylle (oder auch das Jdyll, εἰδύλλιον == Bildchen, von

εἶδος == Form, Bild, Gestalt) ist eine poetische Erzählung, welche den

glücklichen, ruhigen, von Schuld freien Zustand des ländlichen Lebens |#f0254 : 232|



schildert, das einfache, schlichte, glückliche Treiben von Menschen, die

mit der Natur anmutig verkehren.



2. Sie ist der Elegie verwandt.



3. Sie hat kein feststehendes Versmaß.



1. Nicht das Bestreben, vor Störendem bewahrt zu sein, und nicht die

träumerische Behaglichkeit am Abgeschlossenen und Abgegrenzten ist Merkmal des

Jdylls, wohl aber die Liebe zum Ländlichen, die Sehnsucht nach der Einfachheit

und Natürlichkeit ländlicher, ungekünstelter Zustände und Verhältnisse. Vischer

sagt: „Aus der unbefangenen Einheit der Natur und Kultur geht die arkadische

Beseligung hervor.“



Bilder aus dem einfachen Hirten=, Fischer=, Jäger=, Winzer- und Schäferleben

sind der Jdylle am liebsten.



Jn neuerer Zeit hat man auch in die Jdylle Personen hereingebracht, die

(wie Landgeistliche, Beamte und Lehrer) erfolgreich in das Naturleben ihres

Ortes eingreifen. Dadurch wurde sie erweitert, ohne zum Epos geworden zu

sein, bei welchem ein der Jdylle fremdes, großartiges Gepräge nicht fehlen darf.

Nur harmlose Kinder der Natur voll sanfter Gefühle treten in der Jdylle auf;

verwickelte und fremde Verhältnisse, gewaltige Ereignisse, eine zu große Anzahl

handelnder Personen &c. verstoßen gegen ihr Wesen, weil die Seele des Lesers

zu sehr auf den weiteren historischen Verlauf der Thatsachen hingelenkt und

dadurch verhindert würde, einen verweilenden Blick auf die Bäume und Blumen &c.

zu werfen, die schmückend die Scene beleben. Daher hat Gervinus Recht, wenn

er meint, die Jdylle sei da zu Haus, wo Mangel an bewegter Geschichte ist.

Ziererei und höhere Lebensverfeinerung kennt die Jdylle nicht, ihr Stil ist einfach,

naiv, wohl zuweilen warm und lebhaft, nie aber leidenschaftlich. Jhr

Charakter ist der des Anmutigen, Lieblichen. Jm Jdyll muß sich jeder zu

Hause fühlen, alles muß bekannt, verständlich sein, das niedere Leben, die

gemächliche Alltäglichkeit in Stadt und Land (d. h. eine Welt, in der nichts

Großes geschieht, deren Geschichte ohne Geräusch langsam dahinfließt), muß die

Scene bilden. Daher schrieben Opitz, Geßner, Maler Müller ihre Jdyllen in

Prosa. Wo es dem göttlichen Knaben Hermes im bekannten Homerischen Hymnus

wohl wird in der heimlichen Grotte seiner Mutter, singt er nicht nur von ihrer

Liebe, sondern auch von ihrem Hausrate, von ihren Kesseln und Dreifüßen.



Das Jdyllische findet man zuweilen auch in andern Dichtungsgattungen,

z. B. im sog. idyllischen Epos (Goethes Hermann und Dorothea), oder in den

sogenannten idyllischen Schäferspielen, einer besonderen Art von Dramen des

17. Jahrhunderts, oder in den Dorfgeschichten (z. B. Auerbachs und Schaumbergers,

welche einzelne reizende idyllische Bildchen in Prosa liefern). Die Bibel

enthält Manches, was den Charakter der Jdylle an sich trägt, z. B. das Buch

Ruth. Der Jliade fehlen (Hektors Abschied und eine Scene auf Achills Schild

abgerechnet) die idyllischen Züge, ebenso unserem Nibelungenepos, während man

sie in der Odyssee (z. B. Schilderung des Naturparks der Kalypso Od. E.

55 ff.) findet.

|#f0255 : 233|



Lange blieb das Jdyll gelegentlicher Schmuck poetischer Gattungen. Erst

spät und zwar in der alexandrinischen Zeit riß es sich bei den Griechen von

der Verbindung los und wurde selbständige Dichtungsart, ähnlich wie sich das

zierliche Beiwerk, mit dem ursprünglich der Maler die Hauptfiguren umgab,

losriß, um als Genrebild oder Stillleben Selbständigkeit zu erlangen.



2. Das Jdyll hat viele Ähnlichkeit mit der Elegie. Seine Anschauungen

haben wie die der Elegie wenig epische Beweglichkeit. Ferner schildert es, abgesehen

von dem epischen Fortschritt seiner erzählten Thatsachen, wesentlich

ruhende Äußerlichkeiten.



3. Das Versmaß des Jdylls ist gewöhnlich der Hexameter, in neuerer

Zeit auch der reimlose jambische Vier- oder Fünftakter.



Beispiele der Jdylle.



a. Minna, von Tiedge.



[Beginn Spaltensatz]
Der Frühling war gekommen. Schön

Wie dünner Rosenflor umfloß,

Jm frischen Morgenrot gefärbt,

Ein Nebel sanft das Birkenthal;

Da saß am blühenden Gebüsch

Die fromme Minna, sah die Zweig'

Jm schönen Morgennebel sich

So lieblich neigen und von fern

Stieg aus betauter Roggensaat

Die Lerche jubilierend auf;

Und leise, leise lispelte

Das Wasser durch die Wiesen hin,

Zu tränken den erstorbnen Klee.


Das süße Lied der Nachtigall

Floß ihr in sanftem, kühlen Weh'n

Nur selten, aber himmlisch süß,

Vom weißen Schlehenbusch herab.

Die Wiesenblumen nickten ihr

Den stillen guten Morgen zu.

Die Wonne drang mit süßer Macht

Jn Minnas Engelseel' und goß

Sich jetzt in frommen Seufzern aus.

Sie faltete mit: „Gott, o Gott!“

Die kleinen weißen Händ', und ach!

Jhr Blick, voll schöner Andacht, stieg

Zum rotbestreiften Himmel auf.


„Ja, es ist wahr,“ rief sie, „was oft

Mein guter Vater mir gesagt;

Es ist ein Gott, der alles hier

Um mich herum so reizend schuf.“

Und hell und immer heller blüht'

Jn ihrem rosigen Gesicht

Die stille Seelenandacht auf.
[Spaltenumbruch]

Und schön und immer schöner schwamm

Die fromme Thrän' um ihren Blick,

Wie Tau auf Morgenveilchen bebt.


„Wenn Gott schon diese Welt“, so fuhr

Der kleine, sanfte Engel fort,

„So wunderbarlich ausgeschmückt,

Wie unbeschreiblich schön muß es

Bei diesem Gott im Himmel sein!

O gieb, du guter Gott, daß ich

Zu einem Engel reif' und einst

Aus dieser schönen Frühlingswelt

Jn jene schönre komme, wo

Mein Mütterchen schon lange wohnt,

Die, ach! in diesem Augenblick

Vielleicht an ihre Minna denkt.“


Jetzt trat ihr Vater, welcher sie

Still hinter einem Schlehenbusch

Belauscht, hervor, und hielt in ihr

Sein ganzes Vaterglück im Arm.

Umschlungen hielt er sie so dicht,

Wie sich die Reb' um's Gitter schlingt,

Und eine Thräne zitterte

Von seiner grauen Wimper still

Auf Minnas rote Wang' herab.

Und sie verbarg ihr schön Gesicht

Errötend in sein Silberhaar.


„Kind!“ sprach er, „frömmer hast du nie

Zu Gott gebetet, und dein Gott

Erhöret dein Gebet gewiß.

Wenn du als Engel wirst dereinst

Um deine Mutter schweben, dann,

Dann segne diesen Tag noch, Kind!“
[Ende Spaltensatz] |#f0256 : 234|



b. Schluß des 20. Jdylls Theokrits (die Spindel), übersetzt

von Fr. Rückert.



⏓ ⏓ – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – – ⏑ ⏑ – ⏑ –



Zweimal müßten die Schafmütter im Wiesthale das weiche Vließ

Scheeren lassen im Jahr, daß es genug wäre der Theugenis,

Die so emsiglich arbeitet, und thut wie die verständigen.

Denn ich möchte dich ja nicht in ein unthätig verschwenderisch

Haus einführen, o Landsmännin von mir, heimisch in jener Stadt,

Die vor Zeiten der Held Archias aus Ephyra gründete,

Vom dreizackigen Eilande dem Kern, achtbarer Männer Burg.

Aber wohnend im Haus jetzo des Manns, welcher so vieles kennt,

Was von traurigen Krankheiten befrein leidende Menschen mag,

Wirst du weilen im luftvollen Milet unter den Joniern,

Daß schön spindelversehn Theugenis sich zeig' in der Frauen Kreis,

Und du stets sie des Gastfreundes und Liedsängers erinnrest.

Ja dich sehend, erhebt mancher das Wort: wahrlich die Gunst ist groß

Für ein kleines Geschenk; alles ist wert, was uns von Freunden kommt.


c. Anfang und Schluß der Wald-Jdylle von E. Mörike.



Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze

Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt;

Alle die Märchen erzählt's, von der Gänsemagd und vom Machandel=

Baum und des Fischers Frau; wahrlich, man wird sie nicht satt.

Grünlicher Maienschein warf mir die geringelten Lichter

Auf das beschattete Buch, neckische Bilder zum Text.

Schläge der Holzaxt hört' ich von fern, ich hörte den Kuckuck,

Und das Gelispel des Bachs wenige Schritte vor mir.

Märchenhaft fühlt' ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen,

Sah' ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kuckuck, wie fremd!

Plötzlich da rauscht es im Laub, ─ wird doch Sneewitchen nicht kommen,

Oder, bezaubert, ein Reh? Nicht doch, kein Wunder geschieht.

Siehe, mein Nachbarskind aus dem Dorf, mein artiges Schätzchen!

Müßig lief es in Wald, weil es den Vater dort weiß.

Ehrbar setzet es sich an meine Seite, vertraulich

Plaudern wir dieses und das, und ich erzähle sofort

Gar ausführlich die Leiden des unvergleichlichen Mädchens,

Welchem der Tod dreimal, ach, durch die Mutter gedroht.

Denn die eitle, die Königin, haßte sie, weil sie so schön war,

Grimmig, da mußte sie fliehn, wohnte bei Zwergen sich ein.



(Der Erzählende teilt nun Schneewittchens Geschichte mit. Als er geendet

kommt Margarete und bringt dem Vater das Essen. Er ißt mit und hat

diesen Wunsch:)



Wär' ich ein Jäger, ein Hirt', wär' ich ein Bauer geboren,

Trüg' ich Knüttel und Beil, wärst, Margarete, mein Weib!

Nie da beklagt' ich die Hitze des Tags, ich wollte mich herzlich

Auch der rauheren Kost, wenn du sie brächtest, erfreu'n.

O wie herrlich begegnete jeglichen Morgen die Sonne

Mir, und das Abendrot über dem reifenden Feld!
|#f0257 : 235|



Balsam würde mein Blut im frischen Kusse des Weibes,

Kraftvoll blühte mein Haus, doppelt, in Kindern empor.

Aber im Winter, zu Nacht, wenn es schneit und stöbert, am Ofen

Rief' ich, o Muse, dich auch, märchenerfindende, an!


Litteratur der Jdylle.



Als erster Jdyllendichter in Griechenland wird Theokrit (270 v. Chr.)

genannt, der die Gattung der bukolischen Poesie oder das Hirtengedicht aus

Sicilien nach Alexandrien brachte. Seine Jdyllen sind mimische Gedichte. Nach

ihm glänzten Moschus und Bion.



Bei den Römern dichtete Virgil berühmte Jdyllen, ohne sein Vorbild Theokrit

erreicht zu haben. Er hat 10 Eclogen oder Hirtengedichte zurückgelassen.



Opitz' „Daphne“ rief in Deutschland ähnliche Gedichte hervor, besonders

bei den Pegnitzschäfern (I. 51).



Geßner (1730─1787) war der Schöpfer einer idealischen Hirtenwelt,

deren Vorbild ihm in der arkadischen Schweiz nahe genug lag. Seine Jdyllen

bieten in glatter zierlichen Prosa freundliche Scenen aus einem ersonnenen

Schäferleben. Die bis in's kleinste ausgeführten, oft unnatürlich süßlichen, oder

sentimentalen Schilderungen verraten den feinblickenden Landschafter. Sein bester

Schüler Franz Xaver Bronner († 1850 in Aarau) schrieb lebenswahre, leider

zu sentimentale Fischer-Jdyllen (z. B. der Getröstete).



Unter den deutschen Jdyllendichtern sind sonst noch bekannt: Chr. v. Kleist

(Jrin, in jambischen Viertaktern); Langbein (Abenteuer des Pfarrers Schmolke &c.

in jambischen Viertaktern); Hölty (Das Feuer im Walde; Der arme Wilhelm;

Christel und Hannchen); Voß (Der 70te Geburtstag. Diese Jdylle hat neben

Breitem und Spießbürgerlichem viele wahrhaft poetische Partien. Das Glückliche,

Schöne, Schuldlose und Einfache des Landlebens ist darin bis in's kleinste

mit anschaulichsten Farben gemalt. Vgl. auch I. 55); Kosegarten; Goethe

(Der Wanderer, das Sesenheimer Jdyll); Hebel (Habermuß); Neuffer († 1839,

Ein Tag auf dem Lande); Amalie von Helwig (das dramatische Jdyll Corcyra);

Platen (Die Fischer auf Capri; Amalfi; das Fischermädchen in

Burano); Wyß (Das Gemslein); Matzerath (Erntemahl, eine niederländische

Jdylle); Müller von Königswinter (Maikönigin, ein Gemälde des rheinischen

Volkslebens); Robert Giseke (Pfarr-Röschen); Robert Hamerling (Morgen=

Jdyll); Karoline Pichler (Der Sommerabend, und biblische Jdyllen); Günther

(die Landschaft); Rückert (Das Bienengesumme); Albert Möser hat Jdyllen

in Dialogform geschrieben, ähnlich wie Hebels Die Feldhüter oder wie Goethes

Der neue Pausias &c. Sein „Er“ beginnt mit einem Distichon, worauf seine

„Sie“ mit einem solchen fortfährt; dann spricht „Er“ wieder ein Distichon, dann

„Sie“ u. s. f. durch seine 4 Jdyllen. (Vgl. Mösers Schauen und Schaffen

S. 139 ff.); Anna Löhn (Der Schulmeister); J. G. Fischer (Der glückliche

Knecht, 9 Gesänge in trochäischen Viertaktern) u. a. Jul. Rodenberg schrieb

dramatische Jdyllen &c.

|#f0258 : 236|



§ 104. Beschreibendes Gedicht.



Gedichte, bei welchen der Dichter bloß die Eigenschaften, Merkmale,

Zustände seines der Natur entlehnten Gegenstandes angiebt, ohne

seine eigenen Empfindungen mitzuteilen, bei denen ferner die poetische

Beschreibung meist zur erzählenden Schilderung wird, bei welchen endlich

das sinnende Verweilen der Elegie ausgeschlossen ist, nennt man

beschreibende Gedichte.



Sobald die poetische Beschreibung aufhört zu erzählen, weist sie die Einbildungskraft

von sich, welche allein im stande ist, die Einzelheiten der Beschreibung,

denen ja der organische Zusammenhang fehlt, durch die historische

Entfaltung zu verbinden. Bloße Aufzählung des in sinnlicher Erscheinung Entgegentretenden,

Reimereien, die dem Abgerissenen nicht den Eindruck der augenblicklichen

Stimmung zu verleihen vermögen, fallen somit aus dem Gebiete

der Poesie heraus, selbst wenn glänzende Rhetorik das Ohr besticht. Beim guten

beschreibenden Gedicht muß Erzählung und Gefühls-Ausdruck vereinigt sein.



Um poetisch zu sein, muß vor allem der Gegenstand des Gedichts von

so interessanter Beschaffenheit, von solcher Schönheit, Großartigkeit oder Seltenheit

sein, daß eine bloße Angabe der Merkmale schon hinreichen würde, den

Leser poetisch anzuregen (z. B. bei Naturerscheinungen, die durch Großartigkeit,

Schönheit, Seltenheit einen tiefen Eindruck machen). Der Gegenstand des beschreibenden

Gedichts kann ebenso aus dem Reiche der sichtbaren, wie aus dem

der unsichtbaren Welt des Geistes und Gemütes entnommen sein; er kann erfunden

sein. Sodann sind Anschaulichkeit und Jdealität zwei Hauptforderungen

an ein beschreibendes Gedicht. Unschönes, Störendes aus der prosaischen Wirklichkeit

ist wegzulassen, das Schöne, sofern es keinen Widerspruch hervorruft,

ist hinzuzusetzen. Das beschreibende Gedicht läßt oft Episoden zu, um die

ästhetische Kraft des Ganzen zu fördern. Ohne diese Episoden ermüdet es und

wird zur Malerei mit Worten. Daher fließen wie von selbst Betrachtungen und

lyrische Ausbrüche der Empfindungen ein.



Häufig kommen poetische Beschreibungen als Teile größerer Gedichte vor.

Torquato Tasso beschreibt z. B. im befreiten Jerusalem eine Dürre, unter

der das Kreuzheer zu leiden hat. Homer beschreibt den Schild des Achill in

der Jlias. Die unter den didaktischen Gedichten erwähnten „Jahreszeiten“ (the

seasons
, vom Engländer James Thomson † 1748), ─ von Schneittheiner,

L. Schubart u. a. deutsch übersetzt ─ wurden die Veranlassung zu den beschreibenden

Nachdichtungen „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Brockes; Kleists

„Frühling“; Zachariäs „Die Tageszeiten“ und zu Haydns gleichnamigem

Oratorium.



Muster von beschreibenden Gedichten lieferte Schiller. Wir erinnern nur

an Laura am Klavier. Der Dichter hat hier eine Phantasie Lauras, die sie

ihm vorspielte, durch berechneten Rhythmuswechsel darzustellen gewußt. Die

Einleitung von V. 15─22 ist gewissermaßen ein Allegro Brillante, welches |#f0259 : 237|



in ruhiges Spiel übergehend durch geschmackvollen Ausdruck mit zartem Piano

(23 und 24) und kühnem Forte (25 und 26) sich auszeichnet, endlich (V. 27

und 28) wieder zum rauschend bewegten Tanze der Töne wird, darauf im

schmeichlerischen, tändelnden, ruhigeren Spiel (29─32) dahinschwebt, (33─36)

um in ein melancholisches düsteres Adagio herabzusinken und erwartungsvoll,

Neues erhoffend, zu endigen.



Beispiele des beschreibenden Gedichts.



a. Aus Kleists Frühling. (S. Bd. I S. 171.)



b. Die Fahrt um den Posilip, von Fr. Rückert.



Jch fuhr dahin am blühenden Rand

Den Posilipo zur rechten Hand;

Zur Linken fernhin schloß den Golf

Die Jnsel Capri, wo der Wolf

Tiberius, versteckt im schroffen

Geklipp, in scheußlichen Lüsten ersoffen.

Jch aber wandte rechts den Blick,

Wo um ein liebliches Verstrick

Von Blüten, das den Strand berankte,

Mein Kahn auf glatten Wogen schwankte.

Vorsprünge von Felsen vielgestaltig,

Abhänge von Hügeln mannigfaltig,

Mit Reben hier und dort mit Halmen,

Mit Pinien hier und dort mit Palmen,

Die Häuser zwischendurch gestreut,

Neu=altertümlich und alt=erneut.

Dann Trümmer aus dem Meere ragend,

Von untergegangener Prunkwelt sagend,

Als hier der Römer gebaut am Strand,

Dem zu eng war das feste Land,

Und der zu belasten das Meer gewußt

Mit den Gebäuden seiner Lust.

Jch fragte jetzt nicht viel nach denen,

Mich zogen an die stillern Scenen,

Die Gärten, die in's Meer her hingen,

Wo oben die Gärtner, die Winzer gingen;

Die Treppensteige, die schmal sich wanden

Herab, wo die Kähne, die Fischer standen.

Ein Fischer atmend stieg hinauf,

Er trug die Fische zum Verkauf,

Oder er tauschte vom Gärtner wohl

Um den Fisch die Frucht und den Kohl.

Zwei Alte saßen im Geschwätze,

Und besserten zerrissne Netze.

Seitab am Strand das Fischermädchen

Spann an der Spindel ein feineres Fädchen;

Jhr dürfte, wenn sie wollte angeln,

Gewiß der beste Fang nicht mangeln.

Doch Knaben wateten im Wasser,

Sie suchten Austern für städtische Prasser,
|#f0260 : 238|



Oder Muscheln für sich zum Spiel,

Bis ihnen mein Kahn in's Auge fiel.

Den Fremdling mit den langen Haaren

Sahen sie stumm vorüber fahren,

Anstaunend mit Augen starr und fix,

Als sei es ein meerentstiegener Nix.

Und als ich bog um die Felsenwand,

Glaubten sie, daß ich in's Meer verschwand.

Vom Land her wehte Sommerluft

Mit lauem Hauch und Blütenduft,

Dazwischen gastliche Gerüche

Von einer nah versteckten Küche.

Die Augen waren nun zu Gaste,

Nicht gut ist, daß auch der Magen faste;

Jch legte meinen Nachen bei,

Und ging zu sehn, wo die Küche sei.



c. Abendlandschaft, von Matthisson.

[Beginn Spaltensatz]

Goldner Schein

Deckt den Hain,

Mild beleuchtet Zauberschimmer

Der umbüschten Waldburg Trümmer.


Still und hehr

Strahlt das Meer;

Heimwärts gleiten, sanft wie Schwäne,

Fern am Eiland Fischerkähne.


Silbersand

Blinkt am Strand;

Röter schweben hier, dort blässer,

Wolkenbilder im Gewässer.


Rauschend kränzt

Goldbeglänzt

Wankend Ried des Vorlands Hügel,

Wild umschwärmt vom Seegeflügel.
[Spaltenumbruch]

Malerisch

Jm Gebüsch

Winkt, mit Gärtchen, Laub und Quelle,

Die bemooste Klausnerzelle.


Pappeln wehn

Auf den Höhn,

Eichen glühn, zum Schattendome

Dicht verschränkt, am Felsenstrome.


Nebelgrau

Webt im Tau

Elfenreigen, dort wo Rüstern

Am Druidenaltar flüstern.


Auf der Flut

Stirbt die Glut;

Schon verblaßt der Abendschimmer

An der hohen Waldburg Trümmer.
[Ende Spaltensatz]

Vollmondschein

Deckt den Hain.

Geisterlispel wehn im Thale

Um versunkne Heldenmale.



(Nicht bloß der glückliche Versbau ist es, sagt Schiller [Über Matthissons

Gedichte], was diesem Liede eine so musikalische Wirkung giebt. Der metrische

Wohllaut unterstützt und erhöht zwar allerdings diese Wirkung, aber er macht

sie nicht allein aus. Es ist die glückliche Zusammenstellung der Bilder, die

liebliche Stetigkeit in ihrer Succession; es ist die Modulation und die schöne

Haltung des Ganzen, wodurch es Ausdruck einer bestimmten Empfindungsweise,

also Seelengemälde wird.)

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d. Jn die Herrlichkeit des Himmels, von Ed. Tempeltey.



Sommerabend; überm Walde

Lag der Himmel rein und blau,

An den Gräsern, in dem Moose

Hing schon hie und da der Tau.


Lichter ward es jetzt; der Boden

Hob sich steil zum Waldesrand,

Daß dem Auge alle Ferne,

Die dahinter lag, verschwand.


Rüstig ging ich; durch die Tannen

Brach ein heller Grün hervor,

Zarte Birken auf der Höhe

Neigten sich zum Waldesthor.


Und wo an den Saum der Heide

Sich der Saum des Himmels schloß,

Lag die Sonne, die im Scheiden

Jn ein Strahlenmeer zerfloß.


Tausendfache Glut der Flammen,

Goldner Abendsonnenschein, ─

Jn die Herrlichkeit des Himmels

Schritt ich graden Wegs hinein.


Und nun dehnte mir zu Füßen

Lachend sich die Ebne aus:

Feld und Wiese, Flur und Garten

Und ein weinumranktes Haus.


Vor mir lag das Ziel des Wanderns,

Aber sie war nicht zu seh'n, ─

O nicht länger mocht' ich zögernd

Auf der lichten Höhe steh'n.


Auf die Fenster fiel vergoldend

Noch ein matter letzter Schein, ─ ─

Jn die Herrlichkeit des Himmels

Schritt ich graden Wegs hinein!


Litteratur des beschreibenden Gedichts.



Das erste größere beschreibende Gedicht unserer Litteratur ist von Opitz

(Der Vesuv, 1633 in Alexandrinern geschrieben). Später schrieben: Zachariä

(z. B. Die Tageszeiten in 4 Gesängen, in elegisch sentimentalem Ton; sein

berühmt gewordenes Hauptwerk); Kleist (Der Frühling); Stolberg (Hellebek);

Tiedge (Der Abend); Kosegarten (Der Gewitterabend); Matthisson (Der Genfersee

&c.); Lavater (Der Rheinfall); Neuffer (Die Herbstfeier); Salis (Das

Abendrot); Platen (Bilder aus Neapel); Freiligrath (Wüstenbilder); Heine

(Nordseebilder); Schiller (Elysium, Herkulanum und Pompeji &c.); Rückert (Naturbilder

in antikem Versmaß); Lenau (Mischka, Die Heideschenke, Die Werbung);

Geibel (Jtalien, Zigeunerleben, Das Negerweib); Dieffenbach (Das Kirschbäumchen);

A. Möser (Auf der Nordsee); Adolf Grimminger (Auf dem Königssee); Paul

Hagemann (Die Feuersbrunst) u. a.

|#f0262 : 240|



II. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische

Gattungen.


§ 105. Die Sage.



1. Sage (von sagen) ist die poetische Erzählung einer Begebenheit,

welche ihrem Stoffe nach von der im Volksmunde fortlebenden

und gefärbten Überlieferung herrührt und keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit

erhebt. Sie knüpft sich an mündlich überlieferte, durch das

Gedächtnis aufbewahrte, gefärbte Geschichte, oder an bestimmte historische

Personen, an einzelne, dem Volke interessante Orte (z. B. Ruinen,

Berge, Felsen).



2. Die Sage unterscheidet sich von der Mythe d. i. der religiösen

Sage.



3. Mehrere verwandte Sagen bilden einen Sagenkreis.



4. Besonders beliebte und verbreitete Sagen werden zu Volkssagen.



5. Es giebt ernste und humoristische Sagen.



1. Polybius hat zuerst (1. 2. 8. ὁ τῆς πραγματικῆς ἱστορίας τρόπος)

den Namen pragmatische Geschichtsforschung aufgebracht und versteht darunter

die wirkliche Geschichte, die sich im Gegensatz zur Sage wie zum Mythus befindet.



Saga (plur. Sögur) ist in der norddeutschen Mythologie eine dem Odin

als Gemahlin oder Tochter beigesellte Asin. Sie wohnt in der vierten Himmelsburg

Sökkwabeck, über welche kühle Wogen rauschen. Sie gilt als Personifikation

der Geschichte. Täglich trinkt sie mit Odin aus goldenen Schalen Weisheit und

Kunde. (Vgl. Edda 7.)



Das der Dichtungsgattung Sage zu Grunde liegende Geschichtliche ist

durch die Phantasie so entstellt, vergrößert oder verkleinert worden, daß das

geschichtliche Moment nur in den seltensten Fällen herauszufinden ist. Ursache

und Wirkung wird nicht mehr recht begriffen; es entstehen falsche Beziehungen;

das Wunderbare erscheint natürlich; der Volksgeist in seiner Eigentümlichkeit

kommt zum Ausdruck. Die Sage, welche sich aus Sagen aus- und umbildet,

bis sie mundgerecht wird, hat das Volk und die Zeit zum Dichter. Sie ist

somit Volkspoesie und muß daher einfach, ansprechend, fesselnd sein. Chamisso

urteilt über die Sage:



„Es ward von unsern Vätern mit Treuen uns vermacht

Die Sage, wie die Väter sie ihnen überbracht;

Wir werden unsern Kindern vererben sie auf's neu;

Es wechseln die Geschlechter, die Sage bleibt sich treu.“



Das Charakteristische der Sage ist also die Überlieferung, die Tradition.

Der Dichter der Sage darf daher seinen unverbürgten Gegenstand nie der

Gegenwart entnehmen, sondern einer früheren Zeit. Nach Görres (Heldenbuch

von Jran II. 356) ist Sage der feurige Wein, in dem die vom Lebensgeiste

des Volkes durchwärmte Geschichte aufgegohren. Die Sage im Wesen historisch |#f0263 : 241|



gemeint, ist älter als die geschriebene Geschichte. Sie ruht auf uralter,

wirklicher, ungeschriebener, entstellter Geschichte. Der Dichter darf sich daher

Einschaltungen, Ergänzungen, Änderungen gestatten.



2. Man gebraucht das Wort Sage meist für eigentlich weltliche Sagen,

wie auch für Volkssagen, also für Stamm=, Geschlechts- und Heroensagen, nicht

aber für religiöse Sagen oder Mythen (§ 107), deren Personen gottähnliche

Wesen oder Götter sind.



Neben den Sagen von geringem Umfang (z. B. Rückerts und Chamissos

Riesenspielzeug) giebt es solche von großer Ausdehnung (z. B. die Sagen von

Till Eulenspiegel, vom Doktor Faust, vom ewigen Juden aus dem 16. Jahrhundert

u. s. w.



3. Mehrere Sagen, die sich auf den nämlichen Helden und auf andere

mit dessen Erlebnissen verknüpfte hervorragende Personen beziehen, bilden einen

Sagenkreis.



Für einen Überblick der vielen deutschen Sagen besonders der mittelhochdeutschen

Poesie kann man dieselben in folgende nach den Volksstämmen angeordnete

Sagenkreise einteilen:



a. Der niederrheinische Sagenkreis: Hauptort desselben war die

Burg Xanten (oder Santen) am Niederrhein. Siegfried (altn. Sigurd) ist

ihr erster Held, der sich im Blute des erlegten Drachen badete und hörnern

(hürnen) wurde; Kriemhild ist seine Gemahlin. (I 44.)



b. Der burgundische Sagenkreis: Hauptort Worms. Der Held ist

Gunther. Neben ihm stehen Gernot, der junge Giselher, Gunthers Mutter

(Frau Ute) und ihre Tochter Kriemhild; Gunthers Gemahlin Brunhild (Brynhild

der Edda).



c. Der ostgotische Sagenkreis: Hauptheld: Dietrich von Bern

(Theodorich von Verona 423─526). Sein Waffenmeister Hildebrand, dessen

Sohn Hadubrand, ferner Wolfhard, Wolfbrand, Wolfwin, Sigestab, Helferich &c.

gehören zu diesem Sagenkreis.



d. Der ostdeutsche Sagenkreis: Hauptort: Etzelsburg (Ofen). Es

gehören dazu: Etzel (Attila), seine Gemahlin Helche; Rüdiger von Bechlarn,

Hawart, Jring und Jrnfried.



e. Der norddeutsche Sagenkreis: Schauplatz: Friesland. König

Hettel, dessen Tochter Gudrun, Horant, Wate und Frute, sowie Morung von

Nifland und Jrolt von Ortland &c.



f. Der lombardische Sagenkreis: Hauptort: Garden am See (Gardasee).

König Rother; Ortnit, Hugdietrich; Wolfdietrich. (I 45.)



g. Der fränkische Sagenkreis oder die Karlssage: Karl der Große

und Roland als Gotteskämpfer. (I 45.)



h. Der bretonisch=keltische Sagenkreis oder die Artussage: Artus

und seine Tafelrunde; ein britischer König, durch seine Verteidigung gegen die

Sachsen bekannt. Um ihn sind versammelt: Parcival, Lohengrin, Jwein,

Tristan, Gawein, Erec, Lanzelot, Wigalois u. a. (I 45.)

|#f0264 : 242|



i. Der mit dem vorigen verwandte Gralsagen-Kreis: (le saint Graal

oder Gréal mißverstanden als Sang Réal, königliches Blut Jesu; richtiger:

heiliger Kelch, vom mittellat. gradale == crater) Titurel hat den Tempel

Montsalwäsche erbaut, in welchem der h. Gral ist. Artus sucht nach dem

Gral, um durch dessen Wunderkraft dem Tode zu trotzen.



4. Außer den vielverbreiteten Sagen dieser Sagenkreise leben in unserem

Volke viele sogenannte Volkssagen, die vereinzelt dastehen, keinem der vorstehenden

Sagenkreise unterzuordnen sind, oder wieder eigene Sagenkreise bilden.

W. v. Tettau-Erfurt verbreitet sich z. B. in einer Publikation unbekannter

Erfurter Drucke über folgende Volkssagen:



α. Die Königin von Frankreich, die vom Marschall verleumdet

wird.
Es ist dies die bei den Franken verbreitet gewesene Volkssage

von einer fälschlich des Treubruchs angeklagten, von ihrem Gemahl für

schuldig gehaltenen Fürstin, bei welcher der Ankläger im Gottesgericht (durch

einen Zweikampf mit dem entdeckenden Tiere) überführt wird. (Vgl. Die Tierkomödie

im letzten Hauptstück dieses Bands.) Jhre Ausbildung erhielt dieselbe

in Nordfrankreich, um die Wanderung zu den Provençalen, Spaniern, Jtalienern,

Deutschen, Engländern, Skandinaviern zu machen. Lachmann hat ein

Fragment bekannt gemacht, das der Hauptsache nach in die große Kompilation

Karl Meinet überging. W. von Tettau hat den ganzen bezüglichen Sagenkreis

verglichen (nämlich a. die Königin Sibille, b. Sagen von Berta mit dem

großen Fuß und Hildegard, c. Macaire, d. Karl Meinet, e la gran conquista

de ultramar, f
. die Oliva Sagen, g. Sir Triamour).



β. Der König im Bad des Stricker. Ein Engel tritt an des

Königs Stelle, als letzterer im Bade war, weil er in der Vesper die Vorlesung

der Worte im Magnificat deposuit potentes de sede verboten hatte.

Der Badediener verlachte nunmehr den König und erzeigte dem Engel als

dem wirklichen Könige die Ehre. Erst nachdem der König gelobt hatte, zu

glauben, was die Priester verkünden, wurde er wieder in seine Macht eingesetzt.

(Jn vielen Handschriften überliefert.)



γ. Ritter Morgeners Wallfahrt, eine der anmutigsten deutschen

Volkssagen des späteren Mittelalters, in welcher der totgeglaubte Ehegemahl

zurückkehrt, als seine zum zweitenmal vermählte Frau sich eben mit dem neu

Angetrauten in's Brautgemach zurückziehen will. Sie hatte die Treue nie verletzt.

Der Morgener gab dem zweiten Gemahl seine Tochter zur Gattin.



Zum Sagenkreis dieser Sage gehören die verwandten außerdeutschen und

deutschen Sagen: Gerhard von Holenbach; Hans von Bodman; der Graf von

Stadion; Reinfried von Braunschweig; Herzog Heinrich der Löwe; Karls des

Großen Rückkehr von Ungarn; Herzog Richard von der Normandie u. a. m.



δ. Die Historie vom Grafen von Savoyen, der, um nicht ewig

verdammt zu sein, zehn Jahre langes Ungemach und selbst die Trennung von

seinem trefflichen Weibe erträgt. Die Sage kann als eine Apotheose der Frauentreue

angesehen werden, ebenso wie die folgenden verwandten Sagen: Die |#f0265 : 243|



gute Frau; Der Busant; Sir Jsumbras; Magelone; Märchen vom Prinzen

Kameralsaman.



Weitere Volkssagen s. unter Litteratur der Sage.



Beispiele der Sagen:



a. Ernste Sagen.



Die Riesen und die Zwerge, von Fr. Rückert.



Es ging die Riesentochter zu haben einen Spaß,

Herab vom hohen Schlosse, wo Vater Riese saß.

Da fand sie in dem Thale die Ochsen und den Pflug,

Dahinter auch den Bauern, der schien ihr klein genug.

Die Riesen und die Zwerge!


Pflug, Ochsen und den Bauern, es war ihr nicht zu groß,

Sie faßt's in ihre Schürze, und trug's auf's Riesenschloß.

Da fragte Vater Riese: Was hast du, Kind, gemacht?

Sie sprach: Ein schönes Spielzeug hab' ich mir hergebracht.

Die Riesen und die Zwerge!


Der Vater sah's, und sagte: Das ist nicht gut, mein Kind!

Thu es zusammen wieder an seinen Ort geschwind.

Wenn nicht das Volk der Zwerge schafft mit dem Pflug im Thal,

So darben auf dem Berge die Riesen bei dem Mahl.

Die Riesen und die Zwerge!



(Gedanke: Die Mächtigen sollen die niedern Stände ihrer Brauchbarkeit

und Nützlichkeit wegen achten und schätzen; sodann mythisch ein Nachhall der

alten Riesen- und Kultursagen. NB. Das Material des erst 1831 entstandenen

Gedichtes „Des Riesen Spielzeug“ von Chamisso ist dem vorstehenden

schon 1817 geschriebenen Gedichte entlehnt.) Vgl. noch Rückerts ernste Volkssagen:

Die Begrüßung auf dem Kynast. Bestrafte Ungenügsamkeit. Ottilie.

Kind Horn in Rückerts Ges. Ausg. Band III. 56, und XII. 305 ff.



b. Humoristische Sagen.



Die Weiber von Winsperg, von Ad. v. Chamisso.



Der erste Hohenstaufen, der König Konrad, lag

Mit Heeresmacht vor Winsperg seit manchem langen Tag;

Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest,

Die unverzagten Städter, die hielten es noch fest.


Der Hunger kam, der Hunger! das ist ein scharfer Dorn;

Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn.

Jhr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert,

Und öffnet ihr die Thore, so trifft euch doch das Schwert.


Da sind die Weiber kommen: und muß es also sein,

Gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein.

Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt,

Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.
|#f0266 : 244|



Die Weiber mögen abzieh'n, und jede habe frei,

Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei;

Laßt zieh'n mit ihrer Bürde sie ungehindert fort!

Das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort.


Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut,

Da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut;

Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Thor,

Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor.


Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht,

Sie tragen ihre Eh'herr'n, das ist ihr liebstes Gut.

Halt an die argen Weiber! ruft drohend mancher Wicht; ─

Der Kanzler spricht bedeutsam: das war die Meinung nicht.


Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr gelacht:

Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht,

Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht,

Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht.


So war das Gold der Krone wohl rein und unentweiht.

Die Sage schallt herüber aus halb vergeßner Zeit.

Jm Jahr elfhundertvierzig, wie ich's verzeichnet fand,

Galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland.


Litteratur der Sagen.



Bekannte poetische Sagen haben außer den oben Genannten noch gedichtet:

Uhland (Klein Roland); Kinkel (Dietrich von Bern); Seb. Longard (Rolands

Tod); Oer (Das weiße Sachsenroß); Otto Weber (Der schlummernde Friedrich);

A. Kopisch (Willegis); Wolfg. Müller (Die versunkene Stadt); K. Simrock

(Der bönnsche Wind; Wieland der Schmied, Neudichtung des Amelungenlieds);

E. Ebert (Frau Hitt); Müller von Königswinter (Loreley, neu gedichtete Rheinsagen);

Bechstein (Haimonskinder); Dräxler-Manfred (Sagenbuch vom Sonnenberg);

Fr. Dingelstedt (Der Scharfenstein, althessische Sage); Max Waldau

(Graubündener Sage „Cordula“); Karl Stelter (in Aus Geschichte und Sage.

2. Aufl. 1882, z. B. „Schonakisga“ &c.) u. s. w.



Die bekanntesten Sagen (Sammlungen) ─ meist in Prosa ─ wurden

herausgegeben: Altfranzösische von Ad. v. Keller, Althochdeutsche von

Simrock; Aus dem klassischen Altertum von Gust. Schwab (1838 ff. 1877);

Aus der Altmark von Temme (1839); Aus den Alpen von Vernaleken

(1858), desgleichen von Alpenburg (1861) und von Zöllner (1861); Aus Baden

von Baader (1851); Badisches Sagenbuch von Schnezler (1846); Bayerische

von Panzer (1848), desgleichen von Maßmann (1851), von Schöppner (1852)

und von Leoprechting (1855); Aus Böhmen von Grohmann (1863); Aus

Brandenburg von Kühn (1843); Die Deutschen Kaisersagen von Falkenstein

(1847); Deutsche Pflanzensagen von Gebhard (1862), desgleichen von

Perger (1864); Deutsche Sagen von J. W. Wolf (1845), desgleichen von

Rod. Benedix (1851), und von J. und W. Grimm (1865); Geschichtlich

deutsche Sagen von Simrock (1850); Deutsche Volkssage von Henne Am=

Rhyn (1874); Deutsche (1842) und thüringische (1837) von Adolf Bube; |#f0267 : 245|



Aus der Eifel von Schmitz (1856); Aus dem Elsaß von Aug. Stöber

(1852); Aus Franken von Janssen (1852); Fränkische von Bechstein

(1842); Aus Hamburg von Beneke (1854); Aus der Vorzeit des Harzes

von Pröhle (1856); Harzsagen von Blumenhagen (1837 und 1850); Hessische

von Wolf (1853), desgleichen von Lynken (1854), und Bindewald

(1873); Aus Jndien und Jran von C. Beyer (1871); Aus Jsland von

Maurer (1860); Lithauische und preußische von Tettau und Temme (1837),

von Becker, Roose und Thiele (1847); Lübische von Deecke (1842); Aus

Luxemburg von Steffen (1853); Mainsagen von Alex. Kaufmann (1853),

desgleichen von Janssen (1852); Aus Mansfeld von Giebelhausen (1850);

Märkische von Kuhn (1843); Aus dem Neckarthale, der Bergstraße und

dem Odenwalde von Baader (1843); Niederländische von J. W. Wolf

(1843); Aus Niedersachsen von Harrys (1840), desgleichen von Schambach

und Müller (1856); Norddeutsche von Kuhn und Schwarz (1848); Aus

der Oberlausitz von Willkomm (1843); Aus der Oberpfalz von Schönwerth

(1857); Oberrheinisches Sagenbuch von Aug. Stöber (1842); Aus

Oldenburg und Mecklenburg von Studemund (1851), desgleichen von Niederhöffer

(1857); Aus dem Orlagau von Börner (1838); Österreichische von

Bechstein (1846); Aus der Pfalz von Baader und Moris (1842); Aus Pommern

und Rügen (1840); Aus dem preußischen Samland von Reusch

(1838); Sagenbuch des preußischen Staates von Grässe (1871); Rheinsagen

von Simrock (1837); Sagen des Rheinlands von Geib (für Göppinger.

1850); Rheinischer Sagenkreis von Ad. v. Stolterfoth (1835); Aus dem

Riesengebirge von Kräuterklauber (1843); Aus Rumänien von Schuller

(1857); Aus Sachsen von Ziehnert (1838), desgleichen von Grässe (1874);

Aus Sachsen und Thüringen von Sommer (1846); Aus Schleswig-Holstein

und Lauenburg von Müllenhoff (1843), desgleichen von Strackerjan

(1868); Aus Schwaben von Meier (1852), desgleichen von Birlinger (1862.

1874. 1878); Aus der Schweiz von Rochholz (1856), desgleichen von Lütolf

(1862); Aus Siebenbürgen von Müller (1857); Aus dem Spessart von

Herrlein (1851); Thüringische von Bechstein (1838); Aus Tirol von Zingerle

(1859), desgleichen von Mayer (1856); von Schneller (1867); Ungarische

aus der Erdelyischen Sammlung übersetzt von Stier (1850); Aus Vorarlberg

von Vonbun (1858. 1862); Aus Westfalen von Vincke (1856), desgleichen

von Kuhn (1859) &c.



Beachtenswert sind F. W. Genthes Deutsche Dichtungen des Mittelalters

in vollständigen Auszügen und Bearbeitungen. (Eisleben 1841─46.) Dieselben

enthalten in 3 Bänden 97 historische, legendenartige und erzählende Gedichte

des Mittelalters, welche meist sagenhaften Charakters sind, und sich zu Sagen=

Bearbeitungen sehr empfehlen dürften. Es sind zum Teil die von uns Bd. I

S. 44, 45, 46 aufgezählten Gedichte der nationalen Heldensagen, sowie Legenden

und Sagen aus den verschiedensten Sagenkreisen, Tiersagen u. a.



Für die Litteratur der Sage ist noch zu erwähnen: Brauns Naturgeschichte

der Sage (1865) und Uhlands Schriften zur Geschichte der Sage (1868).

|#f0268 : 246|



§ 106. Mythus.



Mythus ist diejenige poetische Erzählung, welche die Thaten und

Erlebnisse der im Volksglauben einer vorgeschichtlichen Zeit vorhandenen

Götterwelt, ja, der Gottheit selbst darstellt, oder welche eine religiöse

Anschauung oder Jdee symbolisch veranschaulicht. Jhre Quelle

ist häufig der wörtlich genommene Tropus. (Vgl. die Ausführung

I. 150.) Jhre Domaine ist das unendliche, weite Geisterreich mit

seinen vielgestaltigen und vielgestalteten Figuren.



Das Wort Mythe heißt griechisch μῦθος == Rede. Der Stamm ist

mu == tönen. (G. Curtius sagt nur vermutungsweise: μύθος werde zu

dieser Wurzel gehören; wenn man aber an das englische mouth, deutsch mund

denkt, wird dies um so wahrscheinlicher.) Jm allgemeinen versteht man unter

Mythe jede Erzählung, Überlieferung des in der Vorzeit von Göttern und

Helden Geglaubten und Erzählten; der Mythus, den man füglich als Göttersage

bezeichnen kann, befaßt sich also mit Gottheiten und auf die Gottheit

Bezüglichem. Dadurch unterscheidet er sich von der Sage, welche ihren Stoff

aus der im Gedächtnis aufbewahrten nationalen Geschichte entlehnt. Der

Mythus ist bei seinem Hineingreifen in die Geschichte der Gottheit auf die

Phantasie
angewiesen, die sich nun meist des Anthropomorphismus und

des Anthropopathismus bedient, indem sie die Menschengeschichte auf die Gottheit

überträgt. Selbstredend mußte dieses Streben zur Vielgötterei führen.

Jn Folge der vielen, meist aus dem Mißverständnis der Tropen entstandenen

Mythen, z. B. der Griechen, der Jnder &c., bildete sich deren Polytheismus

aus. Diese Mythen waren also die Ursache desselben, nicht die Folge. Bei

den an Mythen armen Juden erhielt sich der Monotheismus in seiner Reinheit.

Mit Recht ist behauptet worden, daß die christliche Mythologie des Mittelalters

zum Polytheismus hindrängte, den die Reformation durch Beseitigung aller

Legenden wieder über den Haufen warf.



(Der germanische Name „Gott“ für ein ewiges Wesen ist alt. Dafür

spricht schon das form- und sinngleiche persische chodâ und der Umstand, daß

das Wort in den germanischen Hauptdialekten überall vertreten ist: goth. guth,

gudaláus
== gottlos, gudhûs == Gotteshaus &c. Weigand W. B. I. 608 ff.

Der Nachweis einer Verwandtschaft der Bezeichnung anderer Völker z. B. mit

dem sanskr. Devas (vgl. des Verf. Arja S. 484.) hat seine Schwierigkeiten.

Das lat. deus (samt divus, Diana, dies, diu &c.) stammt von der Wurzel

div == leuchten (δῖος, Διός, εὐδία) und ist ganz zu trennen vom griechischen

θεός. Soviel wird man G. Curtius in Grundzüge der griechischen

Etymologie
5. p. 513 ff. zugeben müssen, wenn auch eine stichhaltige Ableitung

für θεός noch nicht gefunden ist. Prof. Birlinger glaubt indes aus

derselben Wurzel djut, jut das alte guth (durch Übergang des j in g)

entstanden, welche auch in der einfachen Form dju in Tŷr, Ziu enthalten sei.

Die nur angenommene gotische Form Tius wird nur als Eigenname eines |#f0269 : 247|



Gottes zu betrachten sein. Der altnordische Kriegs- und Siegesgott heißt Tŷr,

aber dies ist auch kein Appellativum.)



Zur Bildung von Mythen kam der sinnliche, rohe Naturmensch, wie erwähnt,

einesteils durch die wörtliche Auffassung der Tropen (vgl. I. 150),

dann, indem er schon früh die ihn erhaltende Fruchtbarkeit der Erde, die lichtspendende,

erwärmende Sonne, das Gewitter und den Sturm nicht als etwas

Zufälliges betrachtete, sondern als etwas von übersinnlichen, gewaltigen Wesen

Entsprungenes. Er personifizierte die Naturkräfte, und weil er in seiner sinnlichen

Anschauung sich diese Gewalten nicht geistig denken konnte, so schuf er

sie in Gestalten seiner Gattung um. Nur vollkommener und von feinerem

Stoff dachte er sich dieselben, die er wie Götter oder als solche verehrte.

Menschliche aber gewaltige Thaten wurden diesen Göttern angedichtet, menschliche

Verhältnisse ihnen untergelegt, menschliches Lieben von ihnen erzählt. So

entstand eben die sich auf Götter und Halbgötter beziehende Sage, also eine

Göttersage. (Vgl. I. § 38. S. 169.)



Die Bezeichnung Göttersage für Mythus ist vollständig erschöpfend für

die Mythe polytheistischer Völker. Für die Mythe monotheistischer Nationen ist

jedoch hinzuzufügen: Mythe ist auch diejenige Sage, welche einer religiösen

Anschauung oder Jdee symbolischen Ausdruck verleiht.



Die Wissenschaft von den Mythen der altheidnischen Völker, namentlich

der Griechen, bildet die Mythologie.



Später wurde der griechische Mythen-Kreis erweitert durch den religiösen

Einfluß des Auslandes, des fabulierenden Priestertums, so daß man nunmehr

ägyptische, nordische, germanische &c. Mythen hat. Die grübelnde Philosophie hat

die Götter sodann wieder in Jdeen von Natur und Welt aufgelöst und vergeistigt;

auch die Künstler und Dramatiker trugen viel zu Abänderungen der

mythischen Gestalten bei, so daß nicht selten die Mythen zu Sagen herabsanken.

Schon zur Zeit der Alexandriner gewann durch Krates aus Mallos,

den pergamenischen Grammatiker († 145 v. Chr.), die allegorische Deutung

und erklärende Umgestaltung der Mythen im Gegensatz zum strengeren, methodisch

nüchternen Aristarch die Oberhand. Krates behauptete nämlich in seinem Kommentar

zu Homer, daß alle Kenntnis und Weisheit der Späteren von dem

Dichter rätselhaft, allegorisch angedeutet sei.



Jn neuerer Zeit teilt sich die Behandlung der Mythen in die psychische,

religiöse und historische (Aristarchs Meinung).



Heyne verlangt Auflösung und Erklärung der Mythen, um zur ursprünglichen

Erkenntnis und Vorstellung zu gelangen. Ebenso Kreuzer, welcher diese

symbolische Ausdrucksweise systematisch begründet und eine Urreligion annimmt,

aus der alle Religionen stammen. J. H. Voß trat in seinen mythologischen

Briefen (1794 u. 95), besonders aber in seiner Antisymbolik (Stuttg. 1826)

gegen beide auf.



Mythus und Sage berühren sich zuweilen und gehen öfters in einander

über. Bei Homer ist z. B. Göttersage und Heldensage nicht scharf zu trennen.

Bei fortgehendem Anthropomorphismus sinken Götter zu Helden herab, erheben |#f0270 : 248|



sich Helden zu Göttern, so daß nicht selten Sagen zu Mythen und Mythen

zu Sagen werden.



So ist Siegfried in den Nibelungen durch seine Verbindung mit historischen

Personen (Theodorich, Attila &c.) zu einer Art geschichtlicher, sagenhafter

Figur geworden, obwohl er (nach Lachmanns Ausführungen) als Gott, den

die nordische Mythologie Balder nennt, dem Mythus angehört und nur durch

die Nationalsage vermenschlicht wurde. Bestimmte Poesien können ebenso als

Sagen wie als Mythen aufgefaßt werden: als Mythen, wenn in ihnen ein mit

göttlicher Macht bekleidetes mythisches Wesen auftritt; als Sagen, wenn sie geschichtlich

erscheinen, an einem bestimmten Ort spielen u. s. w.



Beispiele der Mythe.



Hugin und Munin, von Fr. Bodenstedt.



Dem Gott des Nordens, Odin, stand

Ein Rabenpaar zur Seite,

Der eine Hugin zubenannt,

Und Munin hieß der zweite;

Es trug sie ihrer Flügel Schwung

Durch alle Zeit und Schranke. ─

Munin war die Erinnerung,

Und Hugin der Gedanke.


Treu wurde durch sein Rabenpaar

Dem Gott alltäglich Kunde,

Was in der Welt geschehen war ─

Daß er auf festem Grunde

Sein Reich gebaut, und alt und jung

Jn Treue niemals wanke,

Des freut ihn die Erinnerung,

Ergötzt ihn der Gedanke.


Und Odin herrschte lange Zeit

Jn ungetrübtem Glücke.

Das weckt des bösen Loke Neid;

Durch arge List und Tücke

Lähmt er der Raben Flügelschwung,

Bannt sie in enge Schranke;

Da trübt sich die Erinnerung,

Empört sich der Gedanke!


Und sieh, es fühlt im eig'nen Blut

Odin das Gift des Bösen,

Er will in seinem grimmen Mut

Die Raben nicht erlösen,

Daß sie, wie einst, ihr Flügelschwung

Trage durch Zeit und Schranke ─

Da quält ihn die Erinnerung,

Zernagt ihn der Gedanke!


Jn seinem Zorne will der Gott

Die Raben ganz zerstören,

Daß sie nicht länger, wie zum Spott,

Sich gegen ihn empören.
|#f0271 : 249|



Doch, trotz gewalt'gem Keulenschwung,

Lebendig in der Schranke

Bleibt Munin, die Erinnerung,

Und Hugin, der Gedanke.


Ob auch auf kurze Zeit gezähmt,

Sie waren nicht zu zwingen;

Ob auch ihr Flügelpaar gelähmt,

Es wuchsen neue Schwingen,

Und mit gewalt'gem Flügelschwung

Aus Odins Dienst und Schranke

Floh Munin, die Erinnerung,

Und Hugin, der Gedanke.


Als sich das Rabenpaar entschwang,

War Schrecken in Walhalle,

Die Flucht ward Odins Untergang,

Tot sind die Götter alle.

Unsterblich aber, stark und jung

Durch alle Zeit und Schranke

Fliegt Munin, die Erinnerung,

Und Hugin, der Gedanke.



Weitere allbekannte Beispiele erwähnen wir nachstehend unter Litteratur

der Mythe.



Litteratur der Mythe.



Gute Mythen haben u. a. geliefert: Goethe (Prometheus); Smets (die

Söhne); Hall (Biton und Kleobis, welchen Stoff auch von Feuchtersleben

benutzte); Tieck, Schlegel (beide bearbeiteten „Arion“); Streckfuß (Des Narcissus

Verwandlung); A. Grün (Elfenkönig); G. Schwab (Der Bau des Reißensteines);

Schiller (Klage der Ceres); Chamisso; Oehlenschläger; Bechstein; J. A.

Apel; A. Kopisch (Die Heinzelmännchen); Daxenberger (die erste griechische

Mythe); Wetzel (nordische); Geibel (gab Mythen in den Juniusliedern); Rückert

(schrieb Minerva und Vulkan, Griechische Tageszeiten, und morgenländische

Mythen) u. a.



Die Mythendichter schöpften lange Zeit besonders aus Homers Jlias und

Odyssee, aus Hesiods Theogonie, und aus den Tragikern Äschylos, Sophokles,

Euripides.



Bei den Römern schöpften sie aus Ovids Metamorphosen, welche in

15 Büchern Mythen behandeln, die mit Verwandlung der Menschen in Steine,

Pflanzen und Tiere endigen. (Voß hat sie übersetzt.)



Die Göttersagen der alten germanischen Völkerschaften blieben am reinsten

bei den Jsländern erhalten. Der gelehrte Priester Sämund Sigfusson (um 1100)

hat die im Volksmund lebenden Göttersagen und Gesänge gesammelt und unter

dem Namen Edda (== Ältermutter, Weisheit) uns aufbewahrt. Sie ist in

gebundener Rede gegeben, enthält 2 Teile und zeichnet sich durch ernsten,

großartigen, überwältigenden Charakter aus. Snorri Sturluson (13. Jahrhundert)

hat eine ähnliche Sammlung verfaßt, die im Gegensatz zur Sämund=

Edda die Snorri=Edda genannt wird. Simrock und Plönnies haben beide |#f0272 : 250|



aus dem Jsländischen in's Neuhochdeutsche übertragen. Amara George, Alexander

Kaufmann und Georg Friedrich Daumer haben den Versuch gemacht, in einer

Sammlung eigner Gedichte (Mythoterpe. Ein Mythen=, Sagen- und Legendenbuch)

das weite, auf dem ganzen Erdkreis in den mannigfachsten Gestaltungen

verbreitete Reich der Mythe und Sage von ihrer Entstehung an bis zu den

noch heute im Volksmunde lebenden Nachklängen, zu ergründen, die Beziehungen

daraus auf Religion, Sitte und Sprache zu folgern und so nicht nur dem

eigenen Volke, sondern der gesamten Menschheit einen durch die Zeit und ihre

Umwälzungen halb verschütteten Schatz wieder an das Licht des Tages zu

fördern.



Wissenschaftliche Untersuchungen über Mythus haben außerdem geliefert:

Lobeck (im Aglaophamus); G. Hermann (in De mythologia Graecorum);

Buttmann (der den Mythus nicht wesentlich von der Geschichte verschieden findet,

im Mythologus); Welcker (die griechische Götterlehre); O. Müller (in Prolegomena),

Preller, Hartung u. a.



§ 107. Legende.



Legende (von legere ─ legenda == das dem Volke beim Gottesdienst

Vorzulesende) nennt man diejenige poetische Erzählung, welche

Heiligen- und Märtyrer-Geschichten aus den ersten Zeiten des Christentums

oder kirchliche Überlieferungen und wunderbare, dem frommen

Sagengebiete entstammende Begebenheiten poetisch darstellt.



Sie ist also die poetische Erzählung einer von der Kirche überlieferten

frommen Handlung von wunderbarem Erfolg, eine religiöse

Sage, deren Helden Christus und die Heiligen sind, ja, in der (wie

auch in der Sage und in der Mythe) selbst der Teufel auftreten kann.



Der Name Legende leitet sich her von Legenda, d. i. jenem Buche der

alten katholischen Kirche, welches unverbürgte, ungeschichtliche, fromme Sagen

von Heiligen und Märtyrern enthielt, die den Christen empfohlen wurden als

Legenda, d. i. etwas, das gelesen werden soll.



Der Charakter der Legende ist Einfachheit und Kindlichkeit des Stils.

Sie ist geeignet, Rührung und Erhebung hervorzurufen. Nie darf sie zum historischen

Denkmal werden, sondern sie muß immer den zarten Schimmer des

Wunders und des frommen Glaubens als Schmuck behalten. Hie und da

nähert sie sich in diesem Zuge der Frömmigkeit oder der Schwärmerei der

Romanze.



Die katholische Kirche, die in den Legenden eine Art christlicher Mythologie

besitzt, hat den meisten Stoff zur Legendenbildung geliefert.



Jn Spanien, wo jeder Christ als Kämpfer für die Gottessache erschien,

findet man die älteste Bearbeitung der Legende. Es giebt auch indische,

jüdische Legenden &c.



Herder hat die Legende als poetische Gattung in unsere Litteratur eingeführt.

Er sagt von ihr: „Nebst den Ritterbüchern war die Legende die |#f0273 : 251|



höchste Blüte und Blume menschlicher Ausbildung.“ Ferner: „Eine kleine

Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat und Trost enthalten, als

vielleicht ein ganzes System kalter Sittenlehren.“ Er stellt sich dadurch in

Widerspruch mit Vischer, welcher der Legende (dieser „Spezialität des Mittelalters“,

wie er sie nennt,) bleibenden poetischen Wert abspricht.



Man teilt die Legenden in ernste und komische. Erstere stellen in

würdiger Weise eine wunderbare, ernste Begebenheit dar, letztere dagegen führen

entweder heitere humoristische Geschichten aus dem Leben eines Heiligen vor,

oder suchen das Abergläubische, Unhaltbare einer erzählten Handlung, den Mißbrauch

des Wunderglaubens zu Betrügereien nachzuweisen. Diese können zwar

schalkhaft, humoristisch heiter sein, nie aber dürfen sie den frommen Glauben

verhöhnen. Man nennt die komischen Legenden (wie auch die komischen poetischen

Erzählungen) wohl auch Schwänke. Hauptsächlich in den letzteren spielt nicht

selten der Teufel eine hervorragende Rolle. Er kann in jeder Erscheinung auftreten,

als betrogener, als dummer und als armer Teufel, wodurch er sein

Schreckliches, Furchtbares verliert und zu einer erheiternden, komischen Figur wird.



Beispiele der Legende.



α. Ernste Legende.


Elisabeths Rosen, von Bechstein.



Sie stieg herab wie ein Engelbild,

Die heil'ge Elisabeth, fromm und mild,

Die Gaben spendende, hohe Frau

Vom Wartburg-Schloß auf die grüne Au.


Sie trägt ein Körbchen, es ist verhüllt,

Mit milden Gaben ist's vollgefüllt.

Schon harren die Armen am Bergesfuß

Auf der Herrin freundlichen Liebesgruß.


So geht sie ruhig ─ doch Argwohn stahl

Durch Verräters Mund sich zu dem Gemahl,

Und plötzlich tritt Ludwig ihr zürnend nah

Und fragt die Erschrock'ne: „Was trägst du da?“


„Herr, Blumen!“ bebt's von den Lippen ihr,

„Jch will sie sehen! Zeige sie mir!“ ─

Wie des Grafen Hand das Körbchen enthüllt,

Mit duftenden Rosen ist's erfüllt.


Da wird das zürnende Wort gelähmt,

Vor der edlen Herrin steht er beschämt,

Vergebung erfleht von ihr sein Blick,

Vergebung lächelt sie sanft zurück.


Er geht und es fliegt ihres Auges Strahl

Fromm dankbar empor zu dem Himmelssaal.

Dann hat sie zum Thal sich herabgewandt,

Und die Armen gespeiset mit milder Hand.
|#f0274 : 252|



β. Komische Legende.


Der betrogene Teufel, von Rückert.



Die Araber hatten ihr Feld bestellt,

Da kam der Teufel herbei in Eil;

Er sprach: Mir gehört die halbe Welt,

Jch will auch von euerer Ernte mein Teil.


Die Araber aber sind Füchse von Haus,

Sie sprachen: die untere Hälfte sei dein.

Der Teufel will allzeit oben hinaus;

Nein, sprach er, es soll die obere sein.


Da bauten sie Rüben in Einem Strich;

Und als es nun an die Teilung ging,

Die Araber nahmen die Wurzel für sich,

Der Teufel die gelben Blätter empfing.


Und als es wiederum ging in's Jahr,

Da sprach der Teufel im hellen Zorn:

Nun will ich die untere Hälfte fürwahr.

Da bauten die Araber Weiz und Korn.


Und als es wieder zur Teilung kam,

Die Araber nahmen den Ährenschnitt,

Der Teufel die leeren Stoppeln nahm,

Und heizte der Hölle Ofen damit.


Litteratur der Legende.



Die Geschichte der Legende unterscheidet drei Perioden:



1. Legenden, welche der religiösen Verherrlichung und der Stärkung des

Glaubens dienten bis zur Reformation;



2. Legenden, welche das Papsttum verspotten;



3. Poetische Legenden als Dichtungsgattung seit Herder.



Die Deutschen pflegten die Legende schon im Mittelalter, welches mehrere

Sammlungen aufweist. Berühmt war die Legenda Sanctorum oder Historia

Lombardica
, auch Aurea Legenda von Jac. de Voragine († 1298 als

Erzbischof zu Genua). Die vollständigste Sammlung aller Heiligensagen enthalten

die Acta sanctorum, quotquot toto orbe coluntur (von Bollandus u. a.

Antwerpen 1643─1794 in 53 Foliobänden herausgegeben). Altberühmte

Legenden unserer Litteratur sind die Bd. I S. 46 aufgeführten. Unter denselben

besonders: 1. Gregor auf dem Steine (von Hartmann von der Aue.

Jnhalt: Gregor hat sich wegen unfreiwillig begagener Sünde an einen Felsen

anschmieden lassen. Nach 17 Jahren bei der Papstwahl wird derjenige für würdig

erklärt, der 17 Jahre auf einem Steine sitze. So wird er Papst.). 2. Legende

Konrads von Würzburg vom heiligen Alexius, der ─ weil er ein Kreuz zwischen

sich und seiner Braut sieht ─ Pilger wird und sodann unerkannt im Palaste

seiner Braut lebt. Außerdem waren bekannt: Die Legende Reimbots von

Durne († 1250) vom h. Georg, der 5 Jahre gegen die Heiden in Palästina

kämpft und schließlich die Märtyrerkrone sich erwirbt. Ferner die Legendensammlung: |#f0275 : 253|



Buch von der Heiligen Leben von Herm. v. Fritzlar. Sehr beliebt

und verbreitet war im Mittelalter die Legende vom ewigen Juden. (Jnhalt:

Auf dem Wege zur Richtstätte verweigerte der Jude Ahasver unserm Heilande,

vor seiner Thüre auszuruhen. Daher darf Ahasver nicht sterben und bis zur

Wiederkehr Christi keine Ruhe finden.) Dieser Stoff wurde von neueren Dichtern

häufig benützt, z. B. von Rob. Hamerling in seinem Epos: Ahasver in Rom,

wo Ahasver mit Nero in Beziehung gebracht wird. Hier ist freilich Ahasver

weniger der ewige Jude, als der ewige Mensch, der mit dem ersten Menschenkinde

identifiziert wird: mit dem ersten Geborenen Kain, welchen der Tod

verschont zur Strafe dafür, daß er den Tod in die Welt gebracht. Die Sehnsucht

Ahasvers nach dem Tode ist als Mythe bei Hamerling nichts anders,

als die Ruhesehnsucht der Menschheit, die ewig qualvoll ringt und strebt, während

das Jndividuum sein Ruheziel im Tode findet. Vor Hamerling schon

wurde der Stoff vielfach bearbeitet z. B. von Schubart, von Lenau &c.



Nach Herders Vorgang (welcher folgende bekannter gewordene Legenden

schrieb: Das Bild der Andacht, Der gerettete Jüngling, Die Geschwister, Die

wiedergefundenen Söhne, Rosen, Der Schiffbruch u. a.) haben die Legende in

glücklicher Weise noch bearbeitet: Goethe (Petrus und das Hufeisen: diese komische

Legende ist zugleich Beispiel der Parabel und der Paramythie); A. W. Schlegel

(Der heilige Lukas); G. Schwab (Legende von den heiligen drei Königen);

Kosegarten (Das Gesicht des Arsenius, Der Ermel des heiligen Martinus, Das Brot

des heiligen Jodokus &c.); Fouqué; Tieck; Kind; Kleist (Das Grab des Herrn);

v. Boguslawsky († 1817, Diocles); Pfeffel; Langbein; Helmine v. Chezy;

Amalie v. Helwig; Uhland (Die verlorene Kirche); Leop. Schefer (Der Gast);

Silbert; Simrock; Görres; Christ. v. Schmid; Vogl; Wetzel (Das Muttergottesbild

im Teiche); Kinkel (St. Peter aus dem Himmelsthor); Kugler (Kloster

Corwei, Bild des Heilands &c.); Fr. Rückert (Maria Siegreich, Die gefallenen

Engel, Der Wert der Jahre &c.); Justinus Kerner (Die heilige Regiswind von

Laufen); Jul. Mosen (Der Kreuzschnabel); Anast. Grün (Sanct Hilarion);

Theod. Bornowsky (San-Bovo); Jul. Sturm; Krais; Rollett; Pichler; Gottfried

Keller; Amara George &c.



Als komische Legenden nennen wir: 1. Hans Sachs' Sanct Peter mit

den Landsknechten, 2. Die von Geibel bearbeitete, von Rückert übersetzte persische

Erzählung (abgedruckt in Neue Mitteilungen zu Rückerts Leben vom Verf.

I. 304), 3. Langbeins Der Substitut des heiligen Georg, u. a.



§ 108. Das Märchen.



1. Unter Märchen versteht man eine erdichtete, von Einfalt und

Naivetät des kindlichen Sinns durchhauchte, den reinen Gedanken einer

kindlichen Weltbetrachtung erfassende Erzählung, welche im bunten Gemisch

das Natürliche mit dem Wunderbaren, das Wahre mit dem Unwahrscheinlichen

vereint. Die Phantasie treibt im Märchen ihr regel= |#f0276 : 254|



loses Spiel, indem sie sich über die gemeine Wirklichkeit und deren

ursächlichen Zusammenhang hinwegsetzt.



Neben den Personen und Gegenständen der wirklichen Welt treiben

Zauberer, Riesen, Hexen, Zwerge, Kobolde, Gnomen, Feen und Elfen

im Märchen ihr traumhaftes Spiel. Auch den Tieren und selbst leblosen

Dingen verleiht es die Sprache. Es macht das Unmögliche möglich.



2. Es hat eine ganz bestimmte Anordnung (Disposition).



3. Die Märchen sind ihrem Ursprung nach Reste der Mythologie.

Der Jnhalt der späteren Märchen ist erdichtet.



4. Sie unterscheiden sich von der Sage wie von der Geschichte

und von der Mythe durch ihren erdichteten Stoff.



5. Man teilt sie ein in Feenmärchen, Volksmärchen, Kindermärchen,

Hausmärchen.



6. Von besonderer Bedeutung für die Bildung unserer Jugend

sind die Kindermärchen.



7. Die äußere Form des Märchens ist meist die ungebundene

Rede, zuweilen auch der Vers.



1. Das Wort Märchen stammt aus dem Altdeutschen her; es ist das

Diminutivum vom mittelhochdeutschen maere, althochdeutsch mâri, gotisch meritha

Gerücht, merjan verkündigen. (Appenzell. heute noch maeren == öffentlich

beschließen.)



Die Verkleinerungsform „Märchen“ war ursprünglich die verächtliche Bezeichnung

einer erdichteten, kindischen, albernen, unglaublichen Märe. Der

Grundzug des Märchens ist das Phantastische, Wunderbare, das Übernatürliche,

die Verzauberung, Verwünschung, Verwandlung, Seelenwanderung (Metamorphose).

Die mythisch ausgesponnene Sage wird zusammengedrängt, verkleinert,

um sich jenen Volksschichten (Kindern und diesen ähnlichen Gemütern) anzupassen,

bei denen sie schließlich noch Raum finden kann, weil bei ihnen die Phantasie

am mächtigsten ist.



Nach Herder ist das Märchen ein zauberischer Traum der Wahrheit, aus

dem wir nur ungern erwachen, nachdem wir uns durch denselben in's Reich

der Geister versetzt fanden.



Des Märchens Heimat sind am liebsten waldige Gegenden, in denen

Zauberer, Kobolde, Riesen, Feen und andere wunderbare Wesen hausen. Wenn

Tiere im Märchen auftreten, so geschieht dies nicht allegorisch, sondern in der

wirklichen Absicht der Mitteilung, fern aller Belehrung. Somit hat das Märchen

mit der didaktischen Tierfabel nichts gemein.



2. Die Teile des Märchens sind: a. „Es war einmal“, d. h. ein kindlicher,

unschuldsvoller Zustand des Glücks z. B. Schneewittchen. b. Eintritt

einer feindlichen Macht, um den glücklichen Zustand zu ändern: Zauberer;

Hexen; Verwünschung. c. Sieg des Guten: Entzauberung; Eintritt unermeßlichen

Glücks. ─ Die Entwickelung des Knotens wird herbeigeführt mittels ungewöhnlicher

Kräfte, sowie durch die Lösung eines die höheren Wesen des Märchens

bindenden Schicksalschlusses, durch menschliche Unschuld und Beharrlichkeit.

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3. Seinen Ursprung hat das Märchen im noch ungebildeten Zustand

der Menschheit, wo die Phantasie die Erscheinungen in der Natur zu erklären

strebt, sie personifiziert. (Beispiel: Grimms Märchen: Strohhalm, Kohle und

Bohne.)



Es giebt kein Volk, bei dem nicht nach Verdrängen der alten heiligen

Götter-Gestalten infolge des Eindringens eines neuen Glaubens diese Gestalten

in anderer Form wieder aufgetaucht wären: ─ zunächst in der Sage als Helden,

sodann aber in einer durch die Phantasie geschaffenen mythischen Märchenwelt,

welche die ganze Natur mit all ihren Kräften benutzt.



Wie der wirklichen Geschichte die Sage voraus geht, so steht allenthalben

vor der Sage der Mythus. Jm Mythus waltete ursprünglich die

Phantasie; dann in der Sage ─ die durch die Phantasie ergänzte oder alterierte

Erinnerung; endlich in der Geschichte die bestimmte sich nicht irrende Erinnerung.

(Diese in der Litteratur-Geschichte aller Nationen wiederkehrende Folge

hat Görres in der Einleitung zum „Heldenbuch von Jran“ [I. p. III. IV.]

anschaulich nachgewiesen.)



Der Rest und der Rückstand der sich allmählich verlierenden, entschwindenden

Mythen (Mythologie) ist eben das Märchen, das überall erst mit dem Erlöschen

der Mythen auftrat, nie aber, so lange die Mythen in lebendiger

Geltung sich befanden. Die Mythen eines bestimmten Volkes, seine Erzählungen

und Geschichten von der Gottheit (§ 107 d. Bds.), erhalten durch ihre Berührung

mit der nationalen Sage nationales Gepräge. Wo die Mythe nicht

mehr geglaubt wird und zusammenbricht, geht sie ─ wie erwähnt ─ in die

Sage über, um sodann als Helden- oder Riesensage fortzuleben, oder sie entäußert

sich unter Beibehaltung der allgemein menschlichen Anschauungsform alles

Nationalen und wird zum Märchen. Dies ist die Entstehungsgeschichte der

Märchen. Bei den Deutschen begann die Zeit der Märchen mit dem Eintritt

des Christentums. Daher bezeichnet auch die jüngere Edda für den Norden

den Wendepunkt in Glauben und Poesie. Die alten Götternamen mit dem ursprünglich

in der Mythologie germanisch gewesenen Sagenhaften verschwanden.

Aber das allgemein Menschliche blieb zurück und lebt noch heute als Rest

unserer altdeutschen Mythologie im Christentum als deutsches Kinder- und Volksmärchen

fort.



4. Dadurch zeigt sich das Märchen im entschiedenen Gegensatz zur nationalen

Sage, welche durchaus auf einer ─ wenn auch veränderten ─ Geschichte

(auf einer meist mündlich geschichtlichen, erfahrungsmäßigen Tradition)

beruht:



a. Die Sage giebt wenigstens immer noch Namen, Zeit und

Ort, wenn auch falsch oder entstellt.



Die Namen der Sage (z. B. Siegfried für einen früheren Gott) sollen

doch in der Sage historisch erscheinen. Die Berge, Flüsse, Höhlen, in denen

im Mythus die Götter wohnten, sollen in der Sage der Aufenthalt von

Riesen und Helden sein.



Das Märchen dagegen hat weder einen nationalen, noch einen historischen |#f0278 : 256|



Hintergrund und Schein, und es hat somit mit der Nationalgeschichte gar nichts

zu thun. Seine Personen und seine Orte tragen meist gar keinen Namen,

oder einen phantastischen, unwahrscheinlichen, nicht glaubwürdigen, oder endlich

einen internationalen, an dem alle Nationen gleiches Anrecht haben. Es beruht

heutzutage auf der vollständigen Erdichtung des Stoffes.



b. Die Sage verdankt unter allen Umständenauch wenn

die Phantasie Anteil an ihrer der Geschichte entstammenden Stoffbildung

hat
ihre Entstehung dem Gedächtnisse, während das Märchen

seinen Ursprung aus der Phantasie niemals verleugnet. Deshalb glaubt

niemand das Märchen, während man die Sage ganz oder einem Teile nach

für wahr halten möchte.



Bezüglich des Wesens der Sage und des Märchens sagt die Vorrede zu

den deutschen Sagen der Gebr. Grimm (S. V): „Es wird dem Menschen

von heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er in's Leben

auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer

nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er

die Grenze des Vaterlands überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohlthätige

Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten,

welche nebeneinander stehen und uns nacheinander die Vorzeit als

einen frischen und belebenden Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen

eigenen Kreis. Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes besteht

beinahe nur in sich selber fest, in seiner angeborenen Blüte und Vollendung;

die Sage, von einer geringeren Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere,

daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem haftet, an einem Ort

oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. Aus dieser ihrer Gebundenheit

folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall zu Hause sein könne,

sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da,

bald nur unvollkommen vorhanden sein würde. Kaum ein Flecken wird sich

in Deutschland finden, wo es nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche,

an denen die Volkssagen bloß dünn und sparsam gesät zu sein pflegen....

Die Märchen sind also teils durch ihre äußere Verbreitung, teils durch ihr

inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung

zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich,

oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen die

Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere

Farbe tragen und mehr Ernst und Nachdenken fordern. Über den

Vorzug beider zu streiten wäre ungeschickt; auch soll durch diese Darlegung

ihrer Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen, noch geleugnet

werden, daß sie in unendlichen Mischungen und Wendungen ineinander greifen

und sich mehr oder weniger ähnlich werden.“



c. Der Geschichte stellen sich Märchen und Sage gegenüber,

insofern sie das Sinnlich-Natürliche und Begreifliche stets mit dem

Unbegreiflichen mischen,
welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen

scheint, auch in der Darstellung nicht mehr verträgt.

|#f0279 : 257|



d. Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat

nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen,

Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind.



Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen

Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste

des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen.

Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B.,

wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i.

die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind.

─ Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen

Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda,

daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn

gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichen

Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner

in seinem Siegfried benutzt hat. „Die 2 Brüder“ (Nr. 60 bei Grimm) lehnen

sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen

Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung

einer Jungfrau u. s. w.



Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit

dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation.



5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder

eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden,

Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: „Keine

Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein

Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz,

als eine Zauberwelt ganz unser.“



Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es

Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen,

romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst

kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen

trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. („Die Kindlichkeit,“

sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I. 110, „welche das Wesen

des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen

Geist fremd.“)



6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht

mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die

Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der

jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige

Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf

unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken.

Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder

nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet

sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit

mit sittlichem Wesen sich vereint.

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Doch wünschen wir nicht etwa bloß Moralisches, Moralisierendes. Alles

Kindliche, alles Keusche, was vom reinen Hauch edler Poesie durchweht ist,

paßt auch für das reine Kinderherz. Das gut gebildete Kindermärchen zeichnet

sich durch Einfalt und Naivetät des kindlichen Sinnes aus; sein feiner Takt,

sein gesundes, sittliches Gefühl, seine ungeschminkte Natürlichkeit fesseln, wie

das naive Volkslied. Als Beispiele desselben erwähne ich unter anderen Rückerts

Kindermärchen, die bei kindlichem Jnhalt und schöner Form nie den Charakter

des Erdichteten verlieren, dabei aber auch nie das moralische Prinzip außer

acht lassen. Sie sind nicht läppisch und kindisch, sondern kindlich. Die beabsichtigte

Moral sieht das Kind nicht, sondern ahnt und fühlt sie unbewußt;

sie folgt, wie die Belohnung auf eine gute That. Außerdem sind es das dramatische

Element der Behandlung, die Gesprächsform und der, ich möchte sagen,

naive Rhythmus der Rückertschen Märchen, welche von vornherein das Jnteresse

des Kindes erwecken und auch die Moral dem kindlichen Gedächtnis auf's

tiefste einprägen.



7. Das Märchen kann die stoffliche Grundlage anderer Dichtungsformen sein,

z. B. der Novelle. (Man vgl. Chamissos Peter Schlemihl, oder Tiecks Der blonde

Eckbert und der getreue Eckart.) Zu dramatischer Form hat es sich öfters

aufgeschwungen, z. B. Rotkäppchen, der gestiefelte Kater und Blaubart, von

Tieck. Das beste in dieser Richtung ist wohl die Bearbeitung der Fouquéschen

Undine zur Oper, welche die Jdee trägt, daß Liebe die Natur beseelt, daß

dem bloß lebensfrohen, natürlichen Menschen erst die Liebe die Tiefen seines

Gemütes öffnet &c.



Tritt das Märchen als selbständige Dichtungsart auf, so kann es, wie

z. B. Rückerts Kindermärchen (Ges. Ausg. III. 3 ff.), L. Wieses Kindermärchen,

O. v. Redwitz' Märchen vom Waldbächlein und Tannenbaum, Chamissos

Abdallah, K. Stelters Märchen u. a. in metrischer Form, oder wie

Grimms Kinder- und Hausmärchen u. a. auch in ungebundener Rede verfaßt

sein.



Dadurch, daß eine bestimmte Jdee untergelegt ist, wird das Märchen

Kunstpoesie.



Beispiele des Märchens.



Der Wolf und die Nachtigall, von E. M. Arndt.

(Schwedisches Volksmärchen.)



Jch weiß es wohl, wo steht ein Schloß, das ist geschmückt so feine

Mit Silber und mit rotem Gold', gebaut von Marmelsteine.

Und in dem Schloß' eine Linde stand, mit Blättern, lustig und schöne,

Drin wohnte eine Nachtigall fein, die schlug gar liebliche Töne.


Es kam ein Ritter geritten daher, süß klang es vom Nachtigallmunde,

Worüber er höchlich wunderte sich ─ es war um die Mitternachtstunde.

„Ach höre, du kleine Nachtigall, woll'st mir ein Liedlein singen,

Deine Federn lass' ich beschlagen mit Gold', deinen Hals mit Perlen beringen.“
|#f0281 : 259|



„Deine Federn von Gold', die kleiden mich nicht, die ich für dich sollte tragen,

Jn der Welt ein wildfremdes Vögelein, wovon kein Mensch weiß zu sagen.“

„Bist du ein wildfremdes Vögelein und unbekannt allen Leuten,

Dich zwingt wohl Hunger, Frost und Schnee, der fällt auf den Weg, den breiten.“


„Mich zwingt nicht Hunger, mich zwingt nicht Schnee, der fällt auf den Weg,

den breiten,

Mich zwingt weit mehr geheime Pein, die machte mir Angst und Leiden.

Wohl zwischen Bergen und tiefem Thal', da rinnen die brausenden Wasser,

Und welcher einen Treuliebsten hat, kann ihn aus dem Herzen nicht lassen.


Jch hatt' einen Liebsten kühn und fromm, einen Ritter von herrischen Gaben,

Meine Stiefmutter warf es geschwinde um, sie wollte die Liebe nicht haben.

Sie schuf mich zu einer Nachtigall, hieß mich in der Welt umfliegen,

Meinen Bruder zu einem Wolfe so grimm, mußte sich zu den Wölfen fügen.


Gleich lief er in den Wald, sie sprach: „Jn Wolfsgestalt soll er gehen,

Bis daß er getrunken mein Herzensblut.“ Sieben Jahre drauf ist es geschehen.

Einen Tag sie ging so wonniglich im Rosenhain' spazieren,

Mein Bruder sah es und zorniglich ihr leise nach thät spüren.


Er griff sie an ihrem linken Fuß' mit reißigem Wolfesmunde,

Riß aus ihr Herz und trank ihr Blut und ward gesund zur Stunde.

Noch bin ich ein kleines Vögelein, das fliegt in wilden Heiden,

So jammervoll muß ich leben meine Zeit, doch meist in Winterzeiten.


Doch Preis dem, der mir geholfen hat, daß ich die Zunge kann rühren,

Da ich nicht gesprochen in fünfzehn Jahr', wie mit euch ich Rede kann führen.

Aber gesungen hab' ich immerdar mit lieblichen Nachtigallkehlen,

Und in dem allergrünsten Hain' thät ich meinen Zweig mir wählen.“


„Und horch, du kleine Nachtigall, was dich wohl kann vergnügen,

Kannst sitzen im Winter im Hause mein, im Sommer wieder ausfliegen.“

„Hab' Dank, schöner Ritter, der Frommheit dein, ich darf es doch nicht wagen,

Denn das verbot die Stiefmutter mein, so lang' ich Federn muß tragen.“


Die Nachtigall in Gedanken stand: ich thu' nicht des Ritters Willen;

Da griff er sie bei den Füßen klein, das Schicksal sollt' er erfüllen.

Er ging mit ihr wohl in sein Haus, verschloß die Fenster und Thüren,

Sie ward zu manchem Wunderthier', wie man soll hören und spüren.


Erst wandelt' sie sich in Bären und Leu'n, ist dann zur Schlange worden,

Zuletzt zu einem Lindwurm' groß, der wollte den Ritter morden.

Er schnitt sie mit einem Messerlein, daß Blut heraus thät' fließen,

Stracks stand, wie eine Blume klar, eine Jungfrau ihm zu Füßen.


„Nun hab' ich erlöst dich von deiner Not und von deinen heimlichen Leiden,

So sage mir denn deine Abkunft gut von Vaters und Mutters Seiten.“

„Ägyptenland's König mein Vater war, sein Gemahl meine Mutter in Ehren,

Meinen Bruder verschuf man zu einem Wolf', durch die wilden Wälder zu stören.“


„Jst Ägypten's König lieb Vater dein, sein Gemahl deine Mutter in Ehren,

Fürwahr, bist Schwestertochter mir, die sonst sich als Nachtigall ließ hören.“

Da ward große Freud' in dem ganzen Hof', ja rings in dem ganzen Lande,

Daß der Ritter gefangen die Nachtigall, die gewohnt in der Linde so lange.
|#f0282 : 260|



Die Lilien im Mummelsee, von Aug. Schnezler.



Jm Mummelsee, im dunkeln See,

Da blüh'n der Lilien viele;

Sie wiegen sich, sie biegen sich,

Dem losen Wind zum Spiele.

Doch wenn die Nacht herniedersinkt,

Der volle Mond am Himmel blinkt,

Entsteigen sie dem Bade

Als Jungfern an's Gestade.


Es braust der Wind, es saust das Rohr

Die Melodie zum Tanze;

Die Lilienmädchen schlingen sich

Als wie zu einem Kranze,

Und schweben leis' umher im Kreis,

Gesichter weiß, Gewänder weiß,

Bis ihre bleichen Wangen

Mit zarter Röte prangen.


Es braust der Sturm, es saust das Rohr,

Es pfeift im Tannenwalde;

Die Wolken zieh'n am Monde hin,

Die Schatten auf der Halde;

Und auf und ab durch's nasse Gras,

Dreht sich der Reigen ohne Maß,

Und immer lauter schwellen

An's Ufer an die Wellen.


Da hebt ein Arm sich aus der Flut,

Die Riesenfaust geballet,

Ein triefend Haupt dann, schilfbekränzt,

Von langem Bart umwallet,

Und eine Donnerstimme schallt,

Daß im Gebirg' es wiederhallt:

„Zurück in eure Wogen,

Jhr Lilien ungezogen!“


Da stockt der Tanz ─ die Mädchen schrei'n

Und werden immer blässer:

„Der Vater ruft! puh! Morgenluft!

Zurück in das Gewässer!“ ─

Die Nebel steigen aus dem Thal,

Es dämmert schon der Morgenstrahl,

Und Lilien schwanken wieder

Jm Wasser auf und nieder.



Vgl. Mörikes Die Geister am Mummelsee. Für ein Beispiel eines Märchens

in Prosa verweisen wir auf die allbekannten Kinder- und Hausmärchen der

Gebr. Grimm.



Litteratur des Märchens.



Des Märchens Heimat ist der Orient, vor allem Jndien, Persien, Arabien.

Nach Europa kam es wahrscheinlich aus Arabien, als sich um 711 n. Chr. |#f0283 : 261|



die Mauren in Spanien niederließen. Durch die Troubadours nach Frankreich

verpflanzt, ging es endlich nach Deutschland über.



Vor 200 Jahren schwärmte man bei uns geradezu für die zum Modeartikel

gewordenen Märchen. Längere Zeit hielt diese Geschmacksrichtung an,

und wir verdanken ihr die Verbreitung der Sammlungen novellistisch verarbeiteter

Märchen von Perrault aus Frankreich (Contes de ma mère l'Oye) und der

Gräfin d'Aulnoy, sowie der bald nachher erschienenen, wichtigen Sammlung

orientalischer Märchen „Tausend und eine Nacht“, die eine Berühmtheit erlangte,

wie einst Homers Gesänge. Diese Sammlung erschien zuerst 1704 durch den

Franzosen Galland in 12 Bänden (Les milles et une nuits) und veranlaßte

spätere Dichtungen, wie Chamissos Abdallah, Platens Abassiden &c. Jhre

Märchen befreunden mit den Wundern einer Geisterwelt, wie nur die kühne,

morgenländische Phantasie sie schaffen konnte. Allegorien, Gleichnisse, Parabeln &c.

sind als Staffage eingewebt, erzählende Menschen wechseln mit plaudernden

Tieren, oder mit Wahrnehmungen aus der Pflanzenwelt und dem unorganischen

Naturreiche, ferner mit Denksprüchen, Erfahrungssätzen, Lebensregeln, Rätseln.

Die schönsten Märchen dieser Sammlung stammen wahrscheinlich aus der uralten

Märchenheimat Jndien; in der Schilderung sinniger Liebe erkennt man

den persischen Dichter, in der Schlichtheit naturkräftiger Bilder den Araber.

Alles aber ist dem Leben des Arabers angepaßt. Die neuere Forschung läßt

sie aus Ägypten stammen, wo man die zahlreichsten Handschriften auffand.

Den Namen gab dieser Dichtung der im 9. Jahrh. alle Märchen sammelnde

Dshehestâvi (zur Bezeichnung ihrer Menge: tausend == sehr viele und darüber

noch eines), nicht aber, wie häufig behauptet, Scheherazade, von der selbst ein

Märchen erzählt, daß sie jede Nacht ein neues Märchen in Aussicht gestellt und

dadurch ihren Gemahl ─ den Kalifen ─ veranlaßt habe, ihren Tod von Tag

zu Tag hinauszuschieben.



Jn Deutschland sah es mit der eigenen, echt kindlichen, nationalen Märchenproduktion

bis anfangs unseres Jahrhunderts sehr dürftig aus. Man griff

von einer französischen Übersetzung zur anderen, legte diese aber wegen ihrer

die Sittlichkeit verletzenden Anspielungen wieder zur Seite, um eigene Erfindungen

an deren Stelle zu setzen. Aber diese ersten sog. Märchen sprachen durch

ihre Beimischung von geschichtlichen und andern Beziehungen weit weniger an,

als die französischen. Manche wimmelten von politischen und litterarischen Anspielungen,

oder sie waren hauptsächlich durch ihren gemischten Stoff und dessen

Ausbreitung abgeschmackt, häßlich, langweilig.



Da trat besonders durch Musäus (I. 55, der durch seine, Soldaten und

Klatschfrauen abgehorchten, in origineller Weise weitererzählten Volksmärchen

einen deutschen Litteraturzweig einleitete und veranlaßte), sowie durch die Gebrüder

Grimm eine Wendung ein. Letztere haben das Verdienst, daß sie die

im Munde des Volkes erhaltenen Märchen sammelten und uns sodann in ihren

„Kinder- und Hausmärchen“ als Kleinod hinterließen, das uns zeigt, wie die

Phantasie unseres Volkes ursprünglich produzierte. Diese Märchen sind wie

Fouques Undine und Chamissos Schlemihl in Prosa geschrieben.

|#f0284 : 262|



Die besten Märchendichter unserer Litteratur sind: Tieck (der auch eine

große Anzahl Märchen übersetzte oder bearbeitete, z. B. Blaubart, die Haimonskinder,

der getreue Eckart, Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, die Elfen,

Däumchen, von denen viele in seinem Phantasus gesammelt sind); Cl. Brentano

(† 1842; Gockel, Hinkel und Gackeleia, ein satirisches Märchen gegen die

Thorheiten seiner Zeit, Wickrams Goldfaden, eine alte Geschichte &c.); W. Hauff

(Märchenalmanach, Kalif Storch, Gespensterschiff, Der falsche Prinz &c.); Arnim;

Kletke; Müllenhof (Märchen aus Schleswig-Holstein &c.); Kühn (Nordd. Märchen

1848, Westfälische 1859); Wolf (Deutsche Hausmärchen 1852); Sommer

(Märchen aus Sachsen und Thüringen 1846); Haltreich (Volksmärchen aus

Siebenbürgen 1856 und 1877); Zingerle (Kinder- und Hausmärchen aus

Süddeutschland 1855; Märchen aus Tyrol 1858); Bechstein (Deutsches Märchenbuch

in mehr als 70,000 Exemplaren verbreitet); Simrock (Deutsche Märchen

1864); Eichendorff; Wieland; Wolfg. Müller; Schwab; Uhland; Zedlitz (Das

Waldfräulein, ein Märchen in 18 Abenteuern); Müller von Königswinter (Das

satirische Märchen „Germania“, sowie das humoristisch gehaltene „Prinz Minnewin“);

Böttger (Frühlingsmärchen, humoristisch sinnig); Otto Roquettes reizendes

Wein=, Rhein- und Wandermärchen: Waldmeisters Brautfahrt, worin der heitere

Lebensgenuß am Rhein geschildert ist); Grabbe (dramatisiertes Märchen Aschenbrödel);

Gustav zu Putlitz („Was sich der Wald erzählt,“ und das zartsinnige

Luana); Pröhle (Kinder- und Volksmärchen 1853); Bube; Hans Herrig

(Märchen und Geschichten 1878); Lang; Plönnies; Stolterfoth; Julius Rodenberg;

Kopisch; v. Sallet (Schön-Jrla); Kinkel (Ein Traum im Spessart);

Elise Polko (die singenden Blumen, Weihnachten im Walde &c.); Mörikes Märchen

vom sichern Mann, sowie „Schiffer- und Nixenmärchen“) &c. Als groß angelegte

und ausgeführte Märchen könnten Rückerts Hidimba, Sawitri, Nal und

Damajanti &c. aufgefaßt werden.



Von den Märchen fremder Nationen nennen wir aus Jndien das alte

Erzählungswerk Pantschatantra (übers. v. Benfey 1859) mit vielen Märchen

buddhistischen Ursprungs; die Märchensammlung des Somadeva (Sanskrit, deutsch

v. Brockhaus), aus Persien und Arabien: die bereits erwähnten Märchen

der 1001 Nacht (übers. v. Hagen, Schall, Habicht, G. Weil), Nechschebis Touti

Nameh (das Papageienbuch, übers. v. Jken, 1822); aus Wales und Jrland:

Mabinogion (übers. v. Lady Guest); San Marte, die Arthur-Sage; Jrische

Elfen-Märchen (übers. v. J. Grimm 1826); aus Serbien: Volksmärchen von

Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Kalmückisch sind die Märchen des Siddhi

Kür, von Jülg, 1866. Weitberühmt sind die Märchen der Dänen Öhlenschläger

und Andersen, (letztere mustergültig übersetzt durch Emil J. Jonas) u. a.



§ 109. Romanze und Ballade.



Wir behandeln in diesem Paragraphen das für die Begriffsbestimmung

charakteristische Allgemeine beider Formen. Sodann führen wir

2. das Besondere der Romanze und 3. das Eigenartige der Ballade vor.

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1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffsbegrenzung von

Romanze und Ballade.



Romanze ist eine dem Süden entsprossene poetische Erzählung im

Sinn und Geist des romantischen ritterlichen Heldenlebens des Mittelalters,

weshalb sie südlich heiteren romantischen, oft pittoresken Charakter

und Jnhalt hat. (Beispiele: Schillers Taucher; Handschuh;

Kraniche des Jbykus.)



Ballade ist eine dem nordischen Sagenkreis entreifte poetische Erzählung,

eine Art nordischen, episch=lyrischen Volksliedes, weshalb sie

nördlich ernsten, oft dämonisch=mysteriösen, tragischen, düsteren, plastischen

Charakter trägt. Sie ist wie das nordische Volkslied für den Gesang

bestimmt. (Beispiele: Bürgers Lenore; Goethes Erlkönig.)



Romanze und Ballade sind kleinere erzählende Gedichte volkstümlicher Natur

und lyrischer Färbung. Man könnte sie erzählende, lyrisch=epische, oder auch

episch=lyrische Lieder nennen. Jhr Zweck ist Mitteilung eines epischen Stoffs,

einer Begebenheit, einer Sage ohne subjektive Äußerung des Gefühls des Dichters,

weshalb beide trotz ihres meist liedartigen strophischen Baues zu den epischen

Dichtungsgattungen gehören. Sie werden oft mit einander verwechselt; sogar bedeutende

Denker haben Romanze und Ballade nur für verschiedene Namen gehalten,

welche verschiedene Völker für eine und dieselbe Dichtungsgattung gebraucht

hätten. Diese Ansicht teilt selbst der sonst scharf sezierende Wackernagel. Ja,

einzelne Dichter haben solche Gedichte, die den Namen Romanze verdienen,

Balladen genannt und umgekehrt.



Goethe nannte beispielsweise seine lyrisch=epischen Dichtungen nur Balladen,

manche seiner Balladen und Romanzen jedoch Lieder. Auch Schiller nennt

seine lyrisch=epischen Dichtungen Balladen, während er doch den Kampf mit dem

Drachen und die Bürgschaft mit Recht als Romanzen bezeichnet. Uhland löst

den Zweifel nicht, sondern wählt die gemeinschaftliche Überschrift: Balladen und

Romanzen.



Beiden Gattungen ist gemeinsam, daß die eine wie die andere erzählendes

Volkslied
sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen aber (und dies soll hier

nachdrücklich betont werden, um der Verschwommenheit der Erklärungen entgegenzutreten)

liegt in der Natur ihres Ursprungs und dem damit verknüpften Unterschied

des Stoffes, zum Teil auch im Versmaße, indem die Romanzen meist

in spanischen assonierenden, viertaktigen Trochäen abgefaßt waren, die Balladen

hingegen in vierzeiligen Reimstrophen. Hiezu kommt die Charakterisierung der

auftretenden Personen und des Tones, der aus ihnen spricht. Die Romanze

ist der südlichen Natur entsprossen, die Ballade der nordischen,

und der Unterschied dieser Naturen, vorzüglich der früheren alten

Zeit, die an Mythus und Sage anstreift, giebt ein Hauptmerkmal

des Unterschieds bei diesen Dichtungs-Gattungen.



Durch unsere vorstehende bestimmte Auffassung werden beide Gattungen

im voraus streng begrenzt, und wenn es vorkommt, daß mancher Dichter einen |#f0286 : 264|



Balladenstoff romanzenhaft behandelt, oder einen Romanzenstoff balladenhaft,

so ist eben ein Mangel des Dichterwerks vorhanden, welches bei aller übrigen

Schönheit mindestens nicht den gegebenen Namen verdient.



Aus dem Vorgeführten geht hervor, daß Uhlands Des Sängers Fluch

eine Romanze ist, wenn auch eine sangbare; in gleicher Weise sind Balladen Heines

Grenadiere und mehrere fälschlich sog. Romanzen seines Romancero. Ferner ist

Ritter Toggenburg von Schiller eine Ballade. Desgleichen Goethes herrlicher Erlkönig,

den der Dichter von „Elfenhöh“, der dänischen Ballade von Oluf, genommen.

(Erlkönig ist falsche Übersetzung des Wortes Ellerkonge == Elfenkönig.)



2. Die Romanze. Romaneska. Romancero.



1. Romanze (romance, spanisch romanza) war ursprünglich ein

in der lingua romana (oder lingua romanza == Volkssprache; Tochtersprache,

im Gegensatz zur Muttersprache == lingua latina) geschriebenes,

erzählendes Lied, weshalb sie bei uns heutzutage mehr eine Art

Erzählung südlichen, romantischen Charakters bildet, während die Ballade

ein episch=lyrisches, zum Singen bestimmtes mehr nordisches Lied ist.



2. Jene Romanze, welche zu religiösen Stoffen greift, wird zur

Legende.



3. Durch ihre lyrischen Zuthaten entfernt sich die Romanze wesentlich

von der poetischen Erzählung.



4. Man unterscheidet rein epische und lyrisch epische Romanzen.



5. Eine kleine Romanze heißt Romaneska. Eine Romanzensammlung

heißt Romancero. Unter Romanzencyklus versteht man eine

Sammlung zusammengehöriger Romanzen.



1. Nach Ebers' Wörterbuch der englischen Sprache ist Romanze eine Art

Dichtung in kurzen Versen, welche irgend eine alte Geschichte erzählt (a Spanish

Ballad, a sort of Poesy in short Verses, containing some ancient

story
). Oder anderwärts ist nach ihm romance 1. eine erdichtete Liebes= oder

Heldengeschichte, eine kriegerische Begebenheit aus den mittleren Zeiten, 2. eine

Erdichtung (daher to romance == erdichten, lügen. Jn der Encyklopädie

heißt es: Romance, vieille historiette écrite en vers simples, faciles

et naturels. La naiveté est le caractère principal de la romance.

Ce poëme se chante et la musique française, lourde et niaise, est

très propre à la romance; la romance est divisée par stances etc
.).



Nach Pla y Torres Diccionario de la l. castell. (Paris 1826) ist

Romance 1. Nuestro idioma ó lengua vulgar. 2. Cierta composicion

de poesia española
.



Nach Booch-Arkossys Nuevo Diccionario (1868) ist Romance

1. span. Sprache, das Spanische 2. Romanze, heróico, ó real aus Elfsilblern

bestehend, llano aus achtsilbigen Versen bestehend. Die Grundbedeutung ist in

den romanischen Sprachen ein lyrisch=episches romanisches Gedicht, zunächst

aber das volkstümlich spanische. So wird schon 1678 Romantze == |#f0287 : 265|



Heldengedicht gebraucht. (Vgl. Weigand Deutsch. W. B. II. 487). Es bleibt

sonach die romanische Sprache und der lyrisch=epische Ton und Gehalt das

Wesentliche.



Es sind die Momente des südlichen Lebens aus dem Mittelalter,

welche sich in unserer Romanze abspiegeln. Während der Norden etwas Dunkles,

Nebelhaftes, Ahnungsvolles hat in seinen schroffen Felsengebirgen, seinen Meerestiefen

und Strandgebirgen, seinen brausenden Sturmeswehen und seinen aus

diesen Natur-Elementen hervorgegangenen wunderbaren Gebilden von Göttern,

Walküren, Elfen und Nixen, trägt das südliche erzählende Volkslied ein leichtes,

helles, romantisches Gewand ─ dem blauen lichten südlichen Himmel, den

klingenden Spielen und Kämpfen der romanischen Völker mit all ihrem Apparat

des mittelalterlichen Rittertums, seiner Tapferkeit, Frömmigkeit und Liebe entnommen.





Durch die Vermischung der Sprachen germanischer Völker mit der römischen

Sprache war besonders nach der Völkerwanderung die lingua romanza

die Volkssprache ─ entstanden, und ein Lied in diesem Volksdialekt hieß anfänglich

Romanze. Jndem die Dichter späterer Zeit vorzüglich das Mittelalter

in seinem eigentümlichen Wesen von Andacht, Religion, Kunst (oft mit

seinem Aberglauben) wieder heraufbeschworen und doch in gleich schwärmerischer

Stimmung auch heidnische Kunstsagen, Kunstwerke und Natur behandelten, bezeichnete

man sie mit dem Namen Romantiker. (Vgl. I. 88. II. S. 6.) Diese

entlehnten besonders gern von den Spaniern und verpflanzten den Namen der

Romanze zugleich mit der ursprünglichen Form des assonierenden, trochäischen

Viertakters nach Deutschland.



2. Das Gebiet der Romanze wurde insoferne erweitert, als auch sagenhafter

Stoff aus dem griechischen Altertume, sowie besonders religiöse, legendenartige

Stoffe zu den Stoffen des Rittertums und seiner Feinde (der ungläubigen

Saracenen in Spanien) hinzukamen u. s. w.



3. Von der poetischen Erzählung unterscheidet sich die Romanze durch den

ihr eigentümlichen Geist romantischer Hingebung, christlichen Glaubenseifers,

glühender Vaterlandsliebe, ritterlichen Mutes, unbefleckter Ehre und treuer Liebe,

sowie dadurch, daß das eigentliche Jnteresse bei ihr nicht auf der Handlung selbst

beruht, sondern mehr auf den Beweggründen, aus welchen diese entstanden ist.

Der Dichter begnügt sich nicht damit, eine Begebenheit nur zu erzählen, sondern

er stellt in derselben ein Beispiel von der Macht des sittlichen Prinzips auf,

welches zum Sieg oder zur Vergeltung führt u. s. w.



4. Es giebt zwei Arten von Romanzen:



a. rein epische Lieder in der ältesten Weise, zuweilen mit einem, die

Thatsachen begleitenden, sie repräsentierenden Dialog (vgl. unten die Beispiele

aus dem Cid);



b. lyrisch=epische, ähnlich unsern Gedichten aus dem 12. Jahrhundert,

mit einer abgerissenen epischen Situation beginnend, worauf lyrische Zustände

dem Objekt der Dichtung an- und eingereiht werden. Beispiel: Uhlands

Sängers Fluch.

|#f0288 : 266|



5. Größere Sammlungen von Romanzen (Romanceros), wurden bei uns

seit Ende des 16. Jahrhunderts veranstaltet. (Für unser Jahrhundert vgl. man

z. B. Romancero von Elisabeth Glück, Heinr. Heines Romancero u. a.)



Ein Romanzencyklus (auch Romanzenkranz) entsteht durch Aneinanderreihung

von Romanzen, welche die Thaten und Schicksale eines bestimmten Helden behandeln.

(Als Beispiel vgl. man Uhlands Romanzenkranz: Graf Eberhard

der Rauschebart, welcher enthält: 1. Überfall im Wildbad, 2. Die 3 Könige

zu Heimsen, 3. Die Schlacht bei Reutlingen, 4. Die Döffinger Schlacht.) Ein

weiteres Beispiel ist der Romanzencyklus „Cid“ von Herder, eine bald mehr,

bald weniger treue metrische Bearbeitung einer französischen Prosaübersetzung

der spanischen, aus dem 13. bis 15. Jahrhundert herstammenden Cidromanzen

mit manchem Originalen (z. B. das Zwiegespräch zwischen Cid und Ximene

in der 14. Romanze u. a.). Die Vereinigung dieser Cidromanzen bildet eine

Art romantisches Epos, welches die Geschichte des Cid erzählt, wie auch dessen

große Siege über die Mauren.



Beispiele der Romanze:



No. 1 und 14 aus dem RomanzencyklusDer Cid“, von Herder.



1. (Herders Werke 14. Bd. S. 197.)



Traurendtief saß Don Diego,

Wohl war keiner je so traurig;

Gramvoll dacht' er Tag' und Nächte

Nur an seines Hauses Schmach,


An die Schmach des edlen alten

Tapfern Hauses der von Lainez,

Das die Jnigos an Ruhme,

Die Abarcos übertraf.


Tief gekränket, schwach vor Alter,

Fühlt' er nahe sich dem Grabe,

Da indes sein Feind Don Gormaz

Ohne Gegner triumphiert.


Sonder Schlaf und sonder Speise,

Schläget er die Augen nieder,

Tritt nicht über seine Schwelle,

Spricht mit seinen Freunden nicht,


Höret nicht der Freunde Zuspruch,

Wenn sie kommen ihn zu trösten;

Denn der Atem des Entehrten,

Glaubt' er, schände seinen Freund.


Endlich schüttelt er die Bürde

Los, des grausam=stummen Grames,

Lässet kommen seine Söhne,

Aber spricht zu ihnen nicht;


Bindet ihrer aller Hände

Ernst und fest mit starken Banden;

Alle, Thränen in den Augen,

Flehen um Barmherzigkeit.
|#f0289 : 267|



Fast schon ist er ohne Hoffnung,

Als der jüngste seiner Söhne,

Don Rodrigo, seinem Mute

Freud' und Hoffnung wiedergab.


Mit entflammten Tigeraugen

Tritt er von dem Vater rückwärts:

„Vater“, spricht er, „Jhr vergesset,

Wer Jhr seid und wer ich bin.“


„Hätt' ich nicht aus Euern Händen

Meine Waffenwehr empfangen,

Ahndet' ich mit einem Dolche

Die mit jetzt gebot'ne Schmach.“


Strömend flossen Freudenthränen

Auf die väterlichen Wangen,

„Du“, sprach er den Sohn umarmend,

„Du, Rodrigo, bist mein Sohn.“


„Ruhe giebt dein Zorn mir wieder;

Meine Schmerzen heilt dein Unmut!

Gegen mich nicht, deinen Vater,

Gegen unsres Hauses Feind


„Hebe sich dein Arm!“ ─ „Wo ist er?“

Rief Rodrigo, „wer entehret

Unser Haus?“ Er ließ dem Vater

Kaum, es zu erzählen, Zeit.


14. (Herders Werke 14. Bd. S. 221.)



Rodrigo. Jn der stillen Mitternacht,

Wo nur Schmerz und Liebe wacht,

Nah' ich mich hier,

Weinende Ximene,

(Trockne deine Thräne!)

Zu dir.


Ximene. Jn der dunkeln Mitternacht,

Wo mein tiefster Schmerz erwacht,

Wer nahet mir?


R. Vielleicht belauscht uns hier

Ein uns feindselig Ohr;

Eröffne mir ─


X. Dem Ungenannten,

Dem Unbekannten

Eröffnet sich zu Mitternacht

Kein Thor.

Enthülle dich;

Wer bist du, sprich!


R. Verwaisete Ximene,

Du kennest mich.
|#f0290 : 268|



X. Rodrigo, ja ich kenne dich.

Du Stifter meiner Thränen,

Der meinem Stamm sein edles Haupt,

Der meinen Vater mir geraubt ─


R. Die Ehre that's, nicht ich, die Liebe will's versöhnen.


X. Entferne Dich! unheilbar ist mein Schmerz.


R. So schenk', o schenke mir dein Herz;

Jch will es heilen.


X. Wie? zwischen dir und meinem Vater, ihm!

Mein Herz zu teilen?


R. Unendlich ist der Liebe Macht.


X. Rodrigo, gute Nacht.



Als allbekannte Beispiele seien ferner genannt: Goethes Braut von

Korinth, Der Sänger; Schillers Kraniche des Jbykus &c.



Litteratur der Romanze.



Gute Romanzen finden sich außer den oben genannten bei: Stolberg

(Jn der Väter Hallen ruhte); Gotter (Röschen und Lukas); A. W. Schlegel

(Arion); Just. Kerner (Das treue Roß); Körner (Harras, der kühne Springer);

Graf v. Strachwitz (Das Herz von Douglas); Felix Dahn (Ralph Douglas);

H. v. Mühler (Die Schlacht bei Morgarten); Meinhold (Karl XII. und der

pommersche Bauer Müseback); Minding (Fehrbellin); Rückert (Johanna Stegen);

Goethe (Der König in Thule); Schiller (Der Gang nach dem Eisenhammer, sowie

die mustergültige Bürgschaft, welch letztere stofflich aus den Fabeln des Hyginus

entlehnt ist; vgl. auch Porphyrius Leben des Pythagoras 59. und Ciceros

Tusculanae
5. 22, sowie de finibus 2. 24, 79.); Uhland (Graf Eberhard

der Rauschebart, Sankt Georgs Ritter, Bertram de Born, Der blinde König);

L. Lesser (Die Schlacht bei Xerez, Julia, Die Liebesboten); Fontane (Archibald

Duglas); J. Mosen (Andreas Hofer, Der Trompeter an der Katzbach);

A. Möser; K. Stelter; K. Zettel und viele andere.



Die Heldenthaten des Cid (mit dem Beinamen Campeador, d. i. Kampfesheld,

† 1099 in Valencia) haben uns Herder, Duttenhofer, Regis u. a. in's

Deutsche übertragen. Andre spanische Romanzen vermittelte uns Geibel in:

Volkslieder und Romanzen der Spanier Berl., 1843; Johannes Fastenrath

in: Ein spanischer Romanzenstrauß. 1866; sowie die Wunder Sevillas. 1867. &c.



3. Die Ballade.



1. Der Name Ballade stammt ─ wie S. 269 unter 1 nachgewiesen

─ aus dem Keltischen und bedeutet ursprünglich Volkslied.



2. Zur Ergänzung des Begriffs Ballade (1 und 2 dieses §)

läßt sich aus der Geschichte der Ballade hinzufügen: 1. Die Ballade

wird gesungen: in der Vorzeit in Königspalästen und Schlössern, in |#f0291 : 269|



den neueren Zeiten in Häusern und auf der Gasse; 2. Sie erzählt

irgend eine alte oder neuere Geschichte und ist somit der Bericht einer

geschichtlichen Begebenheit, entsprechend jenem Ton, wie er im nordischen

ernsten Volkslied herrscht.



3. Der dem Norden entnommene Stoff verleiht der Ballade im

Gegensatz zur südlichen Romanze ihren ernsteren Charakter.



4. Die Ballade liebt den Ton des Volkslieds.



5. Wie die Volkslieder, so haben auch die Volksballaden viel

gemeinsame Grundzüge, so entspringen sie wenigen einfachen Grundthematen.





6. Die Ballade liebt Reimverse und kurze volksmäßige Strophen.



1. Man hat mehrfach (vgl. Diez Etym. W. B. 3. p. 49) den Namen

Ballade vom italienischen ballata (ballare) hergeleitet, welches soviel als

Tanzlied bedeutet und entweder von balla == Ballspiel stammt, oder vielleicht

mit diesem vom griechischen βάλλω == werfen (Ballspiel), was beides in die

Bedeutung Tanzen überging. Aus diesem Grunde wurde der Begriff Ballade

allgemein als Lied entwickelt, welches so beschaffen sein müsse, daß man im

Absingen nach dem Rhythmus desselben tanzen könne. Nun ist aber diese Ableitung,

welche in bezug auf Entstehung keinen Unterschied zwischen Ballade

und Romanze zulassen würde, eine irrige. Vielmehr stammt das Wort nachweislich

von dem altbritischen, keltischen gwaelawd (sprich wallad) und bedeutet

Volkslied: also nordisches Volkslied, Gassenlied. Dieser

Ableitung begegnen wir auch bei Ebers, welcher Ballad als Gassenlied übersetzt.

To balled heißt nach ihm Lieder machen, Lieder singen und »balled

singer
« ist ihm jemand, der Gassenlieder (Lieder auf der Straße) singt. Der

Vollständigkeit halber fügen wir noch einige andere Definitionen bei. Der alte

Mozin ─ Biber 1826 meint: ballade: espèce d'ancienne poésie française

[ungenau], qui était composé de 3 couplets par les mêmes rimes et

terminés par le même vers, avec un envoi
. Nach Abbé Gattel (Nouveau

dictionnaire espagnol et français etc
.) ist Ballade eine französische

Versart bestehend aus Couplets mit einem Refrain (composition de poesia

francesa, que se dividia en coplas con un mismo estribillo
). Auch

andere erklären Ballade für eine Art altfranzösischer Verse etwa von 3 Strophen,

jede von 8 oder 10 Versen, deren letzter Vers allzeit einerlei sei (also Refrain)

und wobei immer einerlei Reimsilben von 2, 3 oder 4 Reimen bleiben u. s. w.



2. Alle Balladen, die bei uns populär wurden, erzählen nur alte Geschichten.

Dies war aber nicht immer so. Die heidnische Vorwelt des Nordens

hatte ─ wie das christliche Mittelalter ─ ihre Barden und Sänger, welche auch

die Thaten ihrer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit in Liedern feierten.

Ganz ist diese Form der Ballade bei uns nicht ausgestorben; dies beweisen

die Proben aus dem Befreiungskriege und namentlich aus dem letzten Kriege

1870─71 (vgl. die S. 107 d. Bds. erwähnte Sammlung von Lipperheide).

Da Deutschland zwischen Süden und Norden in der Mitte liegt, so kann es

nicht fehlen, daß auch seine Volkslieder halb der Ballade halb der Romanze angehören, |#f0292 : 270|



obwohl sie sich mehr der Ballade zuneigen, besonders die aus dem

letzten Kriege, die recht gut den Stoff zu einem großen Nationalepos abgeben

könnten. Manche Ballade könnte als ein kleines Epos angesehen werden,

wenigstens als Keim eines solchen.



3. Der Stoff unserer volkstümlichen Ballade ist jener nordischen Mythenzeit

entnommen, die im Halbdunkel und Zwielicht Götter und Menschen und

Naturkräfte beseelt, symbolisiert oder verwechselt: die Luft mit dem wilden

Heere, die Seen mit Elfen und das Meer mit boshaften Geistern belebt, welch

letztere das Schiff im Schaum der Brandung an den Klippen zerschellen lassen

oder keuchend im Sturm durch die Wogen jagen. Daher ist zum Unterschied

von der bloßen Sage und der Romanze in der Ballade immer etwas Schauerliches,

Nebelhaftes, Tragisches, Mysteriöses, dämonisch Unheimliches


vorherrschend, wozu sich ursprünglich noch ein düsterer, melancholischer, oft rauher

Charakter gesellt. Jn der Ballade spiegeln sich eben die Eindrücke der Natur,

des Glaubens und der Beschäftigung des nordischen Bewohners auf sein Gemüt

ab. Meist bezeichnet sie daher etwas Tragisches, Rätselhaftes, Ahnungsvolles.



Dieses Charakterisierende, das ihr die Abstammung aus den Elementen

der nordischen Natur und Anschauungsweise aufprägt, bedingt es, daß die

Ballade in ihrem musikalischen Wesen mehr als die Romanze Volkslied ist,

freilich ein episches Volkslied, bei welchem der Dichter viel Subjektives zum

Gegenstand giebt, im Gegensatz zur Romanze, die ihrem Zweck nach romantische

Erzählung ist. Das Sangbare der Ballade geht auch aus der Form des Liedes

mit gleichmäßigen der nordgermanischen Poesie eigentümlichen Strophen und

Reimen hervor, während bei der Romanze gerade die Freiheit in der Kunstform

(man vgl. die Proben aus dem Cid &c.) ein Charakteristikum bildet.



4. Die Anlage der Erzählung und die Sprache ist einfach, oft nicht klar

und fließend, sondern den weitern Zusammenhang nur erraten lassend. Dadurch

behält sie den volkstümlichen, volksliedartigen Charakter und geht leicht

in's Volk über. Bei der Tiefe und Bedeutsamkeit des Erzählten erhält die

ungekünstelte Darstellung erst den rechten Ausdruck durch den Gesang. Das

Wort deutet an, die Musik führt aus. Deswegen hat die Ballade so viel

Lyrisches, wie keine andre epische Dichtungsart, und bildet so recht das Verbindungsglied

zwischen Epik und Lyrik.



5. Die Volksballaden des nordischen Volkes zeigen viel Verwandtes. Alle

Volkspoesie ist sich nahe verwandt, sowohl die des einen Volks, wie auch die

aller germanischen Stämme. Wenige Grundzüge treten hervor. Wir finden

oft 2, 3, 4 Balladen, jede von besonderer Schönheit und hohem Jnteresse ─

und doch sind sie nur Variationen des Grundthemas. Ein Dichter hörte z. B.

des anderen Ballade von der Bezauberung des Knaben durch Elfenreize singen.

Jn seiner Erinnerung blieb das Wesentliche ─ und er sang dasselbe Lied

nach, nur mit veränderten Worten, vielleicht auch mit Hervorhebung anderer

Bilder, welche ihn besonders ergriffen hatten, oder welche ihm bedeutungsvoller

erschienen sind. Jn vielen Balladen treten immer die gleichen Grundthemata

hervor: Der Braut stirbt der Bräutigam; treue Liebende gehen unter durch |#f0293 : 271|



die Macht des Schicksals; ein vermeintes Unglück löst sich auf in Lust und

Freude u. s. w. Was anders ist die poetische Erfindung unserer Halbdichter

und Romanmacher, als Variation in der Komposition? Die Farben ─ ja auch

die Formen ─ sind wie im Kaleidoskop schon vorhanden. Einst können freilich

auch die Variationen erschöpft werden, aber diese Erörterung liegt außerhalb

menschlicher Berechnung. Jemehr der Dichter darauf ausgeht, absonderliche Situationen

zu erfinden, umsomehr entfernt er sich von der Natur der ursprünglichen

Volkspoesie; pikante Situationen haben nur das Jnteresse der Neuheit.

Die Volksballaden, welche über die Zeit den Sieg davon getragen haben, beruhen

auf den allereinfachsten Verhältnissen.



6. Selbstverständlich muß der Balladendichter der deutschen Gegenwart

sangbare Verse und Strophen bilden, wodurch ein Versmaß wie das des Hexameters

von selbst ausgeschlossen ist. Am häufigsten findet man Jamben, mit

eingemischten, die Bewegung erleichternden Anapästen, ferner meist männliche

Endreime, wie Binnenreime neben Alitteration und Annomination. Außerdem

Tonmalerei zur Hervorbringung der großen Wirkung, was indes (vgl. die Bürgschaft

v. Schiller) auch für die Romanze gilt, welche nicht selten trochäische

Verse mit weiblichen Reimen hat. Jn der leichten dem Volksliede abgelauschten

Anwendung metrischer, sprachlicher Kunstmittel der Ballade liegt das Geheimnis

ihrer gewaltigen Wirkung (Beispiel: Lenore, von Bürger).



Beispiele der Ballade:



Der Wassermann (Herders Werke 16. Bd. S. 363).



„O Mutter, guten Rat mir leiht,

Wie soll ich bekommen das schöne Maid?“


Sie baut ihm ein Pferd von Wasser klar,

Und Zaum und Sattel von Sande gar.


Sie kleidet ihn an zum Ritter fein,

So ritt er Marienkirchhof hinein.


Er band sein Pferd an die Kirchenthür.

Er ging um die Kirch' dreimal und vier.


Der Wassermann in die Kirch' ging ein,

Sie kamen um ihn, groß und klein.


Der Priester eben stand vorm Altar;

„Was kommt für ein blanker Ritter dar?“


Das schöne Mädchen lacht in sich:

„O wär der blanke Ritter für mich!“


Er trat über einen Stuhl und zwei:

„O Mädchen, gieb mir Wort und Treu.“


Er trat über Stühle drei und vier:

„O schönes Mädchen, zieh' mit mir.“


Das schöne Mädchen die Hand ihm reicht':

„Hier hast meine Treu', ich folg' dir leicht.“
|#f0294 : 272|



Sie gingen hinaus mit Hochzeitschar,

Sie tanzten freudig und ohn' Gefahr,


Sie tanzten nieder bis an den Strand,

Sie waren allein jetzt Hand in Hand.


„Halt', schönes Mädchen, das Roß mir hier!

Das niedlichste Schiffchen bring' ich dir.“


Und als sie kamen auf'n weißen Sand,

Da kehrten sich alle Schiffe zu Land!


Und als sie kamen auf den Sund,

Das schöne Mädchen sank zu Grund.


Noch lange hörten am Lande sie,

Wie das schöne Mädchen im Wasser schrie.


Jch rat' euch, Jungfern, was ich kann:

Geht nicht in Tanz mit dem Wassermann.



Weitere bekannte Beispiele der Ballade sind:

Goethes Erlkönig,

Bürgers Lenore &c.



Litteratur der Ballade.



Volkstümlich war die Ballade schon im 11ten und 12ten Jahrhundert

in Nord-England, wo sie der Erzählung ritterlicher Abenteuer in einfacher

Sprache diente, welche von den sogenannten Minstrels mit Harfenbegleitung

vorgetragen wurden. Den Namen Ballade erhielt sie in Vorder-England und

Schottland im 14. Jahrhundert. Auf deutschen Boden wurde sie durch Herder

mit glänzendem Erfolg verpflanzt, so daß sie eine Zierde unserer Litteratur

bildete. Er übersetzte teilweise die durch Percy gesammelten schottischen Volkslieder:

Reliques of ancient english poetry 1765, in welcher Form sie

dem ersten Balladendichter Deutschlands, Bürger, vorlagen, dem auch das

Volkstümliche und eigenartig Geheimnisvolle, oft Schauerhafte jener Natur=

Poesien durch Übersetzung oder freie Nachbildung wiederzugeben gelungen ist.

Derselbe und die folgenden Kunstdichter haben häufig geeignete Stoffe in der

beschriebenen volkstümlichen Art behandelt. Sie haben aber auch oft in ihre

Darstellung eine tiefere Jdee gebracht. Dadurch ist die Ballade von ihnen zur

Kunstpoesie erhoben worden, den Gebildeten verständlich in ihrer Tiefe und in

ihrer andeutenden Sprache, den Ungebildeten wenigstens ahnen lassend, was

darin liegt, ohne ausgesprochen zu sein.



Weiße, Löwen († 1773), Gleim, Schiebeler haben schon vor Herder und

Bürger einzelne Nachahmungen fremder Balladen geliefert. Goethe drückte auch

einigen parabelartig gebildeten Balladen den Stempel des Echtdeutschen auf.

Jm Erlkönig hat er die deutsche Normal-Ballade geschaffen. Er zeigt weniger,

wie die deutsche Ballade ist, als wohin sie streben soll, indem sein Erlkönig

alle germanischen Elemente in der höchsten Kunst-Vollendung dieser

Volksdichtung umfaßt. Trefflich sind auch seine Balladen: Der untreue Knabe,

Der Totentanz, Die wandelnde Glocke, Der Fischer, Der Schatzgräber &c. |#f0295 : 273|



Schiller verarbeitete meist fremde Stoffe. Sein Ring des Polykrates, der sich

der Romanze nähert, Der Taucher &c. sind nicht eigentliche Balladen. Diese

Gedichte könnten als eine besondere Erzählungsart mit subjektiver

Behandlung aufgefaßt werden, als eine Gattung, welche im Präsens erzählt.

Sein Ritter Toggenburg ist eine deutsche Ballade.



Krug von Nidda ist neben Schiller und Goethe Meister in der

Form der Ballade. Leider sind die von ihm gewählten Stoffe nicht sehr bedeutend.

Schwabs Dichtungen dieser Art nähern sich den Romanzen, wenn

sie auch die deutsche Vorzeit besingen; auszunehmen ist Der Reiter und der

Bodensee.



Uhland hat das Leben der englischen, altdeutschen, dänischen und spanischen

Völker durchstudiert und in seine Balladen aufgenommen. Doch ist sein Feld

mehr die spanische Romanze, in welcher er Treffliches geleistet hat (z. B. Don

Massias, der Verliebte). Mustergültig sind von ihm: König Karls Meerfahrt,

Das Glück von Edenhall, Junker Rechberger, Klein Roland, Der gute Kamerad,

Das Schloß am Meer. Des Sängers Fluch ist, wie erwähnt, nicht Ballade,

sondern Romanze.



Chamisso (Die Löwenbraut); Zedlitz (Die nächtliche Heerschau); A. Grün

(Deserteur); Lenau (Die 3 Zigeuner); Hölty (Adelstan und Röschen u. a.);

Platen (Das Grab im Busento); Heine (Die Loreley); Kerner (Zwei Särge);

Mörike (Die Geister am Mummelsee, ist auch als Märchen zu bezeichnen); Gust.

Pfizer (Ezzelin, Tartarenschlacht, Der stolze Feldherr, Das Bild aus Rom); Vogl

(† 1866, den man nicht mit Unrecht den Vater der österreichischen Ballade nannte);

Alexis Aar; Geibel; Frantz; Freiligrath; Karl Ebert (Der Sänger im Palast, Frau

Hitt); Luise von Plönnies (Herr Olof, Die Wette, Die Nonne); Bube; Simrock;

Hoffmann von Fallersleben; Brentano; Eichendorff; Theod. Fontane; Collin;

Tiedge; Herrig; Hertz; Lepel; Lingg; Ad. Grimminger (Des Meeres Geheimnis);

Alexander Kaufmann (Die Hexe von Staffelstein &c.); Amara George

(Klein Christel &c.); A. Meißner; Mosen; W. Müller; R. Prutz; E. Rittershaus;

Seidl; Jul. Sturm; M. Blanckarts; Alb. Träger; Lesser (Der Meermann

&c.) u. a. A. Mösers Balladen verdienen fast alle den Namen poetische

Erzählungen. Rückerts Balladen sind mehr durch moralische als epische Objektivität

eigentümlich. Nur wenige, mehr im Sinne und Geiste des Volksliedes, sind

ihm vollkommen gelungen, (z. B. die Sage vom Barbarossa, Die drei Gesellen,

Des Mohrenkönigs Günstling; in diesen hat er fast überall den rechten Ton

angeschlagen und stört nicht durch epische Breite und überlästige Malerei. Sein

Alpenjäger ist rednerisch bedeutend, und seiner Goldenen Hochzeit, welche den

von Hebel, Trinius, Pfizer u. a. gefeierten Bergknappen von Falun besingt,

ist nächst Hebels Dichtung unter den übrigen der Preis einzuräumen.) Über

Balladenpoesie vgl. Will. Alexis in Hermes 1824. ─ Eine größere Sammlung

von Romanzen und Balladen wurde von Jgnatz Hub mit kurzen Biographien

der einzelnen Dichter herausgegeben. Die Sammlung streift jedoch

das Gebiet alles dessen, was nur annähernd sich der Romanze und Ballade

nähert, (wie Sage, poetische Erzählung, Mythe, Episoden aus größeren epischen |#f0296 : 274|



Dichtungen &c.) und macht auch in der Vorführung keinen äußerlichen Unterschied

zwischen diesen Dichtungsarten.



Noch erwähnen wir als freundliche Sammlung mit Jllustrationen: Balladenkranz

aus deutschen Dichtern gesammelt von Dr. G. Wendt, Berlin 1866 &c.



§ 110. Epos == Epopöe oder Heldenlied.



1. Man versteht unter Epos eine umfangreiche, großartige, auf

breitester Grundlage ausgeführte, erzählende Dichtung in metrischer

Form, die ein bedeutsames, umfassendes Ereignis, ein der Vergangenheit

angehöriges, möglichst vollständiges Zeit- oder Weltbild entrollt.

Oder man nennt Epos eine Reihe kunstvoll und einheitlich in einander

verarbeiteter Sagen, Mythen, Begebenheiten.



Nicht um eine einzelne Begebenheit, wie in den oben abgehandelten

kleineren epischen Dichtungsarten handelt es sich im Epos,

sondern um mehrere derselben, um ein ausgeführtes Schicksalsbild eines

bedeutenden Menschen. Da das Epos nicht im Werden begriffene

Thaten (wie das Drama) vorführt, sondern bereits geschehene Fakta

erzählt, so sind hier (im Gegensatz zum Drama) die Ereignisse die

Hauptsache und die Helden sind nur die Träger derselben.



Epos als Heldengedicht heißt auch Epopöe. Diese Bezeichnung

wenden Manche einseitig für Volksepos im Gegensatz zum Kunstepos an.



2. Den Mittelpunkt des Epos bildet ein Held. Er ist Träger

und Lenker der Handlung. Von ihm erhielt das Epos den deutschen

Namen Heldengedicht. Dem Helden untergeordnet sind die Nebenpersonen

des Epos: die sog. epischen Charaktere, die zum Teil als

Nebenhelden erscheinen.



3. Alles was sich mit der Person des Helden ereignet, bildet die

Haupthandlung. Diese liebt verweilenden Gang: die sogenannte epische

Breite.



4. Dadurch begünstigt sie Nebenhandlungen, Schilderungen, Episoden,

welche die Vereinigung verschiedener Sagen und die Herbeiziehung

des Wunderbaren gestatten.



5. Der Stil des Epos verlangt Ruhe und Würde.



6. Die äußere Form des Epos ist dem Belieben des Dichters

anheimgegeben.



7. Die Übersichtlichkeit bedingt Abschnitte.



8. Schmückende, mehr zufällige Bestandteile oder Eigentümlichkeiten

des Epos sind: Proposition, Jnvokation, Gleichnis.



1. Das Epos bringt durch umständliche Darlegung der bedeutungsvollen

Schicksale des Helden und der Charaktere für ein ganzes Volk oder für die

ganze Menschheit das Gefühl des Erhabenen zur lebendigen Anschauung und

zwar in der Form der höchsten, durch Sprache darzustellenden Schönheit.

|#f0297 : 275|



2. Der Held kämpft gegen das feindliche Schicksal an, wobei er sich

selbstverständlich durch äußere Würde und Stärke des Charakters auszeichnen

muß, um eben als Hauptperson zu erscheinen. Andere ihm untergeordnete, ihn

unterstützende oder bekämpfende Personen (Nebenhelden) heißen auch die epischen

Charaktere. Es ist zulässig, daß zwei oder mehrere Hauptpersonen in demselben

Epos auftreten; aber dann müssen sie in enger Beziehung zur Schlußhandlung

(Katastrophe) stehen, diese hindernd oder fördernd. Auch darf durch sie nie die

Einheit (d. i. die Beziehung der Einzelbegebenheiten, Einzelhandlungen zur

Hauptperson) verletzt werden. Das Kunstepos hat meist nur eine Hauptperson,

das Volksepos mehrere. Schon in Homers Jlias finden wir neben Achill

mehrere Helden. Und in der Nibelungen Not fällt zwar die größte Bedeutung

auf Siegfried und Kriemhilde; aber auch die übrigen Personen (Dietrich, Hagen,

Rüdiger) sind nicht bloße, unwesentliche Nebenfiguren. Haupthelden kann man

hier eigentlich keine Charaktere nennen. Siegfried fällt, bevor das Epos zur

Hälfte vollendet ist. Dietrich tritt erst nach der Mitte desselben auf, seine volle

Bedeutung erst am Schluß erreichend; von den übrigen imponierenden Heldengestalten

(Kriemhilde, Hagen, Rüdiger) weiß keine einzige unsere Teilnahme

ausschließlich in Anspruch zu nehmen, keine vermag die übrigen Personen zu

bloßen Nebenfiguren herabzudrücken, oder sie in den Hintergrund zu

schieben. Vielmehr hat jede Figur ihren eigenartigen, berechtigten Platz, das

Jnteresse erstreckt sich auf alle gleichmäßig.



Jn den Charakteren des epischen Dichters muß sich der Charakter ganzer

Menschenklassen abspiegeln. Die Charaktere können daher nicht immer sittliche

Jdeale sein.



Da von dem Charakter des Helden (oder der Helden) die Begebenheit in

ihrem Ursprung und in ihren Folgen abhängt, so muß dieser Charakter wahr

sein und in seiner Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden, womit allerdings nicht

gesagt sein soll, daß sich der Dichter nicht direkter und indirekter Jdealisierung

bedienen könnte, um den Total-Eindruck zu mehren, das Jnteresse zu heben,

die Anschaulichkeit zu beleben, und die Wirkung zu steigern. (§ 27 d. Bds.)



Nicht eine Charakteristik darf der Epiker liefern, aber fertige Charaktere muß

er bieten, darstellen. Die alten Epiker haben zur Erreichung dieser Forderung

die fortschreitenden Ereignisse mit fortschreitender Rede ihrer Personen begleitet

und neben den Thatsachen den mit diesen verwobenen Dialog einhergehen

lassen, also eine Art dramatisches Element mit ihrem epischen Stoff zu vereinen

gewußt, wodurch sie (z. B. in den Schlachtenschilderungen der Jlias, oder in

der Nibelungen Not, in Hildebrand und Hadubrand &c.) den Charakter außerordentlich

plastisch wirksam erscheinen ließen.



3. Den leitenden Faden bildet im Epos ein Hauptmoment aus der

Lebensgeschichte des Helden: die Haupthandlung. Die Wichtigkeit dieser

Haupthandlung, welche Einfluß auf das Wohl und Wehe einer Welt haben

kann (z. B. in Stoffen wie Sündenfall, Sindflut, Kreuzzüge &c.), berechtigt

den Dichter bei allem mit ihr in Beziehung Stehenden zu verweilen, um die

einzelnen Ereignisse, Situationen und lokalen Verhältnisse, den Ort der Handlung, |#f0298 : 276|



den Charakter, Zeit, Sitten und Gebräuche des Volks, Einrichtungen

des Staats, Familienbeziehungen, religiöse und sociale Anschauungen, Bekleidung,

Wohnung, Lebensweise &c. möglichst anschaulich und bis in's Detail zu malen

und einem Grundzug des Epos: der Breite der Anlage ─ gerecht zu

werden. Alles hat für die ruhige Schilderung des Gesamtbildes poetisches

Jnteresse.



Gruber hat richtig bemerkt, daß die Gangart des Epos keine Reise sei,

wo man ein vorgesetztes Ziel mit unruhiger Ungeduld zu erreichen bemüht ist,

sondern daß das Epos mehr einer zur Lust am schönen Tage auf dem ruhigen

See unternommenen Fahrt gleiche, wo man sich in behaglicher Gemütlichkeit den

Gegenständen hingiebt, und gern bei jedem verweilt, ohne ungeduldiges Weiterstreben,

wofern nur die Gegenstände nicht an sich unangenehmer Natur sind,

oder des Jnteresses ermangeln.



Mit Vorliebe verweilt der Epiker bei jedem Schritte seiner Bahn; er befleißigt

sich einer gewissen Umständlichkeit durch Einflechtung vieler retartierender

Motive, welche seinen Gang aufhalten, seinen Weg verlängern. Eile verträgt

das Epos nicht, sie widerstrebt seinem Wesen.



Der sogenannte rasche Gang gebührt dem Drama mit seiner werdenden,

allezeit gegenwärtigen Handlung, nicht aber dem Epos mit seiner vergangenen.

Nur dann schleicht die Handlung (nach Jean Paul), wenn sie sich wiederholt,

und sie stockt nur dann, wenn eine fremde statt ihrer geht; aber nicht dann, wenn

die in der Ferne große in immer kleinere in der Nähe, gleichsam der Tag in

Stunden auseinander rückt.



Die Umständlichkeit darf keine tote und keine pittoreske sein, sondern alles

muß entspringend und fortschreitend vorgestellt werden, wie es uns z. B. Homer

zeigt. Die ausführliche Schilderung, wie sie dieser Dichter bei der Bekanntgabe

einer Lanze, eines Schildes &c. giebt, ist jedoch wenigstens im modernen

Epos nicht nötig, ja, sie würde hier ermüden. Der moderne Dichter hat ein

verständigeres Publikum als Homer, der im Zeitalter der beginnenden Kultur

nur wenig voraussetzen durfte. Jmmerhin ist auch für uns die bereits Bd. I

S. 14 skizzirte malende Methode bei Homer beachtenswert, besonders für die

Veranschaulichung weniger nahe liegender Gegenstände. Hier darf auch das

moderne Epos im Homerischen Stil ausgeführte Schilderungen, eine gewisse Behaglichkeit

im Ausmalen &c., d. h. die sogenannte epische Breite in der Darstellung

anwenden und außerdem noch etwa durch die Einfachheit und Natürlichkeit

der im Epos vertretenen Personen motivieren. (S. 41 d. Bds.)



Hindernisse in der Laufbahn des Helden herbeischaffen, heißt (sinnbildlich)

den Knoten schürzen, sie beseitigen heißt ihn lösen. Der Ausgang der

Haupthandlung des Epos ist wie im Drama die Katastrophe. Diese muß

unsere sittliche Anschauung befriedigen. Wenn auch der Tugendhafte unterliegt,

so muß unser Gefühl und unsere Vernunft ihm doch einen gewissen Triumph

nicht versagen dürfen. Auch in seinem Untergang muß er größer erscheinen,

als der äußerlich siegende Bösewicht &c.



4. Die von dem Dichter zur Beförderung des Jnteresses und zur nähern |#f0299 : 277|



Jllustration des Helden eingeschalteten Episoden (Zwischen- oder Nebenhandlungen),

wenn auch an und für sich nicht unbedeutend, müssen allezeit der

Haupthandlung untergeordnet sein. Sie dürfen nicht außerhalb des Kreises

liegen, den die Jdee beherrscht. Die Episoden im Epos sind wenig empfehlenswert

am Ende, wo der Fluß nicht mehr gehemmt werden sollte. Es ist gestattet,

in den Episoden Sagen aus verschiedenen Zeiträumen zu vereinen und

daher Personen verschiedener Zeiten zusammenzustellen (z. B. im Nibelungenepos

den Bischof von Passau mit den Nibelungen), wenn sie nur in kausalem Zusammenhang

stehen; ferner darf sogar Wunderbares, oft menschliche Verhältnisse

Übersteigendes herbeigezogen werden, um den oder die Helden groß und erhaben

darzustellen. Freilich muß der Dichter in der Wahl und Anwendung

solcher Mittel behutsam verfahren. Er darf sich wohl auf dem Gebiet einer

neuen und ungewohnten Darstellung bewegen, aber die Mittel, die er zur Vollendung

des Ganzen selbst zu erfinden oder wegen ihrer inneren Erheblichkeit

anzuwenden berechtigt ist, müssen natürlich gehandhabt werden.



5. Da die Darstellungsweise des Epos in Handlung und Gestalt eine

plastische zu sein hat, so muß sein Stil epische Ruhe und Würde beweisen.

(Homer hat diese unter Vermeidung der Jnterpunktion in den letzten Takten

des Hexameters dadurch erzielt, daß er das praesens historicum vermied

und die Reden mittelst stehender Wendungen abschloß und durch ausführliche

Gleichnisse und wiederkehrende Epitheta, wie endlich durch versus iterati

ausstattete.) Der Ton im Epos kann übrigens sehr verschieden sein (vgl. z. B.

Jlias I. 528. 599. XV. 15 ff. VI. 429 f. 476. ─ I. 325 und X. 15.),

sowie Laune und Spott in der Rede des Thersites. (B. II. 211─244.)



6. Die Wahl der Form im Epos steht dem Dichter frei, und es handelt

sich nur darum, daß diese Form im Einklang mit dem Jnhalt und den

Forderungen an die mündliche Mitteilbarkeit stehe. Das Metrum muß sich zum

poetischen Stoff verhalten, wie Einheit zur Mannigfaltigkeit. Es darf nicht zu

kunstlos sein, wenn es nicht den idealen Gehalt der Anschauung in zu große

Nähe zur prosaischen Wirklichkeit bringen will; andernteils sollte es nie zu

prätentiös künstlich sein, um nicht die Aufmerksamkeit des Hörers oder Sängers

von dem Wesen der Dichtung abzulenken.



Die alten Jnder bedienten sich für ihr Epos des Sloka (Bd. I. 596);

das antike Versmaß der Griechen war der Hexameter. Die Römer wandten

erst den sogenannten saturnischen Vers an, einen ursprünglich durch eine Cäsur

geteilten aus 6 Arsen bestehenden Vers, dessen erstes Hemistichium 3 ½

Jamben, das zweite 3 Trochäen hatte, z. B. Dabúnt malúm Metélli ‖ Nǽvió

poétae
; sie vertauschten diesen Vers später gegen das Nationalmetrum der

Griechen, als an Stelle ihrer nationalen Poesie die gräcisierende trat.



Die ruhige Würde des klassischen Epos gestattete keinen Wechsel des

Verses, weshalb die Komposition eine monostichische ist, indem sich immer derselbe

Vers wiederholt, dem freilich durch Cäsuren, Diäresen und den Wechsel

von Daktylen, Spondeen &c. die Gleichförmigkeit und Monotonie genommen ist.



Die Germanen hatten erst allitterierende Reimpaare, oder eine vierzeilige |#f0300 : 278|



Reimstrophe, worauf die Nibelungenstrophe folgte: also durchweg Accentverse

mit beliebigen Thesen. Wieland wandte im Oberon die von ihm frei bearbeitete

Oktave an. (Bd. I 552.) Auch Schiller empfahl die Oktave für ein

modernes Epos. (Bd. I S. 551.) Neuere Dichter wählen den Alexandriner

oder auch (Kastropp im Kain) den jambischen Fünftakter. W. Jordan hat

herrliche deutsche Accentverse mit 4 Hebungen angewandt (Bd. I S. 380) u. s. w.



Das Nationalmetrum der Serben ist der trochäische Fünftakter mit fester

Cäsur hinter dem 2. Trochäus. Die romanischen Völker bedienten sich des

Dekasyllabus und des Alexandriners. Tasso und Ariosto wandten die mehr

lyrisch verwertete Oktave (ottave rime) an.



7. Die extensive Ausdehnung des Epos macht Abschnitte nötig, welche

bei verschiedenen Dichtern verschieden benannt sind, z. B. bei den alten Griechen

Rhapsodien, im Mittelhochdeutschen Aventiuren, in der Neuzeit Gesänge.



Als Bestandteile, zugleich als Schmuck, sind in den Epen ersichtlich:



a. Das Proömium (προοίμιον == der Eingang), oder der Hinweis

auf Bedeutung und Charakter der Handlung gleich am Anfange. Als Beispiel

vgl. Homer (Jlias, übersetzt von W. Jordan):



Singe vom heillosen Zorn des Achill, des Peleiden, o Göttin,

Der unermeßliches Leid den Achäern stiftete, Scharen

Mutiger Seelen der Helden als Beute dem Hades dahinwarf;

Hunden hingegen zum Fraß und jeglichem Vogel der Lüfte

Preis ihre Leichname gab. So geschah, was beschlossen bei Zeus war,

Seit nun einmal die zwei, Agamemnon der Männergebieter

Und der erhabne Achill, sich verfeindet hatten in Zwietracht.



Oder Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, übersetzt von Gries):



Den Feldherrn sing' ich und die frommen Waffen,

So des Erlösers hohes Grab befreit.

Viel führt' er aus, was Geist und Arm geschaffen,

Viel duldet' er im glorreich kühnen Streit.

Und fruchtlos droht die Hölle, fruchtlos raffen

Sich Asien auf und Libyen, kampfbereit;

Denn Gottes Huld führt zu den heil'gen Fahnen

Jhm die Gefährten heim von irren Bahnen.



Oder Klopstock (Messias):



„Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung.“



b. Die Jnvokation, oder die Anrufung eines höheren Wesens oder

der Musen, die dem Dichter bei seinem schwierigen Beginnen helfen mögen;

z. B. Torquato Tasso (Befreites Jerusalem, I. Ges. 2. Strophe):



O Muse, die mit welken Lorbeerkronen

Nie auf dem Helikon die Stirn umflicht,

Doch die im Himmel, wo die Sel'gen wohnen,

Strahlt mit des Sternenkranzes ew'gem Licht:

Hauch' in die Brust mir Glut aus Himmelszonen!

Erleuchte du mein Lied und zürne nicht,

Füg' ich zur Wahrheit Zier, schmück' ich bisweilen

Mit andrem, als nur deinem Reiz die Zeilen.
|#f0301 : 279|



Oder Kastropp (Heinr. v. Ofterdingen):



Frau Aventiure, dich ruf' ich an,

Jch verlange zu schauen

Durch deines Zaubers gewaltigen Bann,

Vergangene Pracht,

Minnige Frauen

Und Helden voll Macht! u. s. w.



c. Gleichnisse. Als Beispiele vgl. Jlias II. 455─483; Odyssee

V. 102─109; Vergilius Aeneis II
. 341─346; Nibelungenlied Stro. 280

(in d. Ausg. von Bartsch Stro. 281), sowie die Bd. I. S. 156 verzeichneten

Proben.



§ 111. Einteilung des Epos und Geschichtliches.



1. Man unterscheidet im Hinblick auf geschichtliche Entstehung,

wie auf den Stoff: a. Volksepos (§ 112 d. Bds.) und b. Kunstepos

(§ 116 d. Bds.) mit ihren verschiedenen Unterarten und Namen.



Das Volksepos als das ursprüngliche, verhält sich historisch zum

Kunstepos, wie das Volkslied zum Kunstlied.



2. Unsere Gegenwart scheint wenig dazu angethan zu sein, ein

Volksepos erstehen zu lassen.



1. Als das Volk bei den Griechen sich nicht mehr mit den kurzen, epischen,

mit Saitenspiel begleiteten Liedern der Aöden begnügte, traten die Rhapsoden

auf. Diese ließen ziemlich spät auch die Musikbegleitung wegfallen und versuchten

nun anstatt des Gesanges die Recitation, wie es in neuerer Zeit der

Rhapsode Wilh. Jordan mit seinem Nibelunge in unzähligen Städten so erfolgreich

that. Die Rhapsoden der Griechen konnten selten ganz neue Dichtungen

bieten; sie verwebten aber meist mehrere Lieder über verschiedene Sagen

(oder auch über die gleiche Sage), wobei sie als Dichter mitdichtend bald kürzten,

bald ergänzten und nach Gutdünken änderten (woher ja auch ihr Name, vgl.

S. 140 d. Bds). Die Rhapsoden scheinen bei den Griechen eine bestimmte Zunft

gebildet zu haben, z. B. auf der Jnsel Chios die Homeriden, nach welchen

auch die Rhapsoden anderer Staaten als Homeriden bezeichnet wurden. Durch

die Wirksamkeit der Rhapsoden wuchs das stoffartige Jnteresse; einzelne Begebenheiten

und Personen gewannen hohe Bedeutung, weil sie mit der Anschauungsweise

und dem Charakter des Volks in enger Beziehung standen. So

wurde z. B. der trojanische Krieg Hauptgegenstand der griechischen Sage, in

welcher Achilleus und Odysseus als die Typen des griechischen Volkscharakters

und der griechischen Thatkraft allen Heroen dieses Krieges voranstanden. So

wurden ferner Karl (mit dem die französische Geschichte beginnt) und König

Artus (mit dem die britannische schließt), die Mittelpunkte aller französischen und

britannischen Sagen. So wurde der durch seine Kämpfe mit den Mauren berühmte

Cid (Herr) der Typus der Treue und des Trotzes des spanischen

Vasallentums. So wurde der arglos gemütliche, heldenmütige, dem deutschen |#f0302 : 280|



Charakter entsprechende Siegfried der Liebling der Deutschen u. s. w. An die

Rhapsoden trat in späterer Zeit die Aufgabe heran, alle die soeben erwähnten,

zu den gleichen beliebten Sagenkreisen gehörigen Lieder oder Rhapsodien zu

größeren, umfassenden Epopöen zu vereinen, alles aufzuschreiben und zu recitieren,

was von einem Lieblingshelden überhaupt und allerorten mitgeteilt werden konnte.

Auf diese Weise entstanden in Griechenland die Jlias und die Odyssee, in

Spanien der Cid, in Frankreich die Roncevalschlacht, bei uns die Nibelungen

und Gudrun u. s. w. (Vgl. §. 114 d. Bds.)



Es gehörte schon ein bedeutender Dichter dazu, um all das, was in

vielen Sagen, Mythen, Gedichten über einen Helden gesungen wurde, zu einem

in Form, Anschauung, Jdee und Darstellung einheitlichen abgerundeten Epos

zu vereinigen. Daher wäre es z. B. gewagt, einen einzigen Dichter, den man

Homer nennt, als Verfasser von Jlias und Odyssee zwischen die Aöden und

Rhapsoden zu stellen, Homer war eben nur Umdichter. (Vgl. über ihn: »Prolegomena

de operum homericorum prisca et genuina forma
« von Fr.

Aug. Wolf, welcher der Ansicht jener alten, zwei Verfasser annehmenden Chorizonten

(d. i. Trennenden) beitrat und behauptete, daß Jlias und Odyssee

mehrere Menschenalter hindurch von Rhapsoden fortgepflanzt und erst unter

Peisistratos zu einem kunstreichen Ganzen komponiert wurden.) Des Umdichters

Kunst war nicht gering. Er durfte die vorhandenen und entstehenden epischen

Lieder nicht ohne weiteres vereinen; er mußte vielmehr ausgleichen, weglassen,

zusetzen und namentlich durch „epische Breite“ eine anschauliche Betrachtung

ermöglichen, durch Einfügung von Episoden die unzusammenhängenden Sagen

in einen Guß, in Fluß und Verbindung bringen. Dies ist dem Umdichter der

Odyssee weit besser gelungen, als dem der mehr planlosen Jlias, deren Held

Achilleus zwar das Epos beginnt nnd schließt, aber doch nicht gerade den sog.

roten Faden des Ganzen bildet. Noch mehr hat der Umdichter der Nibelungen

(Kürenberger, nach Bartsch und Pfeiffer; oder wie Spaun und der im Schluß

von Frau Aventiure zweifelnd gewordene Scheffel will: Heinrich v. Ofterdingen)

sein Ziel erreicht. Dieses Epos, dessen Handlungen sich über zwei Menschenalter

erstrecken, während Jlias und Odyssee nur einen ganz kleinen Zeitraum

umspannen, überragt beide klassische Epen durch die Kühnheit seines Plans.

Alles ist hineingearbeitet: der Mythus von Siegfried, die Sagen von den

burgundischen Königen, von Theodorich, von Attila, ─ und überall zieht

sich durch die um Kriemhilde gruppierte einheitliche Darstellung der Gedanke,

daß der Welt Freuden mit bitterem Schmerz enden:



„Mit Leide war beendet des Königs Lustbarkeit,

Wie die Freude Leiden stets am letzten Ende leiht.“



Für Entstehung des Nibelungenliedes vgl. „Über die ursprüngliche Gestalt

des Gedichtes von der Nibelungen-Not“ von Karl Lachmann, sowie dessen Untersuchungen

„Zu den Nibelungen und zur Klage“. 1836.



Die Arbeit des Kürenberger (oder der Zusammensteller), durch welchen

(oder durch welche) die alte, allitterierend behandelte Sage künstlerisch in der |#f0303 : 281|



neu hinzugekommenen Nibelungenstrophe zusammengedichtet wurde, war nicht

gering, und man darf solche Umdichter nicht zu gewöhnlichen Redakteuren herabwürdigen,

vielmehr haben wir alle Ursache, diese Bearbeiter für ganz gewaltige

Dichter zu halten. Die Kunsthöhe dieser deutschen Dichter, die doch zweifelsohne

wie die der Erbauer großer Dome nur durch unendliche Übung und fortgesetzte

Kunst zu erreichen war, läßt unbedingt um jene Zeit das Vorhandensein

einer durch Jahrhunderte fortbestandenen Dichterschule vermuten. Auch

ein Homer ─ falls man einen einzigen dieses Namens für Zusammendichtung

der homerischen Epen annehmen will ─ hatte sicher viele Dichter vor sich,

die, sofern sie sich das Singen zum Beruf machten, bald eine Anzahl begieriger

Hörer und Schüler um sich zu vereinigen wußten.



Das Zeitalter des Volksepos mit seinen phantasie=geschaffenen Göttern ist

das Jugendalter eines Volks, also die Zeit, in welcher das Volksleben noch

natürlich einfach war; wo der einzelne die äußeren Eindrücke noch kindlich unbefangen

aufnahm, ohne durch Hervortreten seiner Subjektivität sich von der

Nation, deren kindlichen Glauben er teilt, loszuschälen. Nach der Zeit des

Volksepos bildete sich mehr und mehr das Kunstepos aus (§ 116 d. Bds.).



2. Jn der dramatisch hastenden Zeit der Gegenwart zählen gute Kunst=

Epen im Vergleich zum Roman zu den poetischen Raritäten. Zu einem Volksepos

scheint niemand den Versuch zu wagen. Dieses wird so lange auf Wiederbelebung

warten müssen, als der Begriff Volk schwankend ist. Unsere heutigen

Kunstepen sind nur für die Gebildeten vorhanden; und selbst unter diesen sind

der Abstufungen so viele, daß die untersten Klassen in der Regel nicht verstehen,

was für die Hochgebildeten gedichtet ist. Das heutige Volk und die Gelehrten

stehen in ihrer Bildung zu weit auseinander, als daß es ein Dichter

beiden Teilen recht machen könnte. Zudem beeinträchtigt das materielle Ringen

unserer Tage fast jedes Jnteresse an den historischen Erlebnissen. Wo aber der

Sinn für poetische Überlieferungen der Geschichte bei den Einzelklassen eines

Volkes schwindet, wo die große Menge in stumpfer, dumpfer Gleichgültigkeit

zusieht, wie die Geschichte von gelehrten Händen einregistriert wird, da kann

kein Volksepos mehr erblühen.



Jn solchen Zeiten des Jndifferentismus und der Vernachlässigung der

im Volksepos sprechenden Naturpoesie dichtet der Kunstdichter aus sich und aus

den schriftlichen Aufzeichnungen heraus; er bringt Kunstepen zusammen, aus

denen der Historiker nichts lernt, und die dem Volke völlig fremd bleiben. So

bleibt das Kunstepos der Neuzeit wohl für den Gebildeten von Jnteresse, nie

aber wird es jene berauschende Wirkung auf das Volk äußern, welche dereinst

Homers Gesänge auf die Hellenen ausübten, die in denselben die Geschichte

ihres Vaterlandes, die höchste Poesie und zugleich sich selbst verehrten, da ja

aus ihren Volksmythen und Sagen diese Gesänge hervorgegangen waren, und

jeder sie daher als sein Eigentum betrachten konnte.



Es ist gewiß wünschenswert, daß bei unserer neugeschaffenen Nationalität

eine neue Volkspoesie, ein neues gewaltiges Volksepos erstehe. Man erwartete

bereits ein solches, nachdem der große Befreiungskrieg den Begriff Volk wieder |#f0304 : 282|



erweckt hatte, nachdem so ziemlich ein Geist und eine Ansicht im Entstehen

war und ein gleiches gemeinsames nationales Jnteresse Gebildete und Ungebildete

durchzogen und in einem erfreulichen Aufblühen der patriotischen Lyrik

bewegt hatte. Schon hörte man Volkslieder von den Großthaten des Marschall

Vorwärts, von den Fluchten der Franzosen, Spottlieder auf Napoleon und

seine Generale &c. auf den Straßen und in den Schenken singen, und mit dem

lyrischen Ton vermischte sich das epische Element. Aber es blieb bei den Elementen

zu einem Volksepos.



Jn noch höherem Maße waltete die phantasievolle Thätigkeit des Volksgeistes

im rasch aufblühenden Volksgesang nach den Großthaten unserer Nation

von 1870─71. Aber leider ist der Begriff des Volkes unter andern Spaltungen,

als denen zwischen Gebildeten und Ungebildeten verschwunden und die

Sänger sind mit ihren Liedern unter der Wucht materieller Strömungen von

den Straßen verschwunden. Dazu kommt, daß durch die Bühne und die

Schaulust des Volkes, welches in raschem Drängen nach Neuem bloß sehen

will, unsere Dichter wohl zu lohnenderen dramatischen Dichtungen aufgefordert,

aber von der Vereinigung nationalen Stoffes zu einem Volksepos ─

wie überhaupt von Dichtung eines Epos ─ zurückgescheucht werden. Möge die

Zukunft lohnendere Anregung bieten! Wir haben nunmehr große Geschichte durch

eigene deutsche Kraft zu Stande gebracht; wir haben Erfolge errungen, wie sie

keine Nation der Welt in ihren Annalen zu verzeichnen hat. Wir besitzen herrliche

volkstümliche Lieder aus dem letzten Kriege, welche die Grundlage zu einem

Volksepos bilden könnten! Auf, ihr Kunstdichter, vereinigt im stolzen Gefühl

deutscher Kraft die epischen Volksgesänge und die Sagen von unseren älteren

Lieblingen: vom Prinzen Eugen dem edlen Ritter, vom alten Dessauer, vom

alten Fritz, von Blücher ─ oder, wenn ihr's vermögt, vom geschichtlich gewordenen

Wilhelm dem Siegreichen mit dem jungen Fritz und den großen Gestalten

Moltke und Bismarck!



§ 112. Die Volksepen.



1. Das Volksepos (Nationalepos == Volksepopöe) ist jenes Epos,

welches das vom ganzen Volke gekannte, durch Tradition liebgewordene

Nationale aus des Volkes ältester sagenhafter Urgeschichte zum Gegenstand

nimmt und große, national wichtige Jnteressen und Ziele erstrebt.



2. Charakteristisch für dasselbe ist die Verwendung des Wunderbaren.





1. Die Helden des Volksepos mit ihren Thaten leben in dem Volke des

Sängers in alten Sagen, die als Balladen oder Romanzen in einer Zeit gemeinsamen

Handelns entstanden und gesungen wurden, bis sie durch die kunstgeübte

Hand eines Dichters mit andern ergänzenden und verwandten Sagen

zu einem großen Ganzen ─ einem Epos ─ zusammengefaßt, verarbeitet, umgedichtet

werden. Die Nation ergreift dieses volkstümliche Epos mit Begeisterung,

erkennt es als ihr Eigentum: es ist National-Eigentum, National-Epos, |#f0305 : 283|



Volks-Epos. Von der Wichtigkeit und Bedeutung des Nibelungenliedes belehrt

uns schon der Anfang desselben:



Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Von helden lobebæren, von grôzer arebeit.



2. Das Wunderbare in diesem Volksepos ist dadurch erklärlich, daß ihm die

Götter lebensvolle Gestalten sind, die in das Geschick der Menschen eingreifen,

das Schicksal bedingen. Die alten Volksepen gehörten ja einer Zeit an, wo

man sich die aus den personifizierten Naturkräften gedachten und selbstgebildeten

Gottheiten in unmittelbarer Beziehung zu den Menschen dachte, und das Eingreifen

in die Geschicke der Menschen voraussetzte. Dies ist in der Jlias und

in der Odyssee der Fall, beim Mahâbhârata und beim Râmâjana, in unseren

Nibelungen und in dem jungen Kalewala der Finnen &c.



Jn unsern Nibelungen zeigt sich Siegfried mit seinem göttlichen Attribute

der Unverletzlichkeit und mit der unsichtbar machenden Tarnkappe, ebenso wie

Brunhild in ihrer Unnahbarkeit und mit der göttlichen Kraft als göttliche

Wesen, als mythische Figuren. Das Wunderbare war selbstverständlich.



§ 113. Aufzählung sämtlicher Volksepen.



Wir besitzen folgende Volksepen:



1. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee.



2. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana.



3. Die deutschen Volksepen: Nibelungen, Gudrun &c.



4. Die Volksepen der Finnen, Esten, Lappen: Kalewala, Kalewipoeg,

Peiwasch Parnéh.



Als Volksepos wird von vielen Litterarhistorikern, welche die unter 4

verzeichneten Volksepen übersehen oder nicht kennen, noch der Herdersche Romanzencyklus

Cid erwähnt, den wir S. 266 d. Bds. unter Beigabe von Proben

sowie in der Litteratur des romantischen Epos § 120 d. Bds. seinen Platz

anweisen mußten.



§ 114. Analyse sämtlicher Volksepen nach Jnhalt, Konzeption,

Ausführung etc.


I. Die klassischen Volksepen der Griechen: Jlias und Odyssee.



Die Epen der Griechen, welche im Altertum wegen des ruhigen

Fortschreitens ihrer Handlung, wegen ihres heroischen Stoffs, wegen

ihrer gediegenen Form und Sprache als die vollendetsten Muster der

Poesie angesehen wurden, tragen den Namen klassische Epen und nehmen

unter den Volksepen einen hervorragenden Rang ein.



Jnhalt: a. Die Jlias besingt in 24 Gesängen oder Büchern (Rhapsodien)

einen Teil des Kampfes vor Troja und zwar von der Entzweiung Achills mit |#f0306 : 284|



Agamemnon bis zur Leichenbestattung Hektors (51 Tage des letzten der 10 Kriegsjahre),

also einen ganz kurzen Zeitraum.



b. Die Odyssee dagegen behandelt ebenfalls in 24 Gesängen die Heimkehr

der Griechen, die zehnjährigen Jrrfahrten und Abenteuer des Odysseus

auf seiner Rückkehr von Troja nach Jthaka, sowie das Rachewerk in seinem

Hause.



Die Jlias, wie die Odyssee, malen zugleich das Leben und Weben,

Walten und Schalten der Götter. Sage und Mythe vereinen sich in wunderbarer

Harmonie zum großen klassischen Heldenepos. Der verderbliche Zorn des

Achilles wird besungen, der den Griechen das Jdeal der Kraft und Jugend

und (nach Hegel) das Vorbild des herrlichsten aber eines der letzten Hellenen

der edleren Zeit, Alexanders des Großen, gewesen ist. Die Götter nehmen Teil

am Kampfe der Menschen. Poseidon macht Meer und Erde erbeben, Hephästos

speit Feuer, und die Flußgötter umbrüllen, zwischen Blut und Leichen wütend,

zornglühende Menschen. Ares tritt in den Kampf ein, an dem sich selbst

Pallas Athene, Apollon und die Götterkönigin beteiligen. Pallas Athene schmettert

den Grenzstein dem Ares entgegen, daß er über sieben Hufen Landes dahinstürzt.

Droben lächelt der Vater der Götter und Menschen, der, wenn er die

Augenbrauen faltet oder die ambrosischen Locken vorwärts sinken läßt, den

Olymp erbeben macht.



Epische Konzeption und Ausführung. a. Jliade. Eine große

Zahl von Heldenthaten sind zu erzählen. Für die Einheit nimmt Homer den

Haupthelden Achilles, ohne die andern zu vergessen. Edles Maß wahrt den

einzelnen Teilen die Selbständigkeit. Achilles wird eingeführt, aber zürnend

geht er in's Zelt. Jnzwischen kann der Dichter Helden um Helden vorführen;

Achilles' Bedeutung zeigt sich aber darin, daß, so lang er fehlt, kein siegreicher

Fortgang im Kampfe ersichtlich ist. Patroklus' Tod läßt mit einemmale den

Gewaltigen wieder erscheinen; Hektor fällt, und wir ahnen den Fall des heiligen

Jlion. Ein Ruhepunkt tritt ein. Die Totenfeier des Patroklus giebt zur Äußerung

des Schönheitsgefühls der Griechen Gelegenheit: Ruhe, Friede, Schmuck.

Nun kommt noch Priamus zu Achill, wodurch der Dichter Gelegenheit findet,

den Helden von seiner menschlich erhabenen Seite zu schildern.



So wird das großartige Epos in seiner erhabenen Sprache Musterepos.

Sind auch an einigen Stellen die trefflichen Gleichnisse etwas gehäuft,

so treten doch Personen, Dinge und Ereignisse so klar und anschaulich hervor,

daß man meint, man könne sie mit Händen greifen. Jeder Dichter kann hier

lernen, wie ein Charakter zu schildern ist, wie derselbe aus seinen Handlungen,

Reden und aus den Beurteilungen anderer lebendig vor Augen zu treten hat &c.



Jn erhabener Schöne und zauberischer Größe steht die Jliade da, die

auf das Volksleben und die religiöse Anschauung von beispielloser, epochebildender

Bedeutung blieb.



b. Odyssee. Jn der Odyssee leitet uns der Dichter durch alle Wunder

der Phantasie zur schönen Wirklichkeit. Anknüpfend an den trojanischen Krieg

läßt diese Dichtung den Odysseus durch alle damals bekannten Meere und |#f0307 : 285|



Länder irren, bis er zu Penelope heimkehrt. Mit dem großen Blutbade auf

Jthaka endigt das Epos überraschend schnell.



Die Odyssee stellt sich dem Heldenepos der Jliade wie ein Kulturepos

gegenüber. Odysseus, der Repräsentant des griechischen Volkscharakters ist der

Held, der in allen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Land durch List, Mut

und Kraft hervorstrahlt. Das Volk, vom Könige bis zum Bettler, wird geschildert;

seine Neigungen, Schwächen und Vorzüge werden gezeigt. Von der

Kalypso und aus ihren göttlichen Armen kehrt Odysseus zur Heimat zurück, ─

ein Muster der Kraft und der echten Gesinnung.



(Zur näheren Kenntnis der klass. Epen der Griechen empfehlen wir die

Übersetzungen von Voß und Jordan. Außerdem ist aber auch das Wesen des

Homerischen Epos in vielen Hilfsschriften behandelt, vgl. z. B. von W. Nitzsch

Sagenpoesie, Geppert Die Homerischen Gesänge, Bergk Griechische Litteraturgeschichte,

Lachmann Vorlesungen, ferner Bonitz', Hennings, Nutzhorns, Jordans

u. a. Arbeiten.)



Proben aus der Voßischen Übersetzung der Jlias wie der Odyssee finden

sich Bd. I S. 156 und 190 &c.



II. Die indischen Nationalepen: Mahâbhârata und Râmâjana.



Die geschichtliche Unterlage des Mahâbhârata (== der große

Bhârata, König von Hastinapura) bildet die Eroberung der Gangesebene,

wie die des späteren Râmâjana die früher fallende Verbreitung

der Arier nach der südlichen Halbinsel.



Jnhalt: a. Mahâbhârata. Dhritarâschtra, der blinde Vater der Kuru,

hatte auf den Thron verzichtet, den nun sein jüngerer Bruder Pandu in Besitz

nahm, weshalb dessen 5 tugendreiche Söhne von den Söhnen Dhritarâschtras

hartnäckig bekriegt werden. Jn den Abenteuern treten die Götter handelnd ein.

Der schlaue Krischna (Jncarnation des Wischnu) verleitet die Pandusöhne, den

Eid zu brechen. Alle arischen Stämme werden in den entbrannten großen

Krieg mit den Kurus verwickelt. Die Kurus sind im Vorteil; aber Krischnas

List, der Ardschunas Wagen lenkt, macht die Pandus zu Siegern. Das Mahâ=

bhârata enthält viele Episoden, welche fast sämtlich dem 3. Abschnitt des

Gedichts eingefügt sind.



Zunächst wird die Erzählung des großen Kriegs durch das berühmte

Gespräch „Bhagavad Gita“ unterbrochen, worin Krischna mit Ardschuna angesichts

der Heere tiefsinnige Fragen der Religionsphilosophie behandelt. (I 597 ff.)

Zur Beruhigung, Tröstung oder um den Ausgang prophetisch anzudeuten,

finden sich weitere Episoden, wie Nal und Damajanti (I 598), Sawitri &c.,

wodurch das Mahâbhârata zu riesigem Umfange anschwoll, so daß es jetzt

18 Bücher mit 100,000 Slokas umfaßt. (I 596.) Diese Episoden haben

den Bau mit dem Riesenepos, dem sie eingefügt sind, gemein. (Vgl. die

Probe I 597, 598, 599.) Sogar die Götter greifen in ihnen ähnlich wie |#f0308 : 286|



dort ein. Jn Nal und Damajanti beteiligen sie sich an der Gattenwahl der

Damajanti, und die ganze Fortführung des Epos wird durch die Ränke des

bösen Gottes Kali hervorgerufen; in Sawitri hat Sawitri gegen den Beschluß

der Götter wie gegen den Todesgott Jama zu kämpfen u. s. w.



Probe aus dem Mahâbhârata (Übersetzung von Adolf

Holtzmann
).



Die Schlacht der Kuruinge und der Panduinge.

(NB. Der Übersetzer nennt die Pandus und Kurus nach Analogie der Bezeichnung altd. Heldengeschlechter

Panduinge und Kuruinge.)



Der Tag brach an; schrecklich ertönte

von Trommelgewirbel und Muschelklang,

Vom Knarren der Räder, vom Wiehern der Pferde

und von der Elephanten Schrei;

Vom Klirren der Waffen, vom Rufen der Krieger,

vom Feldgeschrei und Losungswort

Und von der Führer lauten Befehlen

weithin ein ungeheurer Schall.

Bald standen gegen einander gerüstet

die beiden Heere, abendwärts

Die Scharen der Kuruinge gewandt,

die Panduinge morgenwärts,

Von Kampfbegierde beide erfüllt,

in Siegeshoffnung beide froh.

Als leuchtend sich die Sonne erhob,

erblickte man die langen Reih'n

Fußgänger, Reiter, Jlfe* und Wagen* Elephanten.

mit blinkenden Waffen aller Art,

Mit Bogen und Pfeil, mit Lanze und

mit Keule, Schlägel, Schwert und Dolch,

Die Fürsten mit ihren flatternden Fahnen,

mit ihren Zeichen bunt gemalt.

Hoch ragte vor allen der schreckliche Fischma,

auf silbernem, weißem Wagen, weiß

Von Haar und Bart, in weißem Gewande,

und weißem Turban, silberweiß

Die Rüstung und die Waffen und weiß

die Rosse, wie ein weißer Berg;

Und hoch an gold'nem Stamme der Palme

war allen sichtbar sein Panier,

Fünf silberne Sterne. Aber der Alte

zu seinem Heere hingewandt,

Rief laut mit donnerähnlicher Stimme

den Kriegern diese Worte zu:

„Heut' ist euch Tapfern wieder die Pforte

des Himmels aufgethan; den Weg,

Den früher eure Väter und Ahnen

gewandelt sind, den geht nun ihr

Zu Jndra's Welt der Wonne, indem

durch Mut ihr ewigen Ruhm gewinnt.
|#f0309 : 287|



Wollt ihr auf euerm Schragen zu Haus

in Krankheit ärmlich euern Lauf

Beschließen? Nur im Felde zu sterben

geziemt dem echten Kschattriger.“

So rief der Alte; mit Jubelgeschrei

antwortete ihm das ganze Heer.

Und Fischma ergriff das goldgeschmückte

gewund'ne Muschelhorn und blies

Mit hellem Schalle; aber sogleich

ertönte auch des Feindes Horn.

Da rückten die Heere gegen einander

mit Trommelschlag und Hörnerklang

Und hellem Kriegsgeschrei, daß weit

der Erde Boden zitterte.

Von Ferne aber krächzten die Raben

und bellten die Wölfe, freudevoll

Verkündend großen Menschenmord,

von Leichen ein erwünschtes Mahl.

Die Schlacht begann; wild unter einander

war bald der beiden Heere Volk,

Fußgänger, Reiter, Wagen und Jlfe

undeutlich gemischt, wie wenn das Meer

Jm Sturme von brausenden Winden erregt

beständig auf- und niederwogt.

Da zuckten blanke, geschwungene Schwerter,

da flogen Pfeile hin und her.

Wie leuchtende Blitze, und glänzend von Oel

die Speere und Keule aller Art.

Hier trafen Wagen und Wagen zusammen,

zwei Elephanten kämpften dort,

Hier fochten Reiter mit Reiter und dort

zu Fuße zwei Gewappnete.

Hier drangen einige Kämpfer zu Fuß

auf einen Wagen tapfer ein;

Dort brach sich durch der Gehenden Menge

ein Wagen mutig eine Bahn.

Hier sprengte auf bunt beringeltem Pferde

ein Reiter zu einem Wagen hin

Und spaltete mit dem glänzenden Beile

dem Wagenlenker schnell das Haupt.

Dort aber auf einem Wagen ein Held

schoß viele tapfre Reisige

Mit Pfeilen von den Pferden herab,

wer ihm in Pfeilschußnähe kam.

Hier stürzten wütende Kriegselephanten

auf Pferde, Wagen und Menschen los,

Mit Rüsseln schlagend, mit kräftigen Zähnen

durchstoßend und mit der Füße Wucht

Zerstampfend; dort mit glänzenden Speeren,

mit schweren Keulen zerbrachen die Wehr

Der Jlfe mutig fechtende Männer

und heulend flohen die Jlfe davon.

Jn diesem schrecklich tobenden Kampfe,

der Jama's Reich vergrößerte,

Sah man stets in den Scharen der Feinde

des Fischma hohes Banner wehn.
|#f0310 : 288|



Der Sonne Glanz mit Pfeilen verhüllend,

war er an Glanz der Sonne gleich,

Der unnahbare schreckliche Greis,

des Santanu erhab'ner Sohn,

Und wie die Sonne die Dunkel der Nacht

verscheucht mit steter Strahlen Schein,

So nicht ermüdend mit steten Geschossen

vertrieb der Held der Feinde Heer.

Wo er sich zeigte, da wurden die Sitze

der hohen Wagen menschenleer,

Da sanken Häupter vom Rumpfe getrennt,

hauptlose Leiber hundertweis

Zu Boden. Aber den schrecklichen Greis

begleiteten schützend in der Schlacht

Sechs tapfre Helden, Duchsasana, Krip,

Dron, Salja, Wiwiasati

Und Sakuni. Denn als zur Schlacht

am Morgen die Scharen sich rüsteten,

Befahl, von froher Hoffnung bewegt,

der König dem Duchsasana:

„Mein Bruder! Fischma hat gelobt,

heut jeden, der ihm in der Schlacht

Begegnet, ohne Erbarmen zu treffen,

den Fima selbst und Ardschuna.

Nur wenn der Sohn des Drupada,

Sichandin, ihm entgegenstürmt,

Den will er schonen, denn er spricht:

Sichandin ist fürwahr ein Weib,

Ein Wolf wird einen Löwen erlegen,

wenn dieser sich nicht wehren will.

Drum sorge, daß vom Wolfe Sichandin

der Fareterlöwe Fischma nicht

Gefährdet werde; folge dem Alten

auf allen Wegen in der Schlacht;

Du und der unbesiegliche Dron

und Kripa und Wiwiasati

Und Salia und Sakuni,

ihr sechs bewachet den Heldengreis,

Und seid vor allem immer bedacht,

sobald ihr den Sichandin seht,

Den abzuwehren und den zu erlegen,

Dann wird der Greis, von euch beschützt,

Die Panduinge alle besiegen,

die Someker und Srindschejer u. s. w.



Jnhalt: b. Râmâjana. Der Gegenstand des 24,000 Slokas umfassenden

Râmâjana, das dem Mahâbhârata in Absicht auf Wortvorrat, Ausdrücke

und Bilder, ja sogar im Versmaß gleicht, indem es den Wandel und

die Heldenthaten Ramas darstellt, ist der Sieg des Helden Râma über Ravana,

den Fürsten der bösen Genien, obwohl derselbe von den guten Göttern das

Versprechen der Unverletzlichkeit erhalten hatte. Râma ist kein göttlicher Held

wie z. B. Achilles bei Homer, sondern die durch Klagen über die Verwüstungen

des Riesenkönigs Ravanna veranlaßte siebente Jncarnation Wischnus. Er ist |#f0311 : 289|



der Sohn Dasarathas und sollte als Liebling des Volks Regent werden. Aber

die zweite Frau Dasarathas weiß ihrem Sohn Bharata die Regierung zu verschaffen.

Nun zieht Rama mit seiner Gattin Sitâ in den Wald, wo er 14 Jahre

lang Wunderthaten verrichtet, bis er endlich vom Throne Besitz ergreift.



Probe aus dem Râmâjana. (Aus dem 1. Buch, nach der Übersetzung

Fr. Rückerts.
)

Da ihm vor'm Angesicht also der Welturvater selber saß,

Mit darein vertieftem Gemüt Walmiki voll Gedanken war.

Das Reiherweib bemitleidend, wieder und wieder jenes Lied

Sagt' er her verlorenen Sinns, nachhängend seinem Leide nur:

Dort des Jägers, des sündhaften, des unverständ'gen arge That,

Wie er solch einen schöntön'gen Reiher getötet ohne Grund!

Lächelnd aber darauf Brahma zu dem Einsiedlerfürsten sprach:

Also ein Lied gefügt hast du, zu bedenken ist nichts dabei.

Dir entsprungen ist freiwillig, o Brahman, diese Redekunst;

Nun des Rama Gesamtthaten, bester Büßer, verfasse du!

Des tugendhaften, pflichtsinn'gen, weisen, der Lust des Weltenraums,

Ramas Thaten erzähl' also, wie du hörtest von Narada.

Was offenbar und was heimlich von diesem Weisen ist geschehn,

Von Rama samt den Kampfhelfern, allzumal von den Riesen auch;

Von der Videha-Maid* gleichfalls, was offenbar und was geheim;* Sita.

Alles dieses auch unkunde kund gethan soll es werden dir.

Sein soll kein Wort, kein unrechtes, dir im Gedicht durch meine Gunst;

Die hehre Rama-Mär mache herzerfreulich in's Lied gefügt!

So lang die Berge stehn werden, und die Flüß' auf dem Erdengrund,

So lang wird in den Welträumen das Râmâjana=Lied ergehn.

So lang das Râmâjana=Lied von dir gedichtet wird ergehn,

So lange dich emporschwingend wirst du wohnen in meiner Welt.


(Vgl. auch die Probe I 598.)



III. Die deutschen Volksepen.



a. Nibelungenepos. Das von einem nordischen Volksstamme, den

Nibelungen, herrührende, durchaus objektiv gehaltene sog. Nibelungenlied stammt

aus der Blütezeit der deutschen Litteratur im 12. und 13. Jahrhundert.



Um jene Zeit blühte auch das höfische Epos, das wir unter Kunstepos

behandeln. Es sind vom Nibelungenepos drei von den Gelehrten mit A, B

und C bezeichnete Handschriften erhalten, die aus dem letzten Decennium des

12. Jahrhunderts stammen mögen.



Für den Jnhalt des Nibelungenepos s. Bd. I S. 44. Die einzelnen

Teile, aus denen es entstand, sind: 1. Siegfriedsage und Sage von Gunther,

2. Dietrichsage und Sage von Etzel, 3. Nibelungenklage aus dem Anfange

des 13. Jahrhunderts.



Hauptcharaktere sind: Siegfried, ein unvergleichlicher Held, arglos, liebreich,

vertrauensvoll; Hagen, furchtlos, treu gegen seine Gebieterin; Kriemhilde,

voll Liebe und Verehrung gegen ihren Gatten, rachedurstig, grausam;

Brunhilde, gewaltig, stark, ehrgeizig, voll Haß; Dietrich, gerecht, ohne Tadel.

|#f0312 : 290|



Jn dem ganzen Nibelungen-Epos tritt das echt deutsche Element in seiner

Ursprünglichkeit hervor, unbeeinflußt vom Christentum und von der Bildung

der Ritterzeit. (Wagner hat es mit Recht als Unterlage für seine charakteristisch

deutsche Musik bearbeitet.)



Die Germanen waren so genial, ihre epischen Volksdichtungen zur Epopöe

zu gestalten, zu einem künstlerischen Epos, das vieles zum Teil aus Urzeiten

herüberklingende, zum Teil seit Jahrhunderten Gesungene in einen Guß

brachte und Sage wie Mythus zusammenfließen ließ (z. B. Siegfried ist wahrscheinlich

Baldur, Hagen von Tronje == Hödur, Dietrich von Bern == Odin &c.).

Mythus und Göttersage zerflossen vor dem Einfluß des Christentums. Während

Homer weit schönere Götterideale bilden durfte, mußte der Verfasser des Nibelungenlieds

heidnische und christliche Anschauungen versöhnen, mußte er wesentliche,

heidnische Bestandteile umwandeln oder weglassen. Trotz ihrer Schönheiten

bleiben die Nibelungen spröder als die Jlias. Hagen von Tronje steht

an Kühnheit und Gewalt keiner dichterischen Erscheinung nach, wohl aber Siegfried

dem Achilles.



Die Architektur des Epos ist mustergültig. Durch das Ganze zieht sich

die Schuld hindurch; diese drängt bis zum Morde Siegfrieds, aus dem neue

Schuld erwächst bis zum tragischen Ende, aus welchem nur Etzel, Hildebrand

und Dietrich übrig blieben.



Abgesehen von dem höfischen Beigeschmack, dem der Dichter sich nicht

ganz entziehen konnte, ist das Gedicht ein bleibendes Muster der Poesie,

namentlich was Gestaltung und Darstellung betrifft.



Als Sprachprobe aus dem durch Schulausgaben allbekannten Nibelungenlied

vgl. Bd. I S. 603.



b. Gudrunepos. Dem ernsten Nibelungen-Epos steht das weniger

vollendete heitere Heldengedicht Gudrun gegenüber, das an der Nordsee spielt,

und bei dem nicht das Edelweibliche durch Unglück in Rachedurst und Grausamkeit

umschlägt, vielmehr sich in echt weiblicher Weise durch gewaltiges Ertragen

des Geschickes bewährt. Es ist entstanden aus den Sagen: 1. von Siegeband

und Hagen, 2. von Hildes Entführung, 3. Gudruns Entführung und

Befreiung. Jnhalt: s. Bd. I S. 44.



Als Sprachprobe aus dem bekannten Gudrunepos vgl. Bd. I, S. 608.



c. Weitere deutsche Volksepen. Jn Bd. I § 18, S. 44 sind

unter Nr. 3─9 noch mehrere kleine Volksepen erwähnt, sowie Bd. I S. 43

das Bruchstück „Hildebrand“, welches zweifellos den Hauptteil eines gewaltigen

deutschen Volksepos bildete, dessen übrige Teile man bis heute nicht auffand.



Wie es bei den Griechen kein Dichter verstand, die bedeutungsvollen

Helden des Argonautenzugs durch einen Odysseus überragen zu lassen, so vermochte

auch bei den Deutschen noch keine dichterische Fähigkeit Hildebrand zum

großen Volksepos abzurunden. Beide gewaltige Stoffe blieben ─ so zu sagen ─

episch stecken.



Die Brüder Grimm haben zuerst das aus 61 Verszeilen bestehende

Bruchstück des Liedes von Hildebrand und Hadubrand in seinem urkundlichen |#f0313 : 291|



Text, sowie mit wiederhergestelltem Text und Übersetzung, zugleich aber

auch mit jenem Volkslied herausgegeben, das nicht wie das obige Bruchstück

mitten in der Erzählung des Kampfes abbricht, sondern auch noch die

Erkennung, die rührende Sohnesliebe und die Heimkehr zur Mutter Ute besingt.

(Vgl. die Bearbeitung im kleinen Heldenbuch von Simrock 1844. S. 305 ff. &c.)



Als Sprachprobe aus dem Hildebrandliede vgl. Bd. I S. 402.



IV. Die Volksepen der Finnen, Esten und Lappen.



Durch Entstehung der Volksepen der Finnen, Esten und Lappen

in der neuesten Zeit ist der Beweis geliefert, daß noch heutigen Tags

die epischen Volkslieder durch geschickte Hand zu Volksepen vereinigt

werden können.



a. Das finnische Volksepos Kalewâla.

Das Epos

Kalewâla, das in der ersten Ausgabe (1835) 32 Gedichte mit

12,000 Versen enthielt, während die 2. Ausgabe (1849) 50 Runen

mit 22,796 Versen umfaßt, wurde durch Anton Schiefner 1852 in's

Deutsche übertragen. Es ist aus dem Munde von Greisen hervorgegangen

und nimmt als Nationalepos einen hervorragenden Rang ein.



Jnhalt: Jlmatar, die Tochter der Luft, gebiert nach 700jährigen Wehen

den Wäinämöinen, der sich bald durch Weisheit und Sangeskunst auszeichnet.

Der neidische Lappenjüngling Joukahainen bekämpft ihn, wird aber besiegt und

löst sich nur durch das Versprechen der Hand seiner Schwester Aino. Diese

stürzt sich in die Fluten, und wird in einen Fisch verwandelt. Der Gott der

Träume ist dem Wäinämöinen behilflich, daß er den Fisch erhascht. Dieser

entschlüpft und verhöhnt Wäinämöinen. Da erscheint ihm der Geist seiner

Mutter und fordert ihn auf, nach Pohjola (Nordland) zu gehen, wo es viel

schönere und weniger spröde Mädchen gebe. Aber Joukahainen lauert ihm mit

dem Bogen auf; der Pfeil trifft das Roß, und Wäinämöinen fällt ins Meer.

Ein Adler hilft ihm heraus. Jn Pohjola wird er von der Herrin von Pohjola,

der Mutter der schönen Maid, freundlich aufgenommen und von seinen Wunden

geheilt. Sie will ihn erst dann wieder entlassen, wenn er ihr den Sampo

(d. i. eine Mehl=, Salz- und Gold=mahlende Mühle) schmiede, wofür sie ihm

die Hand ihrer Tochter verspricht. Wäinämöinen bittet, den Jlmarinen senden

zu dürfen, den berühmten Meister der Schmiedekunst, der auch die Hand der

Tochter erwerben möge. Die Königin willigt ein. Auf dem Heimwege sieht

Wäinämöinen die schöne Maid selbst und entbrennt in Liebe zu ihr. Jlmarinen

baut den Sampo, wird aber vorerst von der Jungfrau verschmäht.



Noch ein Dritter wirbt um sie: Ahti Lemminkainen, ─ der seine schöne

Frau wegen Beteiligung an einem Tanze verstoßen hat. ─ Eben will dieser

die letzte der gestellten Aufgaben lösen, als ihn ein Hirte tötet. Seine Mutter

findet seinen zerstückten Leichnam mit Hilfe der Sonne; sie holt die Stücke mit

einer von Jlmarinen gefertigten Hacke aus dem Wasser, verbindet sie und

belebt die Leiche mit himmlischem Balsam. Jnzwischen nehmen Wäinämöinen |#f0314 : 292|



und Jlmarinen die Werbung um die schöne Maid wieder auf. Wäinämöinen

sucht einen Riesen auf, um von diesem die zur Vollendung eines Schiffes nötige

Zauberformel zu holen, fällt aber in den Mund des schlafenden Riesen. Als

er die Formel erfahren, verläßt er den Leib des Riesen und verabredet mit

Jlmarinen, daß die Maid selbst zwischen ihnen entscheiden solle. Diese wählt

nunmehr den jüngeren Jlmarinen, der ihre drei Aufgaben gelöst hat. Nun

Hochzeit, Heimführung, Empfang in der Heimat Jlmarinens, was sitten= und

kulturgeschichtlich wertvoll ist.



Ahti Lemminkainen ist erzürnt, daß er nicht zur Hochzeit geladen wurde,

weshalb er den Herrn Nordlands tötet und nun auf eine Jnsel entfliehen muß.



Eine Episode handelt von Untamo, der seinen Bruder Kalerwo überfällt

und dessen Gemahlin in Gefangenschaft schleppt, wo diese den Sohn Kullerwo

bekommt, der, dem Schmied Jlmarinen übergeben, dessen Herde hüten muß.

Die Frau giebt diesem zur Zehrung einen in Brot gebackenen Stein. Da

führt er die Herde in Sümpfe, treibt Bären und Löwen zusammen, die Jlmarinens

Gattin zerreißen.



Jlmarinen formt sich nach dem Tode seiner löwenzerrissenen Gattin eine

Gattin aus Gold und Silber; aber ─ weniger glücklich als Pygmalion ─

vermag er ihr kein Leben einzuflößen. Er beschließt mit Wäinämöinen und

Ahti Lemminkainen nach Nordland zu reisen und den Sampo zu rauben,

durch den das Nordland zu Wohlstand gelangt war (also eine Art Argonautenzug).

Unterwegs töten sie einen Hecht, aus dessen Knochen Wäinömöinen eine

Kantele fertigt, auf der er so schön spielt, daß die Herrin Pohjolas und ihre

Krieger in Schlaf versinken. Nun entführt er mit den Seinen den Sampo.

Die Herrin verfolgt ihn; die Kalewahelden müssen kämpfen. Sie siegen. Aber

die Kantele geht dabei zu Grunde; ebenso der Sampo, der in's Meer fällt

und in Stücke bricht, den Reichtum des Meeres und des angrenzenden Kalewa=

Landes (Finnland) begründend, wohin einzelne Stücke getrieben werden.



Neidisch über das Aufblühen Finnlands sendet Pohjolas Herrin Seuchen

dahin, sowie einen Bären, den Wäinämöinen tötet. Nun spielt er wieder auf

einer neu gefertigten Kantele. Mond und Sonne steigen herab, um zu lauschen,

kommen aber dabei in die Gewalt der Herrin des Nordlands, die sie in einen

ehernen Berg sperrt, so daß Finsternis Kalewa umschließt. Wäinämöinen

kommt mit Jlmarinen angezogen, welch letzterer die Werkzeuge zur Sprengung

des ehernen Bergs schmieden soll. Als Pohjolas Herrin dies erfährt, läßt

sie Sonne und Mond frei. Wäinämöinen verläßt bald darauf für immer sein

Land. Er segelt auf kupfernem Boote an den Rand des Horizonts, wo sich

Himmel und Erde berühren. Dort weilt er noch.



Die Kantele und seinen Gesang hat er dem finnischen Volke zurückgelassen.





Freiherr von Tettau-Erfurt, der in seiner Schrift über das Epos Kalewâla

dieses Epos in wissenschaftlicher Weise eingehend betrachtet, nennt es mit Recht

ein großes Verdienst des Schöpfers Lönnrot, die Kalewâla, dieses charakteristischste,

wertvollste Denkmal der Volkslitteratur aller Zeiten vom Untergange gerettet |#f0315 : 293|



zu haben. Aber er ist der Ansicht, daß z. B. die neu hinzugekommenen

10,000 Verse der 2. Ausgabe nicht ebensoviel Verbesserungen seien, und daß

Lönnrot überhaupt nur dasjenige hätte aufnehmen sollen, was den Sampo

betreffe, wodurch dem Epos seine geschlossene Einheit gesichert geblieben wäre.

Für deren Mangel macht er Lönnrot verantwortlich, der die Erzählung von

den Sampokämpfen, die Abenteuer Ahti Lemminkainens und die tragischen

Schicksale Kullerwos als 3 große Stränge neben einander unverbunden herlaufen

lasse und dadurch die Einheit preisgegeben habe.



Jedenfalls ist es berechtigt, die Kalewâla auch als Schilderung jener

Kämpfe bedeutungsvoll zu nennen, welche bei Verdrängung der letzten Reste

der Urbevölkerung Finnlands durch die aus dem Süden eingewanderten tschudischen

Volksstämme sich ereigneten.



Probe aus Kalewâla. (Übers. von A. Schiefner.)



Sechste Rune.

[Beginn Spaltensatz]

Wäinämöinen alt und wahrhaft

Schickt sich an um aufzubrechen

Nach dem Dorfe voller Kälte,

Nach dem nimmerhellen Nordland.

Nahm sein Roß, das strohhalmleichte,

Dies sein erbsenstengelgleiches,

Thut ihm an die goldnen Zügel,

Legt ihm Riemen um voll Schönheit,

Setzt sich selber auf den Rücken

Und beginnt davonzureiten;

Jaget hastig auf dem Wege

Und durchmißt die Bahn geschwinde

Mit dem Roß, dem strohhalmleichten,

Mit dem erbsenstengelgleichen.

Jagte durch Wäinöläs Fluren,

Durch die Flächen Kalewâlas,

Ritt gar rasch mit seinem Rosse,

Jmmer weiter von der Heimat,

Kam schon an des Meeres Rücken,

An die weitgedehnte Öde,

Trocken blieb der Huf des Rosses,

Unbefeuchtet seine Füße.

Doch der junge Joukahainen,

Dieser schwache Lappenjüngling,

Hatte Groll seit langer Zeit her,

War schon lange, lange neidisch

Auf den alten Wäinämöinen,

Auf den ew'gen Zaubersprecher.

Macht zurecht den Feuerbogen,

Schmückt die wunderschöne Wölbung,

Bildet sie aus bestem Eisen,

Gießt das Rückenstück aus Kupfer,

Legt es aus mit gutem Golde,

Läßt's an Silber auch nicht fehlen.

Woher nimmt er wohl die Sehne,

Woher mag den Strang er schaffen?
[Spaltenumbruch]

Aus des Hüsi-Elenns Sehnen,

Aus des Lempo-Flachses Fäden.

Fertig war des Bogens Krümmung,

Fertig waren seine Enden,

Schön von Anblick war der Bogen,

Mußte wohl nicht wenig kosten;

Auf dem Rücken stand ein Rößlein,

An den Ecken lief ein Füllen,

Auf der Wölbung schlief ein Bärlein,

Und ein Hase an der Kerbe.

Schnitzt' sich dann genug der Pfeile,

Dreifach waren sie befiedert,

Drechselte den Schaft aus Eisen,

Macht' die Spitz' aus harz'gem Holze;

War er mit dem Schnitzen fertig,

So befiedert er die Pfeile

Mit der Schwalbe schmalen Federn,

Mit des Sperlings feinen Flügeln.

Härtet dann die fert'gen Pfeile

Und verleihet ihnen Schärfe

Jn dem schwarzen Saft der Schlange,

Jn dem Blute gift'ger Nattern.

Fertig hatte er die Pfeile,

Wohl bespannet seinen Bogen,

Wartete auf Wäinämöinen,

Daß den Wogenfreund er fasse,

Spähet morgens, spähet abends,

Spähet selbst zur Mittagsstunde.

Wartet lang' auf Wäinämöinen,

Wartet lange, wird nicht müde,

Sitzet fleißig an dem Fenster,

Wachet an des Zaunes Ecke,

Horchet an des Weges Ende,

Spähet an dem Ackersaume,

Auf dem Rücken hängt der Köcher,

Jn dem Arm der schöne Bogen.
[Ende Spaltensatz] |#f0316 : 294|



[Beginn Spaltensatz]
Spähet dann noch weiter draußen,

Drüben an dem andern Hause,

An der Feuerspitze Ende,

An der langen Landzung' Biegung,

Dicht am Wasserfall voll Feuer,

An des heil'gen Stromes Strudel.

Einst an einem Tage endlich

Warf er um die Morgenstunde

Gegen Nordwest seine Blicke,

Wandte seinen Kopf zur Sonne,

Sah was Schwarzes auf dem Meere,

Auf den Fluten etwas Blaues:

„Jst das ein Gewölk im Osten,

Jst es etwa Morgendämmrung?“

Nicht war es Gewölk im Osten,

Keineswegs die Morgendämmrung,

Wäinämöinen war's der alte,

Dieser ew'ge Zaubersänger,

Zog dort seinen Weg zum Nordland,

Ritt drauf los zum Düsterlande,

Auf dem Roß, dem strohhalmleichten,

Auf dem erbsenstengelgleichen.

Hastig faßte Joukahainen,

Dieser schwache Lappenjüngling,

Seinen Bogen voller Feuer,

Wendete den wunderschönen

Zum Verderben Wäinämöinens,

Um den Wogenfreund zu töten.

Vorher fragte ihn die Mutter,

Forscht' ihn aus die greise Alte:

„Gegen wen schufst du den Bogen

Und beschlugst du ihn mit Eisen?“

Joukahainen gab zur Antwort,

Redet Worte solcher Weise:

„Schuf den Bogen gegen diesen,

Hab' mit Eisen ihn beschlagen

Zum Verderben Wäinämöinens,

Um den Wogenfreund zu töten,

Wäinämöinen will ich treffen,

Jhn, den ew'gen Zaubersänger,

Durch das Herz und durch die Leber,

Durch das Schulterfleisch ihm schießen.“



Sie verbietet ihm zu schießen,

Nicht erlaubte es die Mutter:

„Schieße nicht auf Wäinämöinen,

Auf den Heldensohn Kalewas,

Wäinö ist von großem Stamme,

Meiner Schwester Sohn, mein

Neffe.“
[Spaltenumbruch]

„Tötest du den Wäinämöinen,

Jhn, den Helden von Kalewa,

Dann ach! schwindet alle Freude,

Schwindet der Gesang von hinnen

Besser ist die Freud' auf Erden,

Schöner der Gesang hier oben,

Als in Unterweltsgefilden,

Jn des Totenreiches Stuben.“

Doch der junge Joukahainen

Dachte nach ein kleines Bischen,

Hielt zurück sich nur ein wenig;

Trieb die eine Hand zum Schießen,

Schien die andre es zu hindern,

An die Sehne dringt der Finger.

Redet endlich noch die Worte,

Läßt sich selber also hören:

„Möge immerhin verschwinden

Alle Freude von der Erde,

Mögen alle Lieder schwinden,

Schießen werd' ich, nichts beachtend.“

Spannte seinen Feuerbogen,

Stützt die kupferreiche Waffe

Auf dem linken seiner Kniee,

Stemmt den rechten seiner Füße,

Nimmt den Pfeil dann aus dem

Köcher,

Holt hervor den federreichen,

Wählte wohl den allergradsten,

Mit dem allerbesten Schafte,

Diesen that er auf den Bogen,

Fügt' er an die Flachsessehne.

Richtet dann den Feuerbogen

An der rechten seiner Schultern,

Stellt sich hin um loszuschießen

Auf den alten Wäinämöinen,

Redet selber diese Worte:

„Geh nun los, du Birkenspitze,

Strecke dich, du Tannenrücken,

Gleite ab, du Flachsessehne;

Wenn die Hand zu niedrig zielet,

Mag der Pfeil sich höher richten,

Zielt die Hand zu sehr nach oben,

Mag der Pfeil nach unten gehen!“

Rasch bewegt er nun den Drücker

Schoß den ersten Pfeil behende,

Viel zu hoch enteilet dieser,

Über seinen Kopf zum Himmel,

Daß die Wolken schier zerbersten,

Er die Lämmerwolken sprenget
u. s. w.[Ende Spaltensatz]



b. Kalewipoeg, das Volksepos der Esten.

Die Sagen

der Esten wurden auf Veranlassung der gelehrten Estnischen Gesellschaft

zu Dorpat aus Volksmunde gesammelt und von Dr. Kreuzwald in |#f0317 : 295|



Verse gebracht, wobei die mitgesammelten lyrischen Gedichte und Sprüche

einfach eingereiht wurden. So ist das Ganze in's trochäische Metrum

gebrachte Prosa, und dürfte in gleicher Linie mit den Reim-Chroniken

des Mittelalters stehen. Jn demselben Metrum wie die Kalewâla

hat Kreuzwald das Ganze in 19,000 trochäischen Versen gegeben,

während er (nach von Tettau) besser gethan haben würde, die Sagen

zu erzählen, wie sie aus dem Munde des Volkes kamen, und die Lyriken

besonders zu geben. Jn der Ursprache erschien das Kalewipoeg (unter

Beifügung einer deutschen Übersetzung von Reinthal und Dr. Bertram)

zu Dorpat 1857─61.



Jnhalt: Der Held ─ Kalewipoeg ─ schwimmt ohne Ermüdung über

den finnischen Busen. Er will den Fingerring einer Jungfrau aus dem Brunnen

holen, bringt aber einen Mühlstein heraus. Mit einem Felsblocke wirft er nach

einem Wolf; seine Finger hinterlassen Spuren, daß ein Mann darin stehen kann.



Wiederholter Besuch in der Unterwelt und Reise zur Aufsuchung des

Endes der Welt u. s. w. Der Held geht unter durch sein eigenes Schwert,

trotz aller Heldenthaten und Verdienste, weil er in seiner Jugend im Rausch

einen Schuldlosen tötete. Jhm ist nun die Bewachung der Pforte der Unterwelt

anvertraut, und seine Schätze warten ─ wie der Nibelungenhort ─ dessen,

der sie heben wird &c.



Das Kalewipoeg ist wertvoll durch seine ethische Tendenz, als Beispiel,

daß kein Frevel unbestraft bleibt, wenn es auch als eigentliches Volksepos

geringeren Wert haben dürfte.



Probe aus dem Kalewipoeg. (Übers. von Kreuzwald.)

(Aus dem 1. Gesang S. 15.)



Hoch im Norden hob ein Hausstand

Sich empor aus Felsentrümmern

Dicht an Taara's Eichenhaine,

Halb versteckt im Waldesdunkel,

Halb begrenzt von offner Fläche.


Hier entsprang ein Knabendreiblatt,

Kräft'ge Brut aus Göttersamen.

Einer wanderte nach Rußland,

Nach dem Norden zog der andre,

Auf den Rücken eines Adlers

Schwang der dritte sich der Brüder.


Der nach Rußland ausgewandert,

Wuchs heran zum tücht'gen Kaufmann

Und geschickten Bortenweber;

Der nach Nordland war gezogen,

Ward ein Krieger, der die Streitaxt

Kräftiglich zu führen wußte.


Der sich auf des Adlers Rücken

Zum Emporflug aufgeschwungen,

Führt' ein vielbewegtes Leben,

Drang nach Süden und nach Osten
|#f0318 : 296|



Vor auf seinem Adlerfluge,

Kreuzte die Gewässer Finnlands

Und durchstrich der Wiek und Wierlands

Unwirtbare Meeresfluten,

Bis sich sein Geschick erfüllte,

Und nach Gottes weiser Fügung

Jhn sein Aar am Felsenstrande

Wierlands unsanft niedersetzte.


Kaum in unser Land getragen,

Maß er seines Reiches Grenzen

Sorgsam aus in weitem Umfang

Und erbaute sich den Wohnsitz,

Wo die Zügel der Regierung

Sich in kräft'ger Hand vereinten.


Mehr berichten unsre Auen,

Mehr auch unsre weiten Moore

Nichts in alten Liedersagen

Über Vater Kalew's Walten,

Als den Anfang seiner Herrschaft.


Wie er um die Braut geworben,

Um als Weib sie heimzuführen,

Davon singt nur eine Sage

Aus den Estendörfern Pleskau's,

Und wir geben, was wir hörten,

Mit den überkommnen Worten.


Jn der Wiek lebt' eine Witwe,

Jugendlich, doch still und einsam,

Wie ein unbewohntes Stübchen,

Wie ein Hüttchen ohne Schirmdach.


Auf der Viehtrift schritt sie Sonntags

Und, wie es sich fügte, sonst auch

Sorgsam selbst der Herde folgend.

Und was fand sie einst am Wege,

Auf der Trift in Rinderspuren,

Auf dem Schaukelplatz des Dorfes?

Fand das Küchlein an dem Wege,

Fand das Birkhuhnei im Huftritt,

Vor dem Dorf die junge Krähe.


Und die Witwe nahm das Küchlein

Und verbarg das Ei im Busen &c.


Schluß des Kalewipoeg. (S. 522.)



Und man setzt' den Kalewiden

Rittlings auf ein weißes Reitroß,

Sandt' ihn auf geheimen Wegen

Zu des Höllenreiches Grenzen,

Um die Thore zu bewachen,

Den Gehörnten zu bedräuen,

Daß aus Banden und aus Fesseln

Der Gesell nicht weichen möge.
|#f0319 : 297|



Als der starke Sohn des Kalew

Zu dem Felsenthor gelangt war

Vor die Thür des Schattenreiches,

Rief von oben eine Stimme:

„Schlage mit der Faust den Felsen!“

Und die schwere Hand erhebend

Schlug er mit der Faust den Felsen,

Daß sie spaltend tief hineindrang:

Und die Rechte blieb gefangen.


Dort auf seinem Rosse reitet

Heute noch der Kalewide

Handgefesselt an dem Felsen,

Und bewacht am Höllenthore,

And'rer Fesseln, selbst gefesselt.


Höllengeister suchen emsig

Doppelt angebranntes Kienholz,

Um die Ketten zu zerbröckeln,

Um die Fesseln zu zerreißen,

Deren Ringe um die Julzeit

Schrumpfen ein zu Härchendicke.

Aber ruft der Hahn im Frührot

Von des alten Vaters Thoren

Um das Julfest anzukünden:

Werden jener Kette Glieder

Alle plötzlich wieder dicker.


Kalew's Sohn versucht die Rechte

Mit Gewalt von Zeit zu Zeiten

Aus der Felsenwand zu reißen,

Und mit Schütteln und mit Rütteln

Macht den Boden er erbeben

Und die Hügel zitternd schwanken,

Und das Meer fängt an zu schäumen;

Doch ihn hält die Hand von Mana:

Daß der Wächter nicht vom Thore,

Der Beschützer nicht entweiche.


Einmal wird die Zeit beginnen,

Wo die Späne von zwei Seiten

Jn gewalt'gen Flammen brennen,

Und die off'nen Gluten schmelzen

Dann die Hand auch von dem Felsen.

Dann kehrt Kalew auf die Erde,

Seinem Volke Glück zu bringen,

Eine neue Zeit der Esten.


c. Das Volks-Epos der Lappen.

Noch freier als Kreuzwald

im Kalewipoeg ist Dr. Bertram in Bearbeitung der vom Pastor

Fjelder in Lappmarken 1850 aus Volksmund aufgezeichneten Sagen

der Lappen zu einem einheitlichen Volks-Epos verfahren, das den

Titel führt: Peivash Parnéh, die Sonnensöhne. (55 Seiten.)



Er bringt Sachen, von denen das Original absolut nichts bietet, wenn

er sich auch dem Ton desselben durch Verschmelzung von Allitteration, Assonanz |#f0320 : 298|



und Reim anzuschließen strebt. Seine Arbeit ist als litterarische Erscheinung

immerhin von Wert, was auch der Ausspruch eines Kritikers beweist: „Es weht

uns aus diesem Gedichte die frische Harzluft der nordischen Wälder entgegen.

Es ist als hörten wir die frischen Wasser des inselreichen Enarasees unter den

Schatten ihrer düsteren Ufertannen rauschen, wie märchenhafte Stimmen der Edda.“



Bertram nennt seine Übersetzung deutsche Variationen über ein lappländisches

Thema. Sie erschien Helsingfors 1872.



Jnhalt: Der Sonnensohn Peiwar hört von der unvergleichlich schönen

Riesenjungfrau Kalla und segelt in seinem Goldschiff zu ihr. Er findet sie

am Strande und gewinnt ihre Liebe. Sie führt ihn zum blinden Riesenvater,

der zur Probe der Stärke Peiwars dessen gekrümmten Finger biegen will. Die

schlaue Kalla befestigt den Schiffsanker am Felsen, dem Vater vorspiegelnd,

dies sei der Finger. Als trotz riesenhafter Anstrengung dieser Finger nicht zu

biegen war, vermählte er die (mehrfach an die kolchische Medea erinnernde) Tochter

Kalla mit Peiwar. Dann trinkt er vom mitgebrachten Met soviel, daß er in

trunkener Lustigkeit singt:



Heira, Heira! Klingangok!

Über Stein und über Stock

Möcht ich stampfen, springen, fliegen.

Met ist Mut und Wein Vergnügen,

Heira, Heira! Klingangok! u. s. w.



Der nun scheidenden Kalla giebt er all' sein Gold, dazu die dreifach

geknotete Wunderschnur, welche nach Lösung der Knoten heftigen Wind zu erzeugen

vermag. Als Kallas Riesenbrüder heimkehrend das Geschehene erfahren,

beschließen sie, die Betrüger zu verfolgen. Der Vater will die Söhne zurückrufen,

wobei er vom Felsen stürzt und ertrinkt. Kalla gewahrt kaum das Boot

der racheschnaubenden Brüder, als sie den ersten Knoten der Wunderschnur

löst. Der Wind erhebt sich. Die Riesen verdoppeln ihre Kraft. Kalla löst

den zweiten Knoten, und zum Platzen prall werden die Segel. Die Riesen

rudern mit rasender Kraft, blutigen Schaum um den Mund. Da löst Kalla

den 3. Knoten. Entsetzlicher Sturm beginnt zu rasen, das Goldschiff bis auf

den Grund schleudernd, als Kalla die Truhe öffnet und Gold und Gabe

opfert. Hell wird's im Osten. Die Verfolger erklettern den Lofodenfelsen, um

nach dem Goldschiff zu spähen. Da steigt der Sonnengott siegreich empor und

zeigt ihnen das Goldschiff. Als sie dem Sonnensohn fluchen und dem Schiff

nachzueilen versuchen, verwandelt sie der zürnende Gott in Stein.



Peiwar wird mit seiner blühenden Gattin in seinem Reiche jubelnd

begrüßt. Seine 3 Sonnensöhne erweisen sich an Wuchs und Weisheit als

Riesen mit festem Blick, wie es Sonnensöhnen geziemt.



Proben aus dem Peivash Parnéh, die Sonnensöhne. (Übers.

von Dr. Bertram.)



Erster Gesang. S. 3.

Eine Kunde ist im Kjölen erklungen,

Eine Sage vom Süden gesungen,

An Felsen und Fjorden gefunden,

Beim Wehen des Westwinds gewunden,
|#f0321 : 299|



Gewonnen aus des Waalmeeres Wogen,

Aus Halmen der Heide gezogen,

Entrissen der rauschenden Welle,

Gehoben aus heimlicher Quelle

Fernen Geschlechtern &c.


Zweiter Gesang. S. 8.

Sieh! vor dem schaukelnden Schiffe

Ragen rauhrötliche Riffe,

Goldig strahlet ein Strand,

Silbern lächelt das Land!

Peiwar zügelt die Wonne,

Es zögert der Sohn der Sonne,

Bis herab Düster und Dunkel steigt,

Freiern günstig geneigt.

Dann naht auf flimmernden Pfaden

Kalewalas Gestaden

Leise das Goldschiff. &c.


S. 11.

Du fragst, was ich suche: So höre:

„Jch suche durststillenden Born,

Zärtliche Zähmung im Zorn,

Jch such einen Freund in der Not,

Treu mir im Leben und Tod,

Jm Glück einen zwingenden Zügel,

Jm Unglück den rettenden Flügel,

Jm Herzenskummer Ersatz,

Jm Elende einen Schatz,

Jn Armut einen Verbleib,

Mit einem Wort:

Jch suche ein Weib! ─ ─ ─ &c.


Dritter Gesang. S. 15.

Rauch ringelt empor und Dampf

Aus graumoosigem Felsgemäuer;

Horchend am Herdesfeuer

Sitzt Kalew, geblendet im Kampf;

Regungslos, ein Riesengebild,

Jn des Eisbärs Zotten gehüllt,

Ein Ungeheuer, anzuschauen

Wie Gram und Grauen.

Er denkt

Des Weibes in Frieden,

Der Heimgegang'nen,

Der Nachtumfang'nen,

Manalamüden,

Die er in's Grab gesenkt

Jn birkborkener Spinde,

Wo zwischen Sand und Rinde

Sie ruht.


Er denkt

Der Riesensöhne;

Ungeheuer wie er,

Die zum Fang in's Meer

Zur Jagd die Jöllen gelenkt,

Jn's wogende Waalmeer. &c.
|#f0322 : 300|



S. 33.

Kaum hat Kalla den Knoten entschlungen

Als dröhnender Donner erklungen;

Bleichblaue Blitze schießen,

Schlossen schauern in Spießen;

Das sind nicht Wellen, feurige Felsen

Scheinen im Meer sich zu wälzen.

Hoch zum Himmel peitscht und zischt,

Schneeflocken gleich, der Schaum und Gischt,

Die Trombe, ein tanzender Turm,

Wälzt sich herbei im wirbelnden Sturm:

Jn der hohlen Mitte hinauf

Jn drohendem, drängendem Lauf

Schraubt empor sich ein Wasserstrahl,

Weißbauchiger Riesenaal;

Und wieder zuckt und züngelt die lange

Schwarzgraue Himmelsschlange.

Und dreht sich dräuend und dick

Um den Aal zum Riesenstrick,

Der urgewaltig,

Grimmgestaltig

Mit Blitzen, Donnern und Toben

Vermählet das Unten und Oben.

Was er ergreift und umschlingt,

Das sinkt

Rettungslos, zerrissen, umwettert,

Zersplittert, zermalmt und zerschmettert.

Es biegt wie Schilf sich der Mast

Von dem Orkane erfaßt.

Er reißt und zerspleißt

Mit grimmem Ergötzen

Die Segel in silberne Fetzen.

Das Goldschiff liegt auf der Seite.

Es hebt sich stöhnend und steigt

Aus dem schaurigen Schlunde &c.


Schluß S. 42.

Also klinget im Kjölen die Kunde,

Und lebt in der Lappmark Munde,

Ob auch längst schon Peiwar nnd Kalla

Wallten empor zur Walhalla.“


§ 115. Gemeinsame Ausgangspunkte oder Vergleichsmomente

sämtlicher Volksepen.



Genaue Kenntnis der Volksepen ermöglicht deren prüfende Betrachtung

hinsichtlich ihrer Verwandtschaft oder Ähnlichkeit. Diese ergiebt

sich hauptsächlich aus folgenden, in die Augen springenden, einer

skizzenhaften Andeutung nicht unwerten Momenten.



1. Die Helden sind mehr oder weniger mit göttlichen Attributen

ausgerüstet.



2. Die weiblichen glänzenden Charaktere spielen eine große Rolle

und tragen wesentlich zur Herbeiführung der Katastrophe bei.

|#f0323 : 301|



3. Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung.



4. Die Volksepen tragen der religiösen Anschauung des Volks

und ihrer Zeit Rechnung.



5. Die Volksepen gleichen sich hinsichtlich ihrer Mythologie.



1. (Die Helden sind mit göttlichen Attributen ausgerüstet.)

Die ihr Schicksal selbst entscheidenden Helden der Volksepen vertreten meist die

Stelle der Götter; sie sind Halbgötter, oder (wie Râma) Gottmenschen, die

gegen die unbestimmten Mächte ankämpfen und unmöglich Scheinendes leisten.



Jm Mahâbhârata ist es der junge Held Korna (in der Episode Nal

und Damajanti Nal, in Hidimba Bhima, in Sawitri Satiawan), im

Râmâjana Râma, im Homerschen Epos Achilles, bei den Nibelungen Siegfried,

im Kalewâla Wäinämöinen &c., die alle von wunderbarer Kraft und

Kühnheit sind. Korna erhält vom Sonnengott einen undurchdringlichen Panzer,

Achilles wird durch Eintauchen in den Styx bis auf die Ferse, Siegfried durch

das Blut des Drachen Fafnir bis auf eine Stelle zwischen den Schultern unverwundbar;

Nal kann den Flammen trotzen u. s. w. Achilles zeichnet sich durch

heroische Tapferkeit vor den Sterblichen aus, Odysseus durch geistige Fähigkeiten,

Siegfried durch Heldenhaftigkeit und Gemüt, Wäinämöinen durch himmlisches

Spiel &c.



Nur durch eigene Schuld konnten solche göttliche Helden der Volksepen

ihren Untergang einleiten: Achilles durch Verbindung mit Polyxena, Siegfried

mit Kriemhilde und den Nibelungen &c.



2. (Weibliche Charaktere von großem Glanze spielen in den

Volksepen eine große Rolle.
)



Jn der Odyssee sichert Penelope demjenigen ihre Hand zu, der den

Bogen ihres Gemahls zu spannen und ein gewisses Ziel zu treffen vermöge.

Ähnlich handelt Draupadi im Mahâbhârata, die zur Bedingung die Handhabung

des Bogens ihres Vaters macht.



Jn den Episoden des Mahâbhârata sind es Damajanti, Hidimba, Sawitri,

welche die Konflikte herbeiführen. Jm Râmâjana ist es Sita, die,

vom Riesenkönig Ravana nach Ceylon entführt, von Râma zurückerobert wird.

Jn der Jlias ist es Helena, welche den Zug veranlaßt. Jm Kalewâla=Epos

ist es die Tochter der Pohjola-Herrin, welche die Helden herbeizieht. Jm Kalewipoeg

ist es eine Jungfrau, durch deren Fingerring sich der Held zur Handlung

bestimmen läßt. u. s. w.



3. (Die Volksepen gleichen sich in Anlage und Ausführung.)

Wenn auch das Homersche Epos in vieler Beziehung unerreicht dastehen dürfte,

so gleichen ihm doch die übrigen Volksepen durch ihre wunderbare Schönheit

der Darstellung, durch ihren Reichtum des Farbenwechsels, durch ihre mit dem

Großartigen verbundene Anmut, durch die Kühnheit der Charakterzeichnung,

durch ihre eigenartige Ausführung.



4. (Die Dichter der Volksepen tragen mehr oder weniger den

religiösen Anschauungen ihrer Zeit Rechnung.
) Der Grieche und der

Jnder glaubten an den Verkehr mit den Göttern so fest, wie viele Leute in |#f0324 : 302|



neuer Zeit noch ans Erscheinen der heiligen Jungfrau glauben, oder wie das

alte Testament den Glauben an den Verkehr Gottes und der Engel mit den

Menschen voraussetzt. Man fand es begreiflich, daß im Mahâbhârata, wie bei

Homer und in der Kalewâla, die Götter eingriffen und das außerhalb menschlicher

Kraft Liegende helfend besorgten.



5. (Verwandtschaft der Mythologie.) Die Mythologie der

Völker entspricht sich in vielen Stücken. Besonders ist dies bei der griechischen

und indischen in bezug auf innern Reichtum der Fall. Die ältere indische

Mythologie ist so üppig und prachtvoll als die griechische; die Wohnung des

Jndra ist sogar noch glänzender und reicher, als die des Zeus, wenn man

auch bei den indischen Göttern nicht jene Jdeale menschlicher Form suchen darf,

welche die griechische Mythologie bietet. Jch habe in meiner Arja (S. 494)

eine Vergleichung der altindischen Götter mit den griechischen herzustellen gesucht

und die Musen des Helikon mit denen des Berges Meru zusammengehalten.

Es muß den Laien in Erstaunen setzen, daß Venus wie Lackschmi aus dem

Schaume des Meeres hervorgingen, ja, daß diese beide Göttinnen, wie auch

Zeus und Jndra, Apollo und Krischna, Bacchus und Soma, Amor und

Kama &c. unendlich viel miteinander gemein haben u. s. w.



§ 116. Die Kunstepen.



1. Das Kunstepos ist nicht (wie das Volksepos) die That und

der naturgemäße, unmittelbare Ausdruck des dichterischen Volksbewußtseins,

sondern das nach einem bestimmten Plan ausgeführte, absichtsvolle

Werk eines einzelnen Dichters, das Produkt seiner Bildung, seiner

Subjektivität, seiner Phantasie



2. Das alte Kunstepos ist meist nur Bearbeitungs- oder Nachahmungs=Epos.

Der Dichter mußte auch hier seinen Stoff künstlerisch

durchdringen; er mußte Wesen und Erscheinung vereinen und die Anschauungsweise

seines Stoffes unverletzt bewahren.



3. Schiller definiert den Begriff des modernen Kunstepos nach dem

Muster der Jliade.



4. Nur wenige Kunstepen der Neuzeit entsprechen den Schillerschen

Anschauungen.



1. Die erste Blüte des Kunstepos fällt in die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts,

also in dieselbe Zeit, in welcher unsere deutschen Nationalepen zur

Bedeutung gelangten. Da das älteste deutsche Kunstepos von den höfischen

Dichtern herrührt, so nannte man es nach diesen Verfassern das höfische

Epos.
Jm Gegensatz zum romantischen Epos des 19. Jahrhunderts kann

man es wohl auch als das altromantische Epos bezeichnen. Der Stoff

desselben war nicht mehr der altdeutschen Heldensage entnommen, sondern er

war meistenteils dem romanischen Sagenkreise (Karls des Großen, ferner der

Gral- und der Artussage) entlehnt.

|#f0325 : 303|



Das Kunstepos strebte nach künstlicherem Ausdruck und liebte an Stelle

der schönen Nibelungenstrophe kurze Reimpaare. Da ihm nach Jnhalt und

Form von vornherein die nationale Bedeutung des älteren objektiven Volksepos

der früheren Zeit mit seinem naiven Glauben an die Macht der

Götter mangelte, so stellte man es dem Volksepos als das künstlerische Epos

(Kunstepos) gegenüber. Diese Gegenüberstellung darf jedoch nicht etwa auf

den Gedanken bringen, daß das Kunstepos sich dem Werte nach zum Volksepos

verhalte, wie etwa Kunstpoesie zur Volkspoesie. Vielmehr überragt z. B.

das Nibelungenepos die sämtlichen altromantischen Kunstepen im verständnisvollen

vorbildlichen Aufbau.



2. Das Kunstepos als Bearbeitungs- oder Nachahmungs-Epos wurde

sofort fehlerhaft, wo der Dichter lediglich nachahmte, ohne seinen Stoff künstlerisch

so zu durchdringen, daß Wesen und Erscheinung sich deckten und die Anschauungsweise

des Stoffes unverletzt blieb. Vergil in seiner dem klassischen

Epos nachgeahmten Äneide fehlte, weil er eine Sage aus der heroischen Zeit

nahm und ihr eine der Anschauungsweise des Stoffes fremdartige kaiserlichrömische

Ausführung gab. Römisch moderne Figuren paßten eben nicht für

diesen Stoff. Die bewunderte Scene von Nisus und Euryalus, mit der

nächtlichen Spähe des Odysseus und Diomedes Homers verglichen, zeigt daher

eine falsche Nachahmung.



Klopstock mit seinen Schutzengeln hat ebenso gefehlt, als diejenigen, welche

nach Homers Vorgang die Leitung der Götter als zum Wesen des Kunstepos

gehörig betrachten wollten. Das Kunstepos der Neuzeit verlangt eine unseren

Anschauungen entsprechende Maschinerie.



Hätten Dichter wie Hartmann von der Aue, Gottfried von Straßburg,

Wolfram von Eschenbach weniger das Fremde nachgeahmt, so würden ihre

Kunstepen volkstümlicher geworden sein. So entstand nur das immerhin ansprechende

höfische Epos mit seinen paarweise vereinten Versen von 4 Hebungen;

es übersetzte fremde Stoffe, wobei durch die damalige Pflege des Minnesangs

meist die Minne das treibende Agens des Kunstepos wurde, oder in der Luft

schwebende lyrische Tiraden den reinen epischen Stil durchsetzten und die Verbindung

mit dem objektiven Volksepos erschwerten.



3. Schiller hatte die Absicht, für unsere Zeit ein großes Epos zu schaffen,

das, aus dem Geist dieser Zeit herausgeschrieben, diesen für alle Zukunft ebenso

wiederspiegelte, wie die Jlias und Odyssee den Geist ihrer Zeit, das also

ein modern künstlerisches Volksepos zu sein imstande wäre.

Schiller trug sich mit dem Gedanken, zum Helden eines solchen Epos Friedrich

den Großen zu nehmen, nur ─ meinte er ─ komme ihm die Jdee für sechs

bis acht Jahre zu früh. Sein Ausspruch ist bezeichnend für den Begriff des

modernen historischen Kunstepos. Er sagt: „Alle Schwierigkeiten, die von der

Modernität dieses Sujets entstehen, und die anscheinende Unverträglichkeit des

epischen Tons mit einem gleichzeitigen Gegenstande würden mich so sehr nicht

schrecken. Ein episches Gedicht im 18. Jahrhundert muß ein ganz anderes

Ding sein, als eines in der Kindheit der Welt. Und eben das ist's, was |#f0326 : 304|



mich an dieser Jdee so anzieht. Unsere Sitten, der feinste Duft unserer Philosophien,

unsere Verfassungen, Häuslichkeit, Künste, kurz alles muß auf eine

ungezwungne Art darin niedergelegt werden und in einer schönen harmonischen

Freiheit leben, sowie in der Jliade alle Zweige der griechischen

Kultur u. s. w. anschaulich leben. Jch bin auch gar nicht abgeneigt, mir

eine Maschinerie dazu zu erfinden, denn ich möchte auch alle Forderungen, die

man an den epischen Dichter von Seiten der Form macht, haarscharf erfüllen.

Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoff, in einem so prosaischen

Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Jnteresse

in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt

wird. Es rollen allerlei Jdeen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander,

aber es wird sich noch etwas helles daraus bilden.



Welches Metrum ich dazu wählen würde? Kein anderes, als ottave

rime
. (Vgl. I S. 551.) Auch über die Epoche aus Friedrichs Leben, die

ich wählen würde, habe ich nachgedacht. Jch hätte gerne eine unglückliche Situation,

welche seinen Geist unendlich poetischer entwickeln läßt. Die Haupthandlung

müßte womöglich sehr einfach und wenig verwickelt sein, daß das

Ganze immer leicht zu übersehen bliebe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig

wären. Jch würde darum immer sein ganzes Leben und sein Jahrhundert

darin anschauen lassen. Es giebt hier kein besseres Muster als die

Jliade“ u. s. w.



4. Seit Begründung des höfischen Kunstepos entstanden nur wenig Kunstepen,

welche der Anforderung Schillers genügen. Jch nenne besonders Jordans

Nibelungen, ferner in gewissem Sinne Das Mädchen von Capri von J. Grosse,

Die Braut von Cypern von Paul Heyse, Die Völkerwanderung von H. Lingg,

Ahasver von Hamerling &c.



§ 117. Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos.



Wir führen nachstehend die sämtlichen Kunstepen bis in die Gegenwart

je nach den in ihnen vorherrschenden Elementen vor. Als charakteristische

Gruppen oder Gattungen des Kunstepos treten hervor:

1. das altromantische oder höfische Epos, 2. das neuromantische, 3. das

religiöse, 4. das idyllische, 5. das historische, 6. das komische und das

humoristische Epos, 7. das Tierepos.



§ 118. Altromantisches oder höfisches Epos.



1. Das altromantische oder höfische Epos ist das Vorbild des

neuromantischen. (§ 120 d. Bds.) Es wurde auf Ritterburgen und

an den Höfen kunstliebender Fürsten gepflegt.



2. Sein Stoff war den 3 Sagenkreisen von Karl dem Großen,

von Artus und vom h. Gral entlehnt (I S. 45). Daher war es |#f0327 : 305|



auch vom Geist der Romantik erfüllt; daher blieb es bis in die Gegenwart

beliebt.



3. Seine Maschinerie unterschied sich von der im Volksepos dadurch,

daß mythische Mächte die Rolle der Götter vertreten.



4. Die Bezeichnung höfisches Epos (hövesch oder hovelich) sollte

einen Gegensatz zum dörflichen (dörpeclichen) Volksgesang ergeben.

Häufiger nannte man diese Epen im Gegensatz zu unseren Mären die

Aventüren und ihren Helden der aventure herre. Später ging man

weiter und bezeichnete auch die einzelnen Abschnitte eines altromantischen

Epos als Aventiuren; sogar die Quellen, aus welchen der Dichter

schöpfte, belegte man mit diesem Namen.



5. Vielfach wurde die Aventura personificiert.



1. Das höfische oder altromantische Epos hat mit dem neuromantischen

gemein, daß bei ihm ─ wie bei diesem ─ das Wunderbare, Feenartige,

Romantische vorherrscht (vgl. S. 6 d. Bds., sowie I. S. 58. 88), daß es

seinen Stoff aus der Rittergeschichte des Mittelalters, aus der sog. romantischen

Zeit nimmt, Abenteuerliches erzählt &c.



2. Kühne Begeisterung für romantisch ritterliche Thaten, schwärmerische

Liebe zu Gott, Christus und der Jungfrau Maria, also positiv christlicher

Hintergrund, ─ ferner warme Liebe zum Übersinnlichen, die das Romantische

in's Reich der Sinne zog, endlich innig sinnige Schwärmerei für das sinnlich

Schöne, für die Dame des Herzens: dies war Jnhalt, Grundzug und Geist

der altromantischen Epen.



Wie der heranwachsende Knabe das Ammenmärchen nicht mehr für bare

Münze hinnimmt, sich aber trotzdem an demselben labt, so erfreut man sich

auch heute noch an den Wundergebilden der Romantik und des Aberglaubens,

ohne sie für Thatsachen hinzunehmen. Das dem Gefühl sich überlassende,

den Verstand aber fliehende Zauberhafte hüllt sich gern in ein magisches Dunkel

und versetzt sich daher in möglichst fremde Gebiete. Jn die romantischen Epen

ragt daher das Morgenland hinein.



3. Die Maschinerie, welche beim Heldenepos durch die mitwirkenden Götter

der Heldenzeit gebildet wird, vertreten im romantischen Epos Engel und Teufel,

Zauberer, Feen, Elfen, Riesen und Zwerge u. s. w.



4. Man nennt altromantische Epen auch solche, welche ihrem Wesen und

Stoffe nach von den Jtalienern, Portugiesen und Franzosen (d. h. von den

romanischen Völkern) herrühren.



Die Bezeichnung Aventüre (ital. avventura, prov. aventura, franz.

aventure, mittelh. âventiure, mittellat. a-d-ventura == Ereignis, Bericht,

Geschichte, Gedicht) ist herzuleiten vom mittellat. advenire == klass. evenire

sich zutragen (vgl. das franz. Sprichwort: fais ce que tu dois, advienne

que pourra
), daher Aventura == das Geschick, das sich Ereignende.



5. Jm Provençalischen galt die Aventura als Göttin (glücksgöttin, Fortuna).

Auch der mittelh. Dichter personificierte die Aventiure. Die Frau Aventiure, die

bei Hans Sachs Abenteuer bedeutet, wird zur schönen Jungfrau, welche einen |#f0328 : 306|



Stab und einen unsichtbar machenden Ring trägt und durch die Welt reist,

deren Lauf zu erforschen. Bei jedem Dichter klopft sie Einlaß erbittend an,

sie unterhält sich mit ihm, bescheidet ihn, prüft und erleuchtet seine Begebenheiten

und wird so des Dichters Muse. (Vgl. J. Grimm, Frau Aventiure,

Kl. Schriften 1. 84.)



§ 119. Vorführung der altromantischen Epen.



Folgende Kunstepen werden als die höfischen oder altromantischen

bezeichnet: I. Parzival, von Wolfram von Eschenbach; II. Tristan und

Jsolde, von Gottfried von Straßburg; III. Jwein, von Hartmann von

Aue; IV. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad (aus dem Französischen

übersetzt); dazu kommt V. Der rasende Roland (Orlando furioso),

von Ariosto aus dem Jtalienischen übersetzt.



I. Parzival.

Diese großartige Dichtung des tiefsinnigsten, bedeutendsten

Dichters des Mittelalters Wolfram von Eschenbach, der

um 1200 in der Glanzperiode der Hohenstaufen auf der Wartburg

am Hofe Hermanns von Thüringen lebte, ist unstreitig sein Hauptwerk,

ja, das schönste romantische Epos, das wie kein anderes in eine ideale

Gemütswelt versetzt.



Jnhalt: Gahmuret, ein Abenteurer aus dem königlichen Geschlechte

Anschau (Anjou), will nicht Jngesinde seines erstgeborenen Bruders sein; er

wandert von Land zu Land, wird nach dem belagerten Patelamnut verschlagen,

das er entsetzt, worauf er die Mohrenkönigin Belakane heiratet. Er verläßt

sie unter Zurücklassung eines Geschlechtsregisters für den später geborenen,

gefleckten Sohn Feirefiß und gewinnt durch ein Turnier als Preis Titurels

Enkelin Herzeleide, die jungfräuliche Witwe. Bald fällt er in der Schlacht, und

Herzeleide erzieht ihren Sohn Parzival in der Wald-Einsamkeit. Als Parzival

erwachsen ist, beschließt er, auf Abenteuer auszuziehen, um Gott zu dienen und

den schwarzen Höllenwirt zu bekämpfen. Die Mutter legt ihm ein Narrengewand

an, um ihn lächerlich zu machen, und ihn so zurückzuhalten. Sie

sinkt tot zu Boden, nachdem er sie dennoch verlassen hat. Er gelangt an den

Hof des Königs Artus, besteht Abenteuer, bemächtigt sich der Rüstung eines

von ihm Erlegten, rettet die schöne Königin Kondwiramur von ihren Freiern

und vermählt sich mit ihr. Von Sehnsucht nach seiner Mutter erfaßt, verläßt

er die Gemahlin und gelangt zur Gralsburg auf dem Berg Montsalwäsche,

wo der alte König Titurel war.



Da er das Fragen unterläßt, ─ an welches die Heilung des kranken

Königs Anfortas, seines Oheims, wie sein eigenes Königtum gebunden war,

(denn niemand erlangt das Heil, der nicht nach demselben fragt) ─ verscherzt er

die Krone des heiligen Gral. Die Urenkelin Titurels, Sigune, sagt ihm, wo

er sich befindet und was er verscherzt habe. Gawan, der nach ihm gesandte

Ritter von Artus' Tafelrunde, reißt ihn aus seiner Verzweiflung. Als er von

Artus eben unter die Ritter der Tafelrunde aufgenommen werden soll, flucht |#f0329 : 307|



ihm die grausenhafte, zauberische Gralsbotin Kondrie la Sorziere. Da entsagt

er der Tafelrunde und irrt umher, bis er zum Einsiedler Trevrezent, seinem

Onkel, gelangt, bei dem er Absolution erhält. Artus nimmt ihn in die Tafelrunde

auf. Er kämpft mit seinem Bruder Feirefiß, erkennt ihn und kommt

mit ihm zu Artus. Da verkündigt Kondrie, daß er zum König des Grals

ernannt worden sei. Seine Gemahlin Kondwiramur vereint sich wieder mit

ihm und er bestimmt seinen Sohn Loherangrin (Lohengrin) zum Nachfolger

im Königtum des Gral. Der Gang des Epos ist: „Parzival im Naturzustande;

sein Weltleben; Ahnung des Göttlichen; Zweifel und Kampf mit demselben;

Demütigung, Läuterung, Sieg durch Gottvertrauen und ritterliches Leben.“



Probe aus Parzival, von Wolfram von Eschenbach.

Aus der XVI. Aventiure.


[Beginn Spaltensatz]Ausgabe von Karl Lachmann.

(Berlin 1833. S. 375.)


Alweinde Parzivâl dô sprach

‘saget mir wâ der grâl hie lige.

op diu gotes güete an mir gesige,

des wirt wol innen disiu schar.'

sin venje er viel des endes dar

drîstunt zêrn der Trinitât:

er warp daz müese werden rât

des trûrgen mannes herzesêr.

er riht sich ûf und sprach dô mêr

‘oheim, waz wirret dier?'

der durch sant Silvestern einen stier

Von tôde lebendec dan hiez gên,

unt der Lazarum bat ûf stên,

der selbe half daz Anfortas

wart gesunt unt wol genas.

swaz der Franzoys heizt flôrî,

der glast kom sinem velle bî.

Parzivâls schoen was nu ein wint,

und Absalôn Dâvides kint,

von Ascalûn Vergulaht,

und al den schoene was geslaht,

unt des man Gahmurete jach

dô mann în zogen sach

ze Kanvoleiz sô wünneclich,

ir decheins schoen was der gelîch,

die Anfortas ûz siecheit truoc.

got noch künste kan genuoc.


da ergienc dô dehein ander wal,

wan die diu schrift ame grâl

hete ze hêrren in benant:

Parzivâl wart schiere bekant

ze künige unt ze hêrren dâ.

ich waene iemen anderswâ

funde zwêne als riche man,

ob ich rîcheit prüeven kan,

als Parzivâl unt Feirefîz.

man bôt vil dienstlîchen vlîz

dem wirte unt sîme gaste.

ine weiz wie mange raste

Condwîr âmûrs dô was geriten

gein Munsalvaesch mit freude siten.

Si hete die wârheit ê vernomen:

solch botschaft was nâh ir komen,

daz wendec waere ir klagendiu nôt.

der herzoge kyôt

und anders manec werder man

heten si gefüeret dan
[Spaltenumbruch]

Übersetzt von Simrock.

(Stuttgart 1876. S. 295.)


Parzival mit Weinen sprach:

„Sagt mir wo der Gral hier liege.

Ob Gottes Gnade an mir siege,

Des werdet ihr wohl inne werden.“

Da warf er betend sich zur Erden

Dreimal zur Dreifaltigkeit,

Daß des traurgen Mannes Leid

Jetzt ein Ende möcht empfahn.

Der Held stand auf und sprach alsdann:

„Oheim, was fehlet dir?“

Der für St. Silvestern einen Stier

Vom Tode lebend wandeln hieß,

Der Lazarum erstehen ließ,

Derselbe half, daß Anfortas

Alsbald zu vollem Heil genas:

Was der Franzose nennt Florie,

Den Glanz er seiner Haut verlieh.

Parzivals Schönheit war nun Wind,

Und Absalons, Davidens Kind,

So aller, die wie Vergulacht

Die Schönheit erblich hergebracht,

Auch Gachmuretens Schönheitspreis,

Als er dort zu Kanvoleis

Einzug hielt so wonniglich ─

All ihre Schönheit dieser wich,

Die Anfortas aus Siechheit trug.

Gott kann der Künste noch genug.


Da braucht' es weiter keine Wahl:

Durch die Schrift an dem Gral

War ihnen schon ein Herr benannt.

Parzival ward anerkannt

Als König und Gebieter dort.

Man fände wohl an anderm Ort

So leicht nicht zwei so reiche Männer

(Von Reichtum bin ich zwar kein Kenner),

Als Parzival und Feirefiß.

Zu Dienst sich Männiglich befliß

Dem Wirt und seinem Gast zumal.

Jch weiß nicht der Rasten Zahl,

Die Kondwiramur geritten kam

Gen Monsalväsch wohl ohne Gram.

Sie hatte alles schon vernommen:

Jhr war die Botschaft gekommen,

Ein Ende hätt' all ihre Not.

Von dem Herzogen Kiot

Und noch manchem werten Degen

War sie auf waldgen Wegen
[Ende Spaltensatz] |#f0330 : 308|



[Beginn Spaltensatz]
ze Terre de salvaesche in den walt,

dâ mit der tjoste wart gevalt

Segramors unt dâ der suê

mit bluote sich ir glîcht ê.

dâ solte Parzivâl si holn:

die reise er gerne mohte doln.


disiu maer sagt im ein templeis,

‘manec rîter kurteis

die küngin hânt mit zühten brâht.'

Parzivâl was sô bedâht,

er nam ein teil des grâles schar

und reit für Trevrizenden dar.

des herze wart der maere vrô,

daz Anfortases dinc alsô

stuont daz er der tjost niht starp

unt im diu vrâge ruowe erwarp.

dô sprach er ‘got vil tougen hât.

wer gesaz ie an sînen rât,

ode wer weiz ende sîner kraft?

al die engel mit ir geselleschaft

bevindentz nimmer an den ort.

got ist mensch unt sîns vater wort,

got ist vater unde suon,

sin geist mac grôze helfe tuon.'

Trevrizent ze Parzivâle sprach

‘groezer wunder selten ie geschach,

sit ir ab got erzürnet hât

daz sîn endelôsin Trinitât

iwers willen werhaft worden ist.'
[Spaltenumbruch]

Gen Monsalväsch geführt, bis dort

Wo Segramors, ihr kennt den Ort,

Aus dem Sattel war gewichen,

Und ihr der blutge Schnee geglichen.

Da sollte Parzival sie finden:

Des mocht er gern sich unterwinden.


Ein Templer bracht ihm jetzo Märe:

Mit der Königin gekommen wäre

Höfscher Ritter große Zahl.

Nicht lang besinnt sich Parzival:

Mit Eingen von des Grales Heer

Zu Trevrezenten reitet er.

Den Klausner freute herzlich, daß

Es also stund um Anfortas,

Daß er von jener Tjost nicht starb

Und ihm die Frage Heil erwarb.

„Gottes Kraft ist unermessen!

Wer hat in seinem Rat gesessen?

Wer weiß ein Ende seiner Macht?

Zu Ende wird es nie gedacht

Von allen Himmelschören dort.

Gott ist Mensch und seines Vaters Wort.

Gott ist Vater und Sohn zugleich,

Sein Geist ist aller Hilfe reich.“

Zu Parzival begann er da:

„Ein Wunder ists wie nie geschah,

Da ihr mit Zorn zum Himmel saht

Daß sein dreieinig ewger Rat

Euer Trachten ließ gelingen &c.“
[Ende Spaltensatz]



II. Tristan und Jsolt.

Dieses bedeutende Epos Gottfrieds

von Straßburg (um 1210 verfaßt), führt uns die Freuden der Sinnlichkeit

und des irdischen Lebens mit allen seinen Schwächen und Thorheiten

vor, ist also der diametrale Gegensatz des Parzival. Reinhold

Bechstein hat eine treffliche Ausgabe Tristans (Leipzig 1869) veranlaßt.





(Vgl. mein Buch „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ S. 423. Wien,

Braumüller 1877, wo ich S. 372─383 auch das früher unbekannte Rückertsche

Bruchstück in der Neuen Titurel-Strophe bieten konnte.)



Jnhalt: Tristan, der Sohn eines Verführers, kennt seine frühzeitig

gestorbenen Eltern nicht. Er übt sich in allen ritterlichen Künsten und im Saitenspiel.

Von einem Kaufmann wird er seiner Schönheit wegen entführt, dann

an der Küste von Kornwallis ausgesetzt, wo sein Onkel Marke herrscht. Hier

wird er zum Ritter geschlagen. Er befreit das Land von einem Tribut an

Jrland, wird aber von einem vergifteten Pfeil getroffen. Nur die zauberkundige

Königin Jrlands kann ihn heilen. Da läßt er sich, als Spielmann verkleidet,

am Strand aussetzen, erlangt Zutritt bei ihr, wird geheilt und erteilt der

Königstochter Jsolde Unterricht. Sein Onkel Marke entbrennt in Liebe zu Jsolde.

Tristan macht den Brautwerber. Er erhält Jsolde, deren Mutter heimlich der

Nichte Brangäne einen die Kraft besitzenden Trank giebt, in Marke Liebe für

Jsolde zu erwecken. Unterwegs trinken aber Tristan und Jsolde unbewußt

den Trank und entbrennen nun in glühender Liebe zu einander. Jsolde

wird zwar Markes Gattin; aber sie täuscht den Gemahl, bis dieser sie mit

Tristan verstößt. Nach wiederholten Versicherungen der Treue ruft er Jsolde

zurück.

|#f0331 : 309|



Tristan lernt auf seinen Jrrfahrten eine andere Jsolde kennen, Jsolde

Weißhand, die er liebt und die ihn die erste vergessen macht.



Hier bricht das Gedicht Gottfrieds ab. Die späteren Fortsetzer lassen

Tristan diese Jsolde heiraten, ohne daß er sie liebt, so daß beide ohne Annäherung

unglücklich neben einander gehen. Simrock führt diesen Schluß herbei: Tristan

und Jsoldens Tod durch der verschmähten Gattin Rache.



Probe aus Tristan und Jsolt. (Bearbeitung von W. Hertz.

Stuttg. 1877.)



Tristan am Hofe.



S. 85.

So war denn, wie die Märe spricht,

Tristan zu Haus und wußt' es nicht.

Er wähnte fremd sich und allein,

Und der sein Vater sollte sein,

Dem dient' er nun als seinem Herrn.

Der war sein froh und sah ihn gern ─

Denn ihn zog auch sein Herz mit Macht ─

Und ließ ihn nirgends außer acht.

Getreu zu allen Zeiten

Ging Tristan ihm zur Seiten

Und bot sich ihm zu Diensten an,

Wo er Gelegenheit gewann.

Das nahm der König freundlich hin;

Er trug dem Knaben holden Sinn.

Es that ihm wohl, wenn er ihn sah.

Ein lieber Dienstmann wurde da

Tristan am Hof von Tintajol.

All das Gesinde hielt ihn wohl

Und bot ihm gern Geselligkeit.

Auch war er selbst so dienstbereit,

So freundlich gegen arm und reich:

Ja, hätte er sie alle gleich

Auf seinen Händen sollen tragen,

Er hätt' es keinem abgeschlagen,

Das war ihm so von Gott gegeben:

Er konnt' und wollte allen leben,

Lachen, tanzen, singen,

Reiten, laufen, springen,

Bald lärmend und bald leise, ─

Er stimmt' in jede Weise.

Eines Tages nun geschah's,

Daß Marke nach dem Mahle saß,

Zur Zeit, wo man auf Kurzweil denkt,

Und horchte ganz in sich versenkt

Auf einen Harfner, der im Land

War als der beste weitbekannt;

Derselbe war ein wälischer Mann.

Jndes kam Tristan auch heran

Und saß zu seinen Füßen hin.

Er achtete mit feinem Sinn

Des Liedes und der süßen Noten,

Und wär's beim Leben ihm geboten,
|#f0332 : 310|



Hier galt es kein Verstellen.

Sein Herz begann zu schwellen;

Jhn riß dahin sein freud'ger Mut:

Meister, traun, Jhr harfet gut!

Jhr habt die Noten recht gebracht,

So innig ganz, wie sie erdacht,

Wie sie bretonsche Zungen

Von Herrn Gurun gesungen

Und seiner Herzenskönigin. ─

Der Harfner horchte nach ihm hin;

Doch schwieg er still und harfte fort,

Als hört' er nicht des Knaben Wort,

Bis er sein Spiel vollbracht in Ruh.

Dann wandt' er sich dem Knaben zu:

Wie weißt du, sprach er, liebes Kind,

Von wannen diese Noten sind?

Verstehst du was vom Saitenspiel? ─

Ja, edler Meister, doch nicht viel.

Einst hatt' ich größre Meisterschaft,

Nun blieb mir so geringe Kraft,

Daß ich vor Euch zu zaghaft bin. ─

Nein, Freund, nimm diese Harfe hin,

Sprach der Waliser, zeig uns an,

Was man in deinem Lande kann! ─

Wollt, Meister, Jhr darauf bestehn,

Und soll's mit Eurer Huld geschehn,

Daß ich Euch harfe? sprach Tristan; ─

Ja, Trautgeselle, hier! Fang an! ─

Wie stand die Harfe, die er nahm,

Seinen Händen wundersam!

Die waren, hört' ich, schön und fein,

Daß sie nicht schöner konnten sein,

Weich und linde, zart und schlank

Und wie ein Hermelin so blank.

Sie glitten prüfend zum Beginn

Durch die Harfensaiten hin;

Das klang so wunderhell und rein.

Jhm fielen liebe Weisen ein,

Die Lieder vom Bretonerland u. s. w.

Da Tristan so die Saiten schlug,

Saß Marke still auf alles achtend,

Erstaunt den jungen Freund betrachtend,

Der zu verhehlen sich beflissen

Solch schöne Kunst, solch edles Wissen u. s. w.


S. 88.

Er ließ so sicher durch die Saiten

Die weißen Finger wogend gleiten;

Er ließ die Töne quellen

Und immer mächtiger schwellen:

Schon füllt der Klang das ganze Haus,

Das war nicht bloß ein Ohrenschmaus:

Auch aller Augen merkten auf

Und folgten seiner Finger Lauf u. s. f.


S. 90.

Tristan, komm her! rief Marke nun,

Wer dich das hat gelehret,

Der sei vor Gott geehret
|#f0333 : 311|



Und du mit ihm! Welch schöne Lieder!

Wie gerne lauscht' ich ihnen wieder

Manchesmal zu nächtger Frist,

Wenn's noch zu früh zum Schlafen ist!

Nicht wahr, das thust du mir und dir? ─

Ja, gerne Herr! u. s. f.


S. 93.

Der Heimatlose wurde so

Am Hof ein traut Gesinde. u. s. f.


(Der Schluß dieses Gesangs lautet:)



Doch hiemit sei es nun genug:

Wir legen diese Märe nieder

Und kehren zu dem Marschall wieder,

Wie sich sein treu Gemüte

Um den Verlornen mühte.


III. Jwein.

Jwein oder der Ritter mit dem Löwen ist der Held

einer dem Artus-Sagenkreis angehörigen Erzählung, aus welcher

Chretiens de Troies Dichtung „Chevalier au lion“ vor 1190 hervorging,

welch' letzterer Hartmann von Aue den rohen Stoff zu seinem

frei bearbeiteten, jedenfalls schon vor 1205 bekannt gewesenen Epos

Jwein entlehnte, auf welches Wolfram von Eschenbach im Parzival

253, 10 und 583, 29 anspielt. Die Grundidee der Hartmannschen

Dichtung ist der Widerstreit von Minne und Heldentum und

deren endliche Versöhnung; die Moral und das Ziel derselben ist:

„Wer mit ganzer Kraft der Seele nach dem trachtet, was wahrhaftig

gut ist, dem folget Glück und Ehre.“



(Eine Ausgabe der Hartmannschen Dichtung erschien von Benecke und

Lachmann 1827, desgleichen mit Beneckes Wörterbuch 1833. 1843. 1868.

Neuhochdeutsche Übersetzungen mit Erläuterungen lieferten Graf Baudissin [1845]

und Fr. Koch [1848].)



Jnhalt: Bei einem von Artus veranstalteten Feste erzählt ein Ritter, wie

er vor Jahren von einem gewaltigen Kämpen bei einem Zauberbrunnen aus

dem Sattel geworfen und um sein Roß gebracht worden sei. Jwein beschließt

seinen Freund zu rächen. Heimlich schleicht er sich fort und erschlägt den Besitzer

des Brunnens, gerät aber zwischen zwei Fallthüren in Gefangenschaft,

aus welcher ihn die mitleidige Dienerin der Königin durch einen Zauberring

befreit. Jwein heiratet die Königin, geht sodann auf Abenteuer aus. Leider

vergißt er, die seiner Gattin versprochene Zeit der Rückkehr einzuhalten. Als

die Gattin dem Artus durch Lunete mitteilen läßt, daß Jwein als ein Treuloser

ihre Huld verscherzt habe, verliert Jwein den Verstand. Durch eine

Salbe geheilt, geht er auf neue Abenteuer aus, bei welchen ein von ihm aus

den Klauen eines Lindwurms befreiter Löwe sein Begleiter ist.



„Der Löwe wacht' und lief

um ihn und um sein Roß.

Wie ein kluger Freund und Genoß

hütet er und bewacht

mit treuer Sorg' ihn jede Nacht.“
|#f0334 : 312|



Er kämpft gegen Feinde, besiegt zwei Riesen, erlöst 300 Jungfrauen

und kehrt endlich zu seiner Gattin zurück.



Probe aus Jwein. (Übersetzt von Wolf Grafen von Baudissin

1845.)



[Beginn Spaltensatz]

S. 1.

Wer an rechte Güte

Wendet sein Gemüte,

Dem folgen Heil und Ehre.

Des giebt gewisse Lehre

König Artus der Gute,

Der mit Rittermute

Ruhmwürdig konnte streiten.

Jhm ward bei seinen Zeiten

So herrlich Lob zum Lohne,

Daß er der Ehren Krone

Da trug, und trägt sie noch zur

Stund.

Des ward die Wahrheit kund,

Denn seine Landesleute

Sagen, er lebe noch heute. u. s. f.


S. 2.

Ein Ritter, der die Kunst verstand



Zu lesen, was er in Büchern fand,

Daß wenn er nach den Waffen

Sich Muße konnte schaffen,

Er oftmals auch der Dichtung pflag

Wie man gern sie hören mag,

Und Lust und Fleiß daran gewandt:

Hartmann war er genannt,

Als Dienstmann auf der Au verpflichtet:



Der hat diese Märe gedichtet.

Es hatte König Artus wohl

Jn seinem Schloß zu Caridoel

Zu Pfingsten sich ein Fest geschart,

Glänzend und reich nach seiner

Art: u. s. f.


S. 3.

König Artus und sein Gemahl,

Jedweder von beiden zumal

Auf ihr Vergnügen war bedacht.

Am Pfingsttag als man das Mahl

vollbracht,

Wählt jeder sich, was auf der Welt

Jhm baß behagt und gefällt:

Die sprachen mit Frauen wohlgethan,



Die rangen und schwenkten sich auf

dem Plan,

Die tanzten, andre sangen,

Die liefen, andre sprangen,

Noch andre hörten Saitenspiel,

Die schossen nach dem Ziel,

Die sprachen von Mühsal und

schwerer Zeit,

Die von Mut und kühner Tapferkeit.



Gawein prüfte sich Waffen,

Keye legt' sich schlafen

Auf die erhöhten Stufen hin:

Auf Gemach ohne Ehre stand sein

Sinn.

Der König Artus und sein Gemahl,



Die hatten auch sich in dem Saal

Beide an der Hand gefaßt,

Und gingen durch den Palast

Jn der Kemenaten eine.

Da legten sie sich zum Schlaf, ich

meine
[Spaltenumbruch]

Wohl mehr noch aus Geselligkeit

Als wegen träger Müdigkeit. u. s. f.


S. 26.

Das beste Glück das mir geschach,

War, daß ich noch die Lanze brach:

Er setzte mich mit starker Hand

Hinter das Roß recht in den Sand,

Daß ich sofort durchaus vergessen,

Ob ich jemals im Sattel gesessen.

Mich ließ er liegen, mein Roß nahm

er mit,

All' meines Glückes war ich quitt.

u. s. f.


S. 28.

Da bedachte der Herr Jwein

Die Verwandtschaft unter ihnen

zwein.

Er sprach: „Neffe Kalogreant,

Es rächt, das glaub' mir, meine

Hand

Die Unbill so an dir geschehn.

Jch will sofort den Bronnen sehn

Und was da Wunderbares sei.“ u. s. f.


S. 59.

So war mein Herr Jwein

Von diesen Nöten zwein

Viel sehre bezwungen.

Wie wohl ihm alles gelungen,

Es hätt' ihm wenig Ruhm gewährt,

Wär' er an den Hof gekehrt

Ohne Pfand und Zeugnis seiner

Geschichten:

Man glaubt' ihm auf sein Wort

mit nichten. u. s. f.


S. 77.

Jhr dürft nicht so gar verzagen,

Mögt gern Euch näher wagen.

Meine Fraue, Herr Ritter, beißt

Euch nicht.

Wem von jemand geschicht

So leid als sie erfuhr durch Euch,

Soll der dann Gnade finden sogleich,

Dazu gehört mehr Dank und Lohn.

Jhr habt den König Ascalon

Jhren lieben Mann erschlagen;

Soll man Euch dafür Gnade sagen?

Jhr habt viel schwere Schuld,

Nun sucht auch ihre Huld. u. s. f.


S. 82.

Das alles war nach Wunsche da,

Also die Hochzeit nun geschah:

Der Tote ist vergessen,

Der Lebende hat besessen

Beides seine Ehr und sein Land.

u. s. f.


S. 101.

Da fragte mich Frau Minne

Worauf ich aus eignem Sinne

Jhr nicht Rede stehen kann.

Sie sprach: „Sag an, Hartmann,

Meldst du, daß König Artus kam,

Mit sich zu Haus den Ritter nahm,

Und ließ die Frau zurücke fahren?“

Jch konnte mich besser nicht bewahren,



Als daß ich sagte, Wahrheit sei's.

u. s. f.


S. 232.

Wer mocht' ihm jetzt noch dräun,

Da er gesund den guten Leun
[Ende Spaltensatz] |#f0335 : 313|



[Beginn Spaltensatz]
Aus dem Streite gebracht? ─

Der er hilfreich vorhin gedacht,

Zu der nun kehrt' er zuhand;

Dahin, wo er die Jungfrau fand,

Die ihre Nistel krank verließ,

Der er zum Kämpfer sich verhieß.

Die zeigt' ihm die viel rechten Wege.

u. s. f.


S. 273.

Herr Jwein fröhlich da sprach,

Als er hörte und sach,

Daß alles wohl ausschlug,

Und der Kummer den er trug,

Daß er ein Ende sollte ha'n:

„Fraue, ich habe mißgethan,

Und Gott weiß, das schmerzt mich

sehr.

Nun aber ist Sitte von jeher,

Daß man dem schuldigen Mann[Spaltenumbruch]

Wie schwere Schuld er auch gewann,

Wenn er bereut, vergebe u. s. f.


S. 274.

Nun schaute Frau Lunete

Erhört all' ihre Gebete.

Wo beide, Mann und Weib

Haben Gut und gesunden Leib,

Schönheit, Verstand und Jugend

Ohne Fehl und Untugend. u. s. f.


S. 275.

So mein' ich war Glück und

Freude hie:

Doch erfuhr ich nicht, was oder wie

Mit beiden seit dem ergangen.

Jch konnte Kunde nicht erlangen

Von dem ich diese Rede weiß;

Drum kann ich Euch mit allem Fleiß

Nichts weiter sagen mehre,

Als Gott geb' uns Heil und Ehre.


(Schluß des Epos.)

[Ende Spaltensatz]


IV. Rolandslied

(Cantilena Rolandi). Dieses älteste französische

Epos hat seinen Namen von Roland, einem der 12 Paladine

(Ritter) Karls des Großen, mit welchem Roland gegen die Araber

nach Spanien zieht. Der Pfaffe Konrad hatte es in Reimpaaren

geschrieben.



Um die unterworfenen Heiden zu prüfen, die das Christentum annehmen

wollen, schickt Karl den Ganelon, der sich durch diese Sendung dem Tod geweiht

glaubt, und der nun das Frankenheer aus Rache verrät. Karl zieht zurück

und läßt arglos Roland als König in Spanien. Dieser wird überfallen und

mit allen Franken getötet. Karl besiegt die Aufrührer, beklagt Roland und

straft den Verräter.



Das Epos kann als markantes litterarisches Denkmal für den Charakter

der Zeit der ersten Kreuzzüge aufgefaßt werden. Die Liebe findet in demselben

keinen Raum, ─ Roland erwähnt mit keiner Silbe seiner Geliebten, die doch

bei der Nachricht von seinem Untergang tot niedersinkt; die Helden sind eben

Gottesstreiter.



Wie kein anderes Epos trägt das Rolandslied seine Entstehung aus verschiedenen

Volksliedern, sowie die Entlehnung und Verschmelzung verschiedener

Zusammendichter an der Stirne, indem die Anfangsverse der einzelnen Strophen

(Tiraden) eine Art Exposition des Jnhalts dieser Strophen sind und im Epos

je die Stellen bezeichnen, wo die Sänger ihre Sagen begannen. Die Strophenform

(Tirade, altfranzösisch laisse) besteht aus einer beliebigen Anzahl akatalektischer,

jambischer Quinare mit Assonanz. Jede Tirade bildet ein aus Exposition,

anmutiger epischer Breite des Fortgangs und einer Art Refrain bestehendes

Teilganzes.



Der Pfaffe Konrad hat das Rolandslied (im 12. Jahrh.) für Heinrich

den Löwen in's Deutsche übertragen. Jhm folgte im 13. Jahrhundert der

Stricker. Jn der Neuzeit hat es Ad. v. Keller (Altfranzös. Sagen 1839) und

Wilh. Hertz (1861) in's Deutsche übersetzt. Eine gründlich erschöpfende Belehrung

über Sage und Dichtung verdanken wir Wilh. Grimm. (Vgl. Einleitung

zu seiner Ausgabe des Ruolandes liet 1838.)

|#f0336 : 314|



Probe aus dem Rolandslied. (Übersetzt von W. Hertz, Stuttgart

1861.)



I. Rolands Tod.



Tirade 24.

Drauf Genelon: „Für mich wirst du nicht gehen;

Du bist mein Mann nicht, noch bin ich dein Lehensherr.

Karl giebt Befehl, daß seinen Dienst ich thue:

Nach Saragossa geh ich zu Marsilies.

Doch einen schlechten Streich will ich vollbringen,

Daran ich diesen großen Zorn mag kühlen.“

Bei diesem Wort hub Roland an zu lachen.


„ 25.

Als Genelon den Grafen lachen sah,

Um weniges zersprang er da vor Ärger

Und nicht viel fehlte, daß er kam von Sinnen.

Er sprach zu Graf Roland: „Euch lieb ich gar nicht.

Jhr habet falschen Rat auf mich gewandt.

Gerechter Kaiser, seht, hier steh' ich vor Euch,

Erfüllen will ich, was Jhr mir befohlen.“


„ 144.

Als Roland das verfluchte Volk ersah,

Das eine schwärzre Farbe hat als Tinte

Und gar nichts Weißes an sich, als die Zähne,

Da sprach der Graf: „Das weiß ich nun in Wahrheit:

Daß, wie mich dünkt, wir heut noch alle sterben.

Haut ein, Franzosen! Jch befehl's euch an.“ ─

Sprach Oliver: „Schmach auf den Säumigsten!“

Bei diesen Worten hau'n die Franken ein.


„ 156.

Der Graf Roland, der schlug sich ritterlich,

Doch heiß ist ihm sein Leib und schweißbenetzt,

Und große Qual und Schmerz hat er im Haupte,

Die Schläfenader sprang ihm, als er blies;

Doch wissen wollt er, ob der Kaiser nahe,

Er nahm sein Horn und blies mit schwachem Ton.

Da hielt der Kaiser an und hört' es wohl:

„Jhr Herren,“ sprach er, „Unheil widerfährt uns:

Roland, mein Neffe, geht uns heut verloren:

Er lebt nicht lange mehr, ich hör's am Blasen.

Wer zu ihm will, der reite fort im Flug!

Die Hörner blast, so viel im Heere sind.“

Und sechzigtausend blasen sie so laut,

Es dröhnt der Berg, es wiederhallt das Thal.

Die Heiden hören's, ihnen deucht's kein Scherz,

Der eine sprach zum andern: „Karl ist nahe!“


„ 175.

Da fühlt Roland, daß seine Zeit vorbei;

Er sitzt gen Spanien auf spitzem Hügel,

Und mit der einen Hand schlug er die Brust.

„Erbarm' dich, Herr, um deiner Tugend willen

Der vielen Sünden alle groß und klein,

Die ich beging vom Tag, da ich geboren,

Bis diesen Tag, wo ich mein Ziel erreicht!“

Er hebt zu Gott empor den rechten Handschuh,

Vom Himmel steigen Engel zu ihm nieder.
|#f0337 : 315|



II. Die Rache.



Tirade 293.

Die Baiern kamen und die Alemannen,

Die Poitevins, Bretonen und Normannen,

Vor allen aber raten die Franzosen,

Daß Genelon mit Wunderqualen sterbe.

Da führte man herbei vier starke Rosse,

Vier Knechte aber treiben sie zum Lauf

Nach einer Stute, die im Felde weidet.

Jhm werden alle Nerven ausgespannt

Und alle Glieder aus dem Leib gerissen;

Das klare Blut strömt durch das grüne Gras.

Genelon starb als überwies'ner Schurke;

Wer andere verrät, soll nicht frohlocken!


V. Der rasende Roland

von L. Ariosto († 1533) ist ein

romantisches Epos in 46 Gesängen, das für sein Jahrhundert so hoch

bedeutend war, wie sein glänzendes Vorbild: Ovids geistvolle „Metamorphosen“

für das ihrige.



Während Ovid in Bildern, die mit Verwandlungen endigen, von der

Urbildung der Welt an durch die mythische Zeit und alle Weltalter hindurch

bis zu Julius Cäsar führt, giebt Ariosto Episoden aus dem Sagenkreise Karls

des Großen und schildert in anmutigen Erzählungen das Rittertum nach seiner

glänzendsten Außenseite.



Wegen seiner schalkhaften, erheiternden Manier und Ausdrucksweise und

des sonst durch das Ganze waltenden Humors könnte man dieses altromantische

Epos auch zu den humoristischen Epen zählen.



Probe aus Ariost's Der rasende Roland. (Übers. von Herm.

Kurtz.
3 Bändchen. Stuttgart 1840─1841.)



Erster Gesang.



1.



Die Frauen, Ritter, Waffen und Amuren,

Die Courtoisie besing' ich und den Mut

Der Tage, da die Mohren überfuhren

Aus Afrika, gehetzt von Zornesglut,

Und Trauer lag auf Frankreichs schönen Fluren

Durch Agramante's jugendliche Wut,

Der seinen Vater wollt' in blut'gen Bächen

An König Karl, dem röm'schen Kaiser, rächen.


2.



Jm selben Zug will ich von Roland singen,

Was nie in Reim noch Prosa ward erhört,

Wie ihm der Liebe Pfeil gelähmt die Schwingen,

Den Weisen bis zur Raserei bethört,

Wenn diese, die mich hält in gleichen Schlingen,

Mir mehr und mehr mein bißchen Witz verstört,

Sich mir so viel zu lassen will bequemen,

Als eben reicht zu meinem Unternehmen.
|#f0338 : 316|



Vierundzwanzigster Gesang.



111.



Das Fräulein wirft sich zwischen ihre Hiebe,

Von großem Mut entflammt: Halt! ruft sie aus:

Halt! ich befehl's bei eurer ganzen Liebe:

Spart euer Schwert zu einem bessern Strauß,

Und wendet alsbald eure Heldentriebe

Auf unser Mohrenlager, das in Graus

Und Not ist, so berennt in seinen Zelten,

Daß schneller Beistand oder Tod nur gelten. ─


115. (Letzte Strophe des 24. Gesangs.)



So endete der Krieg, bei welchem Bunde

Jm Thron die größte der drei Mächte saß.

Nun fehlt' ein Pferd, da von der schweren Wunde

Der Renner des Tartaren nicht genaß.

So kam denn Briliador zur guten Stunde,

Der längs dem Bache ging im frischen Gras.

Jch bin am Ende des Gesangs, ermattet,

Und mach' ein Punktum, wenn ihr mir's gestattet.


Sechsundvierzigster (letzter) Gesang.



138.



So wie ein Jagdhund einem Bullenbeiße,

Den er im Kampfe hingeworfen, thut:

Der wehrt sich unter ihm auf jede Weise,

Die Lefze schäumt, das Auge blitzt von Glut;

Nicht möglich, daß er sich dem Feind entreiße,

Der ihn an Kraft besiegt, doch nicht an Wut:

So Rüd'ger über dem ergrimmten Mohren,

Der alle seine Mühe sieht verloren.


139.



Doch glückt es ihm, durch Rütteln und durch Ringen,

Die Hand, die gleichfalls mit dem Dolch bewehrt,

Frei unter seiner Last hervorzubringen,

Zusamt dem Arme, der noch unversehrt.

Er will den Dolch nach Rüd'gers Lende schwingen,

Doch dieser sieht, wie übel er verfährt,

Und wie die Großmut schlimm sich wird belohnen,

Will er den schnöden Heiden länger schonen.


140. (Letzte Strophe des ganzen Epos.)



Und dreimal bohrt er in des Zornes Brand,

Dreimal den Arm hoch hebend mit dem Messer,

Den Stahl ihm in die Stirne, bis zur Hand,

Und macht sich ledig von dem Eisenfresser.

Und los von des erstarrten Leibes Band,

Zu Acherons trübseligem Gewässer

Verhaucht den Geist mit Flüchen der Barbar,

Der hier so stolz und übermütig war.
|#f0339 : 317|



§ 120. Das neuromantische Epos.



Das altromantische, höfische oder mittelalterliche Epos wurde in

der neuhochdeutschen Litteratur mit vielem Glück von verschiedenen

Dichtern nachgeahmt. Der Jnhalt des neuromantischen Epos ist ebenso

wundervoll und abenteuerlich, als der des höfischen. Das gewöhnliche

Versmaß ist die Stanze.



Wir führen nachstehend einige hervorragende oder beliebte neuromantische

Epen inhaltlich oder kritisch mit Proben vor: 1. Wielands Oberon; 2. Ernst

Schulzes Cäcilie; 3. Schulzes bezauberte Rose; 4. Kinkels Otto der Schütz;

5. Oskar von Redwitz' Amaranth; 6. K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad

Beyer von Boppard.



I. Oberon von Wieland.

Oberon ist ein poesiereiches,

gehaltvolles, hochinteressantes romantisches Epos in 12 Gesängen. Es

trug dem Dichter Wieland den Namen des Dichters der Grazien ein.

Goethe urteilte darüber: „So lange Poesie Poesie, Gold Gold, und

Krystall Krystall bleiben wird, wird Oberon als ein Meisterstück

poetischer Kraft geliebt und bewundert werden.“



Jnhalt: Der Ritter Hüon fällt bei Karl dem Großen in Ungnade. Er

wird verbannt mit dem Befehle, nicht eher zurückzukehren, als bis er Zähne

vom Kalifen von Bagdad und Haare aus dessen Bart bringen werde. Hüon

reist nach Bagdad, und lediglich durch Oberons Unterstützung bringt er außer

dem Verlangten noch des Kalifen schöne Tochter als Gemahlin mit. Trotz

mancher Abenteuer trifft er gerade noch rechtzeitig zum Turnier ein, bei welchem

seine Güter als Preis ausgesetzt sind. Er erringt den Preis, giebt sich dann

zu erkennen und erhält seine Gemahlin zurück, worauf ihn auch Karl wieder

zu Gnaden annimmt und mit Ehren auszeichnet.



Probe aus Wielands Oberon, vgl. Bd. I. S. 553.



II. Ernst Schulzes Cäcilie.

Cäcilie in 20 Gesängen, der

Verherrlichung seiner als Braut gestorbenen Cäcilie gewidmet, schildert

in freien Wielandschen Stanzen die Bekehrung der heidnischen Dänen

zum Christentum durch deutsche Krieger.



Schluß des poetischen Nachworts vonCäciliein Oktaven (I. 550).



Du sitzest still auf deinem gold'nen Throne,

Vernimmst nicht mehr der Erde Lust und Pein,

Kannst mit lebend'gem Dank und ird'schem Lohne

Das treue Herz des Sängers nicht erfreu'n.

Doch schmückt durch dich ihn seine Lorbeerkrone;

Was ihn verherrlicht, alles ist es dein.

Weil du es gabst, und weil es dich gesungen,

Hat sich sein Lied dem niedern Staub entschwungen.
|#f0340 : 318|



Und soll auch jetzt dies jugendliche Leben

Mir ohne Lieb' und ohne Lust entflieh'n: ─

Wohl mancher Traum muß unerfüllt entschweben,

Wohl manche Blum' im Keimen schon verblüh'n; ─

Dir hab' ich mich mit Freuden hingegeben,

Und nimmer welkt, was du mir einst verlieh'n.

Nur einmal kann der Lenz dem Herzen prangen;

Doch bleibt sein Duft, wenn auch sein Glanz vergangen.


So mag denn weit dies fromme Lied erschallen,

Wo deutscher Ernst und deutsche Treue gilt!

Und wie sich hell in klarer Bäche Wallen

Mit nahem Licht der ferne Stern enthüllt,

So leuchte jetzt, wie in des Himmels Hallen,

Auf Erden auch, Cäcilie, dein Bild!

Doch du nimm hold das Letzte, was ich biete!

Es war auch mir des Lebens letzte Blüte.


III. Ernst Schulzes Bezauberte Rose.

Noch trefflicher,

sinniger und poetischer als Cäcilie ist die infolge einer Preisausschreibung

von Brockhaus (1816) entstandene Bezauberte Rose in

3 Gesängen, welche die Verwandlung der Königstochter Clotilde in

eine Rose durch beschützende Feengewalt, sowie die Rückbildung durch

Alpins liebende Dichtergewalt schildert.



Probe aus derBezauberten Rosevon E. Schulze.



Und sieh, es schwillt aus ihrem weichen Moose

Stets blühender die reiche Knosp' empor,

Und lieblich schaut jetzt aus der off'nen Rose

Mit gold'ner Kron' ein holdes Haupt hervor,

Und rings umher verwebt sich leis und lose

Der Blätter Grün zum weichen, seid'nen Flor;

Schon scheint der Tau, der hell am Kelch gehangen,

Als Perlenschnur am weißen Hals zu prangen.


Und als gemach der bunte Zauberreigen

Von Duft und Klang verdämmert und verhallt,

Steht zart und schlank, in ahnungsvollem Schweigen,

Mit irrem Blick die blühende Gestalt.

Man sieht die zarte Brust tiefatmend steigen,

Vom ersten Hauch des Lebens neu durchwallt;

Bang regen sich die kaum gelösten Glieder,

Sie hebt den Fuß, und senkt ihn schüchtern wieder.


Und wie, gelockt von hellen Frühlingstagen,

Die Vögelein, verzagt zum ersten Mal

Aus weichem Nest von Zweig zu Zweig sich wagen,

Von Busch zu Busch mit zweifelhafter Wahl:

So lenkt auch sie im Staunen und im Zagen

Bald hier bald dort der Blicke lichten Strahl,

Und sieht entzückt bei zarter Mondenhelle

Wald, Wies' und Flur, Laub, Blüten, Wolk' und Welle.
|#f0341 : 319|



IV. Kinkels Otto der Schütz.

Dieses Epos erzählt in

12 Abenteuern, wie Otto (der jüngere Sohn des Landgrafen Heinrich

von Thüringen) entflieht, weil er Mönch werden soll, wie er den

Meisterschuß bei einem Schützenfest am Rhein thut, wie er Dienste beim

Grafen Dietrich nimmt, und zuletzt dessen Tochter Elsbeth trotz Verrat

und Lebensgefahr gewinnt, sodann Landgraf von Thüringen und

Hessen wird.



Probe ausOtto der Schütz“.



[Beginn Spaltensatz]Erstes Abenteuer.



Die Rheinfahrt.



Jn klarer Frühlings-Abendpracht,

Wenn schon der Sterne Heer erwacht,

Wenn kühl der Mond im Ost sich hebt,

Die Flur mit blauem Duft umwebt,

Jndes im West des Abends Strahlen

Den Himmel heiß mit Purpur malen:

Wenn Nachtigallenschlag erschallt

Und drein im Nachthauch rauscht der Wald;

Wenn aus des Wassers dumpfer Schwüle

Der Fisch mit lust'gem Sprung sich schnellt,

Und in der weichen Schlummerkühle

So still und heimlich liegt die Welt;

Wenn in der Uferweiden Dunkel

Der Elfen Chor den Reigen schlingt,

Und aus dem Strom ein leis' Gemunkel

Der Nixen auf zum Lichte klingt:

Das ist die zauberhafte Stunde,

Wo Tag und Nacht in gleichem Bunde

Dich kränzen mit dem schönsten Schein,

Du Fürst der Ströme, trauter Rhein!


Auf deinem Grund geschmolzen rollt

Der Nibelungen rotes Gold;

Das spielt wie Scharlachfeuerglut

Herauf ans Licht aus deiner Flut.

Dein Stromgott tief zum Schlaf sich neigt,

Sein Odem leis nach oben steigt,

Das quillt wie weißen Silbers Schaum,

Und stickt des Goldgewandes Saum,

Jndes vom Ufer Bergesschatten

Das lichte Blau dem Purpur gatten.

Drum giebt sich Rot und Weiß und Blau

Als Rheinlands Farbe stolz zur Schau.


Zu solcher Stunde treibt hinunter

Jm bunten Kahn ein Bursch, und munter

Beschaut er, leis das Steuer regend,

Ringsum sich Fluß und Berg und Gegend.

Wo ihm ein Turm vom Ufer winkt,

Andächtig auf das Knie er sinkt

Und spricht ein flüchtiges Gebet;

Doch wo ein hübsches Mädchen geht,

Der wirft er einen raschen Kuß

Zum Strand hinüber von dem Fluß. u. s. f.


So kam er in ein lieblich Land,

Zu beiden Seiten ebner Strand;

Weit ward und breit und tief der Strom,

Weit oben auch des Himmels Dom,

Denn rings auf den gestreckten Auen

War nirgend mehr ein Berg zu schauen.

Nur eines Lichtes ward er innen

Am Strand, als ständ's auf hohen Zinnen.
[Spaltenumbruch]

Da ward er müd; des Schlafes Macht

Befiel ihn um die Mitternacht,

Und drückt ihn mit so schweren Lasten,

Daß er beschloß am Land zu rasten.

Dran mögt ein Wunder ihr begreifen:

Ob wir auch selbst ins Weite schweifen,

Die edle Frau, geheißen Minne,

Lenkt doch die unbewußten Sinne.

Sie war's auch, die mit blei'rnem Schlaf

Des Knaben helles Auge traf,

Daß er nicht an des Glückes Thüre

Mit frevler Hast vorüberführe.

Hier war es, wo sein Lebenslos

Geworfen lag in Glückesschoß;

Denn jenes Licht, das er geschaut,

Vom Fenster kam's der künft'gen Braut,

Und Liebe kann des Ziels nicht fehlen,

Magst du auch eigne Pfade wählen.


Der Knabe lenkt den Kahn ans Land,

Daselbst er dürres Riedgras fand;

Er rüstete sich eine Streu,

Ein Feuer macht' er ohne Scheu;

Den Kahn band er ans Ufer fest,

Und holt vom Hirsche sich den Rest,

Den er gefällt mit Meisterschuß

Erst gestern mitten aus dem Fluß.

Durchs Uferdickicht brach das Tier,

Um aus dem Flusse sich zu tränken;

Schon will es der Geweihe Zier

Zum klaren Spiegel niedersenken,

Da zielt der Bursch ─ mit krauser Stirn

Will flink der Hirsch zur Flucht sich wenden,

Da trifft ihn mitten durch das Hirn

Ein Bolz, geschnellt von sichern Händen;

Drei Ellen sprang er hoch und fiel

Dem Schützen, der nicht fehlt sein Ziel.

Der Knabe briet sich heut zum Mahl

Den Ziemer, und beim Mondenstrahl

Sucht bitt're Kräuter er als Würze.

Ein Blatt ist Handtuch ihm und Schürze,

Als Bratspieß dient sein Jägerspeer,

Jm Jagdhorn trägt das Kraut er her;

Der Dolch ist gut zum Vorlegmesser,

Wenn du nur bist ein guter Esser.

Drauf spricht er seinen Abendsegen,

Und ohne weiter Überlegen

Schließt er zu festem Schlaf in Ruh

Die beiden hellen Augen zu.


Es knistert noch das Feuer lang,

Der Uhu ruft ─ er hört es nicht;

Es rauscht der Rhein den Wellensang,

Die Elfe klagt ─ ihn stört es nicht.

Denn in der Engel treuer Wacht

Verschläft er fest die ganze Nacht.
[Ende Spaltensatz] |#f0342 : 320|



V. Redwitz' Amaranth.

Amaranth, eine minnigliche deutsche

Jungfrau, und der fromme, tapfere, deutsche Heldenjüngling Walther

sind die Helden.



Letzterer zieht nach Jtalien zu seiner vom Vater bestimmten, ihm noch

unbekannten Braut Ghismonde. Ein Unwetter nötigt ihn unterwegs zur Einkehr

in einem Waldhofe des Schwarzwalds, wo er die fromme Amaranth kennen

und lieben lernt. Er zieht zu seiner Braut und findet in ihr ein prunkliebendes

Weltkind. Er kann sie nicht bekehren; da ─ am Trauungstage stellt er die

Ungläubige bloß und eilt in die Arme der frommen Amaranth, diese in das

Schloß der Väter heimführend. Wenn auch die tendentiöse, schwärmerische

Richtung dem Gedicht strenge, nicht ganz ungerechtfertigte Verurteilung zugezogen

hat, so ist es doch in vieler Beziehung von hohem dichterischem Werte.



Es zeichnet sich besonders durch reiche lyrische Zuthaten, sowie durch seine

trefflichen Naturschilderungen aus.



Probe ausAmaranth“.



An Amaranth.

[Beginn Spaltensatz]

Zieht hin, ihr lieben stillen Lieder

Zu meiner süßen Amaranth!

Jn ihrem Herzen laßt euch nieder,

Es ist ja euer Vaterland!
[Spaltenumbruch]

Sagt ihr, ihr seiet kleine Sterne

Vom Himmel, den sie mir geschenkt,

Und zöget her aus weiter Ferne

Zu fragen, ob sie mein gedenkt!
[Ende Spaltensatz]



VI. K. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer

von Boppard.

Dies in trefflichen Rhythmen geschriebene ergreifende

Epos erzählt, wie der Stammvater der Beyer (deren aktenmäßige Geschichte

Stramberg Bd. V. Abteilung II des Rheinischen Antiquarius

aufrollt) vom Kaiser Friedrich Barbarossa gleichzeitig mit Graf Gottfried

von Sponheim-Starkenburg zum Ritter geschlagen wird.



Maria von Sponheim legt ihm den goldenen Kranz aufs Haupt. Bei

einer Jagd mit Graf Gottfr. v. Sponheim gleitet Konrad aus und ist der

Wut eines von ihm verwundeten Ebers preisgegeben. Da lenkt unerwartet

Maria den Eber ab; Konrad erlegt ihn nun mit kräftiger Hand und erklärt

seine Liebe an Maria. Als sich hierauf Gottfr. v. Sponheim am Kreuzzug

beteiligt, stellt er sein Gut und den Schutz der Schwester in Konrads Hut.

Bald darauf kommt der von Maria verschmähte, rachsüchtige Wildgraf Gerhard

zu Besuch auf Konrads Burg nach Boppard. Er weiß dem jugendlichen Helden

einzureden, daß er sich in Sklavenfesseln befinde und die Zeit zu Ruhmesthaten

verstreichen lasse. Da giebt Konrad in seiner Bethörung Maria frei, um mit

dem Wildgrafen zur Fehde auszuziehen. Die verletzte Maria als Ritter verkleidet

fordert ihn zum Zweikampf heraus. Mit kühnem Schlag siegt Konrad.

Am Aufschrei merkt er, daß sein Streich die Braut getroffen. Er bricht in

namenlosem Schmerz zusammen. Maria segnet den geliebten Mann, der ihr

durch den Tod wohlgethan. Konrad flucht dem Wildgrafen und rast fort, um

im h. Krieg den namenlosen Schmerz zu betäuben. Maria wird im Kloster |#f0343 : 321|



Boppard wunderbar gerettet. Als sie einst an der Stelle des Zweikampfs um

Konrads Glück betet, tritt ein Pilger herzu, der an derselben Stelle um der

getöteten Maria Seelenheil den Himmel anflehen will. Die Liebenden erkennen

sich. Der Bund fürs Leben wird geschlossen.



Probe aus Ritter Konrad Beyer von Boppard, von K. Hofmann

von Nauborn.
(1874. S. 10.)



[Beginn Spaltensatz]
Es schwellt der Waffen heller Klang,

Wie fröhliche Musik die Brust,

Der jungen Ritter Thatenlust;

Sie wagten manchen scharfen Gang.

Doch keiner war, der kühner, freier

Das Roß gelenkt mit fester Hand,

Geführt die Waffen so gewandt,

Als Herr von Boppard, Konrad Beyer.

Als Knappe schon erprobt im Feld,

War er im Spiel des Tages Held.

Und würdig, nach des Rechts Verlangen,

Den Ehrenpreis heut' zu empfangen.

Hier scharrt ein edles Roß im Sand,

Dort blinkt ein Kranz in zarter Hand:

Die sollen als des Ruhmes Kronen,

Den jugendlichen Ritter lohnen.

Hei, wie der Held auf's Pferd sich schwingt!

Das ihm ein Knappe zugeleitet;

Der Jubel schallt, Musik erklingt,

Als stolz er durch die Schranken reitet.

Wie schaute mancher Rittersmann

Voll Neid den Ritter Konrad an!

Manch' holdes Frauenangesicht,

Errötend wie das Morgenlicht,

Verklärt ein süßgeheimes Hoffen

Von Konrads Falkenblick getroffen.


Wohl gern hätt' jede zarte Hand,

Durchbebt von innerem Frohlocken,

Den gold'nen Kranz am blauen Band

Gelegt auf Konrad's dunkle Locken;

Doch nur der lieblichsten von allen

War dieses Glückslos zugefallen.

Marie von Sponheim strahlte weit

Ein Stern der Schönheit ihrer Zeit:

Aus ihren blauen Augen bricht

Ein herz- und geistdurchsonnend Licht;

Die Locken um die Stirne hold

Wetteifern mit der Sonne Gold;

Es glüh'n die Wangen lieblich klar

Wie ein aufquellend Rosenpaar,

Und aus des Mundes Purpurschein
[Spaltenumbruch]

Erglänzen lichte Perlenreih'n;

Sanft wogt das Ebenmaß der Glieder

Gleich einer Lilie auf und nieder.

Fürwahr, so herzgewinnend traut,

So reich an Lieblichkeit und Güte

Ward keine Jungfrau noch geschaut:

Sie war der Blüten schönste Blüte!


Mit holdem Blick und leichtem Schritte

Tritt sie aus hoher Frauen Mitte

Hinauf zu des Altanes Stufen,

Wohin mit hellem Hörnerschall

Nun Ritter Konrad ward berufen.

Stolz schritt er durch die Ritter all',

Und von der Schönheit Glanz umgeben

Beugt er das Knie mit süßem Beben,

Wie wenn ein Falke, nie besiegt,

Sich zu der Taube Füßen schmiegt.

Bald fühlt er auf der Stirne Rand,

Wie sie den gold'nen Kranz beglückt

Jhm zitternd auf die Locken drückt,

Jhn leicht berührt mit zarter Hand.

Jhm war's, als ob des Maien Schein

Frisch strahle in sein Herz hinein

Und wolle seines Panzers Engen

Mit allgewalt'ger Flamme sprengen.

Die zarte Hand, die ihn beglückt,

Er zitternd an die Lippen drückt.

Von allen Seiten auf ihn schauen

Die Ritter und die Edelfrauen.

Jn süßem Rausche, fast verlegen,

Nimmt er Glückwünsche rings entgegen;

Musik erschallt, in frohen Weisen

Des Tages Helden laut zu preisen.

Und während so der Jubel weilt,

Maria ist hinweg geeilt;

Süß träumend tritt verklärt sie ein

Bescheiden in der Frauen Reih'n.

Was ihre Seele süß erschüttert,

Das spricht nicht aus ein ird'scher Mund;

Wie's ihr im Busen wogt und zittert,

Kein Dichtergriffel thut es kund! ─
[Ende Spaltensatz]

Litteratur des neuromantischen Epos.



Romantische Epen haben außer den Erwähnten geschrieben: Wieland

(Jdris und Zenide, in 5 Gesängen); Fouqué (Sigurd der Schlangentöter);

Heinr. von Nicolai († 1820, Reinhold und Angelika); Alxinger (Doolin von

Mainz); Jmmermann (Die vortreffliche Bearbeitung des Epos Tristan und

Jsolde); K. E. Ebert (Wlasta); Pope (Treuer Eckart); A. Müller (Richard

Löwenherz und Alfonso); Böttger (Habanna); Grötsch (Der Zug der Normannen

nach Jerusalem); Teuscher (Saladin); Grün (Der letzte Ritter); Platen (Die

Abassiden in 9 Gesängen, in welchem Gedichte die Abenteuer der Söhne des

Harun al Raschid geschildert werden, vgl. I. 329); Herder (Cid, ein nach

spanischen Romanzen bearbeiteter, ein romantisches Epos bildender Romanzencyklus); |#f0344 : 322|



Ettmüller (Karl der Große und das Jungfrauenheer); Simrock (Amelungenlied);

Adolf Franckel (Der Tannhäuser); A. Becker (Jungfriedel); Ludwig

August Frankl (Don Juan d'Austria); Geibel (Sigurds Brautfahrt); Gottschall

(Maja); Hamerling (Ahasver); Julius Grosse (Mädchen von Capri, und Gundel

von Königsee); Waldau (Cordula); Hertz (Lanzelot und Ginevra &c.); P. Heyse

(Braut von Cypern); Jordan (Nibelunge, allitterirend, ein großartiges Kulturepos

auf romantischem Hintergrund); Scheffel (Trompeter von Säkkingen);

Weber (Rolands Gralfahrt); J. Wolff (Der Rattenfänger von Hameln, und

Tannhäuser); Kastropp (Kain); D. E. von Bassewitz (Undine); Ernst Harmening

(Mirjam, Ein Hohelied der Liebe mit eingefügten wertvollen Lyriken) u. a.



§ 121. Das religiöse Epos.



Es hat, wie der Name sagt, ein religiöses Ziel und Jnteresse,

wie es auch seinen Stoff aus der biblischen, aus der Kirchen= oder

Heiligengeschichte wählt. Es setzt ein gläubiges Gemüt voraus. Jedes

Epos mit religiösem Anhauch könnte in bestimmtem Sinne als religiöses

Epos bezeichnet werden, auch wenn es stofflich in eine andere

Rubrik zu setzen ist.



Redwitz' „Amaranth“ könnte einseitig z. B. ebenso ein religiöses Epos

wie ein romantisches heißen. Dagegen Rückerts „Leben Jesu“, in Alexandrinern

geschrieben, könnte man nur dem Stoff nach als religiöses Epos bezeichnen, da

ihm die einheitliche Handlung fehlt.



Die altklassische Litteratur hat kein streng religiöses Epos. Die althochdeutsche

Litteratur hat nur Evangelienharmonien, welche das vom Erlöser Erzählte,

Mannigfaltige in ein harmonisches Ganze zusammenzufassen streben

(z. B. die altsächsische Evangelienharmonie Heliand, Otfrieds Evangelienharmonie).





Klopstock (Messiade), Dante (Göttliche Komödie; ein Gang durch Hölle,

Fegfeuer und Paradies), sowie Milton (Verlorenes Paradies) haben das

religiöse Epos geschaffen, weshalb wir ihnen hier ein kurze Betrachtung zu

widmen haben.



I. Die Messiade von Klopstock.

Diese religiöse Epopöe in

20 Gesängen weist an der Person Jesu nach, wie ein göttliches Wesen

aus Liebe zu den Sterblichen sich opferte, seine Gottheit verleugnete,

menschlich litt und starb, um den Menschen das ewige Leben zu verschaffen.





Die 10 ersten Gesänge (zugleich die vorzüglicheren) behandeln das Leiden

und den Erlösungstod Christi; die übrigen die Geschichte Jesu bis zur Verklärung.





Klopstocks „Messias“ leitete die neueste Blüteperiode unserer deutschen

Litteratur ein. Jm Gegensatz zu Ariost und Tasso, die nur für einzelne |#f0345 : 323|



Bevölkerungsschichten dichteten, richtet sich Klopstock an das ganze Volk. Wo

er auf der Erde keinen Stoff mehr findet, da wendet er sich wie Homer zu

einer jenseitigen Welt, was freilich oft wie ein Phantasieren empfunden wird,

indem er Teufel, Engel, die Seelen Gestorbener oder noch nicht Geborener,

desgleichen die beiden ersten Personen der christlichen Gottheit mit historischen

Personen des alten Testaments verbindet. Der Dichter hat zudem häufig die

epische Anschaulichkeit durch lyrisch=pathetische Ergüsse zu ersetzen gestrebt. Diese

ausgedehnten Gefühlsergießungen und seine rednerischen Darstellungen verleihen

einzelnen Teilen dieses ernsten religiösen Epos rhetorisch=lyrisches Gepräge.



Als Sprach-Probe aus der Messiade vgl. Bd. I. S. 356.



II. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri.

Dante

Alighieris (geb. 1265 zu Florenz) Göttliche Komödie (divina commedia),

die in unserer Litteratur so große Verbreitung fand, umfaßt

drei Teile: die Hölle (l'inferno), das Fegfeuer (il purgatorio), das

Paradies (il paradiso).



Diese Dichtung ist nur der äußeren Form nach ein gelungenes

Epos; in Wirklichkeit ist sie eine mystisch sociale Allegorie, welche die

Handlung vermissen läßt. Jhre Grundidee ist die Darstellung der

welterlösenden Liebe. Sie ist in Terzinen geschrieben und von Kannegießer,

Streckfuß, Philalethes (== König Johann von Sachsen), Kopisch,

Bernd von Guseck u. a. ins Deutsche übertragen.



Jnhalt: Der Dichter sinkt in einem großen Wald in die Tiefe bis zur

Hölle. An der Hand des vom Christentum noch unerleuchteten Vergil durchwandert

er diese, um ins Fegfeuer zu gelangen, an dessen Eingang er dem

Vertreter der Freiheit, Cato von Utica, begegnet. Jmmer höher steigt er.

Da trifft er auf einer Blumenwolke die von ihm früher verehrte Beatrice als

Sinnbild der christlichen Wahrheit, welche ihn durch das Paradies geleitet.

Nun gesellt sich der heilige Bernhard als Typus der christlichen Frömmigkeit

zu ihm, der ihn zur Himmelskönigin und heiligen Dreieinigkeit führt. Geblendet

vom Glanz sinkt er ohnmächtig nieder, indem er einsieht, hier sei sein

irdisches Streben an der Grenze.



Als Sprach-Probe aus Dantes göttlicher Komödie vgl. Bd. I. S. 545.



III. Das verlorene Paradies von Milton.

Miltons (geb.

1608 zu London) verlorenes Paradies (the paradise lost) erschien

1667. Es steht durch seine wunderbare Sprache, durch seine ergreifenden

Schilderungen, durch seine edle Schönheit in der englischen Litteratur

einzig da.



Es enthält 12 Gesänge, welche den Sündenfall von Adam und Eva

behandeln, indem es seiner Darstellung die Jdee des tragischen Kampfes zwischen

Himmel und Hölle zu Grunde legt. Es ist von Bodmer, Zachariä, Kottenkamp,

Böttger, Schuhmann und Eitner (1867) ins Deutsche übersetzt. (Das sich |#f0346 : 324|



anschließende Wiedergewonnene Paradies Miltons in demselben Metrum

umfaßt nur vier Gesänge.)



Probe aus dem verlorenen Paradies. (Übers. von Bernh. Schuhmann.

2. Aufl. 1877.)



S. 3.

Des Menschen erste Sünde, den Genuß

Von des verbot'nen Baumes Frucht, die Tod

Und alles Weh erzeugt hat und die Menschheit

Aus Eden bannte, bis ein Größrer einst

Sie wieder einführt in den Sitz des Heils ─

Sing', Himmelsmuse, die du auf des Horeb

Einsamer Höh' und auf dem Sinai

Den Hirten hast begeistert, der zuerst

Dem auserwählten Volke kund gethan,

Wie Erd' und Himmel aus dem Chaos stiegen!

Doch liebst du Sion und den Bach Siloah

Am Gott-Orakel mehr, fleh ich von dort

Um deinen Beistand für mein kühnes Lied,

Das über Aoniens Musenberg hinaus

Sich schwingen will, weil es nach Höherm strebt,

Als Vers bisher und Prosa noch gewagt.

Und du, o Geist, vor dem ein reines Herz

Mehr gilt als Tempelpracht, belehre mich!

Du kannst es, denn von Anbeginn warst du;

Die Tiefe deckend, einer Taube gleich

Mit mächt'gen Fittigen, befruchtetest

Du ihren Schoß. Was in mir dunkel ist,

Erhelle, und was niedrig, richt' empor:

Daß, würdig des erhab'nen Stoffes, ich

Die ew'ge Vorsehung und Gottes Wege

Rechtfert'gen und den Menschen künden mag!

Sprich denn ─ vor deinem Blicke birgt sich nichts

Jm Himmel noch im tiefen Höllenschlunde ─

Sprich, was hat unser Elternpaar vermocht,

So hoch beglückt, vom Schöpfer abzufallen

Und wider dessen einziges Verbot,

Sonst Herrn der Erdenwelt, zu sündigen?

Wer, sprich, verführte sie zum Ungehorsam?

Der Höllendrache war es, der, von Neid

Und Rachbegier entflammt, der Menschheit Mutter

Durch List betrog, nachdem sein Hochmut ihn

Herabgestürzt vom Himmel samt dem Heer

Aufrührerischer Engel, mit des Hülfe,

Nach Herrschaft über seines Gleichen trachtend,

Er sich dem Höchsten gleich zu sein vermaß;

Verruchten Krieg erhob er drum im Himmel,

Krieg wider Gottes Thron und Majestät,

Bis auf dem Schlachtfeld seines Stolzes Ziel

Vereitelt ward. Die Allmacht schleuderte

Mit gräßlicher Zerschmettrung häuptlings ihn

Vom Himmelssitz in bodenlos Verderben,

Daß er in diamant'nen Ketten dort,

Von Glut gepeinigt, wohne, der's gewagt,

Zum Kampf zu fordern den allmächtigen Gott. &c.
|#f0347 : 325|



Zur Litteratur des religiösen Epos.



Das hauptsächlichste religiöse Epos der Franzosen ist „Les Martyrs

(Die Märtyrer) von Chateaubriand. (Deutsch von Haupt und Haßler.)



Von den Deutschen sind noch zu nennen: J. J. Bodmer († 1783, Die

Noachide); Lavater (Messias); Wieland (Der geprüfte Abraham); Hagenbach

(Luther); Stern (Jerusalem); Diterici (Joseph); Paul Heyse (Thekla); Weißbrodt

(Genovefa); K. Moritz (Christus); Kulemann (Judith); Rappaport

(Moses); Julius Mosen (Ahasver, mehr ein religiös=philosophisches Epos);

Seidel (Paulus); Plönnies (Ruth); Steger (Der Heiland); Ferd. Wirth

(Mariade) u. a.



§ 122. Das idyllische Epos (Eidyllion).



Das idyllische Epos, welches auch bürgerliches Epos genannt

wird (die Griechen nannten es εἰδύλλιον == Eidyllion), hat seinen

Schauplatz im bürgerlichen Leben und erzählt Begebenheiten aus demselben.

Es schließt daher das Wunderbare und die Maschinerie des

Heldenepos aus. Überhaupt verträgt es keine großen Verwicklungen.

Es ist ein reicheres Jdyll. (Vgl. S. 231 d. Bds.)



Seine Personen sind gemütvoll, natürlich, fromm, tugendhaft, zufrieden,

glücklich. Was der Handlung am Bedeutsamen mangelt, das hat die Kunst

des Dichters zu ersetzen. Das Silbenmaß des idyllischen Epos ist gewöhnlich

der Hexameter.



Bei den Römern nannte man die idyllischen Epen auch Bucolica, deren

einzelne Stücke Eclogae hießen, eine Benennung, die u. a. auch Kosegarten

in den einzelnen Teilen seiner idyllischen Epen (oder im engeren Sinn: Jdyllen)

beibehalten hat.



I. Luise, von Voß.

Jn diesem idyllischen Epos (oder ausgebreitetem

Jdyll) schildert der Dichter das idyllische Leben eines

Landpredigers, der sich in seinem abgeschlossenen Kreise beglückt fühlt.

Seine Tochter vermählt er an einen jungen Prediger.



Probe aus Luise, von Voß. (Sämtl. Ged. I 10. Ausg. 1802.)



Väterchen, danken wir Gott. Luise begehrt den Geburtstag

Lieber im Wald', als unten am Bach in der Laube zu feiern.

Lieblich scheint ja die Sonn', und am waldigen Ufer ist Kühlung.

Jetzo mein Rat! Herr Walter, der kleine Graf und Luise

Gehn voran und wählen den Ort, und suchen uns Brennholz.

O, der Besuch auf dem Schloß! Mit Amalia wäre der Gang doch

Lustiger! Aber wir beiden Gemächlichen fahren den Richtweg

Über den See; der Verwalter, das wissen wir, leihet uns gerne

Seinen Kahn. Doch wünscht' ich, daß unser Papa noch ein wenig
|#f0348 : 326|



Schlummerte. Mittagsschlaf ist die angenehmste Erquickung

Alter Leut' im Sommer, zumal in der Blüte der Bohnen.

Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau:

Hört, mein Sohn, wie sie waltet, die Herrscherin? Aber ich muß schon

Folgsam sein, denn es gilt den Geburtstag meiner Luise.

Kinder, wir beten zu Gott dem unendlichen! Betet mit Ehrfurcht u. s. w.


II. Jukunde, von Theobul Kosegarten.

Dieses Epos ist die

Vereinigung von mehreren, freundlich abgerundeten Jdyllen, von einfachen,

naturwahren, dörflich=duftigen Genrebildchen, deren Heldin die

fromme Pfarrerstochter Jukunde ist.



1. Bildchen. Zusammentreffen Jukundes am Vorabende des Uferfestes mit

der nachbarlichen Freundin Thekla von Thurn, die Jukunde für ihren aus

dem Kriege erwarteten Bruder begeistern möchte, aber erfahren muß, daß

Jukundes Herz für den unbekannten Befreier ihrer Schwester von einer Schlange

schlägt. 2. Sonntagsmorgen im lauschigen Schloßgarten; Gespräch über Platos

Phädrus. 3. Die Uferfeier. 4. Nachfeier. 5. Ankunft von Theklas Bruder,

den Jukunde als Schlangentöter und Geliebten erkennt; Verlobung.



Probe aus Jukunde. (2. Ekloge. Der Sonntagsmorgen.)



Und das Dunkel zerfloß. Ein wehender glänzender Morgen

Folgt' auf die sternige Nacht. Aus den funkenstäubenden Fluten

Tauchet' entwölkt hervor und schimmerrollend die Sonne.

Freude wirbelnd begrüßte die Lerche den heiligen Sabbat,

Welcher gewünscht erschien den arbeitseligen Menschen,

Die von den Schweißen der Woch' erschöpft und den Lasten der Ernte

Länger heute der Ruh' und des Schlummers pflegten. Auch wach noch

Dehnten sie wollustvoll auf hartem Pfühle die Glieder.

Du nur, Bote des Herrn, ehrwürdiger Pfarrer von Medow,

Frühe geweckt von der inneren Glut und dem mächtigen Drange,

Deine Brüder das Recht und die Pflicht zu lehren, den Lüstling

Aufzuschrecken vom geistigen Schlaf durch Sinais Donner,

Gnade hingegen und Heil zu bieten der Buß' und dem Glauben,

Darzuhalten dem Wackern im Streit die Kron' und den Palmzweig;

Du nur standest bereits anbetungstrunken am Fenster u. s. f.


III. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard.

Hannchen

und die Küchlein von A. Gottl. Eberhard († 1845) ist eine Nachbildung

der Luise von Voß. 1822 erschien die erste, vor kurzem die

27. Auflage.



Heinr. Kurz weist diesem Gedicht den Platz neben Goethes Hermann und

Dorothea an und rühmte ebenso dessen vortreffliche Schilderung des einfach

Gemütlichen, wie des echt deutschen Familienlebens.



Probe aus Hannchen und die Küchlein. (VII. Gesang.)



Auf hob Hannchen das zürnende Huhn; und siehe, da lagen

Mehrere Küchlein, schon die gewonnene Freiheit genießend,

Andere pickend, versuchten erst noch, ihr Gefängnis zu sprengen,

Während die meisten darin noch still und geduldig verweilten.
|#f0349 : 327|



Martha besorgte den Topf voll wärmender Federn, und Hannchen

Bettete drinnen die muntersten Küchlein, setzte das Huhn dann

Wieder auf's stillere Nest, sein Werk zu vollenden mit Treue.

Feierlich wurde der Topf in die wärmere Stube getragen,

Futter geholt und gestreut für die kleinen, beweglichen Gäste,

Und mit fröhlicher Sorge die weitere Pflege besprochen.


„Mutter, entschieden nun ist's!“ rief plötzlich die Tochter dazwischen,

„Du nur gehest auf's Schloß; ich bleibe daheim bei den Küchlein.

„Stündlich bedürfen sie Futter, und stündlich entkriechen den Eiern

„Ankömmlinge noch mehr; die dürfen zu lang in dem Neste

„Ja nicht bleiben, denn sonst kann tot sie treten die Alte.

„Nein! ich wäre untröstlich, verlör' ich während des Schmausens

„Solch' ein niedliches Tier! Drum, Mutter, zu Hause nur laß mich!

„Mir ist's besser, ich lasse das Schmausen! Antonien würd' ich

„Schmerzlich vermissen, und ─ kurz, wie es scheint, will selber der Himmel,

„Daß ich daheim hübsch bleib'; ich gehorche dem Winke des Himmels.“


Während die Mutter erwägen noch wollte das Für und das Wider,

Holt' ihr Hannchen geschäftig herbei schon Kleider und Haube,

Half sie putzen, und trieb sie hinweg durch Bitten und Küsse.

Einsam blieb sie zurück, doch flüchtig enteilte die Zeit ihr u. s. f.


IV. Hermann und Dorothea, von Goethe.

Hermann und

Dorothea (9 Gesänge in Hexametern) neigt sich zum großen Epos

hin. Es wurde von Goethe bürgerliches Epos genannt, da ihm die

Verhältnisse des bürgerlichen Lebens zur Grundlage dienen.



Jnhalt: Auf dem großen geschichtlichen Hintergrund der französischen Revolution

führt der Dichter die schnell sich entfaltende Liebe eines Bürgersohns

(Hermann) zu einem lieblichen Mädchen (Dorothea) vor, wobei er das gesunde

Bürgerleben in Freud und Leid, in allen möglichen Lagen, in Haus und Hof,

auf dem Felde und im Stalle &c. anschaulich malt und ein naturwahres Lebensbild

entrollt.



Hermann, zu scheu, seine Liebe an Dorothea zu gestehen, ladet sie am

Brunnen ein, Stütze seiner Mutter zu werden.



Hermanns Vater empfängt sie (zu ihrer Überraschung) als Braut des

Sohnes. Die Mutter vermittelt; der Pfarrer vollzieht die Verlobung.



Das Gedicht, ebenso ein reizendes Bild des Familienglückes, wie eine

Schilderung des Strebens und Grämens der ganzen Menschheit, wird zugleich

der Ausdruck des echt deutschen Sinnes. ─ Goethe sagt selbst in einem Briefe

an Schiller darüber: „Jch habe das rein Wesentliche der Existenz einer kleinen

deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht

und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen des Welttheaters

(die französische Revolution als historischer Hintergrund) aus einem kleinen

Spiegel zurückzuwerfen getrachtet.“



Wilhelm von Humboldt urteilt (Briefwechsel 1876. S. 39) über Hermann

und Dorothea: „Das Epos allein umfaßt die ganze Menschheit, vereinigt |#f0350 : 328|



zugleich Flug des Geistes und Ruhe der Empfindung, und fügt alle Elemente

des menschlichen Daseins zu einem großen Ganzen zusammen.“



Probe aus Hermann und Dorothea.



Gesang VII. (Erato.)



Denkend schaute Hermann zur Erde; dann hob er die Blicke

Ruhig gegen sie auf, und sah ihr freundlich in's Auge,

Fühlte sich still und getrost. Jedoch ihr von Liebe zu sprechen

Wär' ihm unmöglich gewesen; ihr Auge blickte nicht Liebe,

Aber hellen Verstand, und gebot verständig zu reden.

Und er faßte sich schnell und sagte traulich zum Mädchen:

Laß mich reden, mein Kind, und deine Fragen erwidern.

Deinetwegen kam ich hierher! was soll ich's verbergen?

Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern,

Denen ich treulich das Haus und die Güter helfe verwalten,

Als der einzige Sohn, und unsre Geschäfte sind vielfach.

Alle Felder besorg' ich; der Vater waltet im Hause

Fleißig; die thätige Mutter belebt im Ganzen die Wirtschaft.

Aber du hast gewiß auch erfahren, wie sehr das Gesinde

Bald durch Leichtsinn und bald durch Untreu plaget die Hausfrau,

Jmmer sie nötigt zu wechseln und Fehler um Fehler zu tauschen.

Lange wünschte die Mutter daher sich ein Mädchen im Hause,

Das mit der Hand nicht allein, das auch mit dem Herzen ihr hülfe

An der Tochter Statt, der leider frühe verlornen.

Nun, als ich heut' am Wagen dich sah in froher Gewandtheit,

Sah die Stärke des Arms und die volle Gesundheit der Glieder,

Als ich die Worte vernahm, die verständigen, war ich betroffen,

Und ich eilte nach Hause, den Eltern und Freunden die Fremde

Rühmend nach ihrem Verdienst. Nun komm' ich, dir aber zu sagen

Was sie wünschen, wie ich. ─ Verzeih' mir die stotternde Rede.


Scheuet Euch nicht, so sagte sie drauf, das Weitre zu sprechen;

Jhr beleidigt mich nicht, ich hab' es dankbar empfunden.

Sagt es nur grad' heraus; mich kann das Wort nicht erschrecken:

Dingen möchtet ihr mich als Magd für Vater und Mutter,

Zu versehen das Haus, das wohlerhalten Euch dasteht;

Und ihr glaubet an mir ein tüchtiges Mädchen zu finden,

Zu der Arbeit geschickt und nicht von rohem Gemüte.

Euer Antrag war kurz; so soll die Antwort auch kurz sein.

Ja, ich gehe mit Euch, und folge dem Rufe des Schicksals.

Meine Pflicht ist erfüllt, ich habe die Wöchnerin wieder

Zu den Jhren gebracht, sie freuen sich alle der Rettung;

Schon sind die meisten beisammen, die übrigen werden sich finden.

Alle denken gewiß in kurzen Tagen zur Heimat

Wiederzukehren; so pflegt sich stets der Vertriebne zu schmeicheln. u. s. f.



Zur Litteratur des idyllischen Epos sind noch zu nennen: Ad. Tellkampf

(Jrmgard); Kosegarten (Die Jnselfahrt); Dill (Paul und Therese); Bäßler

(Wilfried); M. Hartmann (Adam und Eva); Gregorovius (Euphorion); Ebert

(Das Kloster); Häring (Die Treibjagd); F. Rhode (Heinrich und Leonore);

F. Boas u. a.

|#f0351 : 329|



§ 123. Das historische Epos (Heldenepos).



Man nennt es auch gern und vorzugsweise das heroische Epos,

oder Heldengedicht, auch Epopöe, da es meist die Thaten eines geschichtlichen

Helden schildert, ohne Geschichtsschreibung sein zu wollen.



I. Das Schah-Nameh des Firdusi.

Das Schah-Nameh des

Firdusi ist seiner Absicht nach Königs- und Heldensage von der Zeit

des Darius Hystaspis bis zum Sturz der Sassaniden.



Mit dem Volksepos hat es das gemein, daß es seine Helden zu Halbgöttern

mit übermenschlicher Kraft ausrüstet. Es zeigt den Kampf des iranischen

Heldentums gegen die Mächte der Finsternis. Die verschiedenen Sagenkreise

der Könige und Herrscher ballen sich zu einem einzigen zusammen, in welchem

sich das ganze Leben von Jahrhunderten konzentriert.



Das Schah-Nameh ist Heldenepos und zugleich eine Art mythischer Geschichte.

Es fehlt im Schah-Nameh die Göttermaschinerie, die im Volksepos

nicht vermißt wird. Die Einwirkung der Götter ist hier sekundär. Der Dichter

hat sich dichterisch von seinem selbstlebenden Werk losgeschält und geht in ihm

auf. Durch seine Phantasie hat er 37 Sagen und mehr zur Einheit verbunden.



Probe aus dem Schah-Nameh des Firdusi. (Übersetzt von

Ad. Friedr. v. Schack. Vgl. Heldensagen des Firdusi. 3. Aufl. Stuttg. 1877.

I. 129.)



1.

Feridun verteilt das Reich an seine drei Söhne.



Schah Feridun beschloß, bei Lebenszeiten

Zur Teilung seines weiten Reichs zu schreiten;

Jn Rum und Chawer und in Jran schied,

Jn Tschin und Turkestan er sein Gebiet.

Dem ersten seiner Söhne, Selm genannt,

Verlieh er Rum so wie das Abendland,

Und sendete, geleitet von den Besten

Des Heeres, ihn in jenes Reich nach Westen;

Selm stieg auf seinen Thronsitz, und sofort

Gehuldigt ward ihm von den Großen dort.

Tschin und der Turkomanen weite Flur

Gab Feridun dem zweiten Sohne Tur;

Jn die Gebiete, die ihm zugeteilt,

Zog Tur mit seinem Heere unverweilt

Und stieg, dort angekommen, stolzen Schritts,

Mit Pracht sich gürtend, auf den Herrschersitz;

Die Großen streuten Perlen ihm zu Füßen

Und säumten nicht, als König ihn zu grüßen.

An Jredsch endlich, seinen jüngsten Sohn,

Verlieh der Vater Jrans hehren Thron,

Die Kriegervolk=durchstreiften Wüstenstriche,

So wie das Diadem, das königliche;

Wert hielt er ihn, daß er das Schwert empfinge

Mit samt dem Scepter und dem Siegelringe,
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Und Jrans Große nahten, sich verbeugend,

Dem Jredsch ihre Huldigung bezeugend.

So setzten sich in freud'gem Hochgefühle

Die Drei auf ihre goldnen Herrscherstühle.


2.

Selms Neid auf Jredsch.



Es floh die Zeit; doch in des Schicksals Schoß

Verbarg sich ein geheimnisvolles Los.

Dem hehren Feridun ward greis das Haupt,

Der Frühlingsgarten wurde weiß bestaubt,

Denn also nehmen alle Dinge ab,

Der Starke neigt sich alternd in das Grab.

Den Söhnen ward, je mehr des Vaters Kraft

Zu Ende ging, das Herz voll Leidenschaft.

Die Seele Selms begann sich zu umnachten

Und anders ward sein Sinnen und sein Trachten.

Arglistig saß er zwischen seinen Räten,

Bereit, den Weg des Bösen zu betreten;

Daß Feridun so Thron als Diadem

Dem Jüngern gab, das war ihm nicht genehm.

Die Stirne runzelnd, sinnt er Böses nur,

Schickt einen Boten an den Bruder Tur

Und heißt ihn solche Worte zu ihm reden:

„Sei froh! Erreiche deiner Wünsche jeden!

Doch sag', o Schah von Turkestan und Tschin,

Du Mann von Weisheit, Kraft und Heldensinn,

Wird er mißhandelt, zürnt nicht dann ein jeder?

Kleingeistig wär'st du, Hoher gleich der Ceder?

Vernimm jetzt was ich dir erzählen will,

Die Vorzeit sei vor solcher Kunde still!

Drei Brüder waren wir, des Thrones Zier;

Nun steht der Jüng're über dir und mir.

Mir, der dem Alter nach den Vorrang führt,

Mir hätte wohl der erste Platz gebührt,

Und, wären Thron und Krone mir entgangen,

So hätt' es dir geziemt, sie zu erlangen;

Wie schwiegen wir nun zu der argen That,

Die Feridun an uns begangen hat,

Da er an Jredsch Jran gab, das Land

Der Lanzenschwingenden und Jemens Strand,

Und so zum Mächtigsten den Jüngsten machte,

Die Ältern aber ärmlicher bedachte?

Nein, nicht in solche Teilung füg' ich mich!

Nicht mit des Vaters Spruch begnüg' ich mich!“


Es eilt auf windgeschwindem Dromedar

Der Bote hin zu Turan's Schehriar

Und trägt ihm die befohl'nen Worte vor;

Tur braust mit schwindelndem Gehirn empor,

Und wird, jemehr der Reden er vernimmt,

So wie der wilde Löwe zornergrimmt.

„Geh hin zu Selm! ─ ruft er mit Ungestüm ─

Jn meinem Namen rede so zu ihm:
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O Bruder, durch des Vaters That, die schnöde,

Ward unsre Jugend trauervoll und öde;

So ward die Saat zu einem Baum gelegt,

Der blut'ge Frucht und gift'ge Blätter trägt.

Daß wir zusammenkommen ziemt sich nun,

Und, haben wir beraten was zu thun,

So gieb zum Aufbruch deinem Heer Befehl!“ u. s. f.


II. Rostem und Suhrab, von Rückert.

Rückerts Rostem

und Suhrab hat es mit der Geschichtschreibung nicht zu thun; der

Dichter bietet vielmehr einen dem Schah-Nameh des Firdusi entlehnten

heroischen Stoff mit Verwickelungen und dem tragischen Ende der

Helden, wodurch das Epos ein volles Recht erhält, zur Kategorie des

historischen oder Heldenepos gezählt zu werden.



Jnhalt: Der Perserheld Rostem, dem sein Leibroß gestohlen wird, findet

es im benachbarten Königreiche, wo er sich in der Nacht heimlich mit der Königstochter

Tehmina verbindet.



Beim Abschied reicht er ihr eine Goldspange, mit der sie ihm ─ falls

aus der Verbindung ein Sohn erblühen sollte ─ den Großgewordenen senden

möge. Tehmina erhält einen Sohn, den sie Suhrab nennt. Als der Großgewordene

durch seine Mutter das Geheimnis seiner Abstammung erfährt, erwacht

in ihm abenteuerlicher Thatendrang und Sehnsucht nach dem Heldenvater.

Er will den König von Jran besiegen, und den erledigten Thron

dem Vater geben. Die Mutter giebt ihm als Erkennungszeichen die goldene

Spange mit.



Mit seinem Heere alles vor sich niederwerfend, gelangt Suhrab bis an die

Grenzburg Jrans. Dort besiegt er im Zweikampf den tapferen Burgvogt und nimmt

nun auch den Kampf mit der als Ritter verkleideten waffengeübten Geliebten

dieses Burgvogts auf. Auf ihrem Rosse kommt sie mutig gegen ihn angesprengt.

Aber ihr wuchtiger Stoß vermag Suhrab nicht zu rühren. Da verliert sie die

Siegeszuversicht. Suhrab wirft ihr eine Fangschnur um den Hals; aber die

Geängstete weiß ihn durch Schmeichelworte zu bethören, daß er ihr dieselbe

wieder abnimmt. Sie entwischt nun in die Burg. Von der Zinne herab höhnt

sie und mahnt Suhrab zur Umkehr. Er erstürmt diese Burg, findet aber die

bereits daraus entflohene Geliebte nicht mehr. Dieselbe giebt dem Könige Nachricht,

daß nur Rostem für diesen Helden der Mann sei. Rostem rückt an.

Neugierig, seinen Gegner kennen zu lernen, schleicht er in der Dunkelheit in

Suhrabs Lager, wo sein Erscheinen von Send, dem Einzigen, der Rostem

kennt, bemerkt wird. Er will Rostem ans Licht ziehen. Aber Rostem schlägt

ihn so wuchtig auf die Stirn, daß er entseelt zu Boden stürzt. Dadurch verliert

Suhrab den letzten Anhaltepunkt zur Entdeckung seines Vaters. Suhrab

fordert den Mörder zum Zweikampf heraus, und steht nun, ohne es zu ahnen,

seinem Vater Rostem gegenüber. Wie Löwen ringen die beiden ebenbürtigen

Gegner.



Der Kampf bleibt unentschieden. Am zweiten Tage wirft Suhrab seinen

Gegner zu Boden. Schon will er ihm den Todesstoß geben, als dieser ihm |#f0354 : 332|



vorspiegelt, die Landessitte verbiete, den im Zweikampf zum erstenmal Besiegten,

zu töten. Suhrab läßt sich bethören. Rostem nimmt alle Kraft zusammen und

überwindet nun den Suhrab, dem er ohne Zaudern den Todesdolch in die

vertrauensselige Heldenbrust stößt. Todeswund droht Suhrab, daß der Treulose

dereinst den Lohn für seine Untreue erhalten werde und zwar von seinem Vater,

dem unüberwindlichen Rostem, für den er eine goldene Spange auf der Brust

trage. Von Schrecken und Entsetzen erfaßt, bog sich Rostem in zitternder

Hast nieder:



„Und zog der Spange Gold, besetzt mit den Rubinen

Von Sohnes Blut hervor, selbst mit blutlosen Mienen

Und rief: Suhrab, mein Sohn! Weh Rostem und Tehminen!“



Eine erschütternde Scene folgt. Suhrab verzeiht dem Vater und tröstet ihn,

und dieser, vom Schmerz überwältigt, sinkt zu Boden:



„So lag er bei dem Sohn, selbst einem Toten gleich,

Und bei ihm lag der Sohn, im Antlitz totesbleich,

Jm Antlitz totesbleich, am Herzen toteswund,

Mit Rosen seines Bluts blümend den grünen Grund.

Noch floß das Blut, noch stand der Odem nicht, noch sah

Und fühlt' er, sterbend freut' er sich dem Vater nah.

Den Vater, ob ihm schon von ihm dies Leid geschah,

Den er allein gesucht, den hatt' er doch gefunden,

Und lag, wie er geträumt, von seinem Arm umwunden.



So stirbt der Held! ─ Stumm und starren Blickes steht Rostem da,

bis alle Ehrenbezeugungen für den gefallenen Helden und dessen Beisetzungsfeierlichkeiten

vorüber sind. Dann schwingt er sich, vom Wahnsinn erfaßt, auf

sein Schlachtroß, und fort irrt er in die Wüste, den Schmerz zu töten. Beim

Abschied ruft er mit hohler Stimme, blassen Antlitzes:



„Lebt alle wohl! Wenn man daheim von Rostem spricht

Und fragt, wohin er kam? so sagt: Jhr wißt es nicht.“



So endet dieses großartige Epos, dessen reckenhafter Heroismus, dessen

ruhige Schönheit, dessen Reichtum des Farbenwechsels, dessen Fluß der Darstellung,

dessen Kühnheit der Charakterzeichnung Rückert zu einem der bedeutendsten

Epiker seiner Zeit erhebt. (Vgl. I. S. 315.)



III. Vergils Äneis.

Vergils Äneis, die man als eine Nachahmung

der Odyssee bezeichnen muß, läßt die Römer von Äneas abstammen,

und besingt in 12 Gesängen des Helden Jrrfahrten nach der

Eroberung und dem Brand von Troja bis zu seiner Verheiratung mit

Lavinia, der Tochter des Königs Latinus.



Eben durch diese Verbindung wird aber Äneas der Stammvater von

Romulus und Remus. (Das in Hexametern geschriebene Epos ist von Voß

u. a. in's Deutsche übersetzt. Schiller hat in seiner Übersetzung des 2. und

4. Buchs der Äneide eine Vorarbeit zur Übersetzung des Dr. J. E. Nürnberger

(2. Aufl. 1841) geliefert, welch letzterer die Schillersche Arbeit einverleibt

wurde.)



Eine Probe aus Vergils Äneis findet sich Bd. I. S. 553.

|#f0355 : 333|



IV. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso.



Das befreite Jerusalem, dessen Jnhalt die Eroberung des heiligen

Grabes im ersten Kreuzzuge bildet und das zum Helden Gottfried

v. Bouillon hat, kann ebenso als romantisches Epos, wie als historisches

genommen werden.



Gewinnend sind die Figuren Tankred und Rinaldo, sowie die Frauen

Armida, Clorinde, Herminia. Es ist in Stanzen geschrieben und wurde im

gleichen Versmaß von Gries, Streckfuß, Duttenhofer übertragen.



Probe aus dem befreiten Jerusalem. (Nach dem Versmaß

der Urschrift übersetzt von Duttenhofer. Stuttg. 1840.)



Gesang I. (Str. 1.)

Die frommen Waffen sing' ich, und den Mann,

Der Christus hohes Grab der Kett' entschlagen;

Des Arm und Geist so herrlich viel gewann,

Der im erhabnen Kampf so viel getragen.

Fruchtlos dräut ihm die Höll', umsonst begann

Asiens und Lybiens Volk den Kampf zu wagen;

Gott schenkt ihm Huld, daß seine irre Schar

Bei dem Panier des Heils vereint ihm war.


Str. 6. (S. 10.)

Sechs Jahre waren's, daß in der Levante

Den hohen Streit begann die Christenschar,

Durch Sturm Nicea, und das wohlbemannte

Antiochien durch List zur Beute war.

Wo dann der Krieg auf Persiens Volk entbrannte,

Das ungefüg herkam und unzählbar.

Tortosa fiel; die schlechte Jahrszeit machte,

Daß nun das Heer auf's nächste Jahr erst dachte.


Gesang VI. (Str. 97.)

Herminia sieht im Thale sich allein,

Und zügelt nun den raschen Lauf der Pferde;

Da sie entgangen ist der ersten Pein,

Bangt ihr nicht mehr, daß sie ergriffen werde.

Nun fällt ihr, was sie nicht bedachte, ein,

Nun wird ihr klar erst ihres Wegs Beschwerde.

Wohl schwerer däucht ihr, als ihr Liebesdrang

Jhr täuschend log, sei zu dem Feind der Gang.


(Str. 114.)

Doch Tankred, noch im Herzen prüfend schwer

Die erste Kunde, als er dies erfahren,

Denkt nun: vielleicht kam sie aus Liebe her,

Und ist, nichts ahnend, drob nun in Gefahren.

Drum nimmt er halb nur seine schwere Wehr,

Und eilt geheim und still von seinen Scharen,

Besteigt sein Roß, und jagt auf ihrer Spur

Verhängten Zügels hin durch Feld und Flur.


Gesang XVIII.|(Str. 85.)

Beim Heere steht da Gottfried seelengroß,

Er ändert nicht die Farbe, nicht die Stelle,

Er tröstet sie, er sorgt, daß Wasser floß

Am Turm hinab, damit das Leder schwelle,
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Doch immer schlimmer wird der Seinen Los,

Schon mangelt ihnen frisches Naß der Quelle,

Da schau! mit einem Mal ein Sturmwind weht,

Der all' den Brand auf die Erzeuger dreht.


Gesang XX.|(144 Schluß des|Epos.)

So siegt Gottfried. So viel der Helle gab,

Die Sonne, die das Licht herniederstreute,

Daß er die Sieger zu dem heil'gen Grab,

Zur Stadt hinführen kann, die er befreite.

Dort legt er nicht den blut'gen Mantel ab,

Er eilt, daß er sein Volk zum Tempel leite,

Demütig löst er sein Gelübde, d'rauf

Hängt er die Wehr am Grabe betend auf.


V. Die Lusiaden des Camoëns.

Man möchte dieses Epos,

in welchem Wahrheit und Dichtung zauberisch zusammenfließen, als

ein historisches Feenmärchen bezeichnen. Camoëns (1524─80) behandelt

in demselben die Fahrt des Vasco de Gama nach Jndien.



Jnhalt: Das Epos beginnt mit einer mythologischen Scene im Stile

der Äneide von Vergil. Jupiter verkündet den Göttern, daß die Lusitanen

nach dem Willen des Fatum nach Jndien ziehen. Bacchus ist dagegen. Venus

dafür. Der imponierende Mars vermittelt, daß der Himmel dröhnt. Die

Lusitanen segeln der Küste entlang und erklären den Mohren:



Wir sind Portugiesen vom Occident,

Wir suchen Länder im Orient.



Durch ein Wunder der Venus mit ihrer Guarda divina wird Gama

den Anschlägen der Heiden entzogen. Er betet. Venus meldet dies dem Jupiter

und rührt diesen so, daß er den Gama durch Merkur im Traum warnen läßt.

Der 3. Gesang berichtet von Waffenthaten und erzählt die ergreifende Episode

von Don Pedro und seiner ihm heimlich angetrauten Jnez de Castro, die der

König Alfonso ermorden läßt. Andere Thaten folgen. Jm 5. Canto wird

über des Admirals Reise berichtet; wobei eine geographische Übersicht portugiesischer

Entdeckungen, ferner meisterhafte Beschreibung meteorologischer und

anderer Erscheinungen, z. B. einer Wasserhose, eines Seesturms &c. eingeflochten

werden. Endlich Landung in Jndien! (Canto VII.) Eine höchst sorgfältige

Beschreibung von Jndien schließt sich an. Vor der Heimreise läßt der Dichter

seine Lusitanen noch ein wonniges Dasein mit den Oceaniden feiern. Glücklich

läßt er sie wieder auf dem Tajo anlangen.



Der Leser fühlt sich durch dieses aus 10 Gesängen bestehende Epos in

südliche Regionen versetzt, namentlich im 8. Gesang unter Jndiens Himmel.

„Glühende Vaterlandsliebe, unermüdliches Kämpfen gegen die Mauren, löwenkühner

Mut zur See im Sturm und Schiffbruch und im fernen Jndien, lebhaftes

Mitempfinden der Majestät Gottes in der Natur, innige Verehrung alles

Schönen und darum auch der Frauenschönheit“ sind die Grundlagen dieses

portugiesischen historischen Heldenepos, das neben Booch-Arkossy (2. Aufl. 1857)

noch Eitner u. a. ins Deutsche übersetzten.

|#f0357 : 335|



Probe aus den Lusiaden. (Übers. von R. Avé-Lallemant in der

Schrift Luiz de Camoëns. 1879.)



Str. 44.

Du holdes Kind, Gefahren fürchte nicht

Für jene Lusitanen, für die Deinen.

Und daß mir etwas mehr zum Herzen spricht,

Als Deiner süßen Augen heißes Weinen!

Jch schwör's vor Deinem Engelsangesicht:

Rom, Griechenland soll sich vergessen meinen

Vor Deiner starken Helden Thun und Ringen,

Womit sie kühn den Orient durchdringen!


Str. 51.

Da sieht man gräßliches Zusammenstoßen,

Darob der Berge Gipfel selbst erbeben!

Das Feld bedecket sich mit wilden Rossen,

Die einst Neptun vom Boden rief ins Leben.

Da haut man auf einander unverdrossen;

Ringsher im Feld entflammt des Krieges Streben.

Wie unser Heer da Panzer, Harnisch, Schilde

Zerbricht, zerhackt, zerstößt, zermalmt, das wilde!


Str. 123.

Jnez zu morden ist der Fürst entschlossen,

Den Sohn ihr zu entziehn, der ihr verbunden,

Jm Wahn, daß wenn nur erst ihr Blut geflossen,

Des Prinzen Herz und Gram schon wird gesunden.

Das scharfe Schwert, das ritterlich vergossen

Der Mohrenscharen Blut aus tausend Wunden,

Soll jetzt, o Schmach! zur Schandthat auserkoren,

Des schwachen Weibes zarte Brust durchbohren.


Letzte Str.

Wenn Du es schaffst, daß mehr als die Meduse

Dein Antlitz fürchten Afrikas Gefilde,

Wenn Du zermalmst am Kap der Ampeluse

Der Maroccaner Maurenvolk, das wilde:

Dann singet meine schon bewährte Muse

Mit Lust und stolz von Deinem Heldenbilde;

Ein Alexander scheinst Du dann auf Erden

Und des Achilles Glück wird Deins auch werden.


VI. Scherenbergs historische Epen.

1. Waterloo (1849.

6. Aufl. 1869) ist ein Epos von origineller kräftiger Charakteristik

und bündiger Gedrungenheit der Ausführung. Markig erscheint der

alte Blücher und das preußische Heer in den volkstümlichen Farben

der damaligen Zeit, ebenso der „blasse heisere Kaiser“ (S. 65 ff.).

2. Ligny (1859. 4. Aufl. 1870). 3. Leuthen (1852. 3. Aufl. 1867).

4. Abukir, die Schlacht am Nil (2. Aufl. 1855). 5. Hohenfriedberg

(1869). Zur Charakteristik dieser Epen, die wohl hie und

da in chronikartige Reimerei ausarten, beschränken wir uns auf eine

Probe aus Abukir:



Da warf das Schiff Heureux, der Flottenwächter

Gen Morgen, durch den wolkenlosen Himmel

Jn ihrem Schlaf gleich unverhofftem Traum

Herüber das Signal: „Die Britten kommen!“
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„Der Nelson?“ flog es über alle Lippen

Vom Admiral hinunter bis zum Schiffsjung; ─

Denn Nelson galt auf See für Britten, wie

Zu Lande Bonaparte für Franzosen. ─


Und wie, fegt der Orkan nach Windesstill

Jn's Takelzeug, sich rühret jeder Mann

Mit der Seehurtigkeit, ihm angeschult

Von den erbarmungslosen Elementen,

Fuhr auf aus seiner träumerischen Ruh

Der Orient ─ und nach die ganze Flotte.


Hoch über dem Geplätsch vom kleinen Kiel

Stieg mit dem großen Stab der Admiral

Auf's Spiegeldeck der prächt'gen Gallerie,

Und hinter ihm am Maste stiegen mit

Jhm rauschend auf die Flaggen der Signale,

Und es begann darauf der Orient

Mit seinen Turmesriesen durch die Lüfte

Zu sprechen seine Bildersprache. ─ Und

Wie Zauberwerk sich selbst aufbaut unhörbar,

So reihten sich, still folgend hohem Wink,

Zur Schlacht die großen Orlog's, stellten sich

Um ihren Orient im Halbmond, wölbend

Hinaus den Bogen nach der offnen See.


Noch einmal überschaut von seiner Höhe

Der Admiral den Halbmond seiner Flotte,

Des Hörnerspitzen fern in Dunst zerflossen,

Dann hob er wieder den gesenkten Stab,

Und winkte: „Fertig zur Aktion!“ ─ Und rauschend,

Wie wenn das Drama auf den engen Brettern

Beginnen soll, der Vorhang aufrollt, rollt

Herab die Segelwand, und schwirrend, wie

Am Webstuhl, fliegt von Hand in Hand die Arbeit

Auf knappem, straff umsponnenen Verdeck:

Gerefft wird, was losbändig, ausgehändet

Das Pulver, das Geschütz geladen, los

Gemacht die Taljen, durchgeholt das Stück,

Geöffnet sind die Luken, die Lunte brennt,

Der Stückmatrose tritt an seine Kanone,

Der Arzt legt aus sein Wundzeug ─ still ist alles.


Und näher kommt der Hannibal der See,

Jhm immer mehr in Sicht das Schlachtfahrwasser &c.


Zur Litteratur des historischen Epos.



Von deutschen historischen Epen sind zu nennen: Christoph Otto von

Schönaichs († 1807) Heldengedichte Hermann und Heinrich der Vogler;

von Boguslawskys († 1817) Xantippus in 10 Gesängen; Pyrkers Tunisias

und Rudolfias (die Tunisias besingt Kaiser Karls V. Zug nach Afrika zur

Befreiung der Christensklaven und läßt die Seelen Saladins, Attilas wie

Götter auftreten. Die Rudolfias besingt Rudolf von Habsburg); Arnold Schlönbachs

Der Stedinger Freiheitskampf und Die Hohenstaufen; Gottschalls Carlo |#f0359 : 337|



Zeno und Sebastopol; A. Schults Ludwig XVI.; Überhorsts Derfflinger;

Pressels Sickingen; Alf. Meißners Ziska; Hamerlings König von Sion; Toblers

Winkelried; Roquettes St. Jakob; Gruppes Albion; Aug. Frankls Christophoro

Colombo; Rebenstocks Walhalla; Joh. Haupts klares, keusch gehaltenes Albungenlied;

G. Fischers Haspinger (Ulm, 1859); Herm. Daums Johs. Hus; Alfred

Meißners Ziska; Fed. Köppens Preußens Erhebung; Schlesingers Vindobona;

W. Osterwalds König Älfred, und besonders das (Barbarossas Liebesleben

behandelnde) ergreifende Epos Gela von dem formgewandten bayrischen Mitvertreter

(neben H. Lingg) der historischen Lyrik Karl Zettel u. a.



§ 124. Das komische, humoristische, satirische Epos.



Das komische Epos wird in der Regel als Gegensatz des klassischen

oder ernsten (erhabenen) Epos angesehen, da es häufig nur eine Parodie

desselben ist. Es erstrebt, durch Vorführung des Lächerlichen

(der menschlichen Beschränktheit) das ewig Gültige zur lebendigen Anschauung

zu bringen, zu unterhalten.



Das Gefühl des Lächerlichen wird erzeugt durch die eigenartige Charakterzeichnung

des zur drolligen Figur heruntergestimmten Helden und durch die

besonderen Verhältnisse, die der letztere zu bekämpfen hat, oder durch die

Wirkung des Kontrastes (I. 102). Der Dichter behält zuweilen den erhabenen

Stoff bei, den er in niederer Ausdrucksweise travestierend behandelt (z. B.

Blumauers Äneide). Oder er wählt den Stoff aus dem niedern Leben und

behandelt ihn parodierend pathetisch, so daß er selbst beim Unbedeutendsten

mit scheinbarem Ernst oder mit schwungvoller Rede, mit wichtig thuender Miene &c.

verfährt, wie es beispielsweise in folgenden Dichtungen geschah: Popes Haarlockenraub;

Butlers Hudibras; Zachariäs (der eigentlich das komische Heldengedicht

in unsere Litteratur einführte) Schnupftuch, Der Phaeton, Renommist,

Murner in der Hölle; Tassonis Geraubter Wassereimer u. s. w. Endlich kann

er aber auch niedern Stoff in niederer derb=volksmäßiger Form behandeln

(z. B. Jobsiade von Kortüm in Knüttelversen, ein Meisterstück witzigen, drolligen

Humors, dessen 2ter Teil, in welchem der Dichter den gestorbenen Helden

Jobs wieder aufleben, sich ändern und ein vernünftiges Leben führen läßt,

matter als der erste ist).



I. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann.

Dieses Epos mit

Bildern von Sundblad &c. ist bereits in 2. Auflage erschienen.



Jnhalt: Jm Weichbild der berühmten Weimarschen Töpferstadt Bürgel

hatte man vor Zeiten alle Hasen ausgerottet und noch nie einen Esel gesehen.

Einem wandernden Krämer entläuft nun einst dort sein Esel. Ein Jäger flieht

vor ihm und meldet die Anwesenheit dieses Untiers dem Rate der Stadt Bürgel,

der es für den Urhasen erklärt. Große Jagd. Der Esel wird durch einen

Schmied erlegt, der für seine Heldenthat die Tochter des Wirtes erhält. Zum |#f0360 : 338|



Festschmaus erscheint der Krämer. Er fordert Ersatz und wird dafür gar übel

zugerichtet. Das Fell des Esels lag lange im Bürgler Rathaus. Dann

spannte man es auf eine Trommel und zog, auf demselben Wirbel schlagend,

nach Schleswig. 1870/71 leitete diese Bürgler Jagd-Trophäe die Deutschen

auch mit nach Paris.



Ein zweites „fröhliches Heldengedicht“ Fr. Hofmanns ist sein

glänzend ausgestatteter „Geisterspuk auf der Veste Koburg“.

(Reich illustriert vom Grafen A. Mensdorff-Pouilly und Sundblad.)



Dasselbe schildert in „15 Stücklein“ das lustige und patriotische Umgehen

der Geister auf der alten Frankenburg, wo neben einem englischen Lord,

seinem irischen Diener, einem spanischen Granden und einem verwunschenen

Mönch auch Kaiser Ferdinand II., Gustav Adolf, Wallenstein, Tilly, die Reformatoren,

Käthchen Luther, der Ritter Rauber, Herzog Joh. Casimir, Christian VIII.

von Dänemark, Fr. Rückert, viele Götter und Göttinnen der Mythologie, Knappen,

Volk und sogar drei französische Kanonenseelen bis zur großen versöhnenden

Reichsnacht der Geister mit umgehen.



Probe aus der Eselsjagd, von Fritz Hofmann.



4. Gsg.

Ein schlanker Viertelsmeister, ein Mann von Ansehn dort,

Ein weit und breit gereister, hat justament das Wort.

„Mir, Männer, dürft' Jhr glauben, in der Menagerie

Zu Basel sah ich's selber, es war dasselbe Vieh.


's ist ein geschor'ner Löwe, und weiter ist es nichts!“

„O wehe! weh', ein Löwe!“ Der ganze Kriegsrat spricht's.

„Wer hätt' ihn denn geschoren?“ So fragt der Gerber. „Wer? ─

Wo kämen denn die Ohren, die ungeheuern, her?“ ─ u. s. w.


Doch wie zu allen Zeiten der erste Mann der Stadt

Bei den Begebenheiten der Welt die Zügel hat,

So nahm der Bürgermeister die Zügel jetzt zur Hand,

Die aufgeregten Geister anführend mit Verstand. u. s. w.


Kein Bär, kein Leu, kein Drache! Seht hin es ist ein Has,

Jst aller Hasen Mutter, der Urhas! Das ist das.

Der Kinder Tod zu rächen bis in das vierte Glied

An uns und an den Unsern, das ist das End vom Lied!


Das Tier, wie es unbändig jetzt wütet und krawallt,

Entlassen wir's lebendig, denkt, wir beklagen's bald!

Es streut die Haseneier zu Millionen aus

Und treibt mit unsern Kindern uns noch von Hof und Haus.


Drum auf mit Mut und Wehre! Jch, Kinder, führ Euch an!

Mein Vetter Grobschmied, sei du der linke Flügelmann,

Und du stehst auf der Rechten, mein Vetter Gerber! Auf,

Für Weib und Kind zu fechten, ist Heldenlebenslauf! u. s. f.



Probe aus dem Geisterspuk, von Fritz Hofmann.



S. 86.

Da rief: „Jhr Herr'n Franzosen!“ der Paddy auf einmal,

„Seht Jhr die roten Hosen zu tausenden im Thal?

Sie marschieren ohne Gewehre, Musik und Fahnen dahin,

Sieg krönte Eure Heere! Sie gehn spazieren nach Berlin!“ &c.
|#f0361 : 339|



II. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün.

Dieses

komische Epos hat den leidenschaftlich für die Baßgeige schwärmenden

Herzog Moritz (1688─1733 Administrator von Merseburg), zum

Helden.



Seine Teile sind: Ein Stück Exposition, Jnvocation, nebst etlichen Episoden;

Von einer Feder, einem Schwerte und einer Axt, nebenbei etwas von

der Menschenhand; Jntermezzo als Arabeske; Wie der Merseburger Hofpoet

gesungen haben würde; Der Herzog bestellt sein Zeughaus und wirbt sein Heer;

Der Herzog meint die Harmonie zu finden; Der berühmte Chevalier von Pöllnitz

am Merseburger Hofe; Etwas von dem alten Riesen Einheer; Der Herzog

besiegt die Hydra der Revolution; Der Herzog bereist seine Staaten; Hier

wird Spielzeug verfertigt; Eine Vision; Die Saiten klingen aus.



Probe aus Nibelungen im Frack. (Ausg. 1877.)



S. 17.

Mein Held ist traun, kein Riese, das könnt' uns schnell entzwein,

Dir möcht' ein Wicht mein Riese, dein Ries' ein Zwerg mir sein;

Er ist nicht so groß, daß Mißgunst ihn noch verkleinern wollte,

Er ist nicht so klein, daß Liebe aufblasen ihn und strecken sollte.


S. 18.

Sein Rößlein heißt Marotte, im Baß geht's statt im Paß,

Von seinem Schenkeldrucke stöhnt, schnaubt der Geigenbaß!

Marotte, sei besungen wie deine Brüder im Stalle,

Du springst viel höher, weiter, du bist gewaltiger als sie alle!


S. 20.

(Vgl. hierher die Probe Bd. I. S. 605.)



S. 41.

Sie wandern fröhlich weiter. Der Herzog plötzlich spricht:

„Mich dünkt, am Gotthardsteiche den Turm dort sah ich noch nicht!“

„„Es thut mir, Sereniss'me, zu widersprechen leid,

Kein Turm ist's, nur Windmühle! die Flügel rührt's ja beiderseit!''''


„Sei's Windmühl oder Kirchturm, Entsetzen ist's zu sehn!

Denn seht, es regt sich, schreitet, auf uns scheint's los zu gehn!“

Und immer näher wallt es, hat Arme, Beine, Kopf

Und steht vor ihnen endlich, ein Goliath mit steifem Zopf.


Nach Ellen ist's zu messen vom Scheitel bis zur Ferse,

Langbeinig, wie hier im Liede die Nibelungenverse;

Sein Atem dröhnt, als blähten der Orgel Bälge sich.

Der Herzog ruft fast zitternd: „Wer bist du und von wannen? sprich!“


„„O! kennt ihr nicht den Jonas vom Regiment der Langen?

Jch komm' auf Meilenstiefeln von Potsdam hergegangen,

Vom König, der den Riesen in Lieb' und Huld geneigt,

Nur nicht dem einen jungen, dem Riesen, den er selbst gezeugt.


Wie Finkler im Gehege, wie auf der Beize Sperber,

So locken Diplomaten, so packen uns die Werber;

Wie Schlingen junge Füllen, so fangen uns Verträge,

Daß nur der Tritt von Riesen den Staub am Haveldamm errege! &c.


S. 42.

Der Glanz hat seine Schatten. Seltsam hat sich's begeben,

Der König kam uns mustern, als ich im Schenkhaus eben;

Zufall, daß ich bisweilen kein musikalisch Ohr,

Und mich der Trommel Wecker umsonst vom Schlafe rief empor.
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Heißt's Unstern nicht, daß grade des Königs Blick sich wählte

Zur Rast das einz'ge Knopfloch, an dem der Knopf mir fehlte?

Da hat es sich getroffen, ─ o schwärzester Schicksalsbock! ─

Daß eben mich getroffen von Rohr der königliche Stock.


Der stand nicht im Kontrakte! Da macht' ich mich von dannen,

Und steh euch hier zu Dienste, ein Opfer des Tyrannen.''''

Den Stift schon nimmt der Kanzler, den Steckbrief aufzusetzen,

Der Herzog Moritz Wilhelm doch ruft in freudigem Entsetzen:


„Nun hab ich auch den Riesen, ─ o Anblick, Götter zu laben!

Der Kontrabaß als kleine Armgeige kann handhaben!“

Ohnmächtig all' der Wonne, sinkt er mit bleichen Wangen,

Es war von seinem Glücksmond das letzte Viertel eingegangen.


Der Riese lädt auf den Rücken den Herzog huckepack,

Der Kanzler wallt daneben, das Zwerglein in dem Sack,

Wie Baß- und Violaträger zur Stadt heimwandeln sie,

Selbst tragend und getragen, ein schönes Bild der Harmonie.


III. Tulifäntchen, von Karl Jmmermann.

Dieses komische

Epos besteht aus 3 Gesängen, I. Tulifäntchen Fliegentöter, II. Die

Mauer von Brambambra, III. Balsamine.



Jnhalt: Das Zwerglein Tulifäntchen bewährt sich als Fliegentöter. Es

fordert den Riesen Schlagadodro zum Kampf heraus, den seine eiserne Mauer

mit seinen 50 Mohren erschlägt, wobei nur ein geschwärzter, die Nibelungen

lesender Professor davonkommt. Tulifäntchen vermählt sich sodann mit Balsamine,

die ihn in einen Käfig sperrt. Er sucht den Tod und wagt einen kühnen

Sprung. Aber anstatt zu zerschmettern fällt er in der Fee Libellens Schoß

und wurde nun nicht mehr auf Erden gesehn.



Probe aus Tulifäntchen. (Nr. 3 des II. Gesangs.)



[Beginn Spaltensatz]
Schlagadodro! Schlagadodro!

Ungeschlacht hieß dein Herr Vater,

Tramplagonde die Frau Mutter,

Doch du selbst heißt Schlagadodro!


O bedeutungsvolle Wahrheit

Jenes tiefen Spruchs aus Osten:

Was das Hänschen nicht gelernet,

Wird der Hans wohl wissen schwerlich!

Folgt mir jetzo zu dem Haushalt

Meines alten Riesenschülers

Schlagadodro, Schlagadodro!


Nur mir nach! Der Weg ist schlüpfrig;

Felsenauf, durch Waldgerinnicht

Winden sich die Pfade rieselnd.

Hütet das Gesicht vor Nesseln!

Nehmt in acht die Hand vor Dornen,

Vor dem Pfriemkraut, vor den Brombeer'n!

Fürchtet nichts! Euch führt der Dichter,

Und ihn führt die freud'ge Muse;

Nur den Fels noch! So, da sind wir

Auf der Blöße, hoch im Dickicht.


Seht, da steht das Schloß Brambambra!

Gelt, das ist ein Riesenlustschloß?

Kost't dreihunderttausend Thaler!

Vater sel'ger Schlagadodro's

Kauft' es einst. Nun aber ratet,[Spaltenumbruch]

Ratet klug, von wem er's kaufte?

Von dem alten Tulifanten,

Welcher damals Gelder brauchte.

Ha Verhängnis! Tulifäntchen!


Geht nur näher zu der Mauer,

Ohne Scheu! Noch speist der Riese.

Seht, sie ist durchaus von Gußstahl.

Schlagadodro holt' aus England

Sich den Meister, der sie baute

Mit geheimnisvoller Kunsthand.

Nirgends seht ihr eine Schraube,

Nirgends eines Stücks Verbindung,

Frisch und ganz steht diese Mauer,

Wie ein Kind aus Mutterleibe,

Und doch wurden viele tausend

Eisenplatten in einander

Eingefüget; wer entdecket'

Dieses Werks verstecktes Wunder?

Scheuern läßt der Riese Samstags

Seine Mohren diese Mauer,

Sie mit Schmirgel reinlich putzen,

Daß sie glänzt, ein blauer Spiegel,

Weit vom Berg in alle Landschaft.

Denn er hält auf sie unendlich,

Und sie ist sein Glück, sein Abgott.

Schlaft um aller Götter willen

Nicht, ihr Teuren, wenn die Mauer[Ende Spaltensatz] |#f0363 : 341|



[Beginn Spaltensatz]Vorkommt; schlaft bei andern Stellen!

Glaubt, sie ist vom höchsten Einfluß

Auf das weitere Verläufnis

Dieses großen Heldenliedes!


Rasch hinweg, da naht der Riese!

Nach dem Essen wird studieret.

Rasch nur hinter jenen Vorsprung!

Muse, bleibe du auf Posten,

Sag' uns treulich, was du schautest.


Schlagadodro blickt verdrießlich,

Wie der alte Hund bei Lichtwer,

Der zum Lernen war so kopflos.

Unter jedem Arme trägt er

Sein Getränk in einem Oxhoft.

Setzt sich zwischen seine Fässer

Auf der Mauer Kante, baumelt

Mit den Beinen, sagt verdrießlich:

Sonne sticht auch gar zu stark hier,

Und dabei soll man studieren!

Ein verfluchtes durst'ges Wetter!

Führt mit Anstand zu den Lippen

Eins der beiden Oxhoft-Fässer,

Trinkt gelinde aus dem Spundloch,

Trinkt, verschluckt sich nicht im mind'sten,

Trinkt das Oxhoft bis zur Neige,

Wirft die Tonne von der Mauer,

Trinkt die zweite, wirft sie 'nunter,

Leer bis auf die Nagelprobe.


Seine Augen wurden wacker.

Sprach: nun soll'n die Wissenschaften

Auch getrieben werden endlich.

Jmmer Schlingen, Schlucken, Schlemmen

Jst, bei Gott dem Herrn, fast viehisch.

Denn im Leibe sitzt der Magen,

Und im Kopfe sitzt die Seele.

Brot und Fleisch verlangt der Magen,

Kenntnisse verlangt die Seele.

Jst der Magen satt vom Essen,

Muß die Seele auch was haben,

Das ist Ordnung, also will es

Die Gerechtigkeit, die erste[Spaltenumbruch]

Aller Tugenden; die Seele

Jst just'ment so gut, wie du bist

Musje Magen. ─ Damit Punktum.


Sprach's; holt aus der Tasch' ein Büchlein,

Buttmann's griechische Grammatik.

Denn er stand beim Griech'schen grade,

Das Ebräische soll folgen,

Sagte die Prinzeß, im Herbste.

Lernte: Tüpto, Tüpteis, Tüptei,

Tüptomen, zuletzt Tüptusi,

Daß der Wald von dem Gebrüll scholl,

Und die Erd' in Ängsten bebte.


Während so der arme Riese

Griechisch lernte mit Beeifrung,

Und den Takt schlug mit den Beinen,

Standen hinter ihm die Mohren,

Seine tägliche Bedienung,

Wedelnd mit den Straußenwedeln;

Knull, der Obermohr, und fünfzig

Kohlpechschwarze Untermohren;

Ein und fünfzig Stück im Ganzen.


Knull, jetzt kann ich's, überhöre!

Rief voll Freuden Schlagadodro

Nach dreistündiger Bemühung.


Knull nahm 's Buch hin, überhörte;

Schlagadodro kratzt im Haupte,

Blickt' hinunter, blickt' gen Himmel,

Schwang und schlenkerte die Finger,

Konnte nicht ein Sterbenswörtchen,

Weinte, daß das Griech'sche nimmer

Woll' in seinen Kopf, den harten.

Weinte zwanzig Eimer Thränen

Aus den Augen, vierzigzöllig,

Von der Mauer von Brambambra

Nieder auf den sel'gen Buttmann.


Dieses waren deine Leiden,

Schlagadodro! Schlagadodro!

Ungeschlacht hieß dein Herr Vater,

Tramplagonde die Frau Mutter

Doch du selbst heißt Schlagadodro.
[Ende Spaltensatz]

Zur Litteratur des komischen Epos.



Bekannter gewordene, nennenswerte komische Epen sind noch: Der neue

Amadis in 18 Gesängen von Wieland; Wilhelmine, ein prosaisch=komisches Gedicht

von Thümmel (in demselben wirbt ein pedantischer Landprediger um

die Hand der schönen, jugendlichen Wilhelmine); Der Schoßhund, ─ Das Toppen,

─ Ardon und Themion von Joh. Jak. Dusch († 1787); Der Sieg des Liebesgottes

(eine Nachahmung von Popes Lockenraub) von Uz († 1769); Adam und

Eva, ─ Karfunkel, ─ Klingklingalmanach (worin der Dichter gegen die Romantiker

zu Felde zieht) von Jens Baggesen; Fortunat von Uhland. Mehr humoristisch

und satirisch sind folgende Epen: Heines Atta Troll (eine Parodie auf

die unkünstlerischen, schwerfälligen Gesinnungspoeten mit ihren mühsam angelernten

Künsten und dem Mangel an Genialität); Glaßbrenners Die verkehrte

Welt; Weidmanns Parochiade; Prätzels Feldherrnränke; Roffhacks Die Leiden

der jungen Lina; Hans Hopfens Pinsel Mings; Ecksteins Die Stumme von

Sevilla, Schach der Königin, Venus Urania; Rudolf v. Gottschalls König

Pharao; Julius Wolffs Till Eulenspiegel redivivus; Jul. Grosses Pesach |#f0364 : 342|



Pardel; K. Schröders „Krethiplethiade, ein heroisch=komisch=romantisch=idyllisches

Epos“ u. a.



Als humoristische Epen in höherem Stil sind zu nennen: Wielands Oberon,

den wir schon unter den romantischen Epen anführten, sowie das bedeutende

Epos Don Juan von Lord Byron, das man einen Welt- und Lebensspiegel

nennen darf. Das bei uns bekannteste komische Epos der französischen Litteratur

ist „Das Lesepult“ (le lustrin) von Boileau, eine witzige, geistreiche,

in glatten Versen geschriebene Dichtung &c.



§ 125. Das Tierepos.



Es ist eine besondere Gattung oder Abart des komischen und

satirischen Epos, welches die Thorheiten und Verkehrtheiten des Lebens

geißelt, indem es Tiere als Menschencharaktere oder handelnde Personen

auftreten läßt. Es ist seinem Wesen nach allegorisch.



Oft bilden Tiere des Feldes und Waldes den Gegenstand der Erzählung,

deren Mittelpunkte der Löwe oder Bär (als König), der Wolf (Jsegrim), der

Fuchs (Reinhard, Reineke) &c. sind. Die Tiersage leitet ihren Ursprung aus Flandern

her, von wo sie bei den fränkischen Stämmen eine Pflegestätte fand. Anfänglich

sollte das Tierepos die Tiertypen und das Tierleben in lebendiger Anschaulichkeit

vorführen. Später erst bezog man es auf gesellschaftliche Zustände,

wodurch es eine didaktische Tendenz erhielt. Es läßt dem Humor freie Entfaltung

und wird nicht selten ironisch=sarkastisch. (Vgl. z. B. Glaßbrenners sarkastischen

Reineke.)



I. Reineke Fuchs, von Goethe.

Dieses satirisch=komische Tierepos

ist eine Nachbildung jener uralten Tiersage, die wir bereits unter

Fabel (S. 162 d. Bds.) erwähnten. Es zeichnet sich durch lebensvolle

Jndividualisierung und treffende Charakteristik aus und liefert den

Nachweis, daß die seinen Kern bildende alte Tiersage von Reineke

Vos in ihrer neuen, schöneren Form auch in unserem Jahrhunderte

große Wirkung zu üben vermag, daß auch unsere Zeit aus derselben

Belehrung schöpfen kann, ja, daß sie wie ein aus waldesduftiger Heimlichkeit

vorgehaltener Spiegel auch die Schwächen unseres Jahrhunderts

reflektiert.



Die Hauptfigur des in 12 Gesängen im hexametrischen Versmaß aufgebauten

Epos ist der Fuchs (Reinhard, Reineke, Reginhard, d. i. der Ratskundige,

Ratfeste, franz. renard).



Jnhalt: Allgemeiner Friede wird den Tieren verkündigt. Trotzdem beharrt

ein jedes in seiner Selbstsucht. Besonders der Fuchs ist es, welcher alle

Tiere auf's Arglistigste und Liebloseste behandelt, sich gegen jegliche Ordnung

auflehnt und gegen Religion und Sittlichkeit auf's Gröblichste verstößt. Nobel,

der Löwe, Regent des Tierreichs, ist sein Protektor. Jsegrim der Wolf, Lampe

der Hase, Braun der Bär, Hinze der Kater, Henning der Hahn &c. verklagen |#f0365 : 343|



den Fuchs bei Nobel wegen seiner hinterlistigen Betrügereien. Reineke weiß

sich herauszulügen, so daß er zuletzt sogar noch von Nobel mit Ehren überhäuft

wird.



Grundgedanke: List und Ränke gewinnen im Leben die Oberhand über

Gutmütigkeit und Ehrlichkeit; Schlauheit und Selbstsucht regieren die Welt.



Die neue Ausgabe der klassischen Übersetzung unseres Goethe mit Kaulbachs

Jllustrationen hat den Vorzug der Anschaulichkeit durch das Bild, indem

es Kaulbach wie kein zweiter verstand, tierische Gestalten und Physiognomien

zur typischen Darstellung menschlicher Bestrebungen und Leidenschaften in den

richtigen Situationen aufzufassen und zu verwerten.



Beispiel aus Reineke Fuchs, von Goethe.



Siebenter Gesang.



Und nun sah man den Hof gar herrlich bestellt und bereitet,

Manche Ritter kamen dahin; den sämtlichen Tieren

Folgten unzählige Vögel und alle zusammen verehrten

Braun und Jsegrim hoch, die ihrer Leiden vergaßen.

Da ergötzte sich festlich die beste Gesellschaft, die jemals

Nur beisammen gewesen; Trompeten und Pauken erklangen,

Und den Hoftanz führte man auf mit guten Manieren.

Überflüssig war alles bereitet, was jeder begehrte.

Boten auf Boten gingen in's Land und luden die Gäste,

Vögel und Tiere machten sich auf; sie kamen zu Paaren,

Reiseten hin bei Tag und bei Nacht, und eilten zu kommen.


Aber Reineke Fuchs lag auf der Lauer zu Hause,

Dachte nicht nach Hofe zu gehn, der verlogene Pilger;

Wenig Dankes erwartet' er sich. Nach altem Gebrauche

Seine Tücke zu üben gefiel am besten dem Schelme.

Und man hörte bei Hof die allerschönsten Gesänge;

Speis' und Trank ward über und über den Gästen gereichet;

Und man sah turnieren und fechten. Es hatte sich jeder

Zu den Seinen gesellt, da ward getanzt und gesungen,

Und man hörte Pfeifen dazwischen und hörte Schalmeien.

Freundlich schaute der König von seinem Saale hernieder;

Jhm behagte das große Getümmel, er sah es mit Freuden.


Und acht Tage waren vorbei (es hatte der König

Sich zu Tafel gesetzt mit seinen ersten Baronen,

Neben der Königin saß er), und blutig kam das Kaninchen

Vor den König getreten und sprach mit traurigem Sinne:


Herr! Herr König! und alle zusammen! erbarmet euch meiner!

Denn ihr habt so argen Verrat und mördrische Thaten,

Wie ich von Reineken diesmal erduldet, nur selten vernommen.

Gestern Morgen fand ich ihn sitzen, es war um die sechste

Stunde, da ging ich die Straße vor Malepartus vorüber;

Und ich dachte den Weg in Frieden zu ziehen. Er hatte,

Wie ein Pilger gekleidet, als läs' er Morgengebete,

Sich vor seine Pforte gesetzt. Da wollt' ich behende

Meines Weges vorbei, zu eurem Hofe zu kommen.

Als er mich sah, erhub er sich gleich und trat mir entgegen,

Und ich glaubt' er wollte mich grüßen; da faßt' er mich aber
|#f0366 : 344|



Mit den Pfoten gar mörderlich an, und zwischen den Ohren

Fühlt' ich die Klauen und dachte wahrhaftig das Haupt zu verlieren:

Denn sie sind lang und scharf, er druckte mich nieder zur Erde.

Glücklicherweise macht' ich mich los, und da ich so leicht bin

Konnt' ich entspringen; er knurrte mir nach und schwur mich zu finden,

Aber ich schwieg und machte mich fort, doch leider behielt er

Mir ein Ohr zurück, ich komme mit blutigem Haupte.

Seht vier Löcher trug ich davon! Jhr werdet begreifen,

Wie er mit Ungestüm schlug, fast wär' ich liegen geblieben.

Nun bedenket die Not, bedenket euer Geleite!

Wer mag reisen? wer mag an eurem Hofe sich finden,

Wenn der Räuber die Straße belegt und alle beschädigt?


Und er endigte kaum, da kam die gesprächige Krähe,

Merkenau, sagte: Würdiger Herr und gnädiger König!

Traurige Märe bring ich vor euch, ich bin nicht im Stande

Viel zu reden vor Jammer und Angst, ich fürchte, das bricht mir

Noch das Herz: so jämmerlich Ding begegnet mir heute u. s. f.


II. Rollenhagens Frosch-Meuseler.

Rollenhagens „Frosch=

Meuseler“ (1595) oder „Der Frösche und Mäuse wunderbare Hofhaltungen“

ist eine Neubearbeitung der „Batrachomyomachie“ und eine

Parodie des homerischen Stils.



Das Epos ist wertvoll als Versuch, eine ganze Epopöe didaktisch auszuführen.

Es zeigt im 1. Buche, wie alles seine Feinde habe, wobei es die

bürgerlichen Stände durch Tiere vorstellt. Jm 2. Buch folgen Erörterungen

des Froschkönigs Bausback mit dem Mäusekronprinz Bröseldieb über die beste

Staatsverfassung. Jm 3. und letzten Buch beginnt der Krieg zwischen Fröschen

und Mäusen, welch' letztere trotz tapferster Gegenwehr doch ihren Feinden weichen

müssen, da jene sich durch die gepanzerten Krebse verstärken. Das Gedicht ist

reizend in den Einzelheiten und gewinnend durch anmutige, behagliche epische

Breite; aber in der innern Komposition ist es nicht eng genug gefügt und zusammengeschlossen.





Probe aus dem Froschmeuseler, von Rollenhagen. (Ausg.

von K. Goedeke. 1876. S. 64. Die Orthographie ist verändert.)



[Beginn Spaltensatz]
Bröseldieb sagt, wer Murner sei.

„Murnern, der Katzaner Patron,

Lehrt mich kennen mein Mutterfron;

Jch bat, wie ich noch war ein Kind,

Wie die Kinder fürwitzig sind,

Sie wollt's lassen einmal geschehen,

Mich auch lassen die Welt besehen .. u. s. w.

Sie wehret ab mit Hand und Mund,

Predigt mir viel von Katz und Hund,

Wie die uns wären so gefähr.

Jch bat und gilfert immer mehr,

Bis sie zuletzt williget drein,

Daß ich ein Stund möcht von ihr sein,

Warnet doch mit ganzem Fleiß

Und saget von des Murners Weis,

Daß er versteckt im Winkel säß,

Und die Mäuslein ohn' Brot einfräs,

Das wäre sein allerliebste Speis,

Den sollt ich ja meiden mit Fleiß.

Jch schlich unter der Wand herfür[Spaltenumbruch]

Nach unsers Schlosses Vorderthür,

Die in des Mantiers Haus hinging,

Davon es Wärme und Rauch empfing,

Und guckt heimlich zuerst heraus

Wie ein unbewanderte Maus,

Ob auch da wär sicher Geleit,

Oder ob der Murner säß zur Seit.

So saß im Haus im Sonnenschein

Ein schönes weißes Jungfräulein,

Sein Äuglein glänzten hell und klar,

Es leckt und schlichtet seine Haar,

Küsset die Händ und wusch sie rein

Über die zarten Wängelein;

Das Herz im Leib verlanget mir,

Daß ich nur möcht treten herfür,

Dasselb mit adeligen Sitten

Um seine Lieb und Freundschaft bitten,

Küssen ihre schneeweiße Händ:

So hätt all meine Sorg ein End. ─

Es trat aber am Platz herum[Ende Spaltensatz] |#f0367 : 345|



[Beginn Spaltensatz]Jm Haus die Läng und in die Krumm

Ein erschreckliches Wundertier, (Hahn)

Dafür die Haut erschüttert mir,

Vom Haupt zu Fuß aller Gestalt,

Wie man ein Basilisken malt;

Jch dacht, ob das der Murner wär, u. s. f.

Als hätt mich der Donner geschlagen,

So stürzt ich zu dem Loch hinein.

Lief zu meinem Frau Mütterlein.

Die erschrak und fragt, was mir wär,

Daß ich fast hätt kein Atem mehr

Und also sehr fing an zu beben;

Wollt mir Arzenei für's Schrecken geben.

Jch sprach: „O Mutter, der Murner

Hat mich erschrecket also sehr,

Daß ich schier nimmer Atem hol;

Wie habt ihr mich gewarnt so wohl!“

„Was that er denn?“ die Mutter sprach. ─

Jch sagt: Jm Haus ich sitzen sach

Ein zartes, schönes Jungfräulein

Jm weißen Pelzlein artig fein,

Das schmückt sich mit geleckter Hand;

Jch hätt mich gern zu ihm gewandt

Und um ein Kuß freundlich gebeten;

So kömmt der Murner hergetreten

Mit Gabelfüßen, mit der Kron,

Mit brennendem Schwanz angethon,

Daß mich däucht sehr erschrecklich stehen.

Der Schelm hätt' mich im Loch gesehen,

Springt auf die Thür und rufet laut,

Wenn ichs gedenk, graust mir die Haut:

„Rück, rück ihn herauser beim Krag'n!“

Damit wollt er sein Dienern sag'n,[Spaltenumbruch]

Daß sie mich sollten nehmen an;

Und sie hättens wahrlich gethan,

Wenn ich nicht bald entlaufen wär;

Davon bin ich erschreckt so sehr. ─

Da sagt die Mutter: „Liebes Kind,

Die so schrecklich anzusehen sind,

Die thun uns Mäusen nichts zuleid;

Die aber dichten Freundlichkeit,

So leis und lieblich einherschleichen,

Die Händlein küssen, Willkomm reichen,

Die sind giftige Kreatur,

Teufel unter englischer Figur;

Die sind gefährliche Katzen,

Die vorn lecken, hinten kratzen. u. s. f.

Das Jungfräulein, das so schön war,

Bringt uns Mäuschen die größt' Gefahr,

Futtert sein Pelz mit unserm Blut;

Gott sei Dank, daß er dich behut't!


Das Epos schließt mit folgender

Moral:


S. 288.



So ward des Tags der Krieg vollbracht,

Die Sonn' ging unter und es ward Nacht.

So fahl, so schal, so kalt geht's aus,

Wenn sich der Frosch rauft mit der Maus.

Aller Welt Rat, Macht, Trotz und Streit

Jst lauter Tand und Eitelkeit,

Macht doch Mord, Armut, Herzeleid.

Gott helf und tröst in Ewigkeit! Amen.


Salomon,

Vanitas vanitatum et omnia vanitas.
[Ende Spaltensatz]


III. Der Muckenkrieg.

Dieses heroisch=komische Gedicht wurde

von H. C. Fuchs verfaßt. F. W. Genthe hat es 1833 nach der

Ausgabe von 1600 mit den Varianten der Schnurrschen Bearbeitung

von 1612 neu herausgegeben.



Jnhalt: Die Mucken und ihre Verbündeten ziehen zu Feld gegen die Ameisen

und deren Verbündete. Die Gegner treffen in großer Zahl auf einander und

liefern sich eine greuliche Schlacht.



Probe des Muckenkriegs.



Das erste Buch. (Jnhalt:)



Jn diesem ersten Buch rüst' sich

Der Mücken Heer zum Ameiskrieg,

Die ihnen groß' Schaden und Hohn

Bewiesen hatten. Auch kommt an

Der Roßfliegen, Weinmücklein, Brëmen

Und Schnacken-Hülf. Die Haufen nehmen

Jhren Heerzug für über Meer,

Segeln mit gutem Wind daher. &c.


Das andere Buch. (Jnhalt:)



Jm andern Buch da rüsten sich

Gleicher Gestalt mit Gewalt zum Krieg,

Die Ameisen, und kommen ihnen

Die Wanzen, Läuse, Flöhe und Spinnen

Zu Hülf. Auch greift die Mucken an

Zu Meer ein schreckliches Fortun.
|#f0368 : 346|



Kommen doch endlich an zu Land.

Schleifen's Schloß Atricos genannt.

Belagern auch Crappa die Stadt.

Und weil dieselbe Mangel hat

An Proviant, kommen viel Wägen

Voll Speis und Trank ihr zu, dagegen

Wird Mustibibax der Heid geschickt,

Daß er dieselbe der Stadt abstrickt,

Daß ihm zwar nicht viel Gut's gebührt,

Dann er darob gefangen wird.

Siccaboron der wilde Knab

Thut mit den Flöh'n eine feine Prob.

Jn der Stadt kommt eine Meuterei

An Tag, und rückt mit Gewalt herbei

Mit den Ameisen der teure Held

Granestor, und legt sich auch zu Feld.

Myrauca bietet Siccaboron

Einen Kampf an, der will nicht d'ran,

Veracht' ihn, willigt, daß eine Schlacht

Den Krieg zu richten werd' gebracht.


Das dritte Buch. (Jnhalt:)



Jm dritten Buch werden verbracht,

Etlich Scharmützel und ein Schlacht,

Beiderseits ficht man ritterlich,

Und steht lang im Zweifel der Sieg,

Bis endlich Granestor das Feld

Und die Viktoriam erhält.

Sanguileo mit sein Bundsgenossen

(Scannacaballen ausgeschlossen,

Welcher dringt durch der Spinne Netz,

Die sie gericht hätten) zuletzt

Bleibt tot. Siccaboron der Held

Lang in der Stadt zur Wehr sich stellt,

Darein er war thöricht gerennt,

Doch endlich auch sein Leben end't.


Zur Litteratur des Tierepos.



Schon das Altertum in Jndien, Persien und Griechenland kennt die

poetische Auffassung der Tierwelt. Diese hat sich im germanischen Mittelalter

ausgebildet und größere Gedichte erzeugt. Fuchs und Wolf treten zuerst als

handelnde Personen auf. Jm 12ten und 13ten Jahrhundert treten zuerst

in Flandern die Dichter der Fuchs- und Wolfsage auf, um unter diesen

Figuren über den Papst, die Geistlichen &c. die satirische Geißel zu schwingen.

(Für Näheres vgl. J. Grimms Einleitung zur Ausgabe von Reinhart Fuchs.

Berlin 1834.)



Es entstanden u. a. Reineke Vos. Des Hundes Not. Die Wolfsklag.

Ratsversammlung der Tiere. Flohhatz, von Fischart. Der Froschmäusler. Der

Muckenkrieg. Der Ganskönig, von Spangenberg u. a.



Drei nennenswerte Tierepen aus der neueren Zeit sind: 1. Bäßler:

Ameisen- und Jmmenkrieg (eine Nachbildung des Muckenkriegs), 2. Heinrich |#f0369 : 347|



Ernst Pöschl: Geranopygmaiomachie (ein komisches Tierepos in 5 Gesängen,

welches 1837 in Pesth erschien. Es wurde durch Goldsmiths Gulliver veranlaßt

und behandelt den Kampf der Kraniche mit den Pygmäen). 3. Kynalopekomachia,

oder der Hunde Fuchsenstreit, von Frh. v. Rumohr.



III. Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen.

Roman und Novelle.


§ 126. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans.



1. Der Roman ist das Prosaepos der Gegenwart. Man versteht

darunter im allgemeinen jene umfangreiche Prosa=Erzählung,

welche Entwickelungsgang und Geschick eines Helden vom ersten Ahnen

oder Beginnen seines Strebens bis zu einem gewissen Abschluß einer

Reihe von Begebenheiten, (bis zur Erreichung eines Zieles oder bis

zur Sichtbarwerdung der poetischen Gerechtigkeit, d. i. der Vollendung

der poetischen Jdee § 130) in abgerundeter Form und poetischer, das

wirkliche Leben und den jeweiligen Charakter der Zeit wiederspiegelnder

Weise darstellt. Mit andern Worten: der Roman bietet die poetische

Gestaltung eines individuellen, einheitlich bestimmten bedeutenden Lebens

in der Form geschichtlicher Erscheinung; die Spiegelung dieses Lebens

mit seinen sittlichen Höhen und Tiefen; das Bild dieses durch

Erfahrung gereiften, durch Gefahren erprobten, zuletzt zu einem sicheren

Standpunkt gelangten Lebens, wie es beispielsweise schon bei der homerischen

Erzählung der Jrrfahrten des Odysseus entgegentritt.



2. Der Roman der Gegenwart hat eine außerordentliche Verbreitung

erlangt; er ist allen Schichten der Bevölkerung und der ganzen

Nation geradezu zum Bedürfnis geworden.



3. Er hat daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den

Charakter und die kulturelle Signatur des Jahrhunderts.



4. Dadurch erblüht dem Romandichter die hohe Aufgabe, Lehrer

und Bildner seines Volks zu werden, und sein Jahrhundert in eine

höhere Sphäre geistigen Seins zu heben.



1. Das Wort Roman (romant) stammt aus dem Romanischen. Romanisch

ist aber dem Wortsinn nach zunächst alles, was seinen Ursprung der

lateinischen (== romanischen) Sprache verdankt: also das Jtalienische, Französische,

Portugiesische und dasjenige Romanische, welches sich bis auf unsere

Tage in einem kleinen Teile Graubündens erhalten hat. Eine Erzählung in

der romanischen Sprache hieß ursprünglich ein Romant (z. B. der berühmte

abenteuerreiche, phantastische Romant Amadis, das Urbild der späteren Ritterromane,

dessen Verfasser wahrscheinlich der Portugiese Vasco de Lobeira um

1400 war, und der im 16. Jahrhundert aus Frankreich nach Deutschland

kam, als die erste größere Erzählung, welche man „romanisch“ nannte. Der |#f0370 : 348|



musterhafte ritterliche Held dieses Romans, der eine ganze Reihe sog. Amadisromane

hervorrief, ist nach einer abenteuerreichen Fahrt nach Schottland verschlagen

worden; dort verliebte er sich in die Königstochter Oriana. Dieser

breit ausgeführten Liebesgeschichte reiht sich noch die Geschichte des Sohnes der

beiden und der Nachkommen an u. s. w. Erst nach diesem Romant nannte

man jede abenteuerliche Rittererzählung einen Roman, z. B. das satirische

Muster der Ritterromane: den um 1650 erschienenen Don Quixote von Cervantes).



Einige leiten den Namen Roman von Gesta Romanorum (Thaten der

Römer) her, einer alten Sammlung ursprünglich in lateinischer Sprache geschriebener

Liebesgeschichten, die Ende des 15. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt

wurde u. s. w.



2. (Verbreitung der Romane.) Heutzutage hat der Roman deshalb

eine so weitgehende Bedeutung, weil er unserem Lesepublikum diejenige

Gattung geworden ist, durch welche es mit allem, was die geistige Welt in

Bewegung setzt, in lebendiger Verbindung sich erhalten sehen will; durch welche es

über alle wichtigen Fragen, selbst über die Vorschriften des gesellschaftlichen

Anstands und Verkehrs sich unterrichten zu können glaubt. Es sucht im Roman

sich selbst mit seinen Gefühlen, Sorgen, Kämpfen, Freuden; es verlangt

von ihm Raisonnements über Kunst, Politik, Religion, Sozialismus; es wünscht

im Roman allen Gesellschafts- und Bildungskreisen zu begegnen u. s. w. Jn

der That ist der Roman für manche Menschen das Medium und die Quelle

ihrer Weiterbildung, ihrer Anschauungen, ihrer Stimmungen geworden, das

Spiegelbild ihrer Liebe und ihres Hasses. Seit Freytags „Soll und Haben“

(1855) gehört es zum guten Ton, die bedeutendsten Romane gelesen zu haben.

Ein neuer Roman Freytags, Spielhagens, Auerbachs, Ebers', Kellers ist seitdem

dem Lesepublikum ein Ereignis. Das Romanlesen hat die ganze Gesellschaft ergriffen.

Romane liest der Fürst und die Fürstin, der Kammerdiener und die

Kammerjungfer, der Staatsmann und der Lieutenant, der Student und der

Gymnasiast, die Pensionärin und die Matrone, der Kaufmann und das Höckerweib.

Das Romanlesen ist nicht Modesache: nein, es ist Leidenschaft, Passion

geworden, Bedürfnis für geistige Unterhaltung oder Ernährung.



3. Dadurch hat der Roman eine gewaltige Bedeutung für den Charakter

und für die Kultur unserer Zeit erlangt. Die Engländer und Franzosen haben

seine moralische Macht nie unterschätzt. Die schlechten Romane und das Lesen

derselben sind geeignet ein Volk zu demoralisieren, es gesinnungslos, herzensmatt

zu machen; und man hat daher nicht ganz mit Unrecht einen Zusammenhang

der Niederlagen bei Austerlitz und Jena mit den weitverbreiteten sentimentalen

Romanen jener Zeit erkennen wollen. Spanier, Engländer, Franzosen

hatten um jene Zeit nicht so viele schlechte, sog. empfindsame Romane als wir

Deutsche. Vielleicht ist ein Teil ihres eigenartigen häuslichen, gesellschaftlichen

und öffentlichen Lebens der Form, der Tendenz, dem Gehalt ihrer Romane

zuzuschreiben. (Oder umgekehrt?)



4. Daraus geht hervor, daß, wie jeder Dichter, so besonders der Dichter |#f0371 : 349|



von Romanen berufen ist, Bildner und Lehrer der Nation zu sein; er hat die

Aufgabe sein Volk zu begeistern, zu veredeln.



Sein Herz muß an allem, was Menschenbrust erhebt, sich erwärmen, die

Schicksale und die Entwickelungsstadien seiner Nation müssen ihn begeistern, die

Bedürfnisse seines Jahrhunderts müssen ihm klar vor der Seele stehen und

ihn in seinem Schaffen leiten. Ohne in Tendenz und Lehre überzugehen, muß

der Roman reflektieren, was der Dichter als Repräsentant des Jahrhunderts

fühlt, ja, der gute Roman muß den vollen Jnhalt der Zeit auf anmutige Weise

mit der Empfindung und dem Bewußtsein der Nation vermitteln: eine grandiose

Forderung, durch deren Ausführung der Roman ─ Reales und Jdeales

verschmelzend ─ ebenbürtig neben das Drama tritt, ja als Prosa-Epos für

unsere Zeit dieselbe hohe Mission erreicht, welche das poetische Volksepos für

eine frühere Epoche hatte.



§ 127. Verhältnis des Romans zum Epos.



1. Der Roman ist aus dem Epos hervorgegangen und später an

seine Stelle getreten, obwohl er sich von dessen Anforderungen an Wohllaut

und poetischen Rhythmus emanzipiert hat.



2. Er unterscheidet sich vom Epos in wesentlichen Stücken, vor

allem durch seine Prosa-Form, durch seine Stoffe und seine Helden.



1. Der Roman, den man eine Zwitterart zwischen poetischer und prosaischer

Darstellung nennen könnte (die Grenzgattung zwischen Poesie und Prosa),

war ursprünglich weiter nichts, als das in Prosa aufgelöste Epos, die Analyse,

Übersetzung, Nacherzählung, Umbildung des metrischen Epos: das Prosa-Epos

(§ 142. XII). Das Aufblühen des Romans fällt mit dem Niedergang des

Epos zusammen.



2. Beweist nun auch der Ursprung des Romans dessen enge Verwandtschaft

mit dem Epos, mit dem er mindestens Jnhalt und Zweck gemeinschaftlich

hat, so unterschied er sich doch in der Folge von ihm:



a. Durch seine für ihn passende Prosaform: für ihn passend,

weil der Rhythmus alles in Gold verwandelt, im Roman aber auch taubes

Gestein nötig ist und die kleinen und kleinsten Züge in der Physiognomie des

Menschen nicht darum unentbehrlich sind, weil sie klein und unbedeutend sind,

sondern weil unsere realistische Anschauung sie verlangt, und weil die volksmäßigen

Helden des prosaischen Kulturepos des Romans den künstlerischen

Rahmen des Heldenepos mit seinen auch in der Sprachweise vornehmen Helden

nicht brauchen können, vielmehr die gewöhnliche Sprache des Lebens verlangen,

dem sie angehören. (Nur ganz ausnahmsweise hat der Roman metrische Form.

Vgl. Fr. v. Schacks Ebenbürtig, und Karl Becks makamenartigen Janko.

I 593, Sprachprobe: I 596.)



b. Durch seinen weniger wichtigen Gegenstand. Das Kulturgemälde

des Epos hat es mit großen Volksinteressen, Völkerkampf &c. zu thun.

Es rollt Weltschicksale auf, während der Roman Privatgeschichten mitteilt.

|#f0372 : 350|



c. Durch die mehr zufällige Wiedergabe des Geistes einer

bestimmten Zeit und die dadurch bedingte geringere Bedeutung

seines Helden.



Der Dichter des Volksepos giebt dem Jahrhundert seinen Ab- und Ausdruck;

er dichtet als Organ seines Volks aus dem Geiste des Jahrhunderts

heraus; der Dichter des Romans malt zwar auch sein Jahrhundert, aber dieses

reflektiert nur nebenbei aus der Beleuchtung seines der Phantasie entstammten

oder geschichtlich zugestutzten Helden, der ─ wenn auch von ihm Weltbewegendes

erzählt wird ─ doch nimmermehr das Überzeugende, Grandiose jener göttergleichen,

sagenhaften oder geschichtlichen Helden des heroischen Epos haben kann.



d. Durch den Ausschluß des Wunderbaren. Die Wunderthaten

des Volksepos erhalten durch das Eingreifen der Götter (Göttermaschinerie)

lebensvolle Wirklichkeit, während Wunderthaten moderner menschlicher Romanhelden

höchstens die Bedeutung von Romantik, von Abenteuern &c. erlangen.



e. Durch seine frei erfundenen Stoffe. Das Epos beansprucht

einen in der Sage vorhandenen oder einen historischen Stoff. Nur die aus

älteren Epopöen hervorgegangenen Romane, sowie einzelne ihrem Einfluß zuzuschreibende

Originalromane früherer Zeit hatten sagenhaften Stoff. Der spätere

Roman verließ das Stoffgebiet der Sage und des Wunderbaren und entlehnte

seine Stoffe meist der Wirklichkeit und der Erfindung, welche sich an die Geschichte

anlehnte, aus ihr schöpfte. Er nähert sich dem Epos, indem seine Personen

und Begebenheiten die Lokalfärbung eines bestimmten Landes und einer

gewissen Zeit an sich trugen (z. B. die der Kreuzzüge, des Faustrechts), oder

indem die wesentlichen von der Phantasie erdachten Personen mit wirklichen

geschichtlichen Personen verflochten wurden, wie dies in den halbhistorischen

Romanen von Walter Scott und seiner Nachahmer der Fall ist. Je mehr der

Roman stofflich den Lokalton seines Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, je mehr

er in seinen Figuren das Leben eines Volkes oder einzelner Klassen einer bestimmten

Zeit malt, je mehr er zum Zeit- und Kulturbild wird, desto näher

stellt er sich dem Epos, desto mehr wird er im edlen Sinn das Prosa-Epos

unserer Zeit genannt zu werden verdienen.



§ 128. Verhältnis des Romans zum Drama.



1. Der Roman ist wie das Drama ein Kunstwerk; wenn auch

in der Regel kein metrisches. Jm Hinblick auf seine Disposition und

seine poetischen Formgesetze, auf seinen künstlerischen Auf- und Ausbau,

auf seine berechnete Motivierung, auf seine verständnisvolle Jneinanderfügung

der Begebenheiten, auf Schürzung und Entwickelung des Knotens

und anderes ist er dem Drama eng verwandt. (Vgl. § 130.)



2. Der Roman muß wie das Drama ein bestimmtes Maß in

der Ausdehnung einhalten.

|#f0373 : 351|



3. Einen Unterschied bedingt seine größere Ausbreitung der Scenerie

und der Gedankenwelt.



1. Man hat vielfach die Kunst des Romanbaus unterschätzt. Jeder halbweg

gebildete Schreiber glaubte einen Roman herstellen zu können. Ein Aktenstoff

aus dem Staatsanwalts-Archiv, eine Lebensbeschreibung ─ und der Roman

in möglichst breiter Ausführung war fertig. Geistvolle Schreiber brachten ein

Gewirr von Causerie zusammen, daß man sich bis zur Erhitzung abmühen

mußte, durch ihr Geistreichthun hindurch zu gelangen. Und doch muß der gute

Roman ebenso kunstvoll angelegt und aufgebaut sein, als das Drama; doch

muß er dieselbe lichtvolle Gruppierung, dieselbe Disposition haben. Dieser Umstand

müßte von vornherein der Willkür, der Maßlosigkeit, ─ der Verwilderung

vorbeugen. Er sollte dem planlosen Darauflosschreiben entgegen treten,

den Mißbrauch der Episoden beseitigen, die ellenlangen Beschreibungen einengen,

den übergelehrten Kram unmöglich machen, den symmetrischen Verlauf garantieren,

und ─ indem die Weitschweifigkeit der knappen Form des Kunstwerks

aufgeopfert wird, ─ vor langatmigen, vielbändigen Romanvermächtnissen schützen.



2. Ein guter Roman sollte (wie ein gutes Drama) nur ausnahmsweise

die Grenzen eines Bandes überschreiten. Skudery in Clälie giebt uns

10 Bände zu je 600 Seiten; Richardson in Clarissa bietet 4634 Seiten!

Und er erzählt doch nur von Entführung, Entehrung und Tod der Clarissa.

Manzonis Erzählung: Die Verlobten widmet dem Pater und der Edelnonne,

welche beide für den Ausgang des Konflikts nur von episodischer Bedeutung

sind, eine sogar die gleichgültige Vergangenheit dieser Personen in

Betracht ziehende unnötige Breite. L. Sterne verweilt bei Nebensächlichem in

seinem neunbändigen Tristram Shandy. Ebenso Waldau in Nach der

Natur,
wo man den 2. Band weglassen kann, ohne irgend eine Lücke zu

empfinden. Luise Mühlbach versündigt sich am Alten Fritz in einem zehn

Bände umfassenden Roman. Von den langatmigen Schilderungen, den endlosen

Zwiegesprächen über Politik, Religion und Gesellschaft, die man uns meist

für Romane ausgiebt, gehören die einen zu Theophrast und La Bruyère,

die anderen zur Leitartikel-Litteratur. Anstatt durch die Größe der Jdee und

deren Wahrheit zu fesseln (§ 130), anstatt zu unterhalten und die Phantasie

angenehm zu beschäftigen, glaubt so mancher Romanschreiber durch Fabulieren

zu wirken, und er artet daher durch seine Stickerei in Übertreibungen aus, die

jede Ähnlichkeit mit dem Drama verwischen.



3. Eine berechtigte Verschiedenheit des Romans von dem Drama mit

seinem eigenartigen Abschluß durch die That liegt darin, daß der Romandichter

durch ruhigen, episch fließenden Fortgang seiner Erzählung beschaulichen Einblick

in den Gang und die Entwickelung der nach allen Seiten hin beleuchteten

Begebenheiten gewähren muß, daß er durch die epische Schilderung den Gesetzen

der Wahrscheinlichkeit besser, anschaulicher zu genügen hat, als der Dramatiker,

daß er bis in's Detail die Scene auszumalen gezwungen ist, welche

im Drama durch Coulissen und Gardinen repräsentiert wird u. s. w.

|#f0374 : 352|



§ 129. Stoff des Romans.



1. Der Stoff des Romans muß im Erlebnis, in der Wirklichkeit

wurzeln.



2. Er muß die Herausschälung einer ethischen Pointe ermöglichen.



3. Die mündliche Tradition ist als Stoff nur bedingungsweise

zulässig, sofern sie nämlich durch Jdealisieren &c. den Schein der Wirklichkeit

erhalten kann.



1. Um mit den Anschauungen und Bedürfnissen der Zeit möglichst im

Einklang zu bleiben, um das große Gebiet menschlichen Seins und Strebens

zu umschließen, muß der Stoff des Romans dem Leben der Wirklichkeit entlehnt

sein. Der Romanschriftsteller muß hinausziehen auf die Höhen des wirklichen

Lebens, die einen Weltblick in den Reichtum menschlichen Waltens gewähren,

wie es Gutzkow, Spielhagen, Ebers, Freytag, Keller u. a. thaten;

auf diesen Höhen entspringen ihm die dichterischen Quellen des Reichtums

lebensvoller Erfindung.



Privatleben, Familie, Stand, Staat, Volksleben, Kulturwelt, Verkehr,

Religion, Liebe, Arbeit, Politik, Kunst: ─ dies alles wird sich unter den

Händen des fähigen Dichters in gesunden Romanstoff umwandeln lassen. „Jedes

Menschenherz“ ─ sagt Erwin Schlieben in seiner Preisschrift ─ „aus dem

Gott noch nicht herausreflektiert ist, jeder Herd, dessen Feuer noch glückliche

Menschen bestrahlt, jede Werkstatt, in der noch redliche Arbeit zusammenkommt,

jeder Kampfplatz, auf dem noch wertvolles Leben eingesetzt wird, ist wertvolles

Gut, ist eine Stoffquelle, ein Heiligtum der Poesie, von welchem erwärmende

Strahlen in das Prosaische und Profane hinausleuchten.“



2. Von diesem Standpunkte aus, nach welchem der Roman das wirkliche

Leben wiederspiegeln muß, ließe sich eigentlich jeder Stoff verteidigen. Aber

es sollten doch nur Stoffe gewählt werden, die für Herauskehrung eines ethischen

Grundgedankens verwertbar sind, wie es z. B. Leithner in „Denn jede

Schuld rächt sich auf Erden“ oder Kurtz im Sonnenwirt that, dessen verworfenen

Helden er durch Jdealisierung in tragische Beleuchtung stellt. Oder

wie es Auerbach im Landhaus am Rhein und noch mehr im Landolin

von Reutershofen
thut, dessen Held wegen eines Mordes freigesprochen

wird, aber erst durch reuevolles Leben und durch seinen Tod der verletzten

Gerechtigkeit Sühne giebt. Oder wie wir es bei dem Vertreter des Seeromans

Rosenthal-Bonin in Das Gold des Orion (1882), besonders aber im Diamantschleifer

finden, in welchem das unverschuldete Unglück des Helden durch den

dramatisch wirkenden Eintritt der poetischen Gerechtigkeit (Wiederfinden der Mutter,

Freisprechung, Liebe) anschaulich genug gemalt ist.



Kriminalfälle und Ehestandsverbrechen (wie die ersteren von Temme, die

letzteren durch den maßvolleren Engländer Richardson (1761) bei uns eingeführt

und von Wezel, Laroche u. a. eingebürgert wurden) können unserem

ethischen Jdeal nicht gerecht werden. Ebensowenig Stoffe, die den Schelmen= |#f0375 : 353|



und Räuberkreisen entlehnt sind. Am allerwenigsten die trüben Stoffquellen

gewisser sensationeller Kolportageromane, z. B. Eugenie; Strousberg; Amerikanisches

Duell; oder Stoffe wie diese: Krakauer Klostergeheimnisse (Berthold);

Barbara Ubryk (Born); Schandthaten (Clarkson); Die Mörder aus Wollust

(Dauer); Jungfernblut; Nonne und Maitresse (Haffner); Der große Krach;

Maitressenwirtschaft (Th. Griesinger); Wollust und Verbrechen auf dem Thron

(Reynolds); Die Banditen des Salons, oder der Roman einer Kunstreiterin

(Bernhardi) &c.



3. Die mündliche Überlieferung kann nur insoweit zur Stoffquelle werden,

als der Dichter durch künstliches Jdealisieren und Motivieren (§. 134) einem

Stoffe den Charakter des Erlebnisses und der Wirklichkeit zu verleihen vermag,

wie es z. B. Gutzkow in seinem satirischen Roman Blasedow und seine Söhne

und in Die Söhne Pestalozzis that. Dies gilt auch für die geschichtlichen

Stoffe. (Vgl. z. B. Karl van der Velde: Die Eroberung von Mexiko; Robianos

Anna Boleyn; A. Schraders Radetzky; Baudissins Philippine Welser &c.)



§ 130. Jdee des Romans.



1. Der Stoff in seiner rohen Form giebt keinen Roman, welcher

die Bezeichnung eines Kunstwerks verdiente. Der gute Roman entsteht

erst durch planvolle Ausbreitung einer nach bestimmtem Ziel

hinleitenden Jdee, durch Verkörperung eines Geistigen in sinnlich anschaulichem

Gewande.



2. Eine Jdee ist bedeutend, wenn sie den Blick über die Erbärmlichkeit

der Wirklichkeit hinweg in das Gebiet des Großen, Sittlichen,

Menschheitveredelnden, Erhabenen zu lenken vermag.



3. Eine bedeutende Jdee muß für alle Zeiten gültig bleiben.

Darin beruht ihre kulturhistorische Mission.



4. Die Jdee tritt vor allem durch den Helden in sichtbare Erscheinung.





5. Die Jdee muß schließlich durch den Sieg des Guten ihre

Symbolisierung erhalten.



1. Wie beim Drama breitet der Dichter auch im Roman diejenige Jdee

aus, auf welche mehr oder weniger ein Stoff, ein Ausspruch, eine Erwägung,

eine Wahrnehmung hinleitet. So nahm Spielhagen die Jdee zu seinen Problematischen

Naturen
aus einer bekannten Sentenz Goethes; Gutzkow zu

seinem Zauberer von Rom aus der Erwägung von der Lebenskraft des

Katholizismus; Freytag zu seinem Soll und Haben aus der Erkenntnis

vom Glück des Volks in der Arbeit; Änni Albert zu Harte Gesetze aus der

Jnkonsequenz in der bürgerlichen Gesetzgebung; Wilhelmine v. Hillern zu Ein

Arzt der Seele
aus der Anschauung von der Aufgabe der Frau &c.



Viele Romane sind weiter nichts, als lose verbundene Abenteuer eines |#f0376 : 354|



Helden ohne leitende Jdee. (Man vgl. den bekannten Gil Blas von Lesage,

oder den noch bekannteren Simplicissimus von Grimmelshausen.) Gutzkow

bietet in den Rittern vom Geiste zwar keine losen Abenteuer, aber drei neben

einander herlaufende Jdeen. Dies schadet der Geschlossenheit und Übersichtlichkeit

des Romans und dehnt ihn unnötigerweise aus. Richardson war der erste,

der einen Helden mit nur einer bestimmten Jdee einführte.



Die ursprünglich abstrakte Jdee wird im Lauf des Romans in eine reale

verwandelt (z. B. die abstrakte Jdee des Gottesbewußtseins in die reale des

religiösen Bedürfnisses u. s. w.).



2. Die reale Jdee muß in das Reich des Schönen, Guten, Wahren

einführen. Dadurch wird sie bedeutungsvoll. Bedeutend ist beispielsweise die

Jdee der allgemeinen Bildung (z. B. in Goethes Wilhelm Meister), ferner

die Jdee der Sittlichkeit (Spittas Reine Herzen), der materiellen

Arbeit
(Freytags Soll und Haben; Schwartz' Arbeit adelt den Mann); der

geistigen Arbeit (Freytags Die verlorene Handschrift); der Ausbildung

des Charakters
(Dincklages Tolle Geschichten, und Reuters Ut mine Stromtid);

des Volkswohls (Spielhagens Jn Reih und Glied); der Humanität

(Auerbachs Landhaus am Rhein); der Religion des Geistes (Heyses

Kinder der Welt); des Katholizismus (Gutzkows Zauberer von Rom); der

Heiligkeit der Ehe (Auerbachs Auf der Höhe); der Macht der Liebe

(Brachvogels Falstaff); der Begeisterung für Selbstbefreiung der

Frau von Eitelkeit, Trägheit und Seelenschwelgerei
(L. v. Fran=

çois Die letzte Reckenburgerin) &c.



Alle Romane, denen die bedeutende Jdee fehlt, sind in ihrer Grundbedingung

verfehlt. Sofern z. B. der humoristische Roman eine bedeutende Jdee

vermissen läßt, erscheint der Autor lediglich als Spaßmacher, Witzbold, aber

nicht als planvoller Humorist.



Beim guten Roman muß der Leser die Jdee erkennen, er muß sich aus

der Ausbreitung derselben das Facit ziehen können, wie es z. B. in Gottw.

Müllers Siegfried von Lindenberg recht wohl möglich ist, wo ein

halbgebildeter Schulmeister der Jgnoranz seines ignoranten Landedelmanns

gegenüber wie ein großer Gelehrter erscheint und so die Vortrefflichkeit und

Wichtigkeit der Jdee der Bildung symbolisiert.



3. Die bedeutende Jdee wird immerfort ihre Gültigkeit behalten; sie wird

in jedem Jahrhundert die Berechtigung des Verlangens zeigen, den Genius

der Zeit in einer bleibenden Wahrheit zu erfassen und wiederzuspiegeln, weshalb

z. B. dasjenige Historische, das keinen Nerv unserer Zeit zu erregen vermag,

ebensowenig zu ihrem Träger werden kann, als das bloße Parteigetriebe.

Letzteres giebt einer vorübergehenden Jdee Ausdruck, z. B. derjenigen, welche

die Gesetzgebung umstürzen will, wie es Heinse in seinem sonst gut geschriebenen

„Ardinghello“ thut, wo er Güter- und Weibergemeinschaft vorführt; oder welche

(vgl. Schlegels bekannte Lucinde) der schrankenlosen Sinnlichkeit das Wort redet,

also einer Anschauung huldigt, die niemals als allgemein wahr anerkannt

werden wird.

|#f0377 : 355|



Die bedeutende Jdee des modernen Romans muß auch ein kulturhistorisches

Ziel haben. Dies ist beispielsweise bei der Jdee der Liebe der Fall,

die alle Seiten des Menschenlebens umfaßt, die ihre Stätte im Palast, wie

in der Hütte, bei allen Ständen und Bildungsgraden hat, und die uns imponiert,

weil wir hier das Rein- und Edelmenschlich-Jdeale symbolisch im edlen

Weibe anschauen.



Dies ist auch bei der Jdee der Bildung der Fall, da die Bildung den

Wunderbau der modernen Kultur ausführt. Dies ist ferner bei allen religiösen,

philosophischen Jdeen der Fall.



4. Der Träger der Jdee ist der Held (§ 132). So ist Georg Hartwig

in Spielhagens Hammer und Ambos der Träger der Jdee der materiellen

Arbeit; der Professor in Freytags Verlorene Handschrift Träger der

Jdee der geistigen Arbeit; Erich im Landhaus am Rhein Träger der

Jdee des Humanismus u. s. w.



Jm sogenannten Entwickelungsroman, der in streng stufenweiser

Folge das Keimen und Erwachen der Jdee bis zum Kampf

um dieselbe und bis zu ihrem endlichen Sieg darstellt,
wird

die Jdee dem Helden zum Jdeal. Leo Gutmann (in Reih und Glied)

ersehnt schon als Kind das Wohl seiner Nebenmenschen und entschließt sich

deshalb, als Missionär zu den Wilden zu gehen. ─ Anton Wohlfahrt (in

Soll und Haben) schwärmt bereits als Knabe für die weltumschließenden

Erfolge eines großen Kaufmanns und läßt schon im Keime die Jdee erkennen,

die später sein Jdeal wird.



5. Die Jdee muß sich lediglich in ihrer Ausbreitung und in ihrem Sieg

als bedeutend erweisen, nicht aber darf der Dichter die Jdee als bedeutend

dadurch hinstellen, daß er sie als die allein gültige und richtige rühmt, wenn

sein Kunstwerk nicht den Charakter des Prätentiösen, spezifisch Tendentiösen erhalten

soll. Jn dieser Beziehung fehlt Sacher-Masoch in Die Jdeale

unserer Zeit,
indem er schwächliche Figuren als Repräsentanten unseres

modernen Deutschland hinstellt; ebenso Laicus, der alle Freimaurer bekämpft,

ohne nur einen einzigen derselben zu kennen u. s. w. Der objektive Spielhagen

fehlt nicht. Seine Romane scheinen gegen verschiedene Typen der Gesellschaft

gerichtet zu sein, und sie werden doch zuletzt allen gerecht.



Eine bedeutende Jdee wird immer Freunde und Gegner haben müssen.

Es ist dies ja erklärlich. Darum ist aber auch der endliche Sieg der Jdee von

Bedeutung. Erst bei vollendetem Triumph derselben ist es dem Dichter möglich,

das Ende des Romans zu einer Symbolisierung der Jdee zu gestalten.

(Vgl. Auerbachs Landhaus am Rhein, wo die Jdee der

Humanität einen glänzenden Ausdruck im Kriege der amerikanischen Nordstaaten

gegen den Süden als den Verteidiger der Sklaverei findet.) Diese Symbolisierung

der Jdee ist eine der bedeutendsten Aufgaben des Romans,

der auf den Gebieten des Geistes seine Schlachten schlägt.

|#f0378 : 356|



§ 131. Bau des Romans.



Der künstlerisch aufgebaute Roman hat mit dem Drama gleiche

Teile.



Somit unterscheiden wir im Bau des Romans: Exposition, Versetzung

in die Sache, Aneinanderstoßen der Begebenheiten, erregendes

Moment, Bewegung, steigerndes Moment, Mitte, Höhepunkt, Schürzung

des Knotens (Verwickelung), Konflikt, entscheidendes Moment,

fallende Handlung, letzte Spannung, Katastrophe, Schluß.



Wo dieser Gang nicht beachtet ist, wo die Steigerung zur Mitte und

der Abfall zum Schluß fehlt &c., ─ ist der Roman kein Kunstwerk. Es ist

das Ganze vielleicht eine Mitteilung der Lebensreise des Helden, eine Beschreibung

und Schilderung seiner Erlebnisse, eine langatmige Erzählung, aber

es ist keine künstlerische That. Nicht in der labyrinthisch fortgesponnenen, verwickelten

Handlung besteht die Kunst des Romans, sondern im künstlerisch angeordneten

Verlauf, im organischen Wachstum, in der ursachlichen Verbindung seiner

symmetrisch aufgeführten Teile. Mit Recht sagt Mähly (Der Roman des 19.

Jahrhunderts S. 8), daß die Strenge der Form das einzige Mittel sei, dem

Roman zur Ebenbürtigkeit mit den übrigen Produkten der Phantasie zu verhelfen.

An diesem Fels müsse der bloße Dilettant, der handwerksmäßige

Pfuscher Schiffbruch leiden.



§ 132. Der Held des Romans.



1. Jeder Roman muß (wie das Drama) eine Hauptperson haben,

auf welche sich, wie auf ein Centrum, alle Ereignisse mittelbar oder

unmittelbar beziehen, ja, um die sich die übrigen Charaktere des Romans

(vgl. § 133) gruppieren. Dieser Held ist nicht starr, feststehend,

stereotyp, wie der Held im Drama, sondern er ist bildsam, entwickelungsfähig,

er ist wie alle übrigen Charaktere des Romans im Werden begriffen.





2. Der Held muß eine imponierende, großer Thaten fähige Figur

sein.



3. Er muß Eigenschaften besitzen, welche ihn unseres Jnteresses

wert erscheinen lassen.



4. Er darf keine erbärmliche Rolle spielen, auch dann nicht, wenn

er der vom Schicksal geschaukelte passive Held ist.



5. Die Schilderung des Helden, die nicht mit seiner Geburt zu

beginnen braucht, muß naturgemäß, lückenlos fortschreiten.



6. Die Liebe ist im Entwickelungsgang des Helden meist ein

wichtiges Moment; am wichtigsten ist sie im Liebesroman.

|#f0379 : 357|



1. Am besten eignen sich zum Helden des Romans kräftige, zu großen

Unternehmungen fähige Personen, Menschen, die (nach W. v. Humboldt) mit

allem, was nur überall das Menschlichste und Natürlichste ist, in vollkommenstem

Einklang stehen, nicht aber krankhafte, wunderliche Naturen, die wir vergeblich

im Kreise der Mitlebenden suchen, wie uns Wilbrandt in seiner ausgebreiteten

Novelle „Fridolins heimliche Ehe“ den Helden Severin vorführt,

der sich von der Geliebten mißhandeln läßt.



2. Der Held muß die Fertigkeit behalten, seine Leidenschaft und seine

Kraft heldenhaft bethätigen zu können, damit er ─ der verachtete Romanheld

─ nicht allzusehr vom geachteteren Helden des Drama, wie vom Helden der

Geschichte unserer Tage absticht. Sein Kampf gegen Lüge, Heuchelei, Vorurteil,

wie gegen sich selbst muß etwas Jmponierendes haben. Wenn ihm

auch hie und da der Wille zum Kampf fehlen mag, so darf ihm doch das

Können nicht mangeln. Vorbildliche Helden sind in dieser Beziehung Freytags

Anton und Spielhagens Georg. Man merkt bei ihnen nichts von jenem

beliebten sprühenden Geistreichthun, womit neuere Romanschriftsteller ihre Helden

zu wahren Halbgöttern künstlich herausputzen. Wie frisch aus dem Leben

greift Freytag seinen Anton heraus. Die Aufläder haben ihn gern, er wird

Karls und des ganzen Komptoirs Liebling; selbst die adeligen Roués erklären

ihn für einen verdammt guten Jungen. Jn der Tanzstunde fliegen ihm der

Mädchen Herzen entgegen; auch die stolze Leonore ist gegen ihn nicht spröde.

Sabine und die Tante lieben ihn ─ und wir lieben ihn auch. ─ ─



3. Seinem inneren Gehalte und Charakter nach paßt für den Helden

weder ein menschenunwürdiger, noch ein blasierter unsittlicher Charakter, wenn

es der Dichter nicht eben beabsichtigt, diesen mit Eigenschaften auszustatten,

durch welche er unserem menschlichen Mitempfinden näher gerückt wird. So

erhebt Richardson den Verführer Clarissas zum geistreichen, energisch handelnden

Mann von großer Noblesse; so stattet Auerbach den finsteren Sonnenkamp (im

Landhaus am Rhein) mit Liebe zu seinen Kindern aus, sowie mit weltmännischem

Takt, mit Mut &c.



4. Jn manchen Fällen muß der Held, ─ wenn er nicht mit den allgemein

anerkannten Welt- und Sittengesetzen in Widerspruch treten will ─ passiv

erscheinen und sich von fremden Einwirkungen, über die er trotz aller moralischen

Kraft nicht gebieten kann, oft längere Zeit forttreiben lassen. Dann ist

er der unselbständige, zu verarbeitende Mittelpunkt und kann nur im ironischen

Sinne Held genannt werden. Jm Leben üben ja die Verhältnisse und das

sog. Schicksal eine zwingende Macht, warum nicht im Roman, der doch die

poetische Zeichnung des Lebens ist?



5. Bei der Schilderung des Helden liefern sehr viele Romanschriftsteller

bloße Lebensbeschreibungen, welche (nach Jean Paul) ohne Einheit und Notwendigkeit

der Natur und ohne die romantische, epische Freiheit, gleichwohl von

jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt= und

Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten solange vor sich hertreiben,

als Papier da liegt. Diese Lebensbeschreibungen beginnen meist schon |#f0380 : 358|



mit der Geburt. Der Leser will aber den Helden nicht in den Windeln sehen,

sondern er will ihn schon einige Fuß hoch haben; er wird dann gern zugeben,

daß einige durch den Helden erst bedeutend gemachte Reliquien aus der Kinderstube

nachgeholt werden.



Aufgabe des Dichters ist es, in den Entwickelungsstadien des Helden

keine Sprünge zu machen und den Zufall, das Abenteuer nicht in dem großen

Maßstab spielen zu lassen, als es z. B. Cervantes thut. Auch ist die Einführung

des Schicksals (dieses „tragischen Gesetzes des Universums“, wie es

Vischer nennt) heutzutage nicht mehr nötig. Man liebt in unserer realen Zeit

natürlichen Verlauf und einen die Gesetze der Menschlichkeit beachtenden Abschluß.

Die romantischen Romane (z. B. Spiridion, von George Sand, wo

der Geist des Abtes fortgesetzt spukt) würden wegen ihrer sprungartigen, lächerlichen

Unwahrscheinlichkeit bei uns kein Lesepublikum mehr finden.



Unter allen Romanschriftstellern haben Goethe, Freytag, Spielhagen, Luise

von François, Reuter, Gottfr. Keller die lückenloseste Entwickelung bewiesen.



So zeigt Goethe in Wilhelm Meister, wie der Held schon frühzeitig von

großen Gedanken bewegt ist, wie er sich von der Schauspielkunst angezogen

fühlt, wie er alle Stadien der Enttäuschung durchmacht, um endlich durch

Shakespeares Dichtungen zum Enthusiasmus entflammt zu werden. Das ist

lückenlose Entfaltung!



Ähnlich schildert Luise von François in Die letzte Reckenburgerin die

Entwickelung eines jungen Mädchens. (Vgl. als Beleg für lückenlosen Fortschritt

auch Spielhagens Jn Reih und Glied, Freytags Soll und Haben,

Kellers Der grüne Heinrich u. s. w.)



6. Jm Entwickelungsgang des Romanhelden bildet die Liebe meist nur

ein bedeutungsreiches Stadium. Auf dasselbe folgt die Zeit des Ringens für

die Jdee; das Jdeal selbst ist dem Helden unerreichbar (Beispiel: Wilhelm

Meister, der für die Erhebung der Menschheit erglüht ist, aber dann doch nur

einfacher Landwirt wird).



Jm Liebesroman bildet die Liebe den ganzen Jnhalt. Der Held, welcher

für seine individuelle Liebesidee eintritt, erreicht endlich was er will: Die

Geliebte.
Mag seine Wanderung noch so viele Krümmungen machen, so ist

sie doch die Reise zur Hochzeit (Beispiel: Dincklages Tolle Geschichten, wo Moritz

doch seine Lolo erhält &c.). Jm Liebesroman hängt das Jnteresse nur am

endlichen Besitz. Jm kulturhistorischen, im Zeitromane würde die Liebesbesitz=

Beschränkung des für eine allgemeine, ewig wahre, bedeutende Jdee kämpfenden

Helden nur das Jnteresse für die allgemeine Jdee abschwächen.



Ebenso im sog. Umwandlungsromane! Dem in blinder Leidenschaft

kämpfenden Helden öffnen hier die Schicksalsschläge allmählich die Augen

und zwingen ihn zur Umschau und zur Umwandlung. Das Ende ist eben

diese Wandlung, oder der Tod (Untergang). Die Liebe führt nur in einzelnen

Fällen den Entschluß der Umwandlung herbei. (Jn Ut mine Stromtid

zerfällt der junge Herr von Rambow mit der ganzen Welt, um endlich umzukehren;

im neuen Falstaff von Brachvogel wendet sich ein genialer, in |#f0381 : 359|



verkehrte Bahnen gelenkter Maler plötzlich zum Bessern; im Sonnenwirt

von Kurtz, in Auf der Höhe von Auerbach tritt die Umwandlung dadurch

ein, daß die Heldin zur Büßerin wird u. s. w.)



§ 133. Die übrigen Charaktere des Romans.



1. Die Personen, welche sich um den Helden gruppieren, nennt

man die epischen Charaktere des Romans.



2. Diese brauchen nicht niedriger zu stehen, als der Held; doch

beruht ihre Bedeutung in der handelnden Hauptfigur, indem sie im

Verein mit ihr wirken, oder ihr entgegenstreben.



3. Der Held des Romans ist vom Dichter früher zu bilden, als

die Charaktere.



1. Die Zahl der epischen Charaktere ist bei den verschiedenen Dichtern

verschieden. Sie richtet sich nach der Ausbreitung der Handlung, nach der Bedeutung

des Helden, nach dem Bedürfnis zu Episoden u. s. w. Manche

Dichter sind in der Bildung epischer Charaktere sehr schablonenhaft und wählen

in ihren Romanen immer wieder die gleichen Typen. Wolfgang Menzel

reduziert die große Anzahl Jean Paulscher epischer Charaktere auf folgende

sechs stereotyp wiederkehrende Figuren: 1. Der hohe Mensch; 2. ein diesem entsprechendes

Mädchen; 3. ein capriziöser Freund des hohen Menschen; 4. ein

schwindsüchtiges Mädchen; 5. ein ditto Jüngling, und endlich 6. ein cynischer

Arzt. Nach Keiter hat Bolanden 5 Klassen von Figuren: ritterliche Jünglinge,

minnigliche Jungfrauen, biedere Väter (seltsamerweise sämtlich Witwer), tapfere

Verteidiger des Glaubens und deren nichtswürdige Gegner. Die Lieblingsfiguren

der E. Marlitt (Eugenie John) sind schurkenhafte Aristokraten, ein beschränkter

Fürst und frömmelnde Heuchler. Dazu kommt (nach Rob. König, Litt.=Gesch.

S. 633) die an Aschenbrödel erinnernde Heldin, nach der englischen Jane=

Eyre modernisiert und germanisiert, die sehr edel, tugendhaft und stolz den

Sieg über die Jntriguen ihrer schändlichen Gegner davon trägt; endlich der

ideale Mann, wie ihn Frauen so gerne zeichnen, den die Heldin zu ihren

Füßen zwingt u. s. w.



2. Da die Bedeutung des Romans in der Hauptperson gipfelt und die

Nebenpersonen diese lediglich zu unterstützen oder zu bekämpfen haben, so ist

es jedenfalls unnötig, die Nebenpersonen auf Kosten der übrigen herunterzusetzen,

wie z. B. in Sacher Masochs sonst gutgeschriebenem tendentiösen Romane

Die Jdeale unserer Zeit alle Nationalliberalen und Patrioten ─ Erbärmliche

sind.



3. Auf die Frage, ob der Romandichter zuerst den Helden oder die

Charaktere oder die Geschichte zu bilden habe, ist zu antworten, daß zuerst der

Charakter des Helden zu schaffen sein dürfte, da dieser den Geist des Romans

zu verkörpern hat, gewissermaßen also die Seele der Geschichte ist.



Durch den Helden ist die Geschichte bedingt und gegeben; mit dieser erstehen

erst die epischen Charaktere.

|#f0382 : 360|



§ 134. Das Jdealisieren im Roman.



1. Um den Charakteren des Romans Entschiedenheit zu verleihen,

muß das von ihnen Darzustellende, ─ Tugend wie Laster, ─ in

erhöhtem Maße gezeichnet werden. Man nennt dies ─ wie im Drama

─ Jdealisieren. (Vgl. § 27 d. Bds., der auch für den Roman gewisse

Anwendung findet.)



2. Die durch Jdealisierung bedingten sog. Übertreibungen setzen

beim Leser die Befähigung voraus, zwischen Jdeal und Wirklichkeit zu

unterscheiden, ohne welche sittliche, ja auch praktische Nachteile fürs

Leben leicht eintreten können.



1. Wie im Drama, so müssen auch im Roman die Charaktere idealer

aufgefaßt und gezeichnet werden, als man ihnen im gewöhnlichen Leben täglich

begegnet, denn der Roman soll die poetische Zeichnung des wirklichen Lebens

sein. Die Jdealisierung verlangt ferner, daß die durch die Charaktere repräsentierte

Handlung im Romane eine gedrängtere, raschere Folge habe, als

dies im gewöhnlichen Leben der Fall ist. Diese Jdealisierung verstärkt die

Charakteristik. Jn den geschichtlichen Romanen ist dem Dichter die Charakteristik

durch die geschichtliche Überlieferung erleichtert, während in den erfundenen Romanen

die berechnetste Jdealisierung zu Hülfe kommen muß, um die Personen in

ihren Worten und Handlungen entsprechend zu charakterisieren. Jede Jdealisierung

muß in einer Weise geschehen, die nicht gegen die Wahrscheinlichkeitsgesetze verstößt.

Eine Übertreibung in der Jdealisierung zwingt zur Ansicht, daß ein solcher

Charakter eine Unmöglichkeit sei. (Vgl. Gerstäckers Mississippibilder.) Ein guter

Roman darf in seiner Jdealisierung auch nicht gegen die Gesetze der Ästhetik oder

gegen die der Moral verstoßen. (Die betrunkene Grete Lobkins in Paul Clifford

von Bulwer z. B. ist mit ihren Gemeinheiten und schlechten Bildern,

keine eines Kunstwerks würdige Figur.) Demnach muß die Jdealisierung

im Roman, (wie im Drama,
vgl. S. 38. 1. d. Bds.) dem Schönen,

Guten und Wahren entsprechen.



2. Mancher Roman wirkt infolge seiner Jdealisierung erhitzend auf die

Phantasie. Er schafft übermächtige, unerreichbare Hoffnungen und malt Situationen,

die nie im Leben, oder nur sehr ausnahmsweise vorkommen. Dadurch

begründet er aber falsche Lebensansichten, verschrobene Anschauungen

und phantastisch überspannte Begriffe, und verleiht nicht selten dem Phantasieleben

eine Herrschaft, die für die harmonische Geistesentwickelung störend

wirken kann. Wie häufig finden sich schwärmerische Naturen getäuscht, die das

im Roman entwickelte Sein zum Maßstab des wirklichen Lebens nehmen und

z. B. ein romanhaftes Traum- und Liebesleben erhoffen, wie es die Wirklichkeit

nimmermehr zu bieten vermag. Hierbei sei daran erinnert, wie Schlechtigkeit,

Roheit und Gemeinheit in so vielen zweifelhaften, nach ihren Stoffquellen |#f0383 : 361|



im § 129, 2 S. 353 erwähnten Romanen mit bestechenden, und doch das

Herz vergiftenden Farben gemalt werden u. s. w.



§ 135. Charakteristisches in der Technik unseres Romans.



Charakteristisch in der Technik des Romans ist der Gang der

Handlung, die Episode und die Schürzung des Knotens.



(Gang der Handlung.) Durch die feinste psychologische Motivierung

und die planvollste fast mikroskopische Ausführung der Begebenheit darf der

Romandichter den Nachweis liefern, wie eine höhere Hand in die Schicksale

des Helden und der übrigen Charaktere eingreift, wie das Verdienst und das

Gute belohnt, das Verbrechen und das Menschenunwürdige bestraft wird. Man

nennt diese Belohnung oder Bestrafung die poetische Gerechtigkeit. Die

Handlung des Romans läßt diese poetische Gerechtigkeit rascher eintreten, als

dies im wirklichen Leben der Fall wäre. Jn ihrer Entwickelung legt die

Handlung den Charakteren keine Beschränkung des Wirkungskreises auf. Dies

wäre sogar ein Fehler. (Ein Künstlerroman, der sich lediglich auf Künstler beschränken

würde, müßte den Gegensatz des unkünstlerischen Lebens vermissen

lassen und dadurch einseitig werden u. s. w.)



Daraus folgt, daß die Handlung Raisonnement und Reflexion bieten darf,

indem sie interessante Gegenstände des höheren geistigen und geselligen Lebens

in ihren Kreis zieht &c.



(Episoden.) Die Episoden, welche im Epos mit seiner großartigen, gewaltigen

welterschütternden Handlung eine sehr bevorzugte Stelle haben, sind

im Roman nicht unbedingt zulässig. Sie sind verwerflich, wo sie abschwächen,

wo sie Nebensächliches, gänzlich Wertloses für die Charakteristik des Helden herbeiziehen,

wo sie unnötigerweise den Gang der Handlung aufhalten. Sie sind

zulässig, wo sie Aufschluß über die Vergangenheit des Helden bieten oder

frühere Begebenheiten zur besseren Klarlegung der Haupthandlung nachholen

(vgl. Walter Scotts Das schöne Mädchen von Perth, wo man die Episoden

ihrer geschickten Verwendung wegen nicht missen möchte). Sie sind aber

wesentlich, charakteristisch im philosophischen Roman, wo sie zur Ausbreitung

der Jdee, zur Ausschmückung der Situation und zur psychologischen

Motivierung einen wichtigen Beitrag liefern. Doch müssen sie in enger Beziehung

zur Haupthandlung bleiben und stets zu ihr zurückleiten, wie es z. B.

in mustergültiger Weise Lev. Schücking in Schloß Dornegge (in der Liebesepisode

Ludwigs und Helenes) thut.



(Schürzung des Knotens.) Jede Entwickelung muß in gewissem

Sinn zur neuen Verwickelung führen, jede Gegenwart muß Keime der Zukunft

enthalten. Der Roman erfaßt am besten in seinem Beginne eine bestimmte

Begebenheit, die es ihm möglich macht, nach der Zukunft hin weiter

gehen zu können, um zugleich Licht über die Vergangenheit zu verbreiten. Durch |#f0384 : 362|



das Fortschreiten der Handlung entstehen die Verwickelungen, die in enger Beziehung

bleiben müssen, um zweckmäßig zu erscheinen und zu spannen. Diese

Verwickelungen steigern sich bis zu einer gewissen Lösung, die aber nicht sofort

eintritt. Der Dichter bricht plötzlich ab, um an einer andern Stelle anzuknüpfen,

so daß er wie ein Feldherr erscheint, der bald bei diesem, bald bei

jenem Truppenteil sich aufhält, bald diesen, bald jenen fördernd, bis

er sie sämtlich genügend vorgeschoben hat, um sie nun für eine unerwartete

Totalwirkung zu vereinigen. Nicht selten führt im Roman die Liebe eine Verwickelung

herbei. Alle Hemmnisse bekämpft sie für Erreichung ihres Ziels, nämlich

des gegenseitigen Besitzes. Jedoch nicht immer besiegt die Liebe alle Hindernisse;

Unglück und Zufall spielen öfters eine wesentliche Rolle; aber Wunder

dürfen im Roman nie vorkommen. Alles muß den Schein des Naturgemäßen

und der Wahrheit für sich haben.



Ein Hauptmittel der Verwickelung bildet das Wiedererkennen (ἀναγνώρισις);

ein Mittel das z. B. im Epos „Rostem und Suhrab“, im alten Hildebrandlied

(vgl. B. I. S. 43) wie neuerdings von Rosenthal-Bonin in seinem Diamantschleifer

mit Erfolg angewandt ist, und das man mit Vorliebe im antiken Drama

benutzte (vgl. S. 38 d. Bds.), weil man dort bekanntlich die Liebe als

leitende Jdee nicht zu verwerten verstand.



§ 136. Stilgesetze des Romans.



Der gute Roman verlangt: 1. logische Anordnung, 2. Objectivität,

3. Einfachheit und 4. interessante Darstellung (Spannung).



1. Logische Anordnung. Die logische Anordnung erfordert strenge

Beachtung der Wesens- und Formgesetze des Romans (§ 131 d. B.), sowie

eine fein berechnete, verständnisvolle Verteilung des Stoffs. Hiegegen verstößt

beispielsweise Jmmermann. Solche Hinhaltung („Hänselung“) des Lesers,

wie er sich dieselbe in seinem Münchhausen erlaubt, wo er erst in den späteren

Kapiteln den Anfang nachholt, ist mindestens ungehörig und verstößt gegen den

bekannten englischen Spruch: Let us begin with the beginning! (Laßt uns

mit dem Anfang beginnen!)



2. Objektivität. Der Roman muß wie jede epische Dichtung für sich

allein verständlich sein, ohne daß der Dichter zur Unzeit aus ihm hervorblickt

und das einzelne erklärt oder Bemerkungen giebt, wie dies oder jenes zu

nehmen sei u. s. w. Der Roman muß einem schönen Gemälde gleichen, das

jeder ohne Kommentar versteht und bewundert. Wir wollen es gar nicht

hören, wie der Dichter über eine Sache denkt, der Dichter darf sich nicht sehen

lassen, mindestens soll er seinen Parteien gegenüber unparteiisch, objektiv erscheinen;

er soll seine Gefühle den Personen unterlegen, die er schildert. Es verstößt

nicht gegen die Objektivität, wenn der Dichter das Gefühlsleben der Helden

nach Nationalität, Geschlecht, Alter, Bildung, Stand zum Ausdruck bringt, wie |#f0385 : 363|



es im mecklenburgischen „Ut mine Stromtid“, und im rheinischen „Landhaus

am Rhein“ geschieht. Aber es verstößt gegen dieselbe, wenn der Dichter sagt:

„Der Leser möge mir verzeihen“ (Bulwer, Eugene Aram II. 1); oder: „Man erzählte,

was wir bereits wissen“; oder: „Der Leser folge uns nach“ u. s. f.

Weiter ist es gegen die Objektivität, wenn gewisse weibliche Federn die Männertypen

zu stark idealisieren, die Frauengestalten zu real lassen u. s. w. Es verstößt

ferner gegen die Objektivität in bezug auf Zeichnung des Alters, wenn

unreife Figuren zu Handlungsweisen benützt werden, die dem reifen Alter

angehören, wenn jungen bartlosen Burschen Raisonnements in den Mund gelegt

werden, deren nur das Alter und die Erfahrung fähig ist u. s. w.



Auch der Stand muß in seinen berechtigten Eigentümlichkeiten gewahrt

werden. Es dürfen beispielsweise Untergeordneten, Subalternen keine Reden

in den Mund gelegt werden, die sich im Leben kein Vorgesetzter bieten lassen

würde. Bei Schilderung der Zeit und des Zeitalters muß Objektivität insofern

herrschen, als das Zeitgemälde sich aus Handlung und Verlauf des Romans

ergiebt. Ein Roman soll keine historische Abhandlung sein, wie sie z. B. Rousseau

lieferte, der in einem 260 Seiten starken Bande den Pariser Zuständen

nicht weniger als 200 Seiten widmete. Nicht belehren soll der Roman, sondern

objektive, plastisch anschauliche Unterhaltung soll er bieten. Muster objektiver

Zeitschilderung bieten Spielhagens Die von Hohenstein (eine Schilderung

der Erhebung von 1848), Bolandens Canossa (wo die Zeit

Heinrichs IV. geschildert ist), Freytags Jngo und Jngraban, Sacher-Masochs

Die Jdeale unserer Zeit, Bachers Friedrichs I. letzte Lebenstage,

v. Seeburgs Die Fugger und ihre Zeit.



3. Einfachheit. Die Einfachheit verlangt, daß der Dichter in der Darstellung

ein äußeres Motiv (z. B. Glanz einer idealen Frauenerscheinung) neben

dem innern Motiv (z. B. geistige Übereinstimmung) durchsichtig wirken lasse;

daß er ferner bei der Darstellung der Leidenschaft weder übertreibe noch hinter

der Wirklichkeit zurückbleibe; daß er die Charaktere ohne Überladung wahrheitsgetreu

zeichne, nicht eine Figur witzig und geistreich nenne, die sich hinterher

als das Gegenteil erweist; daß er den Charakter nur aus seinen Äußerungen

sich selbst entfalten lasse; daß er alle ermüdenden, vereitelnden, den Gang hemmenden

Beschreibungen vermeide (z. B. die kleinlichen Beschreibungen einer Stickerei,

einer Verzierung, einer Säule, eines Hundehauses, die doch nicht zur Handlung

nötig sind); daß er somit weder die Entfernungen nach Fußen abmißt,

noch die Lokalitäten mit pedantischer Genauigkeit aufnimmt, als gälte es einen

Bauriß zu entwerfen. Der Dichter darf wohl wie im Vorbeigehen eine Lokalität

zeichnen, er darf ein in die Handlung eingreifendes Gewitter schildern

(vgl. Freytag in der Verlorenen Handschrift); er darf die Natur als

Reflex der Stimmung nebenbei charakterisieren (vgl. Gottfr. Kellers Der grüne

Heinrich I. Kap. 20. oder III. Kap. 1); er darf eine Staffage malen, auf

der sich die Handlung vollzogen hat, oder zu vollziehen im Begriff ist; aber

er darf nicht minutiöse, ellenlange Beschreibungen von allen möglichen, uninteressanten

Gegenständen geben, an denen der Held zufällig einmal vorüberschreitet. |#f0386 : 364|



Gegen die Einfachheit verstößt es auch, jeden epischen Charakter gleich

dem Helden ein Liebesverhältnis anknüpfen zu lassen u. s. w. Jean Paul

sagt: „Die Liebe sieht sich ungern vervielfältigt angeführt, bloß weil sie

nur in ihrem höchsten Grad ideal ergreift, dieser aber wenige Wiederholungen

erlaubt. Die Freundschaft hingegen verlangt Genossenschaft und achtet sie; ein

Gärtchen mit zwei Liebenden und deren Kinder in den Blumen und ein Schlachtfeld

voll engverbunden kämpfender Freunde erheben gleich hoch.“



4. Jnteressante Darstellung. Um spannend, anziehend, interessant

zu wirken, darf der Dichter zuweilen in Kreise führen, wo man hinter den Koulissen

spielt, wo man hinter den Gardinen Geschichte macht; darf er Zustände des

Hoflebens entrollen; darf er in Gegenden führen, wo die Freiheit der Bewegung

noch unbeschränkt ist; in Gefahren, deren Ausgang für den Helden jeden Augenblick

Vernichtung zu bringen scheint; in ferne Weltteile mit ungekannten Völkern,

Tieren, Pflanzen (vgl. Robinsonaden, Retcliffes Nena Sahib, Rosenthals

Seeromane, Armands Fährtensucher, Coopers Der letzte Mohikan, Gerstäckers

Flatbootmann, Mützelburgs Schloß an der Ostsee, Wachenhusens Die Wüstenjäger

u. a.); darf er gewaltige Konflikte des Seelenlebens entfalten; darf

er ─ nach dem Vorbilde Gottfr. Kellers, der Marlitt, Spielhagens ─ Geheimnisse

des Seelenlebens ahnen lassen, ohne diese freilich auszuplaudern,

wie es Auerbach im Landhaus am Rhein thut, wo Fräulein Milch leise

flüsternd der Professorin ohne Nötigung aus Sonnenkamps Leben berichtet und

die Spannung des Lesers beeinträchtigt. Leicht kann die Forderung einer anziehenden,

interessanten Gestaltung dazu verleiten, dem Geschmack des wandelbaren

Publikums zu große Rücksicht in der Wahl pikanter Stoffe und deren

Verarbeitung zu widmen, ohne zu bedenken, daß der Dichter über diesem

vom Vorurteil geleiteten Publikum stehen und es erziehen soll. Dem gediegenen

Romanschriftsteller, welcher der wahren Kunst zu dienen sucht, sollte in erster

Reihe nicht am Beifall der Menge liegen, für ihn müßte vielmehr das Wort

Rückerts (Ges.=Ausg. VIII. 305) maßgebend sein:



Der Künstler, wenn ein Werk er hat gemacht für alle

Befragt verschiedene, wie jedem es gefalle.

Es kann nicht jedem gleich gefallen, doch zufrieden

Jst er, wenn es gefällt verschiedenen verschieden.


§ 137. Ästhetische Anforderungen an den Roman.



Alle ästhetischen Anforderungen an das Epos gelten auch dem

Romane.



Hierzu kommen noch einige besondere Vorschriften in Hinsicht

a. der Sprache und Darstellung, b. der Schilderung körperlicher Vorzüge,

c. der Benennungen von Charakteren und Orten, wie der Romane

selbst.

|#f0387 : 365|



a. Sprache und Darstellung. Die Prosa des Romans muß ästhetisch

anmutig, gefällig, anschaulich, klar sein. Sie soll alles Schmutzige, Schamlose

ausschließen, so daß man sich stets in guter Gesellschaft fühlt. Sie soll

ferner weder lyrisch erhaben noch poetisch süßlich und ebenso wenig schwülstig

rhetorisch sich gestalten. Sie soll vollendet schöne Prosa sein und bleiben (vgl.

Bd. I. S. 16). Als solche soll sie der Prosa ihrer bestimmten Zeit entsprechen,

ohne doch die Prosa derselben nachzuahmen, wie es der glücklicherweise geschichtlich

überwundene, neuerdings von Gottfr. Flammberg (Pseud. für Ebrard) wieder

versuchte sog. chronikalische Roman that, der die Ereignisse in der nämlichen

Sprache erzählt, welche zu der bestimmten Zeit gesprochen wurde.



Was die Darstellung des Romans betrifft, so kann diese langer Monologe

um so mehr entbehren, als es dem Dichter ja frei steht, beschauliche Selbstgespräche

durch die Schilderung zu ersetzen. Man vgl. als Muster Freytag,

Goethe (Wilhelm Meister I. Buch Kap. 17), Spielhagen (Problematische Naturen),

Gottfr. Keller.



Auch der Dialog gehört in seiner Ausbreitung nicht eigentlich oder wesentlich

in den Roman, der ja kein dramatisches Kunstwerk sein will. Er ist

jedoch am Platze, wo durch ihn die Belebung erfolgreich wird, wo die Gespräche

die Handlung fortleiten und mit ihr in kausalen Zusammenhang bringen.



b. Schilderung körperlicher Vorzüge. Besonderes Geschick erfordert

die gelegentliche Schilderung körperlicher Vorzüge. Körperliche Schönheit sollte

man nach Lessing nur in ihrer Wirkung schildern. „Malet uns, ihr Dichter,

das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit

verursacht, und ihr habt die Schönheit selbst gemalt!“ Hiefür ist nötig,

daß der Dichter die Personen schildere, indem er sie handeln läßt. Er gebe

z. B. eine oder einige Eigenschaften der Heldin an, erzähle, wie sie ihr lockenumrahmtes

Haupt erhob, wie der tiefe, wehmütige Blick aus dem dunkeln

Auge ins Herz drang und male so den Totaleindruck durch ihr eigenes Thun &c.

Die Schilderung Philinens von Goethe in Wilhelm Meister ist ganz der Weise

Homers entsprechend &c.



c. Benennungen von Charakteren, Orten. Nicht ganz unwesentlich

ist im Roman die Wahl der Namen. Eine großartig angelegte Heldennatur

möchte Eckstein nicht Knöpfle nennen. Wir auch nicht, da Namen und

Charakter sich möglichst decken sollen. Freilich darf der Name nicht schon die

Firma für die ganze Geschichte ergeben, wie z. B. Spürnase für einen Spion,

der Heldenthaten verübt; oder Leichtfuß für einen Verschwender. Der Name

sollte weder banal, noch allzu sezierend scharf sein.



Eine abgeschmackte Manier ist die farblose Bezeichnung der Personen

durch Buchstaben (z. B. Major P. in N. Oder: Er lebte seit einigen Jahren

in K. &c.). Solche lächerliche Diskretion ist ebenso verwerflich, als wenn der

Dichter durch Angabe des Alters jeder Schönen den Verdacht erweckt, es sei

ihm um eine Biographie zu thun.



Ebenso lächerlich ist es beim Roman, der in seinem Jnhalt ein Bild der

Sitten, Zustände und der Zeit entrollt, schon auf den Titel zu setzen: Kulturhistorischer |#f0388 : 366|



Roman, oder Sittengemälde, oder socialer Roman &c. Es ist dies

mindestens ein Verstoß gegen die Objektivität (§ 136), welche nicht schon im

Voraus den Gehalt ausplaudern will.



§ 138. Grundlage des guten deutschen Romans der Neuzeit.



1. Die Grundlage eines gesunden Romans muß Sittlichkeit sein,

da nur diese das Volks- und Familienleben zu weihen vermag.



2. Ein treibendes Motiv darf die echte deutsche Liebe bilden, wie

sie Rückert, Chamisso, Redwitz, Kaufmann u. a. gemalt haben.



3. Auch die materiellen Jnteressen der Gegenwart dürfen sich als

Motive geltend machen, sofern sie sich mit dem Jdealismus versöhnen

lassen.



1. Jrren wir nicht, so stehen wir seit Gustav Freytags Soll und Haben

und Gottfried Kellers Musterroman an der Schwelle einer besseren Periode

der Romanlitteratur. Die Talente schämen sich mehr und mehr, unsittliches

Zeug zu Tage zu fördern, und nur einzelne verkommene Lohnknechte elender

Bücherfabriken geben sich noch dazu her, frivole, schmutzige Waare zu fabrizieren,

oder französische Machwerke zu übersetzen. Für die Folge wird die Grundlage

eines jeden guten Romans ein sittliches Motiv und ein sittliches Ziel sein müssen,

da ja ohne grundsatzvolle Sittlichkeit kein edles Leben, kein reines Glück gedacht

werden kann.



2. Ein solch sittlich erhabenes Motiv ist die Liebe, die echte und treue

Liebe. Sie kann uns entschädigen für die Erkennungsscenen und für all die

verlorene Poesie der heroisch=epischen Weltanschauung. Mehr noch: sie kann

all jene unsaubere Sinnlichkeit und Frivolität verhüten, mit welcher namentlich

die Übersetzungsromane aus dem Französischen ihre leichtfertigen, sittenschädigenden

Figuren umkleiden (vgl. z. B. den sogar gerichtlich verfolgten Roman Flauberts

Madame Bovary, 1857) und den Geschmack verderben.



3. Jm Roman der Zukunft darf die materielle Seite der Gegenwart

recht wohl berücksichtigt werden, da unser Leben eben kein phantastischer Traum

mehr ist, vielmehr Hunger und Liebe, Genuß und Vergnügen sich mächtig

geltend machen. Aber nimmer sollte im Roman der Zukunft der Egoismus

als einziger Beweggrund aller unserer Handlungen hingestellt werden. Der

Glanz des Jdealismus d. i. der ästhetischen Schönheit und der Freiheit bewahrt

vor dem Versinken ins Genußleben. Der Roman mag immerhin furchtlos

beleuchten, was um uns geschieht, aber er behalte stets ein ideales, ethisches,

menschenwürdiges Ziel; er suche den Realismus mit dem in diesem wurzelnden

lebensfähigen Jdealismus zu versöhnen.

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Arten des Romans.


§ 139. Einteilung der Romane nach Jean Paul.



Jean Paul geht bei der Rubrizierung der Romane von der Ansicht

aus, daß jeder Roman einen allgemeinen Geist beherbergen müsse,

der das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung heimlich

zu einem Ziele verknüpfe. Er teilt daher unsere gesamte Romanlitteratur

in drei Schulen ein: die italienische, die niederländische, und

die deutsche.



1. Die italienische Schule. Der höhere Ton der Romane dieser

Schule fordert ein Emporschwingen über die gemeinen Lebenstiefen, ferner größere

Freiheit der höheren Stände, hohe Frauen und große Leidenschaften, natur=

oder historisch=ideale, gewissermaßen italienische Gegenden u. s. w.

Beispiele: Schillers Geisterseher, Goethes Werther, Heinses den persönlichen

Genuß predigender Ardinghello, Wielands Geschichte des Agathon, in

welcher der Dichter in fremder Umhüllung sich selbst und seine Entwickelung

schildert; der Gräfin Jda Hahn-Hahn: Gräfin Faustine &c. (vgl. I. 69 Salonroman).





2. Die niederländische Schule. Hier ist das niedere komische,

gleichsam von einem Niederländer Maler detaillirte Genre vorwaltend; der Held

kann sich durch romantische Färbung in romantischer Beleuchtung zeigen. Beispiele:

Jean Pauls „Blumen=, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod

und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs im Marktflecken Kuhschnappel“

(3. Aufl. 1846), Karl Stöbers Der Kuchenmichel, Gustav Nieritz' Seppel,

Bachmanns Kerkerwonne, Herbsts Moje und Fritze, Edm. Höfers Die Bettelprinzeß

u. a.



3. Die deutsche Schule. Sie liegt in der Mitte zwischen der italienischen

und der niederländischen Schule und hat es mehr auf den mittleren Bürgerstand

abgesehen. Beispiele: Engels Lorenz Stark; H. v. Kleists Michael Kohlhaas;

Jean Pauls Flegeljahre; L. Aug. Kählers Hermann von Löbeneck; Heyses

Kinder der Welt; v. Loëns Verloren und nie besessen; Hans Blums Dunkle

Geschichten; George-Kaufmanns Auf deutschem Boden; Faust Pachlers schön

geschriebener, in Jdee und Ausführung beachtenswerter kulturhistorischer Roman

Die erste Frau; Anna Löhns Zwei alte Apotheker; Detlefs Unlösliche Bande;

Herm. Oelschlägers Wunderliche Leute u. a. Nicht selten gehen die einzelnen

Schulen in einander über.



§ 140. Einteilung nach Form und Jnhalt.



Je nach dem in den Romanen herrschenden Gefühlsausdruck,

nach ihrer äußeren Form und nach ihrem Stoff und Jnhalt unterscheidet

man folgende Romane:

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1. Epische (erzählende), lyrische, didaktische und dramatische (dialogische);





2. tragische, komische, humoristische, satirische, sentimentale (empfindsame);





3. Romane in Brief- oder in Tagebuchform;



4. bürgerliche oder Familienromane, Schäferromane, Räuberromane,

Künstlerromane, Salon- und Hofromane, ausländische, Reise=

und Seeromane, Familien- und Kulturromane u. s. w.



1. Es ist wohl selbstverständlich, daß sich in jedem Romane lyrische und

dramatische Stellen oder Partieen finden. Je nachdem jedoch eines oder das

andere Element vorherrschend ist, hat der Roman bestimmte Benennungen.



Episch oder erzählend wird er genannt, wenn der Dichter im Hintergrunde

bleibt und seine Romanerzählung objektiv mitteilt. Seinem Wesen nach

muß überhaupt jeder Roman episch sein, da er ja den Helden und seine

Welt wiederzuspiegeln hat. Goethes Wilhelm Meister und aus der neuesten

Zeit Gottfried Kellers Der grüne Heinrich sind Muster und Vorbilder des

epischen Romans. Vgl. noch Paalzows St. Roche, Ebers' Die ägyptische Königstochter

u. a.



Lyrisch nennt man einen Roman, welcher vorzugsweise Gefühle schildert.

Beispiele: Goethe, Werthers Leiden; Pasqué, Roman eines Mutterherzens;

Lohde, Herzenskämpfe; Gallwitz, Zwei Frauenherzen; Spielberg, Verliebte

Herzen &c.



Didaktisch (philosophisch) heißt er, sofern er es sich zur Aufgabe macht,

Wahrheiten anschaulich zu machen, Belehrung zu bieten. Beispiele: Wielands Lieblingswerk

Agathon (S. 377 d. Bds.); Achards Jagd nach dem Jdeal; Ernestis Gold

und Talent; Schiffs Der Geisterseher und Damenphilosophie; Charles Realisten

und Jdealisten; Habichts Jdeal und Welt; Spielhagens Hammer und Ambos (belehrt

über das Verhältnis der dominierenden und unterdrückten Kunst); Gutzkows Der

Zauberer von Rom (belehrt über einen von Rom unabhängigen Katholizismus) u. a.



Der dramatische Roman, welcher eine strenge, an das Drama erinnernde

dialogische Form verlangt, bietet weniger der sich ausbreitenden Geschichte

Spielraum, als er Gelegenheit giebt, die Vergangenheit in der Gegenwart

vorzuführen.



Der dramatische Roman heißt wohl auch der dialogische. Er steht dem

Drama so nahe, daß es ein leichtes ist, ihn zu einem solchen umzugestalten.

(Zschokke hat z. B. seinen Roman Abällino ohne Schwierigkeit in ein Drama

verwandelt.) Vertreter des dramatischen Romans sind: Richardson, Wieland,

Jakobi, Engel, Jean Paul, Brachvogel, Fr. Friedrich u. a.



Einzelne Romane sind teils lyrisch, teils episch, wie z. B. Schillers Geisterseher

2. Band.



2. Endigt der Held des Romans unglücklich, weil er gegen die gesetzlichen

Verhältnisse der Gesellschaft ankämpft, so wird der Roman tragisch genannt.



Jn den Leiden des jungen Werther von Goethe machen die von den

Gesetzen der Natur und der Wirklichkeit abweichenden Gefühle und Wünsche des |#f0391 : 369|



Helden den letzteren unglücklich. Dasselbe ist in den Wahlverwandtschaften

von Goethe der Fall, wo die Überschreitung allgemein gültiger Schranken Unglück

bringt. Dem in der Wirklichkeit ruhenden Roman steht im Gegensatz

zu dem in der Sage wurzelnden Epos das ganze Gebiet des Komischen offen.

Die für uns abgethanen Schelmen- und Gaunerromane waren ihrem Wesen

nach komisch. Der Verstand kann sich beim Aufbau solcher Romane ebenso

bethätigen, wie das Gefühl, weshalb sich Verstand und Gefühl in den Widersprüchen

─ in Laune und Spott, in Jronie und Humor ─ begegnen und

den Roman a. zum humoristischen gestalten, (Beispiele: Paul de Kocks humoristische

Romane; Jean Pauls Romane; Jmmermanns Münchhausen; v. Winterfelds

Onkel Sündenbock; v. Grabowskis Die fidele Säbeltasche; Hackländers

Romane; Ernst Ecksteins Die Gespenster von Varzin; ferner Reuter, Piening

u. a.) oder b. zum satirischen (Beispiele: Cervantes' Don Quijote, Eduard

Maria Öttingers Onkel Zebra; Walesrodes Unterthänige Reden; Voltaires

satirische Romane); ─ oder c. zum sentimentalen (Beispiele: Goethes

Werthers Leiden, Richardsons Clarissa, sowie I. 55).



3. Der Roman in Tagbuchform oder in Briefen, welch letztere meist

längere Dialoge oder Monologe sind, ist seinem Äußern nach dramatisch.



Er läßt sich rechtfertigen, wenn wenige Personen vorkommen, wie im genannten

Goetheschen Roman Werthers Leiden oder in Jakobis Eduard Alwill

oder in Richardsons Pamela und Clarissa Harlowe oder in den Romanen

der Niederländerinnen Wolf und Deken oder dem 1881 erschienenen Aus

Jtalien von Graf Adelmann u. s. w.



Jeder Brief ist gewissermaßen die Hälfte eines Dialogs, dessen andere

Hälfte der Antwortsbrief bildet. Es dominiert das individuelle, lyrische Moment,

weshalb derartige Romane immer auch sentimentale oder empfindsame

genannt werden können. Da dem Schreibenden nur in den Mund gelegt

werden kann, was er selbst erlebt, so sehen wir in der Briefform immer nur,

wie die Welt dem Schreibenden erscheint, nicht aber, wie sie sich in den Augen

der andern ausnimmt. So eignet sich die Briefform zur Zeichnung eines

Seelenlebens, wie es besonders Goethe im Werther mit allem psychologischen

Detail in ruhiger Weise entrollte; nicht aber eignet sich die Briefform für lebhafte

Handlung, für rasch sich abwickelnde Ereignisse und für dramatisches Hasten.

Als bekanntere Beispiele des Romans in Briefen oder in Tagebuchform sind

noch erwähnenswert: Hölderlins Hyperion, Roman in Briefen; sowie Nathusius'

Tagebuch eines armen Fräuleins u. a.



4. Jm Allgemeinen ist es nicht so leicht, den Roman auf eine bestimmte

Stufe einzuschränken. Da er das ganze menschliche Dasein in allen Kreisen

und Lebensverhältnissen umfaßt, so hat man in Hinblick auf seinen Stoff und

Jnhalt unterschieden:



a. Schäferromane, welche ähnliche Kreise wie die Jdylle umschlossen. Der

Begründer ist der Franzose Honoré d'Urfé durch den Schäferroman Asträa

1612. Beispiele: I 52 b und 54, ferner Neumarks Filamon und Belliflora

u. a. Vgl. auch den bekannten Schäferroman Galatea von Cervántes &c.

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b. Räuberromane (vgl. den bekanntesten Rinaldo Rinaldini von

Vulpius; Spieß' Die Löwenritter; v. Levitschnigg Der Diebsfänger; Sondermanns

Die Räuber; Berthets Räuber von Ogères &c.).



c. Künstlerromane (vgl. Cramers Herrmann von Nordenschild; Weises

Guido, Lehrling Albrecht Dürers; Gundlings Henriette Sonntag; Hackländers

Künstlerroman; Vacanos Der Roman der Adelina Patti; Steffens' Künstlerstreben;

Pasqués 7 Tage aus dem Leben eines Sängers; Saars Die Geigerin;

R. Springers Devrient und Hoffmann &c.).



d. Salon- und Hofromane, welche die feineren Stände mit ihren

gewählteren Formen, ihrer besseren Bildung und ihrem gesteigerten Lebensgenusse,

sowie den Hof mit seiner eigenartigen Sitte umschließen (vgl. die

Proben I. 69, sowie von Göhrens Aus dem Salonleben; J. Mühlfelds Die

alte Durchlaucht; F. v. Stengels Aristokraten; Zetters Gräfin von Kery; Wartenburgs

Eine vornehme Frau; Giltersbergs Die beiden Comtessen u. a.).



e. Ausländische, Reise=, Seeromane, welche ein Bild fremdländischer

Sitten und Kultur bieten und an oder auf der See, oder auf der Reise in

fremden Ländern spielen. (Beispiele: Otto Ruppius' Der Prärieteufel; ferner Rosenthal=Bonins

Bernsteinsucher; Coopers Romane; Galens Jnsulaner; Jwanows

Die Russen in Turkistan; Whikys Aus dem Londoner Zigeunerleben; Mützelburgs

Das Schloß an der Ostsee; Schmelings Ein Ostseepirat; Spielhagens Auf

der Düne; Wachenhusens Die Wüstenjäger; Cobbs Des Seesturms Geheimnis &c.,

vgl. auch I. 69).



f. Bürgerliche Romane. Da die Familie, das Bürgertum, die Arbeit

den Mittelpunkt bilden, in welchen sich die ganze Fülle des Volkslebens ergießt,

so muß der bürgerliche Roman, der den Familienroman und den Kulturroman

der Arbeit umschließt, das gesamte Volksleben wiederspiegeln. 1. Familienromane

(Muster: Goethes Wilhelm Meister; Hackländers Eugen Stillfried; Th.

Mügges Täuschung und Wahrheit; Gustav Jahns Frau Schwertlein; Henriette

Hankes Ehen werden im Himmel geschlossen; E. Höfers Zwei Familien; Schirmers

Ein Familiendrama; Thalhaus' Eine alte Jungfer; F. Henkels Die Stiefschwestern;

E. Fels' Eine Konvenienzehe; Mannsfelds Ein Geheimnis in der Ehe; A. Niemanns

Eine Emancipierte; v. Wieses Familie Friedmann; Wickedes Eine deutsche

Bürgerfamilie u. a.). 2. Kulturromane. (Beispiele: Grimmelshausens Simplicissimus;

Levin Schückings Eine Aktiengesellschast, ferner Die Ritterbürtigen;

Heinr. Zschokkes Die Branntweinpest; Fanny Lewalds Eine Lebensfrage, freie

geistige Bildung der Frau fordernd; Wicherts Die Arbeiter; A. Schraders Börse

und Leben; Petersens Pariser Leben; Luise Ottos Schloß und Fabrik; Nemmersdorfs

Ritter unserer Zeit; Kretschmars Tochter des Arbeiters; Hohenhausens

Roman des Lebens u. a.)

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§ 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane.



Eine bequeme Einteilung scheidet das ganze Gebiet der Romane

in zwei Gruppen, nämlich in:



a. Tendenzromane, b. Stoffromane.



a. Tendenzroman. Als Tendenzroman bezeichnet man den Roman,

in welchem der Dichter einen besonderen Standpunkt, oder eine besondere Ansicht,

eine höhere Jdee zur Geltung und zur allgemeinen Anerkennung zu bringen

sucht, indem er an seinem Helden und dessen Lebensgängen z. B. eine noch

nicht als allgemein erkannte Wahrheit in moralischer, wissenschaftlich=künstlerischer

Beziehung zum Ausdruck bringt, oder ihn zum Vorwand nimmt, um sich über

gewisse wissenschaftliche, sociale, politische, künstlerische Fragen und Jdeen auszusprechen,

sie zu bekämpfen, oder zu verteidigen. (Z. B. Luise Ottos Jesuiten

und Pietisten; Rodenbergs Die neue Sündflut; E. v. Waldows Blaues Blut;

v. Dedenroths Jesuitenränke; B. M. Kapris Uradelig; Klapps Zweierlei Juden;

Klaußmanns Ultramontan; Lobedanz' Ein neuer Glaube; Spielhagens Sturmflut,

welche die sociale Sturmflut und die durch die französischen Milliarden

veranlaßte Bewegung beleuchtet; ferner Gustav Kühnes Die Freimaurer.) Eine

gewisse Tendenz (Jdee) muß jeder Roman haben, auch ohne deshalb Tendenzroman

zu heißen. Sie liegt in der in ihm zur Geltung kommenden allgemeinen

Wahrheit, welche auch von der Gesellschaft als solche betrachtet wird.

Der Roman Werthers Leiden von Goethe verfolgt z. B. die Tendenz, nachzuweisen,

daß die Vernunft die Gefühle zu mäßigen und zu leiten habe, wenn

nicht die ungezügelte Naturkraft zerstörend wirken soll. Wilhelmine v. Hillern

verfolgt in ihrem Roman: Ein Arzt der Seele, die Tendenz, den Nachweis zu

führen, daß der Frauen Aufgabe sich auf Haus und Familie zu beschränken

habe und jedes Überschreiten dieser Schranke zum Unheil führe.



Verwerflich ist der Tendenzroman, wenn er ─ um mit Eichendorff zu sprechen

─ „die Jetztzeit antedatiert und der Vergangenheit das Kuckucksei moderner

Weisheit unterlegt“, wie es z. B. Heinrich König in den Clubbisten in Mainz

(1847. 1875) im Sinn der Aufklärung, ferner der pfälzische Pfarrer Bischoff

(pseud. Konrad von Bolanden) im Jnteresse des Ultramontanismus in seinen

Romanen Urdeutsch, Franz von Sickingen, Friedrich II. thut, indem er sein

Volk beschimpft, um die römische Kirche zu glorifizieren.



Man unterscheidet bei den Tendenzromanen streng philosophische Romane

(z. B. Auerbachs Spinoza), politische (z. B. Willkomms Die Europamüden),

sociale (Gutzkows Engelchen), moralische (Spittas Reine Herzen), pädagogische

(Gutzkows Blasedow und seine Söhne, sowie besonders des idealen Leop. Komperts

Franzi und Heini. 1881), theologische (Lubojatzkys Die Neukatholischen),

ästhetische (Ad. Sterns Ohne Jdeale) &c. Jedenfalls thut man am besten ─

wie wir das weiter unten einhalten wollen ─ den Tendenzroman als philosophischen

Roman im weitesten Sinne aufzufassen.



b. Dem Tendenzroman setzt man den Stoffroman entgegen und versteht

darunter den Roman, der lediglich durch seinen Stoff, d. i. durch die |#f0394 : 372|



Erzählung zu interessieren sucht. Jn dieser Hinsicht können alle Gattungen

von Romanen als Unterordnungen des Stoffromanes bezeichnet werden. Es

würde also z. B. der historische Roman ein auf historischer Basis ruhender

sog. historischer Stoffroman sein u. s. w. (Beispiele I. 68.)



§ 142. Unsere Einteilung der Romane.



Als übersichtlich, charakteristisch und erschöpfend dürfte sich die

Einteilung in 1. historische, 2. philosophische, 3. moderne (Zeitromane)

und 4. volksmäßige Romane (Dorfgeschichten) empfehlen.



(Die in den §§ 139─142 aufgeführten Arten des Romans lassen

sich leicht diesen 4 Kategorien ein- oder unterordnen.)



I. Der historische Roman.

Man nennt ihn so, weil sein Stoff irgend

eine historische, poetisch zu schildernde Begebenheit ist. Einige haben ihn aus

dem Gebiet der dichterischen Gattungen ausschließen wollen, da er romanhafte

Anschauung für Geschichte ausgebe und somit den historischen Sinn des Lesers

schädige. Allein wenn die Gegenwart Gegenstand des Romans sein darf, warum

nicht auch die Vergangenheit? Die Prosa, welche den Roman an die Wirklichkeit

des Lebens anschließt, verleiht ihm die Wahrscheinlichkeit der Wirklichkeit,

wodurch Konflikte viel leichter sich ergeben als im Drama, welches durch gebundene

Sprache sich der gemeinen Wirklichkeit enthebt.



Es kommt im historischen Roman alles auf die echt poetische, ideale Auffassung

an und auf die künstlerisch=schöpferische Wiedergeburt. Die Geschichte

muß im Roman aufhören, für sich zu bestehen, sie muß in die Dichtung

übergehen. Verbürgte Geschichte darf man daher nicht aus dem Roman

lernen wollen. Der Roman muß eben nicht Geschichte sein wollen, als vielmehr

eine phantasievolle Umbildung der Geschichte zu einem bestimmten Lebensbilde.

(Vgl. z. B. Das Jahr 1812 von Rellstab.) Der Dichter verfährt

so, daß er zur Geschichte zudichtet oder von derselben wegläßt, daß er da, wo

es für das Jnteresse der Geschichte nötig erscheint, eine Steigerung oder eine

Jndividualisierung des Charakters eintreten läßt u. s. w. Bringt der Dichter

endlich noch den Charakter einer gewissen Zeit zum Ausdruck, ohne seinen

Roman zum Sittengemälde oder zum trocknen Zeitbilde werden zu lassen,

ja, läßt er eben alles um des Helden willen geschehen und thut er der inneren

Notwendigkeit keinen Eintrag (vgl. z. B. Eugens Der Held des Bauernkriegs),

so hat der historische Roman seine Berechtigung. Er ist nach Walter Scotts

Vorgang (der seine Laufbahn mit der Übersetzung von Goethes Faust begonnen

hatte) in Deutschland sehr gepflegt worden. Viele mittelmäßige Romanschreiber

sind geradezu die Affen Walter Scotts geworden. Willibald Alexis, der deutsche

Walter Scott, der in Die Hosen des Herrn von Bredow, Der Roland von

Berlin, Der falsche Waldemar &c. die Entwickelung Preußens schildert, liefert

treffliche historische Romane. Auch haben Laube (Der deutsche Krieg), Luise

Mühlbach, Heinrich König, Otto Müller (Die Mediatisierten), Rehfues (Scipio |#f0395 : 373|



Cikala), Freytag, Scheffel, Hesekiel (Vor Jena), Hiltl, Ludwig Rellstab, Wilhelm

Hauff (Lichtenstein), Franz Karl van der Velde (Die Eroberung von Mexiko),

Johs. Scherr (Der Prophet von Florenz), Th. Mügge, Burow (Die Preußen

in Prag), Conard (Der 7tägige Krieg), W. Ewald (Die Schweden auf Kronberg),

Kaiser (Unter dem alten Fritz und Kaiser Joseph), Waldmüller (Napoleon),

Adolf Palm (Die Gräfin von Görlitz), Gottschall (Jm Banne des

schwarzen Adlers, aus der Zeit der Thronbesteigung Friedrich II. von Preußen),

Ebers, Harmening (Matthias Overstolz 1881) &c., anerkennenswertes geleistet,

was zum Teil den historischen Romanen Walter Scotts ebenbürtig an die Seite

zu stellen ist.



Zu den bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiete des historischen Romans

der Neuzeit zählen Ebers, Scheffel und Freytag. Sie haben den zur

Hälfte wissenschaftlich=historischen Roman geboten, also eine besondere Gattung

historischer Romane begründet, welche ebenso unterrichten als unterhalten. Mit

großem Ernst schöpfen sie aus der geschichtlichen Vergangenheit: Ebers aus

der Geschichte des Pharaonenlandes (Uarda: Glanz der Pharaonen; ägyptische

Königstochter: Heimfall Ägyptens an Persien; Die Schwestern: das

Hellenentum unter den Lagiden; Der Kaiser: das Römertum &c.); Scheffel

(Ekkehard) und Freytag (Die Ahnen) aus der deutschen Vergangenheit. (Der

1. Band der Ahnen „Jngo und Jngraban“ spielt um 357 und 724, der 2.

„Das Nest der Zaunkönige“ um 1003. Der Held Jmmo führt die Braut

in die von den Feinden spottweise Nest der Zaunkönige genannte Burg. Der 3.

spielt in der Zeit der Hohenstaufen; der 4. „Markus König“ zur Zeit Luthers.

Der Sohn des Markus entflieht mit der Braut und wird auf der Veste Koburg

getraut; Luther versöhnt den Vater. Der 6. und letzte Band zeigt,

daß der jüngste Sproß von Jngo und Jngraban niemand anders ist als

Gust. Freytag selbst.) Ebers, Scheffel und Freytag haben mit einander gemein,

daß sie uns nicht nur rühren mit dem, was sie ganz und wahr erfüllt, sondern

auch mit dem, was sie besser als andere der Geschichte nachzuerzählen wissen.



(Über Freytag ist merkwürdigerweise Herr J. Bourdeau in der Revue des

deux Mondes XLVIII
., 1 vom Novbr. 1881: (»Le roman d'éducation

nationale en Allemagne«) p
. 135 ff. der Ansicht, daß er eigentlich ein

Nachahmer von Walter Scott, sodann (laut Réville, 1. Dez. 1874) auch

des Eugène Sue sei!! Ivo, Die Ahnen. »A vrai dire, ce n'est point

ici un roman historique, c'est plutôt de la philosophie de l'histoire

en action: éveil de l'idée nationale en Allemagne, premières velléités

de réforme et d'indépendance du joug ultramontain, point de départ

de la civilisation de la Prusse, toutes idées abstraites, accrochées

à des épisodes historiques et expliquées par des incidens et des

personnages de pure fantaisie. Ces sortes d'ouvrages exigeraient

un long commentaire
.« Am Schluß seiner Besprechung S. 153 sagt Bourdeau:

Le genre du roman historique et politique adopté par M.

Freytag, est, sinon faux, du moins un genre de transition: justement

abandonné en France et en Angleterre, il n'est plus guère cultivé
|#f0396 : 374|



qu'en Allemagne. En cela les Allemands retardent de trente années.

Ils négligent trop, encore aujourd'hui, le roman psychologique, l'étude

des sentimens et des caractères etc
.)



II. Der philosophische Roman

nimmt Veranlassung, gewisse Ansichten

über wissenschaftliche und künstlerische Gegenstände durch seine Charaktere aussprechen

zu lassen, oder aber das Leben der gegenwärtigen Zeit mit Rücksicht

auf die Zukunft zu malen. Dieses Raisonnement wird mehr oder weniger

im philosophischen Roman Hauptsache, da dieser Roman weniger des Helden

als des Raisonnements wegen geschrieben ist. Der philosophische Roman vereinigt

alle Formen, die wir als Tendenzromane betrachtet haben. (§ 141.)



Bald sucht der philosophische Roman in religiösen Dingen Belehrung zu

geben (Spinoza von Auerbach), bald Fragen der spekulativen Philosophie zu

erörtern (Spinoza von Auerbach, sowie Fr. Fries' Julius und Evagoras);

bald behandelt er die bessere Sitte (Jakobis Waldemar, ferner Al. v. Ungern=

Sternbergs Paul); bald liefert er ein großes Kulturgemälde des Jahrhunderts

(Gutzkows Die Ritter vom Geist); bald hat er ein pädagogisches Jnteresse

(Gutzkows die Söhne Pestalozzis); bald dient er einer bestimmten Kunst, welch

letztere Gattung des philosophischen Romans auch als Künstlerroman bezeichnet

wird. Das Raisonnement desselben kann ins Bereich der dramatischen Kunst

fallen (Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, ferner Aug. Lewalds Theaterroman),

ins Bereich der Malerei (Tiecks Sternbalds Wanderungen, Heinses

Ardinghello), in das der Musik (Heinses Hildegard von Hohenthal, Brachvogels

Friedemann Bach), u. s. w.



III. Der moderne Roman

(Zeitroman). Der moderne Roman ist der

Roman der Gegenwart und heißt auch Zeitroman, sofern er das Bild der

Zeit und ihrer Sitten giebt. Der Zeitroman wurzelt im Erlebten, das er

nicht gerade ideal darzustellen braucht. Er liebt freierfundene Stoffe, die er

dem Geist und Jnhalt der gegenwärtigen Kulturperiode entsprechend wählt.

So schildert z. B. Samarow in Scepter und Kronen die Begebenheiten

von 1866, neben welchen er zwei Liebesgeschichten giebt. Er weiß seinen

Stoff (z. B. selbst durch Einführung in die Kabinette der Staatsmänner, durch

Belauschung Napoleons und Eugeniens, durch Entrollung von Verschwörungen,

Erzeugung dämonischen Schauders &c.) lebenswahr und anziehend zu gestalten.

Spielhagens Jn Reih und Glied schildert die Lassallesche Arbeiterbewegung

(Gutmann ist Lassalle, der romantische König ist Friedrich Wilhelm

IV. &c.), Auerbachs Auf der Höh' spiegelt bayerische Zustände unter Ludwig I.

Brachvogels sämtliche Romane kann man als Zeitromane bezeichnen. Sein

erster Roman war Friedemann Bach, von dem er sagt: „Jch habe in

Narziß zu schildern versucht, wie ein solcher Charakter ist, im Friedemann

Bach
dagegen, wie jeder unter ähnlichen Verhältnissen ein ähnlicher Charakter

werden kann.“ Jm Trödler zeigt er mit Geschick und Kunst, wie nur

drei Dinge ewig bestehen und uns sicher zu Gottes Thron führen: treue

Liebe, bescheidener Sinn und gute Thaten. Sein bedeutendster Roman

Ein neuer Falstaff führt aus, wie ein edler Charakter und großer Künstler |#f0397 : 375|



durch den Hohn und den Spott, den die Häßlichkeit seiner Erscheinung

hervorruft, zur Verachtung und Haß gegen die Menschheit sich hinreißen läßt,

wie er den Adel seiner selbst preisgiebt und in den Strudel des Gemeinen versinkt,

aber doch durch allen Zweifel und alle Verirrung sich hindurchringt zur

Reinheit und Klarheit der Anschauung, weil er die leidenschaftliche, lebendige

Liebe zu einem schönen liebenswürdigen und edlen Wesen nicht aufgeben kann.

Er findet den Ausgang aus dem Labyrinth der falschen Grundsätze, in die er

sich hineingepredigt, ─ und den Zugang zum Herzen der Geliebten. Beliebte

moderne Romane (zum Teil im Stil des Zeitromans ausgeführte Novellen)

aus den letzten 20 Jahren sind: E. Werner, Gesprengte Fesseln; Stahl, Ein

weiblicher Arzt; Wilcken, Am Hof; Vict. Sales, Eine Bekanntschaft auf der

Straße; Ohorn, Der Klosterzögling; Hiltl, Eine Kabinetsintrigue; Müldener,

Aus der Verbrecherwelt; Hermann, Jud und Christ; v. Gottschall, Welke Blätter;

Ludolf, Die Tochter des Spielers; Gaboriau, 12 Millionen; J. Krüger, Der

Jesuit und sein Zögling; Dewall, Eine Mesalliance; S. Kohn, Ein Spiegel

der Gegenwart; H. Hopfen, Arge Sitten; R. Byr, Eine geheime Depesche;

Höcker, Geld und Frauen; Hirschfeld, Carriere.) Für weitere Beispiele vgl.

I. 68 unter Zeitroman.



IV. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte.

Er ist

der Jdylle verwandt und beschränkt sich auf Stoffe aus dem Volksleben und

aus den volkstümlichen Anschauungskreisen. Somit könnte man ihn auch den

Roman des Volkslebens nennen. Die Neubegründer dieser zu allen Zeiten gepflegten

Gattung sind Heinrich Zschokke († 1848) und Berth. Auerbach († 1882).

Bekannte Beispiele des volkstümlichen Romans oder der Dorfgeschichte aus der

allerletzten Zeit (etwa von 1860─1882) sind: Beuthien, Sleswig-Hollsteener

Buerngeschichten; Eötvös, Ungarische Dorfgeschichten; Hans Hopfen, Bayerische

Dorfgeschichten, und dessen Böswirt; H. Kletke, Der Savoyardenknabe; Molitor,

Dorfgeschichten; Gust. Nieritz, Seppel; Raimund, Bauernleben; Rosen, Der

Buchenhof; Rosegger, Die Schriften des Waldschulmeisters; Schall, Oberösterreichische

Bauerngeschichten; Schaumberger, Fritz Reinhardt &c.; Scheitlin, Der

Segen der Bibel; Schöpf, Dorfgeschichten; Snieders, Der Großknecht; Vacano,

Dorfbilder; Herm. Schmid, Der Bauernrebell, Das Schwalberl; A. Brook (Pseud.

für Antonie Brökel in Kiel) Schutzlos aber nicht hülflos (2. Aufl. 1874.)

u. a. Für weitere Beispiele vgl. I. 73.



§ 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische

Stilproben.



1. Als instruktive Beispiele, welche den historischen Fortschritt des

Romans charakterisieren (und die für erschöpfende Kenntnis dieses Kunstgenres

ein jeder kennen sollte), erwähnen wir:



1. Grimmelshausens Simplicissimus (Ausg. v. Keller 1862).



2. Wielands Geschichte des Agathon, und dessen Abderiden.



3. Gottwerth Müllers Siegfried von Lindenberg.

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4. Jean Pauls Siebenkäs.



5. Schillers Geisterseher.



6. Gustav Freytags Soll und Haben.



7. Luise von François Die letzte Reckenburgerin.



8. Scheffels Ekkehard.



9. Ebers Ägyptische Königstochter.



10. R. Hamerlings Aspasia.



11. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich.



2. Für Kenntnis des Stil-Fortschritts beschränken wir uns auf

nachstehende drei charakteristische Stilproben epochebildender Werke auf

dem Gebiete der Romanlitteratur:



1. aus dem humorreichen Romane Simplicissimus, dem hervorragendsten

litterarischen Erzeugnisse des 17. Jahrhunderts (Analyse s. I 52.)



2. aus dem bedeutungsvollen, die Erziehung der Menschheit zur Tugend

darstellenden philosophischen Roman Agathon, dem Lieblingswerke Wielands,

dem Vorbild aller Ritterromane und späteren Romane aus der letzten Hälfte

des 18. Jahrhunderts. (I 54).



3. aus dem vortrefflichen Roman Der grüne Heinrich von Gottfried Keller

aus der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts. (Neue Ausgabe 1880.)



Stilproben aus drei Jahrhunderten.



1. (17. Jahrhundert.) Stilprobe aus Hans Jakob Christoffel von

Grimmelshausens Simplicissimus,
das ist: Beschreibung des Lebens eines

seltsamen Vaganten, genannt Melchior Sternfels von Fuchsheim. (Jn der Neuzeit

herausgeg. durch Brockhaus, Reclam und Meyer.) Neunzehntes Kapitel.



Wie Hanau von Simplicio

und Simplicius von Hanau eingenommen wird.



Da es tagte, fütterte ich mich wieder mit Weizen, begab mich zum nächsten

auf Gelnhausen und fand daselbst die Thore offen, welche zum Teil verbrannt

und jedoch noch halber verschanzt waren. Jch ging hinein, konnte aber keines

lebendigen Menschen gewahr werden; hingegen lagen die Gassen hin und her

mit Toten überstreut. Meine Einfalt konnte nicht ersinnen, was vor ein Unglück

das Ort in einen solchen Stand gesetzt haben müßte. Jch erfuhr aber

ohnlängst hernach, daß die Kaiserische Völker etliche Weimarische daselbst überrumpelt.

Kaum zween Steinwürfe weit kam ich in die Stadt. Als ich mich

derselben schon satt gesehen hatte, kehrte ich wieder umb, ging durch die Aue

nebenhin und kam auf eine gänge Landstraße, die mich vor die herrliche Festung

Hanau trug. Sobald ich deren erste Wacht ersahe, wollte ich durchgehen;

aber mir kamen gleich zween Musketiere auf den Leib, die mich anpackten und

in ihre Corps de Garde (Hauptwache) führten. Jch muß dem Leser nur auch

zuvor meinen dermaligen visierlichen Aufzug erzählen, ehe daß ich ihm sage,

wie mir's weiter ging; denn meine Kleidung und Gebärden waren durchaus

seltsam, verwunderlich und widerwärtig, so daß mich auch der Gouverneur hat

abmalen lassen. Erstlich waren meine Haare in dritthalb Jahren weder auf |#f0399 : 377|



Griechisch, Deutsch, noch Französisch abgeschnitten, gekrempelt, noch gekräuselt,

noch gelüfft worden; sondern sie stunden in ihrer natürlichen Verwirrung noch

mit mehr als jährigem Staub anstatt des Haar-Plunders, Puders, oder Pulvers

durchstreut, so zierlich auf meinem Kopf, daß ich darunter herfürsahe mit

meinem bleichen Angesicht wie eine Schleier-Eule, die knappen will, oder sonst

auf eine Maus spannt. Der übrige Habit stimmte mit der Hauptzier überein;

denn ich hatte meines Einsiedlers Rock an, wann ich denselben anders noch

einen Rock nennen darf, dieweil das erste Gewand, daraus er geschnitten worden,

gänzlich verschwunden und nichts mehr davon übrig gewesen, als die bloße

Form, welche mehr als tausend Stücklein allerhand färbiges, zusammengesetztes,

oder durch vielfältiges Sticken an einander genähtes Tuch noch vor Augen

stellte. Meine Schuhe waren aus Holz geschnitten und die Schuhbändel aus

Rinden von Lindenbäumen gewebt; die Füße selbst sahen so krebsrot aus,

als wann ich ein Paar Strümpfe von Spanisch Leibfarbe angehabt, oder sonst

die Haut mit Fernambuc gefärbt hätte. Jch glaube, wenn mich damals ein

Gaukler, Marktschreier oder Landfahrer gehabt und vor einen Samojeden oder

Grönländer ausgegeben, daß er manchen Narren angetroffen, der einen Kreuzer

an mir versehen hätte u. s. w.



2. (18. Jahrhundert.) Stilprobe aus Wielands Geschichte des

Agathon.
(Göschensche Ausg. 1853 IV. 40 ff.)



Wie ähnlich ist alles dies einem Fiebertraume, wo die schwärmende Phantasie

ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betrachtung

zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteuer zu dem andern, von der

Krone zum Bettlermantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartaros

ins Elysium fortreißt! Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum,

so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges

Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung

darin finden, uns zum Scherze bald glücklich, bald unglücklich zu machen?

Oder ist es diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle

Majestät der Natur ankündiget, ist es dieser alles belebende Geist, der die menschlichen

Sachen anordnet: warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben

diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente,

die Jahres- und Tageszeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels: in

ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige? Warum

sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften?

Sind unsere Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des

Himmels: warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite

seiner Feinde? Oder, hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen:

warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet

bald Notwendigkeit, bald Zufall die weisesten Entwürfe?



Hier hielt Agathon eine Zeit lang ein. Sein in Zweifeln verwickelter

Geist arbeitete, sich los zu winden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur,

die ihn umgab, eine andere Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte.

─ „Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen |#f0400 : 378|



der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als

ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen

dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Vollkommenheit,

weil Agathon ein Sklave, und von Psyche getrennt ist? Schäme

dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen!

Wie kannst du Verlust nennen, dessen Besitz kein Gut war? Jst es ein Übel,

deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles

dessen beraubt, warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und

warum nennst du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall

giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht, sie zu erlangen oder

zu erhalten? ─ Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi

hin, eh' ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechslungen

kannte; eh' ich genötigt war, mit den Leidenschaften anderer Menschen,

oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins

einem undankbaren Volk aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung,

Thoren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein!

Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens

am besten. Es gab Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich

glücklich war; glücklich in den frohen Stunden, wenn meine Seele, vom Anblick

der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen,

wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden, irrte; glücklich, wenn mein

befriedigtes Herz in den Armen der Liebe aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß,

und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher,

wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen

genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten

sich verlor. ─ Ja, du bist's, alles beseelende, alles regierende Güte ─ ich

sah, ich fühlte dich! Jch empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich

macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit von Augenblicken

und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten giebt. Die Macht der

Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit

heilet den gegenwärtigen Schmerz und verspricht eine bessere Zukunft. ─

Diese allgemeinen Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen wie

ehemals um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbe, wie die Natur, die

mich umgiebt. ─ O Ruhe meines delphischen Lebens, und du, meine Psyche!

euch allein, von allem was außer mir ist, nenne ich mein! u. s. w.



3. (19. Jahrhundert.) Stilprobe aus Gottfried Kellers Der

grüne Heinrich.
3. Band, S. 1. Erstes Kapitel.



Arbeit und Beschaulichkeit.



Jch schlief fest und traumlos bis zum Mittag; als ich erwachte, wehte

noch immer der warme Südwind und es regnete fort. Jch sah aus dem Fenster

und erblickte das Thal auf und nieder, wie Hunderte von Männern am

Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen

aller Schnee schmelzen mußte und eine große Flut zu erwarten war. Das |#f0401 : 379|



Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher; für unser Haus war gar

keine Gefahr, da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag, der die

Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen,

und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch

hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlossen bei der Arbeit, als

sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen,

standen bis über die Kniee in Schlamm und Wasser, schwangen Äxte und

trugen Faschinen und Balken umher, und wenn so acht Mann unter einem

schweren langen Baume einher gingen, hielten die Witzbolde unter ihnen keinen

Einfall zurück; nur der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabakspfeifen

sah. Jch konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege;

nachdem ich daher eine Strecke weit das Wasser hinaufgeschlendert, kehrte ich

oben durch das Dorf zurück und sah auf diesem Gange die Thätigkeit auf allen

ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Wasser beschäftigt war, der fuhr ins

Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzuthun, und auf einem Acker sah

ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nachtag

eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre. Jch schämte mich, allein

so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu thun,

entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider

nicht viel zu versäumen und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem

Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja, sie kam mir schal und nichtig vor;

da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich durch Kot und Regen

in die Nacht hineinwandern mußte, so ließ eine ascetische Laune mir diesen

Gang als eine Wohlthat erscheinen, und ich machte mich trotz aller Einreden

meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg.



So stürmisch und mühevoll dieser war, legte ich doch die bedeutende

Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Jnnern erwachten

alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens,

wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich unversehens

vor der Stadt zu befinden. Als ich vor unser Haus kam, merkte

ich an den dunkeln Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heimkehrenden

Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und

am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet

zum Frühstück erscheinen sah.



Jch bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen

war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter

aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unterzubringen

wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur

mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel.

Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen,

alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken

versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalten. Es waren

Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern

und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu verlocken |#f0402 : 380|



wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzubieten.

Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in

unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefähr gesagt: „Der große

Goethe ist gestorben“, und dies Wort klang mir immer wieder nach. „Der

unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und

überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren

Hand verschwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten

Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über

denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging,

da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste

auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über dessen Rand

auf den Boden, daß ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichtum zusammenzuhalten.

Jch entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom

Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indessen es noch einmal Winter und

wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vorüber,

den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Jch griff zuerst nach

allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich alles

Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reise, und als sich der Strom

hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief,

ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die

ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen

einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto

Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles

wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern:

Dichtung und Wahrheit. Jch war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler

hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst

ein anderweitiger Käufer gezeigt habe. Unter diesen Umständen mußte der

Schatz bar bezahlt werden, was jetzt über meine Kräfte ging; die Mutter

sah wohl, daß er mir etwas Wichtiges war, aber mein dreißigtägiges Liegen

und Lesen machte sie unentschlossen und darüber ergriff der Mann wieder seine

Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und

empfahl sich.



Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube

verließen, so daß diese auf einmal still und leer schien; ich sprang auf, sah

mich um, und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben, wenn nicht

die Stricknadeln meiner Mutter ein freundliches Geräusch verursacht hätten.

Jch machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See

und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und

indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges

Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an

alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen

Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese

Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigennützigem

Zwecke, welches zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt; sie |#f0403 : 381|



steht auch höher als das Genießen und Absondern nach Stimmungen und

romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und

dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön

und merkwürdig vor und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den

Jnhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben.

Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herumlief,

so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen

dreißig Tagen, sowie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich

zuzuschreiben sind. u. s. w.



§ 144. Zur Geschichte und Litteratur des Romans.



Da der Roman ein Bild des wirklichen Lebens ist, so müssen

selbstredend diejenigen Völker, welche das bewegteste Leben führen, die

meisten interessanten Romane aufzuweisen haben; also Engländer, Franzosen,

Amerikaner, Deutsche &c.



Wir streifen kurz die fremden Litteraturen, um sodann die Geschichte

der deutschen Romanlitteratur in ihren wesentlichen Vertretern

aufzurollen, soweit dieselben nicht bereits Bd. I § 18, sowie § 126

bis 144 d. Bds. erwähnt sind.



I. Griechen. Der Roman in unserem Sinne konnte bei den Griechen

selbst in ihrer Blütezeit nicht gedeihen.



Man hatte dort zu jener Zeit noch kein häusliches Leben; alles war

öffentlich, die Geschäfte wie das Vergnügen, die Staatsangelegenheiten wie die

olympischen Spiele und das Theater. Daher kannte man auch nicht eine verborgene

Liebe mit ihren Leiden und Freuden, wie eine solche eine Hauptrolle

in unseren Romanen spielt.



Erst als in Griechenland das öffentliche Leben aufhörte und ein jeder

sich auf seine Familie beschränkte ─ als die Blüte der Litteratur vorüber

war, begann der griechische Roman im besseren Sinne unter dem Namen: „milesische

Märchen“.



Diese sind von Aristides verfaßt und enthalten Scenen aus dem Leben

Milets, der Vaterstadt der Hetären. Als die ersten griech. Romandichter sind

zu nennen: 1. Antonius Diogenes (2. Jahrh. n. Chr.; er schrieb: Die

Wunder jenseit Thule
). 2. Lucius aus Paträ, und Jamblichus, beide

im 2. Jahrh. n. Chr. 3. 200 Jahre später Heliodorus, Achilles Tatius,

Longus, Xenophon aus Ephesus. 4. Um 600 n. Chr. Chariton. Endlich

5. aus dem 11.─13. Jahrh. Eumathius, Theodorus, Prodromus und Nikotas

Eugenianus, welch letztere wegen ihrer erotischen Stoffe den Beinamen Erotiker

trugen. (Eine Geschichte des griech. Romans schrieb Erwin Rohde.)



II. Jtaliener. Diesen genügte die Novelle und das Epos, weshalb ihnen

der Roman ─ mit Ausnahme einer Art Ritterroman ─ fast bis in die

Neuzeit fehlte. Da war es denn Alessandro Manzoni, welcher in Verehrung

Walter Scotts 1825 in seinen klassischen I promessi sposi (Die Verlobten) |#f0404 : 382|



den historischen Roman begründete. (Jnhalt: Don Rodrigo, ein vornehmer

Wollüstling, welcher sein Auge auf die Braut eines Seidenwebers gerichtet

hat, hintertreibt deren Trauung; doch kann er nicht Erhörung finden. Die poetische

Gerechtigkeit läßt ihn durch die Pest hinwegraffen, worauf die Verfolgte den

Geliebten heiratet. Goethe urteilt über diesen Roman, „man werde von der

Bewunderung zur Rührung, von der Rührung zur Bewunderung hingerissen“.)

Die bedeutendsten Nachfolger Manzonis, zu denen fast alle berühmten Staatsmänner

zählen, sind: Giov. Rosini aus Pisa; Ces. Cantù (Margherita Pusterla,

Mail. 1837); Lucrezia Marinella (L'Enrico Mail. 1844); Massimo d'Azeglio;

Domenico Guerazzi, dessen letztes Werk Beatrice Cenci berechtigtes Aufsehen

erregte u. a.



III. Spanien. Die Romane (novela) erblühten hier aus der romanischen

Dichtung. Ursprünglich waren es gehaltlose Ritterromane. Don Miguel de

Cervantes de Saavedra († 1616) in seinem humoristischen Don Quijote, d. i.

Leben und Thaten des sinnreichen Junkers Don Quijote aus der Mancha,

parodierte dieselben. Übersetzt wurde derselbe u. a. von E. Zoller.



(Jnhalt des Don Quijote: Ein durch die Lektüre von Ritterromanen

überspannt gewordener Landedelmann, der Alles glaubt, was die Romane erzählen,

faßt den Entschluß, fahrender Ritter zu werden. Zur Rüstung wählt

er Waffenstücke verschiedener Zeiten und zum Knappen den Bauern Sancho

Pansa, einen gutmütigen, einfältigen, täppischen, zuweilen schalkhaften Menschen,

der gern lügt und besonders das Essen liebt. Windmühlen sieht er für Riesen

an, Wirtshäuser für Ritterburgen, Stalldirnen für Ritterfräulein. Man erklärt

ihn endlich für toll und bringt ihn in die Heimat zurück, wo er in eine

Krankheit verfällt, nach welcher er seine vernünftige Anschauung wieder erlangt.

Der Roman wurde vielfach nachgeahmt, z. B. vom Engländer Butler im

Hudibras; von Wieland im Don Sylvio von Rosalva u. a.) Cervantes wurde

Begründer des Liebesromans. Ende des 16. Jahrh. entstanden auch die

komischen (Schelmen=) und die Schäfer-Romane. Die Bewunderung für Walter

Scott schuf den historischen Roman Gomez Arias von Telesforo de Trueba y

Cosio. Man übersetzte die englischen Romane. Beliebte Originalromane enthält

die Coleccion de novelas históricas 1832─35. Gefeierte Romandichter

sind: Espronceda, Soler, Mariano José de Larra, Jorge Montgomery,

Fernan Caballero (begr. d. span. Sittenroman), Perez Galdos, Juan Valera,

Fernandez y Gonzales u. a.



IV. Frankreich. Jn Frankreich gab es zuerst prosaische Ritterromane.

Diese wurden sodann im 16. Jahrh. verdrängt durch den weltberühmten phantastischen,

witzsprudelnden, aber auch unflätigen satirischen Roman des François

Rabelais: Pantagruel und Gargantua &c. (Jnhalt: Der Riese Gargantua nimmt

aus der Notre-Dame=Kirche in Paris die Kirchenglocken weg und hängt sie

seinem Riesenroß als Schellen an. Er schlichtet den Krieg der Bäcker und

Weinbauern und stillt seinen Durst mit Lattichsalat, wobei er sechs im Salat

versteckte Pilger beinahe mit verschluckt hätte u. s. w. Der Roman verhöhnt

die politischen Jnstitutionen seiner Zeit und bietet vortreffliche Gedanken über |#f0405 : 383|



Erziehung, Litteratur, Philosophie &c.) Nachgeahmt wurde der Roman von

Fischart in der „Affenteuerlichen und Naupengeheuerlichen Geschichtklitterung.

Von Thaten und Rahten der vor kurzen, langen weilen Vollenwolbeschreiten

Helden und Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel, Königen in Utopien

und Nienenreich. Etwan von M. Rabelais französisch entworfen, nun aber oberschrecklich

lustig in ein deutsches Modell vergossen durch Huldrich Elloposkleron 1575

(von ἔλλοψ == ellops Fisch und σκληρός == skleros == hart: Fischhart).



Nach Rabelais machte sich der galante Schäferroman nach spanischen und

italienischen Mustern geltend. (Den bedeutendsten Astrée von Honoré d'Urfé

haben wir bereits S. 369 erwähnt.) Dann brach sich der historische Roman

Bahn, sowie der die bürgerlichen Verhältnisse von Paris behandelnde Roman.

Scarron führte das komische Element der italienisch=spanischen Romantik in die

französische Litteratur durch seinen Roman comique ein. Fénélon schrieb 1698

den besten Roman des Jahrhunderts: Les aventures de Télémaque. Nun

begründete Alain René Lesage durch seinen Diable boiteux 1707 eine neue

Art satirischer Romane, die zur Schule hindrängten, welche zwischen Klassizismus

und Romantizismus in der Mitte steht und Moral, Natur und Gemütsleben

in ihre Kreise zogen. ─ Bedeutendes Aufsehen erregte Voltaire (Candide &c.),

Rousseau (Heloise), u. a. Charles Antoine Pigault Lebrun († 1835), der

den komischen Roman pflegte, und Paul de Kock (1794─1871) wählten

häufig Stoffe aus den Sphären des Gewöhnlichen, Niedrigen. Jhnen stellten

sich durch zarte würdevolle Auffassung Frau Sophie Gay und Frau Cottin

entgegen.



Die Romantiker Vict. Hugo, Alfr. de Vigny, Alex. Dumas, Lacroix,

Mérimée verhalfen dem Roman zur unbestrittenen Herrschaft. Den historischen

Roman pflegte Barginet, Paul de Musset u. a., den Sittenroman Balzac,

Frau Mazure, Frau Foa, Hortense Allart u. a. Außerdem ist erwähnenswert

der Begründer des Seeromans Eugène Sue, der über Voltaire und Lesage zu

stellen ist. Voltaire liefert Karikaturen, Lesage schlechte Charaktere, Eugène

Sue stellt den Schurken herrliche tugendhafte Charaktere (die bedenklichen Les

mystères du peuple
ausgenommen) gegenüber. Muster des guten Romans

ist sein von Theod. Hell deutsch übersetzter Ewiger Jude, sowie seine Geheimnisse

von Paris. Dieselben sind vom Geist der Wahrheit und der christlichen

Humanität durchzogen. Beide Romane sind Zeitbücher, weshalb sie vom Lesepublikum

aller Länder förmlich verschlungen wurden. Von den Seeromanen,

die Sues Ruf begründeten, erwähne ich nur: Kernock le pirate, sowie La

Salamandre
.



Jm Liebesroman hat sich die auch für Frauen-Emancipation wirkende

George Sand hervorgethan, die wie Eugène Sue dem Roman sociale Jdeen

vermählte. Jol pflegte den Abenteuerroman, Blaze den Soldatenroman,

Nodier den phantastischen. Poetisch bedeutend sind die Romane der Sophie

Gay und in der Neuzeit des Alphonse Daudet, dessen 1874 von der Akademie

gekrönter Sittenroman Fromont jeune et Risler ainé ins Deutsche übertragen

wurde und 1876 schon drei Auflagen erlebt hatte. Vielgelesen sind |#f0406 : 384|



noch: Staël=Holstein, Xavier de Maistre, Jony, About, Flaubert (dessen karthag.

Roman Salammbô 1862 und L'éducation sentimentale Aufsehen erregten),

V. Cherbuliez, in neuester Zeit der zweifelhafte Emile Zola u. a.



V. England. Der englische Roman ist aus den Prosabearbeitungen

der Metrical romances entstanden und erreichte bereits Anfangs des 18. Jahrh.

eine nennenswerte Verbreitung. Der Begründer des neueren englischen Romans

ist Daniel Defoe (1661─1731), dessen Robinson Crusoe durch Campes

berühmte Nachbildung auch in Deutschland ungemein populär wurde. Samuel

Richardson († 1761) schuf durch seine Romane Pamela, Grandison, Clarissa

Harlowe
den von Hermes nach Deutschland verpflanzten Familienroman. Fielding

(† 1754 mit Tom Jones), Sterne († 1768 mit Tristram Shandy),

Smollet († 1771 mit Peregrine Pickle) begründeten den humoristischen Familienroman.

Jn unserem Jahrhundert drängte sich der Sensationsroman in

den Vordergrund, sowie der durch Walter Scotts († 1832) Waverley-Novels

begründete historische Roman, der von epochebildender Bedeutung für die Romanlitteratur

aller Nationen wurde. Beliebt wurden auch die in Deutschland vielfach

verbreiteten Gesellschaftsromane Bulwer-Lyttons. Charles Dickens (geb.

1812) und Thackeray, der Begründer des Sittenromans, pflegten in der Neuzeit

den alten humoristischen Familienroman. Vielgelesene Romane schrieben

noch Marryat, Trollope, Collins, Kingsley, Mrs. Wood. Der allergrößten

Beliebtheit unter allen Romanschriftstellern Englands erfreut sich unstreitig Mary

Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot die weltberühmten Romane

The Mill on the floss, Felix Holt, Adam Bede, Middlemarch und

Daniel Deronda &c. veröffentlicht hat &c.



VI. Niederlande. Erst Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts

begann die niederländische Romanlitteratur sich zu entfalten. Die

Schriftstellerinnen Wolff und Deken liebten den Roman in Briefform. Breno

Daalberg schrieb Sensationsromane. Den historischen Roman pflegte Jac. van Lennep

(† 1868), der seine Stoffe der vaterländischen Geschichte entlehnte. Neben

ihm Frau Bosboom Toussaint, ferner Schimmel u. a. Der niederländische

Auerbach ist Cremer. Der populärste Romanschriftsteller aber ist neben Snieders

der in alle Sprachen übersetzte Hendrik (== Heinrich) Conscience. Seinen

Ruf begründete der flämische Roman „Der Löwe von Flandern“, ein historischer

Roman höheren Stils, dessen Handlung den Kampf sämtlicher flandrischer Städte

gegen französische Usurpation umschließt. Ebenso bekannt wurde bei uns seine

von Zoller u. a. übertragene Dorfgeschichte Der Rekrut u. a.



VII. Schweden und Norwegen. Erwähnenswert ist der Romantiker

Almqvist, sowie durch seine Pflege des historischen Romans Crusenstolpe; ferner

die vielgelesene Frederike Bremer, Frau Flygare-Carlen, Frau Knorring, Palmblad,

Ridderstad, Mellin, Schwarz, Topelius (schwedisch schreibender Finne) und

von den Neueren besonders Rydberg, u. a. Von den Norwegern ist zu nennen:

Björnson, Lie, Thoresen (Dorfgesch.), Colban, Glöersen und der nur deutsch

schreibende Henrich Steffens († 1845. Vgl. dessen Romane Malkolm und Die

vier Norweger &c.).

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VIII. Dänen. Jhre bedeutendsten Romanschriftsteller sind Jngemann

(schrieb Ritterromane), Frau Gyllemburg, Blicher, Carl Bernhard, Goldschmidt,

Ewald, Rumohr, Thisted, Drachmann, Jacobsen, Schandorph, Carit Etlar, Hauch

und Andersen. Obwohl die Beliebtheit des Romans um die Mitte unseres

Jahrhunderts sich steigerte, so ist doch nur der Name Bergsöe und seit 1870

G. Brandes von Bedeutung.



IX. Russen. Jn Rußland wurde die Novelle mehr gepflegt als der

Roman. Die bedeutendsten Romanschriftsteller und zugleich Novellisten sind: Turgenjew;

Bulgarin, der historische Romane schrieb; und besonders der Meister des

Romans: Gogol. Außer diesen sind in unserer Zeit gelesen: Dostojewskij, Pissemski,

Tschernischewski (Verf. des berühmten Tendenzromans: Was ist zu thun?), Frau

Pawlow, Helene Weltmann (die historische Romane schrieb) und viele andere.



X. Ungarn. Der Roman wurde besonders durch den Piaristen Andreas

Dugonics in die ungarische Litteratur eingeführt, sowie durch Könyi. Bedeutender

als diese waren Jósika, Eötvös († 1871), Kemeny, der historische

Zustände trefflich malte, besonders aber der durch Humor und Phantasie glänzende,

unübertroffene Moriz Jókai. (Die größte Berühmtheit erlangte dessen

Névleten vár, Das namenlose Schloß, dessen Motiv der französischen Geschichte

entlehnt ist, während der wesentliche Teil der Geschichte in Ungarn spielt. Ein

französischer Legitimist rettet die 11jährige Tochter Maria Antoinettens und

flüchtet mit ihr nach Ungarn, wo er am Neusiedler See ein Schloß ─ das

keinen Namen hat ─ ankauft. Zum Schluß acclimatisiert und nationalisiert

sich der Retter und Ritter, wird Ungar &c.)



XI. Nordamerika. Die hervorragendsten nordamerikanischen Romanschriftsteller

sind Cooper und Washington Jrving. An sie reiht sich Hawthorne u. a.



XII. Deutschland. Beim Abscheiden des Mittelalters ─ also mit dem

Erlöschen der deutschen Heldensage ─ entstand bei uns zunächst eine Art Prosaepos,

Prosaerzählungen, Übersetzungen von Ritterromanen &c. als Nachklänge

der Rittersage: z. B. a. Eine Bearbeitung der Sage vom hörnernen

Siegfried.
(Jnhalt: Siegfried von Santen kommt im Wald zum Schmiede

Minner, wo er mit einem Schlag den Amboß spaltet. Der erschreckte Meister

schickt ihn in den Wald mit dem Auftrag, den furchtbaren Lindwurm zu töten;

in Wirklichkeit will er ihm den Untergang bereiten. Siegfried erlegt den Drachen,

badet sich im Blute dieses Ungeheuers, wodurch seine Haut bis auf eine durch

ein Lindenblatt verdeckte Stelle hörnern wird. Nun erschlägt er den treulosen

Schmied &c.) b. Weißkunig (Jnhalt: Lebensgeschichte des Kaisers Maximilians,

der den von ihm entworfenen Plan durch seinen Geheimschreiber Max

Treitzsauerwein ausführen ließ.) c. Übersetzungen aus dem Französischen: Die

Haimonskinder (I. 45); Die schöne Magelone; Melusina; Genofeva &c. &c.



Das Aufkommen der italienischen Renaissancedichtung erzeugte die arkadischen

Schäferromane und phantastische, romanartige Erzählungen, z. B. Das Buch der

Liebe; Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhütlein; Wickrams Goldfaden

(1557, neu durch Cl. Brentano 1809 herausgeg.), sowie das I. 49 A. a.

Aufgeführte.

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Als Gegensatz zur Hof- und Volksdichtung entstand im 17. Jahrhundert

der gelehrte, höfische Roman, sowie der Abenteuer- und Schelmenroman. (Aufzählung

s. I 52 A. a.) Anfangs des 18. Jahrh. gewannen die Robinsonaden

eine außerordentliche Verbreitung; es erschienen über 40 verschiedene

Robinsone, ein geistlicher, ein jüdischer, ein medicinischer, ein westfälischer u. s. w.

Das sich emporhebende Bürgertum ermöglichte im 18. Jahrh. den Familienroman,

sowie ─ nach Walter Scotts Vorgang ─ den historischen Roman.



Nach dem Romanversuche Gellerts (Die schwedische Gräfin) haben Wieland

und neben ihm Musäus und Hermes die ersten vollkommenen deutschen Originalromane

geschrieben. (I 54 l. und 55 m.) Durch Schillers großartige Bühnenerfolge

(I 56) wurde für die Folge die deutsche Litteratur in neue Bahnen

gelenkt; man verließ das Gebiet des Romans und der Novelle und suchte Erfolge

im Drama. Da war es Goethe (I 57), der die alten Versuche wieder

aufnahm und den deutschen Roman auf die neue Stufe echt künstlerischer Darstellung

emporhob. Er schrieb (seit 1807) die für die Wanderjahre bestimmten

Novellen, zu denen auch die Wahlverwandtschaften gehören sollten, die jedoch

während der Arbeit äußerlich wie innerlich zum Roman sich gestalteten. Der

Vater des humoristischen Romans (der den Prometheusfunken des Romans

─ den Humor ─ von den Engländern Sterne, Swift, Fielding entlehnte)

wurde Jean Paul (vgl. I. 58 auch seine Nachfolger).



Eine eigenartige Färbung erhielt der Roman der Romantiker. Er leitete

auf das christlich mystische Gebiet hinüber und trug mehr oder weniger eine

gewisse Voreingenommenheit für Weichlichkeit, Sentimentalität, Abenteuerlichkeit,

Farbenpracht &c. zur Schau (Aufzählung I 60).



Auf Goethe blickend hatten es sich die Vertreter des jungen Deutschlands

(I 61) zur Aufgabe gemacht, eine geistvolle Prosa zu bieten und das geistreiche

Element, die geistreiche Unterhaltung in den Roman einzuführen. Die

charakteristischen Reden der Romanhelden benützten sie, das jedesmalige Handeln

zu motivieren, zu erklären, ohne doch der dramatischen Lebendigkeit und der

bunten Färbung zu entbehren. Der Leser sollte die behagliche Freude des

Dichters am geistreichen Gespräch jedoch nicht merken. Da nun aber beim jeweiligen

Begegnen der Charaktere des Romans deren Gespräch häufig in pointierte,

der Befriedigung und Selbstbespiegelung der Sprechenden gewidmete

Phrasen auslief, so mußte es den Anschein gewinnen, als ob manche Unterredung

nur den glänzenden Phrasen zuliebe geschrieben sei; ja, es mußte sich

fragen, ob durch die Spielereien des Scharfsinns, des Geistreichthuns und Geistreichtums

nicht die schönen Bilder und Empfindungen der produzierenden Phantasie

in den Hintergrund gedrängt wurden.



So wurde es denn mit Jubel begrüßt, als sich allmählich ─ wie von selbst

─ eine neue gesunde Epoche in der Romanlitteratur vollzog durch Freytag, Keller,

Reuter, L. v. François, Ebers, Gutzkow, Scheffel u. a.: durch Freytag, der das

Volk bei seiner Arbeit aufsucht und indem er die Arbeit verherrlicht, den modernen

socialen, aus dem vollen Menschenleben schöpfenden Roman bot; durch Keller,

der durch seine objektive Darstellung, wie durch seine sonnigklare Erzählungsweise |#f0409 : 387|



den epischen, volkstümlichen Roman ausbaute; durch Reuter, der neue

Muster des humoristischen Romans und in „Ut mine Stromtid“ vielleicht den

besten Roman der Gegenwart lieferte, dessen volle Anerkennung leider das Jdiom

beschränkt; durch Luise v. François, die in anmutender Weise zeigte, wie

ein moderner Roman philosophisch oder enger gefaßt pädagogisch sein kann, ohne

abstoßend zu wirken; durch Ebers, der seine Historie und sein wissenschaftliches

Material in der Form eines historischen Romans darbietet u. s. w.



Diese Schriftsteller stellten sich auf den Boden eines gesunden Realismus,

auf welchem in den letzten Decennien manche gute Pflanze emporgeblüht ist.



Der deutsche Roman ist durch sie mindestens gesunder, naturgemäßer, der

Wirklichkeit des Lebens entsprechender geworden.



Zum Schluß dieser Zeichnung im großen Umriß haben wir im Anschluß

an I S. 72 noch jene Romandichter zu nennen, welche innerhalb der letzten

Periode von 1870 bis in die Gegenwart (eventuell auch noch von 1860─70)

durch irgend eine nennenswerte oder berühmt gewordene Leistung sich bemerklich

machten, ohne in Bd. I § 18 oder in den §§ 126─143 irgendwo genannt

zu sein (wir erwähnen dabei auch einige Fremde, sofern deren ins

Deutsche übersetzten Romane bei uns Einfluß übten):



a. Historischer Roman: Außer den I S. 68 und 72 und 372 II ff.

genannten Romanschriftstellern sind zu erwähnen: Adami, Breier, Brog,

Busch, F. Dahn, Diez, Egan, Frenzel, Gayette-Georgens, Grant, Hamerling,

Ernst Harmening, M. Hartmann, L. Herbert, Th. Hemsen, Ed. Jost, Kirchbach,

Landsteiner, Langer, A. v. Liliencron (Giovanna 1881, behandelt die französische

Revolution), Lippert, v. Maltitz, Konr. Ferd. Meyer (Georg Jenatsch,

aus dem 30jähr. Krieg), Otfried Mylius, Neumann-Strehla, Norden, Philippson,

Reichenbach, Rüffer, F. L. Schubert, Levin Schücking (ein Meister des historischen

Sittenromans), H. J. Schwarz, F. Sonnenburg, P. Stein, v. Veltheim,

Zistler u. a.



b. Philosophischer Roman: Außer den I 72 und II 374 ff. Genannten:

v. Auer, Belot, Brommer, Büchner, Erlburg, A. Fuchs, Pfarrius,

C. M. Sauer, Stifft u. a.



c. Moderner Roman (Zeitroman): Außer den I 68 und II 374

Genannten: Adolay, Aimars, v. Amyntor, Anthony, Auersberg, Avé=Lallemant,

Belani, Berger, Berkow, Beta, v. Bibra, Billig, M. Bormann, G. F.

Born, v. Brackel, T. S. Braun, G. v. Brühl, Collins, Dehnike, Dominikus,

Dungern, Ebeling, Egan, K. Elmar, Fastenau, Ferry, Feuillet, Fr.

Friedrich, Fritze, Gensichen, Gerstenberg, Grimard, W. Grothe, Baronin

v. Grotthus, R. E. Hahn, Haidheim, Ed. Hammer, Heimburg, F. Helm, Henry,

Herzog, Heßlein, v. Hillern, Hirschfeld, Höcker, O. Horn, J. P. Jakobsen,

Jensen, Katsch, v. Keller, E. Kellner, Kettnacker, v. Kessel, Kittl, Klee, G.

Knöpfer, E. Kronau, Kohlenegg, Krane, Krabbe, C. Kraus, Krause, Theod. und

Anni Küster, L'Arronge, Mahler, H. Martin, Mels, Mitzlaff, O. Moser, L. Mühlfeld,

Müller v. Königswinter, Nentwig, Olivier, Pflug, O. Pollak, Gust. zu

Putlitz, Rafael, Reid, Reinfels, v. Roskowska, Rothenfels, El. Schack von Jgar, |#f0410 : 388|



Max von Schlägel, H. Seidel, Smidt, Steen, Streckfuß, Tarnow, Vely, Verena,

F. Th. Vischer, Vollmer, Walther, Weller, Widdern, Ziemssen u. a.



d. Volkstümlicher Roman und Dorfgeschichte: Außer den

I 73 und II 375 ff. Genannten: Alarçon, Allwey, Anzengruber, A. Becker,

A. Beneke, Biursten, Brandrupp, Ernst, E. Höfer, Holtei, Hans Hopfen,

Kleinsteuber, Lenzen, B. Lohmann, Neumeister, Scheibe, Schweichel, Silberstein,

Steltzig, Weber, J. Westphal, Wichert u. a.



Einzelne Romanschriftsteller, die von uns weder I § 18 noch II § 126 bis

143 genannt wurden, ließen ihre z. T. recht gediegenen Romane im Feuilleton

von Zeitungen oder in periodisch erscheinenden Journalen erscheinen. Gediegene

Romane finden sich aber auch noch in folgenden Publikationen: Album, Bibliothek

deutscher Originalromane; Album, eine Unterhaltungsbilbliothek; Bibliothek klassischer

Romane; Museum, Bibliothek der besten Romane; Originalbibliothek deutscher

Volksromane; Jllustrierte Romanbibliothek; Transatlantische R.B.; Neue R.B.;

Günthers deutsche R.B.; Romanmagazin des Auslands; Roman- und Novellenbibliothek;

Roman- und Novellenmappe; Wiener Romane; Deutsche Romanzeitung;

Deutsche Romanbibl. zu Über Land und Meer; Jllustrierte Romane aller

Nationen; Schäfers Romanblätter &c. (Vgl. auch S. 402 d. Bds.)



Über die Geschichte des Romans haben geschrieben Wolff (Allg. Gesch.

des Romans. Jena 1841. 1850); Eichendorff (Der deutsche Roman im 18. Jahrh.

Leipzig 1851); Cholevius (Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jahrh.

1866); Fr. Kreyßig (Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart.

Berl. 1877. 2. Aufl.); Felix Bobertag (Gesch. des Romans und der ihm verwandten

Dichtungsgattungen in Deutschland. Bis jetzt 2 Bände erschienen) &c.



§ 145. Novelle.



1. Novelle ist eine künstlerisch ausgeführte, anmutige, frische,

oft kühne Darstellung einer pikanten, interessanten Begebenheit: eine

ansprechende, fesselnde Kunst-Erzählung, welche dem Bedürfnis einer

erfahrenen, reifen, gebildeten Konversation entspricht. (Durch diese

scharfe Begrenzung ist wohl ihre Verschiedenheit von der einfachen

Erzählung, ferner von der kunst- und planlosen, unveredelten Erzählung

des gewöhnlichen Lebens, sowie auch von der als Anekdote

bezeichneten kurzen Erzählung einzelner interessanter Äußerungen, Züge

oder Handlungen zur Genüge präzisiert. Näheres bringt die Ausführung

sub 1 und 3.)



2. Wie von der einfachen Erzählung nach unten, so unterscheidet

sich die Novelle auch nach oben von dem meist größeren, in den

Situationen verwickelteren Roman, zu dem sie sich verhält, wie eine

Episode aus dem Leben des Helden zu dessen völliger Entwickelung,

oder wie ein Abschnitt aus der Weltgeschichte zur Weltgeschichte selbst.



3. Das Wort Novelle stammt von dem ital. novella oder dem

französischen nouvelle und bedeutet soviel als Neuigkeit, kleine Neuig= |#f0411 : 389|



keit, Anekdote. Boccaccio (im Decamerone) verlieh der Novelle kunstvollere

Ausbildung.



4. Goethe faßte die Novelle wie Boccaccio auf. Die freie Form

der Gegenwart verlieh ihr aber erst Tieck. Eine kleine Novelle heißt

Novellette. (Beispiele der Novellette lieferte Rosenthal-Bonin im

Heiratsdamm, sowie Wickede u. a.)



1. Jn der Theorie wie in der Praxis unterscheidet man zwischen Novelle

und Erzählung folgendermaßen: Eine ruhig vorwärts schreitende Geschichte, welche

die Begebenheiten der Reihe nach vom Anfang an vorführt und auf künstlerische

Tüchtigkeit hinsichtlich der Erfindung und Ausführung verzichtet, heißt in der Regel

nur Erzählung. Zur Novelle wird die Erzählung, wenn sie einen mehr dramatisch

bewegten Ausdruck annimmt und bei den wichtigeren Momenten und Situationen

verharrt, wenn sie ferner ihrem Helden a priori Bedeutung verleiht und durch

dessen Schicksal volles Jnteresse erzeugt, wenn sie endlich nach der Hauptsache

sofort abschließt, das Minderbedeutende der Ergänzung des Lesers überlassend. ─



Um ein Beispiel anzugeben, so läßt die Erzählung den Helden vom Vaterhause

weggehen, begleitet ihn nach Hause und schildert in ungekünstelter Weise

noch das erlebte, häusliche Glück; die Novelle dagegen beginnt außen, greift

zurück in kunstvollen Jntermezzo's und bricht nach der Heimkehr des Helden ab,

nachdem sie seine Zukunft hat ahnen lassen. (Vgl. den Schluß der Novelle

Heyses S. 396 d. Bds.)



2. Während der Roman die Einheit in einer Reihe von Handlungen

bietet, ist die Novelle eine einzelne Geschichte in möglichst einfacher durchsichtiger

Weise. Sie verhält sich zum Roman, mit dem sie die Einteilung gemein hat,

wie die poetische Erzählung zum Epos, wie der Kreisausschnitt zum Kreis.

Während der Roman das gesamte Leben und somit alle Verhältnisse und Beziehungen

des Helden umfaßt, hat die Novelle, die sich mit einem Lebensabschnitt begnügt,

nur ein specielles, ein individuelles Jnteresse; während ferner der Roman den

Charakter sich erst entwickeln läßt, genügt der Novelle ein bereits fertiger

Charakter, den sie in eine Situation versetzt, in welcher er sich bewähren soll.

Es ist daher die Novelle, als Episode aus dem Leben des Helden, in der

Regel kürzer, als der Roman, obwohl die Kürze kein notwendiges Erfordernis

der Novelle ist. Gar mancher ostensibel angezeigte Roman ist nur eine Novelle.

Goethes Wahlverwandtschaften stehen zwischen Novelle und Roman.

(Jn romanhafter Breite ist hier die Geschichte der unglücklichen Liebe beider

Paare behandelt; aber die Beschränkung auf ein Liebesverhältnis engt diesen

Roman fast zur Novelle ein.) Steffens' Roman Die Familie Walseth

und Leith
(1827) und Die vier Norweger sind zusammengefügte Novellen.

Steffens hat ihnen den Namen Novellencyklus gegeben. Der berühmte Norweger

hat das Verhältnis der Novelle zum Roman ähnlich genommen, wie das

der epischen Rhapsodie zur Epopöe aufzufassen ist.



Jm Roman muß sich alles aus den gegebenen Verhältnissen entwickeln

und gewissermaßen als Folie einer höheren Weltordnung erscheinen, in der

Novelle darf auch der Zufall walten.

|#f0412 : 390|



Jm allgemeinen muß man zugeben, daß der Roman, im Gegensatz zur

Novelle, eine bestimmte Richtung auf die Sitte und das Historische nimmt, was

bei der Novelle durchaus nicht nötig ist. Der Roman mit seinen vielen Personen

repräsentiert die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit und wird dadurch lokal,

ja national ─ historisch. Jn diesem Sinne könnte man sagen, daß jeder

Roman national, historisch sei, wenn nicht für die Mitwelt, so doch für die Zukunft.

(Wilhelm Meister und Der Titan sind für uns bereits eben solche

geschichtliche Denkmale geworden, wie der Simplicissimus.) Die Novelle stellt

ihre Figur und deren Geschick von der Gesellschaft abgesondert dar und bezweckt

nur allgemein menschliches Jnteresse, wobei allerdings zuzugeben ist, daß eine

Vereinigung von Novellen dem Ganzen ein historisches Gepräge zu verleihen

im Stande ist.



3. Man bezeichnete ursprünglich jede eng begrenzte Erzählung oder Geschichte

in Prosa als Novelle. So enthält z. B. die älteste, italienische Novellensammlung

aus dem 13. Jahrhundert (die Cento novelle antiche) viele Novellen, die wir

eben historische Anekdoten nennen würden. Erst durch den Decamerone des

Boccaccio († 1375), der keine einzige seiner an die Sage oder Geschichte sich

anlehnenden hundert Novellen erfunden hat, erhielt die italienische Novelle kunstmäßigere

Form und Ausbildung. Durch ihn wurde sie eine interessante,

lebhaftere Erzählung, wie eine solche den Anforderungen der Gebildeten

entspricht.



4. Goethe war der erste Dichter, der die Novelle in diesem Sinne auffaßte

(in Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, diesen kleinen humoristisch

sprudelnden Novellen im geistreichen Konversationston). Er nennt als sein Vorbild

den Decamerone, während der gelehrte Julian Schmidt meint, Diderots

Jacques le fataliste habe größeren Einfluß auf ihn geübt.



Jn neuester Zeit hat die Novelle die größte Verbreitung in Zeitschriften

gefunden. Tieck war es, welcher der Novelle eine unserer Zeit entsprechende

freiere Form verlieh, indem er sich ihrer bediente, um interessante, wichtige

Fragen und Jdeen klarzulegen. Er gab ihr auf diese Weise das Raisonnement

des philosophischen Romans,
wodurch sie natürlicherweise auch an

Ausdehnung gewinnen mußte.



Die gute Novelle, welche mit der flachen, banalen Feuilletonnovelle gewisser

Vielschreiber nichts gemein hat, bietet nunmehr durch die Aussprüche ihrer

Personen ein Bild der Zeit, und vermittelt auch die Resultate aus

den Gebieten der Wissenschaft, der Moral und der Kunst
&c.



Die Novelle in Versen pflegte besonders auch Paul Heyse. (Vgl. Ges.

Novellen in Versen 1863. 1870 &c.)



§ 146. Anforderungen an die Novelle, wie an den Novellisten.



1. Die Novelle verlangt einen fesselnden Grundgedanken, rasche

Handlung, anziehende Gestalten, leichte, geistreiche, quellsprudelnde

Darstellung, versöhnenden Schluß.

|#f0413 : 391|



2. Daher muß sie die Prüfung eines geistreichen, gebildeten,

erfahrenen Erzählers zu bestehen vermögen.



1. Jm Gegensatz zum Roman mit seiner bewußten, klaren, künstlerischen

Komposition, seiner passenden Einleitung, Charakteristik der Figuren, Verwickelung,

Katastrophe u. s. w. verlangt die Novelle die allereinfachste Anlage und Ausführung.

Jhr Reiz liegt in der leichten, flüchtigen Zeichnung, nicht in der

Bezugnahme auf Grundsätze, auf Sitte und Zeit. Sie muß sich durch Geist

und Neuheit ihres Grundgedankens auszeichnen, wie durch poetisch=künstlerische

Abrundung, und infolge der geringeren Verwickelungen durch rasch fortschreitende

Handlung. Jhre Gestalten müssen anziehend und bedeutend sein, die Verwickelung

einfach, leicht, effektvoll und geistvoll, die Darstellung, wie der ganze Plan klar,

natürlich. Die sog. Breite des Epos, Episoden und lange Schilderungen sind

dem Begriff der Novelle durchaus zuwider. Ebenso ist das Wunderbare in der

Novelle, wie jedes nebensächliche, dem Begriff widersprechende Moment nicht

am Platze. Auch darf die Katastrophe nicht eine drückende, unbehagliche Wirkung

auf's Gemüt üben. Nur auf diese Weise wird die Novelle die Stelle einer geistvollen,

pikanten Unterhaltung im gesellschaftlichen Leben zu vertreten vermögen.



2. Die Anforderungen an den Novellisten sind selbstredend keine geringen.

Als in den Salons der Berliner Frauen, einer Bettina, einer Rahel u. a.

die bedeutendsten Geister verkehrten, war die Blütezeit der deutschen Novelle.

Berlin als Hauptort des Salons war auch das günstigste Terrain

für die Novelle. Berlin ist auch heute noch die beste Schule für den Novellendichter,

von dem man mehr als je die Fähigkeit einer leichten, angenehmen

Unterhaltung, große Weltkenntnis, gründliches Wissen, Geist, Humor, Phantasie,

besonders Fluß, Einfachheit und Klarheit der Erzählung fordern muß. Nur

wer das menschliche Leben und Streben kennt und es mit universellem Sinn

zu beurteilen versteht, wird seine Leser in die einzelnen Episoden desselben

blicken lassen können. Er wird verstehen, oft mitten in unaufgeklärte Begebenheiten

hinein zu versetzen, um zur rechten Zeit Aufklärung über Veranlassung

und Beginn der Begebenheit zu geben. Vor allem wird er neue Gedanken

zu bieten vermögen, die auch den Gebildeten interessieren und ihm zu der Überzeugung

verhelfen, daß er sich in guter Gesellschaft befinde.



Nicht immer leistet der Novellendichter zugleich auch Bedeutendes auf dem

Gebiete des Romans. So hat sich z. B. Tieck, einer der besten Novellisten,

mehrfach im Roman versucht. Aber die besten seiner Romane (selbst der

1840 erschienene Vittoria Accorombona nicht ausgenommen) machen lediglich

den Eindruck weit ausgeführter Novellen.



§ 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristische

Stilproben.



I. Als instruktive Beispiele, welche die verschiedenartige Behandlung

der Novelle ersehen lassen, erwähnen wir: |#f0414 : 392|



1. Tiecks Zauberschloß. 2. Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehe. 3. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. 4. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. 5. W. Hauffs Die Bettlerin vom Pont des arts, sowie Phantasien

im Bremer Ratskeller.
6. Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts. 7. Leopold Schefers Die Überschwemmung. 8. Ebers Eine Frage. 9. Ludwig Foglars Glaubensselig. 10. Prinz Emil zu Schönaich-Carolaths Tauwasser. 11. Paul Heyses Novellen in Versen, ferner Marion, und L'Arrabbiata. 12. Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Züricher Novellen und

Das Sinngedicht.



II. Für Jllustration des Stilfortschritts und der Stileigenheit

beschränken wir uns auf drei charakteristische Proben:

1. aus Tiecks Zauberschloß, einer jener ersten Novellen, durch welche

eine freiere Form der Novelle eingeleitet wurde;
2. aus L'Arrabbiata von Paul Heyse, einer der vorzüglichsten

Novellen der Gegenwart;
3. aus einer dramatisch gehaltenen Frauennovelle (Durch Leid zu

Freud) von der gern gelesenen Novellistin L. A. Weinzierl.



1. Aus Das Zauberschloß von Tieck.



„Nur nicht auf diese Art raisonniert!“ rief der alte Freimund aus;

„das Leben läßt sich nun einmal nicht so betrachten und noch weniger nach

einigen Maximen einrichten. Hast du nicht die Fähigkeit, jeden einzelnen Fall

recht als einen einzelnen, aus seinen fernen und nächsten Bedingnissen herausgestalteten

zu erwägen, ihn mit Geschicklichkeit nach seinen Umständen zu lenken,

und ihn so seiner Bestimmung entgegenzuschicken, so wirst du niemals ein

brauchbarer Geschäftsmann werden, ja, auch als Privat immer nur an Zufälligkeit

laborieren, ohne deines Lebens froh zu werden!“



„Zufälligkeit, Zufälle!“ antwortete ihm Schwieger: „diese sind es ja

eben, die uns allenthalben zu thun machen. Und vollends, wenn nun gar,

indem noch obenein, wenn etwa ─ ─“



„Donnerwetter!“ rief Freimund, indem ihm der Wachsstock aus der Hand

fiel, mit welchem er mühsam in einen Wandschrank hineinleuchtete; „Sebastian!

Angezündet!“



Der Diener kam, hob die Wachsschere vom Boden auf und Freimund

legte tiefatmend das lange thönerne Rohr, an welchem er geraucht hatte, auf

den Tisch. Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Sopha, in tiefen Gedanken

verloren. Der Diener brachte das Licht, Freimund nahm es in die Linke, die

Pfeife in die Rechte, und ging wieder an den Schrank, mühsam und ängstlich

in Papieren suchend, indem ihm große Schweißtropfen von der Stirne rannen.

Es war in den heißesten Tagen des Julius und dem Kramenden war es sehr |#f0415 : 393|



mühsam, das Licht zu lenken, mit der rechten Hand die Akten zu sondern, sie

anders zu packen und schnell einzusehen, und wieder, auf Augenblicke mindestens,

die Pfeife festzuhalten, die immer dem umklammernden Munde zu entfallen

drohte. „Wenn es heller Sommertag ist“, fing Schwieger bescheidenen Tones

an, „indem die Sonne scheint, dazu auch der Schrank dem Fenster gegenüber

steht, und man das Rauchen nicht lassen will, so könnte unmaßgeblich das

Licht und die ganze Qual, die es macht, als überflüssig erscheinen.“



Freimund drehte sich mit einem verwunderten Gesichte herum, sah dem

alten Freunde mit aufgerissenem Auge ins Antlitz, setzte das brennende Licht

verdrießlich auf den Tisch und sagte halb lachend, halb zornig: „Dummer Mensch!

Konntest du mir denn das nicht früher sagen?“



„Einem Salomo“, antwortete jener, „der alles so genau kalkulieren und

im weisheitsvollen Leben sich durch nichts will stören lassen, sagen wollen, er

brauche am hellen Tage keine Kerze, hieße sich doch zu viel herausnehmen.“ &c.



2. Aus L'Arrabbiata von Paul Heyse. (5. Aufl. S. 44.)



Es war keiner außer ihm (Antonio) in den zwei Kammern, durch die er

nun hin und her ging. Zu den offenen Fensterchen, die nur mit hölzernen

Läden verschlossen werden, strich die Luft etwas erfrischender herein, als über

das ruhige Meer, und in der Einsamkeit war ihm wohl. Er stand auch lange

vor dem kleinen Bilde der Mutter Gottes und sah die aus Silberpapier daraufgeklebte

Sternenglorie andächtig an. Doch zu beten fiel ihm nicht ein. Um

was hätte er bitten sollen, da er nichts mehr hoffte?



Und der Tag schien heute still zu stehn. Er sehnte sich nach der Dunkelheit,

denn er war müde, und der Blutverlust hatte ihn auch mehr angegriffen,

als er sich gestand. Er fühlte heftige Schmerzen an der Hand, setzte sich auf

einen Schemel und löste den Verband. Das zurückgedrängte Blut schoß wieder

hervor, und die Hand war stark um die Wunde angeschwollen. Er wusch sie

sorgfältig und kühlte sie lange. Als er sie wieder vorzog, unterschied er deutlich

die Spur von Laurellas Zähnen. Sie hatte recht, sagte er. Eine Bestie

war ich und verdien' es nicht besser. Jch will ihr morgen das Tuch durch

den Giuseppe zurückschicken. Denn mich soll sie nicht wiedersehen. ─ Und nun

wusch er das Tuch sorgfältig und breitete es in der Sonne aus, nachdem er sich

die Hand wieder verbunden hatte, so gut er's mit der Linken und den Zähnen

konnte. Dann warf er sich auf sein Bett und schloß die Augen.



Der helle Mond weckte ihn aus einem halben Schlaf, zugleich der Schmerz

in der Hand. Er sprang eben wieder auf, um die pochenden Schläge des

Bluts in Wasser zu beruhigen, als er ein Geräusch an seiner Thür hörte.

Wer ist das? rief er und öffnete. Laurella stand vor ihm.



Ohne viel zu fragen, trat sie ein. Sie warf das Tuch ab, das sie über

den Kopf geschlungen hatte, und stellte ein Körbchen auf den Tisch. Dann

schöpfte sie tief Atem.



Du kommst dein Tuch zu holen, sagte er; du hättest dir die Mühe sparen

können, denn morgen in der Frühe hätte ich Giuseppe gebeten, es dir zu bringen.



Es ist nicht um das Tuch, erwiderte sie rasch. Jch bin auf dem Berg |#f0416 : 394|



gewesen, um dir Kräuter zu holen, die gegen das Bluten sind. Da! Und sie

hob den Deckel vom Körbchen.



Zu viel Mühe, sagte er und ohne alle Herbigkeit, zu viel Mühe. Es

geht schon besser, viel besser; und wenn es schlimmer ginge, ging es auch nach

Verdienst. Was willst du hier um die Zeit? Wenn dich einer hier träfe! Du

weißt, wie sie schwatzen, obwohl sie nicht wissen, was sie sagen.



Jch kümmere mich um keinen, sprach sie heftig. Aber die Hand will ich

sehen und die Kräuter darauf thun, denn mit der Linken bringst du es nicht

zustande.



Jch sage dir, daß es unnötig ist.



So laß es mich sehen, damit ich's glaube.



Sie ergriff ohne weiteres die Hand, die sich nicht wehren konnte und

band die Lappen ab. Als sie die starke Geschwulst sah, fuhr sie zusammen und

schrie auf: Jesus Maria!



Es ist ein bischen aufgelaufen, sagte er, das geht weg in einem Tag

und einer Nacht.



Sie schüttelte den Kopf: So kannst du eine Woche lang nicht auf's Meer.



Jch denk' schon übermorgen. Was thut's auch?



Jndessen hatte sie ein Becken geholt und die Wunde von neuem gewaschen,

was er litt wie ein Kind. Dann legte sie die heilsamen Blätter des Krautes

darauf, die ihm das Brennen sogleich linderten, und verband die Hand mit

Streifen Leinwand, die sie auch mitgebracht hatte.



Als es gethan war, sagte er: Jch danke dir. Und höre, wenn du mir

noch einen Gefallen thun willst, vergieb mir, daß mir heut so eine Tollheit

über den Kopf wuchs, und vergiß das alles, was ich gesagt und gethan habe.

Jch weiß selbst nicht wie es kam. Du hast mir nie Veranlassung dazu gegeben,

du wahrhaftig nicht. Und du sollst schon nichts wieder von mir hören, was

dich kränken könnte.



Jch habe dir abzubitten, fiel sie ein. Jch hätte dir alles anders und

besser vorstellen sollen und dich nicht aufbringen durch meine stumme Art. Und

nun gar die Wunde. ─



Es war Notwehr, und die höchste Zeit, daß ich meiner Sinne wieder

mächtig wurde. Und wie gesagt, es hat nichts zu bedeuten. Sprich nicht von

Vergeben. Du hast mir wohlgethan, und das danke ich dir. Und nun geh

schlafen, und da ─ da ist auch dein Tuch, daß du's gleich mitnehmen kannst.



Er reichte es ihr, aber sie stand noch immer und schien mit sich zu kämpfen.

Endlich sagte sie: Du hast auch deine Jacke eingebüßt um meinetwegen, und

ich weiß, daß das Geld für die Orangen darin steckte. Es fiel mir alles erst

unterwegs ein. Jch kann dir's nicht so wieder ersetzen, denn wir haben es

nicht, und wenn wir's hätten, gehört' es der Mutter. Aber da hab' ich das

silberne Kreuz, das mir der Maler auf den Tisch legte, als er das letztemal

bei uns war. Jch hab' es seitdem nicht angesehen und mag es nicht länger

im Kasten haben. Wenn du es verkaufst ─ es ist wohl ein paar Piaster

wert, sagte damals die Mutter ─, so wäre dir dein Schaden ersetzt, und was |#f0417 : 395|



fehlen sollte, will ich suchen mit Spinnen zu verdienen, Nachts, wenn die

Mutter schläft.



Jch nehme nichts, sagte er kurz und schob das blanke Kreuzchen zurück,

das sie aus der Tasche geholt hatte.



Du mußt's nehmen, sagte sie. Wer weiß, wie lang du mit dieser Hand nichts

verdienen kannst. Da liegt's und ich will's nie wieder sehen mit meinen Augen.



So wirf es ins Meer.



Es ist ja kein Geschenk, das ich dir mache; es ist nicht mehr als dein

gutes Recht, und was dir zukommt.



Recht? Jch habe kein Recht auf irgend was von dir. Wenn du mir

später einmal begegnen solltest, thu mir den Gefallen und sieh mich nicht an,

daß ich nicht denke, du erinnerst mich an das, was ich dir schuldig bin. Und

nun gute Nacht, und laß es das Letzte sein.



Er legte ihr das Tuch in den Korb und das Kreuz dazu und schloß den

Deckel darauf. Als er dann aufsah und ihr ins Gesicht, erschrak er. Große

schwere Tropfen stürzten ihr über die Wangen. Sie ließ ihnen ihren Lauf.



Maria Santissima! rief er, bist du krank? Du zitterst von Kopf bis zu Fuß.



Es ist nichts, sagte sie. Jch will heim! und wankte nach der Thür, das

Weinen übermannte sie, daß sie die Stirn gegen den Pfosten drückte und nun

laut und heftig schluchzte. Aber ehe er ihr nachkonnte, um sie zurück zu halten,

wandte sie sich plötzlich um und stürzte ihm an den Hals.



Jch kann's nicht ertragen, schrie sie und preßte ihn an sich, wie sich ein

Sterbender ans Leben klammert, ich kann's nicht hören, daß du mir gute

Worte giebst, und mich von dir gehen heißest mit all der Schuld auf dem

Gewissen. Schlage mich, tritt mich mit Füßen, verwünsche mich! ─ oder wenn

es wahr ist, daß du mich lieb hast, noch, nach all dem Bösen, das ich dir

gethan habe, da nimm mich und behalte mich und mach mit mir, was du

willst. Aber schick mich nicht so fort von dir! ─ Neues, heftiges Schluchzen

unterbrach sie.



Er hielt sie eine Weile sprachlos in den Armen. Ob ich dich noch liebe?

rief er endlich. Heilige Mutter Gottes! meinst du, es sei all mein Herzblut

aus der kleinen Wunde von mir gewichen? Fühlst du's nicht da in meiner

Brust hämmern, als wollt' es heraus und zu dir? Wenn du's nur sagst, um mich

zu versuchen oder weil du Mitleiden mit mir hast, so geh, und ich will auch

das noch vergessen. Du sollst nicht denken, daß du mir's schuldig bist, weil

du weißt, was ich um dich leide.



Nein, sagte sie fest und sah von seiner Schulter auf und ihm mit den

nassen Augen heftig ins Gesicht, ich liebe dich, und daß ich's nur sage, ich

hab es lange gefürchtet und dagegen getrotzt. Und nun will ich anders werden,

denn ich kann es nicht mehr aushalten, dich nicht anzusehen, wenn du mir auf

der Gasse vorüberkommst. Nun will ich dich auch küssen, sagte sie, daß du

dir sagen kannst, wenn du wieder in Zweifel sein solltest: Sie hat mich geküßt,

und Laurella küßt keinen, als den sie zum Manne will.



Sie küßte ihn dreimal, und dann machte sie sich los und sagte: Gute |#f0418 : 396|



Nacht, mein Liebster! Geh nun schlafen und heile deine Hand, und geh nicht

mit mir, denn ich fürchte mich nicht, vor keinem als nur vor dir.



Damit huschte sie durch die Thür und verschwand in den Schatten der

Mauer. Er aber sah noch lange durchs Fenster, aufs Meer hinaus, über dem

alle Sterne zu schwanken schienen.



Als der kleine Padre Curato das nächste Mal aus dem Beichtstuhl kam,

in dem Laurella lange gekniet hatte, lächelte er still in sich hinein. Wer

hätte gedacht, sagte er bei sich selbst, daß Gott sich so schnell dieses wunderlichen

Herzens erbarmen würde? Und ich machte mir noch Vorwürfe, daß ich

den Dämon Eigensinn nicht härter bedräut hatte. Aber unsere Augen sind

kurzsichtig für die Wege des Himmels. Nun so segne sie der Herr und lasse

mich's erleben, daß mich Laurellas ältester Bube einmal an seines Vaters Statt

übers Meer fährt! Ei ei ei! L'Arrabbiata!“ (Schluß der Novelle.)



3. Aus Durch Leid zu Freud von L. A. Weinzierl. (Frauennovelle.)



Ortmann, welcher fortan an jedem Abend einige Viertelstunden mit

Hildegarde zu verplaudern pflegte, brachte auch die Bücher, welche ihr vorgelesen

wurden.



„Jch müßte mich arg irren,“ sagte er, als er drei Bände von verschiedener

Größe, doch alle von mäßiger Dicke nur, aus den Taschen seines

Rockes zum Vorschein brachte, „wenn Sie mir nicht warmen Dank zollen

würden für diese Bücher. Dies kleine Büchlein hier schließt eine Fülle köstlichen

Humors in sich; unter seinem Einfluß wird man geneigt, Welt und

Leben als lustige Komödie ─ wohlgemerkt nicht als Farce! ─ anzusehen. Es

ist Scheffels Liederbuch Gaudeamus. Jn dem zweiten Bande, in Hebbels

Nibelungen-Trilogie, finden Sie als Gegensatz markerschütternde Tragik.“



„Jch kenne das Werk,“ sagte Hildegarde, „und ich teile Jhre Bewunderung

dafür, ja, vielleicht werden Sie finden, daß ich zu weit darin gehe. Oft

schon bin ich meines ketzerischen Geschmacks wegen gescholten worden, aber

doch muß ich bekennen, daß mir die Nibelungen erst in dem Hebbelschen Ausschnitt

Genuß bereiten ...“



„Nun, wenn auch nicht reumütig, sehen Sie bei diesem Geständnis doch

gehörig zerknirscht aus. Das ist immer etwas! Übrigens finde ich diese Jhre

Ansicht nicht unbegreiflich.“



„Etwas vor allem macht mir die Hebbelsche Tragödie ─ wie soll ich

nur sagen? ─ „angenehm“ ist da kein richtiges Wort, und doch muß ich es

gebrauchen, ─ daß der Dichter trotz des grausen Schlusses uns versöhnt entläßt,

denn wir empfangen den Eindruck der Notwendigkeit eines solchen: die

alte Zeit, das alte Geschlecht, welches nicht zu verzeihen vermochte, mußte

untergehen, damit das neue, dessen Hauptgesetz nicht mehr die Rache war, sich

geltend machen konnte. Jn den Schlußworten Dietrichs von Bern: „Jm Namen

Dessen, der am Kreuz erblich!“ mit denen er die zu schwer gewordene Krone

von König Etzels Haupte nimmt ─ bringt der Dichter zum Ausdruck, daß

die Liebe fortan und nicht mehr der Haß herrschen sollte.“



„Herrscht sie etwa jetzt im neunzehnten Jahrhundert?“

|#f0419 : 397|



„Jn jedem edeln und guten Herzen!“



„Da herrschte sie auch vorher, oder meinen Sie, daß das, was man

christliche Tugend nennt, nicht auch früher gekannt und geübt worden wäre?“



„Gott bewahre mich vor dieser Ansicht! Eine Hölle war die Welt, denke

ich, zu keiner Zeit, aber: „Verzeihe denen, die dich beleidigen,“ ─ „Thue,

wie du willst, daß man dir thue,“ ─ „Vergiß deiner selbst, um deines

Nächsten willen“ ─ und daß dieser Nächste nicht nur Weib und Kind, Familie,

Freunde, Vaterlandsangehörige, und im ausgedehntesten Falle ein Fremder, der

durch seine Jndividualität imponierte, sei, sondern alle Menschen, die ärmsten

und elendesten inbegriffen, hat doch nur wohl mit Christi Lehre Eingang gefunden.

Was früher nur Neigung, war dann Pflicht.“



„Man wird es Jhnen auch bestreiten, ─ nicht ich, denn auch ich glaube

an die civilisatorische Macht, die das Christentum hatte.“



„Nicht mehr hat?“ fragte Hildegarde sanft, „ist die Verheißung zu Ende?“



Ortmann sah vor sich hin. „Nein,“ sagte er nach einer Pause in herzlichem

Tone, „fern sei es von mir, Jhnen gegenüber dies andeuten zu wollen.

Wo noch Glaube ist, ist auch die Kraft.“ ─



Einmal brachte Ortmann einen Strauß dunkelroter Nelken mit. Hildegarde

empfing ihn voll Freude. „Eben diese Gattung Nelken“ ─ sagte sie,

den Duft einziehend ─ „ist die verbreitetste in Venedig; wie viele derselben

steckten mir die Blumenmädchen auf dem Marcusplatze zu!“



„Blumenmädchen! wie schön das dem Fremden klang und ward man

dieser Truden ansichtig ...“



„Urahne, Großmutter, Mutter und Kind,“ recitierte Hildegarde.



„Nun,“ sagte Ortmann lachend, „Kind war keine mehr, es waren sehr reife

Schönheiten. Jch muß gestehen, daß, als ich später hörte, eine der ersten

Maßregeln der neuen Regierung in Venedig sei gewesen, die Blumenmädchen

zu pensionieren und durch frischen Nachwuchs zu ersetzen, ich meinen Beifall

nicht versagte. ─ Sie kennen also Venedig, Fräulein Müller?“



„Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, die ich dort verlebte! Jch

fühlte mich anfänglich wie geblendet, und dann stieg mir, glaube ich, all die

Schönheit zu Kopfe. Jch war nie so ausgelassen heiter, weder vorher, noch

später, als in jenen Tagen.“



„Und doch nennen viele Venedig düster und traurig.“



„Jch weiß nicht, inwiefern ich geneigt wäre, während der Regen= und

Sturmzeit in dieses Urteil einzustimmen. Jm Frühling fühlte ich mich entzückt

von allem, was mich umgab: blauer Äther, goldene Sonne, Meeresspiegel ...

doch ich will Sie mit meiner Rhapsodie verschonen, genug, daß ich in Venedig

zum erstenmale zu der Überzeugung gelangte, das Leben sei doch sehr schön!“



„Jch denke, wir wechseln den Gesprächsgegenstand, Fräulein Müller, Sie

werden mir zu aufgeregt! Der Schönheitsrausch ─ ich bitte um Verzeihung, aber

Sie selbst brauchten den Vergleich ─ scheint noch nicht ganz verflogen zu sein.“



„Ach, und wie lange mußte ich von diesen Erinnerungen zehren! Duft=

und farblos wurden sie aber trotzdem nicht.“

|#f0420 : 398|



„Jhr Gedächtnis ist also sehr gut? Sie vergessen nicht leicht?“



„Jch vergesse gar nicht.“



„Nie und niemals?“



Hildegarde schüttelte ernsthaft den Kopf.



„Gott behüte Sie! Das ist ungesund.“



„Was soll ich thun? Es ist einmal so.“



Ortmann zog die Augenbraunen in die Höhe und meinte, es sei ein

bedenklicher Fall, wüßte er, wie ihn zu behandeln, er thäte es gleich, aber

Äskulap selbst konnte nicht Lethe verschreiben, ─ wie sollte er es versuchen!



„Sie hingegen, Herr Doktor, vergessen oft,“ sagte Hildegarde schelmisch lächelnd.



„Jch!“ rief Ortmann, seine Promenade durchs Zimmer plötzlich zu Ende

bringend und vor Hildegarde stehen bleibend. „Was hätte ich vergessen?“



„Zum Beispiel: Den Dank einzufordern für die Wahl des dritten Buches,

welches Sie mir damals brachten. Und mein Dank ist warm in der That!“



„Aha! Dachte ich's doch, daß es Jhnen lieb sein würde, das Buch

kennen zu lernen. Nun, geschieht Jhrem Heroworship, Jhrer Rückertverehrung

in dieser Biographie Genüge?“



„Doktor Beyer, der Verfasser, nennt sein Buch ein Denkmal ─ und mit

treuer Sorgfalt hat er die Steine für den Bau zusammengetragen und sinnreich ineinander

gefügt; so ist denn ein Ganzes entstanden, an dem gewiß jeder, der das Buch

zur Hand nimmt, Freude haben kann, brächte er sogar nicht von vorne herein das

gleiche Jnteresse für den Gegenstand mit, wie es bei mir der Fall gewesen.“



„Also: er lobt Rückert nicht nur, er zeigt vor allem, daß er allen Lobes

würdig sei ─ so meinen Sie? Eine Biographie soll auch in dieser Art

geschrieben sein. ─ Nun wünschte ich aber weitere Vergeßlichkeiten nachgewiesen

zu haben! Zum Beispiel?“



Ortmann zog einen Stuhl heran und saß rittlings darauf nieder, Hildegarde

voll in das Gesicht sehend.



„Meine Augen müssen in der That um vieles besser sein, ich sehe sehr

wohl, wie entrüstet Sie mich anblicken,“ bemerkte Hildegarde lächelnd. „Meine

Frage betrifft auch meine Augen, Sie sagten mir seit lange nichts mehr darüber?“



„Sind Sie Jhrer Gefangenschaft so sehr müde schon? Leicht begreiflich ...“



Er wartete, Hildegarde jedoch sagte nichts.



„Nun,“ fuhr er aufstehend fort, „da müssen wir wohl dem Vöglein den

Käfig öffnen. Jch gedachte Sie morgen aus meiner Behandlung zu entlassen,

kann Jhnen aber auch heute ankündigen: Sie sind geheilt.“



„Geheilt!“ Hildegarde schlug die Hände entzückt zusammen, die Augen

blitzten, die Züge belebten sich wunderbar. „Ah, ich bin frei, ich kann wieder

thun und beschließen, was und wie ich will? ...“



Jn eben dem Maße, als die ihrigen sich erhellten, hatten des Arztes

Züge sich verdüstert. „Ja, ja,“ sagte er, „gehen Sie und reisen Sie nach

dem Süden; was sollte Sie auch nur in den deutschen Landen festhalten?“



„Eine kleine Weile jedoch muß ich Sie bitten, diese Eile noch zu mäßigen.

Hören Sie mich an! u. s. w.“

|#f0421 : 399|



§ 148. Litteratur der Novelle.



Die große Zahl der Novellisten gebietet um so mehr eine Beschränkung

auf die wichtigsten Namen, als die meisten der in I § 18

sowie in den §§ 126─145 genannten Romanschriftsteller auch Novellen

geschrieben haben.



Von den italienischen Novellisten stehen am höchsten G. Boccaccio

(Decamerone, eine Novellensammlung, die von W. Soltau u. a. ins Deutsche

übertragen wurde); ferner Sacchetti; Bandello; Casti; Soave.

Von den spanischen sind zu nennen: Cervantes; Montalvan; Juan

Manuel; Juan Puiz.
Von den Franzosen: Lafayette; Scarron;

Florian; Rabelais; Marmontel; Voltaire; Eugène Sue; Viktor

Hugo; Alexander Dumas
u. a. Von den Engländern: Thackeray;

Walter Scott; Dickens; Bulwer; Defoe
u. a. Die Romanschriftsteller

der Russen, Dänen (s. S. 385) haben zugleich Novellen geschrieben.



Jn Deutschland sind (bis zu Tieck) als Novellendichter zu erwähnen:

Georg Wickram (Das Rollwagenbüchlein 1555, neu herausgeg. durch H. Kurz

1865), ferner Ende des vorigen und anfangs dieses Jahrhunderts: Wieland;

Engel; Musäus; Klinger; Thümmel; Schiller; Goethe; E. Wagner; Heinse;

Jakobi; Jung-Stilling; Fouqué; Eichendorff; Spindler; E. Th. A. Hoffmann;

H. v. Kleist; Lafontaine; Jean Paul; Müllner; Houwald; Novalis; Hippel;

Benzel-Sternau; Langbein; Tromlitz u. a.



Da seit Tieck die Novellendichtung die gewaltigste Ausdehnung erhalten

hat, so war es kein Leichtes, die ganze bezügl. Litteratur zu vereinigen und

zu rubrizieren. Die von mir mit Sorgfalt und Umsicht getroffene Anordnung

ergiebt viele Gruppen, von denen ich hier unter Nennung der Vertreter Folgendes

zur Orientierung gebe, ohne für die Qualität des einzelnen überall einzutreten.

(Jch erwähne hierbei auch einzelne jener fremden Novellisten, deren Novellen

in guten deutschen Übersetzungen Eigentum unserer Nation wurden und ─

wie dies bei Novellen Cremers, Etlers, Bergsöes, Bret-Hartes &c. nachweislich

ist ─ einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf einzelne deutsche Dichter

übten): 1. Historische Novellen (v. Bolanden: über Friedrich II &c.; Brachvogel;

Godin; Gottwald; Hiltl; H. Hirschfeld; L. Mühlbach; Proschko; Stern &c.);

2. Kulturhistorische (K. Braun-Wiesbaden; Mindermann; W. H. Riehl

und von Bolanden: Fortschrittlich); 3. Sociale (Sacher-Masoch; G. Möser;

Krüger; Th. Küster &c.); 4. Kriminalnovellen (Engelberg; Habicht; Rogans

deutsche Kriminalbibliothek; Fr. Friedrich; Temme &c.); 5. Moralische (Zschokke;

O. Glaubrecht; A. Wildenhahn; L. A. Weinzierl &c.); 6. Psychologische

(Freyburger, Aus dem Seelenleben &c.; Luise Otto-Peters &c.); 7. Humoristische

(Ernst Eckstein; Hackländer; H. König; Gerstäcker; Anna Löhn; Willis Ölckers;

R. Schmidt-Cabanis &c.); 8. Liebesnovellen (Goldschmidt; Reichenau; Mahlke;

v. Münchhausen; Brentano); 9. Künstlernovellen (v. Sternberg; Hagen;

v. Stavenow; Ottfried, Schubert-Novellen; Leop. Schefer); 10. Musikernovellen

(Scheurlin; Collins); 11. Theaternovellen (Müldener; Smidt, |#f0422 : 400|



Devrientnovellen; Hopf, Theaterhumoresken); 12. Soldatennovellen

(P. Lenz, militär. Humoresken; v. Winterfeld); 13. Seenovellen (Lothar;

J. Prölß; R. Lindau; Rosenthal-Bonin &c.); 14. Bauernnovellen (Auerbach;

Blanche; Rosegger; Herm. Schmid; M. Tenger); 15. Elsässische (Alex. Weill;

Flaxland); 16. Frankfurter (Pfeiffer); 17. Weichselnovellen (Almar);

18. Wiener Novellen (Blechner; Mügge); 19. Holländische (Glaser);

20. Niederländische (Glaser); 21. Belgische (Graviere); 22. Venetianische

(v. Gaudy); 23. Dänische (C. Etlar); 24. Schweizer Novellen (A. Hartmann;

Zschokke); 25. Züricher Novellen (Gottfr. Keller); 26. Lübecker (W. Jensen);

27. Amerikanische Novelletten (v. Wickede); 28. Kalifornische (Bret Harte);

29. Jtalienische (Homberger); 30. Hochlands Novellen (v. Dyherrn; A.

Silberstein); 31. Ostsee=Novellen (Rethwisch); 32. Gespenster=Novellen (Bergsöe);

33. Charakter=Novellen (Alfr. Meißner); 34. Zeit=Novellen (Trebitz,

Aus der Zeit für die Zeit; Feodor v. Wehl); 35. Kosmopolitische Novellen

(Rosenthal-Bonin, Unterirdisch Feuer. Mehrfach übersetzt, neuerdings von Alfred

Jpsen; ferner Feod. Wehl, Allerweltsgeschichten) u. s. w.



Unter dem Titel „Novellenbuch“ haben Novellen veröffentlicht: L. Foglar;

Philippson; Mützelberg; Johannes Scherr; L. Schücking; F. v. Stengel; Feod.

Wehl; Wilbrandt &c.



Weitere, zum Teil vortreffliche, vielgelesene Novellen haben geliefert:

Alarcon; Anzengruber; Bettina v. Arnim; Luise Astow; v. Auer; Avé=Lallemant;

J. Bach; Gräfin Ballestrem; A. Becker; M. Berger; M. Bern; Bernardin;

Bibra; Birch-Pfeiffer; Blumenhagen; Blüthgen; Bodenstedt; Brandt; Bresler; A.

Broock; Brunner; E. v. Brunow; A. Büchner; E. v. Bülow; Julie Burow;

Dahn; Detlef; Diefenbach; K. Dilthen; Dincklage; Dingelstedt; Duller; Dünheim;

Jda v. Düringsfeld; Ebers; Elfried v. Taura; Ernst; Luise Esche;

Marie von Ebner-Eschenbach; G. Flammberg; v. François; Agnes Franz;

Franzos; Frenzel; Frey; Freytag; Fuchs; Füllborn; Galen; Luise v. Gall;

E. Gehe; M. Giese; Girndt; Glaßbrenner; Gödeke; Rud. v. Gottschall; Grabowski;

Gregorovius; Griepenkerl; Th. Griesinger; H. Grimm; J. Grosse;

Groß; Klaus Groth; Grothe; Baronin v. Grotthus; Gubitz; B. v. Guseck;

Gutzkow; Gustav vom See; Haffner; Gräfin Hahn-Hahn; Luise Haidheim;

Hainau; Halm; Henr. Hanke; E. Harmening; M. Hartmann; W. Hauff; K.

Heigel; Heinrichs; Hensler; Hermann; Herchenbach; Herloßsohn; Heusinger;

P. Heyse; Wilhelmine v. Hillern; G. Höcker; Edm. Hoefer; Hoffmann; K.

v. Holtei; Hans Hopfen; M. Horn; O. v. Horn; H. v. Hülsen; Hutterus;

Wilh. Jensen; Juncker; Jmmermann; Kempner; Kessel; Johanna Kinkel;

Gottfr. Kinkel; Kletke; E. Koch; W. Koch; Kohlenegg; L. Kompert; Th. König;

Kossak; L. Kruse; Kugler; Kuh; G. Kühne; Kürnberger; H. Kurtz; E. Laddey;

Lehmann; Leixner; Fanny Lewald; F. Lexow; R. Lindau; Lindendorf; Lohmann;

H. Lorm; Ludwig; Sophie Mai; Marbach; H. Marggraff; Martin; Mauthner;

L. Maurice; E. Marlitt; K. F. Meyer; M. Meyr; Mosen; W. Müller;

O. Müller; Mühlfeld; B. Möllhausen; Th. Mundt; Otfr. Mylius; Marie Nathusius;

Benedikte Naubert; Emma Niendorf; Noë; Olfers; Luise Otto-Peters; |#f0423 : 401|



Henr. v. Paalzow; L. Parisius; Perl; G. Pfarrius; Karoline Pichler; Piening;

Polko; H. Presber; H. Pröhl; R. Prutz; G. zu Putlitz; W. Raabe; Raimund;

Joh. Rank; G. Rau; Math. Raven; Reichenau; Reinow; Reinwald; Rellstab;

Reuter; M. Ring; Riotte; J. Rodenberg; O. Roquette; L. Rosen; Rosenthal=

Bonin; Rothenburg; O. Ruppius; Rutenberg; F. v. Saar; L. Salomon; Salzbrunn;

G. Sand; J. Satori; C. M. Sauer; V. v. Scheffel; Th. Scheibe;

M. v. Schlägel; Schlencker; Schlieben; A. Schlönbach; A. Schmidt; Adele und

Johanna Schopenhauer; Amalie Schoppe; A. Schreiber; Schütze; Schwartz;

Schwarz; J. Gräfin Schwerin; Seidel; Senoa; Solitaire; F. Spielhagen;

Stahl; Stein; A. v. Sternberg; L. Steub; Ad. Stifter; F. Stolle; Stoltze;

L. Storch; Th. Storm; V. v. Strauß; Streckfuß; Stuhlmann; Fanny Tarnow;

M. Tenger; Telmann; Tharau; v. d. Traun; v. Tschabuschnigg; v. Üchtritz;

Vacano; Wachenhusen; v. Wachsmann; Waiblinger; M. Waldau; Waldmüller;

E. v. Waldow; F. J. v. Wangenheim; Feod. v. Wehl; Ottilie

Wildermuth; Willkomm; Amalie Winter; Wittmann; Wolf; Caroline v. Wolzogen;

Ziegler; Ziemssen u. a.



Zu den populärsten, bedeutendsten Vertretern künstlerisch vollendeter Novellen

der Gegenwart zählen Paul Heyse und Gottfr. Keller. Heyse,

der mit Novellen in Versen begann (Die Brüder; Die Braut von Cypern;

Urica) und von dem einige Novellen in der leichten graziösen Sphäre des fein

sinnlichen Abenteuers sich bewegen, hat doch ─ wie kaum ein anderer ─

wahre Kabinetsstücke von psychologischer Tiefe, von fesselnder Anmut und gewinnendem

Humor geschrieben (z. B. Die Blinden, L'Arrabbiata, Marion &c.).

Und Keller, der gottbegnadete Erzähler, durchläuft in seinen Züricher Novellen,

den Leuten von Seldwyla &c. (wie ja auch in seinem jüngst erschienenen

Novellencyklus: Das Sinngedicht) die ganze Skala vom graziös Lächelnden bis

zum kräftig Komischen, ohne je den Boden einer gesunden Wirklichkeit zu verlassen.

Jn letzter Zeit haben auch die Novellen Konr. Ferd. Meyers (z. B.

Der Heilige) berechtigtes Aufsehen erregt.



Unter den Frauen haben sich einen hervorragenden Platz erobert: Wilhelmine

v. Hillern durch die gesunde Jdee ihrer Novellen; Fanny Lewald

durch ihren Universalismus, wie durch reflektierende Verständigkeit und Freimut;

Marie von Ebner-Eschenbach durch ihre volkstümliche Erzählungsweise; Gräfin

Ballestrem durch ihre glänzende, espritreiche Diktion; Gräfin Keyserling; Luise

Otto; Emma Laddey; die geistreiche Wiener Schriftstellerin Antonie Weinzierl

durch psychologische Schärfe und bestrickende Anmut eines edlen, dramatisch

belebten Stils u. a.



Jndem wir noch auf die Namen der von uns I § 18 sowie II § 126─145

unter den Romanschriftstellern bereits genannten Novellisten verweisen, führen wir

noch jene periodisch erscheinenden Schriften an, in welchen beachtenswerte Novellen

jener Schriftsteller sich finden, die hier nicht genannt werden konnten, oder die

meist nur für Journale und Feuilletons größerer Zeitungen geschrieben haben.

Es sind: Belletristische Hausbibliothek; Neues belletristisches Lesecabinet; Kriminalgeschichten,

herausgeg. von Vollert; Leipziger Lesecabinet; Hamburger Novellenzeitg.; |#f0424 : 402|



Preußische N.=Z.; Novellen-Almanach; Jllustrierter Nov.=Almanach; Nov.=

Bibliothek; Nov.=Sammlung; Nov.=Album; Nov. aus der Theaterwelt; Neue

belletristische Originalbibliothek; Transatlantische Novellen; Christliche Nov.=Bibliothek;

Deutsche Nov.=Flora; Nov.=Magazin; Deutscher Novellenschatz (herausgegeben

von P. Heyse und Hermann Kurtz 1870─76. 24 Bände; enthält

86 Novellen unserer besten zeitgenössischen Novellisten); Novellenschatz des Auslandes

(herausgegeben von Heyse und Kurtz 1870─76. 14 Bände; enthält

57 Novellen aller europäischen Sprachen in guten Übersetzungen); Jtalienische

Novellisten (herausgegeben von P. Heyse); Jtalienischer Novellenschatz (herausgegeben

von Adelbert v. Keller); Amerikanische Novellisten; Salonbibliothek;

Roman- und Novellenbibliothek; Sauerländers Unterhaltungsbibliothek; Sensationsnovellen;

Eisenbahn- und Unterhaltungsbibliothek; Deutsches Novellenbuch;

Gartenlaube; Daheim; Über Land und Meer; Jllustr. Welt; Buch für

Alle; Jllustriertes Familienjournal; Jllustr. (Webersche) Zeitung; Neue Jllustr.

Zeitung &c.

|#f0425 : E403|



Fünftes Hauptstück.

Die dramatischen Dichtungen. ──────


§ 149. Einteilung der dramatischen Poesie.



Wir unterscheiden auf dem weiten Gebiete der dramatischen Poesie:



I. Dichtungen, welche nur der Form nach dramatisch, ihrem Wesen

nach aber lyrisch oder episch sind, welche also ein Gefühl oder eine

Erzählung durch die Form des Gesprächs der Gegenwart vermitteln;



II. eigentliche Dramen, welche für die Aufführung auf der Bühne

geschaffen sind;



III. musikalisch=dramatische Formen, welche zur Aufführung entweder

auf der Bühne oder in der Kirche bestimmt sind.



Somit erhalten wir folgendes Einteilungsschema:



[Beginn Spaltensatz]I. Formell dramatische

Gedichte.


1. Monolog.

2. Dialog.

3. Dramatisierte Begebenheit.[Spaltenumbruch]



II. Eigentliche

Dramen.


1. Dramatisches

Gedicht.

2. Tragödie.

3. Schauspiel.

4. Komödie.

a. Lustspiel.

b. Posse.[Spaltenumbruch]

III. Musikalisch-dramatische weltliche

und kirchlich-musikalische Formen.


[Beginn Spaltensatz]1. Musikalischdramatische

weltliche

Formen.


a. Das Melodrama.

b. Das Vaudeville u.

das Sing= oder

Liederspiel.

c. Das Schauspiel

mit Musik.

d. Die Oper.

α. Ernste Oper.

β. Komische Oper.

γ. Operette.

δ. Jntermezzo.[Spaltenumbruch]

2. Kirchlich=musikalische

Formen.


a. Choral.

b. Motette.

c. Psalm.

d. Kantate.

e. Passion.

f. Messe und Requiem.



g. Oratorium.[Ende Spaltensatz][Ende Spaltensatz] |#f0426 : 404|



I. Formell dramatische Gedichte.


§ 150. Monolog.



1. Wenn der gedanklich bewegte Mensch zu sich selbst spricht, um

über sich zur Klarheit zu gelangen; wenn das überquellende, aus allen

Tiefen nach außen drängende und flutende Gemüt sich objektiviert, um

vor sich selber als dem eigenen Vertrauten sich zu erschließen; wenn

der Held sich unbelauscht glaubt und laut denkt, so entsteht ein Selbstgespräch

oder ein Monolog.



2. Man unterscheidet zwei Arten von Monologen:



a. Monologe, die selbständige, für sich bestehende, vollständig

abgerundete Gedichte bilden;



b. Monologe, welche integrierende Bestandteile von Dramen

oder auch von Epen sind. (S. 52 und 54 d. Bds.)



1. Beim Nachdenken über irgend einen Gegenstand oder bei Einwirkung

irgend einer äußeren Begebenheit, bei lebhafter Erregung irgend einer Leidenschaft

sucht das aufgeregte Gefühl sich auch in der Einsamkeit in Worten auszusprechen,

sucht es das Chaos der in ihm wogenden Jdeen, Betrachtungen und

Leidenschaften in's Klare zu bringen. Dadurch wird jedes lyrische Gedicht,

wenn es keine epischen Bestandteile in sich trägt, zum Monolog. Wir geben

demselben aber nur dann den Namen „Monolog“, wenn das Gesangartige fehlt

und das Gedicht lediglich eine Rede ist; also nicht gesungen, sondern nur gesprochen

sein will.



2. a. Jener Monolog, welcher ein selbständiges Gedicht bildet, stellt

eine Person in irgend einer Situation mehr oder weniger dramatisch dar, oder

führt sie sprechend ein. (Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 a d. Bds.)



b. Diejenigen Monologe, welche eigentlichen Dramen eingereiht sind, dienen

dazu, einer handelnden Person Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln, einen

Entschluß zu fassen, die Beweggründe des eigenen Handelns darzulegen &c. (S. 52

a d. Bds.)



Der eigentlich dramatische Monolog entkeimt dem Bedürfnis des Helden,

sich vor sich selbst klar zu werden, das Facit aus den seitherigen Erfahrungen

und Handlungen zu ziehen und Entschlüsse ahnen zu lassen. Daher sind die

Monologe im Drama Ruhe- und Entwickelungspunkte, durch welche ein Einblick

in Motive und Zielpunkte ermöglicht, das Selbstbesinnen und Entscheiden bezeichnet,

das Vergangene entschleiert, das Zukünftige prophezeit und der Seelenzustand

des Redenden enthüllt wird.



Prolog und Epilog im Drama sind Monologe, von denen ersterer eine

historische Einleitung in das Drama, letzterer ein Schlußwort am Ende desselben

bietet. (S. 46 d. Bds.) Auch in den Epen finden sich Monologe,

welche dazu dienen, die inneren Gedanken und Gefühle des Helden lautbar

zu machen.

|#f0427 : 405|



Beispiele der Monologe.



a. Der Monolog ein selbständiges Gedicht.



Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 d. Bds. Weiteres Beispiel:

Serenade von Friedr. Halm.



b. Monolog aus einem Drama.



Aus Macbeth von Shakespeare. (1. Aufzug 7. [letzte] Scene.)



Macbeth:

─ ─ Wär's abgethan, so wie's gethan ist, dann wär's gut,

Man thät' es eilig. ─ Wenn der Meuchelmord

Aussperren könnt' aus seinem Netz die Folgen,

Und nur Gelingen aus der Tiefe zöge:

Daß mit dem Stoß, einmal für immer, alles

Sich abgeschlossen hätte; ─ hier, nur hier, ─

Auf dieser Schülerbank der Gegenwart, ─

So setzt' ich weg mich über's künft'ge Leben ─


Doch immer wird bei solcher That uns schon

Vergeltung hier: daß, wie wir ihn gegeben

Den blut'gen Unterricht, er, kaum gelernt,

Zurück schlägt, zu bestrafen den Erfinder:

Dies Recht, mit unabweislich fester Hand,

Setzt unsern selbstgemischten, gift'gen Kelch

An unsre eignen Lippen. ─


Er kommt hieher, zwiefach geschirmt: ─ Zuerst

Weil ich sein Vetter bin und Unterthan,

Beides hemmt stark die That; dann, ich ─ sein Wirt,

Der gegen seinen Mörder schließen müßte

Das Thor, nicht selbst das Messer führen. ─


Dann hat auch dieser Duncan seine Würde

So mild getragen, blieb im großen Amt

So rein, daß seine Tugenden, wie Engel

Posaunenzüngig, werden Rache schrein

Dem tiefen Höllengreuel seines Untergehens:

Und Mitleid, wie ein nacktes neugebornes Kind,

Auf Windstoß reitend, oder Himmels Cherubim

Zu Ross', auf unsichtbaren, luft'gen Rennern,

Blasen die Schreckensthat in jedes Auge,

Bis Thränenflut den Wind ertränkt. ─


Jch habe keinen Stachel,

Die Saiten meines Wollens anzuspornen,

Als einzig Ehrgeiz, der, zum Aufschwung eilend,

Sich überspringt und jenseits niederfällt: ─

(Lady Macbeth tritt auf.)


c. Monolog aus dem Epos Rostem und Suhrab von Rückert.



(Ges. Ausg. XII. 158.)



(Gesdehem schilt im Selbstgespräch über seine Tochter, welche Suhrab entgegen

gezogen ist:)



„Wenn sie nur unversehrt vom Abenteuer kehrt,

So sei nichts auf der Welt dem Töchterchen verwehrt;

Nur solch ein zweiter Ritt sei nicht von ihr begehrt!

Doch weniger mit ihr zürn' ich als auf Hedschir;
|#f0428 : 406|



Sein Unfall riß mein Kind so hin mit Kampfbegier.

Wer aber rettet mir mein Täublein aus den Krallen

Des Habichts, dem zum Raub der Kampfhahn selbst gefallen?

Thu' ich die Pfort' hier auf, daß ich zur Hülf' ihr eile,

Damit der alte Vogt des jungen Thorheit teile?

Wart' ich geduldig, bis der Himmel und ihr Glück,

Jhr Mut und kluger Rat mir bringt mein Kind zurück?



Weitere Beispiele von guten dramatischen Monologen sind:



Der Monolog Goethes in Jphigenia auf Tauris (1. Aufz. 1. Auftr.:

Heraus in eure Schatten &c.); der Monolog Tells in Schillers Tell (4. Aufz.

3. Scene: Durch diese hohle Gasse &c.); die Monologe Solimans und Zrinys

in Körners Zriny; Wallensteins Monolog in Schillers Wallenstein (1. Aufz.

4. Auftr.: Wär's möglich &c.; ferner: Du hasts erreicht Oktavio &c.) u. s. w.



Lyrisch gefärbt ist der bekannte Monolog Johannas in der Jungfrau von

Orleans (4. Auftr. des Prologs:



Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften,

Jhr traulich stillen Thäler lebet wohl!

Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,

Johanna sagt euch ewig Lebewohl! &c. &c.



ferner ebenda: 4. Akt 1. Auftr.: Die Waffen ruhn &c.); ebenso der Monolog

in Torquato Tasso (4. Akt 5. Auftr.: Ja gehe nur und gehe sicher

weg &c.) u. s. w. Man vgl. auch die Monologe in Grandjeans Lorenz Schlaumeier,

ferner Saphirs Das Sololustspiel; Pauls Er kommt; Görners Er kommt

zu spät; Blondels Der höhere Bummler; Haffners Jsaias Luchs; Görners

Theatralische Studien; Leiden eines Choristen von Levassor; Blochs komische

Soloscenen; Kühlings Album für Soloscenen &c. &c.



§ 151. Dialog.



1. Dialog ist eine Unterredung: im engeren Sinn zwischen zwei,

im weiteren zwischen mehreren Personen. (S. 54 d. Bds.)



2. Man unterscheidet lyrische, didaktische, epische und dramatische

Dialoge.



Wie der Monolog so vergegenwärtigt auch der Dialog die Stimmung

eines Menschen oder einer bestimmten symbolisch aufgefaßten Zeit.



Man nennt ihn der äußeren Form nach lyrisch, wenn die einzelnen

Personen ihre subjektiven Gefühle aussprechen; didaktisch, wenn durch ihn

einer bestimmten Lehre Ausdruck gegeben werden soll; episch, wenn er der

Mitteilung eines Ereignisses dient, also erzählender Natur ist. Jm dramatischen

Dialog muß Handlung sein, d. h. durch denselben muß sich mehr oder weniger

deutlich irgend ein bestimmter Wille entwickeln, der auf den Gang der Begebenheit

einwirkt. (Vgl. S. 52.) Der dramatische Dialog muß somit auf

ein bestimmtes Ziel, auf Entfaltung der Handlung gerichtet sein und den Bedingungen |#f0429 : 407|



dienen, an welche Entwickelung und Verwickelung des Dramas geknüpft

sind.



Jm Singspiel (s. letztes Hauptstück) bezeichnet Dialog die Redepartie im

Gegensatz zu den Gesangspartieen, im alten Drama die Redepartie der Schauspieler

im Gegensatz zu den gesungenen Chorpartieen.



Beispiele des Dialogs.



Lyrischer Dialog.



Lebensmelodien, von A. W. Schlegel. (Abgekürzt.)



Der Schwan.

Mich erquickt das Blau der heitern Lüfte,

Mich berauschen süß des Kalmus Düfte,

Wenn ich in dem Glanz der Abendröte

Weich befiedert wiege meine Brust.


Der Adler.

Jch jauchze daher in Gewittern,

Wenn unten den Wald sie zersplittern,

Jch frage den Blitz, ob er töte,

Mit fröhlich vernichtender Lust.


Der Schwan.

Von Apollo's Winken eingeladen,

Darf ich mich in Wohllautströmen baden,

Jhm geschmiegt zu Füßen, wenn die Lieder

Tönend weh'n in Tempe's Mai hinab.


Der Adler.

Jch throne bei Jupiters Sitze;

Er winkt und ich hol' ihm die Blitze.

Dann senk' ich im Schlaf das Gefieder

Auf seinen gebietenden Stab.


Der Schwan.

Ahndevoll betracht' ich oft die Sterne,

Jn der Flut die tiefgewölbte Ferne,

Und mich zieht ein innig rührend Sehnen

Aus der Heimat in ein himmlisch Land.


Der Adler.

Jch wandte die Flüge mit Wonne

Schon früh zur unsterblichen Sonne,

Kann nie an den Staub mich gewöhnen,

Jch bin mit den Göttern verwandt.


Der Schwan.

Willig weicht dem Tod ein sanftes Leben,

Wenn sich meiner Glieder Band' entweben,

Löst die Zunge sich: melodisch feiert

Jeder Hauch den heil'gen Augenblick.


Der Adler.

Die Fackel der Toten verjünget,

Ein blühender Phönix, entschwinget

Die Seele sich frei und entschleiert,

Und grüßet ihr göttliches Glück &c. &c.


Weiteres Beispiel: Die Wallfahrt nach Kevlaar von H. Heine.



Didaktischer Dialog.



Der grüne Zweig, von Fr. Rückert.



Deutscher General.

Jhr deutschen Grenadier,

Weil ihr nunmehr seid in Frankreich,

So schmückt das Haupt euch allzugleich

Mit grüner Zweige Zier;

Brecht sie euch ab allhier!
|#f0430 : 408|



Deutscher Grenadier.

Jhr Brüder, eilt euch doch,

Brech' jeder sich den grünen Zweig,

Und schmückt euch rechten Siegern gleich;

Ruft alle: Deutschland hoch!

Und hoch der grüne Zweig!


Der Franzos.

Mein deutscher Herr Gen'ral!

Es tragen eure Leut' zum Putz

Viel grüne Zweig' auf ihrem Mutz;

Mein deutscher Herr Gen'ral,

Geschieht uns das zum Trutz?


Deutscher General.

Mein bester Herr Franzos!

Nein gar nicht euch zum Trutz geschichts;

Die grünen Zweig' bedeuten nichts,

Es sind Feldzeichen bloß,

Nicht Siegeszeichen groß.


Deutscher Grenadier.

Hört ihr des Feldherrn Wort?

Jhr lieben deutschen Grenadier,

Werft ab von euch die eitle Zier;

Die Zweige sind verdorrt

Durch dieses einz'ge Wort.


Der Franzos.

Jhr Deutschen, euer Glück

Jst dieses, daß ihr selber thut

Die grünen Zweig' von eurem Hut.

Wir rissen sonst in Stück

Die Zweig euch samt dem Hut.


Deutscher Grenadier.

Franzosen, euer Glück

Jst dies, daß man's uns nicht erlaubt;

Eh' ihr die Zweig' uns rißt vom Haupt,

Rissen wir euch in Stück,

Wenn es uns wär' erlaubt.


Deutscher General.

Damit nicht einen Strauß

Es mit dem grünen Zweig noch setzt;

Soldaten, macht euch fertig jetzt,

Wir ziehn nunmehr nach Haus,

Weil doch der Krieg ist aus.


Tambour.

Weil wir nun ziehen heim,

So rühr' ich meine Trommel gleich;

Jhr Brüder, von dem grünen Zweig

Singt heimwärts einen Reim;

Jch schlag' den Takt zugleich.


Die Soldaten.

Als Sieger aus Frankreich

Ziehn wir nach Haus, doch bringen wir

Kein' grünen Zweig, o Deutschland, dir;

O liebes deutsches Reich,

Kommst auf kein' grünen Zweig.



Weiteres Beispiel: „Begegnung“ von H. Heine.



Epischer Dialog. (Aus Rückerts Nal und Damajanti.)



(Damajanti sendet ihre Dienerin Kesini in den Palasthof, damit diese erforsche,

wer der Wagenlenker sei. Sie ahnt, es sei ihr Gemahl, der nur eine andere Gestalt

angenommen habe.)

|#f0431 : 409|



Kesini.

„Glückliche Ankunft, Mann-Tiger!

Willkomm biet' ich dir, edler Krieger!

Höre von mir, o ehrenfester,

Das Damajantiwort, o bester:

Wie habt ihr diesen Weg genommen,

Und wie seid ihr hierher gekommen?

Sage mir das mit rechtem Sinn;

Hören wills die Widarberin.“


Wahuka.

„Dem Ajodiaherrn ward kund,

O schönste, aus Brahmanenmund:

Mit des morgenden Tages Strahl

Jst Damajanti's Gattenwahl.

Dieses gehört, ist schnell entschlossen

Der Fürst mit Hundertmeilenrossen,

Mit windeiligen hergekommen,

Und hat zum Fuhrmann mich genommen.“


Kesini.

„Doch jener von euch der dritte Mann,

Wer ist er und wessen? sag mir an!

Und wer bist du und wessen? sprich!

Und wie kam dies Geschäft an dich?“


Wahuka.

„Als Punjasloka's Fuhrmann bekannt,

Warschneja, so ist jener genannt,

Der, als er verloren seinen Herrn,

Trat in Dienst bei Ritupern.

Jch selber bin ein Rossekenner,

Ein im Fahren geübter Renner,

Wahuka nennen mich die Männer.

Wie du siehst ist meine Gestalt,

Bei Ritupern ist mein Aufenthalt;

Er hat mich zu Rosseleitung

Gedingt und zu Speisebereitung.“ u. s. w.



Weiteres Beispiel des epischen Dialogs: Der Wanderer von Goethe;

Das Kind im Walde und ich von Aug. Kuhn; ferner Das Licht im

Thale
von Friedr. Kind u. a.



Dramatischer Dialog.



Als Beispiele des dramatischen Dialogs erwähnen wir: Die Probe des

folgenden Paragraphen S. 409: Der Tod Napoleons von Chamisso; ferner Shakespeare's

König Lear (1. Akt 1 Sc.); Lessings Nathan der Weise (3. Aufz.

7. Auftr. Saladin: So ist das Feld hier rein &c.); Schillers Wallensteins

Tod (2. Akt 5. Auftr. Jsolani: Hier bin ich &c.); Schillers Wilhelm Tell

(1. Akt 2. Auftr. Gertrud: So ernst mein Freund &c.); Hebbels Nibelungen

(1. Akt 8. Sc. Kriemhild: Seid mir willkommen &c.); v. Gottschalls Mazeppa

(3. Aufz. 5. Auftr. Jfflant: Ein Abgesandter &c.). Ferner vgl. das deklamat.

Zwiegespräch Frauenfreundschaft von Mart. Böhm; sowie Komm her!

von Elsholtz &c.

|#f0432 : 410|



§ 152. Dramatisierte Begebenheit (Dramolet).



1. Die dramatisierte Begebenheit ist nicht bloß Gespräch, sondern

sie enthält eine abgeschlossene Begebenheit.



2. Sie ist ein kleines Drama, ein Dramolet.



(Vgl. die Dramolete Eingeregnet, von Fritzsche; Poly Henrions [Pseud.

für Kohlenegg] Jn der Bastille; R. Hahns Künstlerdramolet Ein Sechziger. &c.)



1. Die dramatisierte Begebenheit nähert sich in ihrem Bau und nach

ihrem Dialog dem Drama, von dem sie sich unterscheidet: a. durch den Mangel

eines tiefer eingreifenden Kampfes sich entgegenstehender Gefühle und Situationen,

b. durch das Fehlen einer lebendigen Handlung.



2. Es giebt genug sogenannte einaktige Dramen, die nichts weiter sind,

als dramatisierte Begebenheiten (ich erwähne nur „Das Attentat auf Bismarck“).

Der Stoff der dramatisierten Begebenheit ist meist deskriptiv episch in

äußerlich dramatischer Form. Nicht selten ist sie eine Allegorie oder die Symbolisierung

einer Jdee (vgl. des Verfassers „Kaiserjubelfeier“, Leipzig, Hirschfeld

1877). &c.



Beispiel der dramatisierten Begebenheit.



Der Tod Napoleons, von Chamisso. (Nach Alessandro Manzoni.)



(Napoleon. Montholon. Antomarchi, der Arzt. Europa, Geschichte und Poesie,

Erscheinungen. Stumme Umgebung: Bertrand, seine Frau und vier Kinder; der Abt Vignali,

Marchand
und sechs Bedienten. Zwei englische Offiziere. Longwood, am 5. Mai 1821.)



Napoleon (auf dem Sterbebette), Montholon, Antomarchi.


Montholon.

Des Fiebers Glut hat ausgetobt, er scheint zu ruhn.


Napoleon (im Schlafe).

Mein Heer!


Montholon.

Er träumt ─


Napoleon.

Dem Adler folgt und mir; hinan!


Montholon.

Von Schlachten, lenkt im Geiste noch die Völker.


Napoleon.

Sieg!


Montholon.

O scharfer Mißlaut dieses Wortes hier und jetzt!


Napoleon (erwachend).

Wer bin ich?


Montholon.

Herr und Kaiser.


Napoleon.

Wo?
|#f0433 : 411|



Montholon.

Du bist, o Herr,

Jnmitten deiner Treuen.


Napoleon.

Wo?


Montholon.

Ein Felsensitz ......


Napoleon.

Sankt Helena?!


Montholon.

Du sprichst es aus.


Napoleon.

Die Zeit ist um,

Abtrünnig werd' ich selber mir, so wie die Welt. ─

Die mein annoch sich nennen ruft herbei; ich will

Abrechnen mit dem Leben.


Montholon (die Thüre öffnend)

Tretet alle her!


(Gefolge, die Kinder knieen am Bette.)


Napoleon.

Daß ich geliebt bin worden, legt ihr Zeugnis ab.

Habt Dank! Jch aber scheide hin. Bald haben sie,

Mit deren Kronen ich gespielt, den Haß gekühlt.

Sie ließen uns nur unsrer Thaten Ruhm zurück.

Jhr werdet bald, aus selbst erkorner Haft erlöst,

Mein stolz durch mich gewesnes Frankreich wiedersehn,

Und trauern an dem vielgeliebten Seinestrand.

O grüßt mein Frankreich, grüßet mir mein heimisch Land!

Wär' Frankreich dieser nackte sturmgeschlagne Fels,

Jch wollt' ihn lieben.


Montholon.

Frankreich finden wir, o Herr,

Nur immerdar, wo dein geweihtes Haupt verweilt.


Napoleon.

Nicht also, nein, ─ mein Frankreich grüßt und meinen Sohn.

Entfernet euch; nicht sollet ihr mich weinen sehn, ─

Grüßt meinen Sohn, den grausam mir entfremdeten; ─

Mein Sohn, mein Sohn!


Antomarchi.

Gehorcht dem Kaiser, tretet ab!


(Napoleon ist mit verhülltem Antlitz zurückgesunken. Alle heften fragend die Augen auf Antomarchi,

der unverwandt den Kranken betrachtet. Sie entfernen sich zögernd.)


Antomarchi (allein bei Napoleon. Lange Pause. Er wirft sich in einen Sessel im

Vordergrunde und verhüllt sein Antlitz.)


Lösch' aus, du Stern der Herrlichkeit!


(Es erscheinen Europa, Geschichte und Poesie. Napoleon streckt die Arme nach ihnen aus.)


Europa.

Napoleon!

Weltherrscher einst, in Fesseln nun Verschmachtender;

Zurück von dir nicht fordernd das vergossne Blut, |#f0434 : 412|



Das teure meiner Kinder, nein, den hohen Preis,

Um welchen fließen es gesollt, erschein' ich dir.

Es rangen zwei Weltalter um die Herrschaft; du

Stiegst auf, du Schicksalsmächtiger, da ward es still;

Nicht Friede; schweigsam lagen sie zu Füßen dir;

Du Franklin nicht, nicht Washington, du hast gebaut

Vergänglich für die trunkne Lust des Augenblicks.

Du sankst, du stirbst ─ ich frage bang: wem beug' ich nun

Den jochgewohnten Nacken? Weh!


Napoleon.

Mein Sohn, mein Sohn!


Europa.

O hättest Freiheit du geschafft nach deiner Macht,

Noch ständen aufrecht deine Bilder, unentweiht

Von Händen, die zu heben unvermögend sind

Das dir entsunk'ne, dein gewicht'ges Herrscherschwert.


Geschichte.

Standbilder eines Mannes stürzen Knaben um,

Umsonst bemüht, zu tilgen meines Griffes Spur

Zukünft'gem Alter, schwerem Urteil aufbewahrt.


Poesie.

Zu schmäh'n, zu schmeicheln haben Knechte nur vermocht;

Jungfräulich deines Namens ist annoch mein Mund,

Hinfort geweiht zu ewigem Gesang, mein Held!


Europa.

Jhr Griffel, ihre Lyra, meine Thränen, die

Der eig'nen Schmach ich weine; rückgewendet dies

Hienieden. ─ Jenseits ...? Kaiser auf! Der Schleier reißt!


(Napoleon stirbt, die Erscheinungen verschwinden. Bei dem Ausatmen Napoleons erhebt sich

Antomarchi schnell und tritt zu dem Toten, den er lange betrachtet; er geht sodann nach der

Thür. ─ Montholon und das Gefolge kommen ihm entgegen.)


Montholon.

Der Kaiser?


Antomarchi.

Weint! Das war er! Länger zügelt nicht

Die bleiche Furcht, von diesem Kerker aus, die Welt.

Verbeugt vor dem euch, der ihn schlug; ─ zerstreuet euch,

Das Liebesopfer eures Lebens ist erfüllt!


(Montholon hat den Kaisermantel über die Leiche ausgebreitet, der Abt ein Kruzifix darauf

gelegt; alle weinen. Zwei englische Offiziere dringen ein. Der Vorhang fällt.)



Weitere Beispiele der dramatisierten Begebenheit sind: 1. Faust. Ein

Versuch von Ad. v. Chamisso; 2. Normannscher Brauch von Uhland; 3. Die

Blumen von Kerner; 4. H. Neumanns Die Auferstehung; 5. Kohleneggs Für

nervöse Frauen; 6. Schlesingers Die Gustel von Blasewitz; 7. Feod. Wehls

Ein Pionier der Liebe; 8. Semele von Schiller; 9. Raupachs Der Platzregen

als Eheprokurator; 10. Drei Kämpfer von Fr. Hofmann; 11. F. Zells Seit

Gravelotte; 12. Ludw. Eckardts Savoyen=schweizerisch; 13. Das Lied der süßen

Liebe und die wilde Jagd von Fr. Storck; 14. Vor Belfort von Ludw. Egler;

15. Vom Rhein zur Elbe von Jul. Rodenberg u. s. w.

|#f0435 : 413|



II. Eigentliche Dramen.


§ 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen.



Wir teilen die eigentlichen Dramen ein in solche, welche sich

zur Aufführung vor unserem heutigen Durchschnittspublikum nicht eignen,

(dramatische Gedichte, Buchdramen &c.), sowie in aufführbare, durch

ihre lebensvolle Handlung theatralisch wirksame Dramen. Wir handeln

demgemäß die eigentlichen Dramen in nachstehender Folge ab:



1. Dramatisches Gedicht,



2. Tragödie,



3. Schauspiel,



4. Lustspiel,



5. Posse.



Aristoteles (II. Kap. seiner Poetik) nennt als Charaktere der handelnden

Personen entweder bessere, als zu unserer Zeit, oder eben solche, oder schlechtere:

also außergewöhnliche, gewöhnliche und niedere Personen. Die höheren Personen

verlangen ernste Darstellung, die gewöhnlichen und die niederen Personen dagegen

können erfolgreich nur durch Komik eingeführt werden. Aristoteles unterscheidet

somit zwischen Tragödie und Komödie. Der Unterschied zwischen Komödie und

Tragödie liegt ihm darin, daß die Komödie niedrigere, dagegen die Tragödie

(oder das Schauspiel höheren Stils) vorzüglichere Personen darzustellen bezweckt.





Für unsere Einteilung und Benennung der verschiedenen Arten des Drama

ist die Art und Weise, wie dasselbe schließt, maßgebend. Die höchste Form

des Drama, die Tragödie oder das tragische Drama, hat unglücklichen Ausgang

(Untergang, Tod des Helden). Die Uhr ist bei dem Helden abgelaufen,

und bleibt stehen.



Dem tragischen Drama steht das Drama mit glücklichem Ausgang gegenüber,

sowie das edle Lustspiel (Komödie) mit seiner Unterart, der Posse &c.



Ein Drama, welches trotz seines ernsten Gehalts glücklichen Ausgang

nimmt, ohne dabei die Heiterkeit des Lustspiels zu teilen, heißt Schauspiel.



Das Schauspiel liegt also zwischen Tragödie und Komödie in der Mitte.



Eine eigene Art von Drama bildet das sogenannte dramatische Gedicht.

Es ist wegen Mangels an Handlung wenig für die Aufführung geeignet

und kann daher als Buchdrama bezeichnet werden. Wir führen es zuerst vor.



§ 154. Das dramatische Gedicht.



1. Dramatisches Gedicht nennt man jenes Drama, welches seine

Darstellung mehr erzählend als handelnd ausbreitet, welches mehr

innere Empfindungen und bereits geschehene Fakta schildert und im

Dialog mitteilt, als wahrhafte Thaten in unmittelbarer Präsenz vor |#f0436 : 414|



den Augen des Zuschauers entrollt und geschehen läßt, welchem daher

leidenschaftsvolle Konflikte und große Kämpfe in der Entwickelung der

Handlung mangeln.



2. Es ist kein eigentlich theatralisches Stück und eignet sich nur

bedingungsweise für die Aufführung.



3. Dagegen ist es als Buchdrama mehr als alle übrigen Dramen

namentlich der Jugend als Lektüre zu empfehlen.



1. Das dramatische Gedicht, welches man wegen seiner gemütlichen, erzählend

fortschreitenden Handlung die Tragödie des Gemüts nennen könnte,

ist in seinem ernsten Stoff wie in seinem Aufbau oft nicht von der Tragödie

zu unterscheiden. Jn Anordnung, Form und Ausführung erreicht es den eigentlichen

Kunstzweck der Tragödie; auch geht ihm keineswegs das dramatische Leben

ganz ab. Nur der Goetheschen Forderung: „Vor allem laßt recht viel geschehen“

entspricht es nicht.



2. Tieck charakterisiert das dramatische Gedicht, wenn er im Phantasus

(1. Abtheilung) sagt: „Häufig, wenn wir vom Dramatischen sprechen, verwechseln

wir dieses mit dem Theatralischen, und wiederum ein mögliches besseres

Theater mit unserem gegenwärtigen und seiner ungeschickten Form; und in dieser

Verwirrung verwerfen wir viele Gegenstände und Gedichte als unschicklich, weil

sie sich freilich auf unserer Bühne nicht gut ausnehmen würden. Sehen wir also

ein, daß ein neues Element erst das dramatische Werk als ein solches beurkundet,

so ist wohl ohne Zweifel eine Art der Poesie erlaubt, welche auch das

beste Theater nicht brauchen kann, sondern in der Phantasie eine Bühne für

die Phantasie erbaut und Kompositionen versucht, die vielleicht zugleich lyrisch,

episch und dramatisch sind, die einen Umfang gewinnen, welcher gewissermaßen

dem Roman untersagt ist, und sich Kühnheiten aneignen, die keiner andern

dramatischen Dichtung ziemen. Diese Bühne der Phantasie eröffnet der romantischen

Dichtkunst ein großes Feld.“



Es ist klar, daß solche Stücke auf unser heutiges Durchschnittspublikum

bei Aufführungen auf der Bühne keine oder nur geringe Wirkung üben. Das

Publikum langweilt sich, wenn ihm innere Kämpfe gemalt oder erzählt werden.

Es verlangt die sogenannten theatralischen Dramen mit rascher, wahrnehmbarer,

anschaulicher Handlung. Ein theatralisches Drama übt durch seine lebhafte

Handlung immer seine Wirkung auf die Menge aus, während ein nur dramatisches

Stück höchstens die feinfühlige Elite des Geistes befriedigt, den sogenannten

Bildungspöbel aber, der im Theater die besten Plätze einnimmt, kalt läßt.



Das zur Aufführung bestimmte sogenannte theatralische Drama verlangt,

wie A. W. Schlegel gesagt hat, „jenen entschiedenen Rhythmus, der den Pulsschlag

beschleunigt und das sinnliche Leben in rascheren Schwung bringt“. Diese

die Handlung beherrschende und beschleunigende Schwungkraft, die für das

Drama als solches wirklich noch wesentlicher wird, als die lebendige Gestaltung

der handelnden Personen, diese Schwungkraft ist Sache des unmittelbaren dramatischen

Jnstinktes, ─ aber diesen haben weder Goethe noch Uhland, noch

Rückert gehabt, ja, Rückert von diesen Dreien sicher am allerwenigsten.

|#f0437 : 415|



3. Jmmerhin wird sich der Gebildete beim Lesen des dramatischen Gedichts

erquicken. Er wird sich in eine höhere Sphäre des Seins gerückt fühlen, indem

er seinen eigenen Charakter vergleicht, den Blick an den Seelengemälden

labt und mit dem vorgeführten Helden Teilnahme empfindet.



So geringschätzig man sich über die dramatischen Gedichte einzelner Dichter

ausgesprochen hat, denen Mangel an künstlerischer Architektonik, an dramatischer

Pointierung, an einer Gestalten schaffenden Charakteristik und an dichterischem

Schwung vorgeworfen wurde, so verdienen sie doch gewiß gelesen zu werden,

ehe man sie bloß mit ihren Titeln in die Rumpelkammer der Litteraturgeschichte

wirft. Wir wenigstens haben uns an einzelnen dramatischen Gedichten auch

hinsichtlich der Technik der Scene und der charakteristischen Momente in der

Entwickelung nur erfreuen können, wo uns bei unserer Betrachtung die ganze

Persönlichkeit der betreffenden Dichter zur Seite stand. Viele dramatische Gedichte

sind immerhin dramatische Kunstwerke, wenn auch keine theatralischen, sie

sind schön und beredt in den lyrischen Stellen, interessant und lehrreich in den

mehr didaktischen &c. Haben diese Dramen den eigentlichen Zweck der theatralischen

Darstellung verfehlt, so haben sie doch genug innere Würde und Gediegenheit,

Einfachheit der Charaktere, schöne Vorbilder hoher Begeisterung und

standhaften Mutes (Rückerts Colombo, Heinrich IV.), edler Freundesliebe

(Rückerts Jonathan, David), Freundestreue (Sebastian, Las Casas), Frauenhoheit

(Anacaona), in sich, so daß sie sich zu einer lohnenden und erhebenden

Lektüre sowohl für die reifere Erfahrung, als auch besonders für die Jugend

wohl eignen.



Goethe sagt richtig: „Roman und Drama sind nicht eine Lektüre für

die Jugend, weil der Jugend das sittliche unbeirrte Verständnis, die vollendete

Reife für geistig gesunde Aufnahme von Charakterbildern, Konflikten und Situationen

fehlt, welche eine überwundene physische und psychische Entwickelungsperiode,

einen Umblick in der Welt, eine gewisse Ausweitung des Gesichtskreises,

ein Streben nach Objektivität des Urteils voraussetzt. Gerade unser größter

Dramatiker, Shakespeare, wird am allerwenigsten in eine Jugendbibliothek passen,

weil auf die Jugend das Dämonische und Bösartige der Charaktere, das Leidenschaftliche

der Konflikte, das Zweideutige der Situationen ─ wie sie in einem

Drama vorkommen und bei Shakespeare in der großartigsten Weise ─ nicht

abschreckend, sondern aufstachelnd, verführerisch und verderblich wirken.“ Selbstredend

meint Goethe nicht die Primaner unserer Gymnasien, deren Urteilsfähigkeit

und Reife die Behandlung einzelner Shakespearescher Stücke sogar ratsam

erscheinen lassen.



Der Mangel an zu großer Leidenschaft und peinvoller Schuld ist es gerade,

vermöge dessen die dramatischen Gedichte (vor allem die von Rückert)

nicht nur unbedenklich, sondern zugleich als ein wirksames Bildungsmittel zur

Veredlung der Sitten und des Verstandes in die Hände der Jugend gegeben

werden können.



Ein Vorzug hierbei ist, daß die dramatischen Gedichte das Ekelerregende,

Lasterhafte ausgeschlossen haben, womit nicht gesagt sein soll, daß dies in den |#f0438 : 416|



theatralischen Dramen nötig sei. (Es hat z. B. Shakespeare in Richard III.

das Laster durchaus poetisch eingeführt; Richard III. begeht eine Schandthat

nach der andern.) Die Befriedigung des sittlichen Gefühls der Jugend liegt

darin, daß jede schlechte That ihre Strafe insofern in sich birgt, als sie als

Folge der vorhergehenden erkannt wird, sowie daß die Strafe den Verbrecher

ereilt und der Satz illustriert wird: „Alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Bei

Goethes „Mitschuldigen“, wo eine ganze Familie, Vater, Tochter, Gatte, Liebhaber

sich gegenseitig auf den nächtlichen Schleichwegen des Lasters treffen,

findet sich keine Sühne der verletzten Sittlichkeit. Der Dichter verurteilt selbst

die Einführung des Lasters in seinen „Mitschuldigen“. Das heitere, burleske

Wesen erscheint auf dem düstern Familiengrunde als von etwas Bänglichem

begleitet, so daß es bei der Vorstellung im Ganzen ängstigt, wenn es im Einzelnen

ergetzt. Die widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische und

moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen Theater

keinen Eingang finden.



Analysen und Proben aus dramatischen Gedichten.



1. Kaiser Heinrich IV. von Fr. Rückert. (1. und 2. Teil.)



1. Teil. Der Kaiser Heinrich IV. geht nach Canossa, um sich vom

Bann lösen zu lassen. Die lombardischen Edlen empfangen ihn an der Grenze

und erbieten sich, ein Heer gegen den Papst zu werben. Heinrich zeigt sich

unmännlich und von religiösen Vorurteilen eingenommen. Er ist unselbständig

und besonders kurzsichtig gegen die Schlauheit des Papstes, als dieser für

ein Gottesurteil die halbe Hostie ißt und ihm die andere Hälfte reicht. (Leider

versäumt Rückert in der Canossascene den erhabensten Principienstreit des Mittelalters

darzustellen, er legte die ganze Scene nur einem Erzähler in den Mund &c.)

Rudolf wird Gegenkaiser. Der Papst lehnt es ab, Rudolf in den Bann zu

thun. Da sammelt sich bei Regensburg ein Heer zum Beistand für Heinrich.

Mainz erhebt sich. Der Kampf beginnt. Heinrich ist siegreich und zieht nun

nach Rom, um sich dort die Kaiserkrone aufsetzen zu lassen. Mit den begeisterten

Rufen: „Hoch Deutschland, hoch, wir siegen“ werden die Mauern erstiegen.

Heinrich hält siegreichen Einzug in Rom, während der Papst entflieht. Erzbischof

Wipert, den Heinrich als Clemens III. einsetzt, empfängt den festlich

einziehenden Kaiser und seine Gemahlin Bertha vor dem Hauptaltar der Peterskirche

und setzt ihnen die Kaiserkrone auf. ─



Jm 2. Teil zeigt uns der Dichter zunächst Heinrichs Toleranz im Gegensatz

zur Jntoleranz des Papstes. Heinrich verweist dem Bischof Werner das

Ansinnen, Rudolfs Grabdenkmal umzustoßen und die Asche in den Fluß zu

streuen. Er verzeiht dem Grafen von Luxemburg und den Herzogen von

Bayern. Einzelne Scenen schildern einbrechende Prüfungen. Heinrichs Gemahlin

stirbt, als er eben nach Jtalien ziehen muß. Der Abfall seines Sohnes

Konrad wird gemeldet. Papst Urban tritt aus seiner Passivität heraus und macht

sich populär durch seinen Aufruf zum Kreuzzug. Auch Heinrich V., vom Vater |#f0439 : 417|



zum Könige eingesetzt, trennt sich von ihm und wird ein scheinbar gefügiges Werkzeug

der Kirche. Er nimmt den Kaiser gefangen und fordert ihm die Reichskleinodien

ab. Allein Heinrich IV. entflieht und erhält allerwärts Unterstützung;

die Städte erheben sich und die angrenzenden Länder nehmen drohende Mienen

an. Heinrich V. sinnt: „wie endigen?“ Da kommt die Nachricht vom Tode

des Vaters, welch letzterer ihm die Reichskleinodien mit seinem Segen sendet.



Nun wirft Heinrich V. die Maske ab. Er weist die Anmaßung der Kirche

zurück, um das Ansehen des Staats zu heben. Die päpstlichen Legaten schickt

er heim und setzt, trotz päpstlichen Verbotes, die Bischöfe ein. Ohne seine

aus England ankommende Braut erst zu begrüßen, eilt er mit seinem Heere nach

Rom. Die Enttäuschung des Papstes ist groß. Er wird mit allen seinen

Kardinälen gefangen genommen, bis er Heinrich V. zum römischen Kaiser gekrönt,

ein ehrliches Begräbnis dem Vater, Heinrich IV., gewährt und endlich die Jnvestitur

eingeräumt hat.



Boten kehren zurück und verkünden der harrenden Braut Mathilde, daß

aus dem Könige ein Kaiser geworden und daß die Hochzeit stattfinden werde,

sobald die Leiche des Vaters beigesetzt sei.



Schluß: Leichenzug von Bischöfen, worunter auch der Bischof von Speier,

der einen Zipfel des Bahrtuchs tragen muß, um den Sieg der weltlichen

deutschen Macht über die geistliche römische Anmaßung zu illustrieren.



Schlußchor:



Geh zu deinen Vätern ein

Und zu deinem Weib in Frieden!

Und was nie im Leben dein,

Sei im Tode dir beschieden:

Ruh und Sieg

Nach Kampf und Krieg,

Sieg und Ruh dem Müden!


Herrlich hast du dich erkühnt,

Kaiserlicher Stamm der Franken!

Wenn die Kron' am höchsten grünt,

Fängt die Wurzel an zu kranken;

Doch der Ruhm

Jn's Heiligtum

Nimmt sie auf, die sanken.


Deutsche Treu und deutscher Mut,

Hüte dieser Schwelle Feier,

Nimm dein Heiligtum in Hut

Vor dem Fremden, dem Entweiher!

Deutscher Dom

Am deutschen Strom,

Sei gegrüßt, o Speier!


2. Torquato Tasso, von Goethe.



Analyse. Torquato Tasso, italienischer Dichter, weilt am Hofe des

Herzogs Alphons von Ferrara. Er liebt die geistvolle, schöne Schwester des |#f0440 : 418|



Herzogs, Leonore von Este. Als er sein herrliches Werk, das befreite Jerusalem,

vollendet hat, überreicht er es dem Herzoge. Die Prinzessin krönt ihn dafür.

Er bietet hierauf dem vielgeltenden Antonio seine Freundschaft an, wird aber

kalt zurückgewiesen. Da fordert er Antonio zum Zweikampf heraus und wird

verhaftet. Tasso argwöhnt bei den verschiedenen Vermittlungsversuchen überall

Verrat; er fordert seine Entlassung vom Herzog und erhält sie. Als er von

der Prinzessin Abschied nimmt, erkühnt er sich, ihr seine Liebe zu gestehen.

Die Fürstin weckt ihn aus seinen thörichten Träumereien durch ihr rasches:

Hinweg! und verursacht dem unglücklich Liebenden das bitterste Leid. Am

Ende findet er in Antonios Freundschaft noch Trost und Hoffnung. Neben

den beiden Hauptpersonen, Tasso und Antonio, zeichnet Goethe zwei interessante

Frauencharaktere, die edle und geistreiche, dem Dichter im Stillen geneigte

Prinzessin Eleonore und die Gräfin Eleonore Sanvitale, die fröhlich=liebenswürdige

Freundin der Prinzessin. Die fünfte Person ist der kunstsinnige kluge Herzog

Alphons, der Ehrfurcht gebietende Herrscher. Die Handlung geht ─ wie die

kurze Probe schon zeigen möge ─ mehr im Gemütsleben der Personen als in

der äußeren That vor sich. Das Stück bietet ausgedehnte Schilderungen

Jtaliens und gewährt die genußreichste Lektüre; ein Theaterstück ist es nicht.

Der übermäßig ausgedehnte Dialog hat für ein theatralisches Stück dieselben

Mängel, wie der Rückertsche.



Probe aus Torquato Tasso, von Goethe (2. Aufz. 1. Auftritt).



Saal.

Prinzessin. Tasso.


Tasso.

Und sah ich hier mit Staunen nicht zuerst,

Wie herrlich man den tapfern Mann belohnt?

Als unerfahrner Knabe kam ich her,

Jn einem Augenblick, da Fest auf Fest

Ferrara zu dem Mittelpunkt der Ehre

Zu machen schien. O! welcher Anblick war's!

Den weiten Platz, auf dem in ihrem Glanze

Gewandte Tapferkeit sich zeigen sollte,

Umschloß ein Kreis, wie ihn die Sonne nicht

So bald zum zweitenmal bescheinen wird.

Es saßen hier gedrängt die schönsten Frauen,

Gedrängt die ersten Männer unsrer Zeit.

Erstaunt durchlief der Blick die edle Menge;

Man rief: Sie alle hat das Vaterland,

Das Eine, schmale, meerumgebne Land,

Hierher geschickt. Zusammen bilden sie

Das herrlichste Gericht, das über Ehre,

Verdienst und Tugend je entschieden hat.

Gehst du sie einzeln durch, du findest keinen,

Der seines Nachbarn sich zu schämen brauche! ─

Und dann eröffneten die Schranken sich;

Da stampften Pferde, glänzten Helm und Schilde,

Da drängten sich die Knappen, da erklang

Trompetenschall, und Lanzen krachten splitternd, |#f0441 : 419|



Getroffen tönten Helm und Schilde, Staub,

Auf einen Augenblick, umhüllte wirbelnd

Des Siegers Ehre, des Besiegten Schmach.

O laß mich einen Vorhang vor das ganze,

Mir allzuhelle Schauspiel ziehen, daß

Jn diesem schönen Augenblicke mir

Mein Unwert nicht zu heftig fühlbar werde.


Prinzessin.

Wenn jener edle Kreis, wenn jene Thaten

Zu Müh' und Streben damals dich entflammten,

So konnt' ich, junger Freund, zu gleicher Zeit

Der Duldung stille Lehre dir bewähren.

Die Feste, die du rühmst, die hundert Zungen

Mir damals priesen und mir manches Jahr

Nachher gepriesen haben, sah ich nicht.

Am stillen Ort, wohin kaum unterbrochen

Der letzte Wiederhall der Freude sich

Verlieren konnte, mußt' ich manche Schmerzen

Und manchen traurigen Gedanken leiden.

Mit breiten Flügeln schwebte mir das Bild

Des Todes vor den Augen, deckte mir

Die Aussicht in die immer neue Welt.

Nur nach und nach entfernt' es sich, und ließ

Mich, wie durch einen Flor, die bunten Farben

Des Lebens blaß, doch angenehm erblicken,

Jch sah lebend'ge Formen wieder sanft sich regen.

Zum erstenmal trat ich; noch unterstützt

Von meinen Frauen, aus dem Krankenzimmer,

Da kam Lucretia voll frohen Lebens

Herbei und führte dich an ihrer Hand.

Du warst der erste, der im neuen Leben

Mir neu und unbekannt entgegen trat

Da hofft' ich viel für dich und mich; auch hat

Uns bis hieher die Hoffnung nicht betrogen.


Tasso.

Und ich, der ich betäubt von dem Gewimmel

Des drängenden Gewühls, von so viel Glanz

Geblendet, und von mancher Leidenschaft

Bewegt, durch stille Gänge des Palasts,

An deiner Schwester Seite schweigend ging,

Dann in das Zimmer trat, wo du uns bald

Auf deine Frau'n gelehnt erschienest ─ mir

Welch ein Moment war dieser! O vergieb!

Wie den Bezauberten von Rausch und Wahn

Der Gottheit Nähe leicht und willig heilt;

So war auch ich von aller Phantasie,

Von jeder Sucht, von jedem falschen Triebe

Mit Einem Blick in deinen Blick geheilt.

Wenn unerfahren die Begierde sich

Nach tausend Gegenständen sonst verlor,

Trat ich beschämt zuerst in mich zurück, |#f0442 : 420|



Und lernte nun das Wünschenswerte kennen.

So sucht man in dem weiten Sand des Meers

Vergebens eine Perle, die verborgen

Jn stillen Schalen eingeschlossen ruht.


Prinzessin.

Es fingen schöne Zeiten damals an,

Und hätt' uns nicht der Herzog von Urbino

Die Schwester weggeführt, uns wären Jahre

Jm schönen ungetrübten Glück verschwunden.

Doch leider jetzt vermissen wir zu sehr

Den frohen Geist, die Brust voll Mut und Leben,

Den reichen Witz der liebenswürd'gen Frau.


Tasso.

Jch weiß es nur zu wohl, seit jenem Tage,

Da sie von hinnen schied, vermochte dir

Die reine Freude niemand zu ersetzen.

Wie oft zerriß es meine Brust! Wie oft

Klagt' ich dem stillen Hain mein Leid um dich!

Ach! rief ich aus, hat denn die Schwester nur

Das Glück, das Recht, der Teuern viel zu sein?

Jst denn kein Herz mehr wert, daß sie sich ihm

Vertrauen dürfte, kein Gemüt dem ihren

Mehr gleich gestimmt? Jst Geist und Witz verloschen?

Und war die Eine Frau, so trefflich sie

Auch war, denn alles? Fürstin! o verzeih!

Da dacht' ich manchmal an mich selbst, und wünschte

Dir etwas sein zu können. Wenig nur,

Doch etwas, nicht mit Worten, mit der That

Wünscht' ich's zu sein, im Leben dir zu zeigen,

Wie sich mein Herz im Stillen dir geweiht.

Doch es gelang mir nicht, und nur zu oft

That ich im Jrrtum, was dich schmerzen mußte,

Beleidigte den Mann, den du beschütztest,

Verwirrte unklug, was du lösen wolltest,

Und fühlte so mich stets im Augenblick,

Wenn ich mich nahen wollte, fern und ferner. u. s. w.


Zur Litteratur des dramatischen Gedichts.



Die Anzahl der dramatischen Gedichte ist im Verhältnisse zu den übrigen

Dramen nur gering. Wir rechnen unter die Gattung derselben außer den

genannten: Körners Hedwig und Tony; Zedlitz' Herr und Sklave; Tiecks

dramatisierte Märchen; Platens polemisch=satirische Komödien; Jmmermanns

Trauerspiel in Tyrol; Oskar Elsners Die Wacht am Rhein; Uhlands

Schildeis und sein Ständchen, sowie zum Teil sogar seine Dramen; in gewissem

Sinn auch A. Werners Martin Luther (vgl. S. 34 d. Bds.), sowie Aug.

Spechts Der Verfluchte. Ferner sind als dramatische Gedichte zu nennen:

Julius Mosens Heinrich der Finkler, Otto III., Rienzi, Herzog Bernhard, |#f0443 : 421|



Der Sohn des Fürsten, ─ da in diesen historischen Gemälden das subjektiv Lyrische

und Rhetorische dominiert, die Handlung aber mangelnd oder zu unbedeutend ist.



Eine Fortbildung des dramatischen Gedichts zum bühnengerechten sog.

historischen Drama hat Raupach in seinem Cyklus Hohenstaufen, sowie Herrig

in seinen Werken: „Jerusalem“ und „Alexander“ versucht, welche großartige

Wendepunkte der Geschichte darstellen, den Übergang des Alten zum Neuen,

den Kampf geschichtlicher Prinzipien. (Sie wurden nie aufgeführt.) Noch mehr

nähern sich dem bühnengerechten Drama W. Molitors Maria Magdalena;

Otto Prechtlers Adrienne; ferner von Paumgartens Rudolf von Habsburg;

Ed. Rüffers Lorelei; Adolf Calmbergs Jürgen Wullenweber, sowie Calmbergs

Leyer und Schwert; Julius Ernsts Der Eremit von Juste; Linggs Berthold

Schwarz; Ferd. Stoltes Neuer Faust; besonders aber Feod. Wehls Hölderlins

Liebe, sowie Fr. Halms Camoëns und sein 5aktiges dramatisches Gedicht Griseldis,

dessen Sprache wie ein über den etwas unnatürlichen Stoff gebreiteter,

loser Schmuck erscheint, und dessen Heldin allzu peinlichen Quälereien und

Prüfungen ausgesetzt ist &c.



§ 155. Tragödie == Trauerspiel.



1. Unter Tragödie versteht man ein trauriges Schauspiel, ein

Trauerspiel, ein Drama mit unglücklichem Ausgang. Es stellt den

Kampf eines hervorragenden Charakters gegen die Macht äußerer Verhältnisse

oder auch der eigenen Leidenschaft so dar, daß der Held,

wenn er auch unterliegt, doch moralisch siegt, wodurch die sittliche

Jdee Siegerin bleibt.



2. Das Schicksal des Helden erzeugt die tragische Stimmung und

die tragische Poesie, deren Begriff wir I S. 100 entwickeln konnten.



3. Die Tragödie bringt eine höhere Wahrheit zum Ausdruck.

Dies nennt man ihre Tendenz.



4. Schon bei den Alten war Tragödie (ιραγῳδία) ein erhabenes

Gedicht von traurigem Ausgang, worin nur erhabene Personen (Götter,

Könige, Prinzen, Helden &c.) auftraten.



5. Die Tragödie unterscheidet sich in wesentlichen Stücken vom

Epos wie vom Roman.



1. Schopenhauer nennt das Trauerspiel die erhabenste Dichtungsart

(III 731), den Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die

Größe der Wirkung, als auch auf die Schwierigkeit der Schöpfung, ja, er bezeichnet

es als die höchste poetische Leistung (II 298. III 480), welche

die innere Bedeutung, das Wesen der Welt weit mehr als selbst die allerwichtigsten

und allergroßartigsten physikalischen Wahrheiten hervortreten läßt

(VI 215), welche das schwere Leiden, die Not des Daseins vorführt, wobei

die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens das letzte Ergebnis ist (VI 472).



Nach Schiller ist die Tragödie dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden

Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns |#f0444 : 422|



Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser

Mitleid zu erregen.



Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch

jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das

die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leidenschaft

nennt; ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschlossenheit &c.

verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und

zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint

der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach

einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie

einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale

des Menschen.



Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424)

ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht

wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls

beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert.

Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie

thun,
ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie

thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer

für sie übrig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, und „Es ist vollbracht!“

Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder.

(Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)



2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): „Wenn wir die Beziehungen

unseres Daseins bis an die äußerste Grenze der Möglichkeiten überschauen,

wenn wir dessen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Verkettung

der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülflos

gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräfte und streitender Begierden an die

Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt

schon schiffbrüchig; wie wir allen Jrrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind,

deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen

Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten

die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns fordern, und durch einen

plötzlichen Schlag uns alles Schwer-Erworbene rauben kann; wie mit jeder

Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken

des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes

nicht dem Gefühl verschlossene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut

befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußtsein

eines über das Jrdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische

Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklichkeit

aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Beispiele

von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale, vom Unterliegen

des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt

und beseelt: dann entsteht tragische Poesie.“ (Vgl. I S. 100.)

|#f0445 : 423|



3. Tragisch wird die Stimmung im Trauerspiel durch seine Tendenz, sofern

die Schrecknisse auf der Bühne dem Zuschauer „die Bitterkeit und Mutlosigkeit

des Lebens, also die Nichtigkeit alles Strebens entgegenhalten“ und zur Überzeugung

bringen, daß das Leben ein schwerer, ernster Traum sei. Die Tendenz

der Tragödie ist also Erzielung von Resignation, Entsagung, mutiges und

gelassenes Betrachten des Todes, die Hervorrufung echter Wehmut, die neben

dem Schmerz auch den Trost bietet: ähnlich der Lanze des Peleus, welche die

Wunden schuf und wieder heilte. Wenn das Glück des Helden im 5. Akt

scheitert, empfindet der Zuschauer eine gewisse Erhebung des Gemüts, ein

Genügen unendlich höherer Art, als es der Anblick des noch so sehr beglückten

Helden zu gewähren vermocht hätte. Man fühlt das Bedürfnis der Erlösung

und stimmt Seneka bei, daß der Unglückliche der Glückliche sei. (Vgl. Maria

Stuart, wenn sie auf dem Gang zur Richtstätte sagt: „Jetzt hab' ich nichts

mehr auf der Erde“; oder den sterbenden Palmire in Voltaires Palmire:

„Die Welt ist für Tyrannen, lebe du!“ oder Shakespeares sterbenden Brutus:

„Besänftige, Cäsar, dich: nicht halb so gern bracht' ich dich um, als mich u. s. w.“

Schopenhauer meint (II 316): „Wäre nicht das Erheben über alle Zwecke

und Güter des Lebens, dieses Abwenden von ihm und seinen Lockungen und

das hierin schon liegende Hinwenden nach einem anderartigen, wiewohl uns

völlig unfaßbaren Dasein die Tendenz des Trauerspiels: wie wäre es denn

überhaupt möglich, daß die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens im

grellsten Lichte uns vor Augen gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein

hoher Genuß für uns sein könnte? Zwar nicht eigentliches Quietiv des Willens,

zwar nicht auf immer erlösend vom Dasein, sondern nur auf Augenblicke bildet

diese Darstellung noch nicht einen Weg aus dem Leben, sondern bloß einen

Trost in demselben, bis die dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde,

den Ernst ergreift.



Ähnlich sagt Otto Liebmann (Zur Analysis der Wirklichkeit. Straßburg

1876 S. 560): „Das spezifisch Befriedigende der Tragödie liegt in der deutlicheren

oder undeutlicheren Erregung des ernsten Bewußtseins: Mögen Schuld und

Schicksal, Situationen und Charaktere, Zufall und Leidenschaften noch so störend,

verwirrend, vernichtend in das menschliche Leben eingreifen, die höchsten und

edelsten Bestrebungen vereiteln, das Beste, Daseinswürdigste unbarmherzig zerknicken,

die Unschuld morden, den Bösewicht triumphieren lassen, ─ es giebt

eine moralische Weltordnung, welcher stets das letzte Wort verbleibt, welche zuweilen

sichtbarlich, zuweilen auch für uns unmerklich, alles Unrecht sühnt, alles

unverdiente Leiden wieder gut macht, alle sittlichen Dissonanzen so oder so auflöst.

Vertraue darauf!“ (Vgl. des Näheren die mehrfach citierte Quellenschrift

Aug. Siebenlists über Schopenhauers Philosophie der Tragödie S. 24─45.)



Neben jener auf Entsagung und Resignation gerichteten Absicht kann die

Tragödie noch eine spezielle Tendenz verfolgen. So liefert z. B. die romantische

Jungfrau von Orleans den Nachweis, wie die fromme Schwärmerei eines

reinen Gemüts Wunder wirken kann! Maria Stuart zeigt, daß die Nichtbeherrschung

der Leidenschaft selbst auf dem Throne ins Unglück führt u. s. w.

|#f0446 : 424|



4. Das Wort Tragödie ist abzuleiten von τράγος Bock und ᾠδή Gesang.



Es bildete ursprünglich die Bezeichnung für jeden mimischen Chorgesang

oder Dithyrambus, welcher bei den üblichen Bocksopfern gelegentlich der griechischen

Dionysusfeste angestimmt wurde, indem sich der Chor zur Nachahmung

der Satyrgestalt in Bocksfelle hüllte. Das Wort tragoedia bedeutete 1. Bocksgesang,

weil dem Sieger in der Tragödie ein Bock geschenkt wurde (vgl.

die Jnschrift der zu Marseille 150 n. Chr. gefundenen, jetzt in Oxford befindlichen

Marmortafel: „und zum Preise wurde der Bock gegeben“);

2. Gesang der Böcke, d. h. der Satyrn, welche mit den Böcken identifiziert

werden; 3. Bocksopfergesang, vorgetragen dem Dionys zu Ehren, denn bekanntlich

ist der τράγος das Opfer des Dionysos, weil der Bock die Weinreben

benagt, was ein deutsch gegebenes Epigramm besagt: „Benage nur, o Bock,

meine Wurzeln, es wird mir doch noch soviel Wein übrig bleiben,

um dich dazu zu verspeisen.
“ (Näheres s. weiter unten unter Litteratur.)



Jn welcher Art aus dem Dithyrambus, den Arion schon (ca. 600 v. Chr.)

von kunstmäßig einstudierten Chören aufführen ließ, die Tragödie entstand,

haben wir unter Litteratur dargelegt.



Aristoteles nennt bereits die Tragödie die Darstellung (μίμησις) einer

bedeutenden, in sich abgeschlossenen Handlung von gewissem Umfange in angenehmer

Sprache, ausgeführt von Handelnden und nicht durch Erzählung,

sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) solcher Affekte

vollbringend (κάθαρσις τῶν παθημάτων. Vgl. Arist. poet. cap. VI).



Gustav Rümelin (Reden, Aufsätze &c. Tübingen 1875 S. 382) interpretiert

diese Anschauung des großen Denkers von Stagira dahin, daß die

Tragödie durch Erweckung von Furcht und Mitleid eine Entlastung des Gemüts

von dem Druck eben dieser Stimmung bewirke. ─ Bernays, wohl der beste

Katharsiserklärer, übersetzt: Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid

und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen)

Gemütsaffektionen. ─ Mitleid und Furcht nennt Klein (Gesch. d. Dramen V

338) ein tragisches Zwillingspaar, dem sodann Aug. Siebenlist (a. a. O. 55)

seine Stellung im Sinne Schopenhauers anweist. ─ Auch Otto Ribbeck (Anfänge

und Entwickelung des Dionysoskultus 1869 S. 59) erblickt die Aufgabe

der Tragödie in der Befreiung des belasteten Gemüts, in der Entladung stürmischer

Affekte.



Durch die Musen Melpomene und Thalia stellt die bildende Kunst die

Tragödie und die Komödie dar; jene hält die tragische Maske in der Hand,

diese die komische.



5. Vergleichen wir die Tragödie mit dem Epos und dem Roman, so

finden wir, daß es sich in diesen drei Dichtungsgattungen um eine hervorragende,

das Jnteresse in Anspruch nehmende Persönlichkeit handelt. Alle drei

zeigen das Eingreifen von Verhältnissen, die oft nicht vorauszusehen und

zu beherrschen sind. Alle drei bedingen endlich das Eintreten von Nebenpersonen,

welche das Schicksal des Helden verzögern oder auch rascher herbeiführen

helfen.

|#f0447 : 425|



Dabei sind aber doch große Verschiedenheiten zu bemerken. Während die

Tragödie (wie auch der Roman) den Eingriff einer höheren Macht in das

menschliche Dasein ─ jedoch eines Einzelnen ─ darstellt, zeigt dies das

Volks-Epos im großen Leben ganzer Völkerfamilien. Während der Held in

der Tragödie gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen muß, der er nicht gewachsen

ist, läßt er sich im Roman vom Schicksal und oft durch Zufälligkeiten und

andere Personen bestimmen, im Epos dagegen kämpft er nur gegen äußere

Feinde und geht im Verein mit helfenden Freunden in der Regel siegreich aus

dem Kampfe hervor. Wenn in der Tragödie die Nebenpersonen gerne als

Repräsentanten einer ganzen Klasse von Menschen, als eine verkörperte Gattung

von Charakteren, als Träger gewisser Jdeen angesehen werden wollen, gehören

dieselben im Roman nur einer gewissen Zeit und ihrer Bildung an. Jm

Epos sind die Personen natürliche Menschen mit ihren verschiedenen Eigenschaften,

guten oder bösen, keine Symbole wie in der Tragödie. Franz Keim,

der so rasch bekannt gewordene Dichter der Tragödie Sulamith, sagt scharfsinnig:

Jm Epos herrscht die Begebenheit, in der Tragödie die Person; im

Epos fragt man: Was wird dem Helden begegnen, in der Tragödie: Was

wird er thun? u. s. w.



§ 156. Der Held der Tragödie und die poetische Gerechtigkeit.



1. Der Held der Tragödie muß sich durch Bedeutendheit

(Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Nimbus) und Mut auszeichnen, um

den entgegen tretenden Schwierigkeiten (d. i. dem tragischen Konflikt)

gewachsen zu erscheinen.



2. Dabei braucht er in sittlicher Beziehung nicht vollkommen zu sein.



3. Das Geschick des Helden bedingt den einfachen tragischen Konflikt

oder eine sittliche Kollision.



4. Er erstrebt meist das Rechte und bewirkt das Gegenteil. Dies

ist die sogenannte tragische Jronie.



5. Der Held geht weiter, als es nach menschlicher Berechnung

klug ist. Dies führt seinen Untergang herbei und macht das Ende

tragisch.



1. Der tragische Held nimmt den Kampf mit den widrigen Verhältnissen

(d. i. dem tragischen Konflikte) auf. Aus diesem Konflikt erwachsen Leiden: verschuldete

(z. B. wenn Don Cäsar in der Braut von Messina sich tötet);

unverschuldete (z. B. wenn Jphigenia das Opfer des Gelöbnisses ihres

Vaters Agamemnon wird); physische (z. B. Maria Stuarts Gefangenschaft);

psychische (z. B. Ferdinand und Luise in Schillers Kabale und Liebe) u. s. w.



Soll uns der tragische Held nicht erbärmlich oder jämmerlich erscheinen,

so muß er sich durch Größe und Hoheit des Charakters, sowie durch Energie,

Kraft, Konsequenz, Unbeugsamkeit und Begeisterung auszeichnen, besonders wenn

er ein Repräsentant der Bildung, Sitte und Geistesthätigkeit seines Volkes sein |#f0448 : 426|



soll. Wo seine innere Freiheit in Kampf mit der äußern Notwendigkeit tritt,

darf er keine Gefahr achten, er muß das Unerreichbare erstreben, und nicht

zurückschrecken, wenn ihm auch noch so viele Schwierigkeiten (tragische Konflikte)

in den Weg treten.



Der Prinz von Homburg von Kleist verliert zwar den Mut. Aber bald

gewinnt er den Sieg über Feigheit und über menschliche Liebe zum Leben;

er verachtet sich und erhebt sich zu einer des Helden würdigen Jdealität. Auch

bei König Lear überragt der hohe ideale Sinn die menschlichen Schwächen. ─

Uriel Akosta von Gutzkow, welcher nicht einmal aus innerer Nötigung sich untreu

wird, ist kein gelungener tragischer Held.



2. Der Held braucht nach rein moralischem Begriffe in der Tragödie

gerade nicht immer ein sittlich hoher Charakter zu sein, ebensowenig wie im

Epos. Ja, er kann sogar ein Verbrecher sein (z. B. Karl Moor, Richard III.),

sofern sein Verbrechen eine Verirrung (ἁμαρτία) ist. Der Charakter darf

weder zu schuldlos sein, um die Wehmut zu verdienen, noch zu schuldvoll für

diese. Die Tragödie will sittliche Unvollkommenheit der Charaktere; denn sie

würde der Geschichte widersprechen, wollte sie Strafe vorführen ohne Schuld

des Helden. (Calderons Standhafter Prinz ist ausnahmsweise ein Held,

welcher schuldlos leidet.) Aristoteles sagt (Poet. 13): „Zuerst ist es klar, daß

weder tugendhafte Männer aus Glück in Unglück übergehend erscheinen dürfen

(denn das erweckt weder Furcht noch Mitleiden, sondern vielmehr Unbehagen), noch

böse (schlechte) Menschen aus Unglück in Glück, (denn das wäre am wenigsten

tragisch, insofern es gar keine unserer Anforderungen an eine Tragödie erfüllt,

da es weder unser Gerechtigkeitsgefühl befriedigt, noch auch Mitleid oder Furcht

erweckt), noch endlich einen vollendeten Bösewicht, der aus Glück ins Unglück

stürzt: denn eine solche Darstellung möchte wohl unserem Menschlichkeitsgefühle

Genüge thun, aber uns weder Mitleiden noch Furcht einflößen; denn das Mitleid

richtet sich auf den, der unverdient leidet; die Furcht auf einen unseresgleichen.

Daher wird, was solchen geschieht, weder Mitleid erwecken noch Furcht.

So bleibt nur, der zwischen den bezeichneten in der Mitte ist. Das ist aber

ein solcher, der weder durch Tugend und Gerechtigkeit sich erhebt, noch durch

Laster und Verderbtheit in's Unglück kommt, sondern durch irgendwelche Verirrung

(durch einen bestimmten Fehltritt). Und zwar muß es ein Hochangesehener

und Beglückter sein, wie z. B. Ödipus, Thyestes, und sonst aus dergleichen

erlauchten Geschlechtern die hervorstechenden Männer.“ Ein tadelloser

Tugendheld oder ein vollkommener Weiser wird nicht durch seine Schuld untergehen,

da er zur rechten Zeit den Zwiespalt mit einer andern Macht durch

Entsagung seines eigenen Willens aufheben wird.



Wenn den Helden der Widerspruch zwischen Gesinnung und Verhältnissen

in seinem Streben nur nicht wankend macht, wenn er im Konflikt mit den

Verhältnissen und beim Eingreifen des Schicksals nur nicht von seinem Willen

abläßt, wenn er im Unglück, in seinen der Schuld entwachsenen Leiden nur

nicht kleinmütig sich zeigt, wenn er seine Freudigkeit nur nicht verliert, so sind

wir für ihn gewonnen und interessieren uns für ihn. Wenn wir auch schließlich |#f0449 : 427|



das Unglück als die Folge seiner Schuld anerkennen müssen (vgl. Romeo,

der seine Schuld noch am Sarg vermehrt), so entziehen wir ihm doch unsere

Teilnahme nicht. Wir rechnen ihm diese Schuld (tragische Schuld) nicht an,

wir erklären sie vielmehr daraus, daß er die Ordnung der Dinge gestört hat,

daß er sich gegen die Gesetze einer Welt auflehnte, daß er zu viele Gegner

fand, denen er trotz seiner Energie zum Opfer fiel, daß er Unglück hatte; mit

einem Worte: wir erklären die tragische Schuld des Helden aus seiner geistigen

Anlage, aus den Verhältnissen, ohne ihn dafür verantwortlich zu machen.



3. Das Tragische, das wir I S. 100 erörtert haben, und wozu Aristoteles

schon den gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Verwundungen

&c. zählt, kann im Trauerspiel nur dann von Wirkung sein, wenn

es mit Notwendigkeit aus dem sittlichen Konflikt des Helden erwächst, wenn

Unglück eintritt, obgleich der Held in allen Pflichten treu ist, wenn der Strom

der äußeren Verhältnisse trotz alles ehrlichen Ankämpfens seinen Untergang

durch das schließliche Eingreifen des Schicksals bedingt, wenn die individuelle

Freiheit in Widerspruch mit höherer Naturnotwendigkeit gerät. (Beispiele: Hektor's

Untergang, Siegfried's Tod.) Wenn der Tod durch Zufall eintritt (z. B.

im Schiffbruch, im Gewitter), so kann man wohl auch von einem tragischen Ende

im gewöhnlichen Sinn sprechen, nicht aber im Sinn der Tragödie, wo der

Held in Kampf mit der bestehenden Weltordnung tritt.



Man unterscheidet in der Tragödie zunächst das Tragische des einfachen

Konflikts
(z. B. Ödipus' Jähzorn. Egmonts Unschlüssigkeit) vom

Tragischen der sittlichen Kollision (Beispiele: Antigone, die mit Pietät

und Staatsgesetz, das die Bestattung des Bruders untersagte, in Konflikt gerät,

ferner Wallenstein, bei dem die Gehorsam fordernde Unterthanenpflicht den Konflikt

bedingt, ferner der Tyrann Macbeth, der alle ermordet, welche ihm unbequem

sind. Sein Eingriff in die Weltordnung führt seinen Untergang herbei,

der tragisch, wehmuterzeugend wirkt, weil er eine sittliche Bedeutung hat und

weil man sagt, daß er bei seinem Charakter so handeln mußte). Hier ist es

das Zusammentreffen von unüberwindlichen, kollidierenden Verhältnissen und

Hindernissen, also die Situation, dort der eigenartige Charakter.



4. Man nennt es tragische Jronie, wenn der Held in die Schlingen

des seiner harrenden Strafgerichts verfällt, wo er schon im Begriff ist, den

Weg der Schuld zu verlassen, wenn er das Rechte zu thun vermeint und das

Gegenteil erreicht, wenn er also das Unglück auf sein Haupt heraufbeschwört ─

gerade durch die Mittel, die er zur Abwehr ergriffen hat. Vgl. den Ödipus

in der Sophokleischen Tragödie, oder den Orestes, der die Mutter erschlägt,

um den gemordeten Vater zu rächen, und der nun als Muttermörder von den

Furien verfolgt wird. Das Tragische liegt hier in der Situation, in die der

Held gerät, indem er den Willen der Gottheit ausführt und dann doch untergeht.



Hier liegt freilich die Auffassung des Werkzeugs nahe:



Jhr laßt den Armen schuldig werden;

Dann überlaßt ihr ihn der Pein ─

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
|#f0450 : 428|



Es ist die echteste Tragik, wo selbst Sühne ohne neue Pflichtverletzung

nicht mehr möglich ist. (Vgl. Pessimistenbrevier S. 299.)



5. Beim Tragischen des einfachen Konflikts geht der Charakter

durch seine Schuld unter, die tragisch und ethisch sein kann. (Beispiel

I 102.) Es beruhigt und versöhnt hierbei die Wahrnehmung einer sittlichen

Weltordnung neben der Mangelhaftigkeit menschlichen Daseins. Beim

Tragischen der sittlichen Kollision sieht man durch den Untergang des Helden

die unerbittlichen Pflichten und Forderungen einer moralischen Weltordnung

erfüllt, ersieht man die Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs:



„Es giebt keinen Zufall

Und was euch blindes Ohngefähr erscheint,

Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“



Eine gewisse Genugthuung (tragische Gerechtigkeit I. 101. 3; vgl. auch

den folgenden Paragraphen 157) gewährt der Hinblick auf

„Das große gigantische Schicksal,

Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“


(Schiller.)



Es wird die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen

des Tages herbeigeführt, welche nur durch den Jammer und das Fürchterliche

in die Welt kommen. (Freytag, Technik des Drama, sowie Masings, die tragische

Schuld.) Wenn der Held die ihm von der Vorsehung gesetzten Schranken

überspringt, wenn er weiter geht, als es nach menschlicher Berechnung klug

oder naturgemäß erscheinen mag, so wachsen ihm die Folgen seiner That (Schuld)

über den Kopf und er wird durch innere Notwendigkeit zu einem Ausgang

fortgerissen, den er nicht ahnte: er geht unter. Daher ist das Grundgefühl

des Tragischen die Wehmut. Da die Geschichte reich an solchen Beispielen ist,

so giebt es viele historische Tragödien.



5. Wallenstein geht unter durch unbegrenzte Herrschsucht, die allerdings

in seinem Herrscherberuf Entschuldigung findet; Maria Stuart durch Unbeugsamkeit

des königlichen Sinnes, der sich nicht durch unwürdige Behandlung

erniedrigen läßt.



§ 157. Die poetische Gerechtigkeit.



Der Untergang des Helden muß der Beweis einer Gerechtigkeit

sein, welche die Schuld sühnt. Dem Fehltritte des Helden muß die

Nemesis, das Eingreifen des Schicksals, auf dem Fuß folgen.



Jn der Antigone nötigt z. B. die List der mit Strafe bedrohten Wächter

die Antigone zur wiederholten Übertretung der Staatsgesetze, wodurch ihre

Entdeckung erfolgt. Jn Maria Stuart spricht der unzeitige, für die Heldin

begangene Mordversuch gegen sie u. s. w. Die in der Tragödie eintretende

Sühne heißt poetische Gerechtigkeit. Jene Sühne des frommen Glaubens, die |#f0451 : 429|



nicht in der Tragödie einzutreten braucht, kann man die ewige Gerechtigkeit

nennen.



Das tragische Element kennzeichnet die innere Freiheit gegenüber der

äußeren Notwendigkeit, die aber keine Naturnotwendigkeit ist, sondern

sich als unergründliche Macht des ewigen Schicksals darstellt. Es ist nicht

unbedingt nötig, daß der Held stirbt, wenn nur der Totaleindruck ein wahrhaft

tragischer ist, wenn uns nur das Gefühl erhebt, daß die große sittliche Jdee

eine Bestätigung fand. Dadurch, daß der Held sein Leben für Wahrheit und

Recht in die Schanze schlägt, wird das Jnteresse gesteigert und dem moralischen

Siege Bedeutung verliehen.



Dieser Sieg macht das Tragische der Jdee des Schönen entsprechend; er

bewirkt das Gefühl der sittlichen Läuterung durch die Wahrnehmung, daß alle

Fehltritte, aus welchen die Leiden erwuchsen, eine Sühne erhalten müssen.



Die Tragödie muß so angelegt sein, daß der Widerstreit von Verhältnissen

und Pflichten des Helden den tragischen Ausgang anschaulich herbeiführen. Die

widerstreitenden Verhältnisse verwickeln und steigern sich bis zur Katastrophe

immer mehr, bis endlich dieser tragische Ausgang die Lösung wird: „Alle

Schuld rächt sich auf Erden.
“ Dieser Gedanke wirkt so gewaltig, weil

er unseren sittlichen Begriffen entspricht. Er befriedigt trotz des Untergangs

des Helden. Wer die ihm von der Vorsehung gesteckten Grenzen

mutwillig durchbrechen will, stürzt sich in Verhältnisse, die

sein Lebensglück vernichten, ja, mitunter seinen Tod herbeiführen:

Dies ist die Lehre des Trauerspiels:
die Wirklichwerdung

jenes in der Menschenbrust liegenden Wunsches, daß der Mensch erntet, was

er säet, die sog. poetische Gerechtigkeit.



Der Philosoph des Pessimismus freilich, Arthur Schopenhauer, will (nach

Siebenlist a. a. O. 155 ff.) nichts von dieser poetischen Gerechtigkeit wissen;

er nennt sie ebenso Philisterei, wie Kants Postulate eines belohnenden

Gottes und einer belohnt werdenden unsterblichen Seele. Er meint, daß nur

Philister, welche an moralischem Werte Hiobs vernünftelnden Freunden gleich

zu achten seien, die poetische Gerechtigkeit erfunden hätten, damit die Tugend

doch wenigstens zuletzt etwas nütze. Nur im ungenialen z. B. Jffland'schen

Drama setze sich die Tugend zu Tische, wenn sich das Laster erbreche. Nach

Schopenhauer (II. 299 ff.) stellt bloß die glatte, optimistische, protestantischrationalistische

oder eigentlich jüdische Weltansicht die Forderung einer poetischen

Gerechtigkeit auf, während doch jeder, der etwas moralisch Ausgezeichnetes leiste,

den Lohn dafür abweise (IV. 262). Der wahre Sinn des Trauerspiels sei

die tiefere Einsicht, daß das vom Helden Abgebüßte nicht seine Partikularsünden

seien, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseins selbst, denn Calderon

habe recht, wenn er sage: Die größte Schuld des Menschen ist, daß er geboren

ward. Ja, Schopenhauer, dessen pessimistische Philosophie treffend als philosophisches

Requiem bezeichnet wurde, behauptet, daß alle großen Tragiker ─

Sophokles, Shakespeare, Calderon, Goethe ─ dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit

geradezu Hohn gesprochen und sie vernachlässigt hätten. „Was haben |#f0452 : 430|



die Kordelien, die Desdemonen, die Ophelien verschuldet? Jm König Ödipus,

im Hamlet, im Lear, im standhaften Prinzen, in Egmont u. s. w. fällt der

Unschuldige, der Edle, der Tugendreiche; das Laster triumphiert: γελῶσι

δ'ἐχθροί (Soph. Elektra 1153 ed. Dind.). Und liegt nicht in dem unschuldigen

Leiden und Tod der Dejaniere die Poesie gerade darin, daß keine

wirkliche Schuld auf ihr lastet, sondern des Anscheines dieser Schuld nur so

viel, daß sie sich darum Unruhe und Angst, und daß die andern ihr darum

Vorwürfe machen? (Gruppe, Ariadne S. 188.) Und sogar Schiller läßt den

Carlos und Posa elend enden!“ A. Siebenlist betrachtet die poetische Gerechtigkeit,

die a. a. O. 177 „roh materialistische Gerechtigkeit“ genannt ist,

als einen Eindringling in den Haushalt der Tragödie, denn für die Tragödie

als der erhabensten Dichtart müsse auch die erhabenste Moral Geltung haben,

und demnach müßten Gelüste, wie z. B. die Blutrache, oder das jüdische „Aug'

um Auge, Zahn um Zahn“ in ihr verstummen; hier gelte vielmehr: „Rechtet

einer mit dir um den Mantel, so gieb ihm auch den Rock!“ und „Schlägt

dich einer auf den rechten Backen, so halte ihm auch den linken hin!“ endlich:

„Mein ist die Rache!“



Wenn wir auch diese ewig gültige, versöhnende, mit unserer Forderung

einer ewigen Gerechtigkeit im Einklang stehende Anschauung gern acceptieren,

und wenn uns auch nichts ferner liegt, als eine moralische, „protestantischoptimistische

Tragödie“ zu befürworten, so läßt doch der Hinblick auf viele

wertvolle Tragödien, welche die poetische Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen,

bei der Anschauung und der ethischen Substanz unseres Jahrhunderts die Hervorkehrung

der poetischen Gerechtigkeit unseren Tragikern für neue Schöpfungen

eindringlichst empfehlen.



Der große Lessing, der in seiner Emilia Galotti der ewigen Gerechtigkeit

Ausdruck verleiht („Dort erwarte ich Sie vor dem Richter unser Aller!“), verwirft

doch die poetische Gerechtigkeit nicht, wenn er auch sagt: „Gut, daß es

noch eine andere Gerechtigkeit giebt, als die poetische.“ Dies beweisen seine

Aussprüche z. B. im 79. Stück der hamburgischen Dramaturgie, wo er sich

über Weißes Richard III. vernehmen läßt: „Er (Richard) ist so ein abscheulicher

Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen ähnlichen

Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern

Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn

zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur

auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das

Unglück, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missethaten, die wir mit

ansehen müssen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Faust gestorben ist.

Als der Königin dieses erzählt wird, läßt sie der Dichter sagen: Dies ist etwas!

─ Jch habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist

gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone

wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch als ein

Mann auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den Unwillen

schadlos halten, den ich das ganze Stück durch über den Triumph seiner Bosheiten |#f0453 : 431|



empfunden? .... Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe

befriedigen sollte, unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil

weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit giebt,

als die poetische!“ &c.



Vorzügliche Vertreter der poet. Gerechtigkeit waren 1. Samuel Johnson,

der s. Z. klassisch gebildete Shakespeare-Kritiker und Vorläufer der von

Siebenlist (a. a. O. 161) aufgezählten Antishakespeareomanen. 2. Julius

Frauenstädt und 3. Gottlieb Fichte, welch letzterer sich also vernehmen läßt:

„Jm Trauerspiele sind wir nicht eher befriedigt, bis wenigstens die Ehre des

unschuldig Verfolgten gerettet und seine Unschuld anerkannt, der ungerechte

Verfolger aber entlarvt ist und die gerechte Strafe erlitten hat, so angemessen

es auch dem gewöhnlichen Laufe der Dinge sein mag, daß dies nicht geschehe;

zum sichern Beweise, daß wir es nicht von uns erhalten können, dergleichen

Gegenstände, wie die Handlungen moralischer Wesen und ihre Folgen sind,

bloß nach der Kausalität der Naturgesetze zu betrachten, sondern daß wir sie

notwendig mit dem Begriffe des Rechtes vergleichen müssen. Wir sagen in

solchen Fällen, das Stück sei nicht geendigt; und ebensowenig können wir bei

Vorfällen in der wirklichen Welt, wenn wir z. B. den Bösewicht im höchsten

Wohlstande, mit Ehre und Tugend gekrönt, oder den Tugendhaften verkannt,

verfolgt und unter tausend Martern sterben sehen, uns befriedigen, wenn nun

alles aus und der Schauplatz auf immer geschlossen sein soll. Unser Wohlgefallen

an dem, was recht ist, ist also keine bloße Billigung, sondern es ist

mit Jnteresse verbunden.“ (J. G. Fichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung

1793, S. 48 ff.) Siebenlist (a. a. O. S. 161 ff.) weist nach, wie Schopenhauer

den „bausbackenen“ Standpunkt besonders Fichtes bekämpft, indem er

zugleich (a. a. O. 165) auszuführen versucht, daß sich auch Aristoteles im

13. Kap. seiner Poetik im allgemeinen ablehnend gegen die poetische Gerechtigkeit

verhalte u. s. w.



§ 158. Eigenartiges in der Technik der Tragödie.



1. Die Tragödie als die gewaltigst wirkende und schwierigste

Dichtungsgattung verlangt von ihrem Dichter das ernsteste Studium,

die größte Darstellungsgabe und Menschenkenntnis. Hier bewährt sich

der Ausspruch, daß der Gott der Dichtkunst zugleich der

Gott der Weisheit sei
.



Alle im § 20 ff. d. Bds. (S. 29─62) gegebenen Vorschriften

sind auch für den Bau der Tragödie maßgebend. Besondere Beachtung

erfordern jedoch außerdem noch:



a. der Stoff,



b. die Entwickelung der Handlung,



c. Sprache und Form der Tragödie.



a. Der Stoff. Die Tragödie lehnt sich bei der Wahl des Stoffes

gern an den Mythus, an die Sage, an die Geschichte an. (Vgl. S. 37 d. |#f0454 : 432|



Bds.) Am liebsten nimmt sie ein Bruchstück aus dem Leben eines hervorragenden,

hochgestellten Menschen, weil das Leben eines solchen großartigere

Verhältnisse mit sich bringt, welche Unbedeutendes übersehen lassen. Dieses

Bruchstück braucht nicht historisch treu verwendet zu werden.



Den griechischen Tragikern war Homer und seine Nachfolger (die sogen.

cyclischen Epiker) die Fundgrube für ihre Stoffe. Die Athener, die doch sonst

das Neue liebten, verlangten auf ihrer tragischen Bühne allbekannte typische

Figuren; sie wünschten alte liebgewordene historische Stoffe von Äschylus, von

Sophokles und dann von Euripides dramatisch dargestellt zu sehen.



Die ältesten deutschen Dramatiker schöpften aus der Litteratur z. B. Hans

Sachs aus der Bibel, aus Boccaccio, aus dem deutschen Heldenbuch, andere

aus der Weltgeschichte &c. Shakespeare schöpfte aus Sage und Geschichte.

Wir Deutsche seit Lessing ebenfalls. Die Anlehnung an das Geschichtliche hat

den Vorzug der Anschaulichkeit und des Jnteresses, und Jean Paul (in „Vorsch.“

S. 500) bemerkt daher treffend: „Ein bekannter historischer Charakter, z. B.

Sokrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt

sein Kognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft

schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“



b. Die Entwickelung der Handlung. Die Entwickelung der Handlung

verlangt die Herbeiführung und logische Anordnung spannender Ereignisse,

sowie geschickte, psychologische Motivierung des Darzustellenden. Hierzu ist dem

Dichter eine genaue Kenntnis des Lebens ─ auch in seinen Verirrungen nötig,

sowie ein scharfes und vorurteilfreies Beurteilungsvermögen in harmonischer Verbindung

mit dem richtigen Takt und Gefühl. Maß und Würde sind hier im

eminenten Sinn zu fordern.



c. Sprache und Form. Um die handelnden Personen scharf, klar

und bestimmt zu zeichnen, ist vom Dichter der Tragödie die edelste Sprach=

und Ausdrucksweise zu verlangen. (Vgl. § 38 S. 54 d. Bds.) Der höchste

Wohllaut und Schwung einer metaphorisch blendenden, glänzenden Diktion, und

eines energisch sententiösen, in Stichomythien ergreifenden Ausdrucks ist in der

Tragödie am Platz.



Ein wesentliches Erfordernis der Tragödie ist der sogen. tragische Stil.

Derselbe verträgt keine Untermischung leidenschaftlicher Partien mit Tiraden,

sententiösen Schnörkeln und lyrischen Exkursen; es herrscht bei ihm eine dem

Schwulst (S. 54 d. Bds.) entgegengesetzte Naivetät, sowie die reinste Sprache

des Gemüts in allen Affekten und in voller Wahrheit. Er vereint die Plastizität

des Ausdrucks eines Lessing mit der malerischen Jndividualisierung eines

Shakespeare. Zur Kenntnis des tragischen Stils wie überhaupt der Eigenart

in der Technik der Tragödie ist zu empfehlen das Studium des bahnbrechenden

klaren Lessing, des freilich nicht immer theatralischen Goethe, des zuweilen

phrasenhaften, doch bewundernswerten Schiller, des talentvollen, nur hie und

da schrullenhaften Kleist, der wegen eines Fehlers (angeblicher Aberglaube)

von der Kritik verhöhnten Stücke: Müllners Schuld und Raupachs Müller

und sein Kind, des durch Vertiefung und Charakteristik imponierenden Shakespeare, |#f0455 : 433|



des durch wunderbare Lösung der selbstgeschaffenen Verwicklungen wie

durch theatralische Technik hochbedeutenden Calderon (von dem Klein in Gesch.

d. Drama XI 18 ff. meint, daß ihm zu einem ganzen spanischen Shakespeare

der bacchische, gotttrunkene, poetische Humor fehle), des durch leidenschaftliche

Knappheit sich auszeichnenden Alfieri, des altclassischen Ödipus rex, sowie

der (besonders im Lustspiel) durch ihren intelligenten, espritreichen Dialog und

den scenischen Aufbau hervorragenden Franzosen. (Vgl. weiter unten Litteratur

der Tragödie.)



Über Lessings Sprache urteilt Aug. Lehmann (in Forschungen über Lessings

Sprache. Braunschweig 1875. Vorwort V): „Klarheit und Wahrheit, Einfachheit

und Natürlichkeit, Lebhaftigkeit, Kürze, Kraft und Kernhaftigkeit, Gewandtheit

und klangreiche Harmonie sind die Gestirne der Lessing'schen Sprache.“ Und

von Goethe bemerkt Jakob Grimm (Rede auf Schiller. Berlin. Dümmler. 1871.

S. 318) im allgemeinen: „Seine ganze Rede fließt überaus gleich und eben,

reichlich und gemessen; kaum daß ein unnötiges Wörtchen steht: Kühnheit und

Zurückhalten, Kraft und Milde, alles ist vorhanden. Hierin kommt ihm

Schiller nicht bei, der fast nur über ein auserwähltes Heer von Worten gebietet,

mit dem er Thaten ausrichtet, und Siege davonträgt, Goethe aber vermag

der schon entsandten Fülle seine Redemacht aus ungeahntem Hinterhalte,

wie es ihm beliebt, nachrücken zu lassen. Man könnte sagen, Schiller schreibe

mit dem Griffel in Wachs, Goethe halte in seinen Fingern einen Bleistift zu

leichten, kühnschweifenden Zügen. Goethe schaltet demnach in der Schriftsprache

königlich
“.



Um eine Vornehmheit im sprachlichen Ausdruck zu beweisen, bedienten

sich schon J. H. Schlegel, J. W. Brawe († 1758 im Trauersp. Brutus),

Weiße, dann aber der bahnbrechende Lessing der gebundenen Rede. (Bd. I

S. 311.) Seitdem entstanden sogar auch gereimte Tragödien (z. B. Faust

von Goethe).



Schiller schreibt an Goethe bezüglich der Umarbeitung des Wallenstein

aus Prosa in poetische Form: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine

poetisch=rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichtsbarkeit

als vorher, selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht

gut am Platze zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren

bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein

scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft,

und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden ....

Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen

wenigstens anfänglich konzipieren.“



Der dramatische Vers der griechischen Tragödie war ─ wie S. 55 d.

Bds. erwähnt ─ der trimeter jambicus mit seinen schönen Cäsuren ⏒ – ⏑ –

⏒ ‖ – ⏑ – | ⏒ – ⏑ –. (Vgl. Aristoteles Poet. c. 4. g. E. Rhetor. 3,8.)

|#f0456 : 434|



§ 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der

unserigen.



1. Die Architektonik bei unseren Tragödien ist verwickelter und

kunstvoller, als bei den griechischen.



2. Die griechische Tragödie entnimmt ihren Stoff hauptsächlich

der Sage und Geschichte; die deutsche verwendet auch erfundene, unserer

Zeit und Sitte entsprechende Stoffe.



3. Jn der griechischen Tragödie greifen die Götter zur Herbeiführung

der Katastrophe ein, in der unserigen schafft sich der Held

sein Schicksal selbst.



4. Bei den Griechen war der Heroismus ein treibender Faktor,

bei uns ist es vorwiegend die Liebesintrigue.



5. Unsere Tragödie gestattet mehr philosophische Behandlung als

die griechische.



6. Ferner bietet sie würdigere Behandlung und Darstellung der

Personen.



7. Bei den Griechen wurde der Wert einer Tragödie, abgesehen

von ihrer Anlage und Ausführung, hauptsächlich nach ihrer Aufnahme

seitens des Publikums bestimmt, während bei uns neben ihrer Technik

die ethische Tendenz mit entscheidend ist.



1. Die griechische Tragödie, deren Grundtypus der Dithyrambus war

(§ 102 d. Bds.), zeichnete sich durch Einfachheit der Grundhandlung und

durch absichtsvolle, durchsichtige Ausführung aus. Die Griechen brauchten nicht

viel mehr zu thun, als ihre Handlung durch deren Träger geschickt erzählen

zu lassen, da ja die Helden schon an und für sich bekannt und interessant

genug waren. (S. 430 d. Bds.) Ein Held, der den Griechen von Jugend an

teuer war, hatte keinerlei künstliche Verwicklungen und geschraubte Knoten zu

seiner Einführung nötig. Die Tragödie führte ihn meist nahe am Ziele der von

ihm repräsentierten Handlung ein; die Katastrophe trat oft schon im vorletzten

Akte ein ─ man wartete nur mit begeisterter Spannung auf den letzten Akt.

─ Diese Ausführung würde man bei der deutschen Tragödie geradezu unerhört

finden. Natürlich konnten die einfach heroischen Stoffe eines Euripides und Sophokles

nichts von den Verwicklungen unserer Tragödie wissen, weil sie meist den

einfachen Zeiten entnommen waren, wo nur Freie und Sklaven, Fürsten und

Heroen verkehrten; die Verwicklung war durchsichtig, einfach; nur in Beobachtung

der Natur (vgl. Argwohn zwischen Kreon und Ödipus; Geschwisterliebe zwischen

Antigone, Polynikes und Jsmene) waren sie bedeutend, obwohl auch hier nicht

übersehen werden darf, daß ihre den einfachsten Verhältnissen entsprungenen

Beobachtungen wenig philosophisch=abstrakte Reflexionen zeigten. Schopenhauer

sagt daher mit Recht: Shakespeare ist viel größer als Sophokles; gegen Goethe's

Jphigenie könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden.

(Vgl. die Darlegung Aug. Siebenlist's a. a. O. S. 359 ff., wie Schopenhauer |#f0457 : 435|



das Trauerspiel der Neueren höher stellt als das der Alten. Besonders

S. 362: „Die griechische Tragödie ist ein lautes Weh über das Possenspiel

des Lebens und seine Nacht und Verworrenheit: Auf diesem Boden kann Glück

und Ruhe nimmermehr gedeihen, sogar nicht einmal die Pflicht erfüllt werden!

Selbst wer das Beste will, begeht trotz seines Willens Verbrechen!“)



2. Die Fabel der griechischen Tragödie ist in der griechischen

Sage und Geschichte begründet,
während die deutsche Tragödie

häufig genug als Darstellung einer erdichteten Handlung nach ihrer inneren

Veranlassung anzusehen ist. Die reiche griechische Heroengeschichte machte dem

Dichter die eigene Erfindung überflüssig; er brauchte seinem gegebenen, historischen

Stoffe durch dichterische Behandlung lediglich Wert und Jnteresse zu verleihen.



Bei der griechischen Tragödie befriedigte und fesselte das durch den Stoff

und den Helden bedingte nationale Jnteresse, das die deutschen Tragödien (Tell

und einige andere ausgenommen) bis 1870 wenig kannten, weshalb wir alle

künstlichen oder künstlerischen Mittel für Erzeugung des Jnteresses anwenden

mußten.



3. Die Mittel und die treibenden Agentien bei der griechischen

Tragödie unterscheiden sich wesentlich von den unserigen. Die Griechen liebten

unvorhergesehene Ereignisse, den deus ex machina, das Dazwischentreten

höherer Wesen, wenn sie es auch verschmähten, die Götter in einer Weise in

die Handlung eingreifen zu lassen, wie es z. B. Shakespeare mit seinem Geist

beliebte. Bei den Griechen leiten und lenken die Götter das Ganze unsichtbar.

So muß z. B. Ägisth von Argos entfernt werden und Orest eben zur Zeit

ankommen, als der an Agamemnon begangene Mord gerächt werden soll. Der

nach unseren Begriffen hier waltende Zufall wird von den Griechen wie ein

schon vorhandenes Fatum angesehen. Anders ist es freilich mit Zufälligkeiten,

die zur Beschleunigung der Handlung im Laufe der Stücke eintraten.



Die Erscheinung der Götter lag in der griechischen Volksreligion begründet

und der Dichter bediente sich mit vollem Rechte des Volksglaubens, indem er

ihn der Bühne dienstbar machte. Der Fluch des Schicksals und die Vorverkündigung

wurden vom Volksglauben anerkannt. Uns fehlen Orakel und Seher,

jene Organe einer verletzten Gottheit, welche z. B. Müllner (in der Schuld)

nimmermehr durch seine Zigeunerin oder (in der Albaneserin) durch seine dämonischen

Mächte zu ersetzen imstande ist. (Nur Wallenstein liest emsig in

den Sternen und Johanna kämpft mit dem schwarzen Ritter &c.)



Unseren christlichen Begriffen von der Vorsehung widerstrebt das Walten

eines harten Verhängnisses, das selbst den Unschuldigen vernichtet, oder mindestens

sein Lebensglück zerstört. Das Erhabene, wahrhaft Befriedigende liegt

uns in der durch die Tragödie verkörperten Wahrheit, daß eine ewige Gerechtigkeit

auch den Höchstgestellten ereilt, sobald er ─ Schuld begeht, daß aber die

Jdee siegt, wenn auch der einzelne untergeht, daß Weltordnung und Gesetz

unwandelbar sind, auch wenn die Edelsten dagegen den Kampf aufnehmen

(S. 427 d. Bds.). Aber die Änderung des Lebensschicksals, die Umkehr in

andere Bahnen liegt im freien Willen des Helden. Deshalb ist unser Held |#f0458 : 436|



freier, verantwortungsreicher, als der einer psychologischen Gestaltung wenig

fähige typische Held der Griechen, über dessen Haupt sein Schicksal schwebt.



Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.



Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christliche

Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der

stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch

unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich

notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben

des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen

unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel

dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen

der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich

hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht

völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven

Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)



4. Die Anschauungen der Griechen von dramatischer Vollkommenheit mußten

auch aus inneren Gründen von den unsrigen abweichen. Bei ihnen findet

man allenthalben Heroismus, heroische Sujets, der Schwerpunkt ihrer Katastrophen

fällt in die Staatsidee, in den Staatszweck, während bei uns die

Liebe und die Liebesintrigue als ein Hauptmotiv der Tragödie eine große Rolle

spielt. Bei den Griechen hatte das Weib eine untergeordnete Stellung, während

es uns ebenbürtige Genossin ist, so daß unsere Tragödien eine Reihe hocherhabener

Frauencharaktere aufweisen. Wie somit die Griechen die modernideale

Liebe (die Geschlechtsliebe) als treibendes Moment in der Tragödie nicht

benützen konnten, so würden sie auch eine Tragödie nicht anerkannt haben, in

welcher diese modern=ideale Liebe das belebende Agens gewesen wäre.

Gebrochene Herzen aus verschmähter Liebe würden ihnen eben geradezu unverständlich

gewesen sein. Allerdings hat Euripides in der Alkestis und im Hippolyt

eine zärtliche Gattin und ein Weib im Kampf mit Unschuld und sinnlicher

Leidenschaft vorgeführt; aber die Behandlung und dichterisch leidenschaftliche

Entfaltung unterscheidet sich doch grundwesentlich von unserer modern=deutschen,

aus dem Christentum erwachsenen Behandlungsweise.



Die Griechen besaßen große Helden mit einer gewaltigen Leidenschaft; ich

erinnere an den zürnenden Achill, den rasenden Aias, die rachebrütende Elektra

(παῖσον εἰ σθένεις διπλῆν), die alles der Pietät opfernde Antigone, die

rachesüchtige Medea &c.; aber sie besaßen aus dem obigen Grund keine Liebeshelden,

keinen Romeo, keine Julia. Siebenlist (a. a. O. S. 424) sagt: Von

Äschylos darf man behaupten, er habe nicht ohne volles Bewußtsein von den

gewöhnlichen erotischen Stoffen keinen Gebrauch gemacht. Wenigstens rechnet

er es sich bei Aristophanes sogar zum Verdienst an, niemals ein liebendes Weib

auf die Bühne gebracht zu haben. Dafür schildert er eine Abart der Liebe,

die, mag sie auch ihrer ideellen Seite nach nichts Bedenkliches haben, gleichwohl

immerhin etwas Fremdartiges an sich trägt, das dem modernen Menschen selbst

durch Paul Heyses Tragödie Hadrian, in welcher das Verhältnis dieses edlen |#f0459 : 437|



Kaisers zu dem schönen Jünglinge Antinous dramatisch behandelt wird, bloß

um weniges näher tritt &c. Mit Recht sagt Klein (Gesch. des Drama III

536): Der griechische Kunst- und Staatsgeist konnte die Liebe nur individualisiert,

verhüllt und maskiert, gleichsam in festbegrenzten, naturbestimmten, in sich

selbst abgeschlossenen, also immer noch selbstischen Formen erschauen. Über den

Nationalitätsbegriff, den Staats- und Familienkultus, die Stammesliebe und

Freiheit, und Aufopferung für diese Liebe und Freiheit erhob sich die Menschheitsidee

der Griechen nicht. Nur unter dieser Gestalt tritt die Liebe in ihrem

Drama auf, als Haupttriebfeder und Läuterungsmotiv. Vater=, Bruder=

Schwesterliebe, Aufopferungsliebe für Staat und Stadt: darin verläuft und

erschöpft sich der tragisch=ethische Reinigungsprozeß im griechischen Drama. Die

Geschlechterliebe, selbst in ihrer reinsten Form als bräutliche und Gattenliebe,

tritt hinter jene so entschieden zurück, daß sie in der ungefälschten, großen

Tragödie nicht als Hauptmotiv wirken, nicht als heroische Leidenschaft sich

hervorstellen darf. ─



5. Bei unseren meist philosophischen Wahrnehmungen, wo Wunsch mit

Wunsch, Empfindung mit Gefühl, Leidenschaft mit verdeckter Begierde kämpfen,

gestaltet sich natürlich die Darstellung und Bearbeitung der Tragödie

philosophischer. Wir haben auch weit mehr Bedürfnis zur Menschenbeobachtung,

um das Raffinement verkehrter Bildungen verstehen zu lernen und in die

Kombination der Leidenschaft und des Affekts einzudringen, als dies bei den

Griechen der Fall war. Weiter ist unser geistiges und nationales Leben ein

so eigenartiges, daß uns dadurch schon eigene Bahnen gezogen sind. Unsere

philosophische Entwickelung drängt uns, z. B. die Leidenschaft eigenartig, typisch

zu verwerten. Die Leidenschaft an sich hat sich im Leben der Völker, im Laufe

der Jahrhunderte mit dem Streben nach Besitz, Wohlstand, Glück und Liebesgemeinschaft,

mit der Veredlung der Lebensweise und dem zunehmenden Luxus,

mit dem Emporquellen des Lasters (man betrachte den Hof eines Ludwig XIV.),

mit dem kriechenden Wesen, mit Neid und Verstellung anders entfaltet, als

das früher bei den einfachen Griechen, ja, selbst noch zur Zeit des schwelgerischen

Tiberius und seiner Nachfolger der Fall war.



Bei der griechischen Tragödie war es das Eingreifen der Götter, oder

das Handeln gottähnlicher Personen, welche den musikalischen Rhythmus, die

Deklamation, die rhetorischen Erörterungen, die Chorgesänge zwischen jedem Akte

und den ganzen feierlichen Ton der Tragödie erzeugten. Bei uns wird der

Ton und die Haltung der Tragödie durch Zeichnung der Seelenzustände, durch

psychologische Motivierung, durch philosophische Entfaltung der eigenartigen Jdeen

geschaffen. Natürlich mußten die Alten innerhalb der Grenzen des allgemeinen

bleiben, während wir bis in's Detail der Leidenschaft und Empfindung zur

Erreichung unserer Absicht vordringen können. Bei den Griechen mußte die

wenig philosophisch wirkende Tragödie dem großen Volke verständlich sein. Bei

uns kann der Dichter schon einige Schritte dem Publikum voraus sein (nach

Lessing soll er es sogar). Jn dieser Hinsicht kann man Goethe keinen Vorwurf

machen wegen der philosophischen Durchdringung seiner Jphigenie. „Jch |#f0460 : 438|



bewundere, (sagt Manso, dem wir hier folgen), eine deutsche Jphigenie, ich

setze sie ohne Bedenken weit über die griechische, ich glaube, so würde der philosophische

Euripides geschrieben haben, wenn er in unseren Tagen gelebt hätte,

aber diese sanft gehaltenen Charaktere, diese feineren Schattierungen der Leidenschaft,

dieser hohe Adel in den Gesinnungen, diese gedankenschweren Sentenzen,

diese so abgemessenen Verse sind nicht für die trägen Herzen und blöden Augen

und dicken Ohren des Volks.“



Jch für meinen Teil zweifle nicht an der, wenn auch zukünftigen volkstümlichen

Bedeutung und Bestimmung von Kunstwerken, die das Volk auf der

augenblicklichen Bildungsstufe schwer versteht.



6. Endlich sind unsere Helden menschlicher, als die der Griechen, was

mit unserer nationalen und religiös sittlichen Bildung zusammenhängt. Menschlichkeit,

Toleranz, Versöhnlichkeit &c. sind Charaktereigentümlichkeiten unserer, die

stilleren Tugenden des Herzens pflegenden Nation geworden; den Griechen

zeichnete eine exponierte Vaterlandsliebe aus, die ihn zur Tapferkeit, zur Härte,

ja, zur Grausamkeit führte. Wenn nun die Tragödie die poetische Zeichnung

des wirklichen Lebens einer bestimmten Zeit ist, so bedingt das die Verschiedenheit

unserer und der griechischen Charaktere. Eine dem Feinde die Augen ausbohrende

Hekuba, ein Orest und eine Elektra, die kalten Herzens über den Tod

der Mutter zu Rat gehen, endlich eine Frau als Opferschlachterin &c. würden

bei unserer Anschauung geradezu widerlich wirken und dadurch unmöglich sein.



Freilich hatten es die griechischen Dichter insofern leichter, als sie durch den

bequemen Fatalismus den größeren Teil der Schuld ihrem tragischen Helden

abnahmen und den Gestirnen zuschoben. Jhr unglücklicher Held konnte auf

Teilnahme rechnen trotz seiner unnatürlichen, menschenunwürdigen Handlungsweise.

─ (Orestes, der die Mutter töten muß, erregte Mitgefühl, denn der

Gott hat ihm ja seine That befohlen und die Unterlassung mit furchtbarer Strafe

bedroht u. s. w.)



7. Während wir mit Aristoteles den Vorzug unter den Trauerspielen des

Sophokles dem König Ödipus geben, haben die Griechen den Preis der

in Anlage und Ausführung weit geringeren Antigone zuerkannt, so daß dieselbe

32mal aufgeführt wurde und dem Dichter als Lohn für die Festaufführung,

welche eigentlich gottesdienstlich war, die Befehlshaberstelle über das

nach Samos befehligte Heer eintrug.



Den Wert einer Tragödie bestimmte bei den Griechen (wie das vorstehende

Beispiel zeigt) vorzugsweise die Aufnahme und das Jnteresse des

Publikums.



Für unsere Beurteilung ist diese Aufnahme zwar auch nicht unwesentlich,

doch ist sie nicht in der obigen Weise maßgebend. Unsere Anforderungen sind

andere geworden nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern besonders was unsere

heutigen Begriffe von Sitte, Tugend und die durch das Christentum ausgebildete

und vervollkommnete Sittlichkeit betrifft. Wir würden z. B. eine Tragödie

mit unsittlichen Tendenzen zu verwerfen haben und wenn sie den begeistertsten

Beifall des Theaterpublikums finden würde. Die griechische Tragödie |#f0461 : 439|



mit ihrem wirkungerhöhenden, erläuternden, beifallkündenden Chor würde auch

in der äußern Darstellung bei uns keinen Erfolg mehr haben. Sie wurde am

Tage unter freiem Himmel aufgeführt. Die Darsteller trugen meist etwas entstellende

Masken, lange schleppende Gewänder, den Bühnenschuh (Kothurn von

κόθορνος). Unsere Zeit, welche lebensvolle Wahrheit verlangt, würde solche

Mummerei belächeln u. s. w.



§ 160. Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein

praktisch erläutert.



Nachdem wir bereits § 35 S. 49 d. Bds. eine Tragödie nach

ihrer formellen Seite als Beispiel für den Bau des Drama analysiert

haben, erübrigt noch, eine einzelne Tragödie in ihrer Anlage und in

ihrem Werden dem Blicke klar zu legen. Wir wählen die durch ihre

kräftige Charakteristik, durch ihre großartige Bewegung geschichtlicher

Personen, wie durch ihre sich stets steigernde Energie der Handlung

hochbedeutende Tragödie Wallensteins Tod von Schiller und entwickeln

hierbei:



1. Den ihr zu Grunde liegenden geschichtlichen Stoff im Umriß;



2. Die Handlung in ihrem Verlauf;



3. Die Charakteristik.



1. Geschichtliches in der Tragödie Wallensteins Tod.



Der Held Albrecht Graf von Waldstein, Herzog von Friedland und Generalissimus

der österreichischen Armee im 30jährigen Kriege, wurde am 15. September

1583 von utraquistischen Eltern auf dem Gute Hermanik in Böhmen

geboren. Früh verwaist wurde er in das Jesuitenconvikt gebracht und katholisch

erzogen. Er bezog 1594 (nach andern 1599) die Universität Altdorf bei

Nürnberg, wo er sich durch unruhiges, jähzorniges Wesen wiederholte Karzerstrafen

zuzog. Der Markgraf Karl von Burgau zu Jnnspruck nahm ihn als

Pagen in seinen Dienst (vgl. 4. Akt 2. Auftr., wo Gordon sagt, daß er

gleichzeitig mit ihm Page am Hof von Burgau gewesen sei und hinzufügt, Wallenstein

sei dort zur katholischen Kirche übergetreten). Nach längeren Reisen durch

Frankreich, Niederlande, Deutschland &c. setzte Wallenstein seine Studien zu

Padua in Mathematik, Politik und besonders in Astrologie fort. Jm Jahre

1606 machte er einen Feldzug gegen die Türken mit und wurde Hauptmann.

Er vermählte sich mit einer reichen, bejahrten Wittwe und konnte nun als

Besitzer ausgedehnter Ländereien in Mähren und von 14 Gütern in Böhmen

am Hof des Mathias zu Wien glänzend auftreten. So warb er 200 Reiter,

um sie dem Erzherzog Ferdinand 1617 im Kriege gegen Venedig zur Verfügung

zu stellen, wofür seine Ernennung zum Obersten erfolgte. Jn den

Grafenstand wurde er 1617 erhoben, 3 Jahre nach dem Tode seiner Frau,

als er sich mit der Tochter des Grafen v. Harrach vermählte. Von den Rebellen |#f0462 : 440|



1619 vertrieben, warb er 1000 Kürassiere und kämpfte ruhmvoll in

der Schlacht am weißen Berge (8. November 1620) gegen Friedrich V. Zur

Belohnung wie zur Entschädigung für seine verwüsteten Güter belehnte ihn der

Kaiser Ferdinand (1622) mit der Herrschaft Friedland in Böhmen und erhob

ihn 1623 zum Fürsten und 1624 zum Herzog von Friedland. Als sich 1626

König Christian V. von Dänemark an die Spitze der Protestanten stellte, rettete

Wallenstein den Kaiser aus großer Verlegenheit, indem er sich erbot, 50,000

Mann zu werben, wenn ihm die Oberbefehlshaberstelle mit der Berechtigung übertragen

würde, brandschatzen und die Anführerstellen selbst vergeben zu dürfen.



Die Soldaten ergriff ein wunderliches Grauen, wenn Wallenstein ernst

und schweigsam durch ihre Reihen ritt. Sein Anzug war fast phantastisch.

Hosen und Mantel waren von Scharlach; sein Reiterrock von Elennshaut;

sein Halskragen war spanisch gekräuselt; auf seinem Hute trug er eine rote

Feder und um den Leib eine breite rote Binde.



Der bayerische General Tilly verlangte Hülfstruppen; Wallenstein forderte

dafür Unterwürfigkeit. Der stolze Tilly verweigerte diese und erhielt die

Truppen nicht. Am 18. April 1626 schlug Wallenstein den Grafen von Mansfeld

an der Dessauer Brücke. Dieser wandte sich durch Schlesien nach Ungarn.

Wallenstein folgte ihm (3. Akt 15. Auftritt) und Mansfeld ging nach Dalmatien,

wo er starb. 1627 vertrieb Wallenstein die weimarschen Truppen

aus Oberschlesien und brach durch die Mark Brandenburg in Mecklenburg ein,

vertrieb die Herzöge, und eroberte Schleswig und Jütland. Jm Mai

1628 verlor er in fruchtlosen Stürmen auf das von Dänen und Schweden

gut verteidigte Stralsund mehr als 12,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: „Den

Admiralshut rißt ihr mir vom Haupt“), 1629 schloß er mit den Dänen

Frieden und lebte nun mit großer Pracht in Güstrow, wo Kepler sein Hofastrolog

war. Eine Flut von Klagen über Brandschatzungen und Erpressungen,

in neutralen Landen veranlaßte den Kaiser auf dem Reichstag zu Regensburg

1630, ihn zurückzurufen. Wallenstein, der sich in Memmingen befand, zog

sich nun auf seine Güter nach Böhmen zurück, und seine Truppen kamen unter

Tillys Oberbefehl. Als aber Gustav Adolf Fortschritte machte und die Sachsen

sich der böhmischen Grenze näherten, erhielt Wallenstein den Auftrag, Unterhandlungen

mit den Sachsen anzuknüpfen und sie vom schwedischen Bündnis

zu trennen. Nun drangen die Schweden in Bayern ein. Tilly fiel am Lech.

Wallenstein wurde bestürmt, die Oberfeldherrnwürde anzunehmen. Der Kaiser

mußte (April 1632) die demütigende Bedingung eingehen, daß er nie beim

Heere erscheinen wolle, und Wallenstein das Recht habe, frei zu schalten und

zu begnadigen, daß er beim Frieden Mecklenburg wieder erhalte, und daß ihm

während des Krieges im Notfall alle kaiserlichen Erbländer offen stehen sollten.

Schnell warb er ein Heer von 40,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: Es ist

leichter 60,000 Mann aus nichts hervorzulocken), eroberte im April 1632

Prag, vereinigte sich bei Eger mit den bayerischen Truppen, die sich seinen Anordnungen

fügen mußten und belagerte Nürnberg (1. Akt 5. Auftritt), wo

Gustav Adolf vergeblich sein Lager stürmte (August 1632). Nach des letzteren |#f0463 : 441|



Abzug wandte er sich mordend und brennend nach dem Norden. Gustav Adolf

zog ihm nach und lieferte ihm am 16. November 1632 die berühmte Schlacht

bei Lützen, die Gustav Adolf das Leben kostete. Der zum erstenmal besiegte

Wallenstein mußte verwundet und mit dem Verlust seiner Geschütze das Schlachtfeld

verlassen, das die Schweden unter Bernhard von Weimar behaupteten. Jm

folgenden Jahre marschierte er neu ausgerüstet gegen Schlesien, wagte aber

nicht einmal das kleine Häuflein Schweden anzugreifen, (1. Akt 5. Auftritt),

weshalb er in den Verdacht geriet, mit den Schweden im Bund zu

stehen, um sich durch Unterstützung der Protestanten zum Könige von Böhmen

zu erheben. (1. Akt 5. Auftritt „indem er mir zur böhm'schen Kron' verhelfe.“)

Als Wallenstein am 11. Januar 1634 zu Pilsen dem versammelten

Kriegsrate seine Beschwerden gegen den Kaiser wegen mehrfacher Kontraktsverletzungen

vorgelegt hatte, und die Generäle teilweise für seine Absicht gewonnen

waren, erkannte man auf Anzeige Oktavio Piccolominis, Gallas' und

Aldringers in Wien die Gefahr. Unterm 18. Februar 1634 wurde Wallenstein

entsetzt und mit seinen beiden Generälen Jllo und Terzky geächtet. Zugleich

wurden verlässige Generäle befehligt, sich Wallensteins lebendig oder tot

zu bemächtigen. Die Verschworenen töteten ihn am 25. Februar 1634, nachdem

sie seine vertrautesten Freunde bei einem Gastmahl niedergemacht hatten.

Schweigend und mit ausgebreiteten Armen empfing er der Hellebarde tötlichen

Stoß in die Brust.



Von seinen Papieren konnte keines den Nachweis des ihm schuldgegebenen

Verrats liefern. Sein Biograph Fr. Förster will sogar seine Unschuld bebewiesen

haben.



Seine Gelder, seine Besitzungen wurden denen gegeben, die seinen Untergang

herbeigeführt hatten. ─



Wallenstein war unermüdlich thätig, ehrsüchtig, ein Feind der Geistlichkeit,

ohne Achtung vor der Religion, verschwenderisch in Errichtung von Gebäuden und

in Unterhaltung eines glänzenden Hofstaats. Nach seiner Ächtung schien er

die Vereinigung mit dem Feind gesucht zu haben, welche für den Kaiser von

unberechenbar schlimmen Folgen gewesen wäre &c. ─ Schiller hat seiner Tragödie

die beiden nicht historischen (erdichteten) Personen Max, Sohn des Piccolomini,

und Thekla eingefügt. Es sind Jdealfiguren, welche dem Ernst-Erhabenen

das sentimentale Element hinzufügen.



2. Die Handlung der Tragödie in ihrem Verlauf.



Erster Akt. Wallenstein ratschlagt im astrologischen Turme mit Seni

über sein Geschick. Alles ist günstig, Wallenstein freut sich über den Stand

des Saturn. Da beginnen bereits die Fäden seines späteren Schicksals. Terzky

meldet, daß der Unterhändler Sesina gefangen sei und alle Briefe in des

Kaisers Hand sich befänden. Um sich zu retten, müsse man vorwärts; Wallenstein

erschrickt. Noch könnte er die Freiheit des Willens beweisen, wenn nicht

alles sich zu seinem Untergang vereinigte. Der Gesandte Schwedens, Wrangel,

verlangt raschen Entschluß und bietet die Krone Böhmens. Wallenstein kann |#f0464 : 442|



nicht mehr zurück. Er glaubt auf das Heer rechnen zu können und den Schweden

trauen zu dürfen. Doch erinnert er sich seiner Pflicht und wird wankelmütig.

Die Gräfin Terzky zeigt verlockend die Größe des Erfolgs und erinnert an des

Kaisers Undank. So spinnen sich in der Exposition die Fäden, die das Netz

bilden, um den Helden zu umstricken. Der Schritt ist geschehen, welcher Wallenstein

in's Unglück führt. Die eigentliche Tragödie beginnt.



Zweiter Akt. Max will Wallenstein retten durch ernste Warnung und

Hinweis auf die Pflicht. Es ist zu spät. Wallenstein hat mit den Schweden

abgeschlossen und Eilboten nach Prag geschickt, um von dort gegen den Kaiser

vorzugehen. Er vertraut dem Oktavio, der aber insgeheim zum Kaiser hält

und alle Pläne Wallensteins vereitelt.



Das kaiserliche Manifest, welches Wallenstein ächtet und dem Oktavio das

Kommando überträgt, führt den wankelmütigen Jsolani zur Pflicht zurück.

Den ernsten Buttler kann Oktavio dem Wallenstein nur dadurch untreu machen,

daß er ihm nachweist, wie ihn Wallenstein um den Grafentitel gebracht habe.

Dies entflammt Buttlers Rache. Oktavio ahnt dessen plötzlich entstehende

schwarzen Mord-Pläne, ohne sie zu beabsichtigen.



Max will dem Vater nicht folgen, da sein Weg der krumme sei. Er

liebt Thekla, Wallensteins Tochter, und will nur von seinem Herzen sich leiten

lassen. Den Argwohn seines Vaters Oktavio, daß er gegen ihn kämpfen könne,

widerlegt er durch die Erklärung, er werde fechtend fallen, oder die vom Vater

zurückgelassene Bedeckung aus Pilsen führen. Er vergißt, dem Vater die Abschiedshand

zu reichen, fällt ihm aber um den Hals, als dieser fragt, ob er

keinen Sohn mehr habe.



Dritter Akt. Die Terzky erblickt in der Liebe des Max zu Thekla das

willkommene Mittel, welches Max an Wallenstein unlöslich binden soll. Thekla

soll Max ermutigen, damit er für Wallenstein eintrete. Aber Thekla erbebt

vor dem Vergehen des Vaters. Dieser will nichts von der Werbung des Max

hören und ruft aus, er gedenke die Thekla nur „um ein Königsscepter loszuschlagen.“

Die Warnung der Gemahlin, er möge nicht bis in die Wolken

fort bauen, beachtet er nicht.



Hier beginnt eigentlich schon die Peripetie: der Umschlag der Handlung

zum Unglück.
Die Hiobsposten lösen sich rasch ab. Buttler scheint

der alleinige Treue zu sein. Er meldet Oktavio's Verstellung, das vereitelte

Unternehmen zu Prag, den Abfall der Regimenter und die Ächtung.



Diese Mitteilung fordert Wallensteins höchste Thatkraft heraus. Er entschließt

sich mit frischer Energie zum Kampf für sein Leben. Den Freunden

ruft er Mut zu und rechnet vor, daß er mit den 5 Regimentern Terzky'scher

Truppen und mit „Buttler's wackern Scharen,“ zu denen 16,000 Schweden

am folgenden Tag stoßen würden, stark genug sei. Am meisten schmerzt ihn

Oktavio's Verrat, und er neigt sich mit um so größerem Vertrauen zu Buttler

hin, der kalt für ihn bleibt und nun seinen Fall um so sicherer vorbereitet.

Buttler sieht kaum, wie die Pappenheimer, durch Wallensteins Worte gefesselt,

schon halb für ihn gewonnen sind, als er durch die schlaue Nachricht, daß |#f0465 : 443|



Terzky's Grenadiere die kaiserlichen Adler von ihren Fahnen reißen, sie dem

Wallenstein wieder abspenstig macht. Neue Hoffnung durch das Erscheinen des

Max. Dieser ist gekommen, Abschied zu nehmen. Wallenstein sucht ihn an

sich zu fesseln. Jn heftigem Kampfe mit sich glaubt Max von Pflicht und

Eid sich gebunden. Er ist unschlüssig und legt die Entscheidung in Thekla's

Hand. Wahrheit und Unschuld siegen. Thekla ruft: „Fort, eile, deine gute

Sache von unsrer unglückseligen zu trennen.“ Zur Entscheidung drängend

fordert ihn Wallenstein auf, den Kampf mit ihm zu wagen. Aber Max will

nur die ihm anvertrauten Regimenter wegführen; zu kämpfen mit ihm wolle

er vermeiden, denn auch feindlich sei ihm sein Haupt noch heilig. Schon rücken

die Pappenheimer vor's Schloß, um Max zu befreien; sie töten den Adjutanten

Wallensteins; und als Wallenstein vom Altan den empörten Sinn in's alte

Bette des Gehorsams zurücklenken will, da werden seine Worte durch kriegerisches

Spiel und durch ein Hoch auf den Kaiser erstickt. Ein ergreifender

Moment von tragischer Bedeutung hat sich herausgebildet. Die Truppen des

Max dringen unter klingendem Spiel in den Saal. Wallenstein giebt Max

frei und wendet ihm den Rücken. Wie schwer wird Max die Trennung! Er

fleht vergeblich: Noch einmal zeige mir Dein verehrtes Antlitz. Er wendet

sich an die Base Terzky, an die Herzogin, und zweideutigen Blickes an Buttler

mit der Bitte, ihm die Hand darauf zu geben, daß er Wallenstein's Leben

schützen wolle. Dieser zieht die Hand zurück und Jllo ruft, er möge die Verräter

in seines Vaters Lager suchen. Schmerzlich bewegt reißt er sich los;

in Verzweiflung ─ den Tot suchend ─ giebt er sich seinem Schicksal hin.

„Der Rachegöttin weih ich eure Seelen! wer mit mir geht, der sei bereit zu

sterben!“ so ruft er abgehend den Seinen zu.



Vierter Akt. Wallenstein begiebt sich nach Eger, da er sich in Pilsen

nicht mehr sicher fühlt. Den Empfang hat ihm Buttler bereitet. Das Verhängnis

rückt näher und näher. Jeden Rettungsweg schneidet Buttler ab; an

Böhmens Grenze soll Wallensteins Gestirn untergehen.



Der Kommandant Gordon, der Jugendfreund Wallensteins, will's nicht

glauben, daß dieser ein Verräter sei. Aber die Unterhaltung Wallensteins mit

dem Bürgermeister, die Gordon mit Buttler anhört, hebt seine Zweifel. Als

ihn Wallenstein mit Buttler bemerkt, spricht er unbefangen mit ihm, wie in

früherer Zeit.



Nun scheint eine günstige Wendung einzutreten. Die Schweden haben

einen unerwarteten Sieg errungen, aber gegen Max ─ und dieser ist

gefallen.



Buttler enthüllt Gordon seinen Plan. Dieser will nicht teilnehmen, bis

ihn Buttler unter Vorzeigung des kaiserlichen Manifests für die Folgen verantwortlich

macht, falls der Streich nicht vor Ankunft der Schweden geführt

sei. Bei einem Gastmahl zur Feier der anrückenden Schweden sollen Jllo und

Terzky fallen; beide sollen Wallenstein im Tode vorangehen. Nochmals sucht

Gordon das Felsenherz Buttlers zum Edelmut zu stimmen. Vergebens! Ohnmächtig

ruft er: „Jhn rette ein Gott aus Eurer fürchterlichen Hand.“ Die |#f0466 : 444|



letzte Nacht des allmächtigen Helden ist gekommen. Noch einmal verkehrt Wallenstein

mit den Seinigen. Er fühlt Theklas Schmerz; doch hält er sie stark

genug, um die Todesnachricht aus des Boten Munde zu vernehmen; sie ─

vor kurzem noch im Glück ─ und jetzt im Übermaß des Schmerzes!



Sie ermannt sich. Die Sehnsucht nach dem Geliebten läßt den Entschluß

in ihr reifen, noch in der Nacht nach dem Kloster zu eilen, wo sein Leichnam

liege. Welchem Schicksal wird sie entgegen gehn? Dem Stallmeister, der die

Pferde schafft, kündet sie an, daß er nicht zurückkehren werde. Der Mutter sagt

sie in schmerzlichstem Bewegtsein „Gute Nacht“.



Fünfter Akt. Buttler trifft die Anordnungen für das Reifen seiner

schwarzen Pläne. Wallenstein erhofft vom nächsten Tage den Anfang neuer

Macht. Dem schwedischen Hauptmann giebt er die Versicherung, daß die

Festung dem Einzug offen stehen solle.



Hiermit hört er auf, sich in seinen Plänen als General zu zeigen. Nur

als fühlender Mensch tritt er noch auf. Er spricht wehmütig über den Tod

des Max. Er ist ruhebedürftig und will zu Bett gehen. Am Himmel ist

noch Leben; er sieht seinen Stern, den Jupiter, mit Wolken bedeckt. Seine

Schwester erzählt ängstliche Träume. Er fühlt sich trotzdem sicher und geht

ohne Waffen zur Ruhe; auch das Zerspringen der Ordenskette, des frühesten

Zeichens kaiserlicher Gunst, erklärt er plötzlich sehr vernünftig. Noch scherzt

er darüber, wie Gordon einst am Hof zu Burgau immer den Sittenrichter

spielte und wie sich seine Weisheit so schlecht bewährt habe. Seni meldet

die böse Konstellation und beschwört Wallenstein, sich den Schweden nicht

zu vertrauen. Vergebens! Schon sind die Freunde im Schloß gefallen, und

Wallenstein geht, um ─ wie er doppeldeutig sagt ─ einen langen Schlaf

zu thun.



Da naht in Buttler das schwarze Verhängnis. Gordon will diesen

zurückhalten. Der Diener mahnt, den Herzog nicht zu stören. Trompeten

erschallen. Man hält sie für schwedische. „Auf Euern Posten, Kommandant!“

donnert Buttler. Gordon stürzt hinaus. Der Kammerdiener fällt durchbohrt.

Dumpfe Stimmen, Waffengetöse, Mord: Das Schicksal hat sich an Wallenstein

vollzogen.



Angsterfüllt kommt die Terzky, welche Thekla nicht finden kann, und deren

Mann nicht zurückkehrt, um den Bruder zu suchen. Gordon stürzt herein, um

die schwarze That zu verhindern, denn nicht die Schweden sind's: Oktavio ist

eingezogen.



Da trifft ihn Buttlers eisig kaltes: „Zu spät!“ Das ganze Schloß ist in

Bewegung. Oktavio tritt ein, als eben Wallensteins Leichnam weg getragen

wird; er macht Buttler verantwortlich, der jedoch die Schuld auf ihn selbst

zurückschiebt. Die Terzky klagt ihn als den Urheber des Unglücks an und

erbittet Beisetzung des Leichnams Wallensteins in der von ihm gestifteten Karthause.

Dann sinkt sie mit den Worten nieder: „Jch habe Gift.“ Ein Kurier

erscheint und bringt dem Oktavio den Fürstenhut, ─ der ihn nicht mehr

freuen kann. Der Vorhang fällt.

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Der Zuschauer hat den Eindruck, daß Auflehnung gegen göttliche

Ordnung und Sebstüberhebung die Strafe im Keime mit sich führen.



3. Die Charakteristik.



1. Wallenstein, dieser Held des vollkommensten Dramas Schillers,

ist streng genommen zu wenig handelnder General und zu viel peripatetischer,

phrasenhafter Philosoph. Er steht im Gegensatz zu dem groben, starrköpfigen,

stierhalsigen, schnurrbärtigen, kaiserlichen Generalissimus, wie er uns durch Van

Dyks Skizze und durch einen alten Stich erhalten ist. Schiller strebt kraftvoll

aus dem weichen Elemente subjektiver Empfindungskämpfe heraus, und ihm

gelang die Zeichnung der Soldateska, aber sein Wallenstein ist doch immerhin

für seine Zeit zu ideal. Er hat zwar Kraft und Selbstgefühl; aber er ist

unentschlossen. Er glaubt an die Sterne und an seine Abhängigkeit von ihnen.

Wirken und schaffen möchte er, immer weiter es bringen, nur um nicht unthätig

zu sein. Seine ursprüngliche Absicht war weder Verrat noch Abfall

vom Kaiser. Es ist ein planloses Spiel mit seiner Kraft. Jst er sich doch

bewußt, alles zu können, was er will. Jhm fehlen nicht die Bedingungen

für die weitest gehenden Pläne, die er nicht beabsichtigt; es reizt ihn lediglich,

mit der Möglichkeit des Überschreitens seiner Bahn, wie seiner Macht zu spielen.

So schaute er sich versuchsweise um nach Freunden, so begann er mit den

Schweden versuchsweise zu verhandeln. Er will nur der Mittelpunkt für alle Möglichkeiten

sein, ohne ernstlich die Abirrung von der Bahn des Rechtes zu planen. Daß

der Strudel sein Schiff mit fortschnellen könnte, dies kömmt ihm, dem willensstarken

Steuermann, nie in den Sinn. Aus keiner Äußerung geht hervor,

daß es ihm um Verrat oder Abfall zu thun sei. Jm Gegenteil: es bleibt

die Vermutung nicht ausgeschlossen, daß er die besten Ziele und Zwecke im

Auge hatte. Jm Dienste Österreichs hat er Deutschland lange Jahre hindurch

mit Krieg verheert und überschwemmt; vielleicht weidete er sich jetzt am Gedanken,

endlich für Deutschlands Ruhe und Frieden ─ und nicht aus Egoismus

─ in die Schranken treten zu können, ─ also für ein hohes, edelmenschliches

Ziel zu wirken?!



Es ist ein Vorzug großer Naturen, daß sie das auch aussprechen, was

sie denken, und daß sie selbst diejenigen Pläne offenbaren, die einer Mißdeutung

fähig sind, weil sie in ihren Thaten sich des geraden Weges bewußt sind.

Und konnte sich denn Wallenstein, der die ausgedehntesten Vollmachten besaß,

nicht wie ein Fürst fühlen, der für seine großen Pläne niemand Rede zu

stehen brauchte?



Aber es gab eine kurzsichtige Umgebung, die im Mißverständnis des

Wortgeistes ihn zur Verteidigung des Wortsinnes zwang.



Von hier an beginnt Wallensteins Abhängigkeit. Der Scherz verwandelt

sich in Ernst.
Schrittweise wird Wallenstein zur That gedrängt, die er belächelt,

weil er sie nie wollte, die ihm undenkbar erscheint, weil er sich für den einzigen

Faktor der That hält, weil er die weltbewegende That ist.



So erklärt sich das Zaudern, die Unentschlossenheit dieses Schlachtenfürsten.

Alle Umstände vereinigen sich, ihn zu schieben; seine Umgebung erklärt sich für |#f0468 : 446|



ihn; der Erfolg wird ihm als glänzend gemalt; die Schweden bieten 12,000

Mann Hülfstruppen: trotzdem zögert er. Er gefiel sich ja nur im Kokettieren

mit dem, was er vermöchte, was er aber nicht will. Die Ausführung entsetzt

ihn, und schwerwiegend ist ihm schon der Fluch der Nachwelt, die Verachtung

der Menschheit. Erst die Einsicht, daß man sein Spiel denunzierte,

und der Gedanke, daß ein schwacher Kaiser ihn richten würde, ihn, den Allmächtigen,

ja, endlich der beleidigte Stolz, Etwas eingestehen und möglicherweise

abbitten zu sollen, was er nie wollte, sowie die Überredung der Terzky, die ihn

an seinen Schwächen erfaßt und zur Rache entflammt, drängen ihn zu einem

Entschlusse, vor dem sein Herz erbebt, machen ihn zum Verräter am Kaiser,

dessen Majestät er bis zum letzten Abend nicht bezweifelt, ja, dessen Ordensauszeichnung

er noch in der Todesnacht trägt.



Hätte er den Verrat in der That geplant, so würde er schweigend genug

günstige Veranlassungen gefunden haben, sich mit den Schweden zu vereinigen.



Aber er hatte nur das Gefühl, wie ihm Anerkennung dafür gebühre,

daß er seine Gewalt nicht mißbrauche.



Wie zu seinem eigenen Erstaunen sieht er sich zur Notwehr gezwungen

und zum Kampf herausgefordert, in welchem er am liebsten gegen sich selbst

Partei nehmen möchte.



Diese Thatsache sichert ihm unsere Teilnahme, unser Mitgefühl. Denn

es ist ein Unterschied, das Verbrechen mit allem Vorbedacht geplant und ausgeführt

zu haben, oder gegen den besseren Willen in den Strudel des Verbrechens

gerissen zu werden. Wir nehmen seine Partei gegen den kalten Oktavio, dem

er sein ganzes Vertrauen geschenkt, das weder durch Warnungen, noch durch

Bitten seiner Freunde erschüttert werden kann, und wir fühlen ihm die furchtbare

Enttäuschung nach, die sein Herz trifft und ihm den Glauben an die

Menschheit rauben muß. Es berührt tragisch, diesen Glauben durch die erheuchelte

Treue Buttlers wieder aufleben zu sehen; Buttler, der doch nur durch

den Vorteil an ihn gekettet zu sein schien, teilt jetzt sein Geschick, das so wenig

versprechend erscheinen muß. Es läßt einen tiefen Blick in Wallensteins Herz

thun, wie rückhaltslos er Buttler vertraut, dem selbst Max mißtraut.



Daß er auch von Buttler betrogen wird, regt unsere Teilnahme neu an.

Wir sehen ihn durch eine Kette von Umständen zum Verbrechen geführt.



Das Unglück hat seinen Blick umdüstert. Früher hatte er Buttler durchschaut

und gegen Erteilung des Grafentitels gesprochen; jetzt traut er sich kein

anderes Urteil mehr zu, als das der Sterne. „Die Sterne lügen nicht,“

sagt er gläubig und läßt sich nicht auf Einzelheiten in Beurteilung Oktavios

und Buttlers ein.



Es schmerzt uns für Wallenstein, wie sich Max von seinem Herzen losreißt,

um so mehr, als wir sehen, wie Wallenstein im Grunde dem Scheidenden

recht geben muß. Vielleicht beneidet er Max, der blutenden Herzens

Lieb' und Freundschaft der Treue für seinen Kaiser opfert.



Der Heldentod des Max und die Wirkung auf Thekla erschüttern sein

Vertrauen auf den Sieg seiner Sache.

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Aber ungebeugt fühlt er sich im Glauben an die glückverheißenden Gestirne;

hoffnungsvoll zieht er in Eger ein, das sein Grab werden soll. Ergreifend

wirkt das menschlich innige Fühlen Wallensteins. Angesichts der schlimmen

Konstellation drängt sich ihm der Gedanke an die Vergänglichkeit auf. Er

stellt Betrachtungen über den Tod des Max an. Diese Milde im Unglück

ergreift uns tief. Wir erkennen: Wallenstein ist ein Held, der ein menschliches

Herz hat, das wie das unserige empfindet, das des Lebens Lust und Leid zu

erfassen vermag. Dies zeigt der Schluß der Tragödie, und dies sichert dem

Helden unsere herzlichste Anteilnahme an seinem Unglücke zu.



Trotz aller Warnungen geht er ruhig zu Bette. Wehmütig fühlen wir

die rührende Katastrophe, und es ergreift uns die Doppeldeutigkeit der so absichtslos

gesprochenen letzten Worte mit tragischer Gewalt: „Jch denke einen

langen Schlaf zu thun.“



2. Die Gräfin Terzky. Sie ist eine hochverständige, klug berechnende,

weltgewandte Frau. Sie redet sich ein, daß es ihrem Bruder um die Krone

Böhmens zu thun sei, und weiß ihn durch alle Künste der Überredung dahin

zu bringen, gegen den Kaiser in Aufwallung zu geraten und ihre Gedanken für

die seinigen zu halten. Unermüdet ist sie den Plänen des Bruders zugethan;

sie ist überall thätig und hat einen wesentlichen Anteil am Verhältnis des

Max zu Thekla. Sie kann das tragische Ende des Bruders nicht überleben

und zeigt sich als eine wirkliche Heldin, die durch den Tod sühnt, was sie

durch ihren Anteil an der Katastrophe verschuldete.



3. Max. Ein herrlicher, großangelegter Charakter voll Kraft, Unschuld und

Reinheit der Gesinnung, voll Milde, Freundschaft und Treue. Er erscheint

wie ein guter Genius unter all den finstern Gestalten in Wallensteins unheilbringender

Umgebung. Ohne Falsch steht er den Machinationen seiner Umgebung

gegenüber da. Nicht einen Augenblick strauchelt er auf den Pfaden

der Wahrheit und des Rechts. Offenen Blicks tritt er an Wallenstein hinan

und bietet alles auf, diesen zur Pflicht zurückzuführen. Wallenstein läßt ihn

in sein Herz sehen und gesteht, daß es für ihn leider keine Wahl mehr gebe.

Da trennt sich Max blutenden Herzens.



Es zeugt von der tiefsten Kenntnis des menschlichen Herzens, wie der

Dichter den Abschied des Max von der Thekla darstellt.



Diese Scene ist von einer wunderbaren Schönheit und Gewalt. Aus

allen Versuchungen geht Max rein und siegreich hervor. Er läßt Thekla entscheiden

und diese bestärkt ihn in der Treue gegen den Kaiser. Liebe und

Pflichtgefühl kämpfen den schwersten Kampf. Aber er folgt der Pflicht und

geht ─ in den Tod, den er im Kampf mit den Schweden findet.



4. Thekla. Eine ebenso bedeutende, ja, in vielen Stücken noch wunderbarere

Figur ist Thekla. Sie ist unschuldig und wahr ─ wie Max. Dazu

hat ihr die Natur die sanften Saiten des Herzens ihrer Mutter gegeben.

Unverbildet aus der klösterlichen Erziehung hervorgegangen, ist sie tief empfänglich

für die Liebe zu Max, der ihr ganzes Herz erfüllt. Sie gelobt Treue

und übt sie; ja, sie beweist die Treue durch Aufopferung in Beantwortung |#f0470 : 448|



der ernsten Frage des Max zu Gunsten der Rechtlichkeit und zu Ungunsten des

Besitzes der Liebe. Niedergeschmettert von der Todesnachricht des Geliebten

ermannt sich ihr Heldenherz in schmerzlichstem Gefühle, um alles zu hören,

was der Bote vom Tode des Max weiß. Jhr erschüttertes edles Frauenherz

scheint brechen zu wollen; aber der vom Vater ererbte Heldensinn veranlaßt

sie, ungesehen noch in der Nacht zum Grabe des Geliebten aufzubrechen, ─

wie es scheint, um nicht wiederzukehren, sondern am Grabe ewig mit dem Geliebten

vereint zu bleiben.



5. Wallensteins Gattin. Eine edle Erscheinung! Treu und ohne

Murren fügt sie sich in ihr Geschick. Sie hat eine Ahnung vom Unglück, nicht

aber vom Niedergang des ganzen Glücks. Da sie einmal schon die Demütigung

des Gemahls erlebt, so fürchtet sie nur, es könne wieder so werden wie nach

Regensburg, und sie beklagt, daß sodann Thekla ihre kaiserliche Pathe verloren

habe. Sie nimmt innigen Anteil am Unglück der ihr in allen Stücken

gleichenden Tochter.



6. Oktavio. Jn der Beurteilung des Charakters Oktavios darf nicht

übersehen werden, wie er es für die erste Pflicht hält, in den gewohnten Bahnen

des Herkommens fortzuwandeln und dem Kaiser das Gelöbnis der Treue zu

halten. Nicht ein gemeiner Verräter ist er, der aus Eigennutz und Ruhmsucht

Wallenstein betrügt. Wäre dies der Fall, so würde die Pointe der Handlung

nicht mehr in der Person Wallensteins gipfeln, dessen Auflehnung gegen die

bestehende Ordnung als seine eigenste Schuld seinen Untergang herbeiführen

mußte. Der Dichter stellt Oktavio höher als Buttler. Wenn er ihn auch als

des Edlen, Schönen, Hohen bar zeichnet, so läßt er ihn doch keine gemeinen,

niedrig=leidenschaftlichen Ränke anwenden. Er läßt ihn mit Geist und schlauer

Berechnung handeln. Oktavio warnt den Wallenstein nicht vor dem Abgrund,

aber er stößt ihn auch nicht hinein. Von den Schwächen der Menschen zieht

er Vorteil. Mit großer Schlauheit weiß er Buttler und Jsolani dem Wallenstein

abspenstig zu machen.



Eine Seite seines Herzens bringt ihn uns näher. Es ist seine Liebe zu

Max und sein Schmerz, ja, seine Entrüstung über Wallensteins Tod. Wir

fühlen mit ihm den Verlust des Sohnes, den ihm der Fürstentitel nicht ersetzen

kann.



7. Wrangel. Wrangels Charakter vereint klaren Blick und vorsichtige

Berechnung mit freundlichem, für den Diplomaten fast etwas zu kordialem

Entgegenkommen.



8. Terzky und 9. Jllo. Terzky steht als Mensch höher als Jllo,

welcher sich nicht ganz beherrschen kann. Jhre Genußsucht kennt nicht das

sittliche Moment der Pflicht. Sie drängen Wallenstein von That zu That.

Dieser widerspricht ihnen nicht, weil er an die Folgen nicht glaubt, weil er

die Fäden der Handlung in seiner eigenen Hand vereinigt glaubt. Die Nachricht

vom Siege der Schweden überwältigt Terzky und Jllo. Sie feiern

ein Fest und vergessen der Wachsamkeit, um Wallenstein im Tode voraus

zu gehen.

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10. Jsolani. Jsolani ist das Bild der Charakterlosigkeit, der Schwäche,

der Unschlüssigkeit, der Zaghaftigkeit, des Wankelmuts.



11. Gordon. Der alte brave Gordon verbindet mit Treue gegen seinen

Kaiser wirkliche Anhänglichkeit an seinen ehemaligen Jugendgenossen Wallenstein.

Er ist ohne Entschlossenheit und Thatkraft. Zwar giebt er dem Wallenstein

genug Andeutungen nahenden Mißgeschicks, aber er wagt es doch nicht, ihn offen

zu warnen, oder gar zu retten. Er ist bemüht, den Tod Wallensteins abzuwehren

und läßt dann alles geschehen, weil er vor den Folgen erzittert, für die ihn der schlaue

Buttler verantwortlich macht. Kaum ist er weggeeilt, um den Angriff der Schweden

abzuwehren, als ihn sein Herz zurücktreibt, den Tod Wallensteins zu verhindern.



12. Deveroux und 13. Macdonald. Diese Beiden sind niedrige, charakterlose

Werkzeuge Buttlers, ─ unterthänig und servil gegen den Mächtigen, nichtswürdig

und teuflisch gegen den Wehrlosen, und wäre er ─ wie hier ─ ihr Wohlthäter.



14. Buttler. Buttler ist der eiskalte Egoist, welcher demjenigen Schurkendienste

leistet, der ihn bezahlt. Er ist treu, solange er Nutzen von seiner

Treue verspürt. Er lebt nur seinen Privatinteressen, kennt keine Dankbarkeit,

und macht aus seinem Charakter kein Hehl.



Wallenstein vereitelt seine Erhebung in den Grafenstand, weil er Buttler genau

kennt. Dieser glaubt sich vom Kaiser gekränkt und geht zu Wallenstein über.

Als er durch Oktavio den Wallenstein als Veranlassung seiner Kränkung erkennt,

verläßt er diesen und kehrt zum Kaiser zurück, um sich an Wallenstein zu

rächen. Er weiß sich in einer Weise zu verstellen, die schlecht zu seinem seitherigen

aufbrausenden Charakter passen mag. Es ist unwahrscheinlich, daß

einem so rachesüchtigen, aufwallenden Menschen, der Beobachtung vieler gegenüber,

die Verstellung in der von Schiller angegebenen Weise gelingen wird.

Auch ist nicht anzunehmen, daß er seine schwarze That mit Vernunftgründen

zu beschönigen sucht. Dies hat er nicht nötig, da er den Vorwand der

Rache mit dem Befehl der Urteilsvollstreckung decken durfte. So bezeichnet er

denn in Wirklichkeit seine Handlung als eine gute That, die Anspruch auf

Belohnung habe, da durch sie das Reich von einem furchtbaren Feinde befreit

worden sei. Sein lohnsüchtiger, egoistischer Charakter tritt in seinen Schlußworten

noch einmal zu Tage, er reise nach Wien, um den Beifall sich zu

holen, den der geschwinde Gehorsam von dem gerechten Richter fordern dürfe.



§ 161. Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien.



1. Die Tragödien wurden von jeher sehr verschieden benannt und

rubriziert. Einige Schriftsteller unterschieden: a. Tragödien des besiegten

Konflikts, b. Tragödien des siegenden Konflikts, c. Tragödien

der Schuld, d. reine Tragödien, e. Tragödien der Liebe.



2. Andere teilten ein in: a. antike, b. romantische und c. moderne

Tragödien.



3. Eine mehr philosophische Anordnung scheidet in: a. Charaktertragödien,

b. Prinzipientragödien, c. Sittentragödien.

|#f0472 : 450|



1. Die Tragödie des besiegten Konflikts ist jene Tragödie, in welcher

den Helden selbst eine verlockende Belohnung (wie z. B. Liebesglück) nicht von

seinen Grundsätzen abwendig machen kann, für die er in den Tod geht.



Jn der Tragödie des siegenden Konflikts zeigt sich der Held der Versuchung

nicht gewachsen. Dennoch ändert er sein Geschick nicht; der Konflikt

nimmt eine solche Wendung, daß der Held aus Verzweiflung oder aus Strafe

für seine Schwäche den Tod erleidet.



Jn der Tragödie der Schuld verstößt der Held entweder gegen göttliche

und menschliche Ordnung, oder er unterläßt es, mit Energie für seine

Pflicht einzutreten (Hamlet, Egmont), oder aber er wählt zwischen zwei sich

entgegenstehenden Pflichten (Max' Abschied von der Geliebten in Wallensteins

Tod) so, daß die Verhältnisse, wie sie jetzt liegen, seinen Untergang herbeiführen.



Jn der reinen Tragödie geht der Held nicht von seiner großen Sache

ab, auch wo er den Untergang voraussieht. Er kann schuldvoll oder (wie Calderons

standhafter Prinz) schuldlos sein.



Jn der Tragödie der Liebe kann der Held am Verrat der Geliebten

zu Grunde gehen, oder aber beide Geliebte fallen am Ende den sich dem tragischen

Konflikt entgegentürmenden Verhältnissen zum Opfer (Romeo und Julia).



2. Die antiken Tragödien sind bekanntlich die Tragödien der Griechen;

die romantischen haben ein Muster in der Jungfrau von Orleans, und die

modernen Tragödien haben ihre Beispiele in den Tragödien der Liebe (z. B.

Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen [Hero und Leander]; Julius

Mosens Wendelin und Helene &c.).



3. Zu den Charaktertragödien zählen die Tragödien der Leidenschaft

und der einfachen Schuld (Beispiele: Othello, Macbeth).



Prinzipientragödien sind die Tragödien des sittlichen Konflikts

(z. B. Sophokles' Antigone).



Sittentragödien sind auf dem Gebiet der Tragödie dasselbe, was

der Zeitroman auf dem des Romans ist (A. E. Brachvogels Narziß).



§ 162. Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung.



Als eine allen Anforderungen genügende, erschöpfende Einteilung

der Tragödie dürfte sich die nachstehende Rubrizierung der sämtlichen

Tragödien empfehlen:



I. Sagenhaft=heroische (altklassische) Tragödien;



II. Philosophische;



III. Geschichtliche oder heroische, sowie politische;



IV. Bürgerliche;



V. Moderne Schicksalstragödien.



I. Sagenhaft-heroische (altklassische) Tragödien.



Es sind dies die später (S. 456) zu erwähnenden Tragödien der klassischen

Völker. Sagenkreise sind Der Prometheus-Mythus; das mit Fluch beladene |#f0473 : 451|



Haus der Labdakiden (Ödipodie); das verderbenbringende Haus der Pelopiden

(Orestie) &c. Vgl. § 163 S. 456 ff. d. Bds.



II. Philosophische Tragödien.



Hierzu gehören die im vorigen Paragraphen unter 3 aufgeführten Arten.

Ein Beispiel aus unserem Jahrhundert ist: Gutzkows Uriel Akosta. Goethes

Faust ist ebenso philosophische als bürgerliche Tragödie (vgl. S. 453 d. Bds.).



III. Geschichtliche oder heroische Tragödien.



Bei der historischen Tragödie braucht sich der Dichter weder sklavisch an

die Sage noch an die Geschichte zu halten, wie dies Schiller z. B. im Tell, in

Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans auch nicht gethan hat.

(S. 40. d. Bds.) Der Dichter darf dem Charakter und der Handlung zuliebe

nach Gutdünken abändern, wie die Sage ja auch mit den Jahrhunderten sich

ändert; ja, er muß sogar ändern, um die Begebenheiten seiner dichterischen

Jdee entsprechend zu gestalten und die Bedeutung seiner Handlung zu erhöhen.

(S. 38 d. Bds.) „Egmont“ bietet Begebenheiten, von denen die Geschichte

durchaus nichts weiß; mehr noch „Don Carlos“, dessen Charakter durch Schiller

in einer Weise idealisiert wurde, daß er nicht mehr dem geschichtlichen entspricht.

Der Dichter soll nur beim Jdealisieren weder die historische Treue der Jdee

antasten, noch auch das Kostüm (d. h. den historischen Gebrauch der Zeit, zu

denken, zu handeln, zu reden, sich zu kleiden &c., wobei er freilich nicht gerade

historische und antiquarische Gelehrsamkeit des Publikums im minutiösen Maße

voraussetzen soll).



Aristoteles (Poet. c. IX. Ausg. von Susemihl S. 75) sagt: „Es

erhellt aus dem Gesagten auch noch dies, daß nicht das die Aufgabe des

Dichters ist, das wirklich Geschehene zu berichten, sondern vielmehr darzustellen,

wie etwas geschehen kann und was möglich ist nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit

oder Notwendigkeit. Der Geschichtschreiber und der Dichter unterscheiden

sich nicht (etwa) von einander durch die Darstellung in ungebundener

und in gebundener Rede. Denn es könnte das Werk des Herodotos in Verse

gebracht sein, und es würde doch immerhin nur ein Geschichtswerk bleiben in

Versen, wie sonst ohne Verse. Vielmehr das ist der Unterschied, daß der Geschichtschreiber

darstellt, was wirklich geschehen ist, der Dichter dagegen, wie

Etwas geschehen kann. Deshalb ist denn auch die Poesie philosophischer und

erhabener, als die Geschichte; denn jene stellt mehr das Allgemeine, diese mehr

das Einzelne dar.“ Ferner (a. a. O. S. 77. 9): „Klar ist es mithin hiernach,

daß der Dichter mehr an der Fabel seine schöpferische Dichterkraft bewähren

muß, als an den Versen. Denn Dichter ist er eben vermöge der nachahmenden

Darstellung, und der Gegenstand dieser Darstellung ist die Handlung.

Andererseits aber, wenn er dabei wirklich Geschehenes darstellt, kann er nicht

minder seine schöpferische Dichterkraft beweisen. Denn es steht ja dem nichts

im Wege, daß manches von dem wirklich Geschehenen auch nach aller Wahrscheinlichkeit

so geschah, ja, gar nicht anders geschehen konnte, und indem er es

von dieser Seite her darstellt, wird er an ihm zum Dichter. &c.

|#f0474 : 452|



(Schiller äußert über die Ansicht des Aristoteles bezüglich des Verhältnisses

des tragischen Dichters zum Geschichtschreiber in einem Briefe an Goethe

vom 5. Mai 1797: „Daß er in der Tragödie das Hauptgewicht in die Verknüpfung

der Begebenheiten legt, heißt recht den Nagel auf den Kopf getroffen.

Wie er die Poesie und Geschichte mit einander vergleicht und jener eine größere

Wahrheit als dieser zugesteht, das hat mich auch sehr von einem solchen Verstandesmenschen

erfreut.“)



Sofern die historische Tragödie an Personen anknüpft, die als Träger der

Geschichte bedeutungsvoll sind, so nennt man sie auch die heroische. Beispiele

der historischen oder heroischen Tragödie sind: Schillers Wallenstein und sein

Fiesko, sowie Goethes Egmont, Werners Attila, Raupachs Nibelungenhort,

Hebbels Nibelungen, Laubes Graf Essex, G. Büchners Dantons Tod, Julius

Mosens Cola Rienzi, Nissels Die Florentiner, Eduard von Schenks Belisar,

Gust. Freytags Die Fabier, R. Gisekes Kurfürst Moritz von Sachsen, Rud.

v. Gottschalls Herzog Bernhard von Weimar, und sein Mazeppa &c., Alb.

Lindners Die Bluthochzeit, G. zu Putlitz' Don Juan d'Austria, Aug. v. Maltitz'

Hans Kohlhas, Bernh. Scholz' Hans Waldmann, R. Prölß' Katharina Howard,

Grabbes Hohenstaufen &c. Hieher gehört auch die politische Tragödie Macchiavelli

von Elise Schmidt, sowie Osw. Marbachs Manfred der Hohenstaufe; H.

Friedrichs Servet; Roquette Die Protestanten in Salzburg; Emil Pirazzis Rienzi

der Tribun; Geibels Sophonisbe; P. Lohmanns Strafford &c.; Gregorovius' Der

Tod des Tiberius; Grosses Ynglinger &c.



IV. Bürgerliche Tragödien.



Es sind jene Tragödien, bei welchen Personen und Konflikte des bürgerlichen

Lebens die Motive bilden. Der Philosoph des Pessimismus Schopenhauer

verhält sich der bürgerlichen Tragödie gegenüber mehr ablehnend als

anerkennend, wenn er auch (nach Kuhs Hebbelbiographie II 586) Hebbels

Maria Magdalena in mancher Beziehung gelobt hat. Nach ihm müssen im

Trauerspiele nur bedeutende, hochstehende, königliche, fürstliche Personen auftreten,

deren Thun in's Große geht. Ebenso wie ein Lustspiel von Fürsten nicht leicht

gelingen könne, weil ihr Thun in's Große gehe, so glücke auch das bürgerliche

Trauerspiel nicht leicht, denn das Leben en détail sei fast immer Lustspiel,

wenn es auch noch so verdrießlich sei. Die Unglücksfälle, welche eine bürgerliche

Familie in Not und Verzweiflung setzen, seien in den Augen der Großen

und Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja, bisweilen

durch eine Kleinigkeit zu beseitigen: solche Zuschauer können daher von ihnen

nicht tragisch erschüttert werden. Hingegen seien die Unglücksfälle der Großen

und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe zugänglich, da Könige

durch ihre eigene Macht sich helfen müßten oder untergehen. Dazu komme,

daß der Fall von der Höhe am tiefsten sei; den bürgerlichen Personen fehle

es demnach an Fallhöhe.



Dem gegenüber wendet der unparteiische Jnterpret Schopenhauers, Dr.

Aug. Siebenlist (a. a. O. S. 64), mit Recht ein, daß es ein Gebiet im |#f0475 : 453|



Menschendasein giebt, auf dem die zahlreichen Schichten der Gesellschaft samt

und sonders gleich hoch dastehen; und auch der Abgrund, der zu ihren Füßen

gähnt, ist gleich jäh und gleich tief für sie alle. Da ist kein Stand mehr

und kein Rang; da gilt nicht die Krone, da gilt nicht der Fürstenstab. Nur

das Herz ist nötig in diesem Ringen um Glück oder Weh, um Leben oder Tod.

Und was immer Mensch heißt, hat hier Zutritt und zahlt hier mit kostbarem

Blute, das die Walstatt färbt. Mag also Schopenhauer noch so bedenklich

den Kopf schütteln, wo es sich um die bürgerliche Tragödie handelt, mag der

Stagirite die vornehme Abgeschlossenheit des Trauerspieles auf die Spitze treibend

gar die Erklärung abgeben, lediglich die auf den Höhen der Menschheit Wandelnden,

vom Schlage des Ödipus und Thyestes, und solcher, die ähnlichen

erlauchten Geschlechtern angehören (οἱ ἐν μεγάλ δόξῃ ὄντες, οἷον Οἰδίπους

καὶ Θυέστης καὶ οἱ ἐκ τοιούτων γενῶν ἐπιφανεῖς), seien im Grunde

zur Tragödie zulässig: die großen Dichter der Neuzeit haben in dieser Beziehung

durch die That alle die Skrupel und Zweifel Andersdenkender besiegt und mit

ihren Werken gezeigt, daß es Lieblinge des Unheils giebt in jedem Stande,

und in jedem Stande einen Adel des Leidens, den das Schicksal erteilt

mit wuchtigem Ritterschlag (Pessimistenbrevier 320). Lessings Miß Sara

Sampson,
Schillers Kabale und Liebe, und Hebbels Maria Magdalena

sind bürgerliche Trauerspiele ─ ja, s ind Shakespeares Romeo und

Julia
(Klein, Gesch. d. Drama XII 506), Goethes Stella (W. Scherer,

deutsche Rundschau 1876. IV 66 ff.) und Faust etwas anderes? ─ und

dennoch werden sie vor hoch und niedrig ihre Wirkung thun, so gut wie die

besten Tragödien, deren Kronengold und Herrscherpurpur das Auge blendet.

Ja, gäbe es bloß den einzigen bürgerlichen Faust Goethes: wie viele

Dutzende der Blaublutstragödien möchte man nicht missen für den Einzigen?

Ruht doch (nach J. J. Baumann, 6 Vorträge 1874. S. 134) der fortwährende

Zauber dieser Dichtung gerade darin, daß die Angelegtheit für das

Faust'sche Element im Menschen allen Lesern stets einwohnt.



Nachdem Siebenlist noch durch eine Reihe anderer Gründe die Gleichberechtigung

der bürgerlichen Tragödie mit der „adeligen“ dargethan, widerlegt

er auch die Einwürfe in Bezug auf die Fallhöhe, indem er ausruft: Sollte

Fausts großes Herz, sein ungestümer Lebensdrang, sein überreiches Gemüt, sein

tiefes Wissen, all seine „Philosophie, Juristerei und Medicin und leider auch

Theologie“ nicht mindestens gleich hoch postieren, als das funkelndste Diadem

aus Diamanten und Edelsteinen? Jch glaube also, für die tragische Muse sind

bloß die Leidenschaften, die Willensbewegungen vorhanden; die tragische Muse

sieht, wie Gott, nur die Herzen &c. Am meisten fällt in dieser Frage, wie

sonst, Lessings Stimme in die Wagschale, der im 14. Stück der Hamb.

Dramat. sagt: Wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit

ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen ... Man thut dem menschlichen

Herzen unrecht, man verkennt die Natur, wenn man glaubt, daß sie

Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren &c.



Von guten bürgerlichen Tragödien erwähnen wir außer den genannten |#f0476 : 454|



noch: Goethes Clavigo; Jfflands Albert von Thurneisen; Gutzkows Volkstrauerspiel

Liesli; Bulthaupts Ein korsisches Trauerspiel; Richard Voß' Luigia Sanfelice

&c.



V. Schicksalstragödie.



Diejenige Gattung von Tragödien nennt man Schicksalstragödien,

welche die Jdee zum Ausdruck bringen, daß das Los der Menschen schon vor

der Geburt voraus bestimmt sei, so daß die besten Bemühungen, demselben zu

entfliehen, dem Untergang desto sicherer entgegenführen. Von der sittlichen Freiheit

und freien Selbstbestimmung, von der sittlichen Zurechnungsfähigkeit ist bei der

Schicksalstragödie keine Rede, wohl aber vom blinden Schicksal (fatum, Bestimmung).

Der Held leidet schuldlos für andere und verfällt seinem Verhängnis.

Diese Gattung hat daher nicht den sittlichen Wert der übrigen Tragödien,

und ist daher nicht selten als Abart (Verirrung) der Tragödie bezeichnet

worden.



Vischer sagt: „Was den Griechen normal war, ist uns abnorm; daher

ist eine moderne Schicksalstragödie eine schlechte Tragödie.“ Während man bei

den übrigen Tragödien innere Befriedigung hat, (sofern man den tragischen

Ausgang als notwendig nach den vorausgegangenen Konflikten und Kämpfen

erkennt), so ergreift bei der Schicksalstragödie eine Verstimmung und Unruhe,

ja, Entsetzen das Gemüt; denn wir wissen, es ist keine sittliche Freiheit, die

den Helden so und nicht anders handeln läßt, sondern vorausgesetzte Bestimmung,

weshalb sein Streben, seine Anstrengungen, sein edler Charakter, das

gespenstische, unheimliche Verhängnis nicht abzuwenden vermögen. Die Absicht

der Tragödie, reinigend, erhebend zu wirken, erreicht die Schicksalstragödie

nicht. Zudem steht sie ganz im Widerstreit zu unserer christlichen Anschauung

von der Gerechtigkeit einer Vorsehung.



Der Schillersche Versuch (Braut von Messina), das griechische Fatum als

tragisches Motiv zu verwerten, hat zu den modernen deutschen Schicksalstragödien

geführt, von denen Andreas Borschke im Programm des Wiener Schottengymnasiums

(1872 S. 5) ein ziemlich vollständiges Verzeichnis liefert.



Die deutsche Schicksalstragödie unterscheidet sich wesentlich von der Schicksalstragödie

der Griechen. Bei den alten Griechen war einmal ─ wie schon

früher erwähnt ─ der Fluch des dunkeln Schicksals und die Vorherverkündigung

desselben durch Orakel und Seher Sache des Glaubens und ihrer Weltanschauung,

welche ganz mit der jüdischen Strafe bis in's dritte und vierte Glied

übereinstimmt; ─ und dann war ihnen der tragische Held nicht ohne Schuld,

die er im Zustand der Freiheit begangen, und die als Mangel weiser Mäßigung

erscheint. Die Zahl der modernen Schicksalstragödien ist nicht gering.

Als die bekannteren sind zu erwähnen: Zacharias Werners († 1823)

Das Schloß an der Ostsee, Luther, Attila, Wanda, Der 24. Februar; Ad.

Müllners
(† 1829) Der 29. Februar, Die Albaneserin und die trefflich

gearbeitete Tragödie Die Schuld (vgl. weiter unten die Analyse); Houwalds

(† 1845) Der Leuchtturm, Das Bild, Fluch und Segen; Otto Ludwigs |#f0477 : 455|



Der Erbförster; Hölzls Die Gräfin Osinsky; Mich. Beers († 1833) Die

Bräute von Arragonien, sowie Struensee, zu denen Beers Bruder, Meyerbeer,

begleitende Musik schrieb; besonders aber des österreichischen Schillers Grillparzers

Die Ahnfrau. Der modernen Schicksalstragödie, gegen welche Castelli

gemeinschaftlich mit Aloys Jeitteles (Der Schicksalsstrumpf) und Platen (Die verhängnisvolle

Gabel) ihre satirische Geißel schwangen, näherte sich von den Neueren

besonders Gutzkow mit seinen Tragödien Der 13. Februar, und Wullenweber.



Als typische Vertreter der ganzen Richtung sind dem Studium zu empfehlen:

Müllners Schuld, und Grillparzers Ahnfrau. Müllners Schuld hat (nach

Siebenlist a. a. O. Seite 151) folgendes Argument: „Hugo von Oerindur

hat einen Karlos auf tückische Weise getötet, um dessen Frau Elvira heiraten

zu können. Später wird entdeckt, daß die Beiden Brüder sind. Den Mord

aber bringt man damit in Zusammenhang, daß die schwangere Mutter der

Brüder einst eine Bettlerin beleidigt habe, die ihr darauf den Fluch gegeben,

der Sohn, den sie unter dem Herzen trage, solle seinen älteren Bruder umbringen.

Nun suchen Hugo und seine Gattin durch Selbstmord ihre Unthat zu

sühnen.“



Ungleich höher als diese die Menschen zu Puppen erniedrigende Tragödie

steht Grillparzers Ahnfrau. S. A. Byk versucht diese Erstlingsdichtung Grillparzers

mit dem Gesetze des tragischen Monismus in Einklang zu bringen,

indem er (Physiologie des Schönen 1878. S. 279) sagt: „Wiewohl die Ahnfrau

in Grillparzers gleichnamigem Trauerspiel die im Drama sich abspielenden

Ereignisse nicht selbst herbeigeführt hat, so können wir doch ihrer Erscheinung

die Berechtigung nicht absprechen, da erst durch sie das Spukhafte in ein Werk

ewiger Gerechtigkeit umgewandelt wird, infolge dessen die unerhörten Schicksalsschläge,

die auf einander folgenden Unglücksfälle, welche eine ganze Familie

bis auf ihren letzten Sprößling vernichten, einen ethischen Charakter gewinnen,

der uns mit ihrer Furchtbarkeit aussöhnt und die Handlung zu einem harmonischen

Ganzen abschließt. Jn dieser harmonischen Gestaltgebung liegt hier die Notwendigkeit

der gespenstischen Erscheinung. Die Erscheinung dieser ruhelos umherirrenden

Sünderin, deren verbrecherische Liebe die einzige Ursache des Unterganges

ihres Geschlechtes ist, versöhnt uns mit dem Schicksal und beruhigt

unser moralisches Gewissen. Wir begreifen, daß das Unglück, welches das

Haus der Borotin's heimsucht, weder das Werk einer mutwilligen Schicksalslaune,

noch eine unverdient verhängte Strafe ist, sondern daß sich hier ein

ethischer Reinigungsprozeß vollzieht, dessen Notwendigkeit im Wesen der ethischen

Jdee selbst liegt, die ebenso, wie die physisch=organische Natur in ihrer lebendigen

Thätigkeit, alles Unassimilierbare abstößt und entfernt.“ (Vgl. übrigens

über die Ahnfrau Gödekes Grundriß III. 384 ff. sowie Grillparzers Werke

2. Aufl. 1874 II S. 140 ff.) ─ Klarer hat schon Schopenhauer das Unterfangen,

dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall eine Absicht unterzulegen,

einen Gedanken genannt (V 216), der an Verwegenheit seines Gleichen suche

─ einen Gedanken übrigens, der, je nachdem man ihn versteht, der absurdeste

oder der tiefsinnigste sein kann.

|#f0478 : 456|



Manche interessante Gesichtspunkte bietet, neben Siebenlists erschöpfender

Ausführung, auch „Die moderne und antike Schicksalstragödie“ von Eugen

Heinrich Schmitt (Berlin 1874).



§ 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der

griechische Chor. Analysen der wichtigsten Tragödien

aller Völker.



Da die klassischen Tragödien neben den englischen und spanischen

einen nachweislichen Einfluß auf die Gestaltung unserer deutschen Tragödie

ausübten und das Studium der hervorragendsten derselben, die

in guten Übersetzungen vorhanden sind, gefordert werden muß, so mußten

wir denselben die gebührende Beachtung widmen. Zum Verständnis

des Schillerschen, auf Einführung des griechischen Chors gerichteten

Bestrebens mußte dieser Chor kurz beleuchtet werden, wie auch das

Wesentliche über das Äußere der griechischen Bühne einzufügen war.



a. Griechen. Die griechische Tragödie ist aus religiöser Gelegenheitspoesie

entstanden: aus dem für die Dionysosfeste bestimmten Dithyrambus, wo

ein Chor in Verkleidung, die Sänger in Bocksfellen, an Gestalt den Bacchus

begleitenden Satyrn entsprechend, singend den Altar umtanzte. Schon frühzeitig

legte der unter den griechischen Stämmen durch geistigen Adel sich auszeichnende

Dorier die Satyrmaske ab; der dithyrambische Chor wurde würdiger;

nur die Landbewohner behielten die Vermummung bei. Zuerst wurde der

Chor durch nur einen Chorführer (ἔξαρχος) geleitet, der sich nach und nach

immer mehr vom Chor abschälte, die Thaten des Gottes erzählte, Mythen und

Sagen heranzog, um sodann sogar die Landesheroen zu feiern.



Damit waren diese dramatischen Aufführungen an dem Punkte angelangt,

wo aus ihnen die weltliche Tragödie geboren wurde. Dies geschah durch den

Attiker Thespis (540 v. Chr.), der den Dithyrambus dialogisch umarbeitete

und den Vorsänger zum Schauspieler erhob, insofern letzterer seinen Gesang

in Wechselunterhaltung mit dem Chore durch Bewegungen und mimische Geberden

begleitete. Die ernstere Seite der Dithyramben, welche zur Winterzeit die

Leiden des Dionysos beklagten, ging in die Tragödie über. Durch Peisistratos

(560─527 v. Chr.) Gunst wurde diese Art von Tragödie zum Hauptteil der

Dionysosfeier erhoben, bei welcher ein Wettstreit agonistisch von verschiedenen

Dichtern verschiedener Tragödien aufgeführt wurde.



Etwa 50 Jahre nach Thespis ließ der in seinen Werken so erhabene

Äschylus dem Erzähler nicht mehr durch den Chor antworten, sondern durch

einen Zwischenredner. Er brachte somit zwei Personen auf die Bühne, die

sich in mimischer Rede unterhielten.



Nach Äschylus kam Sophokles, der Vollender der Tragödie und der

Schöpfer erhabener weiblicher Charaktere; er führte die Tragödie in's Gebiet

des Menschlich-Schönen, ließ die durch Äschylus in's Übernatürliche gehobenen

Götter menschlicher erscheinen und hielt überhaupt Maß.

|#f0479 : 457|



Euripides ging über ihn hinaus. Er gab der leidenschaftsvollen Entwickelung

des menschlichen Gemüts Raum und führte den Schluß zuweilen

durch besondere Hülfe (deus ex machina) herbei.



Die antike Tragödie konnte das in unserer Tragödie zu Entwickelnde

meist voraussetzen, sofern dasselbe durch Mythus und Geschichte feststehend war.

Somit bot sie nur das, was uns heutzutage Peripetie und Katastrophe bieten;

alles Übrige vermittelte der Prolog.



Der griechische Chor. Wesentlich war für die griechische Tragödie, wie

überhaupt für das griechische Drama, der Chor, der mit der eigentlichen Handlung

nichts zu schaffen hatte, vielmehr das öffentliche Gewissen zum Ausdruck

bringen sollte. Er wurde repräsentiert durch eine Reihe von Personen, welche

in dem zwischen dem Zuschauer und der Bühne befindlichen Raum ihren Platz

hatten und zuweilen die Handlung durch Gesang, Musik, Tanz &c. unterbrachen.

Seine Aufgabe war es, hinzuleiten auf die wahre und eigentliche Wirkung

der Tragödie (κάθαρσις τῶν παθημάτων); er sollte die Stimmung des

Zuschauers durch ruhiges Urteil, durch Beifalls- oder Mißfallensbezeugungen,

durch Ausdrücke der Sympathie, der Ermutigung, der Warnung &c. zeigen.

Reinkens nennt ihn daher (Aristoteles über Kunst &c. S. 261 ff.) den Anwalt

der Jnteressen des Volks, den Ausdruck der öffentlichen Meinung, oder

das öffentliche Gewissen selbst, das Schallrohr der Stimme der Götter &c.



Wenn auch bei der Geburt der Tragödie die äolische Lyrik (durch Alkäos

und Sappho) längst ihre Höhe erreicht hatte, so behielt die Lyrik im Chor doch

eine gewisse Selbständigkeit. Der lyrische Charakter des Chors (dem man zum

Beweis seiner Herkunft selbst im attischen Drama die dorische Mundart

ließ, wodurch das Eigentumsrecht der Dorer auf die chorische Poesie manifestiert

wird) liegt ebenso in der lyrischen Strophenform, als darin, daß der Chor

gewissermaßen der Ausdruck all der moralischen Effekte war, welche die Handlung

in den empfänglichen Gemütern erzeugte, wenn er sich auch zuweilen bis

zu den höchsten Höhen geistiger Anschauung erhob (Pindar). (Vgl. weiter

unten die versuchte Nachahmung des griech. Chors in Schillers Braut von

Messina.)



Äußeres. Was das Äußere in der griechischen Tragödie betrifft, so

trat zu der bereits von Thespis eingeführten Maske noch eine Fußbekleidung

mit hohem Absatz, der Kothurn, hinzu. (Vgl. S. 437 d. Bds.) Man brauchte

riesige Gestalten, wie die Götterbilder. Bei der Größe der Bühne hatte man

auch eine starke leidenschaftsvolle Stimme nötig, weshalb zur Verstärkung der

selben unter den Masken ein stimmverstärkender Schallapparat (per-sona) angebracht

wurde. Das Theater selbst war eine dachlose Arena, deren Sitze treppenartig

erhöht waren und im Halbkreise herumliefen, wie die erhaltenen alten

Theater noch heute ersehen lassen.



Von den oben erwähnten drei Haupt-Tragikern des klassischen Altertums

sind uns mehrere Tragödien erhalten worden: a. von Äschylus, der 490 v.

Chr. bei Marathon mitkämpfte, sieben Tragödien, darunter Der gefesselte Prometheus,

Agamemnon, Die Grabesspenderinnen und Die Eumeniden (letztere |#f0480 : 458|



drei bilden eine Trilogie unter dem Namen „Orestie“, die uns von O. Marbach

und A. Oldenberg übersetzt wurde); b. von den 130 Tragödien des Sophokles

sind folgende sieben erhalten: Antigone, König Ödipus, Ödipus in Kolonos,

Elektra, Der rasende Ajas, Philoktetes und Die Trachinierinnen (unter diesen sind

die vier ersten seine Meisterwerke, welche ihn über Äschylus stellen, ja, zum vorzüglichsten

griechischen Tragiker erheben); c. von den 75 Tragödien des Euripides,

der den Zweck der Tragödie in der Erregung von Mitleid und in der

Rührung erblickte, sind 18 erhalten, z. B. Hippolytos, Alkestis, Jphigenie in Aulis

und Jphigenie auf Tauris, die Bachantinnen, Medea und Phädra, von denen

z. B. Medea, eine in der Rache ihre Befriedigung findende Zauberin, sich himmelweit

von einer Antigone, dem Jdeal einer opfermutigen Jungfrau, unterscheidet.

Äschylus ist von J. H. Voß, Fr. L. Graf zu Stolberg, Minckwitz, Donner deutsch

übertragen, welche drei letztere neben Solger, Ast, Hartung, teilweise Th.

Kayser auch Sophokles übersetzten. Ajas bearbeitete Thudichum (der Übersetzer

des ganzen Sophokles) und Gensichen. Euripides ist übersetzt von Minckwitz,

Donner, Bothe; seine Helena und sein Jon von Wieland. Auch C. Th.

Gravenhorst gab deutsch Antigone, Medea und die Äschyleische Orestie &c.

heraus. Jphigenie in Aulis bildete Schiller nach. Jphigenia auf Tauris ist

Bearbeitung Goethes. Zwei gediegene, in neuerer Zeit mit Erfolg zur Aufführung

gelangte Bearbeitungen Wilbrandts sind Elektra des Sophokles und

der Cyklop des Euripides u. a.



b. Römer. Die römische Tragödie war Nachahmung der griechischen

(ca. 150 Jahre nach Sophokles nnd Euripides) und daher von Anfang

an nicht nationalen Ursprungs. Ebensowenig diente sie religiöser Bestimmung;

sie entbehrte (mit Ausnahme des Tragikers Seneka) des Chors. Jn den

Stoffen beschränkte sie sich fast ausschließlich auf die nationalfremden troischen

Sagen &c.; sie war somit ein schwaches auf fremden Boden verpflanztes Reis,

das nie zum Baum wurde. Erwähnt werden als Tragiker: Livius Andronicus

(220 v. Chr.); Ennius, Pacuvius, Attius und Seneka, dessen 10 erhaltene

Stücke von zweifelhaftem ästhetischem Wert metrisch von W. A. Swoboda übersetzt

wurden und die einzig erhaltenen Tragödien der Römer sind.



c. Franzosen. Jodelle, der Begründer des französischen Theaters, schrieb

1552 die Tragödie Kleopatra. Der berühmte Tragiker Corneille († 1684),

schrieb 31 Tragödien, darunter Cinna, Die Horatier, Rodogune, Cid. Racine

schrieb 11 Tragödien, die Viehoff ins Deutsche übersetzte. Vgl. auch Racines

(von Schiller ins Deutsche übertragene) Nachbildung der Phädra des Euripides,

welche Nachbildung als das beste Drama der Franzosen gerühmt

wurde. Voltaire († 1778) schrieb: Ödipus, Zaïre, Mahomet, Tancrede u. a.

Viktor Hugo (geb. 1802) schrieb: Cromwell, Lukrezia Borgia und das berühmt

gewordene Drama Hernani. Sämtliche Franzosen schrieben aus Anregung der

antiken Tragödie, der Vorschrift des Aristoteles gemäß &c.



d. Spanien. Jn Spanien schloß sich der realistische, naturwüchsige

Lope de Vega in seinen historischen Dramen an die antike Tragödie an, worauf

Calderon die Romantik im Drama begründete. Lope de Vega, der |#f0481 : 459|



bedeutendste scenische Dichter Spaniens, über den A. W. v. Schlegel nur Calderon

stellte, und der 1800 Dramen und 400 Autos sacramentales geschrieben

haben soll, lieferte Tragödien, von denen mehrere zur Bearbeitung für die

deutsche Bühne benützt wurden (z. B. von Zedlitz „Stern von Sevilla“). Von

Lope de Vegas Tragödien sind mehrere deutsche Übersetzungen vorhanden (vgl.

Spanisches Theater von Moritz Rapp Bd. 3─4 1869). Sein oben erwähnter

Stern von Sevilla wird als seine beste Tragödie gerühmt. (Jnhalt: Estrella,

die Schönste aller Schönen, der Stern von Sevilla genannt, lebt in Sevilla, beschützt

von ihrem Bruder Bustos, als Braut des Ortiz, eines edlen Jünglings.

König Sancho bewirbt sich um ihre Liebe. Ortiz und Bustos sind dagegen,

weshalb der König den Vasallen Ortiz an seinen Hof beruft mit dem Auftrage,

denjenigen Ritter zum Zweikampf zu fordern, den ein versiegeltes Blatt

bezeichnen werde. Es ist Bustos. Ortiz unschlüssig zwischen Freundes= und

Vasallenpflicht gehorcht seinem Könige und tötet Bustos. Estrella schmückt sich

zum Empfang des Bräutigams, aber der Spiegel zerbricht und der Fingerring

springt. Bange Ahnung steigt in ihr auf, als man den Leichnam des Bruders

bringt. Jhr Verlangen nach Blutrache befriedigt der König durch Überreichung

des Kerkerschlüssels. Verschleiert naht sie Ortiz und ist verwundert, daß er

seine That durch seine Vasallenpflicht rechtfertigt und die Befreiung zurückweist.

Er wird zum Tode verurteilt, aber der König begnadigt ihn. Estrella will

nicht die Gemahlin des Brudermörders werden. Daher zieht Ortiz in den

Krieg gegen die Mauern und findet den Tod auf dem Schlachtfelde.)



Calderon († 1681) lieferte 108 Jntriguenstücke, heroische Komödien,

historische Schauspiele und Tragödien. („Das Leben ein Traum“, mehrfach

übersetzt, wurde durch die Romantiker eingeführt, ebenso „Die Andacht zum Kreuz“

und Calderons Meisterwerk „Der standhafte Prinz“.)



e. England. Das altenglische Theater, das unter Elisabeth und Jakob

I. zur Blüte gelangte und durch den Riesengeist Shakespeare eine epochebildende

Bedeutung erhielt, befleißigte sich der größten scenischen Einfachheit, um

eine gewaltige Kraft der Charakteristik und eine imponierende Höhe der Weltanschauung,

wie Kenntnis des menschlichen Herzens zur Entfaltung zu bringen.

Neben dem griechischen wurde das Shakespeare'sche Drama die Hauptform für

unser deutsches Drama.



William Shakespeare (1564─1616), der Dichter der Leidenschaft

und der bedeutendste Tragiker der neueren Litteratur, hat alle Beweggründe

des Menschenherzens dargelegt; und da dieses Menschenherz, abgesehen von

vermehrter Bildung der Jahrhunderte, in seiner Leidenschaft sich immer gleich

bleibt, so wird Shakespeare für alle Jahrhunderte von Bedeutung sein. Von

ihm gilt, was sein Cassius zum Brutus über Julius Cäsar sagt:



„Er schreitet über diese enge Welt

Wie ein Colossus, und wir kleinen Menschen

Wir wandeln zwischen seinen Riesenbeinen.“



Von seinen, durch Schlegel, Ortlepp, Bodenstedt, Baudissin und Dorothea

Tieck u. a. ins Deutsche übersetzten Tragödien sind hervorzuheben:

|#f0482 : 460|



1. „Romeo und Julia.“ (Romeo, der Sohn Montagues, erscheint

verkleidet auf dem Maskenball Capulets, wo er die einzige Tochter Capulets,

Julia, kennen lernt und in Liebe zu ihr erglüht. Die Liebenden beschließen, da

die Väter sich hassen, heimlich vom Franziskaner Lorenzo sich trauen zu lassen.

Ein unglücklicher Zufall zwingt Romeo zum Kampf und zur Ermordung des

Vetters seiner Julia. Er wird verbannt und Julia soll zur Verbindung mit

Graf Paris gezwungen werden. Auf Lorenzos Rat nimmt sie einen, den

Scheintod für nur zwei Tage bewirkenden Schlaftrank. Julia wird für tot

gehalten und in der Familiengruft beigesetzt. Die Todesnachricht erfährt Romeo,

bevor ihn Lorenzo benachrichtigen konnte. Er eilt herbei, dringt in die Gruft, tötet

den begegnenden, ihm unbekannten Paris, worauf er sich nach rührendem Abschied

vor der Leiche vergiftet. Jetzt erwacht Julia. Unendlicher Seelenschmerz erfaßt

sie, als sie das Giftfläschchen sieht; sie tötet sich mit einem Dolch. Nun erscheinen

die Montagues und Capulets und schließen vor den geliebten Toten Frieden.)



2. „Hamlet, Prinz von Dänemark,“ wohl die bedeutendste Tragödie

Shakespeare's. (Claudius, König von Dänemark, vergiftet Hamlet's Vater

und ehelicht dessen Wittwe. Da erscheint dem Hamlet des Gemordeten Geist

und fordert Rache. Unter dem Schein des Wahnsinns verbirgt Hamlet seinen

Racheplan. Trotzdem schickt ihn der argwöhnische König nach England und

befiehlt seine Ermordung. Hamlet findet den Befehl, wird darauf von Seeräubern

gefangen, freigegeben und kehrt nach Dänemark zurück. Der König reizt

nun Laërtes, den Sohn des von Hamlet getöteten Polonius zur Fechtprobe (Wettkampf)

mit Hamlet, da Laërtes während der Probe leicht sein stumpfes Rapier

gegen ein scharfes vergiftetes vertauschen könne, während der König außerdem

einen vergifteten Becher Wein für Hamlet bereit hält. Hamlet wird nach

2maligem Sieg verwundet; er verwundet aber auch, nachdem im Durcheinanderwerfen

die Rapiere verwechselt waren, den Laërtes. Da stirbt die Königin,

welche aus dem Giftbecher getrunken, und der sterbende Laërtes gesteht nun

seinen und des Königs Verrat. Hamlet durchbohrt den König und stirbt mit

den Worten: der Rest ist Schweigen.)



3. „König Lear.“ (König Lear will sein Reich unter seine 3 Töchter

Goneril, Regan und Cordelia teilen, dabei aber diejenige bevorzugen, welche ihn am

meisten liebe. Die beiden älteren falschen Töchter heucheln Liebe und erhalten

das Reich; die jüngere, treuliebende Cordelia, welche ihre Liebe nicht äußern

kann, wird enterbt und verstoßen. Sie geht zum Gemahl nach Frankreich.

Bald zeigt sich die Schlechtigkeit der älteren Töchter, indem sie dem Vater das

nötige Einkommen vorenthalten. Er spricht einen gräßlichen Fluch über sie

aus und irrt nun wahnsinnig auf öden Heiden umher. Cordelia stellt sich an

die Spitze eines vom Gemahl erbetenen Heeres. Sie wird nebst ihrem Vater

gefangen genommen und erdrosselt. Aus Gram stirbt König Lear auf ihrer

Leiche. Doch das Geschick ereilt auch die Schwestern: Goneril vergiftet Regan

und tötet sich selbst. So ist der Fluch des Vaters in Erfüllung gegangen.)



4. Macbeth, 5. Othello, 6. Richard III., 7. Julius Cäsar,

8. Coriolan u. s. w. Sie sind sämtlich Repertoirstücke unserer deutschen Bühnen &c.

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f. Jtalien. Als italienische Tragiker von Verdienst sind zu nennen:

Nicolini, Manzoni und besonders Alfieri († 1803), welcher 21 von Rehfues

und Tscharner in's Deutsche übersetzte Tragödien schrieb, von denen Maria

Stuart, Orest, Virginia, Abel und Agamemnon die bekanntesten sind &c.



g. Deutschland. Jn Deutschland, wo die ersten Anfänge im Drama

(nach Tacitus in Germania cp. 24) auf theatralische Aufführung von Waffentänzen

zurückzuführen sind und wo nur die hochgelehrte Äbtissin Rhoswitha um

980 sechs dem Terenz in lat. Sprache nachgebildete Lustspiele schrieb, ging

die Tragödie wie bei den Griechen aus dem religiösen Kultus (aus Passionsspielen)

hervor, welche das Leben und Leiden des Erlösers erzählten und in

den 3 letzten Tagen der Charwoche erzählend aufgeführt wurden. Jn diesen

epischen Mysterien war die tragische Stimmung vorherrschend. Das erste,

lateinisch geschriebene Mysterium stammt aus dem 12. Jahrhundert. Das Volk

hatte ein gewisses Schaubedürfnis; es mußte Christus zum Kreuze wanken sehen.

Jm folgenden Jahrhundert mischte man deutsche Strophen ein. Überwiegend

wurde in den Mysterien die deutsche Sprache im 14. Jahrhundert. Jm 15.

Jahrhundert wurde die Mysterie überall auf den Märkten und in Kirchen aufgeführt

(I. 49).



Das Studium der klassischen Litteratur führte zu Versuchen in der Tragödie.

Besonders Hans Sachs, der 55 Tragödien schrieb, wurde der Schöpfer

der deutschen Tragödie wie des deutschen Drama überhaupt. Gryphius und

Lohenstein im 17. Jahrhundert gaben sodann der Tragödie anerkennenswerten

Aufschwung.



Gryphius (I 51) schrieb mehrere Tragödien.



Lohenstein noch mehr. Des Letzteren Trauerspiele können trotz der Jnschutznahme

Kerckhoffs (v. Lohensteins Trauerspiele &c., Paderborn 1877) weder

nach Jnhalt und Art der Bearbeitung noch hinsichtlich ihres poetischen Gehalts

gepriesen werden. Man vgl. nur wenige Verse aus der Kleopatra:



Traun wir uns den Anton selbsthändig tot zu schauen,

So denn fällt's uns nicht schwer, durch unser Liljenbrust,

Durch den benelkten Mund zu zwingen den August.

Bereitet ihn zu einer Mäusekost

Und laßt das Rad die Schienbein ihm zerbrechen.

Wenn nun nach diesem Kurzweilspiel

Anton nicht länger trauern will,

So sterbe ja der Hund, der mich hat tot gepeinigt.

Man wind ihm seine Därmer aus dem Bauche,

Tränkt ihn mit Krötensaft, speist ihn mit Hüttenrauche,

Näht ihn in Bärenhaut und werft ihn Hunden für &c. ─ ─



Klopstock schrieb biblische und nationale Tragödien (z. B. der Tod Adams);

v. Cronegk lieferte die Preistragödie Codrus (I. 54); Wieland schrieb Lady

Johanna Gray &c.



Aber erst Lessings, des genialen Verfassers der Hamburger Dramaturgie,

Tragödien waren epochebildend. Lessing brach mit den alten Traditionen.

Jhm folgten Schiller und Goethe, die sich dem Einfluß der antiken Tragödie |#f0484 : 462|



noch nicht ganz zu entziehen vermochten (vgl. Schillers Braut von Messina

und seine Übersetzung der Jphigenie in Aulis von Euripides, Goethes Nachdichtung

der Jphigenie in Tauris &c.) und von denen Goethe die Aufmerksamkeit

unseres Volks durch Egmont auf das echt deutsche historische Trauerspiel

lenkte, während Schiller die Tragödie durch den romantischen idealen

Charakter, den er ihr verlieh, zur höchsten Höhe emporhob.



Um eine Anregung zum poetischen Studium der bedeutendsten Tragödien

unserer Litteratur zu geben, und um deren litterargeschichtliche Bedeutung zu

zeigen, führen wir unter Verweisung auf Lessings Miß Sara Sampson und

Emilia Galotti lediglich die bedeutendsten Tragödien Schillers und Goethes durch

präzise Analysen ein.



Die Verschwörung des Fiesko, von Schiller. Mit diesem republikanischen

Trauerspiel eröffnet Schiller die Reihe jener historischen Tragödien,

die des Dichters dauernden Ruhm begründeten. Jn demselben bringt er seinen

Freiheitsdrang zum Ausdruck. Das Stück, durch rasche Beweglichkeit, Glanz

und Kraft der Charaktere ausgezeichnet, stellt den Verstand in den Kampf mit

den bestehenden Verhältnissen. Es behandelt als Stoff die Geschichte von der

Verschwörung des Fiesko gegen die Dorias in Genua im 16. Jahrhundert.

Der Held Fiesko, auf die Dorias eifersüchtig, besonders auf den Neffen des

Andreas, Johann Doria, sucht durch eine Verschwörung der Herr Genuas zu

werden. Die Verschworenen sind im Vorteile; Johann Doria fällt; Herzog Fiesko,

indem er über ein Brett gehen will, um eine Galeere zu besteigen, wird von

Verrina, dem Rächer der Freiheit, in's Meer gestoßen ─ und ertrinkt.



Kabale und Liebe, von Schiller. Dieses bürgerliche Trauerspiel ist

wie das vorige von revolutionärem Geiste durchweht, indem der Dichter der

moralischen Verderbtheit höherer Stände den Adel der Seele in niederen Ständen

entgegenstellt. Es ist reich an schönen Einzelheiten, verliert aber, abgesehen

von der noch nicht immer gewählten Sprache, durch unnatürliche Charakterzeichnung,

wie auch durch den unversöhnten Schluß.



Jnhalt: Der Präsident von Walter sucht mit Hülfe seines Haussekretairs

Wurm das Liebesverhältnis seines Sohnes Ferdinand zu Luise, der Tochter des

Stadtmusikus Miller, zu lösen. Durch erweckte Eifersucht gelingt der Plan;

Ferdinand vergiftet sich und Luise. (Vgl. S. 39 d. Bds.)



Maria Stuart, von Schiller. Schiller bietet in der Heldin Maria

Stuart (S. 40 d. Bds.) einen ungewöhnlichen Charakter, welcher Kraft genug

zeigt, ungeheure, namenlose Leiden zu ertragen. Jhre menschlichen Fehler:

Sinnlichkeit, gekränkte Eitelkeit, von denen sie schon in früheren Jahren zur

Zeit ihrer Regentschaft befangen ist, haften ihr auch noch im Kerker an. Wir

sehen sie hier ringend mit dem Unglücke. Unterstützt von religiösem Gefühl,

sucht sie das Unglück zu bewältigen und geht endlich nach vierteljähriger Gefangenschaft

mit sanfter Demut und rührender Ergebenheit als Heldin ihrem

unvermeidlichen Schicksal, dem Tode entgegen.



Die Jungfrau von Orleans, von Schiller. Der Dichter zeigt sich

in dieser romantischen Tragödie, die den Anfang der modernen Romantik bildet, |#f0485 : 463|



auf dem Standpunkte des Katholizismus, weshalb er von Seiten der Protestanten

manche scharfe Kritik ertragen mußte. Jhre Grundlage bildet die Befreiung

Frankreichs von der englischen Herrschaft durch Aufopferung der heldenmütigen

Jungfrau von Orleans, Johanna d'Arc. Schiller hat, um eine

romantische Tragödie zu schaffen, Personen wie Ereignisse sehr idealisiert und

die Heldin mit dem Reize des Phantastischen und Wunderbaren in hohem

Grade umgeben.



Die Braut von Messina, von Schiller. Diese Tragödie machte

den Versuch, den antiken griechischen Chor in unsere Litteratur einzuführen.

Aber die Chöre, welche Schiller für den einheitlichen Chor der Griechen bietet,

reflektieren viel zu viel und unterbrechen handelnd die Handlung (z. B. wo

der Chor für die feindlichen Brüder mit gezücktem Schwert Partei nimmt),

eine Ungehörigkeit, die Schiller mit Platen teilt, indem auch letzterer seinen

Chor in die Handlung hinein- oder aus ihr herausreden läßt; ich erinnere an

Die verhängnißvolle Gabel, wo der Jude Schmuhl Mantel und Bart von sich

wirft und ─ bis an den Bühnenrand vortretend ─ als Chorus erscheint,

welche Demaskierung ─ um Chor sein zu können ─ fünfmal bei den Aktschlüssen

vorkommt, die durch sog. Parabasen oder Reden des Dichters an's

Publikum markiert werden. Die griechische Tragödie hatte den Chor als Eischale

vom Dithyrambus her behalten; unsere Tragödie hat keinen solchen Ursprung,

folglich auch kein Bedürfnis für den störenden Chor, der, soweit er an der Handlung

sich beteiligt, überhaupt aufhört, Chor im antiken Sinne zu sein. (S. 457 d. Bds.)



Jmmerhin ist Schillers Braut von Messina durch den Versuch eines Chors

eine interessante Litteraturerscheinung, die freilich trotz großer, erhabener Gedanken

und glänzender Sprache gerade deswegen weniger Glück als die andern Stücke

des Dichters machte. Eigentümlich ist in dieser Tragödie auch das Auftreten

von drei Religionen (der christlichen, griechischen und maurischen), was aber

dadurch zu rechtfertigen ist, daß alle drei auf diesem Tummelplatze der verschiedensten

Völker (Sicilien) heimisch waren. Den Jnhalt des Trauerspiels

bildet der durch ein dunkles Verhängnis erfolgte Untergang eines altsicilianischen

Fürstenhauses.



Clavigo, von Goethe. Das Trauerspiel, dessen Charaktere bis auf

den unnatürlich charakterlosen Helden des Stückes gut gezeichnet sind, ist reich

an Effekt. Goethe zeigt uns im Helden Clavigo einen Schriftsteller und königlichen

Archivar in Madrid, der ein Verhältnis mit der schönen und tugendreichen

Maria Beaumarchais anknüpft. Clavigo, von seinem Freunde, dem

weltlich gesinnten Carlos verleitet, ist durchaus wankelmütig und verläßt seine

Braut, um eine glänzendere Partie zu suchen. Mariens Bruder kommt nach

Madrid, um seine Schwester zu rächen. Marie unterliegt dem Grame und

der Aufregung, bevor das geschehen. Clavigo, ihrem Leichenzuge begegnend,

wird an Mariens Sarge von ihrem Bruder erstochen.



Egmont, von Goethe. Das in schöner Prosa geschriebene Trauerspiel,

dessen Stoff der Geschichte des Abfalls der Niederlande entnommen ist, bringt

treffende Bilder niederländischen Lebens aus damaliger Zeit. Zu beklagen ist, |#f0486 : 464|



daß dem Egmont als Helden die Fülle der sittlichen Kraft fehlt und Brakenburg

in seinem ganzen Wesen zu sentimental geschildert ist. Jnhalt: Egmont,

ein ritterlicher Held, ein treuer Vasall, Heiterkeit und Freiheit liebend, glücklich

und geehrt, sorglos und liebeselig, strebt für die Freiheit. Jnfolge des

Leichtsinnes, mit welchem er des vorsichtigen Oranien Warnung verachtet, stürzt

er in sein Verderben. Der grausame Herzog Alba vollstreckt das Schicksal;

doch stirbt der Held im tröstlichen Bewußtsein, ein Opfer der Freiheit zu sein.

Jhm gegenüber steht das mit verehrender Schwärmerei zum Geliebten aufblickende,

einfache, reizend naive Clärchen, das bereit ist, für den Gefangenen

alles zu wagen und zu dulden. Goethe's Charakterzeichnung des Clärchen ist

von unerreichter Schönheit u. s. w.



Eine eigenartige geschichtliche Färbung erhielt die deutsche Tragödie durch

die Dramatiker der Romantik (I. 59), ferner durch die Repräsentanten des

jungen Deutschland (I. 61), endlich durch die im vorigen Paragraphen aufgeführten

Schicksalstragiker.



Jn unserer Zeit sind die meisten bedeutungsvollen Tragödien in die Rubrik

der deklamatorischen Jambentragödie zu zählen, die sich an Lessing und Schiller

anlehnt und deren Vertreter wir I § 18 z. B. S. 66. 77 &c. verzeichnet haben.



Neben ihnen sind noch ─ soweit dies nicht bereits im Text der §§ 154─163

geschehen ist ─ als Tragödiendichter der Gegenwart zu nennen: Julius Mosen

(Cola Rienzi; Otto III); Gensichen (Danton); Jensen (Dido); Frau Charlotte

v. Stein-Kochberg (Dido); Geibel (Brunhild); Fr. Hebbel (Nibelungentrilogie);

Gregorovius (Tod des Tiberius); Ferd. Kürnberger (Catilina); Tempeltey

(Klytämnestra); Alb. Schmidt (Marfa); R. Bunge (Desiderata, Nero &c.);

O. Devrient (Tiberius Gracchus); Haeger (Grandisson); Ed. Lobedanz (Hulda);

Kastropp (Helene); Jordan (Die Wittwe des Agis); O. Girndt (Dankelmann);

Mosenthal (Pietra &c.); Arth. Müller (Der Fluch des Galiläi; Geächtet &c.);

Ludw. Eckart (Palm, ein deutscher Bürger); Ad. Wilbrandt (Nero; Kriemhild;

Arria und Messalina); Karl Thomas (Samson); Johannes Petersen (Der

schwarze Graf); Mart. Greif (Nero); Die Marquise von Brinvilliers von

Conrad (Pseud. f. Prinz Georg v. Pr.); Köster (Ulrich von Hutten); Alex.

Rost (Friedrich mit der gebissenen Wange); W. Genast (Bernh. v. Weimar);

Feod. Wehl (Herman von Siebeneichen &c.); Grosse (Tiberius); Heyse (Elfriede,

Graf Königsmark); H. Bürger (Die Florentiner); v. Gottschall (Arabella Stuart;

Kath. Howard &c.); Arth. Fitger (Die Hexe &c.); F. Dahn (König Roderich);

Bodenstedt (Kaiser Paul); O. Roquette (Der Feind im Hause); Paul Möbius

(Bar Kochba); Rob. Waldmüller (Brunhild); G. Köberle (Der Löwe von Béarn);

Peter Lohmann (Masaniello, Savonarola; Appius Claudius &c.); Faust Pachler

(Begum Sumro); Fr. Halm (dasselbe [Begum Sumro] nach der Novelle La

Begorn Sombre
); F. v. Saar (Heinrich IV. Tod); Häbler (Liebes-Geschick);

Alfr. Meißner (Reginald Armstrong); Rogge (König Manfred); Kinkel (Nimrod);

Kruse (Die Gräfin &c.); Koberstein (Erich XIV.); Murad Efendi (Selim III.);

Wichert (Otto III.); Marie v. Ebner-Eschenbach (Maria Roland; Maria Stuart &c.);

Heydrich (Gracchus); H. Herrig (Alexander); Hedrich (Kain) u. a.

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§ 164. Schauspiel (Drama).



1. Schauspiel ist diejenige dramatische Dichtung, welche zwischen

Tragödie und Komödie in der Mitte steht, indem sie zwar einen an

die Tragödie erinnernden ernsten Charakter hat, dabei aber einen glücklichen,

versöhnenden Ausgang nimmt. Der Held schafft sich sein Schicksal

selbst; er verläßt entweder den zum Unglück führenden Weg, oder

er besiegt die feindlichen Verhältnisse.



2. Von der Tragödie unterscheidet sich das Schauspiel daher besonders

durch den glücklichen Ausgang. (Vgl. Paul Heyses Schauspiel Elisabeth

Charlotte, das bis zum Schluß den Charakter der Tragödie behält.)



3. Schauspiele gab es schon im Altertum; man zählte sie jedoch

zu den Tragödien.



4. Die Franzosen nennen das Schauspiel Tragikomödie.



5. Schauspiele waren die sog. Staats- und Hauptaktionen &c.



1. Das Schauspiel (in der allgemeinen Bezeichnung das eigentliche

Drama,
─ bei Hans Sachs hieß es Spiel) schließt sich an die Tragödie

an, weil es ebenfalls wie diese den Ernst des Lebens darstellt. Es bildet

den Übergang zum Lustspiel (Komödie). Vom Trauerspiel unterscheidet es

sich zunächst dadurch, daß der Held der interessanten Begebenheit nicht untergeht,

sondern die Fähigkeit und den Charakter besitzt, seine zum Unglück führende

Laufbahn zu ändern und seinem Untergang zu entgehen. Wenn seine That

vielleicht sein Unglück bereitet, so geht diese wohl aus dem Drange der Verhältnisse

hervor, aber nicht aus der inneren Notwendigkeit seines Charakters.

Wo in der Tragödie die Notwendigkeit, das Verhängnis herrscht (wie in dem

Lustspiel der Zufall und die Willkür der Jntrigue), da waltet im Schauspiel

die Freiheit der Selbstbestimmung.



2. Oft ist es nur der Schluß, der das Schauspiel von der Tragödie

unterscheidet, der siegende Held im Gegensatz zum untergehenden.

Jn diesem Falle verdient das Drama tragisch genannt zu werden; denn es

stellt sich der endliche Sieg einer guten Sache als Werk der sittlichen Weltordnung

dar, welche den Helden durch Leiden führt, in denen er als ein

nicht schuldloses, vielmehr der Prüfung und Läuterung ausgesetztes Werkzeug

derselben erscheint. Dieses tragische Drama ist daher gewissermaßen als Unterart

der Tragödie aufzufassen. Goethes Tasso und seine Jphigenie, die der

Dichter selbst Schauspiele nennt, könnten nach Stoff und Behandlung mit allem

Recht als Tragödien bezeichnet werden; ebenso Schillers Räuber; Alex. Rosts

Volksschauspiel Ludwig der Eiserne oder das Wundermädchen aus der Ruhl,

besonders aber das erwähnte Schauspiel von Heyse: Elisabeth Charlotte u. a. Jm

Schauspiel geht der Held als Sieger aus dem Kampfe hervor, nicht wie in der

Tragödie als gebrochen, in demütiger Ergebung ausgesöhnt. Er hat die Macht

gehabt, die widrigen Verhältnisse zu bekämpfen. Auch war sein Kampf nicht, wie

in der Tragödie dies der Fall ist, ein Kampf gegen ewige Gesetze des Rechts |#f0488 : 466|



und des Gefühls, sondern vielmehr gegen das Unrecht oder einen nicht in der

Notwendigkeit liegenden Widerstand. (Jch weise nur auf Wilhelm Tell hin.)



Nicht durch fremde Elemente (deus ex machina), sondern durch den Verlauf

der Handlung wird im Schauspiel die Lösung motiviert.



3. Eigentliche Schauspiele mit versöhnendem Schluß finden wir schon bei

Äschylus (die Oresteia, wo die Eumeniden durch Lossprechung des Orestes vor

der lichten Macht des Bewußtseins zurücktreten), bei Sophokles (Philoktet,

Ödipus auf Colonos und Ajax, wo der Held seine Verirrung durch freiwilligen

Tod sühnt und die Ehre des Begräbnisses gewinnt); Euripides (Jphigenia in

Tauris. Den Knoten löste hier ein Gewaltakt der Gottheit, wodurch die Wendung

zum Guten herbeigeführt wurde).



Einen Unterschied zwischen Tragödie und Schauspiel kannten die Alten nicht;

sie nannten merkwürdigerweise auch das Stück mit versöhnendem Ausgang Tragödie.



4. Die Franzosen (z. B. Corneille für seinen Cid) erfanden das Wort

tragicomédie statt tragicocomédie. (Später nannte Corneille seinen Cid

tragédie.) Gutzkow hat auffallenderweise die Bezeichnung Tragikomödie für sein

Drama Nero in 10 Bildern adoptiert. Hebbel suchte diesen Titel für eine

Gattung, wie sein „Trauerspiel in Sicilien“, einzubürgern.



5. Eine Abart des Schauspiels waren früher die extemporierten, nach

einer Skizze aufgeführten sog. Staats- und Hauptaktionen, welche Züge aus

dem Leben bedeutender Staasmänner in einer gewissen Abgemessenheit darstellten,

so daß sie häufig dem Lustspiele verwandt waren, ja, in dasselbe

übergingen.



Beispiele: Als Muster des Schauspiels sind außer den oben genannten

zu bezeichnen: Shakespeares Maß für Maß, Cymbeline, Der Kaufmann von

Venedig; Schillers Räuber, und sein Tell; Goethes Jphigenie, und sein Götz

von Berlichingen; Kleists Prinz von Homburg; Spielhagens Liebe um Liebe;

Krug von Niddas Heinrich der Finkler; Hertz' skandinavisches Drama König

Renés Tochter, u. a. im folgenden Paragraphen genannte.



§ 165. Einteilung der Schauspiele.



Bei der Verwandtschaft des Schauspiels mit der Tragödie unterscheidet

man fast dieselben Arten von Schauspielen wie von Tragödien.

(§. 161 d. Bds.)



Dazu kommen noch einige im Schauspiele mit Vorliebe gepflegte

Formen.



Wir führen nachstehend die charakteristischen Arten vor.



1. Klassische Schauspiele. (Beispiele s. §. 164. 3.)



2. Philosophische Schauspiele. (Beispiele: Goethes Faust, Lessings

Nathan, G. v. Meyerns Ein Kaiser, und das von Bernh. Hirzel aus

dem Sanskr. und Prakrit metrisch übersetzte Drama Prabodhatschandrodaja

von Krischnamisra &c.)

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3. Geschichtliche, heroische, politische Dramen. (Beispiele:

Schillers Tell, Demetrius &c.; Ponholzers Bonifaz, der Apostel der Deutschen;

Bodenstedts Boriß Godunoff; R. Gisekes Ein Bürgermeister von Berlin;

P. Heyses Colberg; Raupachs Die Hohenstaufen (10 Dramen) und die Trilogie

Cromwell; Ludw. Wesenfelds Der Fall von Metz; Bärmanns König

Kanut u. a.; besonders aber Shakespeares König Johann, dessen König Heinrich

der Sechste; König Heinrich der Achte; König Richard der Dritte &c.)



4. Bürgerliche Dramen. Man nennt diese Dramen, deren Begebenheit

dem bürgerlichen Leben entnommen ist, wohl auch Familiendramen.

Dieselben gewähren meist nur einen beschränkten Eindruck, weil die bürgerlichen

Verhältnisse nur geringen Einfluß auf das Allgemeine und Große ausüben

und auch für die Helden selbst bei den gewagtesten Entschlüssen wenig zu befürchten

ist. Für diese bürgerlichen Schauspiele ist der Kothurn der Tragödie

zu erhaben und der Soccus der Komödie zu hoch.



Beispiele: Goethes Die Geschwister; Gutzkows Herz und Welt, Ottfried;

Jfflands Jäger; Kotzebues Familienstücke; Fritz Brentanos Die Weber von Lyon

u. s. w.



5. Zeitdramen. Zu diesen dürfen wir auch die Sittenschauspiele und

die socialen Schauspiele rechnen. Beispiele: A. Friedrichs Übersetzung des

Pariser Sittenschauspiels Le Demi Monde von Dumas Sohn; Die sociale

Frage von Gustav von Hoven; Unsere Sklaven von Sacher-Masoch &c.



6. Die Volksschauspiele. Es sind dies jene Dramen, die ihre Figuren

dem Volksleben entlehnen und mit ihrer Begebenheit im Volke wurzeln. Beispiele:

Das trefflich gearbeitete Drama Raupachs Der Müller und sein Kind;

Mein Leopold von L'Arronge; Der Biberhof von Märzroth; Deborah von

Mosenthal; Ein Excommunizierter von Heinr. Jantsch u. a.



7. Die Ritterschauspiele. Es giebt deren eine höhere und eine

niedere Richtung. Die erstere ist vertreten z. B. durch Kleists romantisches

Käthchen von Heilbronn (vgl. auch Babos Rittertrauerspiel Otto von Wittelsbach).

Letztere Richtung ist eine Zwittergattung und steht der Posse näher als

dem Schauspiel. Seinem ernsten Stoffe und seiner Anlage nach gehört das

niedere Ritterschauspiel zu den Schauspielen, während ihm seine Ausführung,

die Mittel der Darstellung und die Wirkung den Charakter der Posse verleihen.

Die bekanntesten haben Lauer, Kopal, Pocci, Holbein geschrieben. Zur Charakterisierung

genügt die einfache Titel-Wiedergabe: a. Liebe kann Alles,

oder: Sie kriegen sich! Pyramidales Ritterschauspiel zu Fuß und zu Pferde

mit Gesang, Tanz und Lanzenbrechen in 2 kurzen, angenehmen Aufz. von

K. A. Lauer. b. Kunigunde von Wolfenbüttel, oder: Die Liebe ist die

Wurzel alles Übels, oder: Das Turnier zu Pferde. Ein niedlich=romant. Ritterschauspiel

in 1 Aufz. und 2 Verwandlungen. Musik und Gesang von K. A.

Lauer. c. Der Ohrenbalsam des Eremiten, oder: Der ungehörte Vaterfluch, oder:

Des Backenstreiches Fluch und Segen. Ein ritterl. Schauspiel mit Gesang, Tanz,

Gefecht und Feuerwerk in 2 Aufz. und 1 Vorspiele von Gust. Kopal. d. Die

stolze Hildegard, oder: Asprian mit dem Zauberspiegel. Großes Ritterschauspiel |#f0490 : 468|



in 3 Aufz. von Franz Pocci. e. Kasperls Heldenthaten von Pocci. f. Das

Turnier zu Kronstein von Franz v. Holbein u. s. w.



§ 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und

Würdigung hervorragendster Schauspiele.



Die Aufzählung der Dramatiker fremder Litteraturen kann hier

unterbleiben, da die im § 162 genannten Tragiker auch die besten

Schauspiele geschrieben haben. Wir beschränken uns darauf, von den

in Deutschland berühmt gewordenen Schauspielen aus fremden Litteraturen

durch Mitteilung präziser Analysen zum Studium zu empfehlen:

1. das spanische Schauspiel: König Wamba, 2. das indische: Sakuntala,

3. das französische: Dora.



1. König Wamba von Lope de Vega. (Deutsch von Moritz Rapp

u. a. Halm vollendete 2, nunmehr gedruckte Akte.)



Dieses von allen Gebildeten studierte Schauspiel, welches zur Zeit der

Romantik unbestrittenen Einfluß auf die Entwickelung unseres deutschen Drama

übte, ist für Gewinnung eines weiten Blicks in die Technik beachtenswert. Es

läßt sich erkennen, daß alle in Romanzen mit spanisch gläubiger Reliquienverehrung

aufbewahrten Einzelzüge aus dem Leben des gotischen Bauern Wamba,

welcher Spaniens König wurde, benutzt wurden; deshalb ist dieses Stück zugleich

von Wert, um neben der Technik des Drama den spanischen Volksgeist

kennen zu lernen: die Empfindungswelt, den Fanatismus, den komischen,

katholischen Aberglauben des Spaniers. Man kann sagen, daß der Zuschauer

bei diesem Drama die Handlung in thätigem Genuß selbst mit weiter spinnt.

Spanien war nach des frommen Königs Regiswind Tode in Anarchie versunken.

Der Papst, an den sich das ungläubige Volk wandte, erteilte den

Deputierten den Rat, ein Bäuerlein zum König zu wählen, das sie mit zwei

Stieren von gleicher, bestimmter Farbe am Pfluge antreffen würden. Sie gehen

heim ─ und finden den Bauern Wamba. Der Bauer wird nun ein Tyrann

und kommt schließlich durch Erwig, eine Donna Blanca, und den Magier

Mujaravo elendiglich um's Leben. Unvorbereitetes Unglück folgt dem unvorbereiteten

Glück ─ das ist die Lösung. Alle spanisch=volkstümlichen Züge sind

in das Drama aufgenommen, z. B. daß Wamba das Wort mosaie nicht hören

kann, weil es an Moses und die verhaßten Juden erinnert. Auch ist im

Charakter Wambas das Jdyllische mit verzwickter Bauernschlauheit vereint.



Lope hat sein Jahrhundert gezeichnet, wie es war. (Das hat auch der

große Dramatiker Calderon gethan, weniger aber Cervantes, der in

anderen Beziehungen über seine Nation und seine Kunstgenossen hinausreichte.)



2. Sakuntala von Kalidasa. (Für die deutsche Bühne bearbeitet

von Wolzogen.)



Die erste Bekanntschaft mit Sakuntala verdanken wir William Jones.

Auf seiner Übersetzung (Works of Jones VI. p. 209, 1789) beruht zunächst

die deutsche Übersetzung von Forster. Eine gelungene, metrische Bearbeitung |#f0491 : 469|



von Sakuntala lieferte ferner Wilh. Gerhard (Leipzig 1820). Den Bearbeitungen

von Lobedanz (1851) und Meier (Stuttg. 1852) folgte die Übersetzung

Rückerts (Nachlaß 1867), worauf A. Donsdorf und Wolzogen

Sakuntala (mit geringem Erfolg) für die deutsche Bühne bearbeitet haben.



Das Drama bietet die zarteste Schicksalsfabel und gehört durch Glut der

Phantasie und Mannigfaltigkeit der farbenreichsten Bilder zum Besten, was die

indische Poesie geliefert hat und welches in wahrhaft Goethe'scher Vollendung

sich uns vor die Augen stellt. Es ist eine Episode aus dem Mahâbhârata

und wird dem indischen Calderon, Kalidâsa, zugeschrieben. Dieser blühte unter

der Regierung Wikramâditja's, von welchem die indische Zeitrechnung sich herschreibt,

und der „den neunfachen Perlenschmuck“ ─ die ausgezeichnetsten Geister

seines Volks ─ um sich versammelte. Kâlidâsa war also ein (nur etwas älterer)

Zeitgenosse der römischen Dichter Vergil, Horaz, Tibull und Properz, sowie sein Gebieter

ziemlich gleichzeitig mit dem Diktator Cäsar regierte. Er hat auch das Drama

Urwasî (eigentlich Vikramorwasi == Tapferkeits-Urwasi) geschrieben, das von

Wilson in's Englische und von Höfer (Berlin 1837) in's Deutsche übersetzt wurde.



Jnhalt von Sakuntala: Der König Duschianta verirrt sich auf der Jagd

in die Einsiedelei Kanwa's. Hier sieht er die Büßerjungfrau Sakuntala, vermählt

sich mit ihr nach Gandharverweise und übergiebt ihr einen Ring mit

dem Versprechen, sie abholen zu lassen. Als sie später, in Gedanken versunken,

einen Einlaß begehrenden Brahmanen einzulassen versäumt, flucht dieser, Duschianta

möge sie vergessen und sie nur wieder bei Anblick seines Ringes erkennen.

Kanwa sendet Sakuntala zu Duschianta; da verliert sie beim Baden

den Ring. Der Fluch wirkt. Duschianta will sich trotz versuchten Auffrischens

seiner Erinnerung nicht entsinnen, sie gesehen zu haben. Als sodann ihre Mutter,

die Fee Menaka, sie entführt hat, bringt ein Fischer dem Könige den Ring, und

Duschianta wird nun von Sehnsucht nach seiner Gemahlin fast verzehrt. Der

Wagenlenker Jndra's fährt ihn endlich zu ihr ─ nach dem Lustorte Jndra's, wo

die Nymphen und unschuldig Verfolgten wohnen. Hier gewahrt er zuerst seinen

Sohn, der mit einem Löwen spielt; dann findet er Sakuntala, deren Verzeihung

er erbittet, worauf er beglückt mit ihr in sein Reich zurückkehrt.



3. Dora von V. Sardou. (Deutsch von Schilcher.)



Dieses gut übersetzte, zum deutschen Repertoirestück gewordene espritreiche

Schauspiel ist mehr als andere geeignet, das Geheimnis eines wirksamen Bühnendramas,

eines das heutige Publikum begeisternden französisch=theatralischen Stückes,

erkennen zu lassen.



Sardou, der im Ganzen satirisch angelegte Dichter, verstand es in diesem

Stücke, das er, im Gegensatz zu anderen Dichtern, denen der Salon nur Versammlungsort

ist, aus dem Salon emporsprießen läßt, aus anekdotenhaften mosaikartig

verwebten Bildern der ersten Akte die Handlung erstehen zu lassen. Dabei unterscheidet

sich das Stück durch sein ethisches Prinzip vorteilhaft von der üblichen

Frivolität des französischen Konversationsspiels, obwohl es auf dem nicht zu verleugnenden

Boden französischer Sittenzustände aufgebaut ist. Ausgestattet mit der

staunenswerten Fähigkeit des französischen Schauspiels der neueren Zeit, durch |#f0492 : 470|



kunstvoll verwebte und ineinander gefügte Thatsachen zu wirken und zu entscheiden

(eine der deutschen Litteratur durchaus fern liegende Fertigkeit, weil der

Deutsche, der aus seiner tieferen Anlage nicht diesen Reichtum an Handlung zu

schaffen weiß, wesentlich innere Motive, psychologische Wandlungen und damit

eine wahrhaft dramatische Vorbereitung der Handlung in ihrem Beginn, in ihrem

Fortgang und in ihren Verwicklungen fordert), entsprießt das Stück dem

Diplomatensalon zweiten oder dritten Ranges (d. h. dem anrüchigen Salon

der diplomatischen Agenten, Nachrichtenvermittler, Spione, Abenteurer und Jntriguanten,

der nie verheiratet gewesenen Witwen, der Fürstinnen und Gräfinnen

ohne Adelsbrief aus aller Herren Ländern). Ein Hauptgeheimnis der Wirkung

ist, daß der Dichter alle genrebildlichen, episodisch aneinander klebenden Momente

der ersten Akte ─ seiner Gewohnheit gemäß ─ in zwei großen Scenen

(der Peripetie des vierten Aktes und der Katastrophe des fünften) vereint. Jn

diesen beiden Scenen entfaltet er seine ganze Wirkung und sein gewaltiges

dramatisches Talent, so daß die aneinander gefügten Momente der drei ersten

Akte wie eine langgezogene Exposition sich ausnehmen. Die nach deutschen

Begriffen wunderliche, abenteuernde Gesellschaft, welche der Dichter zur Unterlage

für sein Kunstwerk wählt, kennt die landläufige, bürgerliche Moral nicht;

sie ist bezahlt und schreckt vor keinem Abenteuer, vor keinem Mittel, selbst nicht

vor offenem Dokumentendiebstahl zurück. Natürlich brütet in den Salons dieser

Gesellschaft eine schwüle, beängstigende Luft, und es ist psychologisch motiviert,

daß dem in diese Kreise Hineingezogenen, aber innerlich ihnen Fernstehenden,

selbst die reineren Elemente, die doch in jener Atmosphäre leben, von ihr infiziert

erscheinen. Diesem Motiv entlehnt das Bild seine mannigfaltig wechselnden Farben.



Jn heller Glorie der Unschuld, naiver Reinheit der Gesinnung und des

tief=innerlichen Frauengefühls hebt sich von dieser korrumpierten Gesellschaft die

ideale Hauptfigur des Stückes (Dora) ab.



Sie hat keine Ahnung von den Machinationen, Jntriguen und Zwecken

ihrer Umgebung; sie schließt ein ideales Liebesverhältnis und gerät schon am

Hochzeitstage bei ihrem Gatten selbst in den durch gravierende Jndizien bestärkten

Verdacht der diplomatischen Korrespondenz und des Diebstahls wichtiger

Dokumente. Hat sich aber schon in der Exposition ihr geistiger Gehalt in der

entrüsteten Zurückweisung eines frechen Zudringlings gezeigt, so manifestiert sich

derselbe besonders in der großen Scene des 4. Aktes, in welcher der Dichter

die echt dramatische Pointe entfaltet. Es ist die Unleugbarkeit zwingender Thatsachen,

die mit unheimlicher Gewalt den Verdacht auf Dora lenkt, die den

liebenden, vertrauenden, edlen André von Maurillac dem qualvollsten Zweifel

verfallen läßt, dem andererseits wieder Dora's Unschuld und Reinheit mit Recht

das stumme, wie in Schmerz erstarrende Zurückweisen jedes Versuchs einer Verteidigung

entgegenstellt. Das Gefühl der zart weiblichen, gekränkten Frauenehre

und der unbelohnten Liebe bäumt sich auf in edlem Frauenstolz gegen

Verkennung und entehrende Verdächtigung; sie verlangt Glauben an ihre Unschuld,

eine auf Achtung ihres Frauenwertes gegründete Liebe, und bricht

wie ihr junges Glück unter den wuchtigen Schlägen der unabänderlichen Vorgänge |#f0493 : 471|



zusammen. Der dramatische Effekt dieser Scene, in welcher der Seelenkampf

alle Nüancen der Leidenschaft entfaltet, ist ein gewaltiger und erhält

nur einen schwachen Reflex in der großen Scene des letzten Aktes, in welcher

durch die geistvolle Jnitiative eines wahren Freundes die Unschuld glänzend

an's Licht kommt, die Jntriguantin entlarvt wird, und der seine Verblendung

beklagende Gatte mit Wonne zu Dora zurückkehrt.



Jn Deutschland war (wie schon bei der Tragödie S. 461 angedeutet

wurde) das plumpe rohe Fastnachtspiel der erste Versuch eines Schauspiels. Bereits

im 12. und 13. Jahrhundert begann man damit, die biblischen Abschnitte

nicht bloß vorzulesen, sondern auch anschaulich darzustellen (z. B. die Ankunft

der Weisen aus dem Morgenlande, Christi Grablegung &c.). Weil der Andrang

in die Kirchen zu groß wurde, verlegte man ganze Aufführungen auf freie

Plätze, wodurch Geistliches mit Weltlichem, Komisches mit Ernstem vermengt

wurde, namentlich als Talentvollere bei Volksfesten Aufführungen mit andern

Stoffen veranlaßten und Schwänke, komische Zwiegespräche, Gaukler- und Pantomimenspiele

der schaulustigen Menge zum besten gaben.



Erst um 1300 n. Chr., als die Blütezeit der Epik, wie der Lyrik vorüber

war, begegnen wir dem ersten Versuch eines deutsch=nationalen Dramas (Sängerkrieg

auf Wartburg, vgl. I. 47. D.), in welchem eine größere Anzahl gut

charakterisierter Personen auftritt und die Begebenheiten lebendig sich abspielen.

Ein epischer Stoff ist hier in dialogischer Form behandelt; dem Epos sind die

erzählenden Partien entnommen, der Lyrik die strophische Form. Dieser Versuch

mußte notwendig zu einem deutsch=nationalen Drama führen, sofern man

in der betretenen Bahn weiter schritt. Aber man verharrte bei der Form

kirchlicher Schauspiele (I. 49) und der sog. Fastnachtsspiele (I. 50. D.), bis

endlich Hans Sachs und dessen Zeitgenossen im 16. Jahrhundert Plan und

Handlung in das Drama brachten. Es entstand durch Herzog Heinrich Julius

von Braunschweig das erste stehende Theater. Leider hinderte das

17. Jahrhundert durch seinen Riesenkrieg und durch seine Anlehnung an die

Fremde die Entfaltung eines nationalen Dramas, so daß unser Drama (I. S. 52

und I. S. 54) den entlehnten Charakter trug. Gryphius, der nach dem Vorbild

des Seneka und der Holländer seine nicht eben kunstlosen Dramen bildete,

leistete Manches für das Drama. Gottsched (I 53) war es, der dem Pomphaften

und Lasciven der schlesischen Schule entgegen trat. Aber das gute

Drama konnte sich auch bei uns, wie bei den Griechen (im Perikleischen Zeitalter

nach den Perserkriegen), oder bei den Engländern (zur Zeit der Elisabeth

nach der Reformation), doch auch erst in der Zeit geschichtlicher Reife Bahn

brechen: zur Zeit Kants und Fichtes nach der Aufklärung. Lessing war es,

dem die Shakespeareschen und Calderonschen Dramen den Weg wiesen und der

berufen war, das deutsche Drama zum Kunstwerk zu erheben. Er setzte der Gottschedschen

Sprachkorrektheit Sprachgehalt entgegen, der französischen Effekthascherei

und Tändelei Lebenswahrheit und naturgemäße Entwickelung

lebensvoller Handlung.
Er beseitigte das lächerliche Moralisieren im Drama

und gab ihm durch sein vorbildliches philos. Drama „Nathan“ seine Selbstständigkeit, |#f0494 : 472|



sowie seine neue metrische Form (Bd. I S. 311 und II §. 156).

(Man studiere Nathan!)



Nun folgten Schiller und Goethe, von denen mindestens Die Räuber,

Tell, und Jphigenie eine interessevolle Vertiefung verlangen können.



1. Die Räuber, von Schiller.



Schiller liefert in diesem Werk kraftvollen, wenn auch in mancher Hinsicht

unreifen Talents ein Drama voll wilder Leidenschaft und übertriebener, fast

unnatürlicher Charaktere. Jm Charakter des Räubers Moor spiegelt er seinen

glühenden Freiheitsdrang und die Unzufriedenheit der Zeit mit dem Bestehenden.

Die Sprache ist kühn, aber doch nicht allenthalben edel.



Jnhalt des Schauspiels: Graf Moors Sohn, Franz, von schlechtem Charakter,

verleumdet seinen gutmütigen, etwas leichtsinnigen Bruder Karl so sehr,

daß der Vater denselben verstößt und verflucht. Karl wird darauf Räuberhauptmann.

Franz nimmt das väterliche Erbe in Besitz und hält den alten,

aus Gram hinsiechenden Vater in einem Turm gefangen. Endlich sucht er

auch seines Bruders Braut, Amalia, zu gewinnen. Karl naht mit seinen

Räubern als Rächer, befreit seinen alten Vater und erschießt seine Braut. Franz

tötet sich aus Furcht. Karl liefert sich den Gerichten aus. „So nimmt,

um mit Schiller in der Vorrede zu sprechen, „das Laster den Ausgang,

der seiner würdig ist. Der Verirrte tritt wieder in die Geleise der

Gesetze. Die Tugend geht siegend davon.



2. Wilhelm Tell, von Schiller.



Dieses Schauspiel, episch in der Anlage, zwiespältig in der Ausführung,

ist voller Handlung und Leben. Es behandelt die Befreiung der Schweiz vom

österreichischen Drucke durch Tell. Die Erhebung des ganzen Volkes geht ergänzend

neben Tells That her. Das Stück atmet Freiheitsbegeisterung und

besonnene Vaterlandsliebe. Es ist Schillers letztes und beliebtestes Schauspiel.

Die Eidgenossen und Tell stehen in keinem innern Zusammenhang. Auch resultiert

zu wenig aus der an sich wunderbar schönen, eigentlich überflüssigen Rütliscene.



3. Jphigenie auf Tauris, von Goethe.



Dieses vollendet schöne, nach griechischem Muster (Euripides) gedichtete Drama,

das viel mit dem dramatischen Gedicht gemein hat, ist ein Werk von hoher

Bedeutung, das zuweilen überschätzt wurde. Jmmerhin vereinigt es altklassische

Gediegenheit mit deutscher Tiefe und ist reich an edlen, herrlichen Gedanken.



Jnhalt: Jphigenie, Tochter Agamemnons, und Priesterin des Dianentempels

auf Tauris, führt das barbarische Scythenvolk und den grausamen

König Thoas zur Sitte durch ihre wunderbare Hoheit. Sie beruhigt und tröstet

ihren von den Furien verfolgten Bruder Orestes. Dann bittet sie Thoas, die

Fremdlinge zu schonen, sie selbst aber mit ihrem wiedergefundenen Bruder und

dessen Freund Pylades in die Heimat zurückkehren zu lassen. Der Scythenkönig

entläßt die hehre Freundin mit einem ernsten Lebewohl &c. ─



Nach Lessing, Schiller und Goethe erschien Stern um Stern am dramatischen

Himmel (I 54). Jm Gegensatz zu diesen Meistern ließen viele deutsche

Dramatiker das höhere Drama ungepflegt und wandten sich dafür dem Ritterschauspiele |#f0495 : 473|



und Familiendrama zu (vgl. I 57). Kleist (I 59) gestaltete das

Drama realistischer als Schiller, Heine phantastischer; Tieck, Fouqué, Clemens

Brentano und Achim von Arnim (I 59) gestalteten es romantisch und verdrängten

es dadurch von der Bühne. Platen nimmt in dieser Gruppe von

Dramatikern eine eigene satirische Stellung ein. Nach und nach machte sich

Mangel an Schöpfungskraft bemerklich. Der Eingeweihte mußte für die Bühne

eine Epoche des marasmus senilis erkennen, in welcher die Theod. Hellschen

Fabrikübersetzungen, Claurensche Vogelschießen &c. nur hie und da durch reinere

Klänge (vgl. Jmmermann I 59 u. 60) unterbrochen wurden. Da kam

Gutzkow (I 61), der das von den Romantikern von der Bühne fast verdrängte

Drama der Bühne zurückeroberte. Mit dem jungen Deutschland (I 61)

begründete er das moderne Bühnendrama, welches seine Stoffe der Wirklichkeit

der Neuzeit entlehnte, oder das Geschichtliche mit modernen Farben malte und die

Wirkung durch theatralische Effekte erzielte. Gutzkow hat daher um die Bühne der

Gegenwart kein geringes Verdienst. Er ist in bestimmtem Sinn der Ausgangspunkt

der verschiedenen dramatischen Formen der Gegenwart. Nach seinem Vorbild suchten

die Bühnendichter den Geschmack des Publikums gleichmäßig mit den Ansprüchen

der Kunst zu versöhnen. Es traten im Drama die I S. 66 und 67 gezeichneten

Richtungen hervor, besonders das originelle Kraftdrama (I 66 a), das künstlerisch

moderne Bühnendrama (I 67 c) und das bürgerliche Schauspiel (I 67 d).



Endlich die Kulturbilder und guten Volksstücke, unter deren Dichtern als

tonangebend zu nennen sind: 1. Freytag, dessen Kulturbild „Die Journalisten“

seit 25 Jahren immer neue Nachahmer fand; 2. der ebenso geniale Anzengruber,

dessen markige Charakteristik, schlagkräftige Sprache und hie und da geradezu grandioser

Humor die Menge, wie die Gebildeten hinreißen, auch wenn diese nicht in der

Gefühls- und Anschauungswelt der österreichischen und altbayerischen Bauern heimisch

sind (vgl. dessen Pfarrer von Kirchfeld; Der Meineidbauer; Die Kreuzelschreiber &c.).

Eine große Zahl dramatischer Schriftsteller hat sich ihn zum Vorbild genommen.



Jm letzten Decennium ist viel über den Niedergang des deutschen

Theaters geklagt worden, weniger in Bezug auf die Darstellung, die auf Bühnen

wie in Meiningen (vgl. S. 61 d. Bds.) &c. musterhaft ist, als hinsichtlich

der Schöpfungen der dramatischen Muse. Laube hat die Geschichte des Wiener

Stadttheaters mit einem Stoßseufzer beschlossen. Die Bühne lockt eben die Dichter

zu wenig, weil es aufstrebenden Talenten schwer gemacht wird, in die Arena eintreten

zu können, indem meist nur die Stücke von bekanntesten Autoren gelesen

werden, so daß nur diese wenigen allbekannten Namen auf der Scene bleiben.



Von den Stücken, die einen Fortschritt bekunden, nehmen wir nachstehend

eines der bedeutenderen heraus:



Liebe für Liebe von Fr. Spielhagen. Das Motiv dieses Stücks,

dessen Bau beachtenswert ist, bildet ein psychologisches Problem. Der Dichter sucht

es den vielverspotteten „Einheiten“ der älteren französischen Dichter recht zu

machen. Das Stück spielt vom Morgen des 18. Oktober 1813 bis zur Morgenfrühe

des 19. Als Ort ist ein Rittergut zwischen Dresden und Leipzig gewählt,

wo sich in raschem Fluß ein ergreifendes Schicksal abspielt.

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Jnhalt: Fritz v. Elbeck ist als Teilnehmer am unglücklichen Zuge Schills

in die Hände der Franzosen gefallen. Seine Familie betrauert ihn als tot,

während er als Galeerensklave lebt. Endlich ergreift er die Flucht. Er erfährt,

daß seine Geliebte Charlotte die Braut seines Freundes und Kampfgenossen,

des Pfarradjunkten Bernhard, sei. Sein Herz wendet sich Charlottens

Schwester Elma zu, ohne daß er's bemerkt. Heftig braust er auf gegen Charlotte

und Bernhard. Um beide zu retten, verrät Elma seinen Namen und

zwingt den Kapitän der französischen Einquartierung, den flüchtigen Galeerensklaven

zu verhaften. Nun findet ein Aussprechen der Liebenden statt; Elbeck

erkennt das treue Herz Elmas; die Schlacht von Leipzig befreit ihn und vereint

die Liebenden. Das Glück derselben geht auf im Siege der ganzen

Nation. ─ Trefflich weiß Spielhagen zu charakterisieren. Die Leidenschaftlichkeit

des heftigen Elbeck steht der Gemessenheit des würdigen Bernhard gegenüber;

der sanften Sentimentalität der Charlotte die Beweglichkeit der mutigen,

raschhandelnden Elma; der Ritterlichkeit des Marquis die Verbissenheit des

Franzosenhassers Krüger u. s. w. Dazu kommt die geist- und kraftvolle Jndividualisierung,

die wunderbar schöne, mitunter wahrhaft klassische Sprache, von

der ein Kritiker äußerte: er habe selten in den Werken der neuesten, dramatischen

Schule solch ergreifende, hinreißende und melodische Töne gehört.



So kann man an diesem einzigen Beispiel nachweisen, daß auf den Gebieten

des Schauspiels auch die Neuzeit hinter den Erwartungen des Kunstfreundes

nicht so ganz zurückgeblieben ist.



Zum Abschluß dieser historischen Skizze erübrigt es noch, als Ergänzung

von I 66. 67 und 73 sowie der §§ 153 ff. d. Bds. jene Dichter zu nennen,

die in den letzten Decennien durch ihre an poetischen und genialen Zügen

reichen Dramen mehr oder weniger das Drama pflegten oder die Aufmerksamkeit

des Theaterpublikums auf sich lenkten. Es sind noch: Holtei (Lorbeerbaum

und Bettelstab); Robert Gieseke (Der Burggraf von Nürnberg); P. Jué (Die

Goldgräber); Emil Pirazzi (Die Erben von Maurach &c.); F. Wilferth (Adel

um Adel); C. J. Folnes (Verbotene Früchte); Al. Heßler (Jn Feindesland);

J. Werther (Pombal); Waldmüller-Düboc (Die Tochter des Präsidenten &c.);

C. Heigel (Freunde; Josephine und Napoleon); Wilhelmine von Hillern (Ein

Arzt der Seele [nach dem gleichnam. Roman bearb.]; Geier-Walli &c.); Ludw.

Schneegans (Jan Bockhold); J. Wolf (Drohende Wolken); H. Riotte (Königsmark;

Gold für Eisen); O. v. Redwitz (Philippine Welser &c.); Friedrich Rüffer

(Die Jdealisten); J. Weilen (Der neue Achilles; An der Grenze); Ed. Franz

(Bettler von London); Laube (Die Bernsteinhexe; Böse Zungen &c.); Kneisel

(Die Lieder des Musikanten; Das böse Fräulein); Karl v. Moy (Ein deutscher

Standesherr); Martin Greif (Prinz Eugen); Otto Franz Gensichen (Euphrosyne);

Paul Wendt (Colberg; Ein deutscher Brutus); Gust. Michell (Melitta und

Elisabeth); John Paulsen (Frauenherzen); Gust. Wacht (Dolkuroff); Heinr. Lemcke

(Eine Mission); Otto Schreyer (Das Triumvirat); Herm. Voget (Versöhnt);

Alb. Lindner (Moderne Teufel); Gust. Gerstel (Hans Ottmar); Hugo Müller

(Von Stufe zu Stufe); Ed. Rüffer (Die Hermannsschlacht); Fr. Friedrich (Eine |#f0497 : 475|



Warte am Rhein); Mart. Schleich (Bürger und Junker); Heinr. Rustige (Eberhard

im Bart); M. Blanckarts (Johann von Schwaben); Alex. Rost (Ludwig

der Eiserne); Weichselbaumer (Scipio der Überwinder); E. Wichert (Die Frau

für die Welt); P. Heyse (Hans Lange; Ehre um Ehre); Fr. Bodenstedt (Alexander

in Korinth); A. Mels (Der Staatsanwalt); Nik. Stieglitz (Gräfin Olga); Richard

Voß (Unfehlbar); Karl Kösting (Jm großen Jahr); Theod. Piderit (Schön

Rotraut); Moritz Löbel (Ein Roman); Julius W. Braun (Die Arbeiter); A.

Cyriax (Joseph II. und die Jesuiten); W. Henzen (Die Lügen des Herzens);

Fr. Geßler (Reinhold Lenz &c.); Notter u. a., deren Namen bereits bei der

Tragödie, oder bei den Gattungen des Lustspiels, oder im § 177 d. Bds.

erwähnt sind, oder deren Bedeutung in anderen Gebieten liegt.



§ 167. Komödie oder Lustspiel.



1. Unter Komödie versteht man diejenige dramatische Dichtungsart,

deren Grundton Laune, Scherz, Komik, Humor, heitere Stimmung

ist, und die somit den polaren Gegensatz zur Tragödie bildet.



2. Der Stoff der Komödie entstammt, im Gegensatz zur Tragödie,

nur selten der Geschichte, sondern meist dem geselligen Leben der Gegenwart

durch die Thätigkeit der freischaffenden Phantasie.



3. Der Konflikt der Komödie wird nicht durch den Kampf gegen

das Schicksal, sondern gegen Menschen mit ihren Schwächen hervorgerufen.

Der Held der Komödie führt seinen Kampf mit List, Jronie,

Scherz, Komik, Humor.



4. Das Lustspiel bedient sich meistenteils der Prosa.



1. Komödie (κωμῳδία == schwärmender Gesang, abzuleiten von κῶμος

== lustiger Umzug, oder von κᾶμος und ᾠδή == Freudengesang) hieß in

älterer Benennung Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel (Schimpf in der

Bedeutung von Scherz oder Spott gebraucht). Ursprünglich verstand man

darunter heitere Gesänge, welche die Griechen bei ihren Umzügen während der

Bacchusfeste (besonders bei der Weinlese) anstimmten. Später wurde die

Komödie als Dichtungsgattung der Gegensatz zur Tragödie, deren Grundton

Wehmut ist. Wie das komische Epos, die Satire und die Travestie, so zeigt

die Komödie den Widerspruch von Verstand und Gefühl mit den Anschauungen

der Wirklichkeit, so daß sie den Zwiespalt übersieht, über die Verkehrtheiten und

Ungereimtheiten lacht und scherzt, während die Tragödie über die Gebrechen

der Menschheit weint.



Das Lustspiel mit seinen fröhlichen Personen muß Lustempfindung im

edlen ästhetischen Sinn und angenehme, behaglich harmlose Stimmung hervorrufen.

Es darf sich ─ wie schon v. Steigentesch betont ─ „nie von dem

Zwecke entfernen, die heitere Seite des Lebens darzustellen. Die Personen,

die in ihm auftreten, müssen fröhlich erscheinen und verschwinden; selbst die

finsteren Bilder des Lebens müssen so gestellt werden, daß sie einen heiteren

Eindruck machen und zurücklassen, und kein Ausdruck des Schmerzes oder der |#f0498 : 476|



Wehmut darf diesen Eindruck stören. Der Lustspieldichter muß alle trüben

Farben aus seiner Darstellung verbannen, die höchstens nur wie Schatten in

einem Gemälde angelegt werden dürfen. Jede Rührung, die eine Thräne

erpreßt, muß dem Lustspiele fremd bleiben.“



Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, der Komödie nur komisch, sofern

sich in ihr Unverstand und Verkehrtheiten der Menschen zeigen. Die Geschichte

zeigt allenthalben eine tragische Jdee, weshalb ein historisches Drama dem Stoff

nach eigentlich nur Tragödie (oder Schauspiel) sein kann. Aber die noch nicht

zur Geschichte gewordene Wirklichkeit und Gegenwart, die noch nicht so objektiviert

ist, daß man überall jene tragische Jdee wahrzunehmen vermöchte: sie

kann nur in ideale Beziehung gebracht werden zur oberflächlicheren Jdee der

komischen Poesie.



2. Daher wird der Lustspieldichter, selbst wo er die Larve früherer Jahrhunderte

vorhält, immer nur seine Zeit meinen, d. h. den Charakter immer

nach den Formen der Gegenwart individualisieren. Die Tragödie, deren

Domäne also die Vergangenheit ─ die Geschichte ─ sein muß, ist demnach um

vieles epischer als die Komödie, die mit Laune und Spott die Albernheiten der

uns in allen Teilen bekannten Gegenwart übergießt und daher besonders im

metrischen Lustspiel (vgl. S. 478 d. Bds.) dem lyrischen Element größeren Spielraum

gewährt. Aristophanes hat nicht gefehlt, indem er den geschichtlichen

Sokrates auf die Bühne brachte; denn er hatte es nur auf die Neigung seiner

Zeit
zu unpraktischem Philosophieren abgesehen; er faßte deshalb die ganze Art

philosophierender Menschheit seiner Zeit in der Figur eines Sokrates zusammen,

der ganz wenig mit dem historischen gemein haben sollte, und der ja auch Dinge

sagte, die jener nie gesprochen haben würde. Auch Tiecks bekannter Prinz Zerbino

zeigt, daß es der Komödie nie auf bestimmte geschichtliche Jndividuen,

sondern auf ganze Arten ankomme. (Er hat für den Namen Nicolai den Namen

Nestor gewählt, um dadurch seinen Angriff auf alle litterarischen Philister auszudehnen.)





3. Die Jndividuen der Komödie ─ auch wenn sie einen historischen Stoff

haben ─ sind somit gewissermaßen Jndividualisationen der Gegenwart,

die eng mit der Handlung verknüpft sind. Der Lustspieldichter ist auf freies

Erfinden auch der Handlung hingewiesen, was dem Tragiker verwehrt ist, dem

in seinem historischen Helden die tragische Jdee samt dem besonderen historischen

Material gegeben ist. So kann die kecke Phantasie in Entfaltung von übermütiger

Laune und ätzendem Spott im Lustspiel frei walten; der Verstand hat

nur zu wachen, daß das Maß eingehalten werde, daß die Konzeption und die

feine Verwickelung künstlerisch bleiben und nicht Planlosigkeit und Verwirrung

eintritt.



3. Wenn die Überhebung des Helden über die göttliche Weltordnung den

Konflikt in der Tragödie bewirkt, so resultiert derselbe in der Komödie aus

menschlichem Unverstand, aus Albernheit, Thorheit, Verkehrtheit gegenüber den

menschlichen Ansichten über Sitte, Sittlichkeit, Lebensweisheit, Denken, Empfinden,

Reden, Handeln. Daher gestattet die Komödie dem Zufalle, welchen die |#f0499 : 477|



Tragödie ausschließt, einen großen Spielraum. Es sind ja nicht Schicksalsmächte,

gegen welche der Held kämpft, sondern die Schwächen seiner Mitmenschen,

deren zufällig entgegenkommende Engherzigkeit oder deren zu benützende

Thorheit. Er geht daher nicht über die Schranken des gewöhnlichen Lebens

hinaus. Seiner Wirkungssphäre entsprechend führt er den Kampf mit List und

Gewandtheit, mit Witz, Scherz und Laune. Die Lösung besteht nicht im Untergang

der feindlichen Partei, sondern in deren Nachgeben, oder in Überlistung

derselben, in Besiegung von Jntriguen.



Oft ist der Held selbst der Verkehrte und Verirrte; er unterliegt sodann

von Rechtswegen und kehrt zur richtigen Vernunft zurück. Dieser Ausgang

hat etwas Erheiterndes, Komisches, Humoristisches, Befriedigendes, indem er

zeigt, daß das Jrrtümliche, Bornierte und Verkehrte endlich der Vernunftmäßigkeit

und Natürlichkeit weichen muß. Witz, Jronie und jene feine Komik,

die mit ihrem unverstellten Blick alle Situationen durchdringt, sind die wesentlichen

treibenden Momente im Lustspiel. (Vgl. I 103 ff.) Aber der Witz

und die Jronie müssen sich aus der Handlung ergeben. Nicht der bloße Wortwitz,

der ja auch zuweilen seine Wirkung übt, ist es, sondern Gedankenhumor

im Handeln, in Überlistung des Geschicks, Jronie im Bild, was den Charakter

des Ungesuchten an sich trägt. (Man vgl. z. B. Falstaff von Shakespeare.)

Am besten entsteht das Komische durch den Kontrast des Charakters mit der

Situation.



Die Ungereimtheiten müssen von vernünftigen Wesen ausgehen, an wichtigen

Dingen stattfinden und überraschend auftreten. Über den Stotternden wird

man nur lachen, wenn er z. B. eine feierliche Rede halten wollte; über einen

Zerstreuten, wenn er z. B. den Degen an der rechten Seite trägt; über alberne

Redewendungen, die sich wiederholen, wenn der Redner sich für geistvoll hält;

nicht aber über einen Geisteskranken &c. (vgl. I 102).



Das Lustspiel, indem es durch Witz und feine Komik das wirkliche Leben

mit seinen Mängeln und Schwächen von seiner lächerlichen Seite darstellt, zieht

dazu auch das Edle, Liebenswürdige und Gefällige der menschlichen Verhältnisse

und der gesellschaftlichen Zustände in seinen Kreis. Komische Situationen müssen

das Jnteresse der Handlung beleben, und wir müssen durch dieselben nach den

Gesetzen des Kontrastes an die schönen Verhältnisse erinnert werden, deren

Gegenteil sie sind.



Ein Unglück, welches dem Helden zustößt, muß als leicht zu lösende, „lächerliche

Not erscheinen, die keine ernsten Folgen haben wird“. Der Dichter hat

eben die ergetzlichen Widersprüche geschickt zu verwerten, ohne sie auszugleichen.



Wenn er sie wirklich ausgleicht, wenn die Thoren vernünftig, die Schlechtgesinnten

gebessert, oder im tragischen Sinne bestraft werden, so ist es, wie

Schlegel richtig bemerkt, um den lustigen Eindruck geschehen. Die Moral des

Lustspiels ist nach ihm die Moral des Erfolgs, nicht, wie in der Tragödie die

der Triebfeder. Jm feineren Lustspiel dürfen die handelnden Personen ihre

Schwächen, die sie zu verbergen suchen, nicht kennen; nur aus der Handlung

müssen diese mit ihrer ergetzlichen Wirkung hervorgehen.

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4. Das niedere Lustspiel ist in der Regel in Prosa geschrieben, während

das feine auch in der Form seine höhere Stellung sich wahrt. Weniger ist

es der in der Tragödie wie im Schauspiel beliebte jambische Quinar, als der

neue Senarius, der Alexandriner, der jambische Viertakter, welche wir im Lustspiel

angewandt finden. Ausnahmsweise begegnet man auch trochäischen Versen.

Um zu beweisen, welchen Reiz der Vers auch dem Lustspiel zu verleihen vermag,

brauchen wir bloß an das metrisch so schön aufgebaute allbekannte Lustspiel

Der Kuß, von Doczi zu erinnern, das augenblicklich in Deutschland beliebtes

Repertoirestück geworden ist, oder an das von Schreyvogel (wie auch von A. West)

bearbeitete span. Lustspiel Donna Diana von Don Augustin Moreto; oder an

Halms Verbot und Befehl; oder auch an das 1aktige Lustspiel Zweier Herren

Magd von M. Tenelli u. s. w.



§ 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel.



1. Die Handlung muß lebendig, dem geselligen Leben der Gegenwart

entsprechend sein.



2. Sie muß komische Wirkung zu üben vermögen.



3. Je nach dem Charakter des Lustspiels hat sie das Feinkomische

oder das Niedrigkomische hervorzukehren.



1. Die Anforderungen einer lebendigen Aktion (Handlung) sind an das

Lustspiel ─ als einer Gattung des Drama ─ in gesteigertem Maß zu richten.

Wenn der gewandte Paul Lindau in neuester Zeit in drei Stücken lyrische

Ergüsse von Goethe, Eichendorff und Chamisso verwebte ─ und Andere (z. B.

Rudolf Kneisel im Originalschwank „Sein einziges Gedicht“, oder Fr. Rüffer

in „Der Wildfang“, einem Pendant zu „Sie hat ihr Herz entdeckt“), in wirksamer

Weise ganze Gedichte einlegen, die in der Handlung selbst keine Rolle

spielen, so ist dies doch nicht als Norm hinzustellen. Lindau weiß durch

geistvollen, prickelnden, spannenden Dialog den Mangel an Handlung zu ersetzen,

und Kneisel wie Rüffer haben bei ihrer vom poetischen Hauch durchzogenen

Lustspielidee genug Gelegenheit, das Gedicht zum Substrat der Handlung zu

erheben. Die selbsterfundene oder aus Ereignissen des geselligen Lebens entstandene

Handlung darf den Charakter der Wahrscheinlichkeit nicht verlieren.

Jm Gegensatz zum Epos und zur Tragödie darf bei der Komödie die Subjektivität

des Dichters in der Handlung hervortreten. (Bei der antiken Komödie

trat das subjektive Element nur in den komischen Chören, den Parabasen, zu Tage.)



2. Die Handlung muß solche Situationen aufsuchen, welche augenblicklich

im Kontrast mit dem Charakter des Helden stehen, welche komisch wirken,

ohne gegen die gewöhnlichen Lebensinteressen zu verstoßen. Sie muß daher vor

allem seltsam sein und trotz aller komischen Hindernisse glücklichen Ausgang nehmen.



3. Jm seinen Lustspiel ist in der Handlung das Feinkomische vorherrschend,

in der Posse das Niedrigkomische, Burleske. Das Feinkomische verlangt feinen

Geschmack, elegante Darstellung, Kenntnis des feinen Umgangs. Der Begriff |#f0501 : 479|



der niederen und feineren Komik ist häufig nach der Einfachheit der Komposition

und dem Übermut in den Situationen bestimmt worden. Jn diesem Sinn

wäre die Aristophanische Komik niedrig, während sie in Hinsicht auf den Schwung

des Geistes und des Gemütes sehr fein und hoch zu nennen ist.



Jn jeder Form des Lustspiels trägt es zur Belebung der Handlung bei,

wenn der Dialog geistreich, lebhaft, witzig, epigrammatisch präcis ist.



§ 169. Einteilung der Lustspiele nach der Stoffquelle.



Nach der Stoffquelle teilt man die Lustspiele ein:



1. in historische, politische, nationale;



2. in bürgerliche, zu denen das Konversationsstück zu zählen ist.



1. Die historischen Lustspiele wählen nur ihre Figuren aus der Geschichte,

und zwar in der Absicht, durch Geißelung der Privatleidenschaften derselben

an Typen der Gegenwart zu erinnern. Sie zeigen daher die Schwächen des

geschichtlichen Helden mit Humor und Witz, indem sie ihn im Spiegel der

Gegenwart zeigen. Somit sind sie im eminenten Sinne politische ─ oder wenn

man will ─ nationale Lustspiele.



Klein (Gesch. d. Drama I 356) behauptet: „Jede echte Poesie, das echte

Drama voraus, ist nichts wie Politik und nichts wie Zeitungspolitik, aber in

poetischer Gestalt, als Jdeenpoesie, nicht im Stil und Ton von Zeitungsartikeln.“



Der Vater des politischen Lustspiels war Aristophanes. (§ 176 S. 493

d. Bds.) Platen, Rückert, Prutz &c. suchten dieses Vorbild für die moderne Bühne

zu verwerten und uns ähnliche politische Lustspiele zu geben. Leider blieben

aber Platens aristophanische Komödien in einer unpolitischen Zeit in kleinlichem,

litterarischem Wust stecken und führten das Wort nur vor einem ganz exklusiven

Publikum, das immer kleiner wurde, je mehr die versteckten Anspielungen,

Persiflierungen und litterarischen Seitenhiebe an Verständlichkeit verloren.



Rückerts aristophanisch gehaltene Komödie Napoleon ging spurlos vorüber,

da sie zu spät kam.



Prutz dagegen machte 1843 mit seiner aus dem Dänischen schöpfenden

Politischen Wochenstube die Erfahrung, daß eine politische Komödie nur vor

einem politisch reifen Publikum aufgeführt werden kann; und ein solches gab

es in den vierziger Jahren in Deutschland sicher noch nicht.



Jm alten Griechenland war ein solches vorhanden, weshalb die aristophanischen

Komödien die vollendetste Blüte der hellenischen Dichtkunst wurden

und zugleich die herrlichste Epoche des atheniensischen Staatslebens bezeichnen.

„Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes,“ ruft Platen in einer

seiner Parabasen aus; er wußte es sehr wohl, daß er seinem deutschen Volk

wohl Polenlieder, aber keine politische Komödie bieten durfte.



Freytags hochbedeutende Journalisten sind als erneuter Versuch eines

politischen Lustspiels aufzufassen.



Robert Hamerling (Teut), Fr. von Schack (Der Kaiserbote, und Cancan),

Jul. Böhm (vgl. dessen humoristisches Zeitbild „Vor Paris“), besonders aber |#f0502 : 480|



Otto Girndt (Orientalische Wirren, Drei Buchstaben, Politische Grundsätze,

Preußisches Strafrecht &c.) gaben uns Lustspiele, von denen die ersteren mit

ausgesprochener Absicht an die aristophanischen Formen sich anlehnen, während

die letzteren wenigstens den Versuch wagen, mitten hinein in's politische Kampfgewoge

ihre Stimme erklingen zu lassen, und dort, wo alles Volk steht und

sie hören kann, sich vernehmen zu lassen.



Ein volles Aufgehen im Kunstwerk hat unser deutsch=nationales Leben noch

nicht gefunden, weil uns eben (wenigstens bis 1870) ein gesteigertes nationales

Gefühl abging, welches gewaltige, die Kraft des Volkes manifestierende

Jdeen zu Tage fördert. Wir sind jetzt endlich „ein einig Volk von Brüdern“

geworden; unsere Großthaten im Feld sind einzig in ihrer Art; ─ hoffentlich

erstehen uns nunmehr die verherrlichenden Dichter, welche, aus dem deutschen

Volksgeiste schöpfend, uns mit einer Reihe echt nationaler Lustspiele beschenken!



Weitere Beispiele des historischen Lustspiels, das man je nach dem Vorwalten

der Jntrigue oder der Kraft des Charakters auch als Jntriguen= oder

Charakterlustspiel bezeichnen könnte, sind: 1740 von Hersch; Prinzeß Kätherle

von v. Graßhoff; Pitt und Fox, sowie die Diplomaten von R. v. Gottschall;

Aktien von Otto Glagau; Der geschüchterte Hahn, oder: Die Weiber von

Schorndorf von Wechßler; Die Weiber von Schorndorf von P. Heyse; Die

Bürgermeisterin von Schorndorf von Wintterlin; Laube's Charakterlustspiel

„Gottsched und Gellert“ &c., sowie besonders Zopf und Schwert, Lorbeer und

Myrte, und Urbild des Tartüffe von Gutzkow, von denen das erstere feinkomische

Charakteristik hat, während das letztere ein Werk feinster Satire auf das Verhältnis

des Dichters zum Publikum ist &c.



2. Lustspiele, welche dem bürgerlichen Leben den Spiegel vorhalten, heißen

bürgerliche Lustspiele. Jn Deutschland wurde neben Kotzebue besonders Rod.

Benedix ihr Begründer. Er schrieb sehr viele bürgerliche (zuweilen leider auch

spießbürgerliche) Lustspiele. Wir nennen von ihm Dr. Wespe, Der Vetter,

Der Kaufmann, Aschenbrödel, Die Hochzeitsreise, Das Lügen, Die Dienstboten,

Der Eigensinn. Weitere Beispiele sind: Bauernfelds Aus der Gesellschaft;

Krisen &c.; Michael Klapps „Rosenkranz und Güldenstern“; Otto Franz Gensichens

Die Märchentante; Feldmanns Der Rechnungsrat und seine Töchter;

L'Arronges „Doktor Klaus“; Faust Pachlers reizender Einakter Loge Nr. 2

und dessen „Er weiß Alles“ u. s. w.



Ein Lustspiel, welches in allen Teilen dem feineren, espritreichen Umgangs=

und Unterhaltungstone entspricht, überhaupt das Leben im Salon repräsentiert,

nennt man Konversationsstück. Beispiele sind: Scribes von Theodor

Hell übersetztes Ein Glas Wasser; Alfred de Müssets von G. Ritter übersetztes

Eine Caprice; Putlitz' Eine Tasse &c.; Jahns Zwischen Thür und Angel; Paul

Lindaus Preislustspiel Jn diplomatischer Sendung; Bauermeisters Farbe halten;

Bauernfelds Bürgerlich und romantisch, ein Stück, welches feinen Konversationston,

französische Leichtigkeit und Eleganz mit deutscher Gemütlichkeit verbindet

u. a. m.

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§ 170. Einteilung der Lustspiele nach den Lebenskreisen

des Helden, sowie nach ihrer Tendenz und Herkunft.



Diese umfassende Einteilung ergiebt folgende Arten des Lustspiels:

1. realistische; 2. phantastische oder idealistische (ideale); 3. romantische;

4. rührende; 5. Sittenstücke; 6. Übersetzungslustspiele, besonders aus

dem Französischen.



1. Das realistische Lustspiel kann man auch bürgerlich realistisches

Lustspiel nennen, sofern es wie die bürgerliche Tragödie seinen Stoff aus dem

gesellschaftlichen Leben entlehnt, das Einseitige, Verkehrte, Absonderliche desselben

aufsucht und mit feinem Humor oder mit Jronie und Satire beleuchtet.

Mit der Welt des Phantastischen vertauscht das realistische Lustspiel die Welt

der lebensvollen Erscheinungen, die reale Wirklichkeit. Nach dem Vorgange

des Anaxandrides, der die Liebe zuerst in die Komödie einführte, ist bei

den meisten realistischen Lustspielen ein Liebesverhältnis Ausgangspunkt und

Kern der Handlung geworden, woran sich sodann die durch die Liebe bedingten

Äußerungen der Leidenschaft, Eifer- und Ränkesucht von selbst anschließen.

So wird das realistische Lustspiel durch komische Verschlingung von Jntriguen,

von Konflikten zwischen Liebe und Ehre zum Jntriguenspiel, oder durch markiges

Auftreten der durch die labyrinthischen Gänge der Hinterlist und der Komik mit

einer leichten Eleganz hindurchschreitenden Helden zum Charakterlustspiel. (Vgl.

§ 171 S. 483.) Beispiele sind: Hackländers Magnetische Kuren; Rau's Mein

liebenswürdiger Grobian; Bauernfelds Der Vater, Die Bekenntnisse u. s. w.



2. Das phantastische oder idealistische Lustspiel nimmt seine

Figuren aus der Fabel=, Tier- oder Zauberwelt, denen meist eine symbolische

Bedeutung inne wohnt.



Die älteste Form dieses Lustspiels hat sich von Aristophanes erhalten.

Die von Rückert übersetzten Vögel; ferner Die Frösche; die die Frauenemanzipation

geißelnden Ekklesiazusen; Die Wolken u. s. w. sind

Denkmale des polemischen Kampfes, den der Dichter gegen die Schwächen,

Thorheiten und Gebrechen seiner Zeit mit der Geißel des Humors und eines

ätzenden, zersetzenden Witzes führt. Allüberall tritt uns die Phantastik in

der Vertauschung des Menschlichen mit dem Tierischen, in einem gewissen Aufgehen

des Menschen in das tierische oder elementarische Leben entgegen.



Das phantastische Lustspiel pflegte Shakespeare z. B. im Sommernachtstraum

und Sturm, wenn auch die Ausführung dieser Lustspiele, bei denen die

Liebesintriguen eine Rolle spielen, und bei welchen Elfen &c. erscheinen, eine von

Aristophanes grundverschiedene ist. Tieck (Die verkehrte Welt, Prinz Zerbino,

Der gestiefelte Kater), ferner Platen (Romantischer Ödipus &c.), sowie Raimund

(Alpenkönig, Verschwender) haben den Versuch gemacht, das phantastische

Lustspiel bei uns einzuführen. Auch R. Prutz (Politische Wochenstube) ist als

Repräsentant des phantastischen Lustspiels zu nennen. Wir erwähnen noch als

Beispiel Rückerts Komödie „Napoleon“, wo Satire, Humor und Spott sich |#f0504 : 482|



zu den augenfälligsten Unmöglichkeiten versteigen. Aber die Symbolik dieser

Unmöglichkeiten rechtfertigt sie und wirkt humoristisch.



3. Romantisch nennt man unsere modernen Lustspiele ausnahmsweise

zur Unterscheidung von den antiken. Auch belegt man vorzugsweise die Lustspiele

der Romantiker (I 59) mit diesem Namen. Man könnte auch sagen:

die poetische Form zum poetischen Jnhalt macht mit Rücksicht auf die vergangene

(die poetische) Zeit das romantische Lustspiel. Als Beispiele vgl. die

unter 2 erwähnten Lustspiele von Platen und Tieck; ferner Ponce de Leon von

Cl. Brentano; Halms Sohn der Wildnis, Wildfeuer, König und Bauer nach

Lope de Vega und vor allem sein „Verbot und Befehl“ u. a.



4. Der Name rührendes Lustspiel ist eigentlich ein Widerspruch (eine

contradictio in adjecto). Man versteht darunter eine aus der Verbindung

des Komischen mit dem Tragischen hervorgegangene Mischgattung komisch gefärbter

Tragödien. Obgleich denselben genug rührende Scenen eingeflochten

sind, so wird doch das Gefühl der Wehmut vom komischen Element überwogen.

Beispiele: Lessings Minna von Barnhelm, Jfflands Die Hagestolzen,

Nissels Ein schöner Wahn, verschiedene Lustspiele Diderots &c. Das rührende

Lustspiel ist schwer vom bürgerlichen Schauspiel zu unterscheiden (S. 467 d. Bds).



5. Tritt als Tendenz des Lustspiels die Geißelung der Verkehrtheiten

und sittlichen Schwächen einer bestimmten Zeit oder bestimmter Verhältnisse und

Personen zutage, so nennt man es wohl auch Sittenstück. Beispiele:

Michels Du sollst nicht lügen; Zahlhas' Ludwig XVI. und sein Hof.



6. Die französischen Übersetzungslustspiele bestechen durch leichte, gewandte

Konversation, die sich, bei Licht besehen, meist als oberflächliches Salongeschwätz

erweist. Jhrem dichterischen Wert nach sind diese Lustspiele oft zweifelhaft,

ihrem ethischen Gehalt nach ebenso oft verwerflich.



Die französischen Lustspieldichter haben nur mehr Routine als wir. Sie

sind geborene Akteurs, aber sie kennen keine tiefere Bedeutung ihrer Kunst;

sie betrachten sie als Geschäft und sind zufrieden, wenn dieses sich als einträglich

erweist. Daher bei ihnen auch kein Verständnis Shakespeare's. Wie

Jffland und Kotzebue sind sie deshalb (Scribe etwa ausgenommen) bald verbraucht

und vergessen. So viele ihrer auch sind, so haben sie der Welt in

der Kunstform nichts Neues zugeführt; es müßten denn die Drames proverbes

erwähnenswert sein; alle bewegen sich in längst ausgefahrenen Geleisen. Dagegen

hat sich der Jnhalt der Komödien in ihren Händen immer mehr verschlechtert.

Seit Viktor Hugo, Georges Sand, Alex. Dumas, Scribe und

Alfred de Musset sind die Konflikte der Ehe der Lieblingsgegenstand der Lustspiele

geworden. Mächtige Deklamationen und große Gewandtheit in der sinnlichen

Farbe wollen wir diesen Dichtern gern zugestehen; aber sie sind unfähig,

ihre Paradoxien glaubhaft durchzuführen, weil sie ohne den mindesten Respekt

vor der Wahrheit und den sittlichen Maximen ihre Gestalten, ihre meist infamen

Kreaturen schaffen. Solche Geschöpfe, auch wenn sie im heutigen Frankreich

möglich sein sollten, gehören nicht auf die Bühne. Es sind Sünden gegen die

menschliche Natur. Was wir von ihnen lernen, ist die liederliche Atmosphäre, |#f0505 : 483|



welche die wunderliche Art der Kulturbewegung über Paris verbreitet hat. Kein

Staat kann in ihr leben und gedeihen. Sie erzeugt vernichtende historische

Gewitter, Revolutionen wie die von 1789, welche die grundliederliche Epoche

von Ludwig XIV., der Regentschaft und Ludwig XV. beendigt, und zu Niederlagen

führte, wie die von 1870. Wir sind ein junger, in Gesundheit aufstrebender

Staat, wir haben dem Pariser Treiben in der Politik eine Ende

gemacht, wir müssen uns auch von der Jmmoralität der französischen Bühne,

besonders im Lustspiel (wie auch in der Operette), emanzipieren. Wir haben

eine Hauptstadt, in welcher das öffentliche Leben pulsiert, wie es in Paris

bewegter, aber nicht folgenreicher sein kann. Unser Berlin hat alle Fähigkeit

und alle Bedingungen, für die Zukunft der Boden für ein nationales Lustspiel

zu werden, für ein gutes Konversationsstück wie für das Jntriguenstück.



Bessere Beispiele des französischen Übersetzungslustspiels sind: Eugene Scribes

Der Weg durchs Fenster; Sardous Moderne Kleinstädter; Th. Barrières Die

Jagd nach einem Schwiegersohne; Goudinets Papas politische Grundsätze;

H. Chivôts Hausherrnfreuden; Hennequins Jch erwarte meinen Onkel; Leroys

Cousin Jaques; E. de Girardins Lady Tartüffe, Bayards Der Vicomte de

Létorières u. a. Als Beispiele empfehlen sich noch die bereits oben erwähnten

Proverbes dramatiques, von denen die besseren besonders von Carmontelle

und Leclercq durch Wolf Graf Baudissin in's Deutsche übersetzt wurden (z. B.

Versprechen ist Eins und halten ein Andres; Wer den Kern essen will, muß

die Nuß knacken; Man muß jeden kratzen, wo es ihn juckt; Jeder hat seinen

Sparren; Wer einen Gesellen bei sich hat, der hat auch einen Meister bei sich;

Könnte der Narr schweigen, so wäre er weise; Ein wenig Hülfe ist oft viel

wert &c.). (Unter Proverbes versteht man kleine improvisierte Salonlustspielchen

[comédies de paravent] mit nur 1 Scene und 2 Personen, deren Schlußwort

oder Moral ein bekanntes Sprichwort ist, die schon von der Maintenon gepflegt

wurden, aber erst durch Carmontelle und Leclercq, Monnier, Musset,

Feuillet u. a. zur Bedeutung gelangten. Ein reizendes deutsches Proverbe von

der Baronin v. Ebner-Eschenbach ist im vorigen Jahr in den Dioskuren erschienen.

Vgl. auch deren Veilchen.)



§ 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie

das Jdeal eines deutschen Lustspiels.



1. Jn Hinsicht auf Entwickelung und Verwickelung scheiden sich

die Lustspiele



a. in Charakterlustspiele,



b. in Jntriguenstücke.



2. Das Jdeal eines guten deutschen Lustspiels liegt zwischen diesen

beiden in der Mitte.



1. Tritt der Kontrast eines Charakters oder mehrerer Charaktere des

Lustspiels mit der praktischen Wirklichkeit des Lebens vorzugsweise hervor (d. h.

scharfe Entwickelung der Charaktere mit Hervorkehrung der Eigenheiten, der |#f0506 : 484|



Vorzüge, Mängel, Verkehrtheiten &c.) so heißt ein solches Stück Charakterlustspiel.

Beispiele sind: Molières Tartüffe; Shakespeares Falstaff; Freytags Journalisten;

W. v. Hillerns Ein Autographensammler; Laubes Gottsched und Gellert;

v. Plötz' Der Haustyrann; Birch-Pfeiffers Ein Kind des Glücks; W. Klägers

Ludwig Devrient; Sheridans Lästerschule (übers. v. Schröder); Schröders Der

Ring; Kotzebues Die beiden Klingsberge; Feldmanns Der Sohn auf Reisen,

Der Rechnungsrat und seine Töchter &c. &c.



Liegt dagegen das Komische mehr in der Überlistung und in der Gewandtheit,

die Verhältnisse zu gestalten: also in der feinen und reich verschlungenen

Verwickelung, im neckischen Spiel des Zufalls, in Durchkreuzung, Schaffung

und Aufhebung der Verwickelungen, so heißt das Lustspiel Jntriguenstück.

(Eine Eigentümlichkeit des mehr dem romanischen Charakter zusagenden Jntriguenlustspiels

─ das Herauswinden aus der Verwickelung ─ illustriert eine Anekdote,

die man sich von Scribe, dem Meister desselben, erzählt. Es waren ihm

die einzelnen Momente und der Zusammenhang seiner früher geschriebenen

Lustspiele entfallen, die er immer wieder mit großem Jnteresse aufführen sah.

Da wo der Knoten am besten geschürzt war, rief er in höchster Erregung aus:

„Wie werd' ich mich da nur herausgewunden haben?“) Beispiele sind: Shakespeares

Was ihr wollt; Schillers Neffe als Onkel; Doczi's Kuß; Karl Mallachows

Der Chevalier de Liriac; Ed. Ellersbergs Eine Damenverschwörung; A. Schröders

Verheiratet wider Willen; A. Heinrichs Der Augenblick des Glücks; M.

Dolmanns Fürst und Kavalier; A. Schreibers Der Jesuit und sein Zögling &c.



2. Wir brauchen uns keinen Vorwurf zu machen, daß wir an Witz,

Schlauheit, Jntrigue &c. den Franzosen nachstehen. Unsere Originalität liegt

im Herzen. Daher wird das Jdeal eines deutschen Lustspiels weder ausgeprägtes,

die Jntrigue und die Situationsmalerei vernachlässigendes Charakterstück noch ein

die Charakteristik unterschätzendes Jntriguenstück sein können. Dieses Jdeal liegt

vielmehr mitten innen. Es braucht nur darnach zu streben, die Schwächen und

Thorheiten im Spiegel des Humors zu zeigen, um ein Charakterstück zu werden,

das nicht als einzige Hauptsache die Charakteristik anstrebt, vielmehr auch die

Fülle des Jnhalts berücksichtigt, die interessante Verwickelung und die naturgemäße

Lösung. Die aufmerksame Charakteristik wird das lichte Moment bilden,

um durch das verschlungene Gewirr von streitenden Jnteressen und Verwickelungen

sicher hindurch zu führen.



So entsprechen wir den Lessing'schen Traditionen und wahren uns ein

national=deutsches Lustspiel, auf das wir ebenso stolz sein können, wie die Jtaliener

auf ihre Masken, die Engländer auf ihre Charakterstücke, die Franzosen

auf ihre Vaudevilles, die Spanier auf ihre Mantel- und Degenstücke &c.



§ 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung.



Jn Beziehung auf Form und Ausdehnung unterscheidet man:



a. die Bluette, b. das höhere, c. das niedere Lustspiel und dessen

Abarten.

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a. Erreicht ein Lustspiel nur die Ausdehnung eines kurzen Aktes, so heißt

man es Bluette. Beispiele: Jmmermanns Die schelmische Gräfin; Wachenhusens

Wenns der Arzt erlaubt; R. Genées Ehestandsexercitien; Faust Pachlers Loge

Nr. 2; Benedix' Eigensinn &c.



Schubladenstück nennt der Schauspieler diejenige Bluette, welche ihm

Gelegenheit giebt, seine Fertigkeit in Anwendung einer gewandten Aufeinanderfolge

verschiedener Masken zur Entfaltung zu bringen. Beispiele hiervon finden

sich in der von Bloch herausgegebenen Bluettensammlung; ferner bei Kotzebue;

vgl. auch Elsholtz' Komm her! &c.



b. Das S. 478 4 und 3 erwähnte feinkomische Lustspiel (z. B. Scribes

Glas Wasser, Sardous Letzter Brief), insbesondere aber das Lustspiel in gebundener

Rede (z. B. Doczi's Kuß &c.) nennt man höheres oder feines Lustspiel.



c. Für das niedere Lustspiel wählt man mit Recht die Prosa, da diese

ja der unmittelbarste Ausdruck des wirklichen Lebens ist.



Als Abarten (Unterarten) des niederen Lustspiels führen wir nachstehend auf:



1. Die Posse mit den Unterarten Lokalposse, Zauberposse und Schwank

(§ 173). 2. Die Tierkomödie (§ 174).



§ 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank.



1. Posse (oder Galeriestück) nennt man dasjenige realistische Lustspiel,

in welchem das Niedrigkomische, das Derbheitere, Burleske vorherrschend

ist. Die Übertreibung und das Haschen nach lächerlichen

Effekten, die Karikierung in der Charakteristik und in den einzelnen

Situationen macht das Lustspiel zur Posse. (I 106. 3.)



2. Behandelt die Posse Lokalinteressen und ist sie mit Lokalwitzen

versehen, so heißt sie Lokalposse.



3. Weitere Unterarten der Posse sind die Zauberposse und der

Schwank.



1. Jn der Posse kann sich die Vollkraft der Komik entfalten. Zur derben

burlesken Handlung derselben und ihren komischen Situationen sind Sprache,

Kleidung, Geberden &c. die nötige Beihülfe. Jedes feinere gesellige Element

aber ist verbannt. Gewöhnlich ist es irgend eine menschliche Thorheit,

welche mit Laune und Witz in seiner nicht selten die Grenzen der Wahrscheinlichkeit

überschreitenden Weise gezeichnet und lächerlich gemacht wird. Die Posse

geht in ihren grellen Übertreibungen planmäßig darauf hinaus, Lachen zu erregen.

(Echte Possen sind z. B. von Kotzebue Pagenstreiche, Der Wirrwarr &c.)

Jn neuester Zeit ist leider die Posse um so beliebter, je mehr sie schon

durch den Ort der Handlung (Eisenbahnperron, Tingeltangel, Skating-Rink)

Sensation erregt und sich der Lokalposse nähert. Wie oft ist Die Reise durch

Berlin, Die Reise um die Welt, Drei Monate nach dato &c. applaudiert

worden. Und wo wären nicht Rosens O diese Männer &c. und O. Mosers

Hypochonder, sowie Sklave gegeben worden, von den französischen: Hôtel

Godelot, Bébé &c. mit ihrem frivolen Ton gar nicht zu sprechen.

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2. Die Lokalposse ist ein Gemisch von Lustspiel, Dialektstück und Liederspiel.

Nach Louis Schneider ist sie die einer Stadt eigentümliche Posse, welche

entweder allgemeine Vorfälle und Situationen, oder besondere Gebräuche, Sitten,

bekannte Vorgänge derselben in demjenigen Dialekt schildert, der dem Volke

eigen ist. Sie bringt Volksfiguren auf die Bühne, gruppiert diese um irgend

ein Volksfest, eine auffällige Begebenheit, und wirkt schlagend, wenn die Charakteristik

der Personen glücklich ist. Das komische Lied, die satirische Pointe,

Calembourg und Couplet gehören recht eigentlich in das Gebiet der Lokalposse. Nur

Jtalien und Deutschland können dergleichen Lokalpossen haben, weil die Dialekte

in beiden Ländern unter sich so sehr verschieden sind. Wien, Berlin, Hamburg

und Frankfurt a. M., ja auch München haben vollständig ausgebildete Lokalpossen.



Es ist eine irrige Ansicht, daß die Lokalposse die Form für Willkür,

Übertreibungen und Unwahrscheinlichkeiten sei, daß sie strengere Kunstregeln

ignorieren könne, ja, daß sie bis zum ausgelassensten Witz und bis an die

Grenzen des Läppischen und Gemeinen vordringen dürfe; denn nicht der niedere

Geschmack der Galerie ist in der Ästhetik maßgebend, sondern der gebildete

Geschmack des gebildeten Publikums. Dieses kann nur wünschen, daß die

Lokalposse manierlich bleibe und nicht durch allzu vulgären Ton abstoße.



Die Lokalposse stammt aus Wien, wo der 1737 aus Deutschland verbannte

Hanswurst (I 53) freundliche Aufnahme fand und Bernardon das erste Stück

dieser Art schrieb. Hensler schrieb Das Donauweibchen; Meisl Das Gespenst

auf der Bastei. Bäuerle, der Erfinder des Ausspruchs: 'S giebt nur a Kaiserstadt,

's giebt nur a Wien, schrieb Staberls Hochzeit, Staberls Wiedergenesung &c.

Nun folgte Raimund und besonders Nestroy, welcher der Wiener Lokalposse

ihre heutige Form verlieh. Hopp schrieb Doktor Fausts Hauskäppchen. O. F.

Berg und Anton Langer vermittelten den Übergang zur Berliner Lokalposse; ihre

Stücke wurden nämlich nach Berliner Bedürfnissen zugearbeitet, „berolinisiert“.

Die Hauptvertreter der Berliner Lokalposse waren Angely und Karl von Holtei.

Dazu kamen Jul. v. Voß und Fritz Beckmann, durch dessen „Eckensteher

Nante im Verhör“ Nante in Berlin dieselbe stehende Figur wurde, als Staberl

(durch Adolf Bäuerles Staberliaden) in Wien, oder Kasperl (durch Poccis

Kasperliaden) in München, oder Hampelmann in Frankfurt a. M. Epochemachend

wurden David Kalisch (Berlin bei Nacht; Aktienbudiker &c.) und

Aug. Weirauch (Kieselack und seine Nichte), welch' beide der Lokalposse eine

Art Jdeal gaben. Noch thaten sich hervor: A. Hopf (Eine Nacht in Berlin);

Denecke und R. Hahn (Ein Tag in der Residenz); Jakobson und Salingré u. a.



Jn Frankfurt machte in der Lokalposse Epoche Carl Malß, der Verf. der

Hampelmanniaden, sowie Fr. Stoltze; in Hamburg Georg Starke und Krüger;

in München Schleich und Prüller.



3. Die Zauberposse ist jene Art niederen Lustspiels, welche die Welt des

Wunderbaren, des romantisch Zauberhaften, Märchenhaften, Phantastischen mit

dem Wirklichen in Beziehung bringt. Gepflegt wurde sie vor allem durch den

Dresdener Hofschauspieler Gust. Raeder in „Weltumsegler wider Willen“ (den

Raeder unter dem Pseudonym von W. Emden == Von wem denn? erscheinen |#f0509 : 487|



ließ), ferner in Der Artesische Brunnen; Ella; Flick und Flock, in welch letzterem

Stücke den Reisenden sogar Wolkenwagen zur Verfügung stehen u. s. w. Told

in Wien schrieb den wohl über 3000 mal aufgeführten Zauberschleier; Raimund

Der Verschwender, ferner Der Barometermacher auf der Zauberinsel. W. Friedrich

lieferte Die Tochter des Lucifers; A. Gerstel „Gott Marius“; Osw. Marbach

Shakespeare-Prometheus; Elmar Des Teufels Brautfahrt; Krüger „König

Wein“; A. Hopf Der Liebestraum eines Jünglings; Meisl Arsena die Männerfeindin;

Ferd. Fränkel Der Goldsee; Jakobson „Lehmann im Feenreiche“; Nestroy

Das liederliche Kleeblatt; Trautmann Ein moderner Faust &c.



4. Schwank (franz. la farce == Die Farce) ist eine niedrig komische,

burleske Abart der Posse. Ursprünglich war dem Schwank wesentlich die lustige

Person (Der Narr, der Pickelhering, Kasperle, Hanswurst, der englische Clown,

der italienische Harlekin). Diese Person hatte dieselbe Aufgabe, welche der

griechische Chor als vox populi zu erreichen hatte. Sie lieferte keinen Beitrag

zur Handlung, aber wie der attische Chor begleitete sie die Handlung mit

derben Wahrheiten, oder mit Spötteleien und Sticheleien, die in die schalkhafte

Form der ironischen Dummheit oder Plumpheit eingekleidet war. Sie redete den

Zuschauer an, um Winke zu geben und die Vermittlung zwischen Dichter und

Publikum herzustellen.



Christian Weiße, der den Pickelhering oft anwandte, sagt über ihn: „Die

Sache beruht auf einer also genannten Prosopopöie. Denn ein jeder Mensch

ist so gesinnt, daß er über andrer Leute Verrichtungen sich verwundert, und

wo nicht öffentlich, dennoch im Herzen eine kleine Satiram darüber machet.

Absonderlich wenn etliche Personen auf dem Theater vorgestellt werden, so

geschieht es darum, daß die Zuschauer sich dabei verwundern und von der Sache

selbst ernsthaft oder höhnisch raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in

solcher Verwunderung gleichsam eine Sekunde gegeben werde, so wird eine

Person dazu genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen satirischen

Jnklination vertreten muß. Also trifft es sich unterweilen, daß eine solche

Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“



Die zur Lachlust anregenden Momente der Posse finden ihre Unterstützung

durch die Mimik und die Gestikulationen des Darstellers, durch die Ausdrucksweise,

Betonung, Kunstpausen, Wortspiele, Dialekt &c., durch geschickte Hervorkehrung

der Pointe (acumen), des schlagenden Witzes (I 103 ff.) &c.



Zur Litteratur der Posse.



Bekannt gewordene Possen schrieben: Theodor Hell (Die Benefizvorstellung);

Kotzebue; F. C. Hiller; Kalisch; Salingré (Die Reise durch Berlin &c.); Görlitz

(Das große Loos); Adolf L'Arronge (Der Neuigkeitsjäger &c.); W. Mannstädt

(So muß es kommen); Fr. Hopp (Doktor Fausts Hauskäppchen); Jul. Stettenheim

(Ein gefälliger Mensch); Räder (Robert und Bertram); Charlotte Birch=

Pfeiffer (Gasthaus-Abenteuer); Görner (Ein billiger Mann); Nestroy (Einen Jux

will er sich machen); Ad. Müller (Die Gebrüder Haas, eine jüdische Posse);

Belly (Monsieur Herkules); A. Christen (Das Loch in der Wand); Morländer |#f0510 : 488|



(Kling, kling!); G. v. Moser (Aus Liebe zur Kunst); Jos. Doppler (O Susi);

Grandjean (Er kann nicht lesen); Louis Schneider (Der Kurmärker und die Picarde);

G. zu Putlitz (Der Brockenstrauß); Anna Löhn-Siegel (Das falsche Jettchen);

H. Beyer (Die vier Sterne); Louis Julius (Eine Nacht in Salzbrunn) u. v. a.



Bekannt gewordene Schwänke lieferten: C. A. Görner (En passant!);

E. Dohm (Jhr Retter); E. Pohl (Ein flotter Bursche); Hans Arnulph (Edle

Zeitvertreibe); Oskar Blumenthal (Wir Abgeordneten); F. A. Sauer (Unglücksrabe);

Carl Görlitz (Subhastiert); L. F. Trabnitz (Der Bürgermeister

von Adersbach); E. Jacobson (Ännchen vom Hofe); J. F. Nesmüller (Nur

reell); O. Devrient (Zehn Minuten Aufenthalt); Gottfr. Böhm (Penelope);

Rud. Genée (Das heiß Eisen nach H. Sachs); Stix (Überall Diebe); Gräser

(Eine reife Melone); Grandjean (Drei Viertel auf Elf); Stuckenbrock (Berliner

im Elsaß); Franz Volger (Brandenburger und Lothringerin); Carl Sonntag

(Frauen-Emanzipation); A. Günther (Pseud. f. Herzog Elmar v. Oldenburg:

Jn Hemdsärmeln); F. Wehl (Ein modernes Verhängnis); Schmithoff (Moltke

in Köpenick); W. Friedrich (Öffentlichkeit und Mündlichkeit); F. Schütt (Reisende

Engländer); Marie Knauff (Die vergessenen Schuhe); Angely (Die Weihnachtspräsente)

u. a. m. Man vgl. hiezu die im Verlagsbüreau zu Altona

erschienenen Possenspiele.



§ 174. Die Tierkomödie.



Sie ist eine Abart des Lustspiels, welche die Komik des Lustspiels

dadurch zu steigern sucht, daß sie Tiere handelnd auftreten läßt.



Den Franzosen gebührt das zweifelhafte Verdienst ─ das liebe Vieh auf

die Bühne gebracht zu haben. Die erste Tierkomödie (Der Goldesel)

wurde Anfangs dieses Jahrhunderts in Paris gegeben, wobei ein wirklicher

Esel die Hauptrolle spielte. Paris fand an der eselhaften Handlung Geschmack,

und bald gab es spekulative Schriftsteller, welche die „Hauptpersonen

ihrer Lustspiele dem Tierreiche entlehnten.



Den glücklichsten Griff that Guilbert-Pixérécourt (1773─1844) mit

seinem historisch=romantischen Drama: Der Hund des Aubry, dessen

Jnhalt der bekannten Sage „Die Königin von Frankreich, die vom

Marschall verleumdet wird
“ (S. 242 d. Bds.), entlehnt ist. Der dressierte

Pudel versetzte den Pariser Janhagel in Begeisterung. Sein Läuten der Glocke

am Wirtshaus, in dem sein ermordeter Herr gewohnt, das Zerren am Kleide

der Wirtin, die grimmige Verfolgung des Mörders &c. waren so natürlich, als

ob er mit seinem Herzen an der Handlung sich beteiligt hätte. Jm Theater

an der Wien kam Der Hund des Aubry (in von Castelli besorgter Übersetzung)

am 26. September 1815 zum ersten Male zur Aufführung. Dieses

Stück übte um so größere Zugkraft auf die Wiener, als auf dem Zettel in

berechneter Weise gebeten wurde, „sich beim Erscheinen des Hundes gefälligst

ruhig zu verhalten, um eine mögliche Störung des eigenen Vergnügens zu

verhüten“. 1816 wurde das Stück an der Berliner Hofbühne gegeben. |#f0511 : 489|



Goethe, der seine Weimarer Bühne nicht „auf den Hund“ bringen wollte, widersetzte

sich der Aufführung und erhielt dafür seine Entlassung als Weimarer

Jntendant. Jn Amsterdam wurde das Stück 30mal hintereinander gegeben.

Schwierig war es für die Darstellung, einen genügend resignierten und kuragierten

Darsteller für den Bösewicht Macaire zu finden, der sich vom Hunde

am Halse packen und zu Boden werfen ließ. Um den treuen, vierfüßigen

Helden zum Verfolgungsakte anzueifern, bediente sich der betreffende Schauspieler

eines unter dem Halstuche verborgen gehaltenen Leckerbissens, der auf

die Geruchsorgane des Pudels wirkte.



Joachim Perinot schrieb eine Parodie in Knüttelversen: Dragan, der

Hund des Aubry. Sie wurde am 3. Februar 1816 (dem Todestage

Perinots) im Leopoldstädter-Theater gegeben.



Als der Hund nicht mehr zog, versuchte man es mit anderen Tieren,

die aber von Künstlern dargestellt wurden. Unmittelbare Nachfolgerin war

„Die Elster, oder die Magd von Palaiseau“ (1816 im Theater an der

Wien aufgeführt). Das an lebende Tiere gewöhnte Publikum fand aber an

dem Vogel, der durch seinen Diebstahl von Silberlöffeln ein ehrliches Dienstmädchen

verdächtigte, wenig Gefallen, da der Vogel nur durch Mechanik über

die Bühne flatterte. Man griff wieder zum Hund und gab in Wien: Der

Hund vom Gotthardsberg,
ein ebenfalls dem Französischen nachgebildetes

Melodram. Für den geschickten Darsteller Mayerhöfer in Wien, der als Wolf,

Tiger, Löwe und Leopard Unglaubliches geleistet haben soll (vgl. Hamb.

Th.=Chronik) wurde eine ganze Serie von Stücken geschrieben, z. B. Der

Wolfsbrunnen, Der Leopard und der Hund &c. Von Mayerhofer ist bekannt,

daß er einst als Wolf verkleidet eine Schafherde in die Flucht jagte, wobei

er fast ums Leben gekommen wäre, da es schwer hielt, zwei wütend auf ihn

eindringende Wolfshunde von ihm loszureißen. Als er in Rußland verschollen

war, versuchte sich der Petersburger Mimiker Springer 1831 in Wien als

Löwe in „Der großmütige Löwe“, und später ─ als die reißenden Tiere

nicht mehr zogen ─ als Affe. Der berühmte französische Mimiker hatte die

Affendarstellungen zu Anfang der zwanziger Jahre eingeführt. Das erste

deutsche Debut des Affen war im Wiener Kärntnerthor-Theater (August 1826)

in einem Taglionischen Ballet: „Domina, oder Joko, der brasilianische Affe“,

mit Musik von Lindpaintner. Das Theater an der Wien brachte sofort das

große melodramatische Spektakelstück: „Domi, der brasilianische Affe, oder:

Negerrache“, mit dem Mimiker Springer in der Titelrolle, der seinen Kollegen

Joko an Kühnheit und Edelmut überbot, ein Kind rettete, mit einer Schlange

kämpfte, von einem hohen Felsen herabstürzte &c.



Jm Melodrama: „Ori, oder Das Zigeunerweib“ kam kurz darauf noch

ein dritter durch Carolle aus Paris dargestellter, brasilianischer Affe auf die

Bühne: Tom Rick, oder Der Pavian, eine aus dem Französischen übersetzte,

in der Josephstadt am 1. Juli 1834 aufgeführte Tierkomödie, zu welcher

Kapellmeister Kreutzer eine Musik schrieb. Als im Jahre 1831 der Bürgermeister

von Magdeburg den englischen Affendarsteller Klischnigg zurückwies, |#f0512 : 490|



meinte dieser, das sei sehr schlimm und kratzte sich mit dem Fuß hinter dem

Ohr. Da gab der frappierte Stadtvorstand seine Zustimmung und der Gymnastiker

wußte mit seinen bald beliebten Affendarstellungen allerwärts riesige

Kassenerfolge zu erzielen. Am 23. Juli 1836 trat Klischnigg in der von Nestroy

eigens für ihn geschriebenen Gelegenheitsposse „Der Affe und der Bräutigam“

auf, die den Gegenstand von „Tom Rick“ benützte. Das Stück wurde wohl

über 50 Mal gegeben. Klischnigg spielte in Wien noch in folgenden Stücken:

Der Affe als Mensch; La Peyreuse, oder: Der Affe von Malicolo; Affe

und Frosch; endlich in „Gig-Gig“, worin er als Affe, Frosch, Tiger und

Schildkröte auftrat. Er hatte viele Nachäffer selbst in den obskursten Wirtshäusern,

bis „Der Wettritt um Columbinens Hand, oder: Affen über Affen“,

eine in der Leopoldstadt gegebene Pantomime, diese Affenmanie choreographisch

geißelte und die Periode der eigentlichen Tierkomödie abschloß.



An Versuchen, die Tiere auf der Bühne zu erhalten, fehlte es freilich

nicht. Ein Direktor (Carl) hielt es für wünschenswert, den Räubern von

Schiller durch Mitwirkung von Pferden auf die Beine zu helfen. Jn einem

Spektakelstück ließ er ein Kamel aus der Menagerie, ein andermal eine Giraffe

auftreten. Ein anderer Direktor (Brauer) hat mit der Schauspielerin Kratz

im Carlstheater Die Verwandelte Katze und Die Hirschkuh gegeben.



Viele Theater-Direktionen glauben noch heute, auf die Mitwirkung von

Pferden nicht verzichten zu sollen u. s. w.



§ 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer

Gattungen und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer

Dichtungen.



Obwohl in der Benennung der dramatischen Dichtungen im allgemeinen

große Übereinstimmung herrscht, so belieben doch einzelne

Dichter a. Abweichungen in der Benennung der Spezies oder gestatten

sich b. Absonderlichkeiten in Benennung ihrer dichterischen Erzeugnisse.



a. Viele Dichter, welche mit der Posse Musik vereinen durch Einfügung von

Couplets &c., nennen das so entstehende Liederspiel (§ 181 d. Bds.) Posse mit

Gesang
(z. B. Langer's Der Aktien-Greißler), oder Liederposse (z. B.

Holtei's Ein Achtel vom großen Los), oder Burleske mit Gesang (z. B.

Stix' Er ist unsichtbar), Komisches Zeitbild mit Gesang (z. B. Elmar's

Der schönste Zopf) u. s. w.



Barth. Ponholzer nennt sein dramatisches Gedicht „Der ägyptische Joseph“

ein biblisches Volksschauspiel mit Dialog, Chören, Schaubildern in 5 Aufz.



O. Mylius bezeichnet sein Lustspielchen „Beim Standesbeamten“ als

komisches Genrebild; Nißl und Schlesinger eine dramatische Scene als

ländliches Gemälde“ u. s. w.



Vielfach wird die drastisch wirkende Posse Burleske genannt (z. B.

Herm. v. Glasenapps Der Bey von Tripolis). Th. Gaßmann nennt seine |#f0513 : 491|



Zauberposse Das Rätsel des Glück's ein romantisch=komisches Zauberspiel,

obwohl die Epitheta ornantia selbstverständlich sind u. s. w.



b. Verwerflich ist die Manier gewisser Dichter, die Titel ihrer Stücke wie

Küchenzettel aufzubauschen und durch dieselben schon im Voraus den Jnhalt

bekannt zu geben. Jch wähle nur wenige, abschreckende Beispiele:



Eginhard und Emma, oder Verbotener Lieb' und Löffelei erschreckliche

Folgen aber doch erfreuliches Ende, oder: Die Gründung der Großherzogl. Hessischen

Stadt Seligenstatt. Eine traurige wahrhaftige Historie sehr lehrreich und ergetzlich

zu sehen, zum erstenmal in eine hochdeutsche Tragödie abgefaßt zu Nutz und

Frommen wie Seelenergetzung für hoch und niedrig durch Cyprianum Jocosum,

art. lib. mag
.



Der Tyrann von Syrux-Kuß, oder: Es geht nichts über Worthalten.

Großes hist. unsinnig=theatralisch romantisches Fastnachtspossen-Puppenspiel

mit Gesang und Tanz, frei bearbeitet nach einem verloren gegangenen

Schillerschen Fragment in 4 A. von L. A. Görner.



Der Schmied von Antwerpen, oder: Quintin Messis. Ein lyrisches

Spiel mit Prolog, Zwischenrede und Epilog von Mor. Horn.



Esther, Vorbild der Kirche, oder: Kampf und Sieg der Religion. Scenische

Darstellung in Schaubildern (Tableaux), Deklamation und Gesang. Für Frauendarstellungen

von Barth. Ponholzer.



Der blutige Pantoffel an der Kirchhofsmauer, oder: Das vergiftete

Dreierbrödchen. Große historisch=romantische Tragödie in 5 Aufwicklungen von

Chemnitz u. s. w.



Jnwieweit solche geschraubte Titel, die das krankhaft=krampfhafte Bemühen

allzugroßer Deutlichkeit oder Komik auf der Stirn tragen, mit den ästhetischen

Anforderungen (I § 26) vereinbar sind, ist wohl ohne Kommentar ersichtlich.



§ 176. Parodistische und travestierende Dichtungen verschiedener

dramatischer Gattungen.



Die Parodie wie die Travestie soll das Erhabene nicht in den

Staub ziehen, vielmehr eine Abwehr gegen falsche Tendenzen, Verirrungen

auf allen Gebieten bilden, besonders auf denen der Kunst

und Litteratur (vgl. S. 193 ff. d. Bds.).



Einem Herabziehen des Erhabenen in den Staub scheint es gleichzukommen,

wenn Röller Schillers herrliche Jungfrau von Orleans, J. L. Weber

Kabale und Liebe, sowie Raupachs Der Müller und sein Kind travestiert, oder

wenn Joh. Bapt. Vogl eine Parodie zur Sophokleischen Ariadne auf Naxos

liefert. Dagegen erscheinen die S. 195 d. Bds. verzeichneten Parodien Mahlmanns

und Castellis &c. vollberechtigt. Die bekanntesten Parodien dramatischer

Dichtungsgattungen, die sich zum Teil wenigstens für einen Augenblick der

Gunst des Publikums erfreuten, sind von folgenden Dichtern:



Bäuerle (Leopoldstag, eine Parodie auf Menschenhaß und Reue), Laun

(Pseud. für Fr. Aug. Schulze; verspottet im Marionettentrauerspiel die Schicksalstragödie); |#f0514 : 492|



Platen (Die verhängnisvolle Gabel parodiert Müllners Schuld);

W. v. Merkel (die geistreiche gelungene Sigelind parodiert Redwitz' Sieglinde);

Fränkel (Die Zunftmeister von Krähwinkel sind eine Verhöhnung des

Redwitzschen Der Zunftmeister von Nürnberg); Görner (Die Waise von Berlin

ist ein komisches Widerspiel von Die Waise von Lowood); Morländer (Die

Naturgrille parodiert Die Grille); Nestroy (Nagerl und Handschuh parodiert

„Aschenbrödel“) &c.



Durch absonderliche Titel machen sich folgende Parodien bemerklich:



Die schöne Helena, oder Troja in Dalles. Parodierende, travestierende,

memorierende, extemporierende Schau=, Trau=, Rühr- und Thränenposse mit

Allocution, Tingeltangel, Sang, Klang, Tanz, Keilerei und Gartenvergnügen

in 3 A. und 2 Zwischenpausen von A. U. Tor (Musik vom Komponisten).



Kieselherz, Prinzessin von Nirgendswo. Ein tragi=komisches Märchen

frech bearbeitet nach Gozzi und Schillers Turandot von Dreien.



Der blaue Frack und seine Folgen. Ein Familienjammer in 1 Akt

als parodierender Schwank oder schwankende Parodie von Alexander Baumann.



Ritter Toggenburg, oder: Liebe, Haß, Rache, Reue, Romantik,

Selbstmord und moralisches Bewußtsein. Unglaublich tragisches Fastnachtsspiel

von G. Schönstein u. s. w.



Zum Schluß schreibe ich noch die bekanntesten Parodien und Travestien

musikalisch dramatischer Formen her:



Frau Vasko, oder die bildschöne Afrikanärrin, oder: Geographische

Konfusionen, oder: Was sich der Mazanillo-Baum erzählt, oder: Der verschlagene

Marine-Offizier. Kolossal große heroische, phil─an─tropische Gegenden

erinnernde Oper in 4 bis 5 Akten mit Gemurmel, Seufzern und anderen

gangbaren Melodien von Siegfried Eisenhardt (quidam). Musik von Charles Lecocq.



Hepp, hepp! oder: Die Meistersinger von Nürnberg. Große konfessionell=socialdemokratische

Zunftoper in 3 gegenwärtigen Akten für die Vergangenheit

komp. von Richard (Schmidt-Cabanis). Text auch von Richard, aber

von einem andern.



Die Prinzessin von Dragant. Komische Operette in 3 Akten

nach Nestroys Lohengrin-Parodie von Costa und Grandjean. Musik von Suppé.



Pumphia und Kulikan. Eine Karikatur-Oper in 2 Akten nach

Bernardon Kurz. Ganz neu bearbeitet in Knüttelreimen von Joachim Perinet.

Musik von Teyber.



Pygmalion, oder: Die Musen bei der Prüfung. Parodie in 2 Akten

in Knüttelversen mit Arien und Chören. Vom Verf. der Modesitten.



Parodie von Robert der Teufel von Boilot. Deutsch von Treumann.



Parodierende Posse ist die Afrikanerin von Görner. (Musik von Buthemuth.)



Tannhäuser. Zukunftsposse mit vergangener Musik und gegenwärtigen

Gruppierungen in 3 Akten. Musik von Karl Binder.



Tannhäuser, oder: Die Keilerei auf der Wartburg. Große sittlichgermanische

Oper mit Gesang und Musik in 4 Akten. Text, Komposition,

Dekorationen und Beleuchtung von demselben.

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Die travestierte Zauberflöte. Parodierende Posse von Meisl.



Alexander Stradellerl. Parodie der Oper Stradella mit Gesang

von A. Lödl. Musik von Ad. Müller.



Sechzig Minuten nach 12 Uhr. Parodie der Melodramen in

2 Akten mit Gesang und Tänzen von Meisl u. s. w.



§ 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben.



Um das Wesen des Lustspiels an guten Beispielen zu studieren,

empfehlen wir:



1. Lessings Minna von Barnhelm, das beste Lustspiel seiner Zeit;



2. Kleists Der zerbrochene Krug;



3. Platens romantische Komödie Die verhängnisvolle Gabel;



4. Gutzkows Zopf und Schwert;



5. Doczi's Kuß;



6. Schaufferts Schach dem König.



Andere erwähnenswerte Lustspiele nennt der nachstehende Überblick

über die Litteratur, der sich selbstredend auf die hervorleuchtendsten

Namen beschränken mußte.



Griechen: Wie schon § 163 S. 456 d. Bds. angedeutet, hatte das

Lustspiel der Griechen einen ähnlichen Ursprung wie die Tragödie. Bei den

Dionysosfesten (S. 456 d. Bds.), hauptsächlich bei der Weinlese, wo, wie bei

unserem Fasching, die ausgelassenste Freude herrschte, führte ein Verein von 24

Landleuten Spiele auf, wobei die Zuschauenden geneckt und Lieder gesungen

wurden. So entstand die Komödie, als deren Begründer für Attika Susarion

(um 580 v. Chr.) und für Sicilien Epimarchos genannt werden. Jn Athen

hatte seit den Perserkriegen Chionides begonnen, die Komödie aus den Elementen

der Megarischen Schwänke zu entfalten.



Man unterscheidet 3 Perioden der kunstmäßigen griechischen Komödie:



1. Die alte Komödie (ἡ ἀρχαία κωμῳδία) etwa bis zur Zeit

der Dreißig um 404 v. Chr. mit den Dichtern Kretinos, Krates, Eupolis,

Pherekrates, Phrynichos und vor allen Aristophanes. (Von letzterem sind uns

11 Komödien aufbewahrt worden, die sich durch gewandte, schlagfertige Ausdrucksweise,

durch vollendeten Versbau und lebendige Darstellung auszeichnen,

und deren bekannteste sind: 1. Die Acharner, in welchen ein Bauer die

Vorteile des Friedens darlegt; 2. Die Wolken, welche die scheingelehrten

Sophisten, zu denen auch Sokrates gezählt wird, geißeln; 3. Die Ritter,

welche die Prozeßsucht der Athener und den Gerber Kleon lächerlich machen;

4. Die Frösche, die den Euripides als Tragödienverderber brandmarken;

5. Die Wespen, 6. Die Vögel &c. (vgl. S. 481 d. Bds.). Aristophanes'

Komödien, welche durch die Ochlokratie reichen Stoff erhielten, sind eine Art politischer

Censur, gewissermaßen die vox populi. Durch ihren öffentlichen Charakter,

der die Zeit in den Umrissen einer verkehrten Welt wiederspiegelt, |#f0516 : 494|



gewinnen sie die beiden Elemente: das Phantastische und die Berechtigung der

Jnkonvenienz, wodurch sie der diametrale Gegensatz der Tragödie werden.)



Die ältere Komödie besaß den Chor, der sich zuweilen in zwei Halbchöre

teilte, ebenso wie die Tragödie; nur der Gesang zwischen den einzelnen Akten

fehlte ihr. Der Tanz (κόρδαξ) bestand aus ausgelassenen Sprüngen und

zuweilen unschicklichen, unzüchtigen Bewegungen. Eine Eigentümlichkeit des

komischen Chors war noch die Parabase (παράβασις): eine das Spiel unterbrechende

Digression, oder ein Jntermezzo, in welchem sich der Dichter mit dem

Publikum auseinandersetzte, indem sein Chor nach der Exposition den Ruhepunkt

im Dialog benützte, um zum Zuschauerraum gewendet eine Stellung auf der

Orchestra einzunehmen und die Schattenseiten des öffentlichen Lebens zu beleuchten,

die Götter zu preisen oder dem Publikum Wünsche und Anschauungen

des Dichters zu vermitteln. Die Sprache war der reinste Atticismus.



2. Die mittlere Komödie (ἡ μέση κωμ.) ist der Übergang der

älteren zur neueren. Statt angesehener Personen ─ wie dies bei der alten

Komödie der Fall war ─ verspottete sie Personen aus dem bürgerlichen Leben:

Handwerker, Krieger, Bauern, tragische Dichter &c. Die Chöre fielen bei ihr

ganz weg. Die Handlung wurde bewegter, mannigfaltiger; die Sprache kam

der gewöhnlichen Umgangssprache gleich. Aristophanes leitete diese Richtung

im Plutos ein; hauptsächliche Vertreter waren Antiphanes und Alexis.



3. Die neue Komödie (ἡ νέα κωμ.) erstieg eine höhere Stufe des

feinen, künstlerischen Aufbaus. Das politische öffentliche Leben verschwand in

der neueren Komödie von der Bühne; es kam das Charakterstück an die Reihe

mit selbsterfundener Fabel, kunstvoll durchgeführter Handlung und tüchtiger

Schilderung eines Charakters. Der Chor, der schon bei der mittleren Komödie

weggefallen war, kam nur noch als handelnde Person vor. Als Dichter sind

zu erwähnen Menander, Philemon, Diphilos, Apollodoros &c. Die Charaktere,

denen wir hier begegnen, sind (nach Lübker) dieselben, welche wir bei Plautus

und Terenz finden, nämlich: leno periurus, amator fervidus, servulus

callidus, amica illudens, sodalis opitulator, miles proeliator, parasitus

edax, parentes tenaces, meretrices procaces etc
.



Römer. Nach Livius (7. 2) entstand der erste Anfang einer Komödie

in Rom um 363 v. Chr., indem man bei einer Pest die Götter durch ludi

scaenici
(mimische Tänze ohne Gedicht) versöhnen wollte. Eine Art Komödie

waren auch die Atellanen, an deren Stelle später der Mimus trat. Jm Jahre

240 v. Chr. dichtete der griechische Freigelassene, Livius Andronikus, ein Stück,

dessen Vortrag durch die Flöte begleitet wurde. Den Schluß bildeten sodann

die Atellanen als Nachspiele (exodia). Die älteste kunstmäßige Komödie der

Römer finden wir bei Plautus, von dem 20 durch Danz, Kuffner, Rapp,

Köpke u. a. übersetzte Lustspiele auf uns gekommen sind, sowie bei Terenz, von

dem nur 6 von Kindervater, Roos und Einsiedel übersetzte Lustspiele vorhanden

sind. Nävius büßte den Versuch, die attische Komödie durch freimütige Angriffe

bei den Römern einzuführen, mit Gefängnis; die Folge war, daß die

Komödie des öffentlichen Charakters entbehrte und nie wie in Athen Staatsinstitut |#f0517 : 495|



wurde. Teile der römischen Komödie waren: der Prolog (prologus),

diverbium (duiverbium
) Dialog mit canticum; die von der Musik begleiteten

Gesangpartien überwogen nicht selten den Dialog. Der Chor fehlte

in der römischen Komödie. Man unterschied die den Griechen nachgeahmte

Komödie mit griechischem Leben und griechischen Sitten (die fabula palliata),

sowie die römische Komödie mit römischen Sitten und Trachten (die fabula

togata
).



Jtaliener. Wie schon in den uralten römischen Atellanen die stehenden

Personen: Maccus, der gefräßige und lüsterne Dummkopf, Bucco (Großmaul),

ein unverschämt zudringlicher Schmarotzer und Schwätzer, Pappus, der

geizige, überall überlistete Alte, und Dossennus, der bucklige Beutelschneider,

sowie Schreckgestalten &c. waren, so hatte das Volkslustspiel in Jtalien schon

im 16. Jahrhundert folgende stehende Personen: einen pedantisch=gelehrten

Doktor, einen gutmütigen, ehrlichen, übervorteilten, venetianischen Kaufmann,

Namens Pantalone, einen pfiffigen Harlequin, den tölpelhaften Diener Pantalones

(der bei uns Hanswurst hieß) und den Scaramuzzo, einen prahlerischen

Spanier, der vom Harlequin Prügel erhielt; hin und wieder kam hinzu Pulcinello,

ein mißgestalteter, lustiger Bauer, Scapino, ein spitzbübischer Bedienter,

Tartaglia, der Stammler u. a.



Neben der erwähnten Volkskomödie kam die kunstmäßige Komödie durch

Nachahmung der Alten auf gelehrtem Weg in die italienische Litteratur. Diese

gelehrte Komödie, welche an Höfen aufgeführt wurde, pflegte besonders Ariosto,

der 5 Komödien hinterließ, sowie Macchiavelli u. a. Sehr talentvoll erwies

sich der Lustspieldichter Giammaria Cecchi, der seine Lustspiele meist dem Plautus

und Terentius entlehnte u. a. m. Jn der Folgezeit brach sich die Volkskomödie

(Commedia dell' arte) trotz aller Anfeindung Bahn und blühte besonders

im 17. Jahrhundert in Neapel. Salvator Rosa (Signor Formika),

Porta u. a. pflegten sie. Jm 18. Jahrhundert wurden Racine und Molière

nachgeahmt. Da trat Goldoni auf († 1792, der einzig gediegene Komiker

Jtaliens, der 150 Lustspiele schrieb) und wirkte durch edlere Sittenkomödien

der Volkskomödie entgegen. Jhn überflügelte Gozzi († 1806, dessen Turandot

Schiller deutsch verwertete) durch seine dramatisierten Märchen. Die Deutschen

Kotzebue und Jffland gewannen vorübergehend Einfluß durch Avelloni und

Gualzetti. Nach ihnen wurden beliebt Nota († 1847), Augusto Bon, Giraud

und in neuester Zeit Testa und Farini.



Spanien. Als in Spanien ein Unterschied zwischen Tragödie und

Komödie noch nicht bestand und es nur geistliche (Autos sacramentales) und

weltliche Schauspiele (Comedias etc.) gab, schrieben berühmte, zur Gattung

der Komödie zu rechnende Stücke: Lope de Vega und Calderon. Durch Virues

und später durch Ramon de la Cruz wurde Tragödie und Komödie geschieden.

Der hervorragendste Lustspieldichter der Gegenwart ist Don Juan Eugenio

Hartzenbusch
. Die übrigen Namen giebt das seit 1836 erscheinende Sammelwerk

Teatro moderno español. Vgl. auch v. Schack's Spanisches Theater, 1845.



Frankreich. Hier waren die ersten Vorbilder des Lustspiels Plautus |#f0518 : 496|



und Terenz; doch trat dasselbe bald in selbständige Bahnen. Die Zahl der

Lustspieldichter von Jodelle (§ 163 S. 458 d. Bds.) bis in die Gegenwart ist

nicht gering, wie schon Kreyßigs kurzgefaßte Gesch. d. franz. Nat.=L. ersehen läßt.

Eine Epoche im franz. Lustspiel bildet Beaumarchais, der den Stil seiner Komödie

in der Vorrede zum Figaro also schildert: „Sobald mein Gegenstand

mich ergreift, rufe ich mir alle meine Personen herbei und stelle sie auf ihre

Posten. Paß auf, Figaro, dein Herr wird dich erraten! Rette dich schnell,

Cherubino! &c. Dann, wenn sie recht im Feuer sind, so schreib' ich auf, was

sie mir sagen, sicher, daß sie mich niemals täuschen. Jeder spricht seine eigene

Sprache, und der Gott der Natürlichkeit behüte sie davor, eine andere zu

reden.“



Für das Studium der franz. Technik könnten noch genannt werden:

Victor Hugo, Octave Feuillet, Alex. Dumas, Augier, die in den §§. 163 und

170 d. Bds. genannten Franzosen, und unter diesen besonders der Hauptvertreter

des Lustspiels der Gegenwart Victorien Sardou. Am meisten studiert wird in

Deutschland immer noch Molière († 1673), aus dessen Stücken l'Avare, le

Misanthrope, Tartuffe, L'école des femmes, Le malade imaginaire
sich

allerdings die Methode des Charakterisierens erlernen läßt &c.



England. So beträchtlich die Zahl bedeutender oder durch ihre Produktivität

hervorragender englischer Lustspieldichter ist (wir erwähnen nur Byron,

Baillie, M. G. Lewis, Bulwer, Taylor, Miß Mitford, Collins, Tennyson,

Jerrold, Buckstone, Planche u. v. a.), beschränkt sich doch das Studium der

deutschen Dichter immer noch mit Recht fast nur auf Shakespeare, von dem wir

als gute Lustspiele nennen: Zähmung der Widerspenstigen, Der Sommernachtstraum,

Die lustigen Weiber von Windsor, Viel Lärm um Nichts, und besonders

Der Kaufmann von Venedig. (Jn diesem Lustspiel hat Antonio versprochen,

sich vom Juden Shylok ein Pfund Fleisch aus dem Leibe schneiden zu lassen,

falls sein Freund in 3 Monaten nicht zahlen werde. Als der Freund nicht

zu zahlen vermag, macht Porzia durch geistvolle Auslegung den Vertrag Antonios

mit Shylok hinfällig &c.)



Ungarn. Von den Ungarn hat Doczi ein auch für den deutschen

Dramaturgen wertvolles Muster: „Der Kuß“ geliefert. Seine an Grillparzer

erinnernden, glatten Verse, sein witzig lebhafter, epigrammatisch präziser Dialog,

seine edle Diktion, seine feine Komik, ja, sein geistvoller, durch die labyrinthischen

Gänge der Jntrigue mit leichter Eleganz hindurchführender Aufbau, seine

künstlerische Architektonik &c. lassen es als Pflicht erscheinen, dieses vom Dichter

auch in deutscher Sprache gegebene, zum Repertoirestück aller deutschen Bühnen

gewordene Lustspiel des näheren zu betrachten. Die Gestaltungskraft des

Dichters läßt manche Unwahrscheinlichkeiten in der Charakteristik und in einigen

erkünstelten Situationen um so mehr übersehen, als Kühnheit und rasches

Fortschreiten der Handlung, die es weniger auf Einzeleffekte, als auf Zeichnung

eines großen Ziels absieht, sich mit feiner, psychologischer Motivierung und

wohlberechneter Detailmalerei verbindet, welch letztere in ihrer allegorisch=idealen

Technik Sinn und Gemüt mit anmutigem Zauber umstrickt.

|#f0519 : 497|



Jnhalt: Adolar, der Halbbruder des klösterlich keuschen und streng richtenden

Königs Sever wird verbannt, weil er die Rosenlippen der Kanzlerstochter

Angela kußlich fand. Er wendet sich nach Aragon, wo er ein wegen

des gleichen Frevels von König Sever verfolgtes Liebespaar (Carlo und Maritta)

trifft; Adolar will den König von seiner Härte überzeugen; er läßt sich verkleidet

als Abgesandter des Herzogs von Aragon in seine Heimat zurückschicken,

um dort gleich Zeuge des strengen Urteils über die Ausgelieferten Carlo

und Maritta zu sein, die nun zur Strafe ein Jahr lang am Hofe unter der

Bedingung zurückgehalten werden, sich während dieser Zeit nicht zu küssen. An

diesen Urteilsspruch anknüpfend, weiß Adolar den König zu einer Wette zu

veranlassen darüber, daß trotz strengen Verbots am Hofe jedermann und der

König selbst küssen würde, wenn die beiden allegorischen Figuren Gelegenheit

und Notwendigkeit herantreten würden. Der König verläßt scheinbar

für einen mehrwöchentlichen Besuch das Land, kehrt aber sofort wieder zurück,

um (genau wie in Shakespeare's „Maß für Maß“ der Herzog Vicentio

oder in dem preisgekrönten Lustspiel: Schach dem König, der König Jakob)

unerkannt beobachten zu können. (Jn dem erwähnten Preislustspiel des 1837

verstorbenen Schauffert wird der gegen das Tabakrauchen fanatisch eingenommene

König Jakob durch seinen Ganymed, die verkleidete Geliebte seines Schreibers,

dazu verleitet, aus der Tabakpfeife zu schmauchen. Er hatte erklärt, seinen

beim Rauchen ertappten und deshalb verbannten Schreiber nur dann wieder

anzunehmen, wenn er selbst einmal geraucht haben würde. Nun zwingt ihn

die Geliebte des Schreibers zur Rückberufung ihres Geliebten &c.) Sever muß

sich überzeugen, daß an seinem Hofe niemand einen Kuß verschmäht, ja, er

selbst wird vom Kultus der Natur besiegt, als Maritta in der Dunkelheit ihn

für Carlo hält und mit Küssen überhäuft. Einmal von dem versengenden

Liebeskuß durchbebt, verzehrt sich der König vor Sehnsucht.



Geistvoll ist die psychologische Motivierung, wie die Königin dem häßlichsten

Mohren, der den wertvollsten Diamant nur für einen Kuß der allerschönsten

Frau geben will, diese Gunst gewährt. Mitleid und Eitelkeit wären wohl für

unser ästhetisches Gefühl genügend gewesen, um den Kuß zu rechtfertigen. Der

Dichter will es anders; er macht die hohe Gunstgewährung noch von der Forderung

des Übertritts zum Christentum abhängig. Derartige Bekehrungsversuche stehen

freilich mit unseren modernen Anschauungen nicht im Einklang, wenn sie

auch kostümgemäß sind. Jedoch wird das ethische Moment insofern aufrecht

erhalten, als König wie Königin rein aus dem Konflikte hervorgehen.



Deutschland. Die ältesten Lustspiele in Deutschland (vgl. Rhoswitha I 47)

waren in lateinischer Sprache abgefaßt. Auch die Fastnachtsspiele (Mysterien

S. 461 d. Bds.) hatten lateinischen Text. Eine Art frühester Lustspiele waren die

sog. Fastnachtsspiele und Possenspiele (I 49 und 50 D). Es waren Lustspiele

mit geringen Verwickelungen. Wie die Tragödie aus den Passionsspielen,

so entstand die Komödie aus den Fastnachtsspielen. Hans Sachs, der 78

Lustspiele schrieb, bedeutet einen Fortschritt auch im Lustspiel. Er, Rosenplüt

und Folz waren die Begründer des eigentl. Lustspiels, dessen Wiege also Nürnberg |#f0520 : 498|



ist. Einiges leistete sodann Gryphius (I 51; vgl. dessen Peter Squenz

und den an fremdsprachlichen und obscönen Stellen überreichen Horribilicribrifax).

Die späteren Lustspieldichter hielten sich an Shakespeares romantische Lustspiele

oder an Molières Charakterkomödien.



Epochebildend für das deutsche Lustspiel trat nun auf: der Reformator

unseres Stils und Geschmacks, der Gründer unserer National-Litteratur G. E.

Lessing besonders durch Minna v. Barnhelm, welches Lustspiel Kneschke als

ein Werk für alle Ewigkeiten bezeichnet, das die Ära des Glanzes in

der Geschichte des deutschen Lustspiels begründete.



Eine wertvolle Litteraturerscheinung wurde Kleists Der zerbrochene Krug

(vgl. die Ausg. von Karl Siegen). Bedeutend wirkten Goethe und Schiller,

wenn auch der letztere im heiteren Genre zu keiner allzugroßen Bedeutung

gelangte (I 105). Für die Geschichte des Lustspiels sind neben und nach

ihnen zu nennen: Raimund (Der Verschwender, Der Bauer als Millionär,

Alpenkönig und Menschenfeind); Kotzebue († 1819. Die Freimaurer; Die

beiden Klingsberge; er schrieb manche ergetzliche Possen, z. B. Wirrwarr, Pagenstreiche,

ferner den gegen die Gebr. Schlegel gerichteten „hyperboreischen Esel“,

in welchem ein von der Universität heimkehrender Student durch geschraubte,

gelehrte Reden alle Verwandten zur Verzweiflung bringt), Tieck (Der gestiefelte

Kater, Die verkehrte Welt, Prinz Zerbino), Platen (Der gläserne Pantoffel

vereint die Märchen von Aschenbrödel und Dornröschen; der Schatz des Rampsinit

enthält die von Herodot erzählte, bekannte Sage vom Schatzhause des

Rampsinit; der romantische Ödipus ist eine gegen die romantische Poesie

und besonders gegen Jmmermann gerichtete satirische Komödie, welche ─

wie auch die verhängnisvolle Gabel ─ die Schicksalstragiker verhöhnt), Felix

Weiße (Die Matrone von Ephesus), Bretzner († 1807. Das Räuschchen,

Liebe nach der Mode), Brandes († 1799. Der geadelte Kaufmann), v. Steigentesch

(† 1826. Mißverständnisse), Contessa († 1825. Das Rätsel,

Der Findling), Theod. Winkler (Das Strudelköpfchen), Heun (Das Vogelschießen),

Eichendorff (Die Freier), Jmmermann (Die Prinzen von Syracus,

Die Schule der Frommen), Körner (Der Nachtwächter, Die Gouvernante, Der

grüne Domino), Gutzkow (Königslieutenant), Laube (Rokoko), Seidl (Die

Unzertrennlichen, Das letzte Fensterl), v. Heyden (Die Modernen), Raupach

(Die Schleichhändler, Allopath und Homöopath), Halm (König und Bauer),

Ed. Devrient (Gunst des Augenblicks), Lebrün (Ein Fehltritt), K. Schall (Unterbrochene

Whistpartie), Karl Blum (Der Ball zu Ellerbrunn, Der Schneider

von Lissabon, Jch bleibe ledig), Karl Töpfer (Die blonden Locken, Bube und

Dame, Rosenmüller und Finke), Hackländer (Der geheime Agent, Magnetische

Kuren), Wehl (Alter schützt vor Thorheit nicht; schrieb sonst reizende Einakter

und größere Lustspiele), G. zu Putlitz (Badekuren, Der Salzdirektor, Die blaue

Schleife), Nestroy (Lumpaci Vagabundus, Eulenspiegel), Berger (Die Bastille),

Bürkner (Der Traum der Kaiserin), Elmar (Unter der Erde), Fr. Kaiser (Stadt

und Land, Mönch und Soldat), W. Friedrich (Das Fräulein vom Hause;

Die Volksvertreter auf Urlaub), Wilhelmi (Einer muß heiraten), v. Plötz |#f0521 : 499|



(Der verwunschene Prinz), Joseph Mendelssohn (Überall Jesuiten), Max

Martersteig (Jm Pavillon), Levin Schücking (Die Prätorianer), Julius Stinde

(Hamburger Leiden und Freuden), G. Michel (Herr Schwabe), Hugo Bürger

(Der Frauenadvokat &c.), A. Förster (Feuer in der Mädchenschule), E. Eckstein

(Ein Pessimist), H. Dohm (Der Seelenretter), Leop. Feldmann (Der Lebensretter

u. viele a.), A. Fresenius (Die Glücksritter), L. Goldhann (Jm alten

Raubschloß), Luise Gutbier (Das verhängnisvolle Manuscript), Jordan (Durchs

Ohr), E. Lehmann (Nur Modell), Frz. Rheder (Um so'n ol' Petroleumlamp),

Jul. Riffert (Hänschen), Alfred Lindolf (Die Spektralanalyse), Rud. Kneisel

(Emmas Roman), Anna Löhn (Jm Finstern), E. Mautner (Eine Kriegslist),

Arthur Müller (Gute Nacht Hänschen), Wolfgang Müller v. Königsw.

(Sie hat ihr Herz entdeckt), Karl Rudolf (Ein Vater auf Kündigung), G.

v. Vincke (Viel Lärm um nichts), Ad. Wechßler (Der Herr Doktor), F.

Wilferth (Die Rosen des Referendars), Oskar Welten (An der schönen blauen

Donau), Eugen Friese (Auf der Mensur), Cuno Wohlfahrt (Deutsch), Alb.

Gäbeler (Candidat Haller), Schmidt-Cabanis (Jrren ist menschlich), Bernhard

Busch (Ein prächtiger Einfall), Alb. Herzfeld (Unwiderstehlich), Gust. Wacht (Reisemasken),

E. Hofmann (Orestes und Pylades), A. Bahn (Wunderkuren),

Alb. Lindner (Puck in Briefen), Dr. Hugo Müller (Salonlustspiele, z. B. Jm

Wartesalon erster Klasse), Max von Schlägel (Die Komödie um ein Herz),

Emil Neumann (Jch bin nicht eifersüchtig), Adolf Calmberg (Wer ist der Herr

Pfarrer?), Felix Hesse (Beim Herrn Landrat), Ludolf Waldmann (Also doch!),

Poly Henrion (Für nervöse Frauen), R. Waldmüller (Talma), König Ludwig

von Bayern (Rezept gegen Schwiegermütter; dasselbe auch von Fastenrath

bearbeitet), Jul. Hammer (Zur Wiederkehr), G. v. Moser (Der Veilchenfresser,

Ultimo, Wie denken Sie über Rußland?), A. v. Winterfeld (Wenn

Frauen weinen), Ed. Bloch (Eine Kokette), Mathilde Paar (Die Wahrheit),

Julie Kühne (Die Badegesellschaft), Ernst Wichert (Frische Luft), Grandjean

(Ludwig IV.), A. Mels (Heines junge Leiden), Ferd. Maltan (Ein moderner

Diogenes), Mosenthal (Die Sirene), Bohrmann (Neuer Adel), Jul.

Wolff (Die Junggesellensteuer), Osk. Blumenthal (Die Philosophie des Unbewußten),

Wilhelmine v. Hillern (Die Augen der Liebe), Theod. Gesky

(Eine hübsche Überraschung), E. v. Grotthuß (Der Magnetiseur), Faust Pachler

(Er weiß Alles), Edm. Henoumont (Alicens Rache), Graf Ulrich Baudissin

(Ein seelenguter Mensch), Franz Koppel-Ellfeld (Welcher Meier?), Spielhagen

(Der lustige Rat), L. Berthold (Bergluft), E. Claar (Jn Homburg), Bauernfeld

(Die Bekenntnisse &c.), Bruno Reche (Jncognito), W. Henzen (Zweideutigkeiten),

B. Auerbach (Eine seltene Frau), Bergen (Schwesterliebe), Young

(Ein amerikanisches Duell), Schlesinger (Heiratsanträge), Carl Heigel (Angenommen),

Bretzner (Der Eheprokurator), Prinzessin Amalie H. v. S. (Das

Fräulein vom Lande), Aug. Wintterlin (Der Geisterbanner), Alex. Cosmar

(Die Liebe im Eckhause), Hans Köster (Liebe im Mai), Ludwig Foglar (Ein

lockeres Verhältnis), E. Geibel (Meister Andrea), Rud. Genée (Ein neuer

Timon), Rod. Benedix (Die relegierten Studenten), W. Ziegler (Der seltene |#f0522 : 500|



Onkel), E. Beyer (Die Versöhnung), Conrad (Prinz Georg v. Pr., Wo liegt

das Glück?), Herzenskron (Der Gang in's Jrrenhaus), Börnstein (Betrogene

Betrüger), Lesser (Der Portraitmaler), E. Henle (Der Erbonkel, ein an die

Posse angrenzendes Lustspiel), Fr. Storck (Deutsche Herzen), Ad. Wilbrandt

(der mit seinen Malern in die Bahnen E. v. Bauernfelds tritt, schrieb viele

gute Stücke), Paul Lindau (Espritreiche Stücke, z. B. Marion, Gräfin Lea, Maria

Magdalena u. a.), Mich. Klapp (Rosenkranz und Güldenstern), L'Arronge

(Wohlthätige Frauen, Mein Leopold, Hasemanns Töchter, Doktor Klaus, Haus

Lonei &c. sind Familiengemälde mit einer meisterhaften Charakteristik; durch dieselben

wurde L'Arronge der Mitbegründer des modernen Volksstücks, das der

Vater der Lokalposse, Kalisch, bereits vergeblich angestrebt hatte), Rudolf v. Gottschall

(die trefflichen, oft aufgeführten Stücke Pitt und Fox, Die Diplomaten,

Die Welt des Schwindels &c.) u. s. w.



§ 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von

Dramen aller Arten, Übersetzungen und Quellenschriften.



1. Der Vollständigkeit halber führen wir noch die Namen jener

dramatischen Schriftsteller hier an, welche innerhalb der allerletzten

Litteraturperiode mehrfach Dramen irgend welcher Art drucken ließen,

deren Namen jedoch in den vor. §§ noch nicht genannt sind. 2. Ferner

geben wir ein Verzeichnis jener dramatischen Sammlungen, welche

Tragödien, Schauspiele, Lustspiele, Possen &c. von allen möglichen

Dichtern liefern und einen Überblick über die individuellen Richtungen

der dramatischen Dichtungsgattungen gewähren. 3. Endlich nennen

wir die bekanntesten Übersetzer fremder Stücke, sowie die bedeutendsten

Quellenschriften für den Dramaturgen.



1. Dramatische Schriftsteller der letzten Periode, von denen

je mehrere dramatische Erscheinungen durch die Presse veröffentlicht

wurden:



Adami, Alberti, Anders, Anzengruber, Apel, Arter, Augustsohn, Barrière,

Bartl, Bauermeister (z. B. Kutschke auf Vorposten u. a. Lustspiele), A. Baumann

(Versprechen hinterm Herd), Baumgärtner, Beaumont, F. Becks, A.

Beer, Behrle, G. Belly (Monsieur Herkules), O. F. Berg, Berla, Bernard,

Bernays, Bewer, Biermann, Birch-Pfeiffer, Bittner, M. Böhm, Böcker, Frz.

Bonn, Born, Boursel, J. W. Braun, Breitschwert, Buchholtz, Büchner, R.

Bunge, Buzzi, Byr, Ad. Calmberg, Cappilleri, A. Carl, Carsten, Cornelius,

Corrodi, F. Dahn, Dingelstedt, Ed. Dorn, Dreher (Betrogene Betrüger),

Dreyfuß (Jm schwarzen Frack), W. Drost, Dulk, Duncker, Eichrodt, Eickhorn,

Eirich, A. Elz, Ellmenreich, Erhard, A. Fitger, Fleischmann, Feßler,

J. G. Fischer, Findeisen, Flamm, Flammberg, Frank, Fränkel, Franz,

Freese, A. Freytag, Gust. Freytag, Frieder, Frohberg, Th. Gaßmann,

Gätschenberger, F. Geber (Jm Carcer), Gensichen, Gervais, Girndt, Giseke, |#f0523 : 501|



Görlitz, Görner, G. Görß, Grahl, Graeser, Graßhoff, M. Greif, L. Gruber,

Grothe, Gruppe, Gubitz, Gulden, Gurlitt, Haber, Haffner (Therese Krones),

R. Hahn, Hamerling, Hasert (Joseph und seine Brüder), Heintze, Heinrich,

Helbig, Heimerdinger, Heinzelmann, Herhold, H. Herrig, Hersch (Die Anne Lise),

H. Hertz, Heßling, Hiemer, Arnold Hirsch, E. Hirthe, Fr. Hofmann (Dichterweihe),

v. Holbein, Holberg, Hollpein, Hölty, Holtei, Hopf, Fr. Hopp, M. Horn, G.

Horn, Hosäus, P. Hübner, E. Jacobson (Backfische &c.), H. E. Jahn, H.

Jahnke, Jantsch, R. Jonas, C. Juin, Julius, Kastropp, E. Keller (Der Angerhof),

Kette, Kinkel, W. Kläger (Vor Taschendieben wird gewarnt &c.), Julius

Klein, Klenze, Koberstein, W. Köhler, Königsberg, Krause, Krüger, H. Kruse,

K. Kuhn, Kurländer, Lambrecht, Landerstein, Lemcke, E. Lehmann (Eine verhängnisvolle

Nacht &c.), Leythäuser-Melano, Linderer, Lingg, Peter Lohmann (Dramatische

Werke, 4 Bände), Löwe, Lucius, Lutze, Mallachow, v. Maltitz (Anna

Boleyn), Mann, Manstädt, Marbach, Märzroth, G. v. Meyern, Megerle,

Michaelis, Molitor (Maria Magdalena), Moltke, Morolf, Müchler, O. Mylius

(Die Reise um die Welt in 80 Tagen), Nesmüller, Niendorf, Nordmann (Ein

Marschall von Frankreich), Oberleitner, Ohorn, Öhlenschläger, Osterwald, Oswald,

Palleske, Pape, Pasque, v. Paumgartten, Perron, Petrick, Pocci, Pichler,

Plönnies, E. Pohl, Ponholzer, Ponsard, Ponte, Priem, Pröhle, Prölß, Pyl,

Raven, v. Redwitz (Philippine Welser), A. Reich, Rethwisch, Reinold, Rellstab

(Dramatische Werke), Rensch, Max Ring, Ringseis, Ristori, Jul. Rodenberg

(Ehen werden im Himmel geschlossen), Rödiger, Röder, Roltsch, Roquette, Th.

Rose, Rosenzweig, Rosenthal, Rost, Rüben, Runge, Rustige, Sauer, Schack,

Schenck, Schleich (gesammelte Lustspiele), Schlägel, E. Schmithoff, Schlemm,

Herm. v. Schmid (Der Loder), A. Schmidt (Judith, Nero &c.), Schneegans,

B. Scholz, E. Schönfeld, Schönau, Schönstein, Schottky, O. Schreyer, Schröer,

Schröder, Fr. C. Schubert (Wlasta), Schumacher, Schütz, Schwebemeyer,

Schweitzer (Epidemisch), Sepp von Laßberg, L. v. Selar (Frauenlist), K. Siegen,

Simon, Carl Sontag, Spengel, E. Stadion, Starke, Stein, Stern, Stettenheim,

Stix, Sturm, Sträter, Struensee, Stumpf, Suter, Tempeltey (Hie Welf,

hie Waiblingen), Thürmayer, Träger, Trautmann, Treptow, Türcke, Türk,

H. Uhde (Gott sei Dank, der Tisch ist gedeckt), Ullmayer, Uschner, W. Vogel,

F. Volger, v. d. Vondel, Voß, Wachenhusen (Die glücklichen Jnseln &c.),

Waal, Feod. Wehl (Ges. dramat. Werke), Weilen, C. Weiß, Weißbrodt, Max

v. Weißenthurn, Wendt, Wessenberg, Westermann, Westphal, Weyl, J. N.

Widmann, Wieser, Wildenbruch, Wilborn, Wilken, Alex. Wilhelmi (Einer muß

heiraten), Wimmer, Winckler, Wohlgemuth, Wohlmuth, Wollheim, v. Wolzogen,

Young (Ein amerikanisches Duell), Zell, Zimmermann u. a.



2. Sammelwerke. Anthologie der nordgermanischen dramatischen

Litteratur, Album für Liebhabertheater, Schaubühne von Feod. Wehl (fortgesetzt

v. Perels), Originalbeiträge zur deutschen Schaubühne, Bibliothek vaterländischer

Schauspiele, Klassische Theater-Bibliothek, Launige Theaterstücke, Sozialistische

Theaterstücke, Blochs Dilettantenbühne, Blochs Theater-Gartenlaube,

Blochs Volkstheater, Wallners Deutsche Festspielhalle, Wallners Haustheater, |#f0524 : 502|



Wallners Allg. Schaubühne, Wallners Thespiskarren, Wallners Volks= und

Nationaltheater, Kühlings Album für Liebhaberbühnen, Kühlings Deklamationshalle,

Kühlings Volksschaubühne, Kühlings Theaterspecialitäten, Görlitz' Almanach

dramatischer Bühnenspiele, desgleichen von Görner, Jahrbuch deutscher Bühnenspiele,

Kathol. Dilettantenbühne, Haustheater (Graz und Leipz.), Theater-Mappe,

Der Theaterfreund, Die Jugendbühne, Schauspiele für Mädchen, Boths Bühnenrepertoire

des Auslands, Repertoirestücke deutscher Bühnen in neuen Bearbeitungen

und Einrichtungen, Theater des Auslands, Neues Theater des Auslands,

Wiener Theaterrepertoire, Neues Wiener Theater, Dramatische Meisterwerke der

Ungarn, Jndisches Theater, Jtalienisches Th., Spanisches Th. u. a. m.



3. Die bekanntesten und fleißigsten Übersetzer von Stücken fremder Litteraturen

sind: Angely, Graf Baudissin, Blum, Töpfer, Th. Hell, A. E. Wollheim,

G. Ritter (Pseud. für Zollinger), Lorinser (Calderon), Ad. Laun (Racine und

Molière), L. Schneider, Bahn (Man sucht einen Erzieher &c.), Börnstein (Eine

Frau, die sich zum Fenster hinausstürzt &c.), Cosmar, A. Friedrich, W. Friedrich

(Guten Morgen, Herr Fischer! &c.), Hermann (Alles durch die Frauen &c.), Denecke

(Eine brillante Verlegenheit), Schrader (Dr. Robin), Schlivian (Frauenpolitik),

Hiltl (Ein prächtiger alter Knabe), Winterfeldt (Jch speise bei meiner Mutter),

Julius (Alle Mittel gelten), E. Neumann (Der Lebensretter), Lindau (Molière),

Dingelstedt, Gries, Wilh. Lange, Emil J. Jonas u. a. Nach Gozzi bearbeitete

Schiller seine Turandot, Goldoni bildete die Grundlage zu Carl Blums Jch

bleibe ledig, Sheridans Lästerschule übersetzte von Leonhardi u. a. Die Spanier

Lope de Vega, Calderon, Moreto (Donna Diana) wurden in Übersetzung oft

gegeben; mehr noch seit Lessing und Schröders Zeiten Shakespeares Lustspiele;

ebenso Molière und besonders Eugène Scribe, der die deutsche Bühne lang

beherrschte, wie er in Frankreich eine Schule von Lustspieldichtern begründete (ich

nenne nur Bayard, dessen Vicomte von Létorières deutsches Repertoirestück

wurde) u. s. w.



Für den Dramaturgen empfehlenswerte Schriften sind neben Lessings

Hamburgischer Dramaturgie: Klein, Geschichte des Drama; Creizenach, Zur

Entstehungsgeschichte des neueren deutschen Lustspiels; Kneschke, Das deutsche

Lustspiel; Prölß, Katechismus der Dramaturgie; W. R. Hoffmann, Der Entwickelungsgang

des deutschen Schauspiels; Herzfeld, Entwickelung der dramatischen

Kunst; Knorr, Entstehung und Entwickelung der geistlichen Schauspiele

in Deutschland; Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie, ein Werk,

welches man wohl als das gediegenste und umfassendste Kompendium der

Tragödie betrachten darf; Heinr. Theod. Rötscher, Die Kunst der dramatischen

Darstellung; Tiecks Dramaturgische Blätter; P. Lindaus Dramaturgische Blätter;

A. E. Brachvogels Theatralische Studien (Jena 1863); G. v. Putlitz' Theater=

Erinnerungen (Berlin 1875); R. Wagners Oper und Drama; Ambros' Die

Grenzen der Musik und Poesie; Kalbecks Bühnenfestspiel in Bayreuth; v. Thüngen

Dramaturgische Fragmente; Gotth. Hübners Theatralische Feuilletons; K. R.

Pabsts Die Verbindung der Künste auf der Bühne; sowie Wehls Didaskalien

(Leipzig 1867) u. a.

|#f0525 : 503|



III. Musikalisch-dramatisch-weltliche, und kirchlich-musikalische

Formen.


§ 179. Einteilung dieser Formen.



Die Verbindung der Dichtkunst mit der Musik vollzieht sich:



I. in musikalisch=dramatisch=weltlichen Formen,



II. in kirchlich=musikalischen Formen.



Die musikalisch=dramatisch=weltlichen Formen sind folgende:



1. Das Melodrama,



2. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel,



3. Das Schauspiel mit Musik,



4. Die Oper:



a. Ernste Oper,



b. Komische Oper,



c. Operette,



d. Jntermezzo.



Die kirchlich=musikalischen Formen sind:



a. Der Choral,



b. Die Motette,



c. Der Psalm,



d. Die Kantate,



e. Die Passion,



f. Die Messe und das Requiem,



g. Das Oratorium.



I. Musikalisch-dramatisch-weltliche Formen.


§ 180. Das Melodrama.



Das Melodrama (von μέλος == Gesang und δρᾶμα == Handlung)

ist eine Deklamation mit einer ihre Stimmung charakterisierenden Musikbegleitung.

Es ist jene Kunstgattung, in welcher sich die Musik mit

dem gesprochenen Worte verbindet, indem sie (die Rede begleitend,

oder abwechselnd an passenden Stellen kurze Motive einfügend) die von

der Dichtkunst angeregte Stimmung zu erhöhen sucht. Das Melodrama

heißt Monodrama, wenn nur eine Person deklamierend auftritt,

Duodrama, wenn zwei Personen thätig sind.



Vom Singspiel unterscheidet sich das Melodrama dadurch, daß seine Personen

nicht singen, sondern deklamieren, und daß die Musik lediglich die in der

Dichtung ausgedrückten Gefühle zu unterstützen, zu fördern, fortzuleiten hat.

Ausnahmsweise (wie z. B. in Büttingers Vaterunser von Mahlmann) kann

ja wohl auch einmal eine Gesangspiece eingeschoben werden.



Jm klassischen Griechenland gab es noch kein Melodrama, da man dort ja

überhaupt keine gesanglichen Dramen kannte; der musikalische Anteil beschränkte |#f0526 : 504|



sich auf den mit dem Rhythmus verbundenen Tanz und auf die Chöre; der

Dialog wurde recitativartig vorgetragen &c.



Unser Melodrama schreibt sich aus dem vorigen Jahrhundert her. Die

erste Anregung zu demselben gab J. J. Rousseau, dessen Pygmalion lediglich

ein von Musik begleiteter, dramatisch gehaltener Monolog war. Nach diesem

Vorbild bearbeitete in Deutschland der Schauspieler Brandes († 1799 in

Berlin) die Kantate Ariadne auf Naxos von Gerstenberg, um seiner in der

lyrischen Deklamation bedeutenden Frau eine Glanzpartie zu schaffen. Die

stimmungsvolle begleitende Musik lieferte ihm G. Benda, und dieser wurde

somit der erste Begründer des musikalischen Teils unseres Melodramas.

Es folgten nun bis in die Neuzeit viele Melodramen, von denen

folgende bekannter geworden sind: Gotters Medea (mit Bendas Begleitung);

Meißners (und Neefes) Sophonisbe, Lichtenbergs (und Voglers) Lampedo;

Ramlers Cephalus und Prokris, Rambachs Theseus auf Kreta, Kaffkas

Rosamunde, W. v. Gerstenbergs Minona, Bertuchs Polyxena, G. Conrads

(Prinz Georgs von Preußen) Phädra, Gubitz' (und B. A. Webers)

Sappho, Heinrich Drehers (Musik mit Einflechtung von Melodien zu Körner'=

schen Liedern von Rich. Genée) Theodor Körner, Albertis (und Reineckes)

Der Mutter Gebet u. a.



Schauspieler, die in der Deklamation glänzen wollten, veranlaßten auch

melodramatische Bearbeitung episch=lyrischer Gedichte, z. B. Der Gang nach dem

Eisenhammer von Ans. Weber; Die Glocke, Die Bürgschaft &c. von P. Lindpaintner;

Der Taucher von Uber; Klopstocks Frühlingsfeier von Zumsteeg;

die Balladen: Der Heideknabe, Die Flüchtlinge, Schön-Hedwig von Schumann;

Bürgers Lenore von Liszt u. a.



Aber auch in Schauspiele und in Opern schob man episodische melodramatische

Scenen ein, die sich von vortrefflicher Wirkung erwiesen, namentlich,

wenn es galt, durch die Musik den dunkeln schlummernden Empfindungen

Raum zu gewähren und einen weihevollen, stimmungsreichen Eindruck zu schaffen.

Vorzügliche Verwendung fand das Melodrama in dieser Beziehung in der Preziosa,

und im Freischütz durch Weber; in der Kerkerscene der Oper Fidelio

durch Beethoven; in Struensee durch Meyerbeer; im Sommernachtstraum durch

Mendelssohn; ferner am Schlusse von Egmont, wo die Musik den Tod Egmonts

verklärt und seinen letzten Schlaf versüßt. Auch Schumann fügte vielen

Stellen des Byronschen Manfred (z. B. Erscheinung der Geisterfee &c.) melodramatische

Musikbegleitung ein u. s. w.



Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß das Melodrama (in welchem ─

nach Bouterwecks Ästhetik ─ zwei das gleiche Ziel erstrebende Künste mit besonderer

Höflichkeit einander Platz machen, wenn die eine der andern in den

Weg tritt) in unserer Gegenwart zu den unpopulären Gattungen gehört, da

wir für Steigerung des Gefühls die Rede lieber mit dem Gesang vertauschen.

Jndes wird das Melodrama immerhin hervorragenden Deklamatoren erwünscht

bleiben, wie es denn auch unzweifelhaft für angehende dramatische Komponisten

ein vorzügliches Mittel zur Erreichung der Befähigung ist, die Musik von einer |#f0527 : 505|



die Dichtkunst unterstützenden Seite aufzufassen und in den Geist der dichterischen

Kunstwerke selbst einzudringen. (Über das Melodrama vgl. Herder in seiner

Adrastea, 4. Stück.)



§ 181. Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel.



Unter Vaudeville, wie unter Sing- oder Liederspiel versteht man

eine Art Schauspiel mit Gesang- und Jnstrumentalbegleitung, wobei

Gesang wie Jnstrumentalmusik keinen Anteil an dem dramatischen Fortschritt

der Handlung nehmen; es ist also eine Art lyrisches Drama,

welches sich durch geschmackvolle Einreihung von liedartigen, meist nach

bekannten Volksmelodien gesungenen und mit Refrain versehenen Strophen

auszeichnet. Oder: Vaudeville ist ein mit beliebten Gesangsstrophen

(Couplets) unterbrochenes Lustspiel, oder auch eine mit Musik verbundene

Posse, welch' letztere Art meist den Namen Vaudeville-Posse

oder Vaudeville-Burleske trägt.



Der Unterschied zwischen Vaudeville und Sing- oder Liederspiel liegt infolge

ihres Ursprungs weniger in der äußeren Form als im inneren Wesen

dieser Gattungen; er ist ein innerlicher, den nationalen Genius und Charakter

Frankreichs und Deutschlands zum Ausdruck bringender. Man kann den Unterschied

andeuten, indem man sagt: Das Vaudeville ist ein französisches

Liederspiel
und das Liederspiel ist ein deutsches Vaudeville. Die

Couplets des Vaudeville atmen dem französischen Volkscharakter entsprechend

Witz, Ungebundenheit, Laune bis zur Satire und Frivolität, während die Liedstrophen

des deutschen Lieder- oder Singspiels, das ja auch das Humoristische

liebt, mehr den gemütsinnigen Charakter des deutschen Volksliedes zum Ausdruck

bringen. Der Zweck des Vaudeville ist Erheiterung, Ergetzung; und es

hört diese Gattung sofort auf Vaudeville zu sein, wenn Witz, Laune, Satire

fehlen, während das deutsche Liederspiel auch Rührung, Läuterung des Geschmacks

&c. erzielen und sich mit einfachem Stimmungshumor begnügen kann.



Von der Operette (§ 186) unterscheiden sich beide Formen dadurch, daß

alle Gesangsstücke der letzteren lediglich aus Liedern bestehen, die entweder mit

längst bekannten Melodien versehen sind oder deren Melodien doch wenigstens

volkstümlich und einfach sind.



Geschichtliches und Litteratur beider Formen.



(Französisches Vaudeville.) Der Name Vaudeville soll ─ so nehmen

alle Litterarhistoriker bis jetzt ausnahmslos an ─ von dem Städtchen Vaux

de Vires
(in der französischen Normandie) herstammen, wo gegen Ende des

14. Jahrh. ein Walkmüller Namens Olivier Basselin mit seinen übrigens erst

1576 erschienenen ─ Vau de Vire genannten ─ Couplets von sich als

Dichter zu sprechen machte. Man meint etwas gesucht, daß aus seinem Vau

de Vire
nach und nach Vaux de toutes les villes und daraus Vaux

de villes
entstanden sei. Andere sind der Ansicht, Vau de ville bedeute |#f0528 : 506|



lediglich ein Lied, welches durch die Stadt ─ also gewissermaßen von Mund

zu Mund ─ weiter gehe &c.



Uns scheint der Ursprung des Vaudeville bei dem Trouvère (d. i. Dichter

und Komponist) des 13. Jahrhunderts Adam de la Hale (genannt le

Boiteux d'Arras
) zu liegen, der (vgl. die Leipz. Allg. musik. Zeitg. Jahrg.

1827 S. 217 ff., sowie Jahrg. 1828 S. 81) wohl zuerst in seinen Werken

die Jeux (Spiele) auszuzeichnen begann und auch Gesänge in die Dichtkunst

mischte. Sein von Professor Fétis in Paris 1827 aufgefundenes »Robin

et Marion
« ist wohl das älteste Denkmal eines Vaudeville (wie überhaupt

das Embryo der späteren komischen französischen Nationaloper) und muß wohl

endlich den Streit um die Herkunft des Vaudeville lösen. ─



Ende des vorigen Jahrhunderts war das Vaudeville eine in Paris sehr

beliebte Gattung. Man gründete dort 1791 ein besonderes Vaudeville-Theater,

und alle Dichter versuchten sich im Genre des Vaudeville. Le Sage war es,

der mehrere Vaudevilles mit einheitlichem Plan und einer bestimmten ─ in

Stadt- und Dorfschenken spielenden ─ Handlung zu einem Lustspiel (der Vaudeville-Comédie)

vereinigte; Scribe verlegte die Scene in die bürgerlichen

Wohnungen, wie in die Salons und schuf somit eine Art besseres Vaudeville=

Drama &c.



Nachdem wir in Deutschland ─ wie unten auszuführen ist ─ nach dem

Vorbild des Vaudeville durch Reichardt längst ein deutsches Liederspiel besaßen,

wurde auch das französische Übersetzungsvaudeville in unsere Litteratur und

in unser Theater eingeführt. Die bekanntesten, aus dem Französischen stammenden

Vaudevilles, die in Deutschland eine gewisse Popularität erlangten, sind: Karl

Blums
(geb. 1805) Der Bär und der Bassa (nach Scribe), und Der Schiffskapitän;

Louis Angelys († 1835) Sieben Mädchen in Uniform; Salingrés

Vaudeville-Posse Besorgt und aufgehoben; Bärmanns Contumaz von Scribe;

Lebruns Die kinderlose Ehe u. a., die sich gesammelt finden in Vaudevilles

und Lustspiele (Berl. 1834, 4 Bände), sowie in Neuestes komisches Theater

(Hamburg 1841, 3 Bände) &c.



(Deutsches Sing- oder Liederspiel.) Der als Komponist und Schriftsteller

bekannte Johann Friedrich Reichardt, der bei Komposition seiner volksmäßigen

Lieder (z. B. Sah ein Knab' ein Röslein stehn) großes Gewicht auf

den Sprachaccent legte, lernte in Paris das Vaudeville mit seinen leichten,

witzigen, zuweilen satirisch=ätzenden Couplets kennen und faßte den Entschluß,

durch eine dem deutschen Geschmack zusagende auf die einfache Volkstümlichkeit

hinweisende Nachahmungsform des Vaudeville dem damals übertriebenen Koloraturgesang

und der italienischen Manier entgegen zu treten. Bei unserem Mangel

an allgemein gesungenen, witzigen und satirischen Liedern konnte er eine treue

Nachahmung des französischen Vaudeville nicht versuchen, und er schuf daher

im Hinblick auf die deutsche Vorliebe für Liebes- und Trinklieder im Jahre

1800 ein kleines sentimentales Singspiel: Liebe und Treue, dem er den

Namen Liederspiel beilegte, wodurch er der Schöpfer dieser Gattung wurde.

Lied und nichts als Lied bildete den Jnhalt, und der außerordentliche Erfolg |#f0529 : 507|



dieses Stückes reizte zur Nachahmung. Himmel (Fanchon) und Herklotz traten

in Reichardts Bahn, der selbst mit neuem Glück das Goethesche Singspiel Jerry

und Bätely bearbeitete und die Liederspiele Kunst und Liebe, Erwin und Elmire,

Claudine &c. schuf, worauf die bedeutendsten Komponisten und Dichter dieses Genre

pflegten. Sogar Operetten ─ wie z. B. Lindpaintners „Gewalt des Liedes“

─ entwickelten sich aus dem Singspiel als eine durch die Kunst veredelte, höhere

Gattung desselben ─ geeignet die Freude an wirklich deutschen, einfachen,

gemütsinnigen Liedern im Volksgeschmack aufrecht zu erhalten.



Besondere Pflege erfuhr später das deutsche Liederspiel durch Karl von

Holtei,
dessen Stücke: Der alte Feldherr, Die Wiener in Berlin, Die Berliner

in Wien, Dreiunddreißig Minuten in Grünberg, „Das Liederspiel“, Lenore

(letzteres mit dem bekannt gewordenen „Schier dreißig Jahre bist du alt“)

unzählige Male gegeben wurden.



Als weitere beliebte Liederspiele erwähnen wir unter Hinweis auf die

oben genannten Sammlungen nur noch: Ad. Hamms Jm Hochgebirge, sowie

Mendelssohn-Bartholdys Heimkehr aus der Fremde, welch' letzteres Feldmanns

Liederposse Heimkehr von der Hochzeit veranlaßte.



Als beliebte deutsche Liederpossen (Vaudevillepossen) nennen wir noch die

preisgekrönte Carnevalposse Ein Narrentraum von Rich. Genée; Weibliche Seeleute

von A. Weihrauch, und J. Jakobsons Burleske (Vaudeville-Burleske) Backfische &c.



§ 182. Das Schauspiel mit Musik.



Neben den im § 180 S. 504 erwähnten Schauspielen, welchen

episodische melodramatische Scenen eingefügt sind, giebt es auch solche

mit Ouvertüren, welche in die Grundstimmung der Dichtung a priori

versetzen sollen, ferner mit Liedern, Chören, Marschformen, Tänzen &c.



Die bedeutendsten Dichter waren es, welche die Schwesterkunst der Musik

in ihren hervorragendsten Schauspielen zur Erhöhung der eigenartigen Wirkung

heranzuziehen verstanden, und welche auf diese Weise die Veranlassung zum

Schauspiel mit Musik geworden sind. Wir beschränken uns auf wenige

Beispiele und Angaben.



Shakespeares Sommernachtstraum hat durch Mendelssohn außer den von

uns bereits im § 180 erwähnten melodramatischen Scenen noch weitere musikalische

Zuthaten (Ouvertüre, Duette, die Stimmung vermittelnde Entr'actes,

Scherzo, Notturno, Hochzeitsmarsch, Chöre mit Soli, den überaus charakteristischen

Trauermarsch, Tanz der Rüpel &c.) erhalten, wodurch er unserem Jnteresse

wieder gewonnen wurde. Jn gleicher Weise sind noch andere Schauspiele dieses

dramatischen Heros durch Hinzutritt der Musik wieder zu eigentlichem Leben

erwacht. Jch erinnere nur an den Sturm und an das Wintermärchen mit

der Musik von Max Seifriz &c.



Gewaltige Steigerung der Wirkung verleiht die Musik Goethes Faust,

welcher durch Fürst Radziwil, Lindpaintner, Pierson, wie in neuester Zeit durch

Lassen (Bearbeitung von Devrient) eine künstlerisch vollendete musikalische Beigabe |#f0530 : 508|



erhielt. Ein Gleiches ist der Fall bei Egmont, wobei wir nur die Lieder

„Die Trommel gerühret“ &c., und „Freudvoll und leidvoll“ erwähnen, und

dessen charakteristische Traumscene man sich ohne Musik gar nicht denken mag.



Für Schiller erinnern wir an die große Wirkung und Beihülfe der Musik

in seinem Tell (durch Reinecke), besonders aber in seiner Jungfrau durch die

mustergültige Bearbeitung des Hof-Kapellmeisters Max Seifriz in Stuttgart &c.



Unsere Dichter sollten mehr als seither bei lyrischen Partien ihrer Werke

tüchtige Musiker zu Rate ziehen.



§ 183. Die Oper im allgemeinen. Begriffliches.



1. Man versteht unter Oper ein mit Gesang und Jnstrumentalmusik

verbundenes Drama, also die innigste Vereinigung (Vermählung)

der dramatischen Poesie mit der Musik.



2. Die Oper ist die höchste Gattung der musikalisch=dramatischen

Kunst. Da sie ein gesungenes Drama ist, so muß sie mit dem Drama

selbstredend das Ziel, den scenischen Aufbau, wie die Einteilung in

Akte gemein haben.



3. Die musikalisch gesanglichen Teile der Oper haben besondere,

weiter unten mitzuteilende Benennungen.



4. Je nach Stoff, Charakter und Ausdehnung unterscheidet man

verschiedene Arten von Opern: ernste (große) und komische Oper,

Operette und Jntermezzo.



1. Die Oper heißt französ., italien. und englisch opera. Die ursprüngliche

deutsche Übersetzung Singspiel ist für unsere Zeit nicht mehr zutreffend,

weil man sich gewöhnt hat, unter Singspiel das deutsche Vaudeville oder auch

hie und da die Operette zu begreifen. Zudem ist das allgemein bezeichnende

Wort Oper in das Volksbewußtsein übergegangen und daher eine Übersetzung

mindestens überflüssig.



2. Die Oper geht einigermaßen über das Drama hinüber, indem sie zur

Erhöhung oder Verstärkung ihrer Wirkung sich der Tanzkunst (Ballet), und der

Malerei (Ausstattung, Dekoration) in erhöhtem Maß bedient und auch die Pantomime

als Verstärkungsmittel des Effekts nicht verschmäht. Der größte Reiz

der Oper, welche das Phantasievolle und Wunderbare zuläßt, liegt in der vielseitigen

Belebung der Sinne durch die verschiedenen Künste. Dadurch wird sie

ein erhebendes, veredelndes, sinnbelebendes Spiel, das durch seine gediegene

Musik an sich schon hervorragende Stellung und Bedeutung verlangen kann.



3. Die Teile der Oper sind: a. das Arioso, unter welchem man kleine

lyrische Stellen, oft nur ein paar lyrische Takte versteht und das sehr gern

behufs Abwechslung das Recitativ unterbricht, b. die Arie, welche bei besonderer

lyrischer Färbung Kavatine genannt wird, c. das Recitativ, eine Deklamation

mit gesprochenen Tönen, welche die Stelle des gesprochenen Dialogs vertritt.

(Man teilt das Recitativ in das Recitativ secco, welches nahe mit dem |#f0531 : 509|



Sprechton zusammenfällt [z. B. im Don Juan, der früher mit Dialog gegeben

wurde], sowie in das ausgeführte Recitativ, bei welchem der musikalische Teil

mehr Bedeutung und Einfluß erhält.) d. Duett, e. Terzett, f. Quartett, u. s. w.,

ferner g. Chor, und h. Ensemble (letzteres ist die gesangliche Vereinigung der

Solisten häufig sogar mit dem Chor; es zeigt sich besonders bei Aktschlüssen

wirksam). Als Einleitung kommt musikalischerseits bei der Oper noch hinzu:

i. Die Ouvertüre, und als Aktschluß k. das Finale.



Als Anhaltepunkte für den Librettodichter erwähnen wir noch, daß die

gesanglichen Partien der Oper je nach dem Umfange, der Lage und dem Klangcharakter

der Stimme sich teilen in: hoher Sopran, Mezzo-Sopran, Alt und Kontra=

Alt, Tenor, Bariton, Baß. Dem dramatischen Charakter entsprechend sondert

man: dramatischen und lyrischen Sopran und Alt, ferner die Soubrette und die

komische Opern-Alte, den Heldentenor und den lyrischen Tenor, sowie den Tenor=

Buffo, den Helden- und den lyrischen Bariton, den seriösen Baß und den Baß-Buffo.



4. Man unterscheidet je nach dem tragischen oder komischen Stoff und

Charakter der Oper, wie im Hinblick auf ihre Ausdehnung: a. ernsthafte oder

tragische (große) Opern,
b. komische Opern, c. Operetten, wozu

man viele komische Opern rechnen kann,
d. das Jntermezzo.



§ 184. Die ernste (große) Oper in Deutschland.



Die ernste Oper (ital. opera seria, französ. opéra sérieux) entspricht

dem ernsten Drama und enthält ─ (einige wenige Opern wie

z. B. Fidelio ausgenommen) ─ gar keine Sprachscenen. Sie hat meist

tragische Lösung des Konflikts.



Jn Frankreich nennt man große Oper (grand opéra) diejenige Oper

ohne Dialog, welche meist geschichtlichen Hintergrund hat und in Bezug auf

Darstellung großen Aufwand von Scenerie, Aufzüge, Ballet &c. verlangt.



Zur heroischen Oper wird sie, wenn sich ihr Held durch Bedeutung des

Charakters und der Handlung hervorthut.



Jst in der großen Oper durch äußere Pracht, Ballet, Dekoration,

Scenenwechsel für bestechende Abwechselung gesorgt, und spielt die Fabel des

Libretto (Textes) im ritterlichen Mittelalter oder mittelalterlichen Rittertum,

oder auch in der übersinnlichen Götter=, Zauber- und Märchenwelt, so entsteht

die romantische Oper (welche Karl Maria v. Weber, der Komponist des

Freischütz, schuf, und für welche ein bekanntes Beispiel Marschner in Hans

Heiling lieferte, dessen Libretto Ed. Devrient nach böhmischen Volkssagen bearbeitete),

oder auch die Zauberoper (Beispiele: Undine von Lortzing und in

neuester Zeit Bergkönig von einem schwedischen Komponisten) &c.



Je nach dem Vorwiegen des Lyrischen oder Tragischen wird die ernste

Oper als lyrische oder als tragische Oper bezeichnet.



Als Beispiele ernster Opern erwähnen wir: Fidelio von Beethoven;

Wilhelm Tell von Rossini; Die beiden Jphigenien (in Aulis und in Tauris) |#f0532 : 510|



von Gluck; Norma von Bellini; Hugenotten von Meyerbeer; Arion von

Claudius (Text von Stöckhardt); Die Stumme von Portici, sowie der

Maskenball von Auber; Hermione von Max Bruch (Text von H. Hopfen);

Die Nibelungen von Dorn (Text von E. Gerber); Die Folkunger von

Edm. Kretzschmer; Golo von Bernh. Scholz &c. Selbst Mozarts Don Juan

muß man hierher rechnen, obgleich dieses Werk ursprünglich die Bezeichnung

komische Oper trug: Stil, Jnhalt und äußere Form, wie das tragische Ende

des Helden stempeln dasselbe zur großen Oper. ─ Es giebt übrigens mehrere

Opern mit versöhnendem Ausgang, welche weder zur großen Oper noch auch

zur komischen zu rechnen sind, vielmehr eine Zwischengattung bilden, welche

unserem deutschen Schauspiel entspricht. Als solche nennen wir: Josef und

seine Brüder von Méhul, Mozarts Zauberflöte u. a. (Von Rich. Wagner könnte

als große Oper Rienzi genannt werden, welche noch so ziemlich im Rahmen

der alten großen Oper à la Spontini gehalten ist. Über die Opern seiner

späteren Schaffungsperiode handeln wir später.)



§ 185. Die komische Oper in Deutschland.



Die komische Oper (italien. opera buffa, opera demi seria, französ.

opéra comique) entspricht ihrem Jnhalt und Ausdrucke nach mehr

dem Lustspiel. Sie enthält größtenteils gesprochenen Dialog. (Vgl.

Figaros Hochzeit in der ital. Bearbeitung.)



Wie das Lustspiel giebt sie den Schwächen und Thorheiten der Menschen

und ihrer Zeit Ausdruck, weshalb sie durch Charakteristik, durch Handlung,

Scene und Musik die Kontraste darzustellen sucht. Hierbei berücksichtigt sie die

Bildung, den Stand, den Ort, ohne gerade der Lokalkomik ein Vorrecht einzuräumen.



Die komische Oper hat ihren Ursprung in Jtalien, wo die bereits um

1597 gedruckte Oper Amfiparnasso das erste unvollkommene Muster dieser

Gattung war. Als Vorbild der komischen Oper ist sodann Pergoleses Serva

padrona
zu nennen, der die komische Oper auch in Frankreich (vgl. S. 511

d. Bds.) begründete. Nach Pergolese wurde in derselben wenig mehr gesprochen;

man benützte zur Verbindung der einzelnen Teile das Recitativ, dessen Gesang

so eigenartig fesselnd war, daß man in Jtalien behauptete, ein Buffo dürfe

gar keinen schönen Gesang haben &c.



Anfänge der komischen Oper finden sich in Deutschland schon im 17.

Jahrhundert. Als solche können beispielsweise die komischen Gesangspiele von

Gryphius (Das verliebte Gespenst; neu herausgeg. 1855), insbesondere aber

die vaudeville- oder operettenartigen sog. „Komischen Opern von Chr. Felix

Weiße“ (Leipz. 3 Bde. mit Kupfern 1777) betrachtet werden. Aus letzteren

erwähne ich: Lottchen am Hofe, Die Liebe auf dem Lande, Die Jagd, Erntekranz

&c., welche von J. Ad. Hiller in Leipzig komponiert und in ganz Deutschland

mit größtem Erfolg aufgeführt wurden. Auch unter den auf dem Hamburger

Theater gespielten Opern, die uns Mattheson in seinem musikalischen |#f0533 : 511|



Patrioten (S. 177─195) aufbewahrte, befinden sich mehrere komische. Doch

hat wohl erst Dittersdorf in Wien 1786 die komische Oper (durch die Opern

Doktor und Apotheker, Hieronymus Knicker, Das rote Käppchen) geschaffen,

worauf Wenzel Müller (Das neue Sonntagskind) und Kauer (Das Donauweibchen)

&c. in seine Fußtapfen traten. ─



Jn der komischen Oper sind die französischen Komponisten vom Anfang

des 19. Jahrhunderts mustergültig, z. B. Adam, Méhul, Boieldieu (Die

weiße Frau), besonders aber Auber mit seinen Opern Fra Diavolo, Maurer

und Schlosser, Der schwarze Domino, Des Teufels Anteil u. s. w.



Als weitere Beispiele der komischen Oper sind zu nennen:



a. Die lustigen Weiber von Windsor, von dem 1849 verstorbenen

Otto Nikolai. Text nach Shakespeare von Mosenthal.



b. Czar und Zimmermann und der Waffenschmied von Lortzing.



c. Maria, oder die Tochter des Regiments von Donizetti.



d. Der Postillon von Lonjumeau, von Adam.



e. Joggeli, von Wilhelm Taubert.



f. Figaros Hochzeit, von Mozart.



g. Der Widerspenstigen Zähmung, von Herm. Götz.



h. Der Rattenfänger von Hameln, von Kretzschmer. Text von

Fr. Hofmann.



i. Dinorah, von Meyerbeer. k. Martha, von Flotow. l. Wanda,

von Franz Doppler. m. Marquis und Dieb, von W. Taubert. n. Der

Barbier von Sevilla,
von Rossini.



§ 186. Die Operette.



Der komischen Oper verwandt ist jene, nach Umfang kleine, nach

Jnhalt einfache Opernform, die man kleine Oper oder Operette nennt.

Es giebt ernste und komische Operetten.



Die Operette hat geringere Personenzahl und durchsichtigere Handlung,

als die eigentliche Oper. Jhre Stoffe sind fast ausschließlich dem bürgerlichen

Leben entlehnt; sie hat keine hohen idealen Charaktere, sondern leicht faßliche

Figuren. Jhr kommt es mehr darauf an, leicht den Sinn zu erregen, als

zu fesseln. Jhre Ensembles sind wenig umfangreich, und die Finale ihrer Akte

zeichnen sich nicht durch jene sorgfältige Bearbeitung aus, die wir bei der

Oper finden. Gewöhnlich entbehrt die Operette der Recitative, da sich der

Gang der Handlung durch den gesprochenen Dialog weiterspinnt. Dieser Dialog

tritt in den Vordergrund, und befriedigt schon an und für sich, so daß ihm

nicht selten Arien und Chöre eingewebt sind.



Was die geschichtliche Seite der Operette betrifft, so ist besonders auf

Marmontel in Paris hinzuweisen, welcher von Pergoleses La serva padrona

angeregt, kleine Operntexte schrieb, in denen er schlicht gemütliche, freundliche,

oft ländlich einfache Figuren in französisch tugendhafter Weise schilderte und

vielen Anklang fand. Jn seine Bahnen traten die meisten Operettendichter |#f0534 : 512|



bis zum Schöpfer und Begründer eines neuen travestierend=humoristischen Operetten=Genres:

Jaques Offenbach (geb. 1822 in Köln).



Jn Deutschland hatte die Operette schon frühzeitig Fuß gefaßt, und zwar

an den Theatern von Hamburg (unter Reinhard Keiser), Leipzig (unter Hiller,

Neumann &c.), Wien (unter Dittersdorff, Schuster &c.). Es war nur noch ein

kleiner Schritt bis zur komischen Oper gewesen, allein dieser geschah ─ Nicolai's

lustige Weiber und Lortzings Werke ausgenommen ─ nur teilweise. Dafür

trat man in den letzten Dezennien mehr oder weniger in die Bahnen Offenbachs,

so daß die heutige Operette auch in Deutschland ziemlich gleichbedeutend

mit Offenbachiade geworden ist.



Namentlich Johann Strauß jun. hat die Offenbachiade nachgeahmt und

gepflegt; er hat dazu beigetragen, der Operette der Gegenwart ihre eigenartige

Signatur zu geben, indem er zwar (wie Offenbach) die herkömmliche Operettenform

beibehielt, jedoch den leichten, schlüpfrigen, frivolen Jnhalt begünstigte.

(Vgl. z. B. Der Carneval in Rom, Pariser Leben &c.)



Wie der französische Nationaltanz, die Quadrille, auf welcher die französische

Operette sich in naturgemäßer Weise aufbaute, bei Offenbach allmählich

zum raffinierten Cancan sich verwandelte, so liegt den Strauß'schen Operetten

der alte Wiener Walzer zu Grunde, der uns aber hier nicht mehr in der alten

gemütlichen Weise des Wiener Prater-Publikums entgegentritt, sondern der schon

mit Pfeffer von Cayenne gewürzt ist.



Unschuldigerer Natur sind die früheren Operetten Suppés; mit seinem

Boccaccio ist er aber auch in's Lager der Offenbachiade übergegangen.



Einen Weltruf, welcher demjenigen Offenbachs gleich kommt, hat sich auch Charles

Lecocq aus der Schule Halevys (geb. 1832 in Paris) durch seine Operetten erworben.



Wir müssen in unserer Poetik entschieden gegen die modernen, dem niedrigen

Zweck des Gelderwerbs dienenden, auf die Schaulust des niederen Publikums

berechneten Operetten-Libretti Verwahrung einlegen, sofern diese Machwerke

mit ihrem meist bedenklichen Jnhalt die oberflächlichste Zerstreuung und die

allerplumpste Regung der Sinnlichkeit erzielen und mit der giftigen Lauge ihres

Sarkasmus alle socialen Jnstitutionen und Anschauungen höhnend übergießen.



Allbekannte, unzähligemal aufgeführte Beispiele der Operette:

Die schöne Helena, Blaubart, Pariser Leben &c. von Offenbach. Die schöne

Galathee, und Fatinitza von Suppé. Die Fledermaus, Jndigo, Blindekuh,

Prinz Methusalem &c. von J. Strauß u. a.



§ 187. Das Jntermezzo (Zwischenspiel).



Jntermezzo nennt man ein kleines komisches Singspiel (in einzelnen

Fällen auch eine kleine Posse) für zwei oder höchstens drei Personen,

welches zwischen zwei Theaterstücke zur Abwechselung oder zur Gewinnung

einer größeren Pause behufs Erholung der Sänger oder Schauspieler

eingeschaltet wird, ohne mit dem vorhergehenden oder nachfolgenden

Stücke in irgend einer Verbindung zu stehen.

|#f0535 : 513|



Ein wesentliches Erfordernis desselben ist das Recitativ, ohne

welches es zu einer einfachen Opernscene herabsinkt.



Schon die alten Griechen füllten die Lücken zwischen den Akten ihrer

Tragödien durch Wechselgesänge und Chöre aus, welche freilich mit ihrer Handlung

in engster Beziehung standen. Jhnen folgten zuerst die Jtaliener, welche

die spezifisch italienische Gattung des Jntermezzo schufen. Als erster italienischer

Jntermezzo-Dichter wird Valentini (um 1650) genannt, obwohl Giovanni

Bardis Combattimento d'Apolline col serpente (aufgeführt um 1590)

wahrscheinlich das älteste Jntermezzo ist. Erst als Metastasios Verdienste die

opera seria zur Vollendung hoben, schuf man wieder Jntermezzos, die von

ihren Komponisten genau wie die opera buffa behandelt wurden.



Jn Frankreich ahmte zuerst Racine (in seiner Athalie), und in Deutschland

Cronegk (in der Tragödie Olint und Sophronia) die Sitte der Alten

nach. Jn Deutschland wurden sodann mehrere Jntermezzos geschaffen, aber

sie trugen sämtlich italienisches Gepräge. Eines der bekanntesten und beliebtesten

wurde Pygmalion von dem Sänger Wilhelm Häser, das wir als

Beispiel des Jntermezzo betonen wollen.



(Jn der Neuzeit ist man von der Anwendung des Jntermezzo mehr oder

weniger zurück gekommen. Man läßt die Zeit zwischen den einzelnen Akten

oder Stücken in den Theaterkonditoreien oder in den Foyers zubringen; oder

man füllt sie durch die sog. Entr'akts=Musik aus [Jnstrumentalstücke in Form

kleiner Sinfonien oder Ouvertüren]; oder endlich man schiebt kleine Possen ein,

die ebenfalls Jntermezzo heißen, z. B. Der Salon-Mauschel von Ullmayer;

Das Wundertheater, Zwischenspiel von Cervantes, übersetzt von Herm. Kurtz;

Hinüber=herüber &c. von Nestroy &c.)



§ 188. Entstehung und geschichtliche Entwickelung der

Oper in Jtalien, Frankreich und Deutschland.



Da die Oper die höchste musikalisch=dramatische Kunstform ist

und ihre Eigenart, wie überhaupt ihr Wesen und Gepräge zum Teil

nur durch den Hinblick auf ihre geschichtliche Entwickelung verständlich

wird, wie denn auch erst die Kenntnis dieser Eigenart zum Mitsprechen

und zur Beurteilung der jeweiligen Librettodichtung befähigt, so bieten

wir in scharfen Umrissen das Wissenswerteste über die Oper in Jtalien,

Frankreich und Deutschland, indem wir Folgendes ausführen:



1. Die Oper erblühte der Renaissance. Jhre Heimat ist Jtalien.



2. Frankreich adoptierte die italienische Oper und bildete sie fort.



3. Jn Deutschland ging die Oper aus der Nachahmung der

Jtaliener hervor. Die Geburtsstätte einer deutschen Oper mit deutschem

Text und deutscher Musik ist Nürnberg. Jhre Blütestation wurde

sodann Hamburg unter Reinhard Keiser um 1700; später Wien, wo

sie als komisches Singspiel ein vollendet nationales Gepräge erhielt.

|#f0536 : 514|



4. Gluck begründete nach 1750 eine eigentlich dramatische Oper,

die mit der bis dahin vorwiegend lyrischen Richtung brechend, den

Schwerpunkt in die Dichtkunst (d. i. in die Macht und Wahrheit des

Ausdrucks) verlegte. Zur Blüte wurde die Oper durch Mozart gebracht,

der italienische Melodik mit deutscher Charakteristik und Tiefe zu verbinden

wußte. Karl Maria v. Weber ist der Schöpfer der romantischen

Oper. Der Vollender der deutschen Oper durch Begründung

eines deutsch=nationalen Musikdramas ist Richard Wagner.



1. Entstehung der Oper in Jtalien. Die Oper verdankt ihr Dasein

keiner organischen, völkerpsychologischen Notwendigkeit, wie das Drama,

sondern der geistreichen Spekulation hervorragender Gelehrter und Künstler der

Renaissance. Als die Menschheit durch Zurückführung auf die klassischen Werke der

Alten wieder neuen Lebensstoff erhielt und sich eine Befreiung des künstlerischen

Anschauens von dem Banne des kirchlichen Dogmas und der Scholastik durch

eine geschmackvolle Verweltlichung der Kunstidee nach dem Muster der Antike

vollzog, waren es vor allem die klassischen Tragödien der Griechen, welche zur

Nachbildung entflammten und Einfluß auf die großartigen Aufzüge an den Höfen

der Sforza und Medici in Jtalien übten und zweifelsohne das erste Experiment

dramatischer Komposition (d. i. eines gesanglichen Dramas, einer ersten Oper)

durch den gelehrten Forscher und Verehrer der Alten, Giovanni Bardi, Grafen

von Vernio veranlaßten (vielleicht auch durch Alfonso della Viola aus Ferrara,

sofern derselbe schon 1541 das musikalische Drama Orbecche zur Aufführung

brachte und dadurch zuerst Deklamation mit Gesang verband). Geistreiche Gelehrte

und Künstler waren es also, welche die zukünftige Oper, die sog. nuova musica

in ihren Anfängen schufen und schon Mitte des 16. Jahrhunderts die Gründung

besonderer Theater für diese Art Musik veranlaßten. (Sie kamen bei Bardi di

Vernio zusammen; Vincenzo Galilei, der Vater des berühmten Astronomen,

war es, der mit Beihülfe Bardis in der Schrift Dialogo della musica antica

e moderna
1581 ein energisches Wort für Erneuerung der antiken

Musik einlegte und von den Komponisten forderte, daß sie auf die Betonung

der Worte achten
und lernen möchten, wie der Liebende zur Geliebten, um ihr

Herz zu rühren, wie der Klagende, Furchtsame, Lustige spricht; er begründete

den Einzelgesang oder die nuova musica, die der Sänger Caccini ausführte.)



Als ein erstes Opernsujet wird das von Opitz ins Deutsche übersetzte (I 52),

bekannte Hirtengedicht Dafne vom Dichter Ottavio Rinuccini genannt, das, vom

Sänger Jacopo Peri komponiert, 1597 zu Florenz mit größtem Beifall privatim

zur Aufführung gelangte.



Die erste, öffentlich gegebene, eigentlich große Oper, welche bahnbrechend

auf das übrige Europa gewirkt hatte, war Euridice von demselben Komponisten.

Sie wurde bei der Vermählung Heinrichs IV. von Frankreich mit

Maria von Medici im Jahre 1600 im Theater zu Florenz zum erstenmal

aufgeführt und enthielt bereits alle Teile der heutigen Oper: a. das Recitativ,

dessen Stil durch Giulio Caccini und Jacopo Peri vorbereitet war; b. den

Einzelgesang (Arie), den Galilei veranlaßt hatte, den Carissimi mit |#f0537 : 515|



Coloraturen versah, und dessen Ursprung sich aus dem mehrstimmig gesungenen

Madrigal herleitete; ferner Duett, Terzett, Ensemble, Chöre, die man nur den

ersten Kirchenkonzerten (1596─90) des Ludovico Viadana zu entlehnen

brauchte, so daß man in kürzester Zeit den ganzen Apparat der Oper beisammen

hatte; es fehlte nur noch die Ouvertüre, die ursprünglich durch eine Fanfare als

Zeichen des Anfangs ersetzt wurde und deren Anwendung sodann dem großen

Alessandro Scarlatti († 1725) vorbehalten blieb. (Auch Monteverde, der dem

dramatischen Gesang zuerst den Ausdruck wahrer Leidenschaftlichkeit verlieh, wird

als Erfinder der Ouvertüre genannt; er legte ihr freilich den Namen Toccata

bei. Mit ihm und seinem großen Schüler Cavelli [1600─1676] ist die

Erfindung der Oper begründet.) Nach Peri folgte man in Jtalien der Tradition,

nur mythologische Stoffe für die Oper zu verwenden, da dieselben die Entfaltung

großer Pracht ermöglichten. Man nannte die Oper damals noch Melodramma,

Tragedia, Tragicommedia, Dramma per musica
&c. Jn der

ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hieß sie Opera in musica. Nur Fürsten

vermochten sie aufzuführen, weshalb sie mit der Zeit der besondere Schauplatz

der größten Öffentlichkeit in der Kunst wurde, die eigentliche Haupt- und Staatsaktion.





Als erste komische Oper nennt man die schon 1597 am Hofe zu Modena

aufgeführte, durchaus in Musik gesetzte Komödie in Versen: Amfiparnasso von

Orazio Vecchi († 1605), von welcher ein Exemplar in der k. k. Bibliothek zu

Wien aufbewahrt wird.



Von da bis zur Gegenwart teilt sich die italienische Oper in eine opera

seria
und opera buffa.



Der Entwickelungsgang der italienischen Oper gipfelte infolge der klingenden

italienischen Sprache hauptsächlich in der Pflege der Arie; die Melodie und die

kunstgemäße Verzierung derselben wurde zur Hauptsache und der Komponist wurde

eigentlich mehr oder weniger Handlanger des allmächtigen, den Ruhm erntenden

Sängers. Um den Sänger noch mehr zu heben, verwies man den Tanz in die

Entr'actes und ließ den Chor bis zur Unbedeutendheit herabsinken; selbst Duette,

Terzette, Ensembles &c. dienten nicht mehr der dramatischen Jdee, sondern dem

Virtuosentum des Sängers. So sank die opera seria immer mehr zum hohlen,

charakterlosen Klingklang herab bis zu ihren letzten Ausläufern Bellini († 1835,

dem genialen Komponisten von Norma, Die Nachtwandlerin &c.), und Donizetti

(† 1848, dem Komponisten von Lucrezia Borgia, Lucia von Lammermoor,

Belisar &c.) &c.



Da erstand der italienischen Oper ein Regenerator in Giuseppe Verdi

(geb. 1813), dem bedeutendsten italienischen Opernkomponisten der Gegenwart.

Schon in seinen ersten Opern ging derselbe über die sentimentale, weichliche

Kompositionsweise eines Donizetti und Bellini, wie auch über die tändelnde,

sinnenkitzelnde des Rossini der ersten Periode hinaus, indem er der dramatischen

Stimmung im Gesang wie im Orchester besondere Rechnung trug und sich von

der ärmlichen Harmonisierung uud Jnstrumentierung seiner Vorgänger befreite.

Wahrhaft bahnbrechend für Jtalien wurde er aber besonders in seiner Aida, |#f0538 : 516|



indem er die Lösung der dramatischen Aufgabe als Hauptsache in der Oper

proklamierte, ferner die herkömmlichen, abgedroschenen Koloratur-Arien mit ihren

meist banalen Texten fallen ließ, endlich dem Chor eine hervorragende Rolle

einräumte und zu allem ein farbenreiches Orchester bot. Man kann daher mit

allem Recht behaupten, daß Verdi der Hauptsache nach in Jtalien Wagner'sche

Prinzipien insoweit vertritt, als ihm die Durchführung derselben im Lande der

melodischen Kadenzen und der süßlichen Koloraturen möglich erschien.



Freier und origineller hat sich die opera buffa oder die komische Oper

der Jtaliener entwickelt. Von dem bekannten komischen Jntermezzo La serva

padrona
des Pergolese (1731 geschrieben) bis zu Rossini's (des Komponisten

von Wilh. Tell, Tankred und Die diebische Elster) unvergänglichem Barbier,

und Donizettis Don Pasquale und seiner dem Stil nach französischen Regimentstochter

sind eine große Anzahl komischer Opern entstanden, welche der

Leistungsfähigkeit der Jtaliener ein schönes Zeugnis ausstellen &c.



2. Die Oper in Frankreich. Der Begründer der französischen Oper

ist der schon im 12. Lebensjahr nach Paris übergesiedelte Florentiner J.

Baptist Lully (1633), dem auch unser Gluck es verdankte, daß seine

Jdeen eine bereite Stätte fanden. Lullys Opern, unter denen Armida die

letzte war, hatten schon Arien, Chöre, Ballete und Anfänge von Ensemblesätzen.

Jm Jahre 1739 war es Rameau, der durch seine Oper Hyppolite

et Aricie
und später durch die auch in Dresden gegebene Oper Zoroaster den

italienischen Stil Lullys mit dem nationalen verschmolz, wie er denn auch schon

die Keime der späteren nationalen komischen Oper lieferte. Der spätere Unterschied

in eine große und in eine komische Oper ist aber doch mehr ein äußerlicher, sofern

in der großen Oper alles gesungen wurde, während die Dialoge der komischen

Oper gesprochen werden. Für die Folge wurde das Kriterium der französischen

Nationaloper: eine sorgfältige Ausbildung der Sprach-Accente im Recitativ, eine

feine Jntrigue, der französische Nationaltanz, knappe Form der Vokal- und Jnstrumentalsätze,

leichte flüssige Rhythmen, Witz, Laune und freundliche Melodie.

Wir erwähnen von den bahnbrechenden Franzosen nur diejenigen, welche auch auf

unseren Musikgeschmack einigen Einfluß übten: Méhul († 1818, z. B. Jakob

und seine Söhne); Boieldieu († 1834, z. B. Kalif von Bagdad, Johann

von Paris, Die weiße Dame &c.); Adam († 1856, z. B. der Postillon von

Lonjumeau &c.); Auber (Fra Diavolo &c.); Halévy (Die Jüdin); Herold (Zampa,

Der Zweikampf, Marie &c.) &c. Außerdem ist zu nennen Hector Berlioz, der

Meister der instrumentalen Technik, welchen man den französischen Wagner nennen

könnte, und der durch seine Opern Benvenuto Cellini, die Trojaner, &c. wie ein Phänomen

sich hervorthat, in denen freilich die Bedeutung in der Jnstrumentalmusik liegt,

die das Gesangliche übertönt, so daß er nicht den gewünschten Erfolg finden konnte.



Wir haben hier noch die Jtaliener Cherubini und Spontini zu erwähnen,

die beide ihre Kompositionen in Paris schufen, und von denen der erstere als

Epigone Mozarts betrachtet werden muß, während der zweite in seinen französisch=espritreichen

Werken (z. B. Vestalin, Ferd. Cortez, Olimpia &c.) gewissermaßen

als die Verkörperung der französischen Gloire, als die Verherrlichung der |#f0539 : 517|



Kaiserzeit &c. erscheint. Man kann ihn den Begründer der großen modernen

Oper bis zu Meyerbeer nennen.



3. Erste und älteste deutsche Oper. (Nach dem Originaltext nachgewiesen.)

Jn Deutschland hat man zuerst lyrische Stellen aus geistlichen Spielen

mit einfacher Jnstrumentalbegleitung recitiert, so daß eine Art Recitativ den

Keim für unsere Oper bildet. Bald ließ man sodann in den geistlichen Spielen

des deutschen Mittelalters Einzelgesänge eintreten und diese später mit Chören

abwechseln. Jn dieser Weise sollen einige Dramen Ayrers aufgeführt worden

sein. (Sie waren strophisch ─ nach Art der Volkslieder ─ abgefaßt, so daß

sich dieselbe Melodie von Strophe zu Strophe wiederholte.)



Ein epochebildender Fortschritt erfolgte seit Übersetzung der Oper (Schäferei)

Dafne durch Opitz (S. 514 d. Bds.), zu welcher Heinr. Schütz (1585

bis 1672) eine verloren gegangene Musik lieferte. Diese Oper wurde am

Hofe Joh. Georgs I. von Sachsen bei Vermählung seiner Tochter Sophie mit

großem Beifall aufgeführt. Jm selbstbewußten Streben, dieser allgerühmten

fremden Oper eine deutsche Leistung gegenüberzustellen, schrieb nun der Nürnberger

Dichter G. Ph. Harsdörffer (1607─58) das Libretto zur

ersten deutschen Originaloper,
nämlich das von dem Nürnberger Organisten

Siegmund Gottlieb Staden (1617─55) komponierte geistliche Waldgedicht

oder Freudenspiel: „Seelewig“ (== ewige Seele). Dasselbe ist uns im 4. Bde.

der Harsdörfferschen „Frauenzimmergesprächspiele“ (Nürnberg, Wolfg. Endtern,

1644) zugleich mit den Stadenschen Musiknoten erhalten. Eine dieser Oper

vorausgehende Scene (Vorspiel) hat folgende Personen: Angelika von Keuschewitz,

eine adelige Jungfrau; Reymund Discretin, ein gereist und belesener

Student (hinter dem sich Harsdörffer mit seinen Ansichten versteckt); Julia

von Freudenstein, eine kluge Matron; Vespasian von Lustgau, ein alter

Hofmann; Cassandra Schönlebin, eine adelige Jungfrau; Degenwert

von Ruhmeck, ein verständiger und gelehrter Soldat. ─ Diese Personen verbreiten

sich über Poeterei und Spiel und sind der Ansicht, daß die aus dem

Welschen übersetzten Schäferspiele bei uns ihre Anmut verlieren; darauf liefert

Reymund sofort seine deutsche Schäferei („Seelewig“), um nachzuweisen, daß

auch unserer deutschen Sprache solche (wegen ihrer Handlung Waldgedichte zu

nennende) Schäfereien nicht unmöglich seien. Hiermit endigt das Vorspiel und

die Oper „Seelewig“ beginnt. Jhre handelnden Personen sind: Der Verstand

Hertzigild, die Sinnlichkeit Sinnigunda, das Gewissen Gwissulda, die

den Kunstkützel darstellenden, vom Satyr Trugewalt angestellten Hirten Künsteling,

Reichimuht
und Ehrelob, endlich Trugewalt. Der Kern der Handlung,

die viel zu sehen bietet, ist folgender: Seelewig, die menschliche Seele,

soll auf Antrieb des höllischen Geistes Trugewalt von den Hirten verführt

werden; im entscheidenden Augenblick, als sie mit verbundenen Augen am

Spiel „blinde Liebe“ sich beteiligt, und Trugewalt herzutritt, um sich anstatt

des Hirten haschen zu lassen, wird sie durch das Dazwischentreten ihrer

Gespielin Hertzigild und ihrer Hofmeisterin Gwissulda gerettet.



Harsdörffer, dessen weibliche Figuren seiner Vorschrift gemäß (IV 164) |#f0540 : 518|



in Samt und Seide einherschreiten, brachte den Wechsel seiner belebten Scenen

dadurch zu Stande, daß er im Hintergrunde eine in 4 Abteilungen geteilte,

drehbare Scheibe anbringen ließ (IV 165), so daß immer diejenige Abteilung

in den Vordergrund gedreht werden konnte, welche für die Handlung nötig

war. Sein Komponist Staden verpflanzte bereits den ganzen Apparat der

damaligen italienischen Oper auf deutschen Boden; er bot vor jedem der 3 in

je 6 Scenen geteilten Akte eine mit Generalbaß geschriebene, kurze Ouvertüre

(vom Dichter „An- oder Gleichstimmung, Symphonie“ genannt, für Geige, für

Flöte und zuletzt für Pomparton oder Fagot), ferner strophische (liedartige)

Einzelgesänge, Duette, Terzette, Quartette &c. und am Schluß eines

jeden Akts einen Chor. Durch den verdienstlichen Versuch, die einzelnen Personen

nach ihrer Verschiedenheit musikalisch zu charakterisieren, geht Staden

bereits über die Jtaliener hinaus, welche sogar an Frauen Männerrollen übertrugen.

Jn der 1. Handlung (Aufzug 4) läßt er die sentimental angelegte

Seelewig in Moll singen, dagegen die sinnliche Sinnigunda in Dur antworten;

bei der Charakteristik der Gwissulda und der Hertzigild bedient er sich des

Soprans und des Alts, ferner gestaltet er die Partie der Hertzigild melodienreich,

während die der matronenhaft belehrenden Gwissulda mehr recitativisch=deklamatorisch

gehalten ist. Auch der Charakter des schlauen Künsteling, wie der des grobsinnlichen

Trugewalt ist durch die eigenartige Musik gezeichnet. Ferner ist die

Arie der Sinnigunda mit Läufen und Koloraturen geschmückt, um das Tirillieren

und Schmettern der Nachtigall darzustellen; auch der Schmerz der Seelewig ist

durch Anwendung des geraden Zeitmaßes angedeutet &c. Viele Partien (z. B.

3. Aufz. der 3. Handlung) sind entschieden dramatisch gehalten. Außerdem erblickt

der Kenner einzelne Partien als Ensembles, wie aus den Schlußchören jedes

Akts das unsere Oper auszeichnende charakteristische Akt-Finale erwachsen ist.



Als 1678 eine weitere Oper in Hamburg (Adam und Eva, Text von

Richter, Musik von Kapellmeister Johann Theile, einem Schüler Heinrich Schütz')

aufgeführt wurde, erklärte der die Oper verteidigende Hamburger Prediger

Elmenhorst (vgl. Aug. Reißmann, Allg. Gesch. d. Mus. II 168), daß

dieselbe der Stadenschen Oper entspreche:
ein Beweis, wie bekannt die

Harsdörffersche Oper Seelewig gewesen sein muß.



Nach alledem war Harsdörffer (der im 5. Bd. seiner Gesprächsspiele

auch noch die alten 7 Kirchentonarten mit den 7 Kardinaltugenden als musikalische

Scene darstellt) der Begründer einer deutschen Oper; und der Meistersängerstadt

Nürnberg gebührt durch ihn der Vorzug, für alle Zeiten

als Geburtsstätte und Wiege der ältesten, deutsch=nationalen Oper

gepriesen zu werden.



Mit Errichtung des Hamburger Theaters (1678) wurde Hamburg die

erste Pflegstätte der deutschen Oper. Zur Eröffnung dieses Theaters

wurde die oben erwähnte Oper „Adam und Eva“ gewählt. Jn demselben

Jahre (1678) ließ Theile (1646─1724) die dem Jtalienischen entlehnte Oper

Orontes folgen, die bis heute sehr mit Unrecht als die erste deutsche Oper

von allen Musik- und Litteraturgeschichten gerühmt wurde.

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Auch andere (z. B. Francke, Förtsch, Kusser &c.) schufen nunmehr Opern.

Aber erst Reinh. Keiser (1673─1739), der nicht weniger als 120 Opern

schrieb, war es, welcher der deutschen Oper zur Anerkennung und zum Sieg

verhalf. Doch machte sich nebenbei der Einfluß der italienischen Oper bis zur

Mitte des 18. Jahrh. bemerklich.



4. Weiterentwickelung der Oper. Wie ein Phänomen trat Gluck,

der Schöpfer des von Rich. Wagner genial ausgebauten, tempierten Recitativs

hervor und schuf eine originelle, dramatische Oper in seinen Werken Alceste, Jphigenia,

Armida, Orpheus und Euridice, indem er die zum Sinnenreiz ausgeartete

Opernmusik von den italienischen Schnörkeln zur deutschen Einfachheit zurückführte

und die Musik planvoll zur Hebung des Gedankens und der Handlung verwandte

&c. Man könnte wohl nachweisen, daß schon dieser epochebildende

Genius dieselben Ziele verfolgte und denselben Ansichten huldigte, welche in der

Neuzeit Wagner mit seinem entwickelten Orchester und mit seiner glänzenden

Scenerie und Malerei &c. zur Ausführung zu bringen berufen war. Gluck,

der als deutscher Meister gegen den italienischen Virtuosenstil wirkte, stellte mit

großer Absichtlichkeit und noch größerem Verständnis die dramatische Jdee in

den Vordergrund; er erkannte den Schwerpunkt der Oper in der Dichtkunst,

wobei er leider nur mythologische Stoffe zu verwerten wußte. Als

Ästhetiker und Theoretiker war Gluck noch weit bedeutender, als in der praktischen

Ausführung; der Musiker ließ den Reformator und Ästhetiker zuweilen

im Stich.



Nun erschien als Konsequenz Glucks das hellleuchtende Gestirn Mozart,

den der Musiker nicht im Stich ließ, und der ein weit größeres musikalisches

Genie war als Gluck. Seinem hochgebildeten Genius und seinem künstlerischen

Jnstinkt folgend, hat er zuerst italienischen Wohlklang mit deutscher Charakteristik

zu vereinen gewußt, indem er der Gluckschen Jdee, Wahrheit, Einfachheit, Erhabenheit,

Gediegenheit noch die Anmut und Lieblichkeit der Melodie und den

vollen Jnhalt des deutschen Gefühls vermählte. Die Abhängigkeit Mozarts

von Gluck läßt sich an mancher Stelle nachweisen (vgl. z. B. die Friedhofsscene

im Don Juan mit dem Orakel in der Oper Alceste).



Geringeren Einfluß auf die Oper übte der gewaltige Beethoven; nachdem

er seinen unsterblichen Fidelio geschrieben, zog er sich von der damaligen

Oper, für welche er wenig Sympathie hatte, gänzlich zurück.



Nach Mozart machte sich mehr oder weniger wieder der italienische Einfluß

geltend. Mozarts Nachfolger legten immer mehr den Schwerpunkt in die Musik

und vernachlässigten den Text auf unerhörte Weise; die Worte bildeten häufig

nur die unverstandene notdürftige Unterlage für die Schönheit und Künstlichkeit

der Opern, die in der Regel aus einer Reihe in Kostüm gesungener, locker verbundener

Arien bestanden. Die Operntexte wurden immer kunstloser und unpoetischer,

der Komponist übte immer größere Oberherrschaft über den Dichter aus,

ja, die einzelnen Opernkomponisten suchten sich in Melodien, Tänzen und Dekorationen

zu überbieten; und so war die Oper nahe daran, die Anarchie der

Künste zu werden.

|#f0542 : 520|



Da war es der reformatorische Karl Maria von Weber, der zum Urquell

aller Kunst, dem Volksliede, niederstieg und ─ den Jnhalt betonend ─ der

Oper eine neue Richtung verlieh. Seine Opern (z. B. Freischütz), in

denen er uns die herrlichsten Volksmelodien bietet, sind insofern national,

als er auch die deutsche Sagenwelt hereinzog. So wurde er der Schöpfer der

romantischen Oper, die außer uns Deutschen kein Volk der Welt

besitzt.
Weber hat aber auch noch dadurch eine eminente Bedeutung, daß er

durch seine Euryanthe, die sich durch feine Detailmalerei wunderbar von den

übrigen Opern des Jahrhunderts abhebt, die Anregung zu einer Weiterbildung

oder, wenn man will, Umgestaltung der Oper im Sinne Wagners gab. (Das

Libretto ist von Helmine von Chezy.) Als Ausläufer seiner Richtung können

nach der musikalisch=dramatischen Seite hin genannt werden: Marschner (Hans

Heiling, Vampyr &c.), Konradin Kreutzer (Nachtlager von Granada), Lindpaintner

(Genueserin), Reissiger (Turandot, Nero, Dido, Die Felsenmühle);

nach der sentimentalen Seite kann Spohr (Jessonda, Faust, Berggeist) als

Nachfolger Webers bezeichnet werden &c.



Einen vorübergehenden berauschenden Einfluß übte Meyerbeer, dessen geistiger

Universalismus die Vereinigung französischen und italienischen Stils bewirkte,

ohne indes einen Beitrag für deutsch=charakteristische Stileinheit zu liefern,

wenn auch einzelne Opern (wie der Prophet, Hugenotten, Nordstern, Robert

der Teufel) dem deutschen Geiste Konzessionen zu machen scheinen.



Erst dem großen Richard Wagner, der den deutschen Sagenstoff zur

Grundlage wählte, gelang es, ein deutsch=nationales Musikdrama zu schaffen.

Die gewaltige Wirkung der Meyerbeerschen Oper anerkennend, ging er von

dem Gedanken aus, daß die seitherige Oper ein Jrrtum gewesen sei, da in

diesem Kunstgenre ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zweck gemacht; der

Zweck des Ausdrucks (Drama) jedoch zum Mittel erniedrigt worden sei. Er verlangte,

daß auch die Musik in der Oper dramatisch=charakteristisch werde und

in allen Teilen dem Dialog und der Handlung folge und nur aus dieser hervorgehe;

er erstrebte und schuf musikalische Dramen: Musikdramen. Jedenfalls

ist dieses Ziel gerechtfertigt, wenn auch viele die offene Frage immer wieder

ventilieren, ob Wagner mit der Mythe in seinen Stoffen einen eben so günstigen

Griff gethan habe, als mit der Sage, da selbst die griechischen Götter unserer

heutigen Bildung ästhetischer, verwandter, bekannter erscheinen, als die deutschen

Gottheiten der Edda u. s. w.



§ 189. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform.



1. Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform besteht darin,

daß Wagner dem deutschen Gedanken durch die dramatisch=charakteristische

Musik lebenswahren Ausdruck zu verleihen wußte, ohne doch die

ästhetische, rein fühlende Basis zu verlassen.



2. Er hat mit großem Verständnis die romantischen Stoffe der

deutschen Sage bearbeitet, und so eine wunderbare Vereinigung des |#f0543 : 521|



modernen und romantischen mit dem antiken, klassischen Geist erreicht.





3. Dadurch hat er echt charakteristische deutsche Musikdramen

von bleibendem Werte geliefert.



1. Wagner hat die Musik in der Oper in dem Sinne dramatisch gestaltet,

daß sie die fortschreitende Handlung und deren Entwickelung darstellt und in

Beziehung zu ihr bleibt. Daher mußte er die übliche Form der Oper, die

Komposition der einzelnen Stücke der Oper, aufgeben und mehr oder weniger

ein Verweilen der durch die Handlung hervorgerufenen Stimmung erzielen, um

in bahnbrechender Weise den Jdeenstoff möglichst durch Töne zu versinnlichen

und denselben durch Töne zur ergreifenden Wirkung zu bringen.



Wagner hat die Schöpferkraft und die Fähigkeit bewiesen, den künstlerischen

Stoff unter Anwendung der künstlerischen Mittel tief innerlich zu erfassen und

in einer Weise zu verarbeiten, daß sich sein subjektives Können mit seinem

Objekte verschmolz. Allenthalben war er in seinem Wirken dem Jdeale treu,

ohne sich vom Leben abzuwenden, und sein Streben blieb darauf gerichtet, für

die Kunst den notwendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu gewinnen,

durch welchen sie allein zur Blüte gelangen kann.



2. Es war daher ein berechtigter, glücklicher Wurf, daß er sein Libretto

aus dem deutschen Geistes- und Sagenleben schöpfte. Dadurch kam er dem

Wunsche nach, den unser Ästhetiker Vischer bereits im Jahre 1844 am Schluß

des 2. Bandes seiner Kritischen Gänge (Vorschlag zu einer Oper) aussprach:

„Jch möchte die Nibelungensage als Text zu einer großen heroischen

Oper empfehlen.“ Vischer führte (a. a. O. S. 399 ff.) aus, wie unsere

seitherige Oper das Leben der subjektiven Empfindungswelt zur Genüge ausgebeutet

habe, um endlich an die großen objektiven Empfindungen zu gehen.

Alle Musik ─ ruft er aus ─ ist subjektiv, allein es ist ein Unterschied

zwischen der subjektiven Welt einer frommen Seele oder eines glänzenden Verführers

und eines Helden, es ist ein Unterschied, ob indianische Wilde, erzürnte

Bauern, lustige Jäger, oder ob edle Völkerchöre Lust und Schmerz in Tönen

befreien. Es kann freilich nicht bei Zoll und Linie angegeben werden, wie

eine wahrhaft heroische Musik von dem musikalischen Ausdruck anderer starker

Leidenschaften verschieden sei; der Text, die Fabel, die Charaktere und die Musik

heben und tragen sich gegenseitig. Es muß mich alles trügen, oder es ist noch

eine andere, eine neue Tonwelt zurück, welche sich erst öffnen soll. Die Musik

hatte in Mozart ihren Goethe, in Haydn ihren Klopstock, in Beethoven ihren

Jean Paul, in Weber ihren Tieck: sie soll noch ihren Schiller und Shakespeare

bekommen und der Deutsche soll noch seine eigene große Geschichte in mächtigen

Tönen sich entgegenwogen hören. Die Nibelungensage enthält nicht eigentlich

Geschichte ....., wir halten zuerst das Moment des Heroischen in der besonderen

Bestimmung des Vaterländischen fest .... (S. 403.) Wir haben

die Musik noch nicht gehabt, welche ein solcher Stoff fordert, und wir haben

einen solchen Stoff in unserer Musik noch nicht gehabt, so wie wir in unserer

Poesie noch keinen Shakespeare, so wie wir noch keinen großen nationalen, rein |#f0544 : 522|



geschichtlichen Maler gehabt haben. Jch muß nun von meinem Stoff reden ...

Dieser Stoff ist national, das ist das Erste, was von ihm zu rühmen ist ....

Die Nibelungenhelden sind echt deutsche Charaktertypen, wie sich solche ein

Volk in der vorgeschichtlichen Zeit auf der Grundlage nicht weiter erkennbarer

historischer Züge als Spiegelbild seiner besten sittlichen Kräfte dichtet. Die

deutsche Milde und der gefürchtete, anhaltende deutsche Zorn, die deutsche Gutmütigkeit

und Treue, die sich am stärksten in der eisernen Folge der tragischen

Bestrafung einer Untreue ausspricht, der Frühlingsduft der Minne und der

Schwertklang deutscher Tapferkeit, die zarte Schüchternheit und der zähe Eigensinn,

der finstere Trotz, endlich das tiefe Menschheits- und Schicksals-Gefühl,

worin alle diese bestimmten Töne sich wie in ihren Elementen bewegen: dies

ist die weite und volle Brust unserer eigensten Volksnatur, die in diesem ewigen

Gedichte voll und gesund atmet. (S. 410.) Das Nibelungenlied ist für die

Oper wie gemacht, quillt und sprudelt von herrlichen musikalischen Motiven,

wartet schon lange auf seinen Komponisten, fordert ihn gebieterisch: dies ist

meine Behauptung, und diese Behauptung ist bewiesen, wenn ich nur den Jnhalt

des Liedes in einer ungefähren scenischen Ordnung aufführe &c.“ (Vischer hat sodann

den Entwurf eines Libretto in Prosa gegeben, der ─ wenn wir die

späteren Nibelungentragödien recht beurteilen ─ den meisten derselben als Vorlage

diente, für eine Oper jedoch viel zu reich ist, überhaupt den Fehler der

Einteilung in 5 Akte hat. (Vgl. S. 526 3 d. Bds.) Richard Wagner war

der von Vischer ersehnte Dichterkomponist, der sich der Riesenaufgabe unterzog,

nicht nur den von den Urgermanen erdichteten Mythus in eine kunstgerechte

dramatische Form zu gießen, sondern auch die gleichsam zur vollen Entwickelung

gelangte Melodie für die im germanischen Mythos enthaltenen deutschen Empfindungen

und Empfindungsgegensätze in charakteristischer, echt deutscher Weise zu

schaffen. Früher, ehe unsere eigene Kunst und unser eigenes Leben in Deutschland

sich gestaltete, nötigten alle Bestrebungen den Künstler, sich in ein Verhältnis

zum Jdeale der griechischen Kunst zu setzen. Als dem deutschen

Geist in seinem rastlos nach dem Jdeale ringenden Streben das Wesen der

griechischen Kunst ─ die höchste Harmonie aller Seelenkräfte ─ sich erschloß

und er dasjenige in ihr in plastisch schöner Gestalt verwirklicht fand, was er

eben in seinem Jnnern herzustellen bemüht war, da vollzog sich gleichsam eine

geistige Ehe zwischen zwei, bei aller Verwandtschaft verschieden gearteten Nationen.

Die innere Unendlichkeit des deutschen Geistes fand Maß und Form, zur Tiefe

gesellte sich die Klarheit, und die Jnnigkeit seines Gemütlebens umkleidete sich

mit allem Zauber der Anmut. Dem deutschen Volke war es nunmehr vorbehalten,

eine Wiedergeburt jener großen Vergangenheit herbeizuführen, wo der

Mensch zum wahrhaftigsten Erfassen seines Wesens und zur harmonischen Darstellung

desselben gelangt ist. Denn unsere Nation ist berufen, den andern

Nationen gegenüber eine ähnliche Stellung einzunehmen, wie dies bei den Griechen

in der alten Welt der Fall war. Unserem Volke fällt die Aufgabe zu, auf

geistigem Gebiete den Lebensgehalt der fremden Völker in sich aufzunehmen

und von allem Nichtigen und allen Schranken nationaler Einseitigkeit befreit, |#f0545 : 523|



wieder aus sich zu erzeugen. Auf dem Gebiete der Poesie nahmen in dieser

Beziehung Lessing, Herder und der Jndogermane Rückert ihre bestimmte

Position ein. Jn der Musik bewiesen Händel, Gluck, Beethoven und

Mozart ihre epochebildende Bedeutung in Erstrebung eines universellen Zieles.

Wie nach langer Jrrfahrt in der Fremde kehrte der Deutsche allmählich in seine

Heimat zurück; immer mehr näherte man sich jenem großen Ziel, das in der

Vereinigung des klassischen, romantischen und deutschen Wesens zu einem

deutschen Kunstwerk
besteht. Das Hauptstreben mußte selbstredend darauf

gerichtet sein, eine Jnstitution zu schaffen, deren Aufgabe es war, Drama und

Musik zu vollendeter Darstellung zu bringen. Diese mußte ein einigender Mittelpunkt

werden, in dem die künstlerischen Fähigkeiten des deutschen Geistes zur

Reife und Vollendung gebracht werden konnten. Die dramatische Kunst

mußte dabei im Vordergrund bleiben.



Wagner hat nun dasjenige Kunstwerk, welches den Mittelpunkt des

griechischen Kunstlebens bildet, das lebendig dargestellte Drama, aus eigener

Kraft erzeugt. Er sah ein, daß nicht die Entwickelung des Schönen der

griechischen Formen, wie man es mit den Aufführungen der Antigone versucht

hatte, allein uns helfen konnte, daß vielmehr Schöpfungen, in welchen unser

eigenes deutsches Leben
Gestalt gewonnen hat, die Grundlage einer Blüte

der deutschen musikalisch=dramatischen Kunst zu bilden haben.



So erreichte er in jedem seiner einheitlichen auf deutschem Boden (d. i.

aus deutschnationalem Mythus) erwachsenen Kunstwerke, besonders aber im Ring

der Nibelungen, die bisher kaum geahnte, verdienstliche Vereinigung des

modernen und romantischen Geistes mit dem antiken, klassischen

Geiste,
was Goethe bereits in der Vermählung des Faust und der Helena

symbolisch dargestellt hatte.



3. Wenn auch manches in der Reform Wagners dem Laien nicht

genügend populär erscheinen wollte, so ist doch nachgerade auch von Wagners

Gegnern der eigentümliche Zauber, die früher nie geahnte Gewalt und Kraft

seiner Musikdramen anerkannt worden. Man giebt immer mehr zu, daß Wagner

im musikalischen Drama den Schlüssel gefunden hat, diese Welt mehr als

früher dem Empfindungsleben zugänglich zu machen. Wagners Musik, die

das Wunderbare dem Gefühl wahrscheinlich machen möchte und durch ihre

gefühlumstrickende Allgewalt das Reich der Symbole lebendig zu machen weiß,

hat uns den Reichtum und Jnhalt der germanischen Welt rascher enthüllt, als

es die Doktrin aller Katheder der Welt vermochte.



Es ist dies eine Thatsache, die weder durch dummdreistes Geschwätz noch

durch geistvolles Raisonnement widerlegt werden kann. Ob auch die „Amazone“

Dingelstedts, oder „Die Sturmflut“ Spielhagens gegen Wagner polemisieren,

der Kundige wird den Eindruck haben, daß diese Dichter durch ihre Bemerkungen

doch nur ihren überlegenen Geist zu dokumentieren strebten, um ihren Romanen

einen pikanten Anstrich zu geben &c.

|#f0546 : 524|



§ 190. Wagners Tetralogie.



1. Wagners Nibelungen sind eine Tetralogie im antiken Sinn.



2. Sie sind eine epochebildende, musikalische That.



3. Zu ihrem Verständnis gehört ein gebildeter Geschmack,

ähnlich wie ein reines Genießen des Goetheschen Faust ein gesteigertes

Verständnis und hohe Bildung voraussetzt.



1. Jn der Blütezeit der griechischen Tragödie bestand in Athen die

Übung, daß, wenn ein Dichter bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste

eine zusammenhängende Dreiheit von Tragödien (eine sog. Trilogie) vorführte,

noch als viertes ein Satyrspiel beigegeben wurde, wodurch die Trilogie

zur Tetralogie wurde. Ähnlich ist Wagners Trilogie gebaut, welcher ein viertes

Stück (Rheingold; etwa wie Wallensteins Lager von Schiller) als Vorspiel

beigegeben ist.



Es ist Wagner gelungen, in seiner Nibelungentetralogie einen Dramencyclus

zu schaffen, der vielleicht am ersten mit dem Prometheus des Äschylus

verglichen werden darf, soweit nach dem erhaltenen Fragmente des letzteren

Werkes ein Schluß aufs Ganze berechtigt ist. Die eigentliche Vereinigung von

philosophischem Tiefsinn und realistischer Darstellungskunst, welche dem Wagnerschen

Geist eigen ist, gelangt in dieser Dichtung zu einer harmonischen Verschmelzung

mit der Poesie.



2. Die äußere Physiognomie ist dabei nicht etwa einem anderen Volk

abgeborgt, sondern vielmehr aus der innersten Wurzel des deutschen Wesens

emporgewachsen, um als Zeugnis der Tiefe seines Gemütes und der Jnnerlichkeit

seiner Empfindungen dazustehen. Unstreitig liegt der wahrhaft poetische

Wert dieses Musikdramencyklus in der Dichtung, in der poetischen Organisation

des Stoffes und in der dichterischen Neuschöpfung der Charaktere, während

alles, was zur Äußerung des Gedichts gehört: Diktion, Sententiosität, Pathos,

nunmehr in wirksamerer Weise zu ersetzen Aufgabe der berufeneren Schwester Musik

ward. Was aber auch schon an der sprachlichen Äußerungsweise der Dichtung

(also am eigentlichen Texte) von hohem künstlerischen Werte sich zeigt: Rhythmus

und Lautsymbolik, das sind eben nur Dinge, an welchen (wie Wolzogen so schön

in Lautsymbolik S. 6 ausführt) die Musik von vornherein wesentlichen Anteil

hat. Zumal die instinktiv angewandte Lautsymbolik war das Werk eines

musikalisch empfindenden Dichters. Da aber häufig ganz offenbar auch Absicht

gewaltet, so bietet uns Wagners Dramencyklus die Lautsymbolik aus den beiden

möglichen Quellen, poetischer Absicht und musikalischem Jnstinkt, zugleich dar.



3. Wagners Tetralogie setzt zu ihrem vollen Verständnis Vertrautheit mit

dem philosophischen Jdeenkreise des Textes voraus, und Wagner ist daher im Jrrtum,

wenn er meint, daß diese Musik auch auf den Ungebildeten die gleiche Wirkung

übe. Es ist dies der Jrrtum Rousseaus vom reinen Menschen. Der reine

Mensch ist eben der Mensch der entwickelten höchsten Kultur, nicht der Mensch

der Vergangenheit, welchen die Entwickelungsgeschichte in einer so traurigen |#f0547 : 525|



Gestalt zeigt, daß man verzweifeln möchte an der Gottähnlichkeit im Menschen

und versucht sein könnte, der Darwinschen Theorie völlig zuzustimmen. Auch

das ästhetische Gefühl nimmt je nach der Nationalität, je nach der Zeit, eine

andere Richtung an, und erreicht einen höheren Gehalt, eine gebildetere Qualität.

Bei häufiger Vorführung tiefer, geistvoller Musik, die als unmittelbarer,

gleichsam träumender Ausdruck des Wortes bezeichnet werden kann, wie diesen

die Musik der neuen dramatischen Oper anstrebt, wird unser Gefühl die

praktische Befähigung erhalten, sich die eigenartigen Wendungen nach und nach

einzuprägen, Sinn für dieselben zu erwerben, sie lieb zu gewinnen.



Als unser größtes spezifisch musikalisches Genie, der musikalische Kosmopolit

Mozart, auftrat, indem er die lyrische Seite der Jtaliener, die epische

Natur Händels, woran sich das dramatische Streben Glucks reihte, mit

allen musikalischen Richtungen zu einem großen organischen Ganzen gestaltete

und zusammenfaßte, da verstand man seine Musik ebensowenig, als man anfänglich

die fortgeschrittene eines Wagner verstehen mag, da bekämpfte man

ihn hart, wie ja auch sein großer Zeitgenosse Haydn von gewisser Seite des

faulen Zopftums angegriffen wurde. Und doch verehrt heute ein jeder in

Haydn den Meister, welcher der Gesangskunst einen richtigen Standpunkt anwies

und die Jnstrumentalmusik ihrer heutigen Vollkommenheit zuführte, in Gluck

den Begründer einer dramatischen Oper und in Mozart den Vermähler italienischen

Wohlklangs mit deutscher Charakteristik &c.



Als Wagners Tannhäuser zum erstenmal in Paris gegeben wurde,

hatte man noch so wenig Sinn für dieses Musikgenre, daß die Oper durchfiel,

ja, der beißende Spott der Pariser erfand das bonmot »je tannhäuse« (ich

langweile mich). Jetzt hat man dort einen ganz anderen Standpunkt erreicht:

Tannhäuser machte in Paris bereits vor dem Kriege volles Haus!



Wie rasch eilt das Jahrhundert und die Bildung auch des Geschmacks

vorwärts! (Vgl. d. Verfassers Arbeit in „Deutsche Theater-Chronik“ Jahrg.

1868 Nro. 30: „Jst die Durchschnitts-Geschmacksbildung der Jahrhunderte die

gleiche? Aphorismen, hervorgerufen durch die neue, dramatische Oper.“)



§ 191. Wagners Stilcharaktere und seine Leitmotive.



1. Jn Wagners weltgeschichtlicher Thätigkeit lassen sich drei verschiedene

Stilcharaktere unterscheiden.



2. Eine wahrhaft philosophische Bedeutung hat er sich durch seine,

allen Perioden angehörigen Leitmotive erworben.



3. Das bedeutendste Leitmotiv ist Versinnlichung der Liebesgewalt.



1. Wagner begann im Streben nach der Herrlichkeit der besonders von

Spontini vertretenen großen (historischen) Oper.



Auf den von ihm selbst später verstoßenen Rienzi folgte die zusammengehörige

Gruppe: Fliegender Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, ─ Opern, in

welchen sich das Kunstwerk der Zukunft noch nicht ostensibel offenbart hatte,

obwohl sie dasselbe ahnen ließen.

|#f0548 : 526|



Erst in Tristan, den Meistersängern und besonders dem Ring der Nibelungen

wurde der spekulierende Ästhetiker von dem Dichterkomponisten eingeholt

und sein längst geweissagtes Jdeal zur Erscheinung gebracht. Nicht allein in

den Stimmen, sondern auch in der malenden und schildernden Musikbegleitung

liegt hier der Schwerpunkt. Während in den Ersteren der

realistischen Deutung jedes einzelnen Wortes nachgejagt wird, während sie

sich in unendlicher Melodie tummeln, verspinnt hier das Orchester seine wahrhaft

narkotischen Klangeffekte und seine in der Chromatik und Enharmonik

schwelgende Modulation! Die aus der Anspannung des dramatischen Prinzips

sich ergebenden Konsequenzen treten namentlich in Tristan und Jsolde, wie in

den Meistersängern hervor. Tristan und Jsolde gewährte dem Komponisten

freien Spielraum in der Charakterentfaltung: der wichtigste Faktor liegt hier

im Orchester, auf dessen Rechnung kommt, was als musikalische Substanz des

ganzen Werkes zu betrachten ist.



Von großartiger Wirkung im Tristan ist das große Liebesduett des 2. Akts.

Da ist Fluß, Wohllaut, verführerisches Weben und Wogen der Töne, innige

Melodie, die selbst die Gegner anerkennen müssen. Die Jnstrumente deuten

die verborgensten Geheimnisse des dargestellten und gesungenen Liebesgenusses

an. Mit ihren süßesten, wollusttrunkensten Klängen umschmeicheln sie das

Ohr. Genial zeigt sich Wagners Muse in der leidumflorten Erwiderung

Tristans: O König, das kann ich Dir nicht sagen u. s. w. Der 3. Akt ist

besonders großartig wirkend. Das einleitende ausdrucksvolle Vorspiel ist einzig

schön. (Man vgl. das Verlangen des Kranken nach seiner Ärztin, den aufjubelnden

Reigen des Hirten, die malerische Schilderung des an der Klippe

mühsam vorbeisteuernden Schiffes, dessen Flagge und Wimpel die flatternden

Flötenpassagen entrollen, die jauchzende Lust des Orchesters bei der Landung &c.)



Zum Ergreifendsten des ganzen Werks gehört Jsoldens Schwanenlied. Da

ist deutscher Stil, deutscher Charakter, der schon bei nur geringer Bekanntschaft

mit Wagner erwärmen muß.



2. Ein wichtiges Kriterium für Würdigung Wagners sind seine Leitmotive,

welche die innerste Natur der im mythischen Drama auftretenden Gestalten versinnlichen

und die logische Verbindung des musikalischen Dialogs vermitteln.

Sie haben die Bestimmung, die Harmonie für jede einzelne Empfindungsphase

im Leben jeder einzelnen Person zu entwickeln, ebenso wie sich aus

dem feststehenden menschlichen Charakter die Handlungen einzeln entwickeln.

Jm Tristan und Jsolde sind sie selten. Eine so große Fülle von Leitmotiven

wie in den Meistersängern schließt hier schon die einfache Handlung aus. Hier

ist alles auf Entwickelung der auf den Liebestrank deutenden Figur abgesehen.

Trotzdem begegnen wir diesem chromatisch gewundenen, mit prickelndem Vorhalten

und wählerischen Dissonanzen freigebigen Thema sehr häufig: bald unten in

der Begleitung arbeitend, bald siegreich sich in die Melodie schwingend.



Neben demselben finden wir das an den Abendstern im Tannhäuser

erinnernde Motiv, die von der Macht der Liebe erfüllten Töne und die schwermutatmende

Melodie des Hirten, die von besonderem musikalischem Reiz sind. |#f0549 : 527|



Der Gesang ist freilich zuweilen in Jnterjektionen der Leidenschaft zerpflückt,

noch dazu in Superlativen, die als Ausdruck der gespanntesten Seelenzustände

gerechtfertigt sind; aber das Leitmotiv kommt doch einer Symbolisierung der

Jdee gleich. Des Meisters Prinzip ist daran schuld, daß es zu eigentlichen

Liebesduetten, die mehr als im recitierenden Drama im Gesungenen fesseln,

selten kommt.



3. Als Gesamtresultat des Wagnerschen Schaffens tritt uns übrigens

allenthalben als vornehmstes dramatisches Leitmotiv die dämonische Elementargewalt

der Liebe entgegen. Von ihr hat der Tannhäuser das spezifische

Stimmungskolorit erhalten, sie durchstrahlt das Verhalten Sentas zum Holländer,

Elsas zu Lohengrin; sie reißt den Bruder in die Arme der Schwester und

treibt Brunhilde zum Sprung in den lodernden Scheiterhaufen &c.



§ 192. Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für die

Librettodichtung, und Beispiele besserer Librettos.



1. Bei der Bearbeitung von Librettos hat der Dichter besondere

Rücksicht zu nehmen auf den eigenartigen Stoff, ferner auf die Charaktere,

wie auf die einzelnen zu komponierenden Teile.



2. Der Stoff der Oper darf romantische Färbung haben.



3. Der Dichter mag sich seinen Librettostoff so gliedern, wie es

Vischer gethan hat (§ 189 d. Bds.), jedoch mit der Rücksichtnahme für

den Komponisten, daß er seine Materie nur in 3, nicht aber in 5

Gruppen einteilt.



1. Die gegensätzliche Beziehung der musikalischen Dramen zu den unmusikalischen

bedingt selbstredend eine abweichende Behandlung in der Gestaltung

der ersteren. Das Opernlibretto muß vor allem eine Handlung wählen, die

sich in Empfindung umsetzen läßt. Aus diesem Grunde darf der Dichter keine

historische Jntrigue wählen, die sich gedanklich abschließt, also auch keine Staatsaktionen.

(Beispielsweise eignen sich Stoffe wie Don Carlos nicht zur Oper.)



Bei den Stoffen ist sodann das Nacheinander, die Gruppierung in der

Scenerie zu berücksichtigen. Wagners Behandlung in dieser Beziehung ist

mustergültig. Man denke an Tannhäuser, wo eines dem andern in dramatischer

Belebung folgt: Venusberg, Verbannung, Wartburg, das Geläute der

Glocken &c. Oder an den fliegenden Holländer mit seinen Kontrasten: hier

die trauliche Stube, dort das Meer &c. Solche Kontraste muß der Dichter

aufsuchen;
sie sind dem Komponisten unentbehrlich. Weiter muß der Operntext

Personen bringen, die unserer Gegenwart einigermaßen durch Raum und Zeit

fern gerückt sind. (Beispielsweise kann man Karl den Großen recht wohl als

Opernfigur bringen, nicht aber Napoleon III. &c.)



Was die Teile der Oper betrifft, so hat der Dichter besondere Rücksicht

den Chören zu widmen. Der Chor hat bei uns eine weit höhere Mission,

als z. B. bei den Jtalienern, die sich während der Chöre stets lebhaft unterhalten. |#f0550 : 528|



Zur Jllustrierung der Bedeutung des Chors sehe man sich Chöre an,

wie Chor der Gefangenen in Fidelio; das Gebet und die Aufruhrchöre in

der Stummen von Portici von Auber; die Rütliscene in Wilhelm Tell von

Rossini; die Priesterchöre in der Zauberflöte; die dem Volkslied abgelauschten

Chöre im Freischütz; die Aufruhrchöre auf dem Schiffe Ferd. Cortez von Spontini,

wo der Chor selbsthandelnd auftritt; die Chöre der Larven und Schatten im

2. Akt von Glucks Orpheus mit dem berühmten Nein; endlich die grandiosen

Chöre in den Meistersängern, im Fliegenden Holländer, und in Siegfrieds Tod

von Rich. Wagner &c. u. s. w.



2. Da in der Oper die Rede zum Gesang wird, und einer solch ätherischen

Sprache und ätherischen singenden Handlung mehr Zauberwesen eigentümlich

ist, als dem prosaischen Leben, so erhellt, daß der Oper die Romantik nicht

so übel anstehen kann, und daß der Textdichter seinen Texten sprühende,

interessante, romantische Scenen einfügen oder romantische Stoffe wählen darf,

um die Personen in romantischen Situationen zu zeigen und Gelegenheit zur

lyrischen Äußerung zu bieten.



3. Noch möchten wir den Librettodichter darauf aufmerksam machen, daß

die Aktschlüsse dem Komponisten die größten Schwierigkeiten bieten, weshalb

die Librettos nie mehr als 3 Akte haben sollten. Es ist keine kleine Aufgabe,

fünf Finale herauszugestalten. Mozart hat nie eine fünfaktige Oper geschrieben;

selbst sein Figaro, den man in der Regel in vier Akten giebt, ist nur dreiaktig.



Da die Opernlibrettos an allen Theaterkassen zu haben sind, so beschränken

wir uns darauf, nur einige der besseren Librettodichter zu nennen: von den

Jtalienern Metastasio und Goldoni; von den Franzosen Scribe, Barbier, Lafontaine

&c.; von den Deutschen Kind (Freischütz), Holtei, Wolff (Preziosa), Planché

(Webers Oberon), Ed. Devrient (Hans Heiling), Castelli (Weigls Schweizerfamilie),

Gustav zu Putlitz (Flotows Jndra), Fr. Friedrich (Flotows Martha),

Röber, Rodenberg, Groß, Geibel, Felix Dahn, Gustav v. Meyern (Langerts

Fabier), Fritz Hofmann (Rattenfänger von Hameln), besonders aber den vorwärts

drängenden Dichter Peter Lohmann, der bereits seit 1860 sog. Gesangsdramen

lieferte (4. Band der dramatischen Werke. Leipzig 1875. 2. Aufl.),

und dessen Reformideen wo möglich noch weiter gehen möchten, als jene des

von ihm begeistert verehrten Richard Wagner.



II. Kirchlich-musikalische Formen.


§ 193. Einteilung der geistlichen Formen und Begründung

derselben.



1. Die musikalischen geistlichen Formen erwuchsen aus dem Christentum

und seinem Kultus.



2. Jn der Entwickelung dieser Formen zeigt sich der Fortschritt

des christlich gläubigen Gemüts in Hinsicht auf Verinnerlichung und

Vertiefung.

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1. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß unsere gesamte abendländische

Musik nur aus dem Christentume erblüht ist. Das Christentum mit seiner auf ein

Jenseits gerichteten Weltanschauung und seinem gemütumfassenden Marienkultus

suchte der Verinnerlichung des Gemüts auch durch Musik einen Ausdruck zu verleihen.

Aus der griechischen Musik mit ihrer auf mathematischer Basis beruhenden

Jntervallenlehre, die beispielsweise die große Terz für eine Dissonanz erklärte,

konnte niemals eine Harmonie und eine Polyphonie sich entwickeln, wie diejenige

der späteren christlichen Zeit; diese entfalteten sich vielmehr lediglich aus

der von der Kirche gepflegten christlichen Musik, d. i. eben aus der immer

kunstvoller gewordenen sog. Kirchenmusik.



2. Der erste Gesang der Christen war mehr eine psalmodierende Deklamation,

wobei wahrscheinlich die alte hebräische Hymnologie die Grundlage

bildete. Beim Bischof Ambrosius († 397) lag der Gesang noch in den Fesseln

der lateinischen Prosodie, aus welcher er sich durch Gregor den Großen befreite.

Wir finden z. B. da schon in den sog. Sequenzen (Hallelujah, Amen &c. I 620)

mehrere Noten auf einem Vokal u. s. w. Das Antiphonar Gregors des Großen

wurde nun zum unabänderlichen Gesetz für die ganze abendländische Christenheit.

(Daher der spätere Name cantus firmus.) Als der Minnesang dem

Meistersang weichen mußte und das eigentliche Volkslied sich verlor, schuf sich

der Volksgeist ein solches, indem man den kirchlichen Sequenzen andere weltliche,

wenn auch immerhin dem Kirchlichen nahe verwandte Texte unterschob.

Daher waren im ganzen Mittelalter die vom Volke gesungenen Weisen dem

Geist und der Form nach sich sehr ähnlich, und daraus erklärt es sich, daß

die niederländischen und italienischen Meister jedes beliebige Volkslied als cantus

firmus
in die Komposition der Messe (§ 200 d. Bds.) aufnehmen konnten.

Erst nachdem dieser Unfug einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, kehrte durch

Palestrina die Kunst wieder zur Einfachheit und Kirchlichkeit zurück. Der schon

zu Gregors Zeiten geschaffene Choral entwickelte sich immer mehr und erreichte

seine Blüte, als die Glaubensfreudigkeit der Lutheraner ihn zum Gemeindegesang

erhob.



Somit war die Basis und die erste Form aller Kirchenmusik der Choral.

Neben demselben entwickelten sich die Motette, und die lyrischen Formen: Psalm

und Kantate. Ganz zuletzt folgten die dramatischen Formen: Passion,

Messe, Oratorium.



§ 194. Der Choral.



1. Der Choral (griech. χορός, latein. chorus, cantus firmus,

cantus choralis
, franz. plaint-chant) ist das mit einer leicht faßlichen,

einfachen Melodie versehene, strophische geistliche Chorlied (S. 125

d. Bds.), welches im Gegensatz zu der von einem geschulten Sängerchor

vorgetragenen Motette mit Orgelbegleitung von der ganzen Gemeinde

─ in der Regel unisono ─ gesungen wird.



2. Wenn auch schon die Juden, welche zu Ehren Jehovas ihre |#f0552 : 530|



Psalmen im Tempel gemeinschaftlich sangen, eine Art Chorgesang

besaßen, so kam doch unser Choral erst durch das Christentum des

Mittelalters zur Ausbildung.



3. Luther kann der Begründer desselben genannt werden.



4. Auch in der kath. Kirche giebt es deutsche Choräle.



1. Der Choral bewegte sich größtenteils in gleich langen Noten; charakteristisch

war dabei, daß nach jeder Verszeile ein Ruhepunkt, eine längere rhythmische

Pause eintrat, die meist durch Zwischenspiele auf der Orgel ausgefüllt

wurde. ─ Nur in seltenen Fällen wurde der Choral mehrstimmig vorgetragen.

Kocher in Württemberg hat den vergeblichen Versuch gemacht, den mehrstimmigen

Choral in die Kirche einzuführen.



2. Der Choral wurde besonders durch den recitativartigen Gregorianischen

Gesang vorbereitet. Die Hymnen erhielten bei Gregor feststehende Melodie

(cantus firmus, canon, cantus choralis) und wurden einstimmig bereits

vom Sängerchor, nicht aber von der Gemeinde gesungen. Durch die sog. Leiche

(I 619) entwickelte sich sodann eine strengere Form. Man vgl. zum Beleg

das um diese Zeit entstandene geistliche Lied: Christ ist erstanden. Vom 15. Jahrhundert

ab begann der Choralgesang in seiner späteren Form sich allmählich

zu begründen. Schon zur Zeit des Huß hatten die Böhmen einen ausgebildeten,

wertvollen Choral, welchen man den Gesang der Böhmischen und Mährischen

Brüder nannte, der diese Brüder in ihren Glaubenskämpfen anfeuerte, und

welchen Zwonar in neuerer Zeit wieder herausgab.



3. Doch war es erst Luther, welcher den Choral als geistliches Volkslied

und als Gemeindegesang in die Kirche brachte, um der seither vom Kirchengesang

ausgeschlossenen Gemeinde die Beteiligung am Kultus zu verschaffen.

Er ließ den deutschen Choral an die Stelle der von einem Sängerchor ausgeführten

Kirchenmusik treten und ihn von der Orgel mehrstimmig begleiten.



Die erste Sammlung von acht Lutherischen Chorälen erschien 1524. Von

nun an wurde der Choral der starke Baum, an dem sich die ganze protest.

Kirchenmusik bis zu Seb. Bach, dem Gipfel und Schlußpunkt dieser großen

Periode, hinaufrankte. Wir finden ihn in allen kirchlichen Formen bis zur

Passion und zum Oratorium mit Glück verwertet.



Durch das Kantional der Böhmischen und Mährischen Brüder (enthaltend

136 Lieder mit 111 beigedruckten Melodien, herausgeg. 1531 von G. Wylmschweerer

in Jungbunzlau) erhielt der Choralschatz eine große Bereicherung.

Die Blüte des Chorals begann um jene Zeit und dauerte bis Anfang des

17. Jahrhunderts. (Die bedeutendsten Choral-Komponisten sind verzeichnet in

„Geschichte des christlichen, insbesondere evangelischen Kirchengesangs von J. Ernst

Häuser“. Quedlinburg 1834. S. 78─140.)



3. Auch in der kath. Kirche wandte man sich nach den Erfolgen der

Protestanten dem deutschen Choralgesang zu, und es kam soweit, daß man sogar

bei der Messe (z. B. in der Wiener deutschen Messe) deutsche Lieder sang.

Nun dichtete man neue Lieder, nahm auch einige evangelische (besonders von

Gellert) auf. So entstanden die kath. Gesangbücher von Riedel (Wien 1773), |#f0553 : 531|



Kohlbrenner (München 1777), Franz (Breslau 1778), Werkmeister (Stuttg.

1784), v. Wessenberg (Konst. 1828) &c.



Als Beispiel und Muster des Chorals erwähnen wir den durch Meyerbeers

Hugenotten auch allen Nichtprotestanten bekannten Choral: „Ein feste

Burg ist unser Gott“, sowie die S. 127 ff. d. Bds. erwähnten Lieder mit

ihren volkstümlichen Melodien.



§ 195. Das deutsch-accentuierende Prinzip und der Choral.



Der Umstand, daß der nach Art reiner Spondeen gesungene

Choral der seitherigen Choralbücher allen Silben ohne Rücksicht auf

ihre Schwere gleichen Wert und gleiche Zeitdauer verlieh, veranlaßte

die bedeutendsten Stimmen der protestantischen Kirche, namentlich in

Bayern, der Einführung des sog. rhythmischen Chorals das Wort

zu reden.



Die Bewegung, welche die Opposition gegen die seitherigen Choralbücher

hervorrief, begann in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts und gelangte

in den fünfziger Jahren zum Sieg. Männer wie Winterfeld, Tucher, K. F.

Becker, Layritz, Umbreit, J. G. Herzog, H. Lützel und besonders der ebenso

verdiente als kenntnisreiche und tüchtige Dr. Zahn in Altdorf haben rhythmische

Choralbücher geschaffen und die Einführung eines rhythmischen Chorals namentlich

in Bayern durchgesetzt.



Wir begrüßen dieses Streben von ganzem Herzen als einen Triumph des

deutschen Sprachgeistes und als ein beredtes Zeugnis dafür, daß der deutsche

Accent nunmehr auch im Kirchengesang nicht mehr niederzuhalten ist.



Es wäre nur zu wünschen, daß Text und Komposition der sog. rhythmischen

Choräle von kenntnisreichen Männern noch besser als seither verglichen werden möchten,

damit die betonten Silben wirklich durch Noten längerer Zeitdauer ausgezeichnet

werden. Wenn gesungen wird: Sü̆nd, Tŏd, Wēlt, oder wenn das Kirchenlied

Hērzlīch thŭt mīch verlānge̐̑n nach der Melodie Jn̄sbrūck ĭch mūß dĭch lāsse̐̑n

(vgl. S. 95 d. Bds.) gesungen wird, oder wenn im rhythmischen Choral

„Thut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein“ die beiden

Silben „sch̄ön̄e“ gleichmäßig betont werden und die zweite Hälfte vom Worte

„Gōttḗs“ den Hochton erhält, so gewinnen die unverständigen Gegner des

rhythmischen Chorals Beweismaterial, da ja in der That diese Art Ersatz für

den seitherigen Choral (z. B. des Knechtschen Choralbuchs) mit Erfolg nicht

verteidigt werden kann.

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§ 196. Die Motette.



Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter,

kirchlicher Chorgesang, welcher von einem Sängerchor ohne Jnstrumentalbegleitung

in der Kirche vorgetragen wurde; den Text (Jnhalt) bildete

ein Bibelspruch, oder auch ein frommer Spruch geistlichen Jnhalts,

Sätze aus den Psalmen &c.



Jhrem Text entsprechend enthält die Motette ein oder mehrere

in den verschiedensten Formen auftretende Hauptmotive &c.



Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete)

her, sofern die begleitenden Stimmen die Grundmelodie (cantus firmus) verändern

oder wenden. Andere lassen es vom französischen Worte Mot (Sprüchlein,

Bibelspruch) abstammen, sofern das Bibelwort (nämlich ein kurzer Bibelspruch)

den Text bildete. Die Haltung der Motette und ihre Bewegung war von

jeher ziemlich frei. Alle Künste des Kontrapunkts kamen in ihr zum Austrag,

der Text wurde eine Zeit lang ganz als Nebensache behandelt, weshalb die

Kirche mit Recht diese Art von Figuralmusik ausgeschlossen wissen wollte, bis

Palestrina durch seine würdige Behandlung sie neu zur Bedeutung erhob und

ihr Vollender Sebastian Bach ihr den Platz garantierte, den sie heute einnimmt.

Da die Textsprüche der Motette ein Gemeingefühl ausdrücken, so ist

es begreiflich, daß die Motette (die Zwittergattung der sog. kirchlichen Solo=

Motetten der neueren Franzosen und Jtaliener ausgenommen) nur für Chor

und zwar meist ohne Jnstrumentalbegleitung geschrieben wurde und wir in ihr

hauptsächlich den polyphonen Stil als den geeigneten finden.



Die Motette war schon dem alten Frank (Franco) von Köln bekannt,

der im Jahre 1083 als Scholastikus an der Kathedralkirche zu Lüttich starb.

Er kannte sie als Chor ohne Jnstrumentalbegleitung, welcher den Text aus

der Bibel, seinen als Grundlage dienenden Tenor (cantus firmus) jedoch

aus dem Gregorianischen Kirchengesang entlehnt hatte. Während eine Stimme

diesen Tenor (von tenere) vortrug, führten die übrigen Stimmen ihren Text

zu Motiven aus dem cantus firmus oder auch aus freier Erfindung durch und

umgaben so den ernsten gehaltenen Kirchengesang mit lebhaften Verzierungen,

die in ihrer unkünstlerischen wechselvollen Weise dem Papst Johann XXII.

mit Recht als Verunzierungen auffallen mußten.



Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette

aufgenommen, die sich hier treu an das Bibelwort anschließen mußte, wobei

sie sich im Cantus firmus mit einem Liedvers verschmelzen durfte. Luther,

der für die Motetten Ludwig Senfls eine besondere Vorliebe empfand, sagt

zum Preis der Musik in den Motetten: Jn welcher Musika vor allem das

seltsam und zu verwundern ist, daß einer eine schlechte Weis oder Tenor hersinget,

neben welcher 3, 4 oder 5 andere Stimmen auch gesungen werden,

die um solche schlechte, einfältige Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen

rings herumher um solchen Tenor spielen und springen, und mit mancherlei |#f0555 : 533|



Art und Klang dieselbige Weise wunderbarlich zieren und schmücken und gleich

wie einen himmlischen Tanzreigen führen, freundlich einander begegnen, und

sich gleich herzen und lieblich umfangen, also daß diejenigen, so solches ein

wenig verstehen und dadurch beweget werden, sich des heftig verwundern

müssen und meinen, daß nichts seltsameres in der Welt sei, denn ein solcher

Gesang mit viel Stimmen geschmücket.“ Von hier ab war es neben Sebastian

Bach noch Rolle, Wolf, Hiller, Schicht, Späth, welche die Motette pflegten

und vervollkommneten. Heutigen Tages können folgende Formen der Motette

nachgewiesen werden: 1. der durch Singstimmen figurierte Choral, 2. der durch

Singstimmen mit einer Fuge begleitete Choral, 3. eine Reihe aneinander

hängender Fugensätze (Beispiel der erste Chor in Grauns Tod Jesu), 4. ein

Vers für Vers durchkomponiertes Kirchenlied (Beispiel: Bachs Motette zum

Choral Jesu meine Freude).



§ 197. Psalm.



Unter Psalm (niederdeutsch Salm, von ψάλλειν == Psalmen singen)

versteht man ein religiöses Lied, das nie anders als mit Jnstrumentalbegleitung

(Psalter, Harfe, Orgel) gesungen wurde. Der Psalm ist

die Frucht des heiligen Landes, wo die Stimme der Offenbarung und

des Gottvertrauens am lautesten und reinsten erscholl. Die Psalmen

der Griechen waren die Hymnen.



Seit Klopstock schuf man auch bei uns Kirchenmusikstücke (Vokalmusikstücke),

welche den Namen Psalm trugen, ohne Psalmen aus der

Bibel zum Text zu haben; ihre Texte sind vielmehr auf Psalmenart

gedichtete Oden. Auch die religiösen Lieder der reformierten Kirche

nennt man Psalmen.



Der König David war es, der nicht nur eine große Anzahl von Sängern

aus den Leviten auswählte, sondern auch jene unvergänglichen religiösen Gesänge

schuf, welche den Namen Psalmen erhielten und die Muster und Vorbilder

aller ähnlichen Dichtungen bis in die Neuzeit blieben. Alle von ihm,

von Salomo, und aus der babylonischen Gefangenschaft herrührenden Psalmen,

wie selbst die Psalmen bis in die Neuzeit sind lyrische Gesänge, Hymnen oder

Oden, die ein Gefühl oder ein Bild in einem kleineren Kreise sinnig darstellen;

zum Teil sind es auch elegische oder idyllische Wechselgesänge. Die meisten

tragen Gebetsform und atmen Erhebung, Trost, Gottvertrauen, weshalb man

sie jedem christlichen Gesangbuche einverleiben könnte. Jn den Psalmen zeigt

sich kein bestimmter Rhythmus, kein bestimmtes Metrum, keine dem Auge oder

Ohre wahrnehmbare regelmäßige, absichtsvolle Wiederkehr betonter und unbetonter

Silben; vielmehr liegt ihr Rhythmus im Parallelismus der Glieder (I 13. 24

und I 392. 393), in ihren parallelen Sätzen, weshalb man sie nicht selten als

Wechselgesänge (d. h. als Gesänge, bei denen zwei Halbchöre, oder auch Geistlicher |#f0556 : 534|



und Gemeinde im Singen abwechseln) komponiert hat. Beispielsweise

zeigt der 38. Psalm in schönster Weise die Einteilung in parallele Halbverse:

I. A. Herr, strafe mich nicht in Deinem Zorn, B. Und züchtige mich nicht in Deinem Grimm. II. A. Denn Deine Pfeile stecken in mir, B. Und Deine Hand drücket mich u. s. w.



Man vgl. auch die Mendelssohnsche Übersetzung von Psalm 42 u. 43,31:

A. Gleich wie lechzet ein Reh nach klarem Quell, B. Also lechzet mein Herz nach Dir, o Gott &c.



dann die dreimalige Unterbrechung mit einem Refrain von fünf kurzen Zeilen:



Warum bist Du so beklommen,

Herz! warum so ungestüm?

Verlaß Dich nur auf Gott!

Einstens werd' ich ihm noch danken,

Meinem Retter, meinem Gott!



Einige Psalmen des alten Testaments sind dramatisch, z. B. Psalm 20,

118 &c.; andere sind rein episch, z. B. 114 &c.; andere didaktisch; die meisten

sind tief lyrisch.



Durch die musikalische Komposition der Psalmen wurde von jeher eine

große Wirkung erreicht. Diese Komposition erfolgte in der Regel in Motetten=

oder Kantatenform. Man bezeichnete auch das so entstandene Musikstück mit

dem Namen Psalm und unterschied nur je nach dem Jnhalt: Bitt=, Lob=,

Bußpsalmen &c.



Die wirkungsvollsten Psalmen schuf von den Älteren Marcello, von den

Neueren Kapellmeister Fr. Schneider in Dessau († 1853), Mendelssohn-Bartholdy,

Liszt u. a. (Von freien Textbearbeitungen vgl. I 50.)



§ 198. Die Kantate.



1. Kantate (ital. cantate von cantare) ist dem Wortsinn nach jedes

größere elegische, religiöse Gesangsstück. Jm heutigen, bestimmten Sinn

versteht man jedoch darunter eine in Musik gesetzte größere Dichtung

lyrischen Charakters, welche Arien, Duette, Recitative, Chöre &c. enthält

und unter Jnstrumentalbegleitung zum Vortrag gelangt.



2. Es giebt neben den kirchlichen Kantaten auch weltliche.



1. Jn Hinsicht auf Begriffsbestimmung der Kantate herrschte bis zur

Stunde große Unklarheit. Die einen (z. B. Sulzer in feiner Ästhetik) nennen

sie ein kleines Musikstück von rührendem Jnhalt, die andern (z. B. Zedler

in Halle) ein langes Musikstück, dessen Text italienisch sei u. s. w. Wieder

andere bezeichnen jedes größere religiöse oder elegische Gesangsstück als Kantate,

sofern dieses Stück nicht als Motette, Sanktus &c. hinreichend charakterisiert sei.

Jn früherer Zeit nannte man Kantate jedes Werk, das sich nicht direkt an die

Worte der beiden Testamente anlehnte oder seinen Stoff aus denselben entnahm, |#f0557 : 535|



aber doch kirchliche Ereignisse in freier poetischer Form darstellte, z. B.

Der Ostermorgen von Ramler (komponiert von Neukomm). Jm Mittelalter

nannte man auch ein Werk religiösen und auch andern Jnhalts Kantate zum

Gegensatz von Sonate (von sonare), die nur für Jnstrumente geschaffen war.



Wir verstehen unter Kantate ein Oratorium (§ 202 d. Bds.) mit durchaus

lyrischem Gehalt ohne jegliche Handlung der Personen. Das unterscheidende

Grundwesen liegt also im vorwaltenden Lyrischen, das nur nicht ein einzelnes

Hauptgefühl für sich in Anspruch nehmen darf, wie das Lied oder der

Choral, sondern das mit kurzer Erzählung oder auch mit einer den Gefühlscharakter

wahrenden Reflexion verbunden ist, so daß der Jnhalt dramaähnlich

wird. Die Kantate hat also lyrischen Charakter und äußerlich dramatische Form;

die Empfindungen des Dichters sind bei ihr verschiedenen Personen in den

Mund gelegt.



Zu bemerken ist, daß verschiedene Komponisten auch noch die Bezeichnung

Kantate für Gesangsstücke wählen, welche für außerordentliche Gelegenheiten

bestimmt sind; sie unterscheiden demnach: Einweihungs=, Friedens=, Hochzeits=,

Erntekantaten &c. Hierher sind Bachs Kirchenkantaten zu rechnen, welche die

besonderen kirchlichen Feste feiern, aber großenteils lediglich lyrischen Jnhalts

und Charakters sind.



Kleine Kantaten, welche nur für eine Singstimme mit zarter Begleitung

geschrieben sind, nennt man Kantatinen, Kantatillen, Kantatilenen &c.



2. Jhren Aufbau ins Auge fassend kann man die kirchlichen und die

weltlichen Kantaten als lyrisch=dramatische Gesangstücke mit Jnstrumentalbegleitung

betrachten, die aus Chor, Recitativ, Arie und Ariette und Ensemble bestehen.

Sie beginnen zunächst mit dem rhapsodischen Vortrage (Recitativ), der

auf das eigentliche Melos vorzubereiten hat und in seinem eingelegten Arioso

die Melodie noch nicht selbständig werden läßt. Die Kavatine (ausgeführter

als das Arioso, ohne Refrain und ohne Sonderung in zwei Hauptteile) geht

der Arie häufig voraus. Diese gestaltet sich nun zum Duett, Terzett, Quartett &c.

Zur Entfaltung höchster Begeisterung tritt noch der Chor hinzu.



Die weltliche Kantate erscheint uns wie ein Mißbrauch der geistlichen, da

die weltlichen Stoffe größere Anforderungen an die Phantasie machen und

die Entfaltung des Gemütslebens erschweren. Zweifellos drängen Stoffe wie

„Der Raub der Sabinerinnen“, oder „Alarich“ nach der Bühne hin und sind

dem Charakter der Kantate wenig zusagend, da das lyrische Element lediglich

auf die musikalische Aufführung hinweist.



Zur Litteratur der Kantate.



Als Erfinder der Kantate hat man Carissimi genannt, der jedoch nur

Verbesserer der Kammerkantate ist. Andere nannten Barbara Strozzi, welche 1653

Kantaten herausgab. Burnay will jedoch Kantaten schon aus dem Jahre 1638

entdeckt haben. Erweislich ist, daß die Kantate stets mit der Entwickelung der

Oper Hand in Hand ging; überall bringt sie in jeder Zeit eine der Oper

gleiche Art dramatischer Recitation und dramatischer Melodieführung.

|#f0558 : 536|



Als hervorragende Kantatendichter sind von den Jtalienern zu nennen:

Zeno, Rolli, Metastasio; von den Engländern: Pope und Dryden; von den

Deutschen: der oben genannte Ramler (Tod Jesu, komponiert von Graun,

welche Kantate wegen ihrer Ausdehnung und ihrem dramatischen Anhauch zuweilen

auch als Passionsoratorium bezeichnet wird), Tiedge, Goethe (Erste Walpurgisnacht,

komponiert von Mendelssohn), Gerstenberg, Schiller, Bürde,

Niemeyer, Platen (Die Christnacht), J. Jakobi, Krummacher (Geburt Jesu),

Herder (Oster-Kantate), Ebeling, Pölitz, Smets, Meißner, Hamerling (Die

7 Todsünden, eine aus 3 Abteilungen bestehende Kantate), Seidl (Die vier Menschenalter),

Fr. Storck (Oster-Kantate) &c.



Zu den berühmtesten Kantaten zählt Händels Alexanderfest, sowie Seb.

Bachs Saba-Kantate (beste Ausgabe von Rob. Franz), die wir als Musterbeispiel

empfehlen möchten. Sie zeigt die Eigentümlichkeit, daß nicht allein die

Jnnerlichkeit der Stimmen mit ihren subtilsten Regungen bis ins kleinste Detail

in den Tönen sich ausdrückt, sondern auch die sie begleitenden oder begründenden

Vorstellungen von Dingen und objektiven Vorgängen in Tonbildern hingezeichnet

werden. Ein besonderes Gewicht ist freilich auf die richtige Deklamation

und Phrasierung des größten musikalischen Dichters und Deklamators

Bach zu legen.



§ 199. Die Passion.



1. Unter Passion (von patior, Stamm ΠΑΘ == leiden, erdulden)

versteht man eine dramatische Kantate, welche ausschließlich den Tod

Jesu zum Gegenstand hat und mittelbar dem kirchlichen Kultus dient.



2. Anläufe zur Passion wurden schon frühe gemacht. Erst

Heinrich Schütz († 1672) gab ihr eine feste Gestaltung und wurde somit

ihr Begründer.



3. Seb. Bach ist ihr Vollender. Seine Matthäus-Passion ist bis

heute das unerreichte Muster dieser Gattung geblieben.



1. Die Passion ist die musikalische Darstellung des Leidens und Sterbens

Jesu Christi nach den Worten der Evangelisten. Durch einen der Evangelisten

wird das Leiden Christi erzählt, und die Reden desselben, wie die Reden der

beim Leiden gegenwärtigen Apostel und Frauen werden von ebensovielen Personen

gesungen. Somit ist die Passion der Hauptsache nach episch, der Form

nach dramatisch. Sie nimmt alle bekannten Musikformen in sich auf: Motette,

Gemeindegesang und die sämtlichen Teile der Kantate mit dem Recitativ.



2. Das dramatische Element wurde bei Mitteilung des Leidens Jesu

schon sehr frühe in den Gottesdienst gezogen. Anfänglich recitierten Priester

in Meßgewändern die Reden Christi &c., während ein Sängerchor das Volk

darstellte.



Daraus entwickelten sich ebenso die Passionsspiele, wie die musikalische

Passion.

|#f0559 : 537|



Jm 16. Jahrhundert führte man die Passion durch einen Chor oder

durch 2 Wechselchöre aus.



Stephani (1570), Vopelius (1682) u. a. recitierten die Worte der

Evangelisten und gaben die übrigen Reden 2, 3 und 4 stimmig oder durch

den Chor, setzten Schlußchöre hinzu und begannen mit einem von der Gemeinde

zu singenden Choral.



Erst Heinrich Schütz (1580─1672) gab der Passion (nach Analogie

der neu entstandenen Oper) eine erweiterte Form, indem er die Einzelreden

im ariösen Recitativ einführte, die Gemeinde in lyrisch=epischen Anfangs= und

Schlußchören auftreten ließ und die Reden der Jünger, wie der Nebenpersonen

in Chören zum Ausdruck brachte. Nach ihm wurde der Einzelgesang wesentlich,

und die unterbrechenden Chöre, Recitative und Arien dienten zur dramatischen

Belebung.



So wurde durch Schütz (vgl. S. 517 d. Bds.) die Passion eine

Art geistliche Oper ohne Handlung.



Händel baute darauf weiter und dramatisierte mehr. Die Chöre seines

Messias sind wie für die Ewigkeit gefügt, und deren Lebenskraft ist trotz der

über sie hinübergerollten anderthalb hundert Jahre noch so gut wie unangetastet.

Mit Wohllaut getränkt, bringen auch die Einzelgesänge die Fähigkeit der Stimme

zur freiesten wirkungsvollsten Entfaltung, sprechen sie zugleich durch die Kraft

und Jnnigkeit des Ausdrucks zum Gemüt. Wenn die Sopranstimmen im Messias

den Satz einführen: „Denn es ist uns ein Kind geboren“ ─ ist es, als ob

sie uns wirklich das Christkind mit herzinnigem Wohlgefallen zeigten. Und wie

großartig wirkt heute noch sein feuriges Hallelujah!



3. Wenn auch Händels unvergleichlich pompösen Chöre in ewig frischer

Pracht fortbestehen werden, so ist er doch nach Seite der geistigen Vertiefung, wie

in den schablonenhaften, aus je zwei sich wiederholenden Sätzen bestehenden Einzelgesängen

von Bach übertroffen worden. S. Bach legte in den Passionen

den wortgetreuen Bibeltext zu Grunde, charakterisierte die einzelnen Personen

in ihren Gesängen, fügte dramatisch wirkende Volkschöre ein und gab der Passion

auch für den Protestantismus eine wirklich erbauliche gottesdienstliche Bedeutung.

Gewaltig wirkt seine Johannis-Passion, noch gewaltiger seine Matthäus=

Passion.
„Jch war lange vor der Aufführung von dem Werke so erfüllt,

daß ich Tag und Nacht meine Gedanken nicht von ihm lösen konnte“, schreibt

der Kenner Professor Marx in seinen Erinnerungen. „Hier war erfüllt,

was mir längst als Jdeal der Komposition namentlich für Kirchenmusik vorgeschwebt

hatte: ein von der Heiligkeit der Aufgabe ganz durchdrungener, der

Wahrhaftigkeit und Erhabenheit jener wunderbaren Überlieferungen gänzlich und

in Treue hingegebener Geist einer Sprache, die sich nicht genügen ließ am

Durchtönen des Worts, sondern in der Belebung und Umtonung seine Auslegung

und Erfüllung gab, ─ eine Versenkung in jene Vorgänge, welche sich

teilweise in vollendeter Dramatik als gegenwärtig geschehend vor unsere Augen

stellt.“ Das Gedicht zur Matthäus-Passion von unserem deutschen Picander

(mit eigentlichem Namen Henrici) trägt alle Zeichen seiner noch wohl bekannten |#f0560 : 538|



Zeit, doch wurde das Wort des Dichters geheiligt durch die Zuthat Johann

Sebastian Bachs, der selbst das, was kein Wort sagt, dem religiösen Herzen,

von dem allein es gefühlt und erraten werden kann, in Tönen der tiefen

Kunst darlegt.



Das Orchester besteht aus zwei Chören der auf beiden Seiten verteilt

stehenden Sioniten und Gläubigen, zwischen welchen der bekannte, das Geheimnis

der Erlösung entfaltende Choral: O Lamm Gottes unschuldig! hervortönt.

Die Sioniten, versammelt, das Leiden ihres Gerechten zu begleiten,

fordern die gläubigen Genossen auf, ein Gleiches zu thun. Dieser Eröffnung

der heiligen Handlung folgt nun die Relation von Wort zu Wort (nach dem

Evangelisten Matthäus); die im Evangelio benannten Personen, durch beide

Chöre unterbrochen, treten indessen selbstredend auf. Als Masse erscheint der

Volkschor (turba), das alte Gesetz. Diesem unduldsam eifernden, kalten, rohen

Haufen gegenüber stehen friedlich, teilnehmend und liebend die Jünger mit

ihrem kleinen Anhange, die erst gegen Ende des ersten Teils lebhaft werden,

da alles verloren ist. Sie bleiben getreu bis zuletzt und begleiten, den Sieg

ihres Glaubens erhoffend, ihren Herrn zum Grabe.



Die Bedeutung der Bachschen Matthäus-Passion reicht weit über das

rein musikalische Gebiet hinaus. Wir erkennen in ihr eine gewaltige kulturgeschichtliche

That, mit welcher der durch die Reformation verjüngte Genius

des Volkes in einer der traurigsten Perioden unserer staatlichen Entwickelung,

allem äußeren Druck und Elend der Zeit zum Trotz, Zeugnis von der unerschöpflichen

Kraft und Fülle seines Wesens ablegt. Jndividuellste Jnnerlichkeit,

quellender Gemütsreichtum, tiefsinniger Ernst, prunklose Strenge und

Schlichtheit der Erscheinung, kurz, was wir als Jnbegriff unserer teuersten,

idealen Habe betrachten, hat hier allgemein gültigen, künstlerischen Ausdruck

gefunden. Von sämtlichen Meistern kirchlicher Kunst hat allein Seb. Bach es

vermocht, die Doppelnatur des Gottmenschen zu vollem musikalischen Leben zu

verkörpern. Was seine Töne wiederspiegeln, ist weder die der Berührung mit

dem Endlichen entrückte Erhabenheit, noch die Schwäche und Gebrechlichkeit

staubgeborener Herzen, sondern die leibhaftige Christusgestalt, die alles Weh

der Erde in sich hineingenommen und durchgelitten, und welche dabei doch

stets als ungetrübter Heiligenschein der Abglanz der himmlischen Heimat umfließt.



Über Bach ist bis in die Neuzeit in der Passion kein Komponist hinausgekommen.





§ 200. Die Messe.



1. Unter Messe (lat. missa, ital. messa) versteht man ebenso den

Hauptteil des katholischen Gottesdienstes, als die Musik und den

Gesang dafür.



Besteht die Musik bloß aus Kirchenliedern oder Chorälen mit oder

ohne Orgel, so nennt man sie Choralmesse; besteht der Gesang aus

polyphon ausgeführten Musikstücken für Chor mit oder ohne Orgel, |#f0561 : 539|



so erhält sie den Namen Vokalmesse figurierten Stils; treten zum Gesang

noch Jnstrumente hinzu, so entsteht die Figuralmesse. Wird die

Messe von mehreren Priestern celebriert, so nennt man sie Hochamt,

missa solemnis, eine Bezeichnung, welche man häufig auch den größer

ausgeführten Messen beilegt.



Der Text der Messe (wie auch des Requiem) ist von der Kirche

für alle Zeiten für unabänderlich erklärt.



2. Die musikalische Messe ordnet die drei Abschnitte der

kirchlichen Messe in 7 Abteilungen an.



3. Die bedeutendsten Komponisten pflegten auch die Messe.



4. Ein epochebildender Meister der neu=kirchlichen Figural-Messe

ist Franz Liszt.



5. Eine besondere Art von Messe ist das Requiem (Seelen= oder

Totenmesse, missa pro defunctis).



1. Das Wort Messe (von missa == missio Entlassung) hängt zusammen

mit der alten Gewohnheit, die sog. Katechumenen (d. i. die für den Übertritt

zum Christentum Vorzubereitenden) vor der Messe mit den Worten: »Ite!

missa est
«, nämlich concio (Geht, die Versammlung ist entlassen) zu entlassen.

Zum erstenmal finden wir das Wort bei Ambrosius in einer dem

griechischen λειτουργία entsprechenden Bedeutung. Mit Gregor I. beginnt die

Ausbildung der Meßopfervorstellung. Jnnocenz III. (1215) nennt zuerst das

Meßopfer eine Wiederholung des Opfers Christi u. s. w.



2. Die musikalische Messe zerfällt, entsprechend den Anfangsworten des

zu singenden Textes, in 7 Hauptabteilungen: 1. Kyrie, Bitte um Erbarmen,

2. Gloria, Gesang der Engel bei Christi Geburt, Lobgesang zur Ehre Gottes,

3. Credo, nizänisches Glaubensbekenntnis, 4. Sanctus, Lobpreis Gottes,

5. Benedictus, Ehre Gottes, 6. Agnus Dei, Bitte um Erbarmen,

7. Dona, Bitte um göttlichen Frieden.



Jn diesen Einzelabteilungen der Messe können verschiedene Einzelgesänge

mit Chören &c. abwechseln.



3. Das Mystische, Hochpoetische der Messe als Hauptteil des katholischen

Kultus bestimmte die bedeutendsten Komponisten von Dufay bis Liszt sich in

diesem Kunstgenre zu versuchen.



Palestrina war der Vollender des polyphonen, durch die Niederländer

eingeleiteten Vokalstils; in ihm feiert die katholische Kirche die Zeit des höchsten,

aus ihrem Geist entstandenen und durch ihn repräsentierten Kirchenmusikstils.

Dieser Stil wurde in der Folgezeit durch die Neapolitaner süßlicher und dem

Ohre wohllautender, aber er büßte auch den strengeren Ernst ein und näherte

sich immer mehr dem Opernhaften. Seine Verweltlichung vollzog sich mit Einführung

der selbständigen Jnstrumentalmusik. Auch Mozarts und Haydns

Messen, so lieblich und angenehm ihre Musik erklingt, tragen nicht das strenge

Gepräge kirchlichen Stils (einzelne Stücke aus dem Requiem oder das Ave

verum
selber vielleicht ausgenommen), vielmehr überwiegt das Weltliche, Opernhafte.

Besser kirchlich ist Cherubini in seinen Messen, wie besonders in seinem Requiem; |#f0562 : 540|



aber auch er stellt den Jnstrumental-Effekt, das Äußerlich-Gemachte zu

sehr in den Vordergrund. Dies thaten mehr oder weniger auch Hummel,

C. M. v. Weber u. a. Selbst Beethovens berühmte Missa solemnis in d-dur,

welche ein geistreicher Kritiker das Zwiegespräch eines gewaltigen frei sich fühlenden

Geistes mit seinem Gotte nennt, darf nur vom allgemein=künstlerischen,

nicht aber vom liturgischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Die Auffassung

ist ganz individuell und faßt den Messen-Text mehr von der künstlerisch poetischen

Seite auf. Nur des früheren Seb. Bachs hohe Messe (H moll) atmet kirchlich

religiöse Stimmung und erzeugt solche, auch wenn wir sie im Konzertsaal hören.

Bernh. Marx nennt sie daher „einen kostbaren Adelsbrief für deutschen Geist

und deutsche Tonkunst, allen übrigen Nationen bisher unerreichbar,“ und der

preußische Minister Bitter setzt in seiner Bachbiographie hinzu: „Bach erhob sich

in diesem großen Werk über das Konfessionelle der äußeren Form; in ihm trat

das rein absolute Christentum in siegender Größe hervor .... Unser Herz ist

gehoben und erweitert, durch die Macht eines großen Genius geklärt, der in

dem Gemälde, das die vorüberrauschenden Töne uns dargestellt haben, ein

Bild der Unendlichkeit, Größe und Allmacht des Herrn aufzurollen wußte,

wie wenige zu finden sein werden.“



4. Jn der Neuzeit war es Franz Liszt, der in Hinsicht der Messe eine

neue Ära begründete, indem er wieder auf Bach und Palestrina zurückging,

und deren Stil mit unseren modernen musikalischen Errungenschaften zu vermählen

wußte. Als Beispiele sind von ihm zu erwähnen: Die Graner Festmesse,

die ungarische Messe, und seine Vokalmessen. Nohl sagt von Liszt: „Er

war es, der nicht eine Reformation des Bestehenden, sondern eine volle Erneuerung

der Sache, ein Schöpfen aus dem Urborn des Lebens der Religion

wie der Musik gab. Jhm stand der Messentext als solcher fest, er modelte

nicht daran, dachte überhaupt nicht, hier Musik zu machen, sondern er gab sich

eine Vorstellung des Jnhalts des heiligen Vorganges und schuf sich daraus ein

Bild in Tönen, wie ein Fra Bartolomeo und Tizian sich eines in Gesichtsausdruck

und Farbe schufen &c.“



§ 201. Das Requiem.



Eine besondere Messe ist das Requiem (Seelen- oder Totenmesse

== missa pro defunctis), welche dem Andenken an Verstorbene geweiht

ist und daher mit den Worten beginnt: Requiem aeternam dona

eis, domine
(Herr, gieb ihnen die ewige Ruhe)!



Das Requiem besteht aus: 1., dem eigentlichen Requiem (Bittgebet für

die Toten um ewigen Frieden), 2., Dies irae (Betrachtung des jüngsten Gerichts),

3., Domine (Gebet für die Verstorbenen), 4., Sanctus (Lobpreis

Gottes), 5., Agnus dei (O Lamm Gottes, gieb ihnen den ewigen Frieden).

Unterabteilungen sind das Benedictus, Lux aeterna und Libera.



Mozarts Requiem ist eine kirchliche Scene.



Jn allerneuester Zeit hat ein Requiem des berühmten Opernkomponisten |#f0563 : 541|



Verdi großes Aufsehen erregt. Er hat dabei das Theater von der Scene in

die Kirche verpflanzt. Wunderbar, daß ein Mann, der sein Lebelang der Oper

gedient, plötzlich den Ton des Grabliedes anstimmt. Er, der musikalische Führer

seiner Nation, hat sich dadurch von einseitiger Verfolgung der Wege seiner Vorgänger

Bellini und Donizetti befreit, um sich dem deutschen Stil und

der deutschen Empfindungsweise anzuschließen. Sein Streben war offenbar

auf Entwickelung polyphoner Sätze gerichtet, wie wir diese bei Heinrich Schütz,

Bach, Händel, Haydn
und Mendelssohn u. a. finden. Der Schlußchor

Libera me domine“ zeigt schöne Ansätze zum fugierten Stil in der schwungvollen

Weise unseres deutschen Kirchenstils.



Wenn Verdi auch in Stileinheit, Stimmung und Kunstform das deutsche

Element lange nicht erreicht, wenn sein Werk dem Hauptwerk der Neuzeit, dem

Requiem von Fr. Kiel, auch nicht gleichkommt, so ist er immerhin für sein

Volk (Jtalien) auf dem Durchbruch zur ernsten Kunst (in der vollen Wandlung,

welche sich in der Musikwelt Jtaliens vorzubereiten scheint) ein Bahnbrecher,

so ist sein Requiem jedenfalls eine Schöpfung, welche den Beginn

einer Epoche neuen Strebens, neuer Richtung anzeigt.



Als Requiem in freierem Stil ist Brahms' deutsches Requiem zu nennen;

den katholischen Standpunkt wahrt Franz Lachners Requiem &c.



§ 202. Das Oratorium.



1. Unter Oratorium versteht man eine dramatische Kantate im

großen Stil und von weiter Ausbreitung, oder besser: ein in Musik

gesetztes geistliches, dramatisches Gedicht, dessen Stoff dem Alten oder

Neuen Testament oder dem religiösen Leben entlehnt ist: ein musikalisches

Drama ohne äußerlich sichtbare Handlung.



2. Jm Oratorium ist die Musik von größter Bedeutung: sie ist

episch im Recitativ, lyrisch und dramatisch in den übrigen Formen.

Die Chöre, welche in ihrer dichterischen Bedeutung nicht selten an den

griechischen Chor erinnern, können teils lyrisch teils dramatisch wirken.

Dramatisch sind sie besonders bei den Oratorien Händels.



3. Das Oratorium als höchste Gattung der religiösen Musik und

als Blüte der kirchlichen Formen entkeimte den geistlichen Schauspielen.

Philipp Neri (um 1558) war sein Begründer. Jn Deutschland bildete

es Heinr. Schütz weiter fort. Sein Vollender war Händel.



4. Die Aufgabe des Oratoriumdichters wird durch die Rücksichtnahme

auf den musikalischen Aufbau desselben begrenzt.



1. Der Name Oratorium bedeutet ursprünglich Kirche, Kapelle oder Betsaal,

weil im Betsaal Philippo Neri's in Rom die erste Form des Oratoriums (bestehend

in dialogisierten, biblischen, in Musik gesetzten Geschichten) aufgeführt

wurde. „Man ging ins Oratorium!“ Dies bedeutete, man ging zur Aufführung

in den Betsaal. ─ Von der Kantate unterscheidet sich das Oratorium |#f0564 : 542|



durch das Überwiegen des dramatischen Charakters, sowie durch die größere

Bedeutung des Jnhalts, dessen Ausgang Sieg oder Untergang der einen oder

andern Partei ist, wie im Drama.



2. Da die Musik im Oratorium der durch den Stoff verkörperten Jdee

einen malerischen Ausdruck geben soll, so hat sie keine geringere Bedeutung,

als ihr z. B. Wagner für die Oper stellt (vgl. § 189); ihr fällt die psychologische

Motivierung, Charakteristik und die Darstellung der Stimmung zu,

weshalb sie ausgedehnten Gebrauch vom Recitativ und von der Arie, vom

Duett und Ensemble macht und den Chor als Lied, Kanon, Fuge verwertet,

sowie durch die Jnstrumentalmusik alle möglichen, künstlerischen Mittel entfaltet.

Trotzdem das Oratorium keine Bühnenaufführung ist, kann es mit Fug und

Recht als ein geistliches Musikdrama bezeichnet werden.



3. Wie das Drama dem Epos und den lyrischen Gattungen nachfolgte,

so bildet das Oratorium den Abschluß der kirchlichen Formen. Es hat sich

aus den, in den Anfängen mit Gesängen (Volksliedern) verbundenen geistlichen

Schauspielen des 13. Jahrhunderts entwickelt, welche von Pilgern und andern

Darstellern auf Straßen, Kirchhöfen und in den Betsälen der Kirchen (den sog.

Oratorien) aufgeführt wurden. Seine eigentliche Entstehung oder kunstvollere

Behandlung verdankt es ─ wie erwähnt ─ Philipp Neri in Rom, der

dort 1558 die Congregazione dell' oratorio von Animuccia, Nanino, Palestrina

&c. veranlaßte. Jn seiner, der Ausbildung der großen ernsten Oper

fernstehenden Entstehungszeit vertrat es diese und diente im technischen Sinne

zu ihrer Vorbereitung. Je ernster, würdevoller sein Jnhalt ist, desto enger steht

es zur kirchlichen Kunst in Beziehung; je mehr aber in ihm auch weltliche

Dinge neben religiösen ihre Vertretung finden, desto näher kommt es der Oper.



Seine Weiterbildung gab ihm in Deutschland Heinr. Schütz, der Begründer

der Passion und der Oper (vgl. S. 517 und 535 d. Bds.), welcher

die Arie und die instrumentale Begleitung hinzutreten ließ.



Zur Vollendung und Reife nach ideal=kirchlicher Seite wurde das Oratorium

erst durch Händel gebracht, durch den in Verbindung mit Bach die

Epoche der kirchlich protestantischen Tonkunst einen Abschluß erhielt. Händel,

der erst gegen das Ende seines Lebens Oratorien schrieb, lehnte sich an die beweglichen

Formen der ital. Oper und verlieh dem Oratorium durch alle Kunst seines

gewaltigen Kontrapunkts und durch Einfügung seiner unvergleichlichen Chöre

dramatische Kraft, Lebendigkeit und ergreifende Tiefe des musikalischen Ausdrucks.

Sein Samson (1742), sein Judas Maccabäus (1746), sein Josua (1747)

und vor allen sein Messias bedeuten die höchste Meisterschaft auf dem Gebiete

des Oratoriums. (Er soll die Absicht gehabt haben, seine Oratorien in

London auf der Bühne zur lebendigen Darstellung zu bringen, ja, er machte

Versuche damit zunächst durch seine Esther, dem ersten Werke dieser Gattung.)

S. Bach verstand es dazu, den protest. Choral im Oratorium noch für eine

weihevolle gläubige Stimmung zu verwenden. Erreicht hat diese beiden Tonkünstler

Keiner, obwohl Mendelssohn, Kiel, Meinardus und Fr. Liszt

Ausgezeichnetes darin geleistet haben. Der letztere wollte das Oratorium (vgl. |#f0565 : 543|



seine bedeutendsten Oratorien Christus und Elisabeth) vom katholischen Standpunkt

regenerieren und mit modernen Formen verschmelzen.



4. Der Dichter von Oratorien sollte dem Oratorienkomponisten seine Arbeit

weder durch zu breite Erzählung, oder verwickelte Handlung, oder zu lang ausgesponnene

Gleichnisse, noch auch durch zu abstrakte didaktische Reflexionen erschweren;

vor allem aber sollte er den psalmartigen Rhythmus vermeiden, da

derselbe die logischen Einschnitte willkürlich setzt und dem Musiker die Anhaltspunkte

raubt. Biblische Figuren sind wegen ihrer Bekanntschaft empfehlenswert.

Oratorientexte in dieser Richtung schufen Ramler, Niemeyer und die

Verf. der im folgenden Paragraphen (203) unter Litteratur genannten kirchlichen

Oratorien.



§ 203. Analyse vorzüglicher Oratorien der Neuzeit, sowie

Litteratur des Oratoriums. Weltliche Oratorien.



1. Um einen praktischen Einblick in den Aufbau einiger der bedeutendsten

Oratorien zu veranlassen, geben wir präzise Analysen derselben.

Jene, welche Oratorien dichten wollen, mögen sich behufs Vergleichung

die leicht zugänglichen Textbücher verschaffen.



2. Den Analysen lassen wir einen Überblick über die wesentliche

Litteratur des Oratoriums folgen.



3. Es giebt auch weltliche Oratorien.



1. Das OratoriumPaulusvon Mendelssohn. Dieses herrliche,

aus zwei Teilen bestehende Oratorium ist ebenso für die Aufführung in

der Kirche, wie im Konzertsaal geschaffen. Seit seiner ersten Aufführung im

Jahre 1836 hat es in der gesamten musikalischen Welt ungeteilte Bewunderung

hervorgerufen. Es ist im Geiste der Passion Bachs und des Messias von

Händel geschrieben, wobei es jedoch unserer modernen Melodik Rechnung trägt

und an Stelle der alten strengen Manier Bachs und Händels melodisch weiche,

wohlklingende Formen setzt, wie es auch eine vollkommene, den modernen Anforderungen

Rechnung tragende Jnstrumentation bietet.



Der Text erzählt nach dem Neuen Testament die Bekehrung des Saulus.

Sopran und Tenor übernehmen recitativisch die Erzählung, während der Chor

das handelnde Volk und den Zuschauer darstellt. Eigenartig ist Mendelssohns

Verwertung des vierstimmigen Frauenchors, der von geisterhaft wirkenden Blasinstrumenten

begleitet wird. Er läßt durch diesen Chor dem Zorn Zebaoths

Ausdruck geben, und erreicht so eine hohe Wirkung. Das Schönste des 1. Teils

ist die Arie des Paulus: Gott sei mir gnädig; worauf ein groß angelegter,

gewaltiger Chor (O welch eine Tiefe des Reichtums) diesen Teil schließt.



Der 2. Teil beginnt mit einem Recitativ. Paulus geht zu den Heiden.

Chöre, Ariosos und Recitative wechseln. Dazwischen tritt der innige Choral:

„O Jesu Christe, wahres Licht.“ Paulus wirkt Wunder. Heiden (ein Chor,

der sich ausnimmt, wie ein heidnisches Opferfest) beten ihn an. Juden und |#f0566 : 544|



Heiden erheben sich nun gegen ihn. Aber der Herr stärkt ihn in der herrlichen

Kavatine: Sei getreu bis in den Tod. Den Schluß bildet ein

wunderbar ergreifender, großartiger Jubel- und Siegeschor der Kirche Christi

über ihre Gegner.



Das OratoriumChristusvon Kiel. Der Text dieses gewaltigen

Oratoriums ist mit Ausnahme von zwei Chorälen aus den Worten der Bibel

zusammengestellt. Christi Einzug in Jerusalem, das Ostermahl, die Nacht auf

dem Ölberge, die Verleugnung durch Petrus, die Scenen vor dem Hohenpriester

und Pontius Pilatus, die Kreuzigung und Auferstehung bilden den Jnhalt.

(Fast den gleichen Stoff behandeln die beiden Passionen von Bach, sowie der

„Messias“ von Händel.)



Kiel, der Komponist der großen Formen katholischen Kirchenstils, der

eine Messe, ein Requiem, ein Tedeum, ein Stabat geschaffen, hat den Stoff

in neuer Weise behandelt. Er hat nunmehr von der spezifisch protestantischen

Gattung des Oratoriums Besitz ergriffen, was für seine Leistungsfähigkeit schwerer

wiegt, als seine übrigen Schöpfungen, da dieses Oratorium, neben großer sicher

waltender Technik, Wärme der musikalisch=religiösen Empfindung zeigt. Sein

Kontrapunkt erscheint als naturgemäße Form musikalischen Denkens und Empfindens.

Ein Vorzug ist, daß das sinnig malende Orchester sich bei ihm nie

in den Vordergrund drängt, sondern selbst nur die Staffage für den Gesang

bleibt. Dies ist überhaupt ein Kriterium für die protestantische Kirchenmusik;

sie will Klanggepränge im Sinn und Geist des katholischen Kultus vermeiden.



Meinardus' protestantisches OratoriumLuther in Worms“.

Dieses Oratorium wurde durch Liszt angeregt, der zu Meinardus sagte: „Sie

sind Protestant und sollten ein Oratorium: Luther in Worms schaffen.“

Meinardus lieferte nun dieses Oratorium großen Stils. Jm ersten Teil schildert

er Luthers Fahrt nach Worms. Die tiefreligiösen Empfindungen, welche das

deutsche Volk in allen Kreisen erfüllen, die Sehnsucht nach dem Befreier vom

Joche des römisch=kirchlichen Formalismus, die freudige Hingabe an den Reformator,

kommen in den Chorgesängen und Einzelpartien der Pilger und Pilgerinnen,

der Katharina und ihrer Genossinnen, Ulrich von Huttens und seiner

ritterlichen Begleiter zur Geltung, während die innige und selbstlose Glaubensgewißheit

Luthers in seinem Gebet und in der Zurückweisung der Verlockungen &c.

geschildert wird.



Der zweite Teil beginnt mit einer schönen Begrüßung des Kaisers durch

das Volk. Er stellt die Reichsversammlung dar, die Klage der Kirche gegen

Luther, das Verhör, die Acht, den inneren Triumph des Reformators, der die

Ächtung seiner Person mit der Ächtung der Menschensatzung und des Buchstabendienstes

erwidert, und jenseits des Kampfes die Versöhnung feiert. Das

Ganze schließt in der Siegeszuversicht des Liedes: „Ein' feste Burg,“ welches

Luther intoniert, und in welches die Seinigen begeistert einstimmen. Es fehlt

nicht an lebendigen Beziehungen zur Gegenwart. Das Werk ist dabei durchaus

erhaben über jede kleinliche, tendentiöse Färbung. Der Text ist von Roßmann=

Dresden und lehnt sich an die geschichtliche Überlieferung an; die historischen |#f0567 : 545|



Worte des Kaisers, des Kurfürsten Friedrich (des Weisen), Freundsbergs, Huttens,

Luthers selbst sind überall beibehalten. Wo der Dichter frei erfinden mußte,

war er redlich bemüht, durch Zurückgreifen auf die Kirchenlieder der Reformationszeit

die Stimmung derselben in unmittelbarster Weise zu vergegenwärtigen.





2. Zur Litteratur des Oratoriums erwähnen wir außer den Genannten:

Händel (Jsrael in Ägypten), Haydn (Schöpfung), Beethoven (Christus am

Ölberge), Schicht (Ende des Gerechten), Rieß (Sieg des Glaubens), Seb. Bach

(Weihnachts-Oratorium), Fr. Schneider (Das Weltgericht, Die Sündflut, Pharao,

Das verlorene Paradies, Christus das Kind, Christus der Meister), Klein

(Hiob, Jephta, David), A. Späth (Judas Jscharioth, Petrus), Spohr (Die

letzten Stunden des Heilands), Graun, Rolle, Homilius, Doles, J. Ad. Hiller,

Naumann, Reißiger, Marx, Rheinthaler, Leonhardt, Mangold, Markull, Rubinstein,

Franz Liszt, Kiel, Meinardus u. a., besonders viele Jtaliener. (Vgl.

Wangemanns Arbeiten über das Oratorium, sowie Köchlys „Pflege der

Musik &c.“) Gewaltigen Erfolg erreichte Mendelssohn-Bartholdy mit seinen

Oratorien Paulus, und Elias, in welchen er mit ergreifender Melodik die

religiöse Stimmung hervorzuzaubern verstand.



3. Neben den geistlichen Oratorien giebt es auch weltliche Oratorien,

z. B. Haydns Jahreszeiten, welche die Vorkommnisse im Winter,

Sommer &c. darlegen und wie das kirchliche Oratorium mit einem religiösen

Chor schließen.



Löwe war einer der ersten, welche nach Haydn den ausschließlich biblischen

Stoff verließen. (Vgl. z. B. Die Siebenschläfer.) Ferd. Hiller (Ver sacrum)

nebst andern, und namentlich in neuester Zeit Vierling, Max Seifriz (Ariadne

auf Naxos) &c. schufen eine Art Oratorium, welches seinen Stoff aus der

Geschichte, aus der Mythologie u. s. w. entnahm. Noch eine andere Gattung

Oratorien aus neuerer Zeit rühren von Bartholom. Ponholzer her; es sind

Oratorien mit Dialog, Deklamation, Chören, lebenden Bildern. Jch erwähne

sein: Die Auferstehung des Herrn (Mus. von Kammerlander); Die Offenbarung

des Herrn (Mus. von Kempter); Das Pfingstwunder (Mus. v. Widmann);

Der verlorene Sohn &c. Auch einige Mischarten sind zu erwähnen, die man

ebensogut den Oratorien als den Kantaten unterordnen kann, und die ihren

Jnhalt aus der Sage schöpften. Jch nenne von den bedeutenderen: Mendelssohns

Walpurgisnacht, Schumanns „Der Rose Pilgerfahrt“, „Paradies und die

Peri“.

|#f0568 : 546|



Schlußbemerkung. ──────



Mit diesem Bande endigt die Lehre von den Dichtungsgattungen

und der theoretische Teil unserer Poetik. Ein noch folgender, für sich

abgeschlossener,
ganz kurzer Supplementteil hat sich die Aufgabe

gesetzt, das in den beiden vorliegenden Bänden Gebotene zu verwerten,

zu vertiefen, praktisch anzuwenden, und in methodisch geordneten

Übungen die Kunstgriffe zu zeigen, deren sich der Dichter bei seinem

Schaffen bedient, mit andern Worten: in die Technik der Poesie

einzuführen und der lernbaren Seite derselben praktisch näher zu

treten.

|#f0569 : E547|



Sach- und Namensregister. ──────



Vorbemerkung. Einzelne, für den wissenschaftlichen Zusammenhang nur

vorübergehend erwähnte Namen dieses Werks, ferner jene der Vollständigkeit wegen

aufgeführten Namen aus fremden Litteraturen (II § 77), endlich aber die sämtlichen

§ 18 des I. und § 178 des II. Bds. verzeichneten Namen mußten zur Vermeidung

allzugroßer Ausdehnung dieses Registers weggelassen werden. Sollte

daher irgend ein Name in diesem Register vermißt werden, so ist derselbe doch

leicht zu finden: in den bestimmten, I S. 42 ff. aufgerollten Perioden, oder

in § 77 S. 153 des II. Bds., ferner unter Litteratur der betreffenden Dichtungsgattungen

im II. Bde., endlich II S. 500─502, wo die im Text dieses Werks nicht

genannten Dramatiker der Gegenwart verzeichnet wurden.



[Beginn Spaltensatz]

Aar I 462. 502. 635. 661. 682. II 230.

273.



Accent I 215. 249. 253.



Accent und Quantität I 221. 225. 228.

232.



Accentuierende Tonmessung I 217. 219.



Accentuierendes Prinzip und der Choral

II 531.



Accentverse I 361.



─ Heines Accentverse I 365.



─ Schillers Accentverse I 367.



─ Einteilung derselben I 369.



─ symmetrische, I 370.



─ strophisch vereinte, I 373.



─ freie, I 376.



Achart II 368.



Adam II 511. 516.



Adami II 387.



Adelmann II 369.



Adolay II 387.



Adolphi I 177. 700.



Adonischer Vers I 339.



Afzelius II 97.



Aimars II 387.



Akatalektische Verse I 305.



Akrostichon I 577.



Akrostrophe I 577.



Alarçon II 387. 400.



Albert II 353.



Alberti II 504.



Albertini II 126. 131.

[Spaltenumbruch]



Albini II 130.



Albrecht I 673.



Alexander II 104.



Alexandriner I 315.



Alexandrinerstrophen I 583.



Alexis II 94. 102. 372.



Alkäische Strophe I 521.



Alkäischer Vers I 348.



Alkäus II 153.



Allegorie I 173. II 175.



─ metaphorische I 175.



─ anthropomorphische I 175.



Allitteration (Stabreim) I 395. 396. 417.



─ als lautmalende Figur I 403.



─ ihre Formen I 407 ff.



Allitteration, ihre historische Entwickelung

I 412.



Allmers I 663.



Allusion I 169.



Allwey II 388.



Almar II 400.



Alpenburg II 244.



Althochdeutsche Reimpaare I 599.



─ Übergang zur Strophik der mittelhochdeutschen

Zeit I 600.



Alxinger II 321.



Amalie, H. z. Sachsen II 499.



Amaranth II 322.



Amphibrachys I 301.



Amphimacer I 301.



Amthor II 546.

[Ende Spaltensatz] |#f0570 : 548|



[Beginn Spaltensatz]Amyntor II 387.



Anadiplosis I 187.



Anagramm II 182.



Anakoluthie I 214.



Anakreon II 153.



Anapäst I 298.



Anapäste, gemischte I 347.



Anapästische Kompositionen I 274.



Anapästische Verse I 341.



Anaphora I 185.



Andersen II 262.



Äneis II 332.



Angely II 486. 488. 506.



Annominatio I 191.



Antanaklasis I 193.



Anthony II 387.



Antibacchius I 301.



Antiklimax I 204.



Antispast I 301.



Antistrophe I 490.



Antithese I 194.



Antike Maße im Verhältnis zum deutschen

Versbau I 303.



Antonomasie I 169.



Anzengruber II 387. 400. 473.



Äolische Verse I 340.



Apel II 182. 249.



Aposiopesis I 214.



Apostrophe I 181.



Archaismus I 112.



Archilochischer Vers I 361.



Ariosts rasender Roland II 315.



Aristophanes I 100.



Aristoteles als erster Begründer der

Poetik I 3.



─ Nachahmung, das Ziel aller Kunst

I 144.



─ über die Handlung im Drama II 31.

35. 40.



─ über die Charaktere II 413.



─ über die Katharsis II 424.



─ über den Charakter des Helden II

426.



─ über die poetische Darstellung II 451.



Arja II 245.



Armand II 364.



Arndt I 369. 373. 375. 604. 641. 647.

649. 652. 656. 659. 669. 671. 681.

685. II
87. 88. 94. 97. 102. 104.

123. 125. 128. 258.



Arnim I 640. 685. II 262. 400. 473.



Arnulph II 488.



Arsis I 215.



Arsische Behandlung der Tonsilben I 238.



Artner, v. II 218.

[Spaltenumbruch]



Artus I 45.



Asklepiadeische Strophe I 522.



Asklepiadeischer Vers I 333.



Äsop II 165.



Assonanz I 394. 417.



─ geschichtliche Entwickelung I 423.



Ast II 458.



Asteismus I 199.



Ästhetik, Begriff und Entwickelung I 75.



─ Jdeal derselben I 142.



Ästhetisches im Verhältnis zum Ethischen

I 85.



Astow II 400.



Asyndeton, das I 184.



Auber II 516.



Auer, v. II 387. 400.



Auerbach II 232. 348. 352. 355. 364.

371. 375. 400. 499.



Auersberg II 387.



Auffenberg I 196. 327. 329.



Ausklang, siehe Allitteration I 417.



Ausschmückungselemente I 137.



Avé=Lallemantsche Oktaven I 554.



Avé=Lallemant II 335. 387. 400.





Baader II 244. 245.



Babo II 467.



Bacchius I 301.



Bach, S., als Vollender d. Passion II 537.



II 400. 532. 536. 538. 545.



Bacher II 363.



Bachmann, II 367.



Baggesen II 341.



Bahn II 499.



Ballade II 262. 268.



Ballestrem II 400. 401.



Baltzer I 538.



Banck I 210. 377. 379. II 68. 139. 144.



Barbarismus I 111.



Barde, Bardiët I 25.



Bardiët II 101.



Bärmann II 506.



Barrière II 483.



Barthel I 608.



Bartsch, über Walthers v. d. V. gespaltene

Weise I 632.



I 8. 439. II 279.



Bassewitz II 312.



Bäßler II 328. 346.



Baudissin II 302. 353. 459. 483. 499.



Bauer II 68.



Bäuerle II 486. 491.



Bauermeister II 480.



Bauernfeld I 196. II 191. 480. 481.

499.

[Ende Spaltensatz] |#f0571 : 549|



[Beginn Spaltensatz]Bauhütte I 359.



Baumann II 453. 492.



Baumbach I 586.



Baumgarten I 5. 75.



Bechstein I 667. 757. II 230. 244. 245.

251. 262.



Beck I 593. 596. 733. 736. II 63. 104.

109. 112. 151.



Becker II 63. 102. 322. 367. 400.



Beckmann II 486.



Beda I 227.



Beer II 454.



Beethoven II 504. 509. 540. 545.



Beilhack II 339.



Belani II 387.



Bellini II 510.



Belly II 487.



Belot II 387.



Benda II 504.



Benedix I 7. 304. II 107. 244. 480. 499.



Beneke II 245. 361.



Benzel-Sternau II 399.



Beowulf I 43. 400. II 25.



Bercht I 7. 655. II 139.



Berend I 683.



Berg II 486.



Bergen II 499.



Berger II 387. 400. 498.



Bergk II 285.



Bergsöe II 400.



Berkow II 387.



Berlioz II 516.



Bern 158. 400.



Bernardin II 400. 486.



Bernays, über die Katharsis II 424.



Berthet II 370.



Berthold II 499.



Bertram II 297.



Bertuch II 166. 504.



Beschreibendes Gedicht II 236.



Besseldt I 7.



Besser II 63.



Betonungsprinzip I 231.



Beuthen II 375.



Beyer I 289. II 107. 245. 410. 488. 500.



Bibra II 387. 400.



Biegeleben I 559.



Bienemann II 130.



Biesendahl I 356.



Binder II 154. 192.



Bindewald II 245.



Binzer II 104.



Birch-Pfeiffer II 400. 484. 487.



Birken I 5. 130. II 130.



Birlinger II 96. 97. 245. 246.

[Spaltenumbruch]



Biterolf I 45.



Blanche II 400.



Blanckarts II 63. 64. 107.



Blancke I 762.



Blankvers I 311.



Blechner II 400.



Bloch II 406. 499.



Blondel II 406.



Bluette II 485.



Blum II 367. 498. 506.



Blumauer I 106. 128. 467. 484. 669.

II
. 192 195. 207.



Blumenhagen II 245. 400.



Blumenthal II 207. 422. 488. 499.



Blümner II 195.



Blüthgen I 362. 690. II 400. [I S. 70.

Z. 4. v. u. verbessere: 1844 statt 1814.]



Boas II 328.



Bobertag II 388.



Bode I 113.



Bodenstedt I 30. 160. 431. 534. 538.

555. 556. 586. 588. 682. 720. 733.

737. 746. 748. 752. 753. 757. 758.

II
61. 102. 112. 146. 228. 248. 400.

459. 464. 467. 475.



Bodmer I 53. 468. II 323. 325.



Bogatzky II 130.



Bogulawsky II 326.



Böhm II 409. 479. 488.



Böhme II 97.



Bohrmann II 499.



Boieldieu II 511. 516.



Bolanden II 359. 363. 371. 399.



Bolero I 575.



Bonerius I 47.



Bonitz II 285.



Bonnell I 8.



Booch-Arkossy II 334.



Bormann II 78. 148. 387.



Born II 387.



Börne I 6. II 191.



Bornemann I 55. 113. 659.



Börner II 245.



Bornowsky II 253.



Börnstein II 500.



Bosse I 269.



Bothe I 7.



Böttger I 556. 657. II 63. 67. 262.

321. 323.



Bouterweck, v. I 6. 579.



Brachmann, L., I 188.



Brachvogel, Probe des sentiment. Stils

II 28. [II S. 28. Z. 4 v. u. verbessere:

Friedemann Bach, statt Friedemann.

Buch.]

[Ende Spaltensatz] |#f0572 : 550|



[Beginn Spaltensatz]Brachvogel II 354. 358. 368. 371. 399. 450.



Brackel II 387.



Brandes II 504.



Brandrupp II 367.



Brandt II 400.



Brant, S., dessen Narrenschiff II 190.



Braumüller II 101.



Braun II 245. 387. 475.



Braun-Wiesbaden II 399.



Breier II 387.



Breitinger I 5.



Brentano I 127. 202. 459. 507. 663.

II
96. 112. 131. 262. 273. 379. 467.

473. 482.



Bresler II 400.



Bret-Harte II 400.



Bretschneider II 193.



Bretzner II 499.



Brinkmann, über die Metapher I 161.



I 8. 174. II 211.



Brinkmeier I 74. 668.



Brockes I 466.



Brog II 387.



Bronner II 235.



Bronislaw I 359.



Brook II 375. 400.



Bruch II 510.



Brühl II 387.



Brunner II 195. 400.



Brunow II 400.



Bube I 682. II 173. 244. 262.



Büchner I 556. II 387. 400.



Bülow, v., II 400.



Bunge II 464.



Bürger I 117. 128. 193. 200. 204. 266.

277. 299. 308. 309. 329. 344. 348.

404. 461. 468. 471. 482. 505. 617.

656. 685. 712. II
63. 90. 121. 151.

171. 263. 272.



Bürger, H., II 464. 499.



Bürkner II 498.



Burmeister II 130.



Burns I 441.



Burow II 373. 400.



Busch I 384. II 387. 499.



Büsching I 650.



Büttner I 7.



Byk, der tragische Monismus in Grillparzers

Ahnfrau II 455.



Byr II 375.



Byron, über die Spenserstanze I 555.





Cäcilie II 317.



Caj. Sil. Jtalikus I 8.



Calderon I 163. 207. 426. II 433.

[Spaltenumbruch]



Calmberg II 421. 499.



Camoëns II 155. 334.



Carrière, über die Allegorie I 174.



I 7. 77. 174. 521. II 107.



Castelli I 55. II 185. 195. 230. 528.



Cäsur I 285. 350.



Chamisso I 167. 318. 320. 327. 328.

343. 404. 422. 443. 453. 455. 543.

578. 589. 648. 649. 650. 664. 669.

681. 686. 694. 710. 728. 732. II
16.

63. 112. 113. 151. 171. 178. 230.

243. 244. 273. 366. 409.



Charade II 180.



Charles II 368.



Chemnitz II 481.



Cherubini II 516.



Chezy, H. v., II 253.



Cholevius II 388.



Choliambus I 321.



Chor, der griechische II 457.



Chor in der Oper II 527.



Choral, der II 529.



Choriambus I 301.



Choriambische Verse I 332.



Christen, A. I 377. 634. 658. II 487.



Cicero, Ursprung der Tropen I 149.



Cid II 266.



Claar I 377. II 499.



Clajus I 354.



Claudius I 657. II 77. 123. 145. 150. 510.



Cobb II 370.



Colbe I 515.



Collin II 230. 273.



Collins II 387, 399.



Conard II 373.



Confucius, chines. Volksgedichte I 19.



Conrad II 464. 500. 504.



Contessa II 498.



Cooper II 364. 370.



Cornelius II 68.



Corrodi II 68.



Cosmar II 499.



Costa II 492.



Cramer II 124. 131. 139. 370.



Crecelius II 96. 97.



Cronegk I 53.



Cyriax II 475.





Dach, S., I 51. 634. 640. 657. 688.

690. II
77. 123.



Dahn, F., II 268. 387. 400. 464. 484.

528.



Daktylische Kompositionen I 274.



─ Verse I 333.



Daktylus I 297.

[Ende Spaltensatz] |#f0573 : 551|



[Beginn Spaltensatz]

Dante, über den Gegenstand des Gedichts

I 39.



Dantes göttliche Komödie II 323.



Daphne II 235.



Daum II 337.



Daumer I 430. 432. 450. II 116. 157.

173. 250.



Davidsohn I 634.



Daxenberger II 249.



Decime I 565.



Decius II 130.



Dedenroth II 371.



Deecke II 245.



Dehnike II 387.



Deklamieren I 252.



Dekoration bei Aufführung dramatischer

Dichtungen II 59.



Delius II 30.



Delmann II 484.



Demmler II 155.



Denecke II 486.



Denis I 513. 756. 763. II 104. 139.

144. 151.



Detlef II 367. 400.



Devrient II 464. 488. 498. 528.



Dewall II 375. [I 72. Z. 18 v. ob. verbessere:

van, statt von.]



Dialektdichter I 55.



─ deren Provinzialismus I 103.



─ deren Archaismus I 112.



Dialog II 54. 406.



Dialogismus I 182.



Diärese I 285.



Diasyrmus I 201.



Dichter, Etymologisches I 24.



─ wer ein Dichter ist I 25.



─ ob eine besondere Species I 27.



─ Genie, Arbeit, Studium I 27. ff.



─ Zeit und Einfluß I 34.



─ und sein Jahrhundert I 37.



─ Anforderungen an ihn, von J. Rachel

I 33.



Dichterhalle, neue II 110.



Dichterheim, deutsches I 169. 478.



Dichtkunst (s. Poesie).



Dichtungsformen, fremde I 530.



─ französische I 556.



Didaktik, Begriff derselben I 145. II 18.



─ symbolische II 160.



Didaktiker, ein wahrer Dichter II 23.



Didaktische Dichtungen, Einteilung II 159.



─ Gedichte II 200.



─ Poesie, ihre Begründer II 20.



Didaxis, Gesetz derselben II 20.



Dieffenbach I 659. II 239. 400.

[Spaltenumbruch]



Diepenbrock II 154.



Dieterici II 325.



Diez I 649. II 387.



Dijambus I 301.



Dilettantenreime I 454.



Dilettantenstrophe I 641.



Dill II 328.



Dilschneider I 7.



Dilthen II 400.



Dincklage II 354. 358. 400.



Dingelstedt I 180. 323. 330. 331. 560.

634. 649. 681. 714. 718. 750. II


104. 112. 151. 244. 400. 523.



Dipodisches Metrum I 290.



Dipyrrhichius I 301.



Dispondeus I 301.



Disposition, poetische I 41.



Distichon I 358. 518.



Distribution I 176.



Diterich II 131.



Ditfurth II 97. 117.



Dithyrambus II 145.



Ditrochäus I 301.



Dittersdorf II 511. 512.



Dochmius I 302.



Doczi, der Kuß, metrische Behandlung

II 55. Analyse II 496.



I 55. 478. 484. 493. II 459.



Dohm, E. II 488. 499.



Doles II 545.



Dominikus II 387.



Donizetti II 511.



Donner II 458.



Donsdorf II 468.



Doppler II 488. 511.



Döring I 7. II 131. 191.



Drama, Handlung, Fabel, Charaktere

in demselben II 31.



─ Lyrisches und Episches in demselben

II 32.



─ Anforderung an die Handlung II 33.



─ die aristotelische Forderung II 35.



─ seine Charaktere II 36.



─ Stoff desselben II 37.



─ Jdee desselben II 38.



─ Tendenz desselben II 40.



─ das Motivieren in demselben II 41.



─ Aktion und Reaktion II 41.



─ seine Dreiteilung II 42.



─ Teile und Umfang II 42.



─ Akte. Prolog. Epilog II 43.



─ Bau des ─ II 46.



─ ─ Gesetze und Regeln hiebei II 47.



─ Sprache und Form II 54.



─ Aufführbarkeit II 58.

[Ende Spaltensatz] |#f0574 : 552|



[Beginn Spaltensatz]Drama, Aufgabe desselben II 61.



─ Verwerflichkeit manierierter Titel

II 491.



Dramatik, Begriff derselben II 29.



Dramatischer Dichter, Anforderung an

denselben II 56.



Dramatische Dichter, Verzeichnis derselben

II 500.



Dramatische Dichtungen II 403.



─ ─ parodistische u. travestierende II 491.



Dramatische Gedichte II 413.



─ ─ ─, Analysen II 416.



Dramatisch=didaktische Dichtungen II 64.



Dramen, Sammlungen solcher II 500.



Drames proverbes II 482.



Dramolet II 410.



Dräxler-Manfred I 330. 691. II 244.



Dreher II 504.



Dreves I 668. 695. II 68.



Drexel I 754.



Droste-Hülshoff I 161. 658. 676. 681.

683. 687. 694. 705. 757. II
131.



Droysen I 198.



Duller II 400.



Dungern II 387.



Dünheim II 400.



Düringsfeld I 211. II 400.



Dusch I 641.



Duttenhofer I 424. II 268. 333.



Dyherrn II 400.





Eber II 130.



Eberhards Hannchen und die Küchlein

II 326.



Eberhard I 6. II 185. 326.



Ebeling II 387. 536.



Ebers II 348. 368. 373. 376. 386. 392. 400.



Ebert I 661. II 244. 273. 321. 328.



Ebner-Eschenbach II 400. 401. 464. 483.



Echo I 193. 436.



Eckardt II 412. 464.



Eckstein I 432. 520. 649. 682. II 199.

200. 218. 341. 369. 399. 499.



Edda, die I 20.



Edel, E. I 742.



Edgar I 183.



Egan II 387.



Eggers II 105.



Eggler II 412.



Ehrlich II 199.



Eichendorff I 421. 501. 654. 655. 666.

681. 690. II
109. 121. 123. 125.

131. 262. 273. 371. 388. 399. 498.



Eichrodt I 112. 221. 384. 426. 484. II

113. 195. 199.

[Spaltenumbruch]

Einteilung der Poesie nach Stoff und

Form II 7.



Eiselin II 212.



Eisenhardt II 492.



Eitner II 323. 334.



Elegeion I 357.



Elegie II 146.



Elision I 133. II 87.



Ellersberg II 484.



Ellipse I 213.



Elliptische Metapher I 169.



Elmar, K. II 387. 487. 490. 498.



Elmar, Herzog von Oldenburg II 488.



Elsholtz II 409. 485.



Elsner II 240.



Elwert II 73. 97.



Elze II 107.



Emphasis I 208.



Endrulat I 663.



Engel II 367. 368. 399.



Engelberg II 399.



Engelhardt, v. I. 682. 685.



Engstfeld II 131.



Eötvös II 375.



Epanalepsis I 187.



Epanodos I 188.



Epigramm II 203.



Epik, Begriff derselben II 24.



Epik, geschichtliche Stellung und Entwickelung

II 25.



Epiker, Anforderungen an denselben II 24.



Epiphora I 186.



Epische Dichtungen, Einteilung II 227.



Episch=didaktische Dichtungen II 63.



Episch=dramatische Dichtungen II 64.



Episch=lyrische Dichtungen II 63.



Epischer Stil II 26.



Episoden, s. Drama II 32. 361.



Epistel II 212.



Epitheton ornans I 137.



Epitrit I 302.



Epizeuxis I 188.



Epoden I 490.



Epos II 274.



─ Einteilung und Geschichtliches II 279.



─ Volksepen II 282. 283.



─ ─ der Griechen II 283.



─ indische Nationalepen II 285.



─ deutsche Volksepen II 289.



─ Volksepen der Finnen, Esten und

Lappen II 291.



─ Vergleichsmomente sämtlicher Volksepen

II 300.



─ altromantisches (höfisches) II 304.



─ neuromantisches II 317.

[Ende Spaltensatz] |#f0575 : 553|



[Beginn Spaltensatz]Epos, religiöses II 322.



─ idyllisches II 325.



─ historisches II 329.



─ komisches, humoristisches und satirisches

II 337.



─ Tierepos II 342.



Erhabene, das I 93.



Erk I 7. II 97.



Erlburg II 387.



Erlkönig II 264. 272.



Ernesti II 368. 383.



Ernst II. Herzog zu Sachsen I 308.

318. 326. 334. 444. II
208. 209.



Ernst, J. II 400. 421.



Erzählung, poetische II 228.



Esche II 400.



Eschenburg II 97.



Ethisches i. Verhältnis z. Ästhetischen I 85.



Ethische Schuld im Gegensatz zur tragischen

I 100.



Etlar II 400.



Ettmüller II 322.



Etymologische Notiz über die Namen

der Poesie I 24.



Eugen II 372.



Euphemismus I 200.



Ewald II 373.



Exposition im Drama II 43.





Fabel im Drama (poetische Erfindung)

II 31.



─ (Dichtungsgattung) II 160.



Falk I 339. 685. II 191. 195. 230.



Falkenstein II 244.



Fastenau II 387.



Fastenrath II 107. 268.



Fastnachtsspiele II 471.



Faust, C., dessen Marsch op. 101 als

Vergleich mit den Zeilen eines Liedes

I 494.



Feldmann II 480. 484. 499. 507.



Fels II 370.



Ferrand II 112.



Ferry II 387.



Feuchtersleben II 77. 121.



Feuillet II 387.



Fichte, über poetische Gerechtigkeit II 431.



Figuren I 148 ff. 180.



─ grammatische I 181.



─ rhetorische I 194.



Firdusi I 344.



Firdusis Schah-Nameh II 329.



Fischart I 106. 112. 215. 230. 592. II

116. 189.



─ als Sprachbildner I 116.

[Spaltenumbruch]



Fischer, Kuno I 7.



─, J. G. I 656. 682. II 64. 68. 139. 235.



─ G. II 337.



Fitger I 502. 683. II 464.



Flammberg II 365. 400.



Flaxland II 400.



Flemming I 51. 533. 656. II 130. 139.



Flotow II 511.



Foglar I 211. 636. II 151. 392. 400. 499.



Follen II 104.



Folnes II 474.



Folz II 497.



Fontane II 63. 68. 107. 123. 268. 273.



Form, die schöne I 12.



Form, Einteilung der Poesie nach Stoff

und Form II 7.



Forster I 549.



Förster II 107. 499.



Fouqué I 48. 329. 397. 404. 406. 412.

415. 565. 640. 708. II
230. 253.

321. 399. 473.



Franck, Mich. I 474.



Franckel II 322.



François, v. II 354. 358. 376. 386. 400.



Frank, Joh. II 131.



Franke, Jos. I 282.



Fränkel II 487. 492.



Frankl II 230. 322. 337.



Franz II 22. 131. 171. 173. 273. 400. 474.



Franzos I 682. 699 II 400.



Französische Dichtungsformen I 576.



Freese I 7.



Freidank I 47.



Freiligrath I 153. 210. 214. 233. 309.

316. 328. 331. 424. 470. 472. 473.

508. 544. 583. 639. 657. 658. 681.

698. 702. 710. 725. II
16. 63. 67.

104. 151. 239. 273.



Freiligraths Erweiterung des dichterischen

Stoffes I 40.



Fremde Dichtungsformen I 530.



Fremdwörter, Betonungsgesetz I 248.



Frenzel II 387. 400.



Fresenius II 499.



Frey II 400.



Freyburger II 399.



Freytag I 7. 168. 200. II 68. 348. 353.

354. 355. 358. 363. 366. 372. 373.

376. 386. 400. 428. 452. 473. 479. 484.



─ über Vergeistigung des rohen Stoffes

II 39.



─ seine Romane II 373.



Friedrich II 368. 399. 452. 467. 474.

487. 488. 498. 528.



Fries II 374.

[Ende Spaltensatz] |#f0576 : 554|



[Beginn Spaltensatz]Friese II 499.



Fritze II 387.



Fritzsche II 410.



Fröbel I 648.



Fröhlich I 664. 677. 757. 758. II 162.

163. 166.



Fuchs II 387. 400.



Fuchs' Muckenkrieg II 345.



Füllborn II 400.



Funk II 131. 192.



Furchtbare, das I 81. 91.





Gäbeler II 499.



Gaboriau II 375.



Gabriel II 113.



Galen II 370. 400.



Gall II 400.



Gallimathias I 108.



Gallwitz II 368.



Ganzhorn I 453. 695.



Gärtner I 682. 685.



Garve I 7. II 126. 131.



Gaßmann II 490.



Gaudy II 104. 230. 400.



Gayette-Georgens II 387.



Gebhard II 244.



Gedankenlyrik, ideale II 200.



Gedicht, lyrisches II 11.



Gehe II 400.



Geib II 245.



Geibel I 12. 25. 126. 156. 159. 161.

168. 171. 175. 181. 232. 233. 298. 309.

316. 319. 331. 344. 357. 360. 369.

375. 500. 505. 506. 518. 519. 520.

523. 524. 525. 526. 527. 538. 575.

578. 583. 586. 605. 634. 658. 659.

666. 668. 669. 671. 682. 683. 684.

685. 687. 694. 697. 698. 699. 704.

710. 717. 722. 725. 728. 755. 757.

763. II
3. 4. 13. 22. 63. 68. 73. 89.

94. 104. 108. 112. 113. 123. 125.

131. 139. 144. 148. 239. 249. 253.

268. 273. 322. 404. 452. 484. 499. 528.



─ antikisierende Strophe I 526.



Geijer II 97.



Gela II 337.



Gellert I 181. 294. 316. 456. II 131.

144. 166. 206. 220. 230.



Geltersberg II 370.



Genast II 464.



Genee II 485. 488. 499. 507.



Genesis der Dichtungsarten II 64.



Genie, ob geborenes I 2.



─ ob dieses aus sich selbst nur Vollgültiges

hervorbringen kann I 27.

[Spaltenumbruch]

Genie, Anlage, Studium und Arbeit I 28

(Schiller), 29. 32 (Goethe), 30 (Kinkel),

30 (Lessing), 30 (Rousseau), 31 (Plato).



Genie, reformatorisches I 37.



Gensichen II 387. 464. 474. 480.



Genthe II 245.



George II 68. 111. 113. 121. 168. 171.

206. 230. 240. 253. 273.



Geppert II 285.



Gerber II 510.



Gerhardt, Kirchenlied II 128.



Gerhardt I 657. 705. 710. 725. II 77.

128. 130.



Gerok I 682. 685. 686. 710. 722. II 68.

107. 125. 131. 144.



Gerstäcker II 360.



Gerstel II 474. 487.



Gerstenberg II 387.



Gesätz I 492.



Geschmack im Schönen I 87.



Gesenius-Rödiger I 13.



Gesky II 499.



Gesner I 134.



Geßler II 475.



Geßner I 211. II 235.



Gewicht und Maß im Schönen I 84.



Ghasel, das I 585.



Ghaselenrefrain (Rückert) I 449.



Giebelhausen II 245.



Giese II 400.



Girndt II 400. 464. 480.



Giseke II 235. 452. 467. 474.



Gita-Gowinda I 338.



Glagau II 480.



Glasenapp II 490.



Glaser I 546. 649. 659. II 400.



Glaßbrenner I 105. 429. 694. II 191.

341. 400.



Glaubrecht II 399.



Gleichklang, Reim I 388.



Gleichnis I 153.



Gleim I 578. II 21. 102. 166. 272.



─ anakreontische Lieder II 118.



Glosse I 567.



Gluck II 514.



─ Entwickelung der Oper. Erkennen

ihres Schwerpunktes in der Dichtkunst

II 519.



Glück, Elisabeth II 266.



Glümer, Claire v. II 68.



Glykonische Strophe I 523.



Glykonischer Vers I 333.



Gnome II 210.



Göckingk I 473.



Gödeke I 585. 710. II 158. 400.

[Ende Spaltensatz] |#f0577 : 555|



[Beginn Spaltensatz]Godin II 399.



Göhren, v. II 370.



Goldhann II 499.



Goldschmidt II 399.



Goltz II 191.



Göppinger II 245.



Görlitz II 487. 488.



Görner II 406. 487. 488. 491. 492.



Görres I 659. II 68. 131. 253.



Goethe, über das dichterische Genie I 29.



─ über den gewordenen Dichter I 32.



─ als Sprachbildner I 117.



─ Vertreter des Realismus I 141.



─ Poesie soll belehrend sein II 8.



─ über die Lyriker II 13.



─ Gelegenheitsgedichte II 12.



─ naiver Stil (Wilhelm Meister) II 27.



─ über das Volkslied im Wunderhorn

II 96.



─ über Roman und Drama als Jugendlektüre

II 415.



─ Clavigo II 463.



─ Egmont II 364.



Goethes Hermann und Dorothea II 327.



─ Jphigenie II 472.



─ Reineke Fuchs II 342.



─ Tasso II 417.



Goethe I 6. 8. 10. 12. 25. 39. 40. 56.

57. 58. 68. 89. 93. 109. 116. 124.

126. 127. 128. 129. 130. 134. 142.

147. 157. 159. 160. 162. 165. 169.

175. 177. 182. 183. 186. 190. 194.

198. 202. 212. 213. 232. 258. 271.

273. 277. 289. 299. 307. 309. 319.

325. 329. 334. 335. 336. 342. 343.

348. 354. 364. 377. 380. 404. 412.

415. 420. 427. 433. 447. 459. 462.

482. 486. 508. 514. 529. 538. 551.

564. 576. 581. 617. 638. 640. 644.

658. 662. 663. 667. 669. 676. 679.

682. 684. 687. 690. 702. 711. 719.

723. 724. 733. 739. 742. 748. 757.

760. II
2. 5. 14. 15. 89. 100. 107.

109. 112. 113. 116. 121. 123. 134.

139. 140. 144. 145. 148. 173. 178.

191. 194. 195. 215. 253. 263. 268.

326. 358. 365. 368. 370. 392. 409.

451. 466. 498. 536.



Gotter I 576. II 215. 268.



Gotthold I 7.



Gottschall, v., über das dichterische Genie

I 29.



─ über die Metapher I 155.



I 7. 12. 29. 139. 157. 233. 311.

460. 520. 521. 522. 665. 687. 733.
[Spaltenumbruch]

739. II 16. 22. 68. 107. 109. 112.

139. 158. 226. 322. 336. 341. 373.

375. 400. 409. 452. 464. 480. 500.



Gottsched I 5. 53.



Gottwald II 399.



Götz I 576. II 511.



Götzinger I 384.



Grabbe I 203. II 262. 452.



Grabowski II 368. 400.



Graf I 589.



Grandjean II 406. 488. 492. 499.



Grant II 387.



Grasberger, Hans I 676.



Gräser II 488.



Grässe II 245.



Graßhoff II 480.



Graumann II 130.



Graun II 536. 545.



Grausige, das I 91.



Gravenhorst I 460 II 458.



Graviere II 400.



Gregor, Elly I 509. 660.



Gregorovius I 356. II 452. 464.



Greif II 1. 4. 11. 464. 474.



Greiff I 125. 139. 646. 649.



Grieben II 107.



Griepenkerl II 400.



Gries II 278.



Griesinger II 400.



Grillparzer I 162. II 450. 455.



Grimard II 387.



Grimm, Gebr., Haus- und Kindermärchen

II 86.



─ Sage und Märchen II 256.



─ Jak., über Goethes Sprache II 433.



I 7. 116. II 244. 306.



Grimmelshausen, Stilprobe für den Roman

aus dessen Simplicissimus II 375.



Grimminger I 55. 113. II 239. 273.



Grohmann II 244.



Grönland I 210.



Groß II 400. 528.



Grosse I 162. 231. 483. 658. 742. II

68. 107. 322. 342. 400. 464.



Großmann I 576.



Groth I 55. 113.



Grothe I 694 II 387. 400. 452.



Grothefend I 7.



Grötsch II 321.



Grotthus II 387. 400. 499.



Grube I 439.



Grübel I 687. 694.



Grün I 172. 183. 309. 311. 318.

319. 320. 328. 330. 331. 343. 373.

375. 544. 605. II
104. 142. 144.[Ende Spaltensatz] |#f0578 : 556|



[Beginn Spaltensatz]151. 177. 230. 249. 253. 260. 261.

273. 321.



Grün, A., Nibelungen im Frack II 339.



Grüneisen II 104. 125.



Gruppe I 7. 130. 682. II 191. 337.



Gryphius I 51. 656. II 461.



Gubitz II 400. 504.



Gudrun I 44. II 290.



Gudrunstrophe I 607.



Guest I 460.



Güll II 166.



Gundling II 370.



Günsburg I 748. 750. 752.



Günther J. Ch. I 51. 710. II 190. 215.



Günther, A. II 325. 488.



Günthert II 231.



Guseck, B. v. I 545. II 400.



Gustav vom See II 400.



Gutbier II 499.



Gutzkow I 7. 311. II 107. 353. 354.

368. 374. 386. 400. 451. 467. 473.

480. 493. 498.



─ sein Einfluß auf das Theater II 473.





Habicht II 266. 368. 399.



Häbler II 68. 460.



Hackenschmidt II 107.



Hackländer II 369. 370. 399. 481. 498.



Haffner II 400. 406.



Hag, Julius vom I 669.



Hagedorn I 576. 710. II 163. 166. 191.

195.



Hagemann II 239.



Hagen, v. d. I 7.



Hagen II 399.



Hagenbach I 658. II 131.



Häger II 464.



Hahn, Werner I 8.



Hahn II 387. 486.



Hahn-Hahn II 77. 367. 400.



Haidheim II 387. 400.



Hainau II 400.



Hainbund I 55.



Halevy II 516.



Hall II 249.



Haller I 182. 520. 643. II 21. 22. 144.

151. 191.



Halm I 108. 694. II 400. 405. 421.

464. 478. 482. 498.



Haltreich II 262.



Hamerling, als Repräsentant der Dichtkunst

im Verhältnis zu verwandten

Künsten (Malerei, Musik) I 35.



I 154. 172. 208. 233. 311. 356.

369. 373. 375. 377. 560. 605. 676.
[Spaltenumbruch]

682. II. 63. 67. 68. 107. 139. 144.

235. 253. 322. 337. 376. 387. 536.



Hamm II 507.



Hammer I 656. 658. 668. 682. II 22.

68. 211. 387. 499.



Händel II 536. 541. 545.



Händel als Vollender des Oratoriums

II 542.



Hanke I 681. II 370. 400.



Hanschmann I 521. 578.



Häring II 328.



Harmening II 322. 373. 387. 400. 479.



Harms II 194.



Harsdörffer I 5.



Harsdörffer's Libretto zur ersten deutschen

Oper II 517.



Hartmann I 356. 650. II 107. 109.

191. 328. 387. 400.



Hartung II 250. 458.



Häser II 513.



Hassenstein II 130.



Häßliche, das I 90.



Hauff II 77. 184. 185. 195. 262. 373.

392. 400.



Häufung I 205.



Haug I 207. 508. II 185. 191. 207.



Haupt I 356. II 325. 337.



Haushofer I 658.



Hausmann I 484.



Haydn II 545.



Hebbel I 112. 127. 196. 328. 356. 669.

681. II
409. 452. 464. 466.



Hebel I 113. 269. 356. 384. 659. 756.

II
151. 181. 183. 235.



Hebungsverse I 380.



Hedrich II 464.



Heermann II 130.



Heffemer II 68.



Hegel I 6.



Heiden I 318.



Heidenreich II 139.



Heigel II 400. 474. 499.



Heimburg II 387.



Heine I 99. 106. 116. 171. 210. 232.

320. 355. 361. 364. 368. 373. 757.

II
63. 67. 109. 113. 120. 123. 140.

191. 199. 239. 266. 273. 341. 407.

473.



─, dessen Wiedererweckung des altgermanischen

Verses (s. Accentvers) I 365.



─, über das Volkslied II 77.



Heinrichs II 400. 484.



Heinse II 367. 374. 399.



Helbig I 356. II 235. 253.



Heldenepos II 329.

[Ende Spaltensatz] |#f0579 : 557|



[Beginn Spaltensatz]

Heliand, altsächsische Evangelienharmonie

I 43. 401.



Hell II 480. 487.



Helm II 387.



Helmboldt II 130.



Hemsen II 387.



Hendekasyllabus I 339.



Henkel II 370.



Henle II 500.



Henne-Am=Rhyn II 244.



Hennings II 285.



Henoumont II 499.



Henrion II 410. 499.



Henry II 387.



Hensel II 131.



Hensler II 400. 485.



Henzen II 475. 499.



Herbert II 387.



Herbst II 367.



Herchenbach II 400.



Herder, Lautnachahmung als Beginn

der Sprache I 119.



─ über das Volkslied II 74. 76. 96.



─ über Paramythie II 172.



I 6. 168. 203. 211. 328. 329. 330.

344. 348. 373. 375. 502. 644. 693.

II
22. 63. 85. 97. 125. 131. 139.

171. 175. 178. 204. 230. 253.



Herford I 44.



Herloßsohn I 665. II 191. 400.



Hermann I 7. 760. II 250. 375. 400.



Herodot, über den ältesten Gesang der

Ägypter I 19.



Heroide II 215.



Herrig I 395. II 262. 273. 421. 422.

464.



Herrlein II 245.



Hersch II 480.



Hertz I 10. 139. 305. 682. II 139. 146.

273. 309. 314. 322. 466.



Herwegh I 183. 213. 452. 503. 544.

551. 658. 666. 675. 681. 699. 702.

709. 710. 744. 757. II
104. 121. 155.

178.



Herzenskron II 500.



Herzfeld II 499.



Herzog II 387. 531.



Hesekiel I 693. II 107. 373.



Hesse II 499.



Heßlein II 387.



Heßler II 325. 474.



Heun II 498.



Heusinger II 107. 400.



Hexameter I 348.



─ Litteratur und Geschichte I 353.

[Spaltenumbruch]



Hexameter gereimte I 354.



─ über dessen Verwendbarkeit I 355.



Hey II 131. 166.



Heyden II 230. 498.



Heydrich II 484.



Heyne II 247.



Heyse, K. I 7.



Heyse, P. I 198. 329. 356. 373. 546. 551.

671. 682. II
68. 230. 322. 325. 354.

367. 389. 390. 392. 400. 464. 465.

467. 475. 480.



─ Stilprobe der Novelle aus dessen

l'Arrabiata II 393.



─ dessen Novellen II 401.



Hiatus I 130.



Hildebrandslied I 43. II 290.



Hildebrandstrophe I 680.



Hiller II 131. 487. 512. 545.



Hillern, Wilh. v. II 353. 371. 387. 400.

474. 484. 499.



Hiltl II 373. 375. 399.



Hippel II 131. 399.



Hirsch I 515. 658.



Hirschfeld II 375. 387. 399.



Hirzel II 466.



Hittnau I 55.



Hochwald, A. v. I 428.



Höcker II 375. 387. 400.



Höfer I 658. II 68. 107. 367. 370.

400.



Hoffmann, K. J. I 7.



Hoffmann von Fallersleben I 191. 325.

586. 587. 659. 670. 671. 678. 685.

690. 692. 707. 733. 738. II
97. 102.

109. 112. 117. 121. 123. 188. 273.



Hofmann, E. II 499.



Hofmann, Fr. I 288. 656. 658. 682.

II
107. 166. 337. 400. 412. 511.

528.



─ K. von Nauborn II 320.



Hohenhausen II 370.



Holbein II 468.



Hölderlin I 153. 333. 468. 521. 681.

725. II
107. 139. 144. 151. 369.



Holtei II 77. 113. 385. 400. 474. 486.

490. 507. 528.



Hölty I 181. 308. 472. 520. 681. II

117. 131. 139. 150. 235. 273.



Holtzmann II 286.



Hölzl II 454.



Holzmüller II 166.



Homberger II 400.



Homburg, E. Chr. I 434.



Homer, Jlias und Odyssee II 283.



Homilius II 545.

[Ende Spaltensatz] |#f0580 : 558|



[Beginn Spaltensatz]Homonyme II 184.



Honegger I 324.



Hopf II 400. 486. 487.



Hopfen I 682. II 68. 341. 375. 388.

400. 510.



Hopp II 486. 487.



Horaz I 3. 116. II 213.



Hormann I 679.



Horn I 83. II 63. 67. 387. 400. 491.



Houwald I 327. 329. II 181. 399. 454.



Hoven II 467.



Hub II 273.



Hüffel I 204.



Hugdietrich I 44.



Hugo v. Trimberg I 47.



Hülsen 400.



Humboldt I 355. II 327.



Humor I 105.



Humoristische Dichtungen II 195.



Huß I 8.



Hutterus II 400.



Hymne II 141.



Hypallage I 212.



Hyperbel I 206.



Hyperkatalektische Verse I 306.



Hysteron-Proteron I 212.





Jäger I 430.



Jahn I 729. 732. II 131. 370. 480.



Jakob, v. I 329.



Jakobi II 125. 131. 139. 151. 368. 374.

399. 536.



Jakobsen II 387. 486. 487. 488. 507.



Jambus I 296.



Jambische Kompositionen I 273.



─ Verse I 307 ff.



Jambisch=anapästische Verse I 347.



Jambentragödie I 310.



Janssen II 245.



Jantsch II 467.



Jdeal, Schönheitsideal I 140.



Jdeal der Ästhetik I 142.



Jdeale II 38.



Jdealisieren im Drama II 38.



Jdealisieren im Roman II 360.



Jdealisierung, von Schiller I 141.



Jdealismus in der Poesie I 140.



Jdylle II 231.



Jdyllisches Epos II 325.



Jean Paul, üb. d. Humor I 105.



─ ironischer Stil (Aus dessen Belagerung

der Reichsfestung Ziebingen) II

27.



I 6. 106. 107. II 22. 191. 359. 367

368. 376. 399.

[Spaltenumbruch]

Jensen I 292. 503. 544. II 63. 68. 107.

387. 400. 484.



Jffland II 467. 482.



Jhering II 107.



Jken II 262.



Jktus I 292.



Jmmergrün I 701.



Jmmermann I 195. 311. II 321. 362.

400. 420. 473. 495. 498.



Jmmermann Tulifäntchen II 340.



Jncision I 288. 324.



Jntermezzo, das II 512.



Jnversion I 211.



Jnvocation II 278.



Johr II 195.



Jonas, Emil J. I 617. II 262.



Jonas, Justus II 130.



Jonikus, fallender I 301.

steigender I 302.



Jordan, W., über Entstehung d. Poesie I

22.



─ über die Arbeit des Dichters I 27.



─ über Vorhauch und Hiatus I 131.



─ über rhythmische Gesetze der Sprache

I 220.



─ über rhythmische Stimmungsmalerei

I 280.



─ dessen Verdienst um die Hebungsverse

I 381. 415.



─ über die erste Entdeckung des Reims

I 391.



─ über den Stabvers I 413.



─ über den Reim I 459.



─ über die Nibelungenstrophe I 606.



Jordan, W. I 8. 33. 121. 124. 232.

259. 300. 363. 364. 365. 367. 368.

370. 400. 403. 408. 409. 410. 411.

412. 419. 757. II
19. 22. 67. 226.

278. 285. 322. 464. 499.



Jost II 387.



Jronie I 199.



Jtwitz I 47.



Jué II 474.



Julius II 488.



Juncker II 400



Jung-Stilling II 399.



Jwanow II 370.



Jwein I 46. II 311.





Kaffka II 504.



Kähler II 367.



Kaiser II 373. 498.



Kalbeck I 634. 658.



Kalewala, finnisches Volksepos II 291.



Kalewide I 331.

[Ende Spaltensatz] |#f0581 : 559|



[Beginn Spaltensatz]Kalewipoeg, estnisches Volksepos II 294.



Kalidasa, Sakuntala II 468.



Kalisch II 486. 487. 500.



Kaltschmidt I 121.



Kammerlander II 545.



Kämpf I 593.



Kampmann I 649.



Kancion I 574.



Kant, über d. Schöne, I 77.



Kantate, die, II 534.



Kanzone, die, I 558.



Kapri II 371.



Kaspar v. d. Rhön I 48.



Kasside, die, I 585.



Kastropp I 377. 379. 380. 593. 596.

II
244. 249. 262. 278. 279 322. 464.



Katachresis I 179.



Katalektische Verse I 305. 337.



Katastrophe im Drama II 45.



Katharsis II 424.



Katsch II 387.



Kauer II 510.



Kauffer I 682. II 107.



Kaufmann, Alex. I 324. 682. II 68. 111.

112. 113. 121. 173. 199. 230. 245.

250. 273. 366. 367.



Kayser II 154. 458.



Kehrein, J. I 116.



Kehrreim, siehe Refrain I 445.



Keiser II 512. 513. 519.



Keiter I 8. II 359.



─ über d. dichterische Genie I 29.



Kekulé I 559.



Kelle I 222. 492.



Keller, Ad. v. I 48. 613. II 244. 375.

387. 401.



Keller, Gottfr. I 659. 664. 687. 691.

II
16. 63. 99. 253. 348. 358. 363. 364.

366. 368. 376. 386. 392. 400.



─ Stilprobe für den Roman aus dessen

grünem Heinrich II 378.



─ dessen Novellen II 401.



Kellner II 387.



Kempner II 400.



Kempter II 545.



Kern I 467.



Kerner Just. I 634. 694. II 67. 87.

116. 207. 230. 253. 268. 273. 410.



Kerner, Theob. I 660.



Kessel v. II 387. 400.



Kettenacker II 387.



Keyserling II 401.



Kiel II 542. 545.



─ dessen Oratorium Christus II 544.



Kind II 218. 253. 409. 528.

[Spaltenumbruch]

Kinkel I 30. 164. 309. 509. 669. 681.

696. 710. 725. II
68. 102. 109. 139.

151. 244. 253. 262. 464.



─ dessen Otto der Schütz II 319.



Kinkel, Johanna II 400.



Kirchbach II 387.



Kirchhoff I 469. 760.



Kittl II 387.



Kläger II 484.



Klangschönheit I 119.



Klapp, Mich. II 371. 480. 500.



Klassische, das I 88.



Klassische Poesie II 6.



Klaußmann II 371.



Klee II 387.



Klein II 199. 424. 479. 545.



Kleinpaul I 8. II 97.



Kleinsteuber II 388.



Kleist, E. Chr. v. I 54. 96. 171. 207.

213. 309. 311. 345. 553. 644. II
47.

137. 140. 144. 148. 166. 207. 230.

235. 236. 253. 367. 399. 432. 466.

467. 473. 493.



Kleist, Heinrich v. I 311.



Klesheim I 55. 112. 113.



Kletke II 262. 375. 400.



Klimax I 203.



Klopstock I 126. 129. 185. 193. 205.

303. 321. 340. 356. 484. 507. 518.

644. II
128. 131. 133. 134. 139. 141.

144. 148. 204. 278. 303. 461. 504. 533.



Klopstocksche antikisierende Strophe I

525.



Klopstocks Hexameter I 354.



─ Messias I 354. 355. II 322.



Klopstock und die deutsche Ode II 135.



Knack II 131.



Knapp I 640. 656. 669. 685. 701. II

68. 104. 125. 131. 144.



Knauff II 488.



Knebel II 142. 144.



Kneisel II 474. 478. 499.



Kneschke II 158.



Knöpfer II 387.



Knüttel, Aug. I 7.



Knüttelverse I 382. 383.



Kobell I 113. 650. 739. 741. 742. 753.

754.



Köberle II 464. 484.



Koberstein II 464.



Koch, E. II 400.



─, W. II 400.



Köchly II 545.



Kohl I 362.



Kohlenegg II 387. 400. 412.

[Ende Spaltensatz] |#f0582 : 560|



[Beginn Spaltensatz]Kohn II 375.



Kolon, Abwechslung derselben I 507.



Komik, Kant über das Lachen I 102.



Komische, das I 102.



Komisches Lied II 113.



Komödie, s. Lustspiel II 475.



─, die englische II 496.



─, die französische II 496.



─, die griechische II 493.



─, die italienische II 495.



─, die römische II 494.



─, die spanische II 495.



Kompert II 371. 400.



Komposition, poetische I 41.



─, trochäische I 273.



─, jambische I 273.



─, daktylische I 274.



─ anapästische I 274.



Kongruenz I 202.



König I 8. II 359. 371. 372. 399. 400.



Kopal II 467.



Kopisch I 200. 278. 328. 329. 502. 507.

641. 654. 659. 662. 704. 736. II
94.

113. 146.



Köpke II 7.



Koppel-Ellfeld II 499.



Köppen II 337.



Körner I 95. 213. 311. 316. 336. 551.

643. 650. 669. 676. 682. 685. 692.

711. 715. 719. II
88. 97. 102. 104.

151. 180. 183. 185. 268. 420. 498.



Körte II 212.



Kortum I 384. 387.



Kosegarten II 63. 97. 139. 140. 151.

171. 195. 235. 239. 253. 328.



─ Jukunde II 326.



Kossak II 400.



Köster I 581. II 464. 484. 499.



Kösting II 475.



Köstlin I 7. 77.



Kottenkamp II 323.



Kotzebue II 90. 467. 480. 484. 485. 498.



Krabbe II 387.



Krafft I 593.



Krais II 253.



Krane II 387.



Kraus II 387.



Krause I 6. II 387.



Krauß I 534.



Kräuterklauber II 245.



Kretikus I 301.



Kretische Verse I 332.



Kretschmann II 104. 146.



Kretschmar II 370.



Kretschmer I 652. 656. 692. 732.

[Spaltenumbruch]



Kretzschmer II 97. 510. 511.



Kreutzer II 519.



Kreuz, v. II 21.



Kreuzer II 247.



Kreuzwald, v. II 294.



Kreyßig II 388.



Kronau II 387.



Krug von Nidda II 273. 466.



Krüger II 375. 399. 486. 487.



Krummacher I 325. II 131. 171. 178.

536.



Kruse, L. II 400. 464.



Kugler I 482. 578. 579. II 104. 116.

123. 253. 400.



Kuh I 175. 682. II 68. 207. 400.



Kühling II 406.



Kuhn II 245. 409.



Kühn II 244. 262.



Kühne II 371. 400. 499.



Kulemann II 325.



Kulturhistorisches Gedicht II 203.



Kunst, ihre Dauer I 39.



Künste, freie, in gleicher Beziehung I 9.



─ reale I 10.



─ ideale I 10.



─ im Verhältnis zur Poesie I 13.



─ Fortschritt derselben in der Gegenwart

(Hamerling, Makart, R. Wagner)

I 35.



Kunstepen II 302.



─ Gruppen und Arten II 304.



Kunstlied, dessen Mission II 99.



─ dessen Einteilungsprinzip II 100.



Kunstpoesie II 2.



Kunstwerk, das schöne I 142.



Künstler, Zeit und Einfluß I 34.



Künzel I 637.



Kürenberger I 600.



Kürnberger II 400. 464.



Kurtz, Herm. II 315. 352. 359. 400.

512.



Kurz, Heinr., dessen Belehrung über

Versmaß I 329.



II 399.



Küster II 387. 399.



Küttner II 207.



Kyaw II 185.





Labes II 107.



Lachbare, das I 81. 92.



Lachmann, der Accent im Althochdeutschen

I 223.



II 285. 307.



Laddey II 400.



Lafontaine II 399.

[Ende Spaltensatz] |#f0583 : 561|



[Beginn Spaltensatz]Lampadius I 668.



Landsteiner II 387.



Lang II 262.



Langbein I 687. II 166. 235. 253. 399.



Lange II 131.



Langer, Ant. II 387. 486. 490.



Lanzelot I 46.



L'Arronge II 387. 467. 480. 487. 500.



Laube I 7. II 57. 108. 372. 452. 473.

474. 480. 484. 498.



Laudon I 644.



Lauer II 467.



Laun II 491.



Laurenberg II 190.



Lautmalerei I 119.



Lautsymbolik (Jordan, Kaltschmidt, v.

Wolzogen) I 121.



Lavater II 131. 239. 325.



Layritz II 531.



Lebrun II 498. 506.



Lecocq II 512.



Legende II 250.



Lehmann, Aug. II 400.



─ über Lessings Sprache II 433.



Lehmann, Ernst II 131. 499.



Lehmann, K. II 68. 151.



Lehrgedicht II 219. 222.



Leiche, mittelhochdeutsche I 619.



─ neuhochdeutsche I 376.



─ als Grundlage des Kirchenlieds II

126.



Leitner II 121.



Leixner, Otto v. I 501. 635. II 400.



Lemcke, K. I 7. 77. II 474.



Lenau I 99. 174. 310. 328. 339. 342.

634. 739. 757. 763. II
63. 109. 112.

121. 151. 239. 253. 273.



Lengerke, C. v. I 658. 682. II 109. 112



Lennig I 113.



Lenz II 400.



Lenzen II 388.



Leonhardt II 545.



Leoninischer Vers I 354. 390.



Leoprechting II 244.



Lepel II 139. 273.



Lermontoff I 734.



Lesser II 230. 268. 273. 500.



Lessing, über die Grenzen der Malerei

und Poesie I 14. 16.



─ über das Genie I 30.



─ über die Fabel II 160. 162.



─ über die poetische Gerechtigkeit II 430.



─, über dessen Sprache II 433.



Lessings Emilia Galotti als Beispiel für

die Einteilung der Akte II 43.

[Spaltenumbruch]

Lessing I 6. 54. 183. 188. 201. 207.

232. 310. 314. 576. II
34. 166. 175.

178. 205. 230. 265. 409. 461. 466.

482. 493. 498.



Leuthold I 520. 586. 658. 682. 701.

II
175. 205. 206.



Levassor II 406.



Levitschnigg II 370.



Lewald II 370. 374. 400.



Lexow II 400.



Ley I 392.



Libretto, Vorschriften, Gesichtspunkte II

527.



Lichtenberg II 191. 195. 504.



Lichtwer II 166. 230.



Liebmann, über das Befriedigende der

Tragödie II 423.



Lied, das, und seine Formen II 71.



─ Anforderungen an dasselbe II 72.



geistliches:



religiöses Lied II 123.



Kirchenlied II 125.



weltliches:



Vaterlandslied II 101.



Naturlied II 107.



Liebeslied II 109.



komisches Lied II 113.



geselliges Lied II 116.



elegisches Lied II 119.



idyllisches Lied II 122.



Liederspiel II 505.



Liliencron I 657. 669. 670. 684. 685.

689. 696 698. 699. 714. II
97. 387.



Lindau, P. II 195. 400. 480. 500.



─ dessen Dialog Ersatz für Handlung

II 478.



Lindendorf II 400.



Lindner I 314. II 68. 452. 474. 499.



Lindolf II 499.



Lindpaintner II 504. 519.



Lingg I 200. 318. 538. 550. 551. 647.

656. 658. 709. 710. 763. II
68. 107.

109. 120. 151. 273. 337. 421.



Linos sagenhaft ältester Dichter I 18.



Lippert II 387.



Liszt II 504. 533. 539. 542. 545.



─ schuf eine neue Ära hinsichtlich der

Messe II 540.



Litotes I 208.



Litteratur unserer Poetik I 6.



─ der Allegorie II 178.



─ der Ballade II 272.



─ des beschreibenden Gedichts II 239.



─ des dramatischen Gedichts II 420.



─ der Elegie II 148.

[Ende Spaltensatz] |#f0584 : 562|



[Beginn Spaltensatz]Litteratur des Epigramms II 207.



─ der poetischen Epistel II 215.



─ des historischen Epos II 336.



─ des idyllischen Epos II 328.



─ des komischen Epos II 341.



─ des neuromantischen Epos II 321.



─ des religiösen Epos II 325.



─ des Tierepos II 346.



─ der poetischen Erzählung II 230.



─ der Fabel II 165.



─ des geistlichen Liedes II 130.



─ der Gnome II 211.



─ der Heroide II 218.



─ des Humors II 199.



─ der Hymne II 143.



─ der Jdylle II 235.



─ der Kantate II 535.



─ der Komödie II 493.



─ der Legende II 252.



─ des groß. Lehrgedichts II 225.



─ des wirklichen Lehrgedichts II 222.



─ des Märchens II 260.



─ der Mythe II 249.



─ der Novelle II 399.



─ der Ode II 139.



─ des Oratoriums II 545.



─ der Posse II 487.



─ des Romans II 381.



─ der Romanze II 268.



─ der Sage II 244.



─ der Satire II 189.



─ des Schauspiels II 471 ff.



─ der Tragödie II 458 ff.



─ des Vaterlandsliedes II 106.



─ des Vaudeville II 505.



─ des Volksliedes II 96.



Litteraturgeschichte:



1. Periode. Älteste Denkmale I 42.
2. „ Volksepos, Kunstepos I

44. Minnesang. Blüte

der d. Lyrik I 47.
3. „ Letzte Minnesinger. Mei=

stersänger. Absterben der

1. Blüte deutscher Lit=

teratur I 48.
4. „ Kirchenlied (Luther). Lehr=

gedicht (Hans Sachs)

I 49.
5. „ Von Opitz bis Klopstock

I 50.
6. „ Von Klopstock bis Goethe

I 53.
7. „ Die klassische Zeit. Zweite

Blüte der deutschen Lit=

teratur I 56.
[Spaltenumbruch]

8. Periode. Romantiker, das junge

Deutschland I 58.
9. „ Bis zum neuen deutschen

Reich I 61.
10. „ Von 1870 bis zur neue=

sten Zeit I 69.



Littrow I 634.



Lobedanz II 371. 464. 469.



Löbel II 475.



Lödl II 493.



Loën II 367.



Logaödischer Vers I 341.



Logau I 51. II 175. 207.



Logogriph II 181.



Lohde II 368.



Lohengrin I 46.



Lohmann II 388. 400. 452. 464. 528.



Löhn II 235. 367. 399. 488. 499.



Longard II 244.



Löper I 742. 743.



Lorinser I 596. 597.



Lorm, Hieronym. I 156. II 400.



Lortzing II 511. 512.



Lothar II 400.



Löwe, Feod. I 156. 710. 757. II 230.

545.



Lübeck, Schmidt von, siehe Schmidt.



Lubojatzky II 371.



Ludolf II 375.



Ludwig, König von Bayern I 685. 705.

II
68. 400. 454. 499.



Ludwigslied I 43.



Luise II 325.



Lully II 516.



Lustspiel, allgemeines II 475.



─ Anforderung an die Handlung II

478.



─ Einteilung nach der Stoffquelle II

479.



─ ─ nach den Lebenskreisen des Helden,

nach Tendenz und Herkunft II

481.



─ ─ nach Entwicklung und Verwicklung

II 483.



─ ─ nach Form und Ausdehnung II

484.



─ ─ ältestes deutsches II 497.



Luther I 455. 506. 678. 698 II 87.

126. 533.



─ als Sprachneubildner I 116.



─ führt den Choral als geistliches Volkslied

ein II 530.



Luthers Kirchenlied II 126.



Lütolf II 245.



Lützel II 531.

[Ende Spaltensatz] |#f0585 : 563|



[Beginn Spaltensatz]Lyrik, Begriff derselben II 10.



─ ihre Stoffe II 11.



─ das paläontologische Element in derselben

II 15.



─ Stil in der Lyrik II 16.



─ Notiz über die Lyrik aller Litteraturen

II 153 (Griechen); 154 (Römer,

Hebräer, Jtaliener, Spanier und

Portugiesen); 155 (Franzosen, Briten);

156 (Czechen, Serben, Ungarn, Russen,

Neugriechen); 157 (nordische Völker,

Jnder, Perser, Chinesen, Araber, Türken).





Lyriker, dessen Eigenart II 12.



─ Anforderung an ihn II 13.



Lyrische Dichtungen, Einteilung II 70.



Lyrisches Gedicht II 11.



Lyrisches Gedicht, dessen Umfang II 16.



Lyrisch=didaktische Dichtungen II 63.



Lyrisch=dramatische Dichtungen II 63.



Lyrisch=epische Dichtungen II 63.





Madrigal I 576.



Mahabharata, indisches Epos II 285.



Mahler II 387.



Mahlke II 509.



Mahlmann I 131. 151. 195. 659.



Mähly II 356.



Mai II 400.



Makame, die I 589.



─ Rückertsche Nachbildungen I 590. 593.



─ nichtarabische I 592.



Makart als Repräsentant der Malerei

im Verhältnis zu verwandten Künsten

(Dichtkunst, Musik) I 35.



Malagis I 45.



Malaisches Kettengedicht I 589.



Mallachow II 484.



Malß II 486.



Maltan II 499.



Mangold II 545.



Mannsfeld II 370.



Manso I 576. II 215.



Marbach I 56. 75. 682. II 107. 400.

452. 457. 487.



Märchen II 253.



Marggraff, H., über Spott, Witz, Jronie,

Humor I 107.



─, II 400.



Markull II 545.



Marlitt II 359. 364. 400.



Marschner II 509. 520.



Martersteig II 499.



Martin II 387. 400.



Marx I 634. II 537. 545.

[Spaltenumbruch]



Märzroth II 467.



Masing II 428.



Maßmann I 657. 717. II 244.



Mastalier II 104.



Matthesius II 130.



Matthisson I 329. 340. 427. 520. 645.

654. 685. II
139. 151. 181. 238. 239.



Matzerath II 107. 235.



Maurer II 245.



Maurice II 400.



Mauritius I 682.



Maurus I 223.



Mautner II 400. 499.



Mayer II 125. 167. 641.



Meier II 97. 245.



Meinardus II 542. 545.



Meinardus' Oratorium Luther II 544.



Meinecke I 7.



Meinert II 85.



Meinhold II 268.



Meiningen II 54. 59. 473.



Meisl II 486. 487. 493.



Meißner, Alfr. I 650. 656. II 63. 107.

109. 112. 151. 166. 191. 273. 337.

400. 464. 504. 536.



Meister II 131.



Meistersänger I 48.



─ deren Strophik I 628.



Melissus I 543.



Melodrama II 503.



Mels II 387. 475. 499.



Mendelssohn II 499. 504. 534. 542.

545.



─ dessen Oratorium Paulus II 543.



Menger I 685.



Menzel I 80. 229. II 90. 158. 359.



Merkel II 492.



Messe, die II 538.



Messias I 354. 355.



Metapher, vergeistigende I 161.



─ versinnlichende I 162.



─ materiale I 163.



─ geistreiche I 164.



─ ihre Unterarten I 164.



Metonymie I 165.



Metrik I 215. 282.



Metrum I 215.



─ und Metren I 290.



─ und Rhythmus I 262.



─ monopodisches I 290.



─ zwei- und dreisilbige Metren I 273.



─ Klassifikation deutscher Verse nach dem

Schlußmetrum I 305.



Meyer, F. v. II 131.



Meyer, K. Ferd. II 63. 387. 400. 487.

[Ende Spaltensatz] |#f0586 : 564|



[Beginn Spaltensatz]Meyerbeer II 504. 511. 519.



Meyern, G. v. II 107. 466. 528.



Meyr, M. I 193. 748. 749. II 121.

139. 400.



Michaels II 229.



Michel II 474. 482. 499.



Miller II 117. 151.



Miltons verlorenes Paradies II 323.



Mimesis I 201.



Minckwitz I 7. 228. 321. 418. 525. II

138. 139. 142. 144. 151. 458.



Minckwitz, über die Schulregel des Hexameters

I 350.



─, seine antikisierenden Strophen I 528.



─, seine antikisierenden Bestrebungen I

230.



Mindermann II 399.



Minding II 268.



Minnelieder II 109.



Minnesinger, deren Strophik I 608.



Mittler II 97.



Mitzlaff II 387.



Möbius II 464. 484.



Moderne Poesie II 6.



Mohnike II 97.



Molitor II 375. 421.



Möllhausen II 400.



Molossus I 301.



Moltke, M. I 212. 656. 658. 663. II

118. 139. 158.



Monolog II 54. 404.



Monopodisches Metrum I 290.



Moreto II 478.



Mörike I 338. 356. 551. 669. 690. 692.

695. II
4. 109. 112. 121. 122. 151.

260. 262. 273. 392.



─ über freieren Gebrauch unreiner Reime

I 468.



Morin, G. I 685. 686. 712. 763. II 63. 230.



Moris II 245.



Moritz I 7. II 325.



Morländer II 487. 492.



Moscherosch II 190.



Mosen I 311. 452. 503. 544. 656. 662.

669. 673. II
19. 22 63. 102. 109.

121. 253. 268. 273. 325. 400. 420

450. 452. 464.



Mosenthal I 658. II 464. 467. 499.



Moser, G. v. II 488. 499.



Moser, O. II 387. 485.



Moser, v., II 131.



Möser, A. I 154. 198. 213. 578. 586.

634. 658. 685. II 68. 140. 205 235.

239. 268. 273. [I
S. 71 Z. 13. v.

u. tilge: † 1877.]

[Spaltenumbruch]



Möser, G. II 399.



Motette die II 532.



Möwes II 131.



Moy II 474.



Mozart II 510. 511. 528.



─ als Konsequenz Glucks II 519.



Müchler II 166. 207.



Mügge, Th. II 370. 373. 400.



Mühlbach II 327. 399.



Mühler II 113. 268.



Mühlfeld II 370. 387. 400.



Müldener II 375. 399.



Müllenhof II 262.



Müller, A. II 321. 464. 487. 499.



Müller, Gottw. II 354. 375.



Müller, Hugo II 474. 499.



Müller, Max I 157.



Müller, Wilhelm I 98. 126. 194. 205.

318. 323. 327. 329. 331. 363. 407.

546. 636. 648. 660. 663. 690. 709.

734. 739. II
113. 116. 123. 125. 144.

273. 400.



Müller, Maler II 77. 146.



Müller, O. II 250. 400.



Müller, Wenzel II 510.



Müller von Königswinter I 166. 426.

659. 669. 681. II
107. 235. 244. 266.

387. 499.



Müller v. d. W. I. 399. 435. 451. 571.

749. II
107. 114. 146.



Müllner I 327. II 399. 402. 454. 455.



Münchhausen II 399.



Mundt I 7. II 400.



Munter II 131.



Murad Efendi II 464.



Murner II 190.



Musäus I 55. II 199. 261.



Muskulus II 130.



Muspilli I 43. 401. 475.



Musset II 480.



Mützelberg II 364. 370. 400.



Mutzl I 226.



Mylius II 387. 400. 490.



Mythologie, Entstehung aus den Tropen

I 150.



Mythus II 246.





Nadler I 113.



Naives I 89.



Nänie II 152.



Nathusius II 369. 400.



Naubert II 400.



Naumann II 545.



Neander I 337.



Negation I 208.

[Ende Spaltensatz] |#f0587 : 565|



[Beginn Spaltensatz]Nennersdorf II 370.



Nentwig II 387.



Neologismus I 113.



Nesmüller II 488.



Nestroy II 486. 487. 492. 498. 513.



Neubeck II 21.



Neuburger I 658.



Neuffer II 235. 239.



Neumann II 144. 387. 412. 499. 512.



Neumark II 130.



Neumeister II 131. 388.



Nibelungenepos I 44. II 289.



Nibelungenstrophe I 601.



─ Anwendung derselben in der Neuzeit

I 603.



─ neue I 640.



Nibelungenvers, der neue I 317.



Nibelungenvers, der geteilte neue I 318.



Nibelungen, der Ring des I 415.



Nicolai I 325. II 130. 321. 511. 512.



Niederhöffer II 245.



Niemann II 370.



Niemeyer II 131. 171.



Niendorf II 68. 400.



Nieritz II 367. 375.



Niggeler I 661. II 138.



Nissel II 452. 482. 490.



Nithart I 612. 647.



Nitzsch II 285.



Noe II 400.



Norden II 387.



Notter II 475.



Novalis I 328. 640. 681. II 124. 131.

144. 151. 178. 399.



Novelle, der Reim in derselben I 459.



─ die II 386.



─ Anforderung an dieselbe II 390.



─ charakteristische Stilproben II 491.



Nürnberg II 497. 513.



Nürnberger II 332.



Nutzhorn II 285.





Objective Poesie II 1.



Ode I 459. II 134.



Offenbach II 512.



Öhlenschläger I 560. II 262.



Ohorn I 582. II 375.



Oktave, die I 550.



Oktavenkranz I 593.



Ölbermann I 656. 681.



Oldenburg II 458.



Ölfers II 400.



Olivier II 387.



Ölkers II 399.



Ölschläger, H. I 682. II 367.

[Spaltenumbruch]



Onomatopöie I 202.



Oper, die, Begriffliches II 508.



─ die große Oper II 509.



─ die komische Oper II 510.



─ Entstehung und Geschichte derselben

II 513.



─ die erste deutsche II 517.



─ R. Wagner u. d. Oper, siehe Wagner.



Operette, die II 511.



Opitz, M., dessen Poeterei I 4.



─ über d. Gebrauch guter Epitheta I 138.



─ Betonungsprinzip I 231.



─ über Strophen I 490.



Opitz I 112. 228. 315. 710. 725. II

151. 517.



Oer I 461. II 244.



Oratorium, das II 541.



Oratorium der Neuzeit, Analysen II 543.



─ weltliche II 545.



Orientalische Formen I 584.



Orpheus II 153.



Ortlepp II 459.



Ortnit I 44.



Oser I 659. 744.



Oskar II., König von Schweden I 617.

652. II
97.



Osterwald I 658. II 337.



Otfried, dessen Metrik I 221. 476.



─ dessen Strophe I 492.



─ dessen Vollreim I 476 und sein Unterschied

von unserm I 479.



─ Evangelienharmonie, bez. des Accentes

I 222.



I 43. 402. 413. 423. 454. 600. II

399.



Öttinger II 369.



Otto I 139.



Otto-Peters I 656. 682. II 370. 371.

399. 400. 401.



Overbeck I 435. 455.



Oxymoron I 197.





Paalzow II 401.



Paar, Mathilde II 499.



Pachler, Faust II 121. 123. 367. 480.



Pacuvius II 458.



Palestrina, Vollender des Kirchenmusikstils

II 539.



Palindrom II 183.



Palleske I 8. 258. II 501.



─ über Vortragskunst in großen Räumen

I 255.



─ über Jordans episch. Vers der Germanen

I 259.



Paoli, Betty I 327. 503. 642. 658. II 151.

[Ende Spaltensatz] |#f0588 : 566|



[Beginn Spaltensatz]Päon I 302.



Pape II 501.



Parabel II 167.



Paradoxon I 198.



Parallelismus II 194. 392.



Paramythie II 171.



Parenthese I 212.



Parisius II 401.



Parodie II 193.



Parzival I 46. II 306.



Pasque II 368. 501.



Passion II 536.



Paul II 406.



Paulsen II 474.



Paumgartten, v. II 421. 501.



Pause, rhythmische I 270.



Pegnitzschäfer I 510.



Peiwasch-Parneh, Volksepos d. Lappen

II 283. 297. 298.



Pentameter I 357.



Percy II 75. 97.



Pergolese II 511. 516.



Peri II 514.



Perinot II 489.



Peripetie im Drama II 45.



Perl II 401.



Perrault II 261.



Perron II 501.



Persische Vierzeile I 584. 643.



Personifikationen I 169.



Pessimistenbrevier II 428.



Peter v. Staufenberg I 48.



Petöfi II 156.



Petrarka II 139.



Petri I 7.



Petrik II 501.



Pfarrius I 211. 739. 741. II 387. 401.



Pfeffel II 88. 175. 207. 215. 253.



Pfinzing, Melchior II 178.



Pfitzer G. I 504. II 67. 273.



Pflug II 387.



Phädrus (Fabeldichter) II 165.



Phaläkische Strophe I 524.



Phaläkischer Vers I 339.



Pherekratischer Vers I 340.



Pherekratische Strophe I 523.



Philippson II 387. 400.



Phöbus I 108.



Pichler, A. II 107. 401. 501.



Pichler, Karoline II 235. 253.



Piening II 401.



Pindars Gesänge I 528.



Pindar II 119.



Pinkerton II 97.



Pinzgauer I 672. II 76.

[Spaltenumbruch]



Pirazzi, Emil II 474.



Planché II 528.



Pläschke II 107.



Platen I 117. 210. 320. 323. 325. 327.

329. 331. 332. 341. 342. 344. 359.

423. 428. 430. 431. 435. 464. 465.

489. 500. 512. 567. 578. 580. 585.

634. 639. 647. 661. 679. 757. II
15.

420. 455. 481. 489.



Platens antikisierende Strophe I 525.



Platon I 160. 162. II. 63.



─, über das Schöne I 75. 78.



Platon, Phädrus I 78.



─, Epos und Tragödie II 7.



Plautus II 494.



Pleonasmus I 108.



Plönnies I 551. 682. II 262. 273. 325.

501.



Plotin I 3.



Pocci I 429. II 501.



Poesie, Schwesterkünste ders. im Verhältnis

dazu I 13.



─ schöne Form und schöner Jnhalt I 12.



─ und Prosa I 16.



─ Ursprung und Alter I 18.



─ die ersten Gesänge I 18.



─ Jordans Ansicht über Entstehung I

22.



─ Etymologisches üb. den Namen I 24.



─ ihre Stoffe I 39.



─ ihre Sprache I 107.



─ melische II 11.



Poet, siehe Dichter.



Poetik, Wesen derselben I 1.



─ als Bedürfnis I 2.



─ Geschichte ders. bis Schiller u. Goethe

I 3.



─ Geschichte ders. bis in die Gegenwart

I 6.



─ des M. Opitz I 4.



─ das Verhältnis der Künste zu derselben

I 8.



─ Gegenstand ders. I 10.



─ Einführung ins Stoffliche I 42.



Poetische Erzählung II 228.



Poggel I 7.



Pohl, E. II 488.



Pohl, Richard II 68. 501.



Pölitz II 536.



Polko II 401.



Pollak II 387.



Polyptoton I 189.



Polysyndeton I 184.



Ponholzer II 501.



Ponsard II 501.

[Ende Spaltensatz] |#f0589 : 567|



[Beginn Spaltensatz]Ponte II 501.



Pope 139. 207. 225. 536.



Porphyrius II 268.



Posse, Lokalp., Zauberp. II 485.



Präsensfigur I 210.



Prechtler II 421.



Prel, Karl du I 8. II 18.



Presber II 401.



Priamel II 207.



Priapischer Vers I 341.



Pröhl II 401.



Pröhle, H. I 656. 669. II 97. 501.



Prokeleusmatikus I 301



Prometheus-Mythus II 450.



Proömium II 278.



Proportionalität (goldner Schnitt) I 84.



Prosa und Poesie I 16.



Prosodik I 215.



─ deutsche, im Gegensatz z. altklassischen

I 216.



─ Prinzip, das ursprüngl. deutsche I 231.



─ Grundgesetz unserer gegenwärtigen

I 233.



─ Tongrade I 234.



─ Geist der accentuierenden I 257.



Provençalen II 65. 66.



Provençalisch=italien. Formen I 531.



Provinzialismus I 113. 136.



Prutz I 112. 273. 311. 331. 401. 479.

481. 659. 681. 683. II
22. 68. 102.

112. 273. 401. 479. 481.



Psalm II 533.



Puschkin I 734. II 230.



Püttmann II 140.



Pyrrhichius I 300.





Quantität und Accent I 221. 225. 228.

232. 253. 303. 469.



Quantitätsprinzip, Konsequenzen daraus

I 256.



Quantitierende Tonmessung I 217.



Quellen unserer Poetik I 6.



Quinar I 311.





Raabe II 401.



Rabener I 199. II 195.



Rachel, J., Anforderung an den Dichter

I 33.



─ Schöpfer der Satire II 190.



Raeder II 486. 487.



Raimund II 375. 401. 486. 487. 498.



Ramajana, ind. Epos II 285.



Rambach I 707. II 131. 504.



Ramler I 340. II 139. 140. 150. 166.

504. 536.

[Spaltenumbruch]



Rank II 401.



Raphael II 381.



Rapp II 468.



Rappaport II 325.



Raßmann I 578. II 218.



Rätsel II 179.



Rau II 401. 481.



Raupach II 412. 421. 432. 452. 467.

498.



Rauscher I 669.



Raven II 401.



Realismus in der Poesie I 140.



Rebenstock II 337.



Reche II 499.



Redwitz I 309. 533. 538. 664. 742. II

107. 112. 131. 258. 366. 474.



Redwitz Amaranth II 320.



Refrain I 438. 500.



─ Goethe, Uhland, Rückert &c. 445 ff.



─ Goethescher 483.



Rehfues II 372.



Reichenau II 399. 401.



Reichenbach II 387.



Reichhardt II 506.



Reid II 387.



Reihen, rhythmische I 268. 287.



─ Komposition aller möglichen I 272.



─ längere jambische und trochäische,

deren Schreibweise I 324.



Reim, Grundbegriffe, I 388.



─ Entstehungsgeschichte I 390.



─ Naturnotwendigkeit f. d. Wohlklang

I 392.



─ als Charakteristikum unserer Dichtersprache

I 392.



─ seine Einteilung I 394.



─ der Vollreim I 424.



─ der Vollreim s. Arten I 425.



─ Architektonik I 461.



─ Anforderung an ihn I 463.



─ Reinheit I 463. 464.



─ Unreinheit I 463.



─ Grenze der Zulässigkeit unreiner

Reime I 465.



─ Entwickelungsgeschichte des Vollreims

I 475.



─ mittelhochdtsch., und s. Weiterbildung

I 477.



─ seine Anwendungsfähigkeit I 458.



─ Vorzüge d. dtsch. gegenüber anderen

Sprachen I 486.



─ künstlicher für den Bau längerer

Strophen I 507.



Reimart, ihre Auswahl für den jeweiligen

Stoff I 460.

[Ende Spaltensatz] |#f0590 : 568|



[Beginn Spaltensatz]Reimwetzler I 394.



Reinfels II 387.



Reinhold I 538.



Reinick I 294. 456. 658. 681. 690. II

109. 123. 124.



Reinow II 401.



Reinwald II 401.



Reissiger II 519. 545.



Reizende, das I 92.



Religiöses Epos II 322.



Rellstab II 191. 371. 372. 373. 401.



Remy I 295. 661. II 107.



Requiem, das II 540.



Retcliffe II 364.



Retwisch II 400.



Reusch II. 245.



Reuter I 105. 106. 112. 113. 277. II

199. 354. 358. 359. 369. 386. 401.



Rhapsodie, epische II 231.



─ lyrische II 139.



Rheder II 499.



Rheinisch I 659.



Rheinthal II 545.



Rhode II 328.



Rhythmik I 215. 260.



─ vollkommenere I 258.



Rhythmus I 83. 264.



─ der große I 269.



─ u. Metrum I 262.



─ Prinzip des ursprüngl. deutsch. u. s.

Wandlg. I 266.



─ Rückkehr zu demselben I 267.



─ rhythmische Bewegung I 202.



─ rhythmische Malerei I 275.



─ rhythmische Pausen I 270.



─ rhythmische Reihe I 268.



─ rhythmischer Takt I 263.



Ribbeck II 424.



Richardson II 368.



Richter II 131. 171. 173.



Riecke I 504.



Riehl II 399.



Riese II 204.



Rieß II 545.



Riffert II 499.



Rigis II 268.



Rinckart II 130.



Ring II 401.



Ringwaldt II 130.



Riotte II 401. 474.



Ritornelle I 545.



Ritter I 312 II 480.



Rittershaus I 139. 204. 323. 331. 544.

659. 682. 709. 742. II
68. 103.

107. 109. 151. 230. 273.

[Spaltenumbruch]



Röber II 528.



Robiano II 353.



Rochholz II 245.



Rochlitz II 131.



Rodenberg I 163. 187. 538. 681. II

104. 109. 235. 262. 371. 401. 412.

528.



Rodigast II 130.



Roffhack II 341.



Rogans II 399.



Rogge II 464.



Rolandslied vom Pfaffen Konrad II 313.



Rolle II 545.



Rollenhagens Froschmeuseler II 162.

190. 344.



Roller II 194.



Rollet II 112. 253.



Roman, Begriff, Verbreitung und Bedeutung

II 347.



─ Verhältnis z. Epos II 349.



─ Verhältnis z. Drama II 350.



─ dessen Stoff II 352.



─ dessen Jdee II 353.



─ dessen Bau II 356.



─ dessen Held II 356.



─ sonstige Charaktere II 359.



─ Stilproben II 375.



─ Charakteristisches in der Technik II

361.



─ Stilgesetze II 362.



─ Ästhetische Anforderungen II 364.



─ Grundlage des guten R. II 366.



─ Einteilung der Romane nach Jean

Paul II 367.



─ Einteilung nach Form und Jnhalt

II 367.



─ Einteilung in Tendenz- und Stoffroman

II 371.



─ unsere Einteilung II 372.



─ Charakteristische Stilproben aus:

Grimmelshausens Simplicissimus,

Wielands Agathon, Kellers grüner

Heinrich. II 376.



─ zur Geschichte u. Litteratur desselben

II 381.



Romantische, das I 88.



Romantisches Lustspiel II 482.



Romantische Poesie II 6.



Romanze II 262. 264.



Rondeau, das I 581.



Roos II 184.



Roose II 245.



Roquette I 656. 658. 665. 681. 683.

702. 726. 745. II
63. 68. 107. 109.

262. 337. 401. 452. 464.

[Ende Spaltensatz] |#f0591 : 569|



[Beginn Spaltensatz]Rosegger I 55. II 375. 400.



Rosen II 375. 401. 485.



Rosenkranz I 6. 77.



Rosenthal-Bonin II 352. 362. 364. 370.

389. 401. 409.



Roskowska II 387.



Rossini II 509. 511.



Rost II 464.



Rothenburg II 401.



Rothenfels II 387.



Rotth I 5.



Rubay I 585.



Rubel II 131.



Rubinstein II 545.



Rückert I 12. 15. 17. 19. 39. 52. 56. 73.

89. 93. 113. 124. 130. 137. 145 153.

159. 160. 170. 180─90. 192. 195.

198. 204. 207. 212. 232. 236. 251.

268. 271. 277. 288. 294. 298. 305.

310. 311. 315. 319. 321. 330. 332.

337. 340. 346. 348. 354. 358. 373.

374. 377. 380. 384. 387. 390. 399.

405. 409. 420. 423. 428. 430. 437.

445. 447. 449. 455. 462. 465. 469.

470. 473. 500. 512. 514. 533. 537.

543. 545. 548. 558. 564─66. 575.

─77. 583. 586. 587. 596. 603. 609.

617. 634. 638. 641. 642. 645─58.

665─72. 676. 680. 684. 686. 688.

690. 691. 693. 696. 697. 698. 707.

712. 715. 717. 719. 720─40. 742.

746. 748. 749. 751. 756. 760. 763.

II
13. 14. 19. 64. 100. 103. 107

109. 111. 113. 116. 119. 120. 121.

124. 131. 139. 142. 144. 145. 146.

148. 167. 169. 172. 175. 178. 184.

185. 191. 195. 200. 203. 206. 210.

213. 219. 221. 222. 226. 234. 235.

239. 243. 249. 252. 253. 258. 366.

408. 468. 479.



─ über den Begriff: Dichter I 26.



─ als Sprachbildner I 117.



─ dessen antike Strophen. I 529.



─ Begründer d. didaktischen Poesie II 20.



Rückerts Kaiser Heinrich IV. II 416.



Rückerts Rostem und Suhrab II 331.



Rückerts Makamen I 590. 593.



Rudolf II 499.



Rüffer II 387.



Ruge I 77.



Ruhnken II 321.



Rümelin über die Katharsis II 424.



Rumohr II 347.



Runge I 320.



Ruppius II 370. 401.

[Spaltenumbruch]



Rustige II 478.



Rutenberg II 401.





Saar II 370.



Sacher Masoch II 255. 359. 363. 399.

467.



Sachs I 375. 427. II 130. 477.



Sachse II 131.



Sage II 240. 256.



Sakuntala II 468.



Sales II 375.



Salingré II 486. 487. 506



Salis I 337. 342. 642. 657. 681. II

112. 151. 239.



Sallet I 130. 279. II 21. 22. 64. 222.

224. 262.



Salomon II 401.



Salzbrunn II 401.



Samarow II 374.



Sand II 401.



Sanders I 395. 435. 646.



Sapphir II 188.



Sappho II 153. 191.



Sapphische Strophe I 519.



Sapphischer Vers I 341.



Sardou II 485.



Sardou's Dora II 469.



Sarkasmus I 200.



Satire II 185.



Satori II 401.



Satura (Ennius, Lucilius) II 185.



Saturnischer Vers II 277.



Sauer II 387.



Sauerländer II 402.



Savonarola II 484.



Scaliger I 4.



Scene und Scenenwechsel in d. dramat.

Dichtungen. II 51.



Schachzabelbuch I 47.



Schack I 344. 661. II 329. 349. 479.

495.



Schack v. Jgar II 387.



Schalk II 200.



Schall II 262. 375. 498.



Schalling II 130.



Schaltvers I 453.



Schambach II 245.



Schandein I 113.



Schanz, J. I 538.



Schaumberger II 232. 375.



Schauffert II 493.



Schauspiel, Allgemeines II 465.



─ Einteilung desselben II 466.



─ mit Musik II 507.



Schauspieler, ihre Aufgaben II 59.

[Ende Spaltensatz] |#f0592 : 570|



[Beginn Spaltensatz]

Schefer I 159. 664. 682. 720. 728. 733.

II
22. 212. 221. 253. 392 399.



Scheffel I 112. 126 172. 182. 185. 186.

191. 232. 233. 257. 268. 318. 320.

328. 343. 348. 363. 364. 369. 370.

371. 377. 378. 384. 453. 468. 469

484. 605. 658. II
67. 68. 78. 146.

199. 280. 322. 373. 376. 386. 401.



Scheffel, dessen Accentverse I 368.



─ dessen teutoburger Schlacht als Volkslied

II 114.



Scheffler I 51. 697. II 130. 212.



Scheibe II 388. 401.



Scheitlin II 375.



Schelling, über Philosophie der Kunst

I 77.



Schenk II 452.



Schenkel II 94. 95. 158.



Schenkendorf I 327. 515. 640. 685. 701.

II
88. 94. 104. 123.



Scherer I 132. 257. 658. 682. II 75.

97. 139. 151.



Scherenberg, Chr. I 259. 311. 634. 649.

687. II
68. 107.



Scherenbergs Epen II 335.



Scherr II 157.



Scheurlin I 690. 699. 757. II 399.



Schicht II 545.



Schiebeler II 217. 272.



Schiefner II 293.



Schiff II 368.



Schilcher II 469.



Schiller, über den Begriff: Dichter I 26.



─ über dichterische Behandlungsweise I

40.



─ über den Jdealismus I 141.



─ dessen Accentverse I 367.



─ Begründer einer echt didakt. Poesie

II 20.



─ Modernität des Stoffes II 303.



─ dessen gereimte Griechenstrophe I

526.



─ dessen Oktaven I 553.



─ über die poetisch=rhythmische Sprache

II 433.



Schillers Lied von der Glocke. Höhere

Stropheneinheit I 515.



─ Wallenstein. Technik desselben II 439.



─ Fiesko, Analyse II 462.



─ Kabale und Liebe, Analyse II 462.



─ Maria Stuart, Analyse II 462.



─ Jungfrau v. Orleans, Braut von

Messina, Analyse II 463.



─ die Räuber, Analyse II 472.



─ Tell, Analyse II 472.

[Spaltenumbruch]

Schiller I 10. 12. 17. 39. 52. 56. 57. 66.

86. 90. 93. 109. 117. 129. 130 134.

137. 154. 160. 162. 164. 166. 174.

182. 185. 191. 193. 197. 200─232.

257. 268. 270. 277. 281. 299. 306.

312. 321. 336. 337. 343. 347. 354.

356. 362. 364. 366. 368. 371. 373

376. 377. 410. 423. 431. 457. 472.

514. 525. 529. 538. 551. 555. 638.

655. 656. 657. 658. 666. 694. 710.

713. 725. 757. 763. II
2. 87. 88.

100. 112. 139. 140. 144. 145. 146.

151. 152. 171. 173. 175. 178. 179.

191. 200. 203. 206. 210. 231. 236.

239. 249. 263. 268. 376. 392. 409.

432. 451. 452. 466. 467. 484. 498.



Schindel I 546.



Schirmer II 370.



Schlägel, Max v. I 387. 401. 499.



Schlagreim I 456.



Schlegel Fr. I 421. 422. 436. 365. 566.

582. 657. 668. 702. 712. 733. II


125. 131. 191. 249. 253. 268. 407.



─ über den Sloka I 597.



Schlegel, A. W. I 6. 124. 279. 322.

327. 357. 437. 468. 543. 551. 560.

566. 576. 657. 668. 681.



─ über die Tragödie II 422.



Schleich II 475. 486.



Schleiermacher I 6.



Schlencker II 401.



Schlesinger II 337. 412. 490. 499.



Schlieben II 352. 401.



Schlönbach I 503. II 22. 63. 226. 336.

401.



Schlossar I 97. 682.



Schmeling II 370.



Schmid, Herm. I 213. 214. 647. II 375.

400.



Schmid, Christoph II 253.



Schmidt-Cabanis I 105. 189. 667. 668.

II
113. 191. 399. 492. 499. 445.



Schmidt, A. II 64. 401.



Schmidt, Heinrich I 254. II 456.



Schmidt, Elise II 452.



Schmidt, Klamer I 578. 581.



Schmidt, Julian II 390.



Schmidt v. Lübeck I 334 335. 657. 710.

II
47.



Schmidt-Weißenfels I 68.



Schmithoff II 488.



Schmitz II 245.



Schmolke II 131.



Schnaderhüpfln I 385.



Schneckenburger II 102.

[Ende Spaltensatz] |#f0593 : 571|



[Beginn Spaltensatz]Schneegans I 196. 211. 372. II 68. 474.



Schneider II 488. 545.



Schneittheiner II 236.



Schneller II 245.



Schnepper II 207.



Schnezler I 685 II 244. 260.



Scholz II 519.



Schönaich, C. O. v. II 336.



─ Prinz E. zu II 392.



Schöne, das I 12. 78.



─ Erkenntnis des Sch. I 82.



─ Proportionalität I 84.



─ Charakteristisches I 86.



─ Schaffen des Sch. I 90.



─ Gegensätze des Schönen (Häßliches,

Furchtbares, Grausiges) I 91.



─ Erscheinungsformen (Lachbares, Reizendes,

Erhabenes u. s. Unterarten),

Komisches I 106.



─ bei Bildung u. Gebrauch der Wörter

I 116.



─ (siehe Unschöne).



Schöner II 131.



Schönfeld, P. I 300. 520. 521. 522.

617.



Schönhardt I 213.



Schönstein II 492.



Schönwerth II 245.



Schopenhauer II 401. 455.



─ über den Reim I 485.



─ über die Tragödie II 421. 452.



─ über poetische Gerechtigkeit II 429.



─ der tragische Held der christlichen

Anschauung II 436.



Schöpf II 375.



Schoppe II 401.



Schöppner II 244.



Schrader II 253. 370.



Schreiber II 219. 401. 484.



Schreyer II 474.



Schreyvogel II 478.



Schröder II 107. 342. 484.



Schröer II 209.



Schubart I 98. 440. 649. II 131. 139.

144. 146. 236. 253.



Schubert II 387.



Schücking II 361. 370. 387. 400. 499.



Schuhmann II 323.



Schuller II 245.



Schultes, K. I 660.



Schults I 125 II 68. 131. 337.



Schulze I 507. 552. 578. II 63. 144.

151. 178. 215.



Schulzes Cäcilie II 317.



─ bezauberte Rose II 318.

[Spaltenumbruch]



Schumann I 593. II 504. 545.



Schuster II 512.



Schütt II 488.



Schütz II 195 517. 536. 592.



Schütze II 401.



Schwab I 33. 163. 175. 455. 634. 659.

667. 681. II
67. 112. 155. 236.

249. 253. 262. 273.



Schwank II 485. 487.



Schwartz II 401 554.



Schwarz II 245. 387. 401.



Schweichel II 388.



Schwerin II 401.



Scott, W., dessen poetische Malerei I 14.



Scribe II 480. 483. 485.



Seeger I 751.



Seguidilla I 575.



Seidel II 387. 401.



Seidl I 113. 656. 658. 682. 757. II

77. 142. 151. 175. 273. 325. 498.

536.



Seiffert II 113.



Seifriz II 508. 545.



Selnecker II 130.



Senar, der neue I 320.



Senoa II 401.



Sentenz I 209.



Sequenzen I 619.



Sestine I 547.



Seuffer I 112.



Seume II 230.



Seyd, W. I 8.



Shakespeare I 190. II 48. 466.



Shakespeares Hamlet als Beispiel des

Baues eines Dramas II 49.



─ Romeo und Julia Analyse II 460.



─ Hamlet Analyse II 460.



─ Lear. Analyse II 460.



Sheridan II 484.



Siciliane, die I 556.



Sicilianenform I 683.



Siebel I 694. II 121.



Siebenlist II 199. 422. 424. 429. 430.

431. 434. 436.



─ über Schopenhauers Ansprüche, die

Tragödie betreffend II 452. 453.



Siegen II 498.



Sigismund II 68.



Silben, Bedeutung, Zusammensetzung

I 240.



Silbensystem, deutsches I 244. 246.



Silbenzählungsverse I 370.



Silberstein A. I 682. II 388. 400.



Silbert II 253.



Silesius I 51.

[Ende Spaltensatz] |#f0594 : 572|



[Beginn Spaltensatz]Simon I 689.



Simrock I 8. 75. 385. 398. 400. 409.

411. 674. 682. II
76. 85. 91. 95.

97. 104. 244. 245. 253. 262. 273.

322.



Singen, Sänger (Begabung u. Schulung

zum Beruf) I 25.



Singspiel (Vaudeville) II 505.



Sinnbild II 174.



Sinngedicht II 203.



Sivers I 656.



Skansion, skandieren I 291.



Skazon I 321.



Skolion II 118.



Sloka, der I 596.



Smets I 578 II 218. 249. 536.



Snieders II 375.



Solger I 6. II 458.



Solitaire I 683. 401.



Soltau I 698. 714. II 94. 97.



Sommer II 195. 245.



Sondermann II 370.



Sondershausen, K. I 701.



Sonett I 531.



─ Geschichtliches I 535.



Sonettenkranz I 540.



Sonnenberg II 151.



Sonnenburg II 387.



Sonnenschmidt I 757.



Sonntag II 488.



Souchay I 326. 531. 540. 761.



Spanische Formen I 565.



Späth II 533. 545.



Spee I 4. 640. II 130.



Spengler I 710. II 130.



Spenserstanze I 555.



Spielberg II 368.



Spielhagen II 68. 348. 353. 354. 355.

358. 363. 364. 365. 368. 370. 371.

374. 401. 466. 473. 499. 573.



Spieß II 370.



Spindler II 399.



Spitta I 671. 685. II 68. 125. 131.

144. 354. 371.



Spondeus I 299.



Spondeen, damit gemischte Verse I 348.



Spontini II 516.



Sprache, die poetische I 107.



Sprechton I 234.



Sprichwort II 163.



Springer II 370.



Spruchgedicht II 211.



Stabreim (s. Allitteration) I 394.



Stadelmann I 460.



Staden II 519.

[Spaltenumbruch]



Stägemann II 104.



Stahl II 375. 401.



Stanze, die I 550.



Starke II 486.



Stavenow II 399.



Steffens II 245. 370. 389.



Steger II 325.



Steigentesch II 475. 498.



Stein II 307. 401.



Stein-Kochberg II 484.



Stelter, Karl II 228. 230. 244. 258.

268.



Steltzig, II 388.



Stelzhammer I 55.



Stengel II 370. 400.



Stern, Ad. II 68. 107. 325. 371. 399.

387.



Sternberg II 399. 401.



Stettenheim II 487.



Steub II 401.



Stichomythie I 196.



Stichos (griechische Verszeile) I 295.



Stieglitz, Nik II 475.



Stiel II 17.



Stier II 245.



Stifft II 387.



Stifter II 401.



Stil, der I 86.



─ im allgemeinen II 16.



Stinde II 499.



Stix II 488. 490.



Stöber I 364. 656. 658. 659. 682.

II
123. 125. 245. 367.



Stöckhardt II 510.



Stoffe, dichterische I 39.



─ Einteilung in der Poesie nach Stoff

und Form II 7.



Stolberg I 520. II 77. 108. 131. 139.

144. 151. 191. 239. 268.



Stolle I 659. II 401.



Stollen I 400.



Stolterfoth II 107. 245. 262.



Stoltze I 55. II 401. 486.



Storch II 401.



Storck I 559. 562. II 107. 109. 113.

117. 121. 131. 139. 230. 412. 500.

536.



Storm, Th. I 55. 546. II 68. 151.

401.



Strachwitz I 586. 662. 682. 694. 704.

725. 763. II
102. 104. 268.



Strackerjan II 245.



Straß, H. II 87. 98.



Strauß I 328. 682. II 68. 131. 151. 401.



Strecker I 47.

[Ende Spaltensatz] |#f0595 : 573|



[Beginn Spaltensatz]

Strodtmann I 295. 647. 681. II 63.

81. 104.



Strophen, Alter derselben I 489.



─ Analogie derselben I 493.



─ Bau derselben I 497.



─ Jnhaltsabgrenzung I 498.



─ symmetrische und unsymmetrische I

509.



─ Doppelstrophen I 513.



─ Einteilung der Strophen I 517.



─ antike und antikisierende I 517. 518.

524.



─ über Verwendbarkeit und Reim I 257.



─ deutschnationale der Gegenwart I 633.



─ althochdeutsche und mittelhochdeutsche

I 599.



─ Nibelungenstrophe I 601.



─ Gudrunstrophe I 607.



─ der Minnesinger I 608. s. unter Ton.



─ Strophenglieder I 512.



─ Strophenbau, Gesetz der Dreiteiligkeit

im mittelhochdeutschen I 614.



─ Strophenbau, Dreiteiligkeit b. neueren

Dichtern I 616.



─ strophisches Charakteristikum I 499,

als: Zeilenverschiedenheit I 500, Reimverschiedenheit

I 503; Wechsel im Tongrad

I 504; Wechsel des Reimvokals I

504; Wechsel des Rhythmus I 504;

Abwechslung der Kola I 507.



Stubenbrock II 488.



Studenmund II 245.



Stuhlmann II 407.



Sturm, Christ. II 131.



Sturm, Jul. I 277. 634. 656. 658. 710.

711. II
63. 68. 107. 109. 121. 124.

131. 139. 167. 230. 253. 273.



Stutz I 55.



Subjektive Poesie II 1.



Sulzer I 6.



Süß II 97.



Symploke I 190.



Synekdoche I 167.





Takt, rhythmischer I 263.



─ Verstakt I 284. 285.



─ Satztakt I 284. 285.



Tarnow II 387. 491.



Tassos befreites Jerusalem II 333.



Taubert II 511.



Taura II 400.



Tautologie I 108.



Tegner I 404.



Tellkampf II 328.



Telmann II 401.

[Spaltenumbruch]



Temme II 399.



Tempeltey I 195. 288. II 239. 484.



Tenelli II 478.



Tenger II 400. 401.



Tenzone I 571.



─ Uhland-Rückerts I 572.



Tersteegen II 130.



Terzine I 543.



─ falsche I 637.



Tetrameter I 360.



Tettau I 20. II 242.



Teuscher II 321.



Thalhaus II 370.



Tharau II 401.



Theater, das erste stehende II 471.



Theile II 518.



Thesis I 215.



Thetische Behandlung v. Tonsilben I 237.



Thiele II 245.



Thiersch I 7.



Thill I 753.



Thomas II 464. 484.



Thümmel II 215. 341.



Tieck, Stilprobe für die Novelle aus

dessen Zauberschloß II 392.



─ über dramat. Gedicht II 414.



I 6. 193. 328. 423. 436. 437. 565.

567. 640. 727. 752. 755. 763. II
109.

112. 123. 146. 151. 178. 249. 253.

262. 374. 391. 392. 414. 420. 473.

476. 481. 482. 498.



Tiedge I 578. 693. 756. 763. II 21.

151. 166. 210. 215. 223. 239. 536.



Tierepos II 342.



Tierkomödie II 488.



Tirade I 108.



Titurelstrophe, alte I 648.



─ neue I 669. II 308.



Tobler II 337.



Told II 487.



Ton, Sprechton I 243.



Tongrade I 234.



Tonmessung I 216 (s. Prosodik).



Tonstärke, Prinzipien u. Ursachen I 240.



Tonsilben, thetische Behandlung der I 237.



─ arsische Behandlung I 238.



Ton (Strophenbau) der Minnesinger:



─ Titurelton I 609.



─ Marners Ton I 610.



─ Frauenehrenton I 610.



─ Abgespitzter Ton I 611.



─ Boppes Ton I 611.



─ Guldenton I 612.



─ Frauenlobs Ton I 612.



─ Liechtensteins Tanzweise I 612.

[Ende Spaltensatz] |#f0596 : 574|



[Beginn Spaltensatz]Ton, Eine Reihe Nitharts I 612.



─ Hildebrandston I 613.



─ Bernerton I 614.



Töpfer II 498.



Trabnitz II 488.



Träger I 266. 658. 682. II 68. 107.

273.



Tragödie II 421.



─ deren Held II 425.



─ die poetische Gerechtigkeit II 428.



─ Eigenartiges in der Technik II 431.



─ die griechische im Vergleich mit der

unsrigen II 434.



─ ihre Fabel II 435.



─ die Technik der Tragödie II 439.



─ ihre Benennung und Einteilung II

449.



─ Litteratur und Entwickelung, Chor

II 456.



Tragödie, altklassische II 450.



philosophische II 451.



heroische II 451.



bürgerliche II 452.



Schicksalstragödie II 454.



Tragische Schuld, im Gegensatz zur

ethischen I 101.



Trauerspiel, s. Tragödie.



Traun, v. d. II 401.



Trautmann II 487.



Travestie II 191.



Trebitz II 400.



Treumann II 492.



Tribrachys I 301.



Trimeter I 321.



Triolet I 578.



Tristan und Jsold II 308.



Trochäus I 297.



─ spanischer I 327.



─ serbischer I 329.



Trochäische Kompositionen I 273.



Trochäische Verse I 324 ff.



Trochäisch=daktylische Verse I 339.



Trochäisch=jambische Verse I 332.



Tromlitz II 399.



Tropen (Bilder) I 147 ff. 152.



─ ihre Gesetze I 178.



Tschabuschnigg II 401.



Tucher, v. II 531.





Übergangsformen in den Gattungen der

Poesie II 62.



Überhorst II 337.



Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen

II 68.



Üchtritz II 401.

[Spaltenumbruch]

Uhland I 117. 127. 165. 296. 298. 309.

310. 311. 317. 319. 320. 345. 348.

373. 375. 407. 422. 423. 427. 435.

446. 455. 551. 565. 572. 576. 635.

638. 643. 648. 649. 658. 669. 670.

681. 687. 693. 712. 725. 753. II
3.

11. 63. 67. 77. 83. 100. 102. 109.

112. 122. 123. 151. 178. 191. 195.

244. 245. 253. 262. 266. 268. 273.

341. 410. 420.



─ über die wissenschaftliche Erkenntnis

des Dichters I 33.



Uhlig II 63.



Ulfilas Bibelübersetzung I 42.



Ullmayer II 512.



Ulrich II 22.



Umbreit II 531.



Ungern-Sternberg II 374.



Unschöne, das I 130.



Usteri II 83. 117.



Utz I 315. 353. II 22. 131. 133. 136.

139. 144. 213.





Vacano II 370. 375. 401.



Vaudeville II 505.



Vega, Lope de, König Wamba II 468.



Velde, v. d. II 353. 373.



Veldekes Vollreim, Ende 12. Jahrh. I 476.



Veldeke I 475. 476. 478. 646.



Veltheim II 387.



Vely II 387.



Verdi II 515. 541.



Verdi, Regenerator der ital. Oper II

515.



Verena II 387.



Vergils Äneis II 332.



Vernaleken II 244.



Vers, Verslehre I 282.



─ Versbau I 294.



─ seine Elemente I 296.



─ griech.=römischer I 300.



─ Verszeile I 293.



─ Versnamen, ob Übertragung der

griechischen I 296.



─ Verseinteilung I 306.



─ Versarten, freie (Accentverse) I 361.



─ Blankvers I 311.



─ Verse, deutsche, Klassifikation derselben

nach dem Schlußmetrum I 305.



─ die verschiedenen, siehe unter ihrer

speziellen Benennung.



Vetter I 403.



Vida I 3.



Viehoff, über die ital. Stanze I 554.



I 7. 582. II 107.

[Ende Spaltensatz] |#f0597 : 575|



[Beginn Spaltensatz]Vierzeile, die I 564.



─ persische I 584. 643.



Vilmar I 8. II 76.



Vincke II 107. 245. 499.



Vischer, Fr., über die Katachresis I 179.



─ Einteilung der lyrischen Poesie II 71.



─ über die Fabel II 160.



─ über Schicksalstragödie II 454.



─ über eine nationale Oper II 521.



I 7. 75. 77. 94. 102. 157. 199.



Voget II 474.



Vogl I 55. 307. II 253. 273.



Volger II 488.



Volksepen s. Epos.



Volkslied II 73.



─ Begriff, Charakter und Dichter desselben

II 73.



─ als Beweis poetisch=schöpferischer

Volkskraft II 78.



─ als Naturpoesie II 81.



─ Geheimnisse in der Bildung desselben

II 82.



─ Wanderungen durch s. geograph. Bezirke

II 94.



─ das geistliche V. II 95.



─ Geschichte und Litteratur II 96.



─ das, in den letzten Decennien II 98.



Volkslieder und volkstümliche Kunstlieder

II 87.



Volkspoesie II 2.



Volksverse (Knüttelverse) I 382.



Vollmer II 387.



Vonbum II 245.



Vorhauch s. Jordan.



Voß, über das Quantitätsprinzip I 229.



Voß, Luise II 325.



Voß, J. H. v. I 7. 124. 228. 304. 321.

333 341. 359. 429. 454. 470. 473.

576. 659. 667. 669. 670. 672. 710.

II
24. 131. 139. 145. 146. 154. 171.

195. 207. 235. 325. 458.



Voß, Jul. v. II 486.



─ Rich. II 475.



Vulpius II 370.





Wachenhusen II 364. 370. 401. 485.



Wachsmann II 401.



Wacht I 313. 416. II 474. 499.



Wackernagel, Phil., dessen Nibelungenstrophe

I 317.



Wackernagel, Wilh. I 8. 354. 359. 667.

II
96. 125. 131.



─ über die Leiche I 620.



Wagner, E. II 399.



Wagner, R., als Repräsentant der Musik[Spaltenumbruch]

im Verhältnis zu verwandten Künsten

(Dichtkunst, Malerei) I 35.



Wagner, R., sein Verdienst um die

Hebungsverse I 381. 415.



─ dessen Ring des Nibelungen I 122.



─ seine Opernreform II 520.



─ seine Tetralogie II 524.



─ seine Stilcharaktere II 525.



─ seine Leitmotive II 526.



─ Schöpfer eines deutsch=nationalen

Musikdrama II 520.



I 8. 107. 121. 124. 132. 382. 400.

412. II
58. 67. 510. 516. 519. 522. 533.



Waiblinger II 230. 401.



Waldau, M. I 183. 189. 309. 560. 682.

II
68. 244. 322. 401.



Waldmann II 499.



Waldmüller II 107. 230. 373. 401. 464.

474. 499.



Waldow II 371. 491.



Walesrode II 369.



Wallo II 195.



Walter I 693. 694. II 89.



Walthari-Lied I 43.



Walther II 387.



Wander II 212.



Wangemann II 545.



Wangenheim I 322. II 401.



Wartenburg II 370.



Weber, K. M., Schöpfer der romant.

Oper II 520.



Weber II 81. 244. 322. 388.



Wechßler II 480. 499.



Weckherlin I 531. 690. II 139.



Wegener I 661.



Wehl, F. v. I 658. II 107. 400. 401.

412. 421. 464. 488. 498.



Weichselbaumer II 475.



Weidmann II 341.



Weil II 262.



Weilen I 658. II 474.



Weill II 400.



Weinzierl, Stilprobe für die Novelle aus

„Durch Freud und Leid“ II 396. 399.

401.



Weirauch II 486. 507.



Weise II 370.



Weiß I 331. II 130.



Weißbrodt II 325.



Weiße, Chr. F. I 5. 311. 328. 473.

II
487. 498.



Weiße, Herm. I 6.



Weißer II 206.



Welcker, über das Märchen II 257.



Weller II 387.

[Ende Spaltensatz] |#f0598 : 576|



[Beginn Spaltensatz]Welten I 634. 690. II 499.



Wendt I 557. II 274. 474.



Wens I 538.



Wenzig II 211.



Werner II 375. 420. 452. 454.



Wernick I 578.



Werther II 474.



Wesenfeld II 467.



Wessobrunner Gebet I 43. 475.



West II 478.



Westphal, über den Vers (Stichos) I 295.



─ über die griechischen Versnamen I

296.



─ über jambische Verse I 297.



─ über d. deutsch. Hexameter I 356.



I 8 253. 352. 476. 515. II 388.



Wetzel II 249. 253.



Weyermüller II 131.



Whicky II 370.



Wichert II 370. 388. 464. 475. 484.

499.



Wickede II 370. 389. 400.



Wickenburg-Almasy I 426. 690.



Widdern II 387.



Widmann II 545.



Wieland I 54. 470. 507. 601. II 191.

195. 215. 218. 230. 262. 317. 321.

325. 341. 367. 368. 375. 399. 461.



Wieland'sche Oktaven I 552.



Wielands Oberon II 317.



Wieland, Stilprobe für den Roman aus

dessen Agathon II 377.



Wienbarg I 6.



Wiese I 509. II 258. 370.



Wießmann II 195.



Wigalois I 46.



Wigamur I 46.



Wilbrandt I 314. 372. II 68. 400. 458.

464. 500.



Wilcken II 375.



Wildenhahn II 399.



Wildermuth II 401.



Wilferth II 474. 499.



Wilhelm v. Oranse I 45.



Wilhelmi II 498.



Willatzen I 685.



Willkomm II 245. 371. 401.



Winckler II 107.



Windisch I 365.



Winkler I 163. 682. II 110. 181. 498.



Winsbecke I 47.



Winter II 401.



Winterfeld II 325. 400. 499 531.

[Spaltenumbruch]



Wintterlin II 480. 499.



Wirth II 325.



Wittmann II 401.



Wittstock II 227.



Witz I 103.



Woermann I 647.



Wohlfahrt II 499.



Wolf I 7. 130. 226. 308. 352. II 244.

245. 322. 341. 388. 401. 474. 499.



Wolfdietrich I 45.



Wolff I 694. II 97. 122. 528.



Woltersdorf II 131.



Wolzogen, v., Lautsymbolik I 121. II

401. 468.



Wortbildung und Gebrauch (bei Luther,

Fischart, Goethe, Heine, Platen, Rückert

I 116.



Wunderhorn I 437. 642. 650 653.



Wüstemann II 211.



Wyß II 235.





Xenien II 209.





Young II 499.





Zachariä II 151. 236.



Zahn II 531.



Zarnke über den Blankvers I 312.



Zedlitz I 327. 329. 420. 554. 560. II

102. 104. 262. 420. 459.



Zeise I 647. II 68. 104.



Zeising I 7. 77.



Zell II 412.



Zelle II 151.



Zelle, über d. deutsch. Hexameter I 355.



Zellner II 131.



Zesen I 51. 132. 434. 567.



Zettel II 230. 268. 337.



Zetter II 370.



Ziegler II 401. 499.



Ziehnert II 245.



Ziel II 634.



Ziemssen II 387. 401.



Zimmermann I 77. 635. 658.



Zingerle II 245. 262.



Zinzendorf II 131.



Zirklaere I 47.



Zistler II 387.



Zöllner II 244.



Zschokke II 370. 375. 399. 400.



Zumsteeg II 504.



Zwischenspiel II 512.

[Ende Spaltensatz] |#f0599 : E577|

|#f0600 : E578|

|#f0601 : E579|

|#f0602 : E580|

|#f0603 : E581|

|#f0604 : E582|


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Beyer2. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7AB-6