Der Weg in die Stadt scheitert schon am Bordstein

Bei der Planung von Wohnungen und Verkehrsmitteln wird zu wenig Rücksicht auf Behinderte genommen

Nach wie vor sind öffentliche Gebäude nur über Treppen erreichbar, die Einstiegstüren der Verkehrsmittel zu schmal, Türgriffe und Klingeln in Wohnhäusern zu hoch angebracht - es wird, mit einem Wort, immer noch ‘behindertenfeindlich’ geplant und gebaut. Zu diesem Ergebnis kam eine vom ‘Münchner Forum’ veranstaltete Diskussionsrunde mit Vertretern des Wohnungsbaus, der zuständigen Gremien der Stadt und Behindertenverbände im Kirchenzentrum des Olympischen Dorfes.

Die Fachdiskussion ‘Bauen für Behinderte’ unter Leitung von ‘Forum’-Mitglied Friedrich Mager sollte auf die speziellen Probleme Behinderter mit ihrer baulichen Umwelt eingehen. Die Teilnehmer der Runde (Ingrid Leitner vom Club Behinderte und ihre Freunde e.V.; Vertreter des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Baurat Wildgruber, Baureferat der Stadt, Stadtrat Peter Kripp, Ludwig Gerold, Leiter der Planungsabteilung der ‘Neuen Heimat’ und Vertreter der Oberpostdirektion) unterteilten das Thema in die Bereiche ‘Wohnen’, ‘Verkehrsmittel’ und ‘Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude’.

Schon bei der Besprechung des ersten Teiles klafften die Wünsche der Behinderten und die Frage der Realisierbarkeit auf seiten der Planer auseinander: Die Behinderten wiesen auf die Notwendigkeit von Liften in Wohnhäusern, treppenfreie Zugänge zum Lift und automatische Türen in den Tiefgaragen hin. Demgegenüber betonte Ludwig Gerock [!] von der ‘Neuen Heimat’, auch im Wohnungsbau müsse man mit jedem Pfennig rechnen. Es sei eine Blockbildung von Wohnungen für Behinderte, die die geforderten Einrichtungen für möglichst viele Behinderten besäßen, schon in finanzieller Hinsicht unumgänglich. Frau Herrmann vom Sozialreferat der Stadt wies auf die Tatsache hin, daß selbst bei einem Angebot an speziell eingerichteten Wohnungen nach einer Umfrage über die Hälfte der Behinderten gerne in ihrer gewohnten Umwelt blieben und eine Abneigung gegen die Blockbildung zeigten. Auch seien die neuen Wohnungen, wie ein Vertreter des VdK meinte, gegenüber den alten Wohnungen erheblich teurer und für manche einfach unerschwinglich.

Im zweiten Teil der Diskussion, der sich mit den Verkehrsproblemen für die Behinderten befaßte, kritisierten die Behinderten vor allem die schlechte Zugänglichkeitzu den öffentlichen Verkehrsmitteln. Für Rollstuhlfahrer (deren Zahl in München bei etwa 3000 liegt) sei der Einstieg in Bus und Tram ohnehin kaum möglich. Bei U- und S-Bahn seien die Einstiege zwar breit genug - nur seien die Bahnhöfe der U- und S-Bahn fast ausschließlich über Treppen oder Rolltreppen zu erreichen, die für Rollstuhlfahrer ein unüberwindliches Hindernis sind.

Leider wurde und werde auf die Behinderten auch bei der Neuplanung von Verkehrsmitteln wie der U-Bahn wenig Rücksicht genommen. Auch beim Bau der U-Bahn-Linie 8 werde der Einbau eines Liftes nicht in die Planung aufgenommen. Am Marienplatz existiere zwar ein Lift, er führt aber nur ins erste Untergeschoß. Die Fußgängerzone selbst sei nur wieder über Rolltreppen erreichbar. Warum es nicht möglich gewesen sei, statt einer der vielen Rolltreppen ein rollendes Band einzubauen, sei unverständlich.

Daß öffentliche Verkehrsmittel auch den Bedürfnissen Behinderter angepaßt werden könnten und trotzdem stadtplanerisch akzeptabel seien, zeige das Beispiel Stockholms, wo innerhalb von vier Jahren alle Bahnhöfe behindertengerecht umgebaut werden konnten. Stadtrat Peter Kripp meinte, daß es im wesentlichen eine Sache des guten Willens sei, es werde oft gedankenlos geplant; wenn jedoch Zwang entstehe, gehe das vorher Unmögliche plötzlich doch.

Im Gespräch um den dritten Themenkomplex wies Frau Herrmann vom Sozialreferat auf die Notwendigkeit hin, den Bahnhof Scheidplatz für Behinderte zugänglich zu machen. Nur dadurch sei es den Behinderten des ganz in der Nähe gelegenen Rehabilitationszentrums möglich, in die Innenstadt zu gelangen. Ingrid Leitner vom Club Behinderte und ihre Freunde informierte über die Untersuchung der Zugänglichkeit von 26 verschiedenen Zielen innerhalb eines Stadtteils. Hier scheiterte der Weg der Behinderten oft schon am Bordstein. Treppen machten auch Postgebäude und Amter [sic!] unzugänglich. Im Rahmen dieser Erhebung habe man auch festgestellt, daß die Betätigungsanlage bei Verkehrsampeln für Rollstuhlfahrer einfach zu hoch angebracht sei. Im Augenblick seien zwei ehrenamtlich tätige Architekten dabei, aufgrund dieser Erhebung Lösungen zu erarbeiten und den dazu nötigen Kostenaufwand zu errechnen.

Ein Vertreter der Bundespost wies darauf hin, daß bei besonderem Bedarf bereits speziell für Behinderte konstruierte Telefonzellen angebracht würden. Auch müsse jedes Postamt, das über mehrere Zellen verfüge, eine für behinderte Menschen bereitstellen.

Georg Bauer

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TextGrid Repository (2018). Quellensammlung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Stereotype. B4 - Transkript. Geschichte-MMB. Georg Bauer. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-D1C0-F