1825, 13. November.


Mittag bei Goethe

Am 13. November war ich [Förster] wieder zu Goethe an den Mittagtisch geladen. Diesmal war außer mir kein Fremder zugegen, als Oberbaurath Coudray und Eckermann. Er hatte mich bitten lassen, die Zeichnung der Theologie wieder mitzubringen, und noch einmal mußte ich vor der kleinen Versammlung über das Ganze wie über jeden kleinsten Theil ausführlich Rechenschaft geben. Die Scene steht noch vor mir in heiterer Erinnerung. Coudray mochte mehr das Ganze überschauen, während Eckermann zwischen jedem Strich den Stein der Weisen zu suchen schien. Frau Ottilie, die mit den Knaben herzugetreten war, wußte auf die liebenswürdigste Weise durch Fragen meine Beredsamkeit zu reizen, und Goethe in besonders behaglicher und höchst gemüthlicher Stimmung gab dem Gespräche mit Wort und Blick die Richtung und theilte, wie der Geber alles Guten aus sonnenumglänztem Wolkensitz, mit würdevoller Freundlichkeit Belehrung und Lob aus.

Coudray bekümmerte sich viel um das Technische der Frescomalerei, die ja damals erst wieder durch Cornelius in Deutschland in Übung gebracht worden. Eckermann äußerte sich sehr erfreut darüber, daß von einem so kleinen Blatt, wie meine Zeichnung, soviel zu lernen [246] sei, und frug, ob uns wohl überall Bildnisse zu Gebote gestanden hätten, was denn freilich, namentlich in Betreff der Evangelisten und Kirchenväter, verneint werden mußte. Bei historischen Gemälden, meinte er, komme doch sehr viel auf die historische Wahrheit an, weshalb er denn auch eine große Scheu vor Anachronismen und dergleichen Fehler habe. An die Zusammenstellung von Heiligen aus verschiedenen Jahrhunderten habe man sich allerdings gewöhnt durch die Altargemälde, aber die Reformatoren in Einen Raum zu versammeln mit den Aposteln und Kirchenvätern, komme ihm doch gewagt vor, mehr aber noch, daß man durch die Arkaden des Saales ins Freie und zugleich auf Rom, auf das Siebengebirg bei Bonn und auf Wittenberg sehe. Aber Goethe fiel ihm ins Wort und sagte: »Die Herren in Düsseldorf scheinen sich an den Ausspruch Schiller's zu halten: Die Kunst ist eine Fabel! Und sie haben nicht ganz Unrecht: es würde uns wenig von der Kunst übrig bleiben, wenn wir ausschließen wollten, was sich nicht fassen und begreifen läßt wie das tägliche Leben.«

Frau Ottilie lenkte jetzt durch eine neue Betrachtung unter dem Beifall des alten Herrn das Gespräch auf eine andere Seite. »Sonst bei Gemälden« – sagte sie – »bin ich gewöhnt, die dargestellten Personen in Beziehung aufeinander zu sehen, unmittelbar oder wenigstens mittelbar. Hier sind so viele Männer in Einem Raum versammelt, hier und da sehe ich zwei, drei, vier zu einer Gruppe vereinigt, aber jede steht[247] für sich; sie lesen und sprechen, ohne sich um den Nachbar zu bekümmern – und doch stört es mich nicht; ich finde es ganz natürlich. Das Bild kommt mir vor wie eine Bibliothek, in der Evangelisten und Kirchenväter, Protestanten und Katholiken mit ihrem ganzen geistigen Gehalt, gut eingebunden, friedlich neben einander stehen und ohne sich gegenseitig in ihren Gedanken zu unterbrechen.« »Nun« meinte Goethe, »das läßt sich hören! Und wenn es sich denn einmal um Gedanken handelt in dem Bilde, so habe ich auch noch eine Frage an unsern jungen Freund. Sie haben mir« – wandte er sich an mich – »Auskunft gegeben über die beiden Genien zuseiten der allegorischen Mittelfigur. Ich sehe, daß sie Tafeln in ihren Händen haben. Bei den Evangelisten, den Kirchenvätern, bei Luther ist über den Inhalt der Bücher, die sie halten, kein Zweifel, aber was bedeuten die Tafeln ohne Inschrift in den Händen der geflügelten Knaben?« – »Es sind, wenn ich mich von meinem Besuch in Bonn her recht erinnere,« nahm Eckermann das Wort, »Sprüche darauf geschrieben; doch weiß ich nicht mehr, welche?«

»An den Tafeln« – sagte ich – »hängt ein Stück lustiger Künstlergeschichte. Die Genien sollen die beiden Elemente der Theologie, Glauben und Forschen, repräsentiren. Um das deutlicher zu bezeichnen, hatte ihnen Hermann Tafeln in die Hand gegeben und Bibelsprüche darauf geschrieben. Auf der einen stand ›Selig, die nicht sehen und doch glauben,‹ [248] auf der andern ›Prüfet alles und das Beste behaltet.‹ Ich weiß nicht, ob von katholischer oder protestantischer Seite deshalb eine Mittheilung ans Ministerium nach Berlin gemacht worden war, kurz, Hermann bekam – ich glaube durch das Universitätscuratorium – den Auftrag, die Sprüche zu löschen. Er weigerte sich, weil, wie Ew. Excellenz eben auch bemerkten, es unverständlich, ja lächerlich herauskäme, wenn die Jungen leere Tafeln hielten. Man ließ es geschehen, bis vor kurzem der Besuch des Königs von Preußen in Bonn angekündigt wurde. Daß er, in die Aula zu gehen, gebeten werden müßte, unterlag bei den Häuptern der Hochschule keinem Zweifel, aber die bedenklichen Sprüche durfte er nicht finden. Der Auftrag, sie zu löschen, wurde wiederholt. Vergebens! Ich kann meine eignen Gedanken nicht vernichten oder verstümmeln! – sagte Hermann. Täglich wurde nachgesehen: die Sprüche standen wie in Erz gegossen. Endlich am Tage der erwarteten Ankunft des Königs kam ganz früh schon Professor d'Alton, und da er die Sprüche noch vorfand, stellte er ein Entwederoder, das mich zu einem raschen Entschlusse brachte. Wir können den König nicht zu Ihnen führen, sagte unser besorgter Freund, wenn er nicht sieht, daß sein durch das Ministerium ausgesprochener Wille von Ihnen respectirt wird. – Hermann blieb unbeweglich. Der Moment war peinlich. Die Herren alle meinten es so gut mit uns, und andrerseits war am Besuch des Königs soviel [249] gelegen; auch wußte ich recht gut, daß Cornelius die Festigkeit in diesem Falle nicht gutheißen würde. Ich sah Hermann fragend an. Ich kann es nicht thun! sagte er. Das gab mir den Pinsel in die Hand, und die Sprüche waren verschwunden. Eine Stunde danach trat, begleitet von dem Curator und den Professoren der Universität, Friedrich Wilhelm III. ein und widmete der Betrachtung unsres Bildes etwa fünf bis sechs Minuten. Die gefährlichen Täfelchen schien er gar nicht zu bemerken, sonst hätte er wohl auch, wie Ew. Excellenz gefragt: Warum steht nichts darauf?«

Die Geschichte schien Goethe zu belustigen. »Und doch« – sagte er – »sind wir so oft genöthigt, das Gute fahren zu lassen, um das Bessere zu retten.« – Inzwischen hatte ich meine Mappe mit verschiedenen Bildnissen aufgeschlagen, und Goethe betrachtete sie mit psychologischem und ästhetischem Interesse. Unter diesen sah er plötzlich die Bildnisse seiner Enkel. Es war eine Überraschung (wir hatten ja hinter seinem Rücken operirt) und zwar eine gelungene; denn er hatte eine herzliche Freude daran, die sich steigerte, als ich ihn bat, die Zeichnung gütig von mir anzunehmen.

Ich hatte bisher Goethe zuerst mir allein gegenüber gesehen, dann in festlicher, fast feierlicher Versammlung; dann wiederum als freundlichen Wirth unter zahlreichen Freunden und Verehrern; heute sollte ich ihn im trauten Familienkreise kennen lernen. Überall und immer derselbe, war mir's doch, als ob [250] jedesmal der Nachdruck auf einem andern Zug seines Characters läge. Heute war er die Heiterkeit und gute Laune selbst und ließ sich ganz gehen. Mehr als bei dem festlichen Mahl zog er seinen Sohn ins Gespräch; gegen die Schwiegertochter war er voll zarter Aufmerksamkeit, und mit ihrer Schwester sprach er am liebsten im Tone des leichten, reizenden Humors; äußerst liebreich war er gegen die Enkel. Mich veranlaßte er, vom Leben und Character der Bevölkerung des Niederrheins, ganz besonders aber von den Carnevalslustbarkeiten in Köln und Düsseldorf zu erzählen; dann lenkte er auf Bayern über, von dem er »nach den Mittheilungen seiner Freunde«, im Gegensatz gegen die lebhaften Rheinlande wenig für die Kunst erwartete. »Inzwischen,« sagte er, »viel kann ein Fürst mit energischem Wollen erreichen.« Endlich kam er auf sein Lieblingsthema: die Farben, deren Anwendung, Zusammenstellung, Stärke, Mischung, Behandlung und selbst auf die verschiedenen Farbstoffe.

Nach Tische führte er mich noch zu verschiedenen seiner Sammlungen, namentlich den schönen antiken und mittelalterlichen Münzen. Plötzlich sagte er: »Ich will Sie doch noch was zeigen!« (wirklich, so hat er's gesagt!) und damit zog er aus einem Fach einige Blätter Radirungen nach Zeichnungen von Carstens. Ich weiß nicht: hatte er mir damit eine Freude machen oder bloß wissen wollen, was ich dazu sagen würde; sie blieben nicht lange Gegenstand der [251] Unterhaltung, da ich sie zu wenig in Übereinstimmung mit den Originalen fand.

Ich wollte nun Abschied nehmen, da aber Goethe hörte, daß ich den folgenden Tag noch in Weimar bleiben und erst am 15. abreisen würde, forderte er mich auf das Freundlichste auf, ihn noch einmal zu besuchen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. 1825, 13. November. Mittag bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A881-1