1772, Mitte August.


Bei Ludwig Julius Friedrich Höpfner

Eines Tags meldete sich ein junger Mann in vernachlässigter Kleidung und mit linkischer Haltung zum Besuche bei Höpfner mit dem Vorbringen an, er habe dringend mit dem Herrn Professor etwas zu sprechen. Höpfner, obgleich damit beschäftigt, sich zum Gang in eine Vorlesung vorzubereiten, nahm den jungen Mann an. Die ganze Art und Weise, wie sich derselbe beim Eintreten und Platznehmen anstellte, ließ Höpfner vermuthen, daß er es mit einem Studenten zu thun habe, der sich in Geldverlegenheiten befinde. In dieser Ansicht wurde Höpfner dadurch bestärkt, daß der junge Mann damit seine Unterhaltung anfing, in ausführlichster Weise seine Familien- und Lebensverhältnisse zu schildern, und dabei von Zeit zu Zeit durchblicken ließ, daß diese nicht die glänzendsten seien. Gedrängt durch die herannahende Collegienstunde entschloß sich der Professor sehr bald, dem jungen Mann eine Geldunterstützung zufließen zu lassen und damit zugleich der [237] peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen. Kaum gab er je doch diese Absicht dadurch zu erkennen, daß er nach dem Geldbeutel in seiner Tasche suchte, so wendete der vermeintliche Bettelstudent das Gespräch wissenschaftlichen Fragen zu und entfernte sehr bald den Verdacht, daß er gekommen, um ein Geldgeschenk in Anspruch zu nehmen. Sobald der junge Mann bemerkte, daß der Herr Professor eine andere Ansicht von ihm gewonnen, nahm das Gespräch jedoch die alte Wendung, und die Andeutung des Studenten, daß es schließlich doch auf das Verlangen nach einer Unterstützung abgesehen sei, wurde immer verständlicher. Nachdem Höpfner auf diese Weise ein und das andere Mal sich in der Lage befunden hatte, dem jungen Manne Geld anzubieten und dann wieder davon abstehen zu müssen glaubte, entfernte sich der Student rasch und ließ den Herrn Professor von Zweifel und Vermuthungen über diesen räthselhaften Besuch zurück.

Als Höpfner am Abend desselben Tages, doch etwas später wie gewöhnlich in das Local trat, wo sich die Professoren der Universität gesellschaftlich zusammenzufinden pflegten, fand er daselbst ein vollständiges Durcheinander. Die ganz besonders zahlreiche Gesellschaft war um einen einzigen Tisch herum gruppirt, theils sitzend, theils stehend, ja, einige der gelehrten Herren standen auf Stühlen und schauten über die Köpfe ihrer Kollegen in den Kreis der Versammelten hinein, aus dessen Mitte die volle Stimme eines [238] Mannes hervordrang, der mit begeisterter Rede seine Zuhörer bezauberte. Auf Höpfner's Frage, was da vorgehe, wird ihm die Antwort: Goethe aus Wetzlar sei schon seit einer Stunde hier; die Unterhaltung habe sich nach und nach so gestaltet, daß Goethe fast allein nur spräche und alle verwundert und begeistert ihm zuhörten. – Höpfner, voll Verlangen, den Dichter zu sehen, besteigt einen Stuhl, schaut in den Kreis hinein und erblickt seinen Bettelstudenten zu einem Götterjüngling umgewandelt.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1772. 1772, Mitte August. Bei Ludwig Julius Friedrich Höpfner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A7C9-9