1813, Juli.


Mit Franz von Schwanenfeld

Es war in den letzten Tagen des Monats Juni im Jahre 1813 nach Abschluß des Waffenstillstandes, als der Husarenrittmeister v. S. fröhlich und wohlgemuth in Teplitz einzog, um hier ein lahmes Bein und ein fast erblindetes Auge insoweit wiederherzustellen, daß er noch zu einem neuen Feldzuge tauglich wäre. Die Stadt war überfüllt mit Gästen; kaum fand er ein Unterkommen in dem Gartenhause der Töpferschenke, halb über, halb unter der Erde, ein kleines Stübchen mit dem Fenster nach dem Garten... ..

Es war an einem schönen Sommermorgen, als der[81] Rittmeister einen ihm ganz unbekannten schönen alten Mann auf der Gartenbank vor seinem kleinen Fenster sitzen sah. Ein Bedienter brachte einen Krug mit Wasser, legte ein Buch auf den Tisch und entfernte sich. Der Unbekannte schenkte sich ein, trank und überließ sich, wie es schien, seinen Gedanken; denn er hielt das Buch in der Hand ohne zu lesen. Unverwandt blickte er in die Nebelgebilde, nach dem durchbrechenden blauen Äther des Himmels. Unser Husar sah dies mehrere Tage sehr gleichgültig an, ohne daß es ihm irgend einfiel, von dem Treiben des fremden Mannes Notiz zu nehmen. Doch endlich verdroß es ihn, das wenige Licht seiner Stube alle Morgen durch die Figur verdunkelt zu sehen. Er betrachtete den Mann näher: der schöne Kopf, die edlen Züge, ein gewisses Etwas in der ganzen Erscheinung zog ihn an; er konnte dem innern Drange nicht Widerstehen, er mußte gut oder übel mit dem Alten Bekanntschaft machen, öffnete demnach sein Fenster und sagte ihm den freundlichsten guten Morgen. Doch dieser, von einem Schnauzbart aus düsterm Kellerloche gebotene Gutemorgen sprach nicht an. Ein Ehrfurcht gebietender, streng verweisender, beinahe verächtlicher Blick war die Antwort auf die kühne Anrede. Störe mich in meinem Nachdenken nicht, du Maulwurf! schien er sagen zu wollen. Doch der Rittmeister ließ sich nicht abschrecken durch die zürnende Miene, sondern versuchte sogleich im Geist eines wahren Husaren einen neuen Angriff.

[82] »Sind Sie Hypochonder?« erscholl es abermals aus dem kleinen Fenster zu den Füßen des großen Unbekannten, und als auf diese Frage nur ein halber Blick und keine Antwort erfolgte, wurde dieselbe Phrase mit donnernder Stimme in ziemlich herausforderndem Tone wiederholt. Nun endlich entfuhr den Lippen des Mannes ein Laut. »Sonderbar!« war das einzige Wort, welches unwillkürlich und gleichsam wie zu sich selbst gesprochen seiner Brust entfuhr, – und der Rittmeister erwiderte lächelnd die geflügelten Worte: »Ja wohl sonderbar! Sie sind krank und sitzen hier im kalten Morgennebel, trinken Ihren Brunnen allein, still und stumm. Da wollt' ich lieber Tinte in Gesellschaft saufen und würde eher gesunden. Wissen Sie wohl, daß ich große Lust hätte, mit Ihnen Händel anzufangen?« Die Augen des Fremden gingen groß auf und durchbohrten fast den Redenden. »Wenn Sie mit Ihrem Heldengesicht mir nur nicht so ungeheuer gefielen!« dabei überströmte ein mildes, unbeschreibliches, doch göttliches Lächeln des edelsten Selbstgefühls das schöne Antlitz. »Bei solchem Gebrauche der Cur müssen Sie ja krank werden, wenn Sie es nicht schon sind.«

Das Gesicht des Unbekannten wurde inzwischen immer freundlicher, und der Rittmeister, wie durch eine magnetische Kraft zu ihm hingezogen, kroch auf allen Vieren aus seinem kleinen Fenster heraus, stellte sich vor ihn hin und redete ihn also an: »In meinem[83] Leben habe ich mich schon einmal schlagen müssen, weil ich nicht begreifen konnte oder wollte, wie man so ein Philister sein könnte, eine Flasche Champagner allein zu trinken; was fang' ich aber mit Ihnen an, der mir seit drei Tagen Sonne und Licht raubt, vor meinem Fenster sitzt, allein seinen Brunnen trinkt und kein freundliches Wort für mich hat? König, geh nur aus der Sonne! ist nicht genug gesagt; ich will philosophischer sein, als Diogenes: stehen Sie auf, geben Sie mir Ihren Arm, wir wollen miteinander promeniren; ich will Ihnen Geschichten erzählen – Geschichten von schönen Mädchen, vernagelten Kanonen, Feldherren, Überfällen, unmenschlich tugendhaften Frauen – und wenn der Teufel der Hypochondrie Sie nicht bald verläßt, so soll er mich dafür holen.«

Das edle Antlitz des Fremden nahm den freundlichsten Ausdruck von Wohlgefallen an; er lächelte, reichte seinen Arm und sagte: »Lassen Sie uns gehen! – Sie sind Offizier?«

Rittmeister. Ja, ja! ich bin einer und gehöre zu den Truppen, welche keinen Feldprediger brauchen, um in den Himmel zu kommen.

Unbekannter. Also Husar? Das wird den Großherzog 1 von Weimar recht interessiren. Sie haben die Schlachten von Großgörschen und Bautzen mitgemacht?

[84] Rittm. Ja wohl! – Doch lassen wir das! Darüber möchte man selbst Hypochonder werden. Sprechen wir lieber von anderen Dingen und mischen wir wie Goethe Wahrheit und Dichtung in unsere Unterhaltung.

Unb. Kennen Sie Goethe?

Rittm. Ob ich ihn kenne! Ich liebe ihn zärtlich, ich weiß ihn halb auswendig. Sein Tasso ist mein steter Begleiter.

Unb. Was halten Sie von seinem Werther?

Rittm. Ach! das wag' ich nicht zu sagen.

Unb. Nun, – doch geniren Sie sich nicht um meinetwillen.

Rittm. Werther ist meiner Ansicht nach ein wahrer Lumpenkerl. Solche Charaktere sind meiner Natur so Schnurstracks zuwider, daß ich mir gar kein Urtheil anmaßen will. Ich habe die Leiden gelesen und fortgelegt; das verstehst du nicht – dachte ich.

Unb. Da gefallen Ihnen »Die Räuber« von Schiller wohl besser?

Rittm. Allerdings! Schiller ist der Mann der Soldaten: er erweckt in der Brust uns den Muth und feuert die Seele zu Thaten an. – Doch das nützt Ihnen nichts! – Haben Sie das schöne blonde Mädchen dem Salon des Schloßgartens gegenüber »Zur Stadt Dresden« gesehen? Ein himmlisches Geschöpf. Der alte Prinz de Ligne hielt ihr in zarter Jugend Vorlesungen über die Kunst zu lieben und, wie es scheint, [85] nicht ohne Nutzen. Die ganze anwesende Männerwelt liegt schmachtend zu ihren Füßen. – Haben Sie nicht auch schon sehnsüchtige Liebesseufzer nach ihrem Fenster ausgestoßen? Ja, ja! jetzt fällt mir's ein: Sie standen gestern mit einem kleinen dicken Forstmann am bekannten Eisengitter und lugten hinüber nach der hold blühenden Blondine. – Nicht wahr?

Unb. Wir hatten unsere Promenade beendigt und waren im Begriff, nach Hause zu gehen. Aber, wo waren denn Sie?

Rittm. Ich? Ich faullenzte im Hauptquartier, wie so viele anderswo.

Unb. Sie scherzen.

Rittm. Vielleicht, – vielleicht auch nicht. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich kann Ihre Frage auch umgekehrt beantworten: ich recognoscirte den Feind und suchte seine Hauptstellung zu umgehen.

Und. Bravo! Sehr gut! Und der Feind?

Rittm. Der Feind, Herr Hypochonder, der brauchte seine allerliebsten Sammetpatschen, um jeden Überfall abzuwehren, bis endlich Chamade geblasen wurde. Verstehen Sie den Ausdruck?

Unb. Nicht ganz! Allein der Großherzog –

Rittm. Ich bitte, lassen wir den in seinem Athen an der Ilm mit Goethe lustwandeln; der Großherzog schlägt nicht mehr unsere Schlachten, und das Ideal meines Feldherrn hab' ich auch bei Lützen den ganzen Tag vergebens gesucht. Ich hatte die unvermuthete[86] Ankunft von vier Cavallerieregimentern auf dem Schlachtfelde zu melden. Ich eilte zu allen Befehlshabern, aber keiner wollte befehlen: der eine klagte über Rücken- und Seitenschmerzen ob des erhaltenen Prellschußes; der andere meinte, er beobachte bloß; der dritte fluchte russisch auf die Preußen, und der vierte war nicht in der Laune fröhlich zu sein. Das Corps des Vicekönigs drängte ihn, so entledigte er sich denn seiner Wuth durch einige kräftige Flüche und eine allgemeine Einladung. »Wer den Karren in den Dr- geschoben hat, kann ihn auch herausziehen« – war des Helden kräftiger Bescheid. So eilte ich denn, enttäuscht von meinen Idealen, trauernd über das mit Todten bedeckte Schlachtfeld und erreichte noch zeitig genug mein Regiment, um bei der unglücklichen Cavallerieattaque, die man morgens und nicht abends hatte unternehmen sollen, wie alle Ubrigen in den verdammten Graben zu fallen und in einen chaotischen Wirrwarr zu gerathen. – Sehen Sie! das nennt man eine Schlacht mitmachen.

Unb. Das Bild, welches Sie mir da geben, ist in der That neu. Ich danke Ihnen, Herr Doctor Husar; jetzt muß ich ins Bad, aber morgen hoffe ich eine große Portion von Ihren Mixturen einzunehmen und vielleicht noch einen Freund mitzubringen, der gern dergleichen zu sich nimmt. Sie erlauben doch? Oder wollen Sie sich noch mit mir schlagen?

Rittm. Umarmen möcht ich Sie.

[87] Der Unbekannte drückte dem Rittmeister sehr freundlich die Hand, sagte »Auf Wiedersehen!« und ging.

Am folgenden Morgen, als die Strahlen der Sonne kaum den Schläfer erweckt hatten, klopfte man schon an sein Fenster und rief: »Herr Doctor, der Hypochonder ist da. Heraus, heraus!« In möglichster Eile beendete der Rittmeister seine Toilette, schlüpfte behende zum Fenster heraus, faßte den neu erworbenen, nun schon alten Freund unter den Arm und begann neue Erzählungen von Liebe und Krieg.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, da kam ein Fremder in den Garten, den der Rittmeister seinem Aussehen nach für einen Forstmann oder Gutspächter hielt, grüßte mit einem Guten Morgen und redete den Hypochonder mit einem »Da bin ich!« wie einen alten Bekannten an. Dieser wandte sich zu dem Rittmeister und sagte, gleichsam ihn dem Fremden vorstellend: »Mein gütiger Doctor.«

[Weiter wird dann erzählt, wie Rittmeister v. Schwanenfeld noch einige Tage mit Goethe und Herzog Karl August verkehrte, ohne dieselben zu kennen, bis er durch einen Freund Aufklärung erhielt.]


Note:

1 Damals noch Herzog.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1813. 1813, Juli. Mit Franz von Schwanenfeld. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A69E-6