1815, 7. (?) August.


Bei Goethe

Nachmittags, als Goethe von Biberich zurückkam, erschien ein altes Männchen in grünem Rock und grünseidner Weste mit schwarzgeschnittenem Sammt, Forstmeister von Frankfurt, ein alter Schulkamerad von ihm [Kehr]. Er war unendlich freundlich gegen ihn, ließ ihm zu trinken bringen; nach einigen lustigen Reden [201] und Fragen über andere alte, bekannte Schulkameraden kam Cramer, und nun ging das Gespräch mit diesem und mit mir fort, das alte Männchen blieb immer ruhig sitzen, lange, lange Zeit, und trank sein Gläschen und wir nahmen immer Rücksicht auf ihn, ohne uns weiter um ihn zu bekümmern. Seltsam war es, daß Goethe weder Cramer noch mir, als wir verschiedentlich fragten, wer der Mann sei? den Namen nicht nannte, sondern jedesmal freundlich sagte: »Es ist ein alter Schulkamerad von mir, der kömmt noch alle Jahre nach Wiesbaden und ist schon 74 Jahre alt.«

Nachher Gespräch über den Divan. Entstehen. Lob des Weins. Frechheit gegen das Gesetz. Die Perle. – Unwillen über die Deutschen; ihre Neuerungssucht und Zerstreuung. – Gespräch über die bloße Kunst der Poesie, bei dem bloßen Talent der Sprache: wie weit es in dieser bloßen Phraseologie gebracht werden könne; er rühmte den Major Luck, es ist ja auch ein diffuses Wesen in ihm, aber da thut ihm das Sonett Gewalt an, und zwingt ihn zur Einheit. Darum gibt's nicht leicht bessere Sonette als die seinigen, auch in Rücksicht der Gedanken. Ein Spottgedicht hat er gegen die Arndt'sche Dreieinigkeit gemacht, von Wellington, Blücher und unserem Herrgott; aber das nicht als Sonett. Eine Strophe, die er Goethe bloß in einem Briefe mitgetheilt, als geheimes Einschiebsel, nur für Vertraute, ist sehr artig. Es lautet ohngefähr: Gott ist der großen Schrift nicht wert, dieweil er nicht [202] freiwilliger Jäger geworden, das Schießgewehr auf die Schulter genommen hat und in den Landsturm ausgezogen ist. – »Die Einheit des Gedankens, die lebendige Gliederung durch den Gegensatz zur Identität, das ist es, was allen Kunstwerken zu Grunde liegen muß. Das ist, was die Franzosen mechanisch ergriffen haben in ihrem Schauspiel, und was Shakespeare nicht hat, und warum seine Stücke in dieser Hinsicht bei aller Poesie nichts taugen.« Ich sagte, wie seit einigen Jahren ich auf diese innere Gesetzmäßigkeit und poetische Gliederung gekommen, und sehr bald den Dingen ansehe, wo es fehle, es sei immer fast instinktmäßige Forderung bei mir, und mir auch so gleichsam instinktmäßig entstanden, auf dem Weg der Musik. So z.B. innere Nothwendigkeit des Allegro, Adagio und Rondo, das Muthige, Traurige und Freudige. – Sonntag am 6. Abends las mir Goethe wieder einen Theil aus seinem Divan vor, worunter das schönste »Adam und Eva« war, wie der Schöpfer sie macht und seine Freude an ihnen hat. Er legt dem Adam die Eva an die Seite, und möchte dabei stehen bleiben. Ein Bildchen, eine Idylle von der schönsten, reinsten Naivität, und wieder der höchsten Größe; es machte mir den Eindruck wie das beste plastische Werk der Griechen. Dann las er, wie Jesus das Evangelium gebracht und wieder mit zum Himmel genommen hat. Aber was die Jünger, jeder auf seine Art, davon behalten, verstanden und mißverstanden, ist so viel, daß die Menschen genug [203] daran haben für immer zu ihrem Bedarf. – Liebesgedichte. Was ich verlange ist nur wenig; aber für die Geliebte alle Schätze. Ein prachtvolles Stück [im Buch Suleika], worin alle Herrlichkeit und der ganze Handel des Orients vorkömmt; wo alle Elemente, alle Kräfte der Natur und Menschen in Bewegung gesetzt werden, um der Geliebten Geschenke zu bringen; die aber doch nichts sind gegen die Freuden der Liebe. Die Feueranbeter der alten Parsen. Ein solcher stirbt und spricht seine Lehre als Vermächtniß aus. Verehrung der Sonne, durch Ordnung und Reinlichkeit, damit sie sich nicht betrübe den Schmutz und Wüstenei der Menschen und der Erde zu sehen. (Stiftung, eine Gasse zu reinigen, damit die Sonne mit Freuden hinein scheine.) In demselben Bezug, Ackerbau. (Auf ähnliche humane Weise erklärt Goethe sich die Verehrung der Kuh, als nützlichstes Hausthier, und des goldenen Kalbes, und sei also nicht gar so absurd und abgeschmackt, als es aussehe.) Verehrung des Feuers als irdische Sonne. Ich erzähle, wie die Symbolik des Lichts mit so großem Geist in den christlichen Gottesdienst aufgenommen sei; am Charsamstag Symbolik der ganzen Schöpfung, Wasser, Licht u.s.w.

Später waren wir bei Hügel; er erzählte von dem Künstlerleben der italienischen Sängerin, die den Wiener Bankier Natorp geheirathet hat. Der Bankier machte bankerott, die Frau ging wieder auf's Theater, und der größte Triumph ihres Lebens war der Beifall, der ihr [204] hier zum erstenmal wieder gezollt wurde. Aller Reichthum, alle Pracht der Zwischenjahre war ihr nichts dagegen. Ihr Vater war Einnehmer von Monte pietà in Rom gewesen, und kam herunter; ihr großes Talent wurde in einem Concert erkannt, dieß entscheidet sie, um ihrem Vater damit zu helfen, sich gleich bei der Gesellschaft anwerben zu lassen. In Florenz schenkte ihr beim ersten Auftreten ein Musikfreund für sein Billet statt einem Scudo hundert Zechinen, so entzückte sie; das war ihr erstes Glück und so ging es fort; sie blieb immer brav gegen ihre Eltern. Nach ihrem zweiten Auftreten lebte sie nur noch wenige Jahre.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 7. (?) August. Bei Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A650-1