1825, 11. Juni.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe sprach heute bei Tische sehr viel von dem Buche des Majors Parry über Lord Byron. Er lobte es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieser Darstellung weit vollkommener und weit klarer über sich und seine Vorsätze erscheine, als in allem, was bisher über ihn geschrieben worden.

»Der Major Parry,« fuhr Goethe fort, »muß gleichfalls ein sehr bedeutender, ja ein hoher Mensch sein, daß er seinen Freund so rein hat auffassen und so vollkommen hat darstellen können. Eine Äußerung seines Buchs ist mir besonders lieb und erwünscht gewesen, sie ist eines alten Griechen, eines Plutarch[215] würdig. ›Dem edeln Lord‹, sagt Parry, ›fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren, und welche sich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine ungünstigen Beurtheiler sämmtlich aus der Mittelclasse, die denn freilich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von denen sie sich keinen Begriff machen können.‹ Nun, wie gefällt Ihnen das?« sagte Goethe; »nicht wahr, so etwas hört man nicht alle Tage?«

»Ich freue mich,« sagte ich, »eine Ansicht öffentlich ausgesprochen zu wissen, wodurch alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines höherstehenden Menschen ein für allemal durchaus gelähmt und geschlagen worden.«

Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in Bezug auf die Poesie, und zwar inwiefern die Geschichte des einen Volks für den Dichter günstiger sein könne als die eines andern.

»Der Poet,« sagte Goethe, »soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die Poesie; denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur [216] dieses Volks, insofern sie auf jene Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes da, das mit der Zeit veralten wird.« –

»Die jetzige Epoche der französischen Literatur,« sagte Goethe später, »ist gar nicht zu beurtheilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gährung hervor, und erst nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat giebt.«

Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstracte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen.

»Was ist da viel zu definiren!« sagte Goethe. »Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit es auszudrücken macht den Poeten.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1825. 1825, 11. Juni. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A628-E